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Der neue Geist des Kapitalismus und die Möglichkeit von Kritik

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Georg Mein<br />

<strong>Der</strong> <strong>neue</strong> <strong>Geist</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Möglichkeit</strong> <strong>von</strong> <strong>Kritik</strong><br />

Am 27. Mai 1978 hielt Michel Foucault auf Einladung der Société française de philosophie einen<br />

Vortrag, der später unter dem Titel Qu’est-ce que la critique? veröffentlicht wurde. Foucault erläu-<br />

tert in <strong>die</strong>sem Vortrag, dass <strong>Kritik</strong> eben nicht nur jenes erhabene Unternehmen sei, das man ge-<br />

wöhnlich mit dem Namen Immanuel Kants assoziiere, sondern dass das Wesen der <strong>Kritik</strong> sich<br />

sehr viel allgemeiner <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlicher in einer bestimmten Art zu denken <strong>und</strong> zu handeln zeige,<br />

in einem spezifischen Verhältnis zu dem, was existiert, zur Gesellschaft <strong>und</strong> zur Kultur. <strong>Kritik</strong> – so<br />

verstanden – sei vor allem eine Haltung. 1 Foucault entfaltet nun <strong>die</strong> Geschichte <strong>die</strong>ser kritischen<br />

Haltung, indem er sie als Gegenstück zur spezifisch pastoralen Aktivität der christlichen Kirche in-<br />

terpretiert. Diese nämlich habe, so Foucault,<br />

<strong>die</strong> einzigartige <strong>und</strong> der antiken Kultur wohl gänzlich fremde Idee entwickelt, daß je<strong>des</strong> Individuum<br />

unabhängig <strong>von</strong> seinem Alter, <strong>von</strong> seiner Stellung sein ganzes Leben hindurch <strong>und</strong> bis<br />

ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden müsse <strong>und</strong> sich regieren lassen müsse. 2<br />

In den etwa zeitgleich gehaltenen Vorlesungen am Collège de France hat Foucault sein Interesse<br />

an den individuellen <strong>und</strong> universellen Formen der Regierungstechniken mit dem Begriff der ›Gou-<br />

vernementalität‹ gekennzeichnet. 3 Foucault versteht unter Gouvernementalität <strong>die</strong> Gesamtheit der<br />

Institutionen, Verfahren, Analysen, Reflexionen, Berechnungen <strong>und</strong> Taktiken, durch <strong>die</strong> es möglich<br />

wird, eine <strong>neue</strong> komplexe Form <strong>von</strong> Macht auszuüben. 4 Gouvernementalität verweist also auf <strong>die</strong><br />

unterschiedlichen Handlungsformen <strong>und</strong> Praxisfelder, durch <strong>die</strong> <strong>die</strong> Lenkung <strong>und</strong> Leitung <strong>von</strong> Indi-<br />

viduen <strong>und</strong> Kollektiven ermöglicht wird. Die Geschichte der Gouvernementalität kann insofern in<br />

doppelter Hinsicht begriffen werden, nämlich einerseits als »Genealogie <strong>des</strong> modernen Staates« 5<br />

<strong>und</strong> andererseits als »Geschichte <strong>des</strong> Subjekts.« 6<br />

Es ist wichtig zu betonen, dass Foucault <strong>die</strong> Gouvernementalität als eine spezifisch moderne Form<br />

der Regierungsausübung begreift, deren Geburtsst<strong>und</strong>e er im 16.-17. Jahrh<strong>und</strong>ert lokalisiert.<br />

1<br />

Michel Foucault: Was ist <strong>Kritik</strong>? Berlin 1992, S. 8.<br />

2<br />

Ebd., S. 9f.<br />

3<br />

<strong>Der</strong> Begriff ›Gouvernementalität‹ ist keine Neuprägung Foucaults – schon Roland Barthes hat den Begriff in den<br />

Mythen <strong>des</strong> Alltags benutzt. Vgl. Roland Barthes: Mythen <strong>des</strong> Alltags. Übers. v. Helmut Scheffel. Frankfurt a.M.<br />

1996. Während es Barthes jedoch um eine »mythische Zeichenpraxis, welche <strong>die</strong> gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

entpolitisiert <strong>und</strong> verschleiert«, gegangen ist, verweist ›Gouvernementalität‹ bei Foucault »auf unterschiedliche<br />

Handlungsformen <strong>und</strong> Praxisfelder, <strong>die</strong> in vielfältiger Weise auf <strong>die</strong> Lenkung <strong>und</strong> Leitung <strong>von</strong> Individuen <strong>und</strong> Kollektive<br />

zielen.« Thomas Lemke: Gouvernementalität, in: Clemens Kammler (Hrsg.), Foucault Handbuch. Leben –<br />

Werk – Wirkung, Stuttgart 2008, S. 260-263, hier S. 260.<br />

4<br />

Vgl. Michel Foucault: Die Gouvernementalität. In: Dits et Ecrits. Bd. III. 1976-1979. Frankfurt a.M. 2003, S. 820.<br />

5<br />

Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège<br />

de France 1977-1978. Hrsg. v. Michel Sennelart. Übersetzt v. Claudia Brede-Konersmann / Jürgen Schröder.<br />

Frankfurt a.M. 2004, S. 508.<br />

6<br />

Ebd., S. 268.<br />

1


Foucault schreibt <strong>die</strong>sem Zeitfenster <strong>des</strong>halb eine zentrale Bedeutung für <strong>die</strong> Entwicklung <strong>und</strong><br />

Etablierung <strong>neue</strong>r Regierungspraxen zu, weil hier pastorale <strong>und</strong> politische Machttechniken eine<br />

komplexe Verbindung einzugehen beginnen, an deren Ende der moderne Staat stehen wird. Mit<br />

<strong>die</strong>ser Entwicklung verbindet Foucault allerdings auch, wie bereits eingangs bemerkt, eine Gegen-<br />

bewegung, nämlich <strong>die</strong> Herausbildung jener spezifischen Haltung der <strong>Kritik</strong>. <strong>Der</strong> Kern <strong>die</strong>ser Hal-<br />

tung lässt sich sehr präzise durch eine einzige Frage umreißen:<br />

»Wie ist es möglich, daß man nicht derartig, im Namen <strong>die</strong>ser Prinzipien da, zu solchen Zwecken<br />

