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Wetterregeln (Von der Beurteilung der Zeit)

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Gt 08020 / p. 185 / 28.9.2007<br />

<strong>Wetterregeln</strong> (<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Beurteilung</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>)<br />

Q 12,54-56 (Mt 16,2f. / Lk 12,54-56 / EvThom 91)<br />

(54) Er aber sagte ihnen: »Wenn es Abend geworden ist, sagt ihr: ›Es gibt<br />

gutes Wetter, denn <strong>der</strong> Himmel ist feuerrot‹, (55) und am Morgen: ›Heute<br />

gibt es schlechtes Wetter, denn feuerrot ist <strong>der</strong> trübe Himmel.‹ (56) Das<br />

Aussehen des Himmels wisst ihr zu beurteilen, den <strong>Zeit</strong>punkt aber könnt<br />

ihr nicht beurteilen?«<br />

Sprachlich-narrative Analyse (Bildlichkeit)<br />

Die Zeichenfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Pharisäer in Mt 16,1-4 liegt in <strong>der</strong> handschriftlichen Überlieferung<br />

in einer Langfassung und einer Kurzfassung vor. Die Langfassung entspricht dem<br />

gegenwärtigen Text des NT Graece, wobei allerdings V. 2b-3 in Klammern gesetzt sind.<br />

Dies liegt daran, dass <strong>der</strong> längere Text von jüngeren Handschriften bezeugt ist (darunter<br />

C, D, K, L, W, Q), <strong>der</strong> kürzere dagegen, <strong>der</strong> V. 2b und 3 auslässt, von älteren Handschriften<br />

(daruntera, B). Aus diesem Grund gehen viele Kommentare davon aus, dass es sich<br />

bei 16,2b-3 um einen späteren Einschub handelt. Ein solcher Einschub könnte von Lk<br />

12,54-56 o<strong>der</strong> von einer ähnlichen Quelle angeregt worden sein.<br />

Bei dieser Annahme stellt sich aber ein Problem: Zum einen kennt Lk 12,54-56 den<br />

mt Rahmen nicht. Während bei Mt Pharisäer und Sadduzäer von Jesus ein Zeichen for<strong>der</strong>n,<br />

spricht Jesus nach Lk von sich aus zu <strong>der</strong> Menge. Vor allem aber bieten Mt und Lk<br />

unterschiedliche <strong>Wetterregeln</strong>:<br />

Mt 16,1-4 Lk 12,54-56<br />

1 Und Pharisäer und Sadduzäer traten herzu, um<br />

ihn zu versuchen, und for<strong>der</strong>ten ihn auf, ihnen<br />

ein Zeichen vom Himmel zu zeigen.<br />

2a Er aber antwortete und sprach zu ihnen:<br />

2b »Wenn es Abend wird, sagt ihr: ›Es wird ein<br />

schöner Tag, denn <strong>der</strong> Himmel ist rot.‹<br />

3 Und früh morgens: ›Heute gibt es Unwetter,<br />

denn rot und trüb ist <strong>der</strong> Himmel.‹<br />

Das Aussehen des Himmels versteht ihr zu unterscheiden,<br />

die Zeichen <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>en aber nicht?<br />

4 Ein böses und abtrünniges Geschlecht for<strong>der</strong>t<br />

ein Zeichen. Und ein Zeichen wird ihm nicht gegeben<br />

werden – außer dem Zeichen des Jona.«<br />

Und er ließ sie stehen und ging weg.<br />

54 Er sprach aber zu <strong>der</strong> Menge:<br />

»Wenn ihr eine Wolke im Westen aufsteigen seht,<br />

sagt ihr sogleich: ›Ein Platzregen kommt.‹ Und so<br />

geschieht es.<br />

55 Und wenn (ihr seht, dass) <strong>der</strong> Südwind bläst,<br />

sagt ihr: ›Es wird heiß.‹ Und so geschieht es.<br />

56 (Ihr) Heuchler, das Aussehen von Erde und<br />

Himmel könnt ihr beurteilen; wie (kommt es,<br />

dass) ihr diese <strong>Zeit</strong> nicht beurteilen könnt?«<br />

Beide Texte stimmen in drei Punkten überein:<br />

– Die angesprochenen Adressaten sind in <strong>der</strong> Lage, Wetterzeichen zu deuten.<br />

171


Gt 08020 / p. 186 / 28.9.2007<br />

Parabelnin<strong>der</strong>LogienquelleQ<br />

– Erstaunlicherweise sind sie jedoch nicht in <strong>der</strong> Lage o<strong>der</strong> willens, die »Zeichen <strong>der</strong><br />

<strong>Zeit</strong>« zu deuten.<br />

– Dass die Angesprochenen die »Zeichen <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>« nicht deuten können o<strong>der</strong> wollen,<br />

wird negativ beurteilt (ein böses und abtrünniges Geschlecht bzw. ihr Heuchler).<br />