<strong>und</strong> mit solchen Verfahren regiert wird – daß man nicht so <strong>und</strong> nicht dafür <strong>und</strong> nicht <strong>von</strong><br />

denen da regiert wird?« 7<br />

Die Antwort auf <strong>die</strong>se Frage, deren sprachlicher Duktus bereits alle Empörung über den Zustand,<br />

den es zu hinterfragen gilt, transportiert <strong>und</strong> insofern dem Indignez-vous! <strong>von</strong> Stéphane Hessel in<br />

mehr als nur <strong>die</strong>ser Hinsicht nahe steht – <strong>die</strong> Antwort also auf <strong>die</strong>ses Wie ist es möglich... kann nur<br />

gef<strong>und</strong>en werden, wenn man <strong>die</strong> Konstitutionsbedingungen moderner Gouvernementalität genau-<br />

er betrachtet. Und eben hier verdanken wir Foucault eine sehr hellsichtige Beobachtung. Foucault<br />

schreibt nämlich einem Wissensbereich eine ganz besonders herausragende Rolle für <strong>die</strong> Her-<br />

ausbildung <strong>und</strong> Etablierung gouvernementaler Praxen zu – <strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Wissensbereich ist <strong>die</strong><br />

Ökonomie. Die Regierungskunst müsse, will sie dauerhaft erfolgreich sein, eine alles entscheiden-<br />

de Frage beantworten: Wie lässt sich <strong>die</strong> Ökonomie in <strong>die</strong> Staatsräson einführen? Denn um einen<br />

Staat zu regieren, so Foucault,<br />

wird man <strong>die</strong> Ökonomie einsetzen müssen, eine Ökonomie auf der Ebene <strong>des</strong> Staates als Ganzem,<br />

d.h. man wird <strong>die</strong> Einwohner, <strong>die</strong> Reichtümer <strong>und</strong> <strong>die</strong> Lebensführung aller <strong>und</strong> je<strong>des</strong> Einzelnen<br />

unter eine Form <strong>von</strong> Überwachung <strong>und</strong> Kontrolle stellen, <strong>die</strong> nicht weniger aufmerksam<br />

ist als <strong>die</strong> <strong>des</strong> Familienvaters über <strong>die</strong> Hausgemeinschaft <strong>und</strong> ihre Güter. 8<br />

Eine ›ökonomische Regierung‹ wäre für Foucault schon ein Pleonasmus, »denn <strong>die</strong> Kunst <strong>des</strong><br />

Regierens ist gerade <strong>die</strong> Kunst, <strong>die</strong> Macht in der Form <strong>und</strong> nach dem Vorbild der Ökonomie aus-<br />

zuüben.« 9 Was Foucault damit aufweisen will, ist eine intrinsische Kopplung zwischen Ökonomie<br />

<strong>und</strong> Gouvernementalität, <strong>die</strong> sich im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert in Europa herausbildet. Es sind nicht zwei un-<br />

terschiedliche Dispositive, <strong>die</strong> nebeneinander herlaufen <strong>und</strong> sich hier <strong>und</strong> dort mal überkreuzen;<br />

vielmehr gehören Ökonomie <strong>und</strong> Regierungskunst seit Beginn der Moderne untrennbar zusammen,<br />

wobei es freilich <strong>von</strong> Anfang an das beiderseitige Bestreben gab <strong>und</strong> bis heute gibt, <strong>die</strong>sen Zu-<br />

sammenhang zu leugnen <strong>und</strong> zu verschleiern. Natürlich ist auch <strong>die</strong> kapitalistische Ökonomie der<br />

Moderne nicht nur eine spezifische Wirtschaftsordnung, <strong>die</strong> auf dem Privateigentum der Produkti-<br />

onsmittel beruht, sondern darüber hinaus auch eine sehr erfolgreiche <strong>und</strong> folgenreiche Regie-<br />

rungstechnik. So gehen auch <strong>die</strong> an Foucault anschließenden Governmentality Stu<strong>die</strong>s da<strong>von</strong> aus,<br />

dass so etwas wie eine ›reine‹ Ökonomie, <strong>die</strong> »<strong>von</strong> einer nachgelagerten politischen Reaktion der<br />

7 Foucault: Was ist <strong>Kritik</strong>?, S. 11f.<br />

8 Foucault: Die Gouvernementalität, S. 804.<br />

9 Ebd., S. 805.<br />

2


Gesellschaft ›gezähmt‹ [...] oder ›zivilisiert‹ werde«, 10 überhaupt nicht existiert. Vielmehr muss <strong>die</strong><br />

»Generalisierung der ökonomischen Form« als das Kennzeichen moderner Regierungspraktiken<br />

begriffen werden. »Generalisierung der ökonomischen Form« bedeutet, dass einerseits sämtliche<br />

Bereiche <strong>des</strong> Zusammenlebens anhand <strong>von</strong> ökonomischen Kategorien analysiert werden, ande-<br />

rerseits aber auch bestimmte Regierungspraktiken anhand <strong>von</strong> Marktbegriffen bewertet werden<br />

können. 11<br />

Mit Blick auf <strong>die</strong>sen Zusammenhang zwischen Ökonomie <strong>und</strong> Regierungskunst drängt sich <strong>die</strong><br />

Frage auf, wie es nun um jene spezifische Haltung der <strong>Kritik</strong> bestellt ist. Foucault beantwortet <strong>die</strong>-<br />

se Frage leider nicht – vielleicht hat er geahnt, dass <strong>die</strong> <strong>Möglichkeit</strong> <strong>von</strong> <strong>Kritik</strong> mit Blick auf das,<br />

was ich den <strong>Geist</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong> nennen möchte, eine schwierige Angelegenheit ist. Dies umso<br />

mehr, als spätestens seit dem Zusammenbruch <strong>des</strong> Sozialismus <strong>die</strong> kapitalistische Ordnung mehr<br />

oder minder alternativlos erscheint. Die Frage nach der <strong>Möglichkeit</strong> <strong>von</strong> <strong>Kritik</strong> muss sich zunächst<br />

<strong>und</strong> in erster Linie dem Problem stellen, warum bislang alle <strong>Kritik</strong> am <strong>Kapitalismus</strong> so erfolglos ge-<br />

blieben ist. Hier gibt es meines Erachtens zwei zentrale Argumentationslinien, eine, <strong>die</strong> das man-<br />

gelnde Interesse der Protagonisten, <strong>die</strong> zur <strong>Kritik</strong> fähig wären, in den Vordergr<strong>und</strong> rückt, <strong>und</strong> eine<br />

andere, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Fähigkeit <strong>des</strong> kapitalistischen Systems zur Endogenisierung <strong>von</strong> <strong>Kritik</strong> betont.<br />

Zunächst zur ersten Argumentationslinie, dem mangelnden Interesse an der Herausbildung einer<br />

kritischen Haltung gegenüber dem <strong>Kapitalismus</strong>. Diese Argumentation ist vor allem <strong>von</strong> Pierre<br />

Bour<strong>die</strong>u sehr eindringlich formuliert worden. Im Kern geht es darum, dass der <strong>Kapitalismus</strong> ein<br />

Denksystem bereitstellt, das nicht nur auf der ökonomischen Ebene <strong>die</strong> Privilegien der Herrschen-<br />

den legitimiert. So sei <strong>die</strong> außergewöhnliche Arroganz der herrschenden Klasse eben darauf zu-<br />

rückzuführen, dass <strong>die</strong>se Klasse<br />

aufgr<strong>und</strong> ihrer Bildung mit einem hohen kulturellen Kapital ausgestattet ist <strong>und</strong> ihre gesellschaftliche<br />

Stellung, so wie sie ist, als vollkommen gerechtfertigt ansieht. [...] Ein Diplom [...] gilt als<br />

Nachweis für natürliche Intelligenz <strong>und</strong> Begabung [...] so kann sie als Ökonomie der Intelligenz<br />

auftreten, <strong>die</strong> den »intelligenten« Menschen vorbehalten ist. 12<br />

Insbesondere der Begriff »Kompetenz« wird in <strong>die</strong>sem Kontext mehr <strong>und</strong> mehr zum Herzstück ei-<br />

ner Soziodizee, deren ideologisches F<strong>und</strong>ament sich auf eine <strong>neue</strong> Form <strong>des</strong> Sozialdarwinismus<br />

stützt:<br />

[E]s sind <strong>die</strong> »Besten <strong>und</strong> Außergewöhnlichsten«, wie man in Harvard sagt, <strong>die</strong> das Rennen<br />

machen. Hinter der weltumspannenden Vision einer Internationale der Herrschenden steht eine<br />

Philosophie der Kompetenz, nach der <strong>die</strong> Fähigsten den Staat lenken, <strong>die</strong> Fähigsten eine Arbeit<br />

haben, was bedeutet, dass Menschen ohne Arbeit unfähig sind. 13<br />

10 Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke: Gouvernementalität, Neoliberalismus <strong>und</strong> Selbsttechnologien.<br />

Eine Einleitung. In: Ulrich Bröckling (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Stu<strong>die</strong>n zur Ökonomisierung<br />

<strong>des</strong> Sozialen, Frankfurt a.M. 2000, S. 7-40, hier S. 25.<br />

11 Vgl. Bröckling / Krasmann / Lemke, Einleitung, S. 17.<br />

12 Pierre Bour<strong>die</strong>u: Gegenfeuer 2. Für eine europäische soziale Bewegung. Konstanz 2001, S. 57f.<br />

13 Pierre Bour<strong>die</strong>u: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste <strong>des</strong> Widerstands gegen <strong>die</strong> neoliberale Invasion. Kon-<br />

stanz 1998, S. 51.<br />

3


Das Frappierende dabei ist, dass <strong>die</strong> Ideologeme <strong>die</strong>ser Soziodizee nicht nur <strong>von</strong> den Herrschen-<br />

den propagiert, sondern eben auch <strong>von</strong> den Beherrschten akzeptiert werden. Fast scheint es so,<br />

als sei der hermetische Verblendungszusammenhang kapitalistischer Geltungsansprüche derartig<br />

internalisiert, dass er sich dem reflexiven Bewusstsein entzieht.<br />

Genau darum geht es in der zweiten Argumentationslinie, <strong>die</strong> in der <strong>von</strong> Luc Boltanski <strong>und</strong> Ève<br />

Chiapello 1999 in Paris erschienene Stu<strong>die</strong> Le nouvel Ésprit du Capitalisme entfaltet wird. 2003<br />

wurde das umfangreiche Werk auch auf Deutsch unter dem Titel <strong>Der</strong> <strong>neue</strong> <strong>Geist</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong><br />

publiziert. Die innovative These der Autoren lautet, dass <strong>die</strong> <strong>Kritik</strong> am <strong>Kapitalismus</strong> selbst als ein<br />

unverzichtbarer Dynamisierungsfaktor seines Fortbestehens, d.h. als notwendiger dialektischer<br />

»Gegenpol zur Moralabwesenheit <strong>des</strong> ökonomischen Prozesses« 14 verstanden werden muss.<br />

Boltanski <strong>und</strong> Chiapello gehen da<strong>von</strong> aus, dass der <strong>Kapitalismus</strong> eine Rechtfertigungsordnung<br />

benötigt, um Engagement zu motivieren <strong>und</strong> <strong>Kritik</strong> zu neutralisieren. Allerdings kann der Kapitalis-<br />

mus, weil er nach Sicht der Autoren eine im Kern widersinnige <strong>und</strong> absurde Veranstaltung ist, <strong>die</strong>-<br />

se Rechtfertigungsordnung nicht aus sich selbst heraus erzeugen. Er ist also auf seine Gegner,<br />

d.h. auf außerökonomische Referenzen angewiesen, wo er <strong>die</strong> fehlende moralische Stütze findet.<br />