Trotz dieser übereinstimmenden Grundstruktur unterscheiden sich die Textfassungen<br />

bei Matthäus und Lukas deutlich voneinan<strong>der</strong>. Matthäus formuliert die Beobachtung<br />

des Himmels als Antwort auf eine Zeichenfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Pharisäer und Sadduzäer. Nach<br />

Lukas spricht Jesus die Menge an, eine Zeichenfor<strong>der</strong>ung findet sich bei ihm an dieser<br />

Stelle nicht. Vor allem aber sind die angeführten Wetterzeichen ganz unterschiedlich formuliert.<br />

Während bei Lukas Wolken von Westen zuverlässig einen Platzregen ankündigen<br />

und Südwind Hitze bringt, findet sich bei Matthäus eine Deutung von Abend- und<br />

Morgenrot. Bei Lukas sind die Zeichen eindeutig, bei Matthäus kann <strong>der</strong> rote Himmel<br />

dagegen Verschiedenes bedeuten, je nachdem, ob man ihn am Abend o<strong>der</strong> am Morgen<br />

betrachtet. Deshalb spielen bei Matthäus »die <strong>Zeit</strong>en« eine größere Rolle als bei Lukas.<br />

Auf Grund <strong>der</strong> genannten Unterschiede zwischen den beiden Textfassungen ist zu fragen,<br />

ob Mt 16,3bf. und Lk 12,54-56 tatsächlich auf Q zurückgehen. Dies wird üblicherweise<br />

zurückhaltend bis negativ beurteilt (vgl. exemplarisch Wiefel 1998, 290; Hirunuma<br />

1981). In die Textausgabe <strong>der</strong> Spruchquelle ist Q 12,54-56 aufgenommen, allerdings mit<br />

einer nur »schwachen Wahrscheinlichkeit« (Hoffmann / Heil 2002, 29.86f.). Aufgrund<br />

<strong>der</strong> übereinstimmenden Grundstruktur bei<strong>der</strong> Texte neige ich jedoch dazu, eine Q-Vorlage<br />

anzunehmen (vgl. Kloppenborg 1987a, 152). Wegen <strong>der</strong> stärkeren Einfügung in den<br />

Kontext bei Matthäus und <strong>der</strong> jeweils formulierten <strong>Wetterregeln</strong> selbst ist davon auszugehen,<br />

dass sie bei Lk zuverlässiger aufbewahrt ist als bei Mt (an<strong>der</strong>s Hoffmann/Heil, die bis<br />

auf eine kleine Än<strong>der</strong>ung am Schluss des Abschnitts die Matthäusfassung bieten, s. o.).<br />

Möglich ist aber, dass die Rede von »diesem bösen und abtrünnigen Geschlecht« (Mt<br />

16,4) von Q beeinflusst ist (vgl. Q 7,31-35; 11,29-32.49-51). Der Wortlaut lässt sich angesichts<br />

<strong>der</strong> stark differierenden <strong>Wetterregeln</strong> jedoch nicht im Detail rekonstruieren.<br />

Beide Texte weisen eine narrative Grundstruktur auf. Die Vorhersage des Wetters setzt<br />

Erfahrung voraus und deutet eine zeitliche und eine kognitive Differenz an. Eine kleine<br />

Wolke im Westen, die den Unkundigen in keiner Weise beunruhigt, ist für den, <strong>der</strong> das<br />

Wetter kennt, ein untrügliches Zeichen für baldigen Sturm. Jetzt ist die Wolke klein, jetzt<br />

ist <strong>der</strong> Himmel nur rot und trüb – aber bald wird das Unwetter hereinbrechen.<br />

Dennoch hat die Parabel zunächst nichts Bedrohliches an sich; schließlich wird<br />

den Adressaten eine solche Urteilskompetenz in Fragen <strong>der</strong> Wettervorhersage unterstellt.<br />

Wie das Wetter auch werden mag, sie wissen es im Voraus und können sich rechtzeitig<br />

darauf einstellen; ihre Aufmerksamkeit und Vorsicht schützt. Innerhalb des Bildes besteht<br />

für die Angesprochenen also kein Grund zur Besorgnis – wäre da nicht <strong>der</strong> irritierende<br />

Nachsatz, <strong>der</strong> ihre Urteilskompetenz in einem ganz an<strong>der</strong>en, aber offenbar nicht<br />

weniger elementaren Bereich in Frage stellt: die <strong>Beurteilung</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>.<br />

SozialgeschichtlicheAnalyse(Bildspenden<strong>der</strong> Bereich)<br />

Wetterzeichen (¥pishmasfflai, dioshme…ai o<strong>der</strong> auch shme…a – episēmasiai, diosēmeiai,<br />

semēia) geben Hinweise auf das zu erwartende Wetter <strong>der</strong> kommenden Tage (o<strong>der</strong> auch<br />

längerer <strong>Zeit</strong>räume). Wetterprognosen auf Grund solcher Zeichen werden bereits von<br />