Ohne <strong>die</strong>sen außerökonomischen Moralimport hätte der <strong>Kapitalismus</strong> auf lange Sicht kaum Chan-<br />

cen, Folgebereitschaften zu mobilisieren. Anders formuliert, <strong>die</strong> <strong>Kritik</strong> am <strong>Kapitalismus</strong> hat para-<br />

doxerweise eine stabilisierende <strong>und</strong> legitimierende Funktion hinsichtlich der kapitalistischen Ord-<br />

nung. Dies klingt zunächst paradox, erweist sich jedoch bei genauerem Nachdenken eben <strong>des</strong>halb<br />

als ein kluger Ansatz, weil er den <strong>Kapitalismus</strong> in seiner Komplexität <strong>und</strong> vor allem mit Blick auf<br />

seine tiefgreifende motivationale <strong>und</strong> semantische Verankerung innerhalb der Sozialstruktur Ernst<br />

nimmt. Nur wenn man in Rechnung stellt, dass der <strong>Kapitalismus</strong> gerade bei seinen <strong>Kritik</strong>ern Lö-<br />

sungswege zu seinem Fortbestand gef<strong>und</strong>en hat, kann plausibel gemacht werden, warum sich das<br />

kapitalistische System als sehr viel widerstandsfähiger erwiesen hat, »als es seine <strong>Kritik</strong>er <strong>und</strong> an<br />

erster Stelle Karl Marx erwartet hatten.« 15<br />

Boltanski <strong>und</strong> Chiapello unterscheiden gr<strong>und</strong>sätzlich zwei Arten <strong>von</strong> <strong>Kritik</strong>, mit denen sich der Ka-<br />

pitalismus konfrontiert sieht. Da ist auf der einen Seite <strong>die</strong> Sozialkritik, <strong>die</strong> in der langen Traditions-<br />

linie seit Marx steht <strong>und</strong> <strong>die</strong> den <strong>Kapitalismus</strong> als Ursprung <strong>von</strong> Ungleichheit, Armut <strong>und</strong> Ausbeu-<br />

tung brandmarkt. Auf der anderen Seite steht <strong>die</strong> Künstlerkritik, welche <strong>die</strong> mit der kapitalistischen<br />

Ordnung einhergehende Normierung, Uniformierung <strong>und</strong> Unterwerfung der individuellen Potentiale<br />

der in <strong>die</strong> Ordnung verstrickten Subjekte an den Pranger stellt. 16 Insbesondere <strong>die</strong> Künstlerkritik,<br />

<strong>die</strong> sich in den 1960er <strong>und</strong> 70er Jahren auf hohem intellektuellen Niveau wirkungsmächtig formier-<br />

te, ist hier <strong>von</strong> Interesse. Denn es sind <strong>die</strong> <strong>von</strong> der Künstlerkritik formulierten Forderungen nach<br />

14<br />

Lothar Peter: ›<strong>Der</strong> <strong>neue</strong> <strong>Geist</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong>‹. Stärken <strong>und</strong> Schwächen eines Erklärungsversuchs. In: Z. Zeitschrift<br />

Marxistische Er<strong>neue</strong>rung 16 (2005), Nr. 62, S. 7-24, hier S. 11.<br />

15<br />

Luc Boltanski / Éve Chiapello: <strong>Der</strong> <strong>neue</strong> <strong>Geist</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong>. Aus dem Französischen <strong>von</strong> Michael Tillmann.<br />

Konstanz 2006, S. 68.<br />

16<br />

Vgl. Gabriele Wagner: Ein »<strong>neue</strong>r <strong>Geist</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong>«? Paradoxien der Selbstverantwortung. In: Österreichische<br />

Zeitschrift für Soziologie 32, 3 (2007), S. 3-25, hier S. 6.<br />

4


mehr Individualität <strong>und</strong> Autonomie, <strong>die</strong> zu jener Form <strong>des</strong> Netzwerkkapitalismus geführt haben, der<br />

gegenwärtig das ökonomische Denken prägt. Die Legitimationskrise bürokratisch strukturierter<br />

Großunternehmen seit den späten 60er Jahren basierte insbesondere auf deren Einengungen <strong>und</strong><br />

Uniformierungszwängen, auf <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Großunternehmen mit der Einführung schlanker Unterneh-<br />

mensstrukturen, kommunikativem Management, Teamarbeit sowie der Aufwertung <strong>von</strong> Kreativität<br />

<strong>und</strong> Eigensinn als zentrale Produktivitätsfaktoren reagierten. Boltanski <strong>und</strong> Chiapello betonen,<br />

dass <strong>die</strong>se Transformation <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong> gerade nicht als das Ergebnis <strong>von</strong> schieren Markt-<br />

zwängen zu begreifen ist, sondern als Ausdruck <strong>und</strong> Folge der Künstlerkritik, <strong>die</strong> – wie vormals<br />

schon Max Weber – gegen »Entfremdung, Fabrikdisziplin, Uniformierung <strong>und</strong> Unterwerfung <strong>von</strong><br />

Subjektivität« opponierte. 17 <strong>Der</strong> Witz – oder besser: <strong>die</strong> Ironie – der Geschichte liegt nun darin,<br />

dass <strong>die</strong>se vormals emanzipatorischen Vorstellungen nun vom <strong>Kapitalismus</strong> selbst aufgenommen<br />

<strong>und</strong> instrumentalisiert wurden. »Mitbestimmung, Kreativität <strong>und</strong> Selbstentfaltung sind nicht länger<br />

Kampfbegriffe gegen Entfremdungserfahrungen, Bürokratie <strong>und</strong> Unterordnung, sie sind nunmehr<br />

zu Standarderwartungen <strong>von</strong> Unternehmen an ihre Mitarbeiter geworden.« 18 Auf <strong>die</strong>se Weise führ-<br />

ten <strong>die</strong> Forderungen der <strong>Kritik</strong> nicht zu einer Infragestellung, sondern zu einer R<strong>und</strong>er<strong>neue</strong>rung<br />

der <strong>Kapitalismus</strong>, weil <strong>die</strong>ser dazu in der Lage war, <strong>die</strong> Forderungen erfolgreich in seine Rechtfer-<br />

tigungsordnung zu integrieren. Dabei führt <strong>die</strong> vom <strong>neue</strong>n Netzwerkkapitalismus in Aussicht ge-<br />

stellte Verheißung gelingender Selbstverwirklichung stets auch <strong>die</strong> Drohung gnadenloser Selbstzu-<br />

rechung mit sich.<br />

Es gibt nun verschiedene Ebenen, auf denen man <strong>die</strong>se seltsame Bewegung beschreiben kann.<br />

Boltanski <strong>und</strong> Chiapello interessiert in erster Linie <strong>die</strong> Fähigkeit <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong> zur Endogenisie-<br />

rung <strong>von</strong> <strong>Kritik</strong> – eine Fähigkeit, <strong>die</strong> maßgeblich zur beständigen Er<strong>neue</strong>rung <strong>und</strong> Anpassung <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitalismus</strong> an den jeweils herrschenden Zeitgeist führt. 19 Bei genauerem Hinsehen wird jedoch<br />

deutlich, dass das, was man ganz basal als <strong>die</strong> Umstellung <strong>von</strong> Fremdbestimmung auf Selbstbe-<br />

stimmung beschreiben könnte, auf spezifische Weise mit dem emphatischen Subjektbegriff konno-<br />

tiert ist, der sich als Ergebnis der Aufklärung im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert herausgebildet hat. Die Bedin-<br />

gungen der <strong>Möglichkeit</strong> <strong>von</strong> <strong>Kritik</strong> als einer Haltung müssen also eben hier, am blinden Fleck der<br />

Subjektkonstitution, ihren Ausgang nehmen. Daher erlauben Sie mir bitte an <strong>die</strong>ser Stelle einige<br />

sehr allgemeine Überlegungen zum Verhältnis <strong>von</strong> diskursiver Ordnung <strong>und</strong> der in sie eingebette-<br />

ten Subjekte.<br />

In allen menschlichen Kulturen existiert eine Vorstellungsinstanz, <strong>die</strong> dem Einfluss der Subjekte<br />

entzogen ist, <strong>die</strong> aber dennoch für alle differenzierend wirksam ist. <strong>Der</strong> französische Rechtshistori-<br />

ker <strong>und</strong> Psychoanalytiker Pierre Legendre spricht <strong>von</strong> einem monumentalen Subjekt der Fiktion, in<br />

<strong>des</strong>sen Namen gesprochen wird, wenn es gilt, normativ zu sprechen. Ob dabei im Namen der<br />

Wissenschaft, <strong>des</strong> Volkes, <strong>des</strong> Menschen, der Vernunft, der Nation, <strong>des</strong> Sozialismus, der Effizienz<br />

17 Boltanski / Chiapello: <strong>Der</strong> <strong>neue</strong> <strong>Geist</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong>, S. 80f.<br />

18 Wagner: Ein »<strong>neue</strong>r <strong>Geist</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong>«?, S. 7.<br />

19 Vgl. Boltanski / Chiapello: <strong>Der</strong> <strong>neue</strong> <strong>Geist</strong> <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong>, S. 476.<br />

5


oder der Geschichte gesprochen wird, spielt zunächst kaum eine Rolle. Wichtig ist, dass kein nor-<br />

matives Sprechen sich den legitimatorischen Bezug auf eine wie auch immer geartete mythische<br />

Instanz <strong>des</strong> Im-Namen-<strong>von</strong> ersparen kann. Die Orte, an denen sich <strong>die</strong>ses Sprechen vollzieht <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> für <strong>die</strong> Ontogenese wie für <strong>die</strong> Phylogenese absolut unverzichtbar sind, bezeichnet Legendre<br />

als Institutionen (in unserer Gesellschaft also Kirche, Schule, Staat usw.). Institutionen sind somit<br />

Orte, <strong>die</strong> das Verbot handhaben, <strong>und</strong> sie tun es, indem sie im Namen <strong>von</strong> sprechen <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses<br />

Im-Namen-<strong>von</strong> mittels komplexer Montagen <strong>und</strong> im Rekurs auf einfachste mythologische Mittel<br />

herstellen <strong>und</strong> inszenieren. 20<br />

<strong>Der</strong> Punkt, um den es mir hier nun geht, ist folgender. Die christlich-abendländische Institutionalität<br />

hat über sich einen eigenartigen Latenzzwang verhängt, einen Hang zur Antiinstitutionalität, der<br />

<strong>die</strong> zentrale Leistung der Institutionen verdeckt <strong>und</strong> sie inkommunikabel macht – freilich ohne sie<br />

<strong>des</strong>halb zu unterbinden. 21 Die Institution vollzieht ihr Werk der Einbettung der Subjekte in <strong>die</strong> herr-<br />

schende Diskursordnung gleichsam hinter dem Rücken <strong>die</strong>ser Subjekte. Dies gelingt, weil das<br />

Subjekt das Verbot, das <strong>von</strong> der Institution gehandhabt wird, gleichsam internalisiert. Damit er-<br />

scheint das Gesetz nicht länger als ein externes, <strong>von</strong> außen auferlegtes, sondern als selbstgege-<br />

benes <strong>und</strong> damit Autonomie verheißen<strong>des</strong> Gebot der eigenen Vernunft. <strong>Der</strong> Trick liegt darin, so<br />

hat es Joseph Vogl einmal treffend formuliert, dass man das Hören der inneren Stimmen trainiert:<br />

»Das soll ja der Effekt der ganzen Erziehungsprojekte <strong>und</strong> Moralunterweisungen sein. Am Ende<br />

kann man auf <strong>die</strong> Stimme <strong>des</strong> Gesetzes, <strong>des</strong> Gemeinwillens in sich selbst horchen <strong>und</strong> weiß, was<br />

zu tun ist.« 22 Für Vogl steht der Aufklärungsphilosoph Jean-Jacques Rousseau mit seinen Ursze-<br />

nen der bürgerlichen Gesellschaft am Anfang einer <strong>neue</strong>n rigiden Bevölkerungspolitik, <strong>die</strong> auf<br />