172


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<strong>Wetterregeln</strong> Q 12,54-56<br />

den Babyloniern erstellt, aber erst bei den Griechen systematisiert. Nach Vergil (georg. I<br />

438-456) ermöglichen die Zeichen <strong>der</strong> Sonne die zuverlässigsten Wetterprognosen:<br />

»Auch wenn kurz vor Aufgang <strong>der</strong> Sonne Strahlen bald hierhin, bald dorthin sich brechen<br />

durch dichtes Gewölk, o<strong>der</strong> wenn sich bleich Aurora erhebt vom safrangoldenen Lager,<br />

ach, dann schirmt nur schlecht die süßen Trauben das Weinlaub, allzu entsetzlich tanzt<br />

auf den Dächern prasselnd <strong>der</strong> Hagel. … Oft genug sehen wir ihr Antlitz bunt überflogen<br />

von mancherlei Farben: bläuliche kündigt Regen uns an und feurigen Ostwind. Mischen<br />

sich aber Flecken allmählich dem rötlichen Feuer, alles siehst du alsdann von Sturm und<br />

Regen erbrausen, in solch einer Nacht kann keiner zur Fahrt auf <strong>der</strong> hohen See mich<br />

bewegen, noch vom Lande zu lösen das Schiffstau. Leuchtet jedoch, wenn den Tag sie<br />

vom Morgen zum Abend geleitet, strahlend ihr Rund, so bangst du umsonst vor stürmendem<br />

Regen, und im klärenden Nordwind siehst du die Wäl<strong>der</strong> sich regen.«<br />

Eine wichtige Quelle für die Deutung von Abend- und Morgenrot ist auch die Naturgeschichte<br />

von Plinius. Er schreibt in nat. 18,342 (vgl. auch 2,10 ff.; Arat. 858-871):<br />

Geht die Sonne »klar und nicht heiß auf, so kündigt sie einen heiteren Tag an, geht sie<br />

bleich auf, dann Sturm und Hagel (ad hibernam pallidus grandinem). Wenn sie tags zuvor<br />

heiter unterging und [ebenso wie<strong>der</strong> aufgeht], kann man umso sicherer mit heiterem<br />

Wetter rechnen. Geht sie [von Wolken] verhüllt auf, kündigt sie Regen an; ebenso Winde,<br />

wenn sich vor ihrem Aufgang die Wolken röten (idem ventos, cum ante exorientem eum<br />

nubes rubescunt); ferner Regen, wenn zwischen roten Wolken auch dunkle erscheinen;<br />

wenn ihre Strahlen beim Auf- und Untergang zusammenzulaufen scheinen, so zeigt das<br />

Regen an. Wenn sie die Wolken beim Sonnenuntergang röten (si circa occidentem rubescunt<br />

nubes), versprechen sie auch für den folgenden Tag schönes Wetter.«<br />

Matthäus stimmt offensichtlich mit diesen Erkenntnissen griechisch-römischer Wetterbeobachtung<br />

überein. Lukas verweist mit seinem Text dagegen auf geographisch-meteorologische<br />

Zusammenhänge, wie sie für Palästina bzw. die Levante (also im Wesentlichen<br />

die heutigen Staaten Syrien, Jordanien, Libanon, Israel und Palästina) zutreffen. Wolken,<br />

die im Westen aufsteigen und Regen bringen, sind wie <strong>der</strong> heiße Südwind Wetterphänomene<br />

im palästinisch-syrischen Raum. 1Kön 18,41-45 beschreibt die Regen bringenden<br />

Wolken aus dem Westen (d. h. vom Meer her) anschaulich: »›Geh hinauf und schaue zum<br />

Meer!‹ Er (sc. <strong>der</strong> Diener) ging hinauf und schaute und sprach: ›Es ist nichts da.‹ Elia<br />

sprach: ›Geh wie<strong>der</strong> hin‹, und <strong>der</strong> Diener ging wie<strong>der</strong> hin, siebenmal. Und beim siebentenmal<br />

sprach er: ›Siehe, es steigt eine kleine Wolke auf aus dem Meer wie eines Mannes<br />

Hand.‹ Elia sprach: ›Geh hin und sage Ahab: Spann an und fahre hinab, damit dich <strong>der</strong><br />

Regen nicht aufhält!‹ Und ehe man sich’s versah, wurde <strong>der</strong> Himmel schwarz von Wolken<br />

und Wind, und es kam ein großer Regen« (V. 43-45). Das Stichwort Ñmbro@ (ombros) in<br />