Selbstkontrolle gründet: »Nicht der Weg zurück zur Natur, nicht Demokratie <strong>und</strong> Volkssouveränität<br />

seien Rousseaus Anliegen gewesen, sondern »das Glück <strong>des</strong> Regiertwerdens«“. 23<br />

Dieses Glück <strong>des</strong> Regiertwerdens stellt sich natürlich nicht sofort <strong>und</strong> ohne Reibungsverluste ein,<br />

sondern muss philosophisch legitimiert, dann erlernt, verinnerlicht, geglaubt <strong>und</strong> praktiziert wer-<br />

den. Erst wenn das Joch <strong>des</strong> Gesetzes als Krone der Vernunft begriffen wird, gewinnt das Para-<br />

dox einer Freiheit durch Unterwerfung Plausibilität. Wenn, wie beim kategorischen Imperativ, <strong>die</strong><br />

Sollensaufforderung aus einer abstrakten Universalisierungsgeste der eigenen Vernunft resul-<br />

tiert, 24 handle ich nicht fremdbestimmt, sondern eben autonom. Freilich bedarf es einiger Diszipli-<br />

nierung, um <strong>die</strong>se Feier der Selbstgesetzgebung auch lustvoll zu goutieren. Mit anderen Worten,<br />

20 Vgl. Pierre Legendre: Le désir politique de Dieu. Étude sur les montages de l’État et du Droit. Paris 2005, S. 19f.<br />

21 Vgl. Anton Schütz: »›Christliches Abendland‹ im striktesten, weitesten Sinne«: Notizen zu Legendre. In: Pierre Legendre.<br />

Historiker, Psychoanalytiker, Jurist. Hrsg. <strong>von</strong> Cornelia Vismann in Zusammenarbeit mit Susanne Lüdemann<br />

<strong>und</strong> Manfred Schneider. Tumult. Schriften für Verkehrswissenschaft. Band 26. Berlin; Wien 2001, S. 54-63,<br />

hier S. 56.<br />

22 »<strong>Der</strong> Mann ist wie ein Brühwürfel«. Rousseau zum 300. Geburtstag. Interview mit Joseph Vogl. In Spiegel-Online:<br />

http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/jean-jacques-rousseau-joseph-vogl-im-interview-zum-300-geburtstag-a-<br />

840805-2.html (26.06.2012)<br />

23 Ebd.<br />

24 »Handle so, daß <strong>die</strong> Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten<br />

könne.« Immanuel Kant: <strong>Kritik</strong> der praktischen Vernunft. Werkausgabe, hrsg. <strong>von</strong> Wilhelm Weischedel Frankfurt<br />

a.M. 1977, Bd. VII, S. 140.<br />

6


es ist ein weiter Weg, bis aus den Menschen ›natürliche‹ Marionetten der Moral werden. Das Ziel<br />

der gesamten Aufklärungsbewegung <strong>des</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert, <strong>die</strong> in Kants berühmtem Diktum Sapere<br />

aude! mündet, könnte provokant zusammengefasst werden als großangelegtes Programm <strong>des</strong><br />

Vergessen <strong>des</strong> Gesetzes durch <strong>des</strong>sen Internalisierung. Das autonome Subjekt, <strong>des</strong>sen Entste-<br />

hung – oder sollte man besser sagen: Konstruktion – im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert bis in den letzten Winkel<br />

ausgeleuchtet ist, erscheint so als ein W<strong>und</strong>er der Dressur. Anders formuliert, <strong>die</strong> Macht der Insti-<br />

tution in der Moderne »steht <strong>und</strong> fällt mit dem Gelingen der modernen Scheingeschäfte Verantwor-<br />

tungstransfer <strong>und</strong> Institutionstransfer, also der rechtswirksamen Übernahme der Institutionslast<br />

durch das instituierte Subjekt.« 25<br />

Eine entscheidende Rolle bei <strong>die</strong>ser rechtswirksamen Übernahme spielt <strong>die</strong> Ästhetik, <strong>die</strong> in den<br />

wirkungsmächtigen Entwürfen <strong>von</strong> Karl Philip Moritz, Immanuel Kant <strong>und</strong> Friedrich Schiller mehr<br />

oder weniger explizit als Naturalisierungsinstanz 26 <strong>des</strong> Gesetzes <strong>und</strong> damit als Brücke zur Moral<br />

fungiert. Im Schönen, so <strong>die</strong> Kernthese <strong>die</strong>ser Entwürfe, werde eine Erfahrung <strong>von</strong> Autonomie zu-<br />

gänglich, <strong>die</strong> zumin<strong>des</strong>t strukturhomolog zu derjenigen ist, <strong>die</strong> im Befolgen <strong>des</strong> Sittengesetzes<br />

möglich werde. <strong>Der</strong> blinde Fleck in <strong>die</strong>ser Konstruktion ist bekannt. Weil das Schöne immer auch<br />

<strong>die</strong> Tendenz hat, das Bestehende beruhigend zu affirmieren, kompensiert es zugleich <strong>die</strong> Miss-<br />

stände der Realität. Indem <strong>die</strong> Kunst das Schöne als gegenwärtig zeigt, bringt sie <strong>die</strong> revoltierende<br />

Sehnsucht zur Ruhe, wie Herbert Marcuse betont. Darin liegt ja <strong>die</strong> erzieherische Leistung der<br />

schönen Kunst – <strong>und</strong> darin liegt ihr Potential für <strong>die</strong> institutionelle Ordnung: »Das befreite Individu-<br />

um, für das <strong>die</strong> <strong>neue</strong> Freiheit eine <strong>neue</strong> Form der Knechtschaft gebracht hatte, so zu disziplinieren,<br />

daß es <strong>die</strong> Unfreiheit <strong>des</strong> gesellschaftlichen Daseins ertrage.« 27<br />

Sie merken hoffentlich, worauf ich hinaus will. Boltanski <strong>und</strong> Chiapello haben <strong>die</strong> Fähigkeit <strong>des</strong><br />

<strong>Kapitalismus</strong> hervorgehoben, externe <strong>Kritik</strong> zur Weiterentwicklung der eigenen Rechtfertigungs-<br />

ordnung zu nutzen. Besonders intrikat ist dabei <strong>die</strong> Aufnahme der zentralen Forderungen der<br />

Künstlerkritik, <strong>die</strong> auf mehr Individualität <strong>und</strong> Selbstbestimmung insistiert. Darauf reagierte der Ka-<br />

pitalismus, indem er sich zum Netzwerkkapitalismus transformiert hat. Dort gehen kreative Netz-<br />

werker selbstbestimmt Bindungen ein <strong>und</strong> lösen sie wieder,<br />

autoritäre Führungskräfte werden zu coaches, <strong>die</strong> Raum für Selbstverwirklichung <strong>und</strong> autonome<br />

Gestaltung schaffen. Die ›schöne <strong>neue</strong> Netzwerkwelt‹ kann sich der normativen Zustimmung<br />

25<br />

Anton Schütz: Die Institution erhören. Echographik <strong>des</strong> gewöhnlichen Fanatismus. In: Rechtshistorisches Journal<br />

17/1998, S. 311-333, hier S. 322.<br />

26<br />

Schiller führt <strong>die</strong>s in seinen Briefen über <strong>die</strong> ästhetische Erziehung mit wünschenswerter Deutlichkeit aus: »Wenn<br />

also auf das sittliche Betragen <strong>des</strong> Menschen wie auf natürliche Erfolge gerechnet werden soll, so muß es Natur<br />

sein, <strong>und</strong> er muß schon durch seine Triebe zu einem solchen Verfahren geführt werden, als nur immer ein sittlicher<br />

Charakter zur Folge haben kann.« Friedrich Schiller: Briefe über <strong>die</strong> ästhetische Erziehung <strong>des</strong> Menschen. In:<br />

Werke <strong>und</strong> Briefe in zwölf Bänden, hrsg. <strong>von</strong> Otto Dann u.a., Frankfurt a.M. 1992, Bd. 8: Schillers theoretische<br />

Schriften, S. 563f.<br />

27<br />

Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur [1937]. In: <strong>Der</strong>s.: Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft I. Frankfurt<br />

a.M. 1965, S. 56-101, hier S. 89.<br />

7


der Akteure sicher sein. Wer wollte nicht selbstbestimmt, authentisch <strong>und</strong> in Teams an wechselnden<br />

Projekten arbeiten? 28<br />

Eben <strong>die</strong>se Bewegung, <strong>die</strong> durch Internalisierung <strong>des</strong> Gesetzes <strong>von</strong> Fremdbestimmung auf<br />

Selbstbestimmung umstellt, habe ich als rechtswirksame Übernahme der Institutionslast durch das<br />

instituierte Subjekt charakterisiert <strong>und</strong> <strong>die</strong>se Bewegung lässt sich schon im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert be-<br />

obachten, <strong>und</strong> zwar im Spannungsfeld <strong>von</strong> Aufklärungsphilosophie <strong>und</strong> Ästhetik. <strong>Der</strong> Trick der<br />

modernen Gouvernementalität, so könnte man pointiert zusammenfassen, liegt darin, sich selbst<br />

unsichtbar zu machen, indem <strong>die</strong> beherrschten Subjekte der Fiktion erliegen, selbstbestimmt <strong>und</strong><br />

aus eigener Motivation zu handeln. Die Regierungskunst feiert dort ihren größten Sieg, wo sie zur<br />

Kunst der Selbstregierung mutiert. Damit aber erscheint auch <strong>die</strong> eingangs formulierte Frage nach<br />

der <strong>Möglichkeit</strong> <strong>von</strong> <strong>Kritik</strong> in einem <strong>neue</strong>n Licht. Sie müsste umformuliert werden <strong>und</strong> einen eher<br />

selbstreflexiven Charakter bekommen. Gefragt werden müsste nach den Prinzipien <strong>und</strong> Verfahren<br />

– <strong>und</strong> vor allem: nach den Bedürfnissen –, <strong>die</strong> zu jener perversen Form <strong>des</strong> Glücks <strong>des</strong> Regiert-<br />

werdens geführt haben. Wie angedeutet führt <strong>die</strong>se Frage ins Zentrum der vermeintlich so aufge-<br />

klärten Prinzipien der abendländischen Subjektkonstitution <strong>und</strong> offenbart dort eine Aporie. Denn<br />

anzuerkennen, dass das abendländische Subjekt <strong>die</strong> Feier seiner Autonomie eben auch der Inter-<br />

nalisierung der vormals extern agierenden Regierungskunst verdankt, hieße zugleich anzuerken-<br />

nen, dass »das Postulat der Selbstregierung <strong>und</strong> <strong>des</strong> rational choice, das Konzept <strong>des</strong> in sich<br />

selbst ruhenden, über sich, seine Ziele, Absichten, Wünsche, Motive, selbst am besten Bescheid<br />

wissenden Individuums« nichts weiter als eine kunstvolle Phantasmagorie ist. 29 Auf eben <strong>die</strong>sem<br />

blinden Fleck aber basiert der Erfolg <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong>, der sich gleichsam unsichtbar gemacht <strong>und</strong><br />

als unabdingbares Strukturmoment in <strong>die</strong> Köpfe der beherrschten Subjekte eingeschrieben hat.<br />

Wer also den <strong>Kapitalismus</strong> erfolgreich kritisieren will, muss nicht nur am kapitalistischen System<br />

<strong>und</strong> seinen Verwerfungen ansetzen, sondern zugleich an den Mechanismen in den Köpfen der<br />

Subjekte, <strong>die</strong> jene Umstellung <strong>von</strong> Fremdregentschaft auf Selbstregentschaft möglich macht. Um<br />

es auf eine plakative Formel zu bringen: <strong>Kapitalismus</strong>kritik ist vor allem Selbstkritik – sie bedarf<br />

notwendig einer anthropologischen Dimension, weil es letztlich um <strong>die</strong> Wiedergewinnung einer<br />