Lk 12,54 bezeichnet dementsprechend den Platzregen. Die Kenntnis <strong>der</strong> Winde war in<br />

<strong>der</strong> Antike für die Landwirtschaft und die Seefahrt gleichermaßen wichtig: »Das Vokabular,<br />

das sich auf sie bezieht, ist reich und präzis« (Bovon 1996, 358). Der Wind aus<br />

dem Süden bringt nach 1Hen 76 (dort werden 12 Winde aus den vier Himmelsrichtungen<br />

beschrieben) Gluthitze mit sich (76,7). Einige rabbinische <strong>Wetterregeln</strong> sind bei Billerbeck<br />

(I 2 1926, 727 f.) gesammelt. Es geht dabei hauptsächlich darum, ob trockenes<br />

Wetter o<strong>der</strong> Regen zu erwarten ist.<br />

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Gt 08020 / p. 188 / 28.9.2007<br />

Parabelnin<strong>der</strong>LogienquelleQ<br />

Analysedes Bedeutungshintergrunds(Bildfeldtradition)<br />

Das Wetter in Palästina wird durch die Lage zwischen Meer und Wüste bestimmt. Ein<br />

trockener Sommer und die Regenzeit im Winter wechseln sich ab. Ps 32,4 weist auf die<br />

Dürre im Sommer hin, Jes 25,4 auf Regen und Unwetter im Winter. Ebenso ist <strong>der</strong> Tag<br />

gekennzeichnet durch Hitze wie die Nacht durch Kälte (Gen 31,40; Jer 36,30). In <strong>der</strong><br />

Sommerhitze versiegen die Bäche (Hi 6,17), aus dem Norden kommen Sturm und Kälte<br />

(Hi 37,6). Ein Baum, <strong>der</strong> am Wasser gepflanzt ist, kann <strong>der</strong> Hitze standhalten (Jer 17,8).<br />

In einer agrarischen Gesellschaft waren die Beobachtung des Himmels und die Kenntnis<br />

von <strong>Wetterregeln</strong> eine Notwendigkeit. Wie<strong>der</strong>holt dienen die Gewalten des Wetters auch<br />

dazu, politische Notsituation zu beschreiben (z. B. Jes 28,2; Am 1,14).<br />

Bei Matthäus ist die Beobachtung des Wetters eingeordnet in die For<strong>der</strong>ung eines<br />

»Zeichens vom Himmel«. Shme…on (sēmeion Zeichen) findet sich viermal in den Rahmenversen<br />

1 und 4; dies weist auf die beson<strong>der</strong>e Bedeutung hin, die dem Begriff hier<br />

zukommt. Beglaubigungszeichen sind nach alttestamentlich-jüdischer Auffassung durchaus<br />

denkbar und man kann sogar darum bitten (vgl. 1Kön 13,3; 2Kön 20,9 ff.; nach Jes<br />

7,10 ff. gibt Gott selbst ein Zeichen, obwohl es von Ahas in frommer Haltung abgelehnt<br />

wird). Flav. Jos. Bell. 2,259.262; Ant 18,85-87; 20,97-99 und Joh 6,30f. berichten von<br />

Beglaubigungswun<strong>der</strong>n endzeitlicher Propheten. Aber kein noch so beeindruckendes<br />

Zeichen könnte es rechtfertigen, an<strong>der</strong>en Göttern zu folgen (Dtn 13,1ff.; SifDev 12,2<br />

§ 83f.). In Ex 17,1-7; Num 14,22; Ps 78,41 wird die For<strong>der</strong>ung eines Wun<strong>der</strong>s dagegen<br />

als Versuchung Gottes bezeichnet.<br />

In <strong>der</strong> Rahmung bei Lukas fehlt die Zeichenfor<strong>der</strong>ung. Aber auch er setzt einen<br />

Akzent, und zwar mit dem Worten dokim€zein (dokimazein), das zweimal vorkommt<br />

und »genau prüfen«, »billigen« meint. In <strong>der</strong> LXX findet sich das Verb vielfach in poetischen<br />

Texten und wird dort von Jahwe ausgesagt, <strong>der</strong> die Menschen insgesamt, das Volk<br />

o<strong>der</strong> Einzelne prüft (vgl. Ps 16 [17], 3; 25 [26], 2; 138 [139], 1.23; Jer 9,7; 11,20; 12,3<br />

u. ö.). Dabei wird eine Opposition formuliert: Während die Menge die Wetterphänomene<br />

genau prüfen kann, ist sie nicht in <strong>der</strong> Lage, »diese <strong>Zeit</strong>« ebenso genau zu prüfen.<br />

Matthäus verwendet anstelle von dokim€zw (dokimazō) das Verb diakrfflnw (diakrinō<br />

unterscheiden, beurteilen). Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Zeichenfor<strong>der</strong>ung verweist das<br />

Verb auf die im zeitgenössischen Judentum