Dimension <strong>von</strong> Freiheit geht, <strong>die</strong> nicht auf Unterwerfung basiert.<br />

Damit konvergiert <strong>die</strong> <strong>Kritik</strong> am <strong>Kapitalismus</strong> im Kern mit dem Projekt, das Hannah Arendt als <strong>die</strong><br />

Wiedergewinnung <strong>des</strong> Politischen beschrieben hat. Anders als Foucault bezieht sich Arendt nicht<br />

auf den Beginn der Moderne im 16.-17. Jahrh<strong>und</strong>ert, wo Ökonomie <strong>und</strong> Regierungskunst ihre wir-<br />

kungsmächtige Liaison eingingen. Vielmehr fragt Arendt, was vor <strong>die</strong>ser Liaison eigentlich für ein<br />

Zustand herrschte – <strong>und</strong> sie erinnert an <strong>die</strong> konstitutive Trennung zwischen dem Raum der Polis<br />

<strong>und</strong> dem Bereich <strong>des</strong> Haushalts – eine Trennung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> axiomatische Gr<strong>und</strong>lage <strong>des</strong> gesamten<br />

politischen Denkens in der griechischen Antike bildete. 30 Nur weil der öffentliche Raum <strong>des</strong> Politi-<br />

28 Ebd.<br />

29 Schütz: Die Institution erhören, S. 317.<br />

30 Vgl. Hannah Arendt: Vita actia oder Vom tätigen Leben. München 1997, S. 41.<br />

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schen explizit jenseits der Sphäre <strong>des</strong> Privaten <strong>und</strong> der Sachzwänge der dort regierenden oiko-<br />

nomia angesiedelt war, konnte der Raum der Politik zugleich auch ein Raum der Freiheit sein. Und<br />

eben <strong>die</strong>sen Raum gilt es zurückzugewinnen für <strong>die</strong> Gegenwart! Die <strong>Kritik</strong>, <strong>von</strong> der jetzt so viel <strong>die</strong><br />

Rede war, müsste sich demzufolge auf ihren etymologischen Ursprung zurückbesinnen, der be-<br />

kanntlich in dem altgriechischen Begriff krínein wurzelt, was ›trennen‹ bzw. ›unterscheiden‹ bedeu-<br />

tet. Mit anderen Worten: <strong>Kritik</strong> zu üben, setzt zuallererst ein Unterscheidungsvermögen voraus.<br />

Die Frage müsste also lauten, wie sich das Politische als Raum der Freiheit jenseits der gouver-<br />

nementalen Praxen <strong>des</strong> <strong>Kapitalismus</strong> denken lässt. Und <strong>die</strong>s heißt vor allem, <strong>die</strong> internalisierten<br />

gouvernementalen Strukturen in unserem Denken sichtbar machen. Eben <strong>die</strong>s aber ist doch viel-<br />

leicht <strong>die</strong> eigentliche Intention <strong>von</strong> Hessels Imperativ Indignez-vous!<br />

Peter Sloterdijk hat in einem lesenswerten Aufsatz Über <strong>die</strong> Entstehung der res publica aus dem<br />

<strong>Geist</strong> der Empörung an Hessels Thesen angeknüpft <strong>und</strong> darauf hingewiesen, dass an der Quelle<br />

<strong>des</strong> altrömischen Gemeinwesengefühls <strong>die</strong> Unwilligkeit der Bürger gestanden habe, welche <strong>die</strong><br />

allzu krass gewordenen Anmaßungen der Herrschenden nicht länger zu dulden bereit gewesen<br />

waren. »Was man später Öffentlichkeit nennen wird, ist anfangs ein Epiphänomen <strong>des</strong> Bürger-<br />

zorns«, 31 betont Sloterdijk. Hessel selbst versteht <strong>die</strong> Empörung als den entscheidenden Charak-<br />

terzug, durch den der Bürger seine Würde zurückgewinnen kann. 32 Dem ist, so meine ich, wenig<br />

hinzuzufügen – <strong>und</strong> nach dem bisher dargelegten dürfte deutlich geworden sein, dass eben hier, in<br />

der Empörung, das eigentliche F<strong>und</strong>ament jeder <strong>Kritik</strong> begründet liegt. Denn <strong>Kritik</strong> heißt nicht,<br />

dass man lediglich sagt, <strong>die</strong> Dinge seien nicht gut so, wie sie sind.<br />

<strong>Kritik</strong> heißt herausfinden, auf welchen Erkenntnissen, Gewohnheiten <strong>und</strong> erworbenen, aber<br />

nicht reflektierten Denkweisen <strong>die</strong> akzeptierte Praxis beruht. [...] <strong>Kritik</strong> heißt, Dinge, <strong>die</strong> allzu<br />

leicht <strong>von</strong> der Hand gehen, ein wenig schwerer zu machen. 33<br />

31<br />

Vgl. Peter Sloterdijk: Über <strong>die</strong> Entstehung der res publica aus dem <strong>Geist</strong> der Empörung. In: Bazon Brock <strong>und</strong> Peter<br />

Sloterdijk (Hg.): <strong>Der</strong> Profi-Bürger. Bd. 8 der Schriftenreihe der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe<br />

(<strong>neue</strong> Folge), hrsg. <strong>von</strong> Peter Sloterdijk, S. 47-58, hier S. 49.<br />

32<br />

Vgl. Stéphane Hessel: Empörung – Meine Bilanz. Aus dem Französischen <strong>von</strong> Michael Kogon. München 2012,<br />

S.147.<br />

33<br />

Michel Foucault: Ist es also wichtig zu denken? In: <strong>Der</strong>s.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. IV: 1980-1988.<br />

Herausgegeben <strong>von</strong> Daniel Defert <strong>und</strong> François Ewald unter Mitarbeit <strong>von</strong> Jacques Lagrange. Aus dem Französischen<br />

<strong>von</strong> Michael Bischoff, Ulrike Bokelmann, Horst Brühmann, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba <strong>und</strong> Jürgen<br />

Schröder. Nr. 296, S. 219-223, hier S. 221f.<br />

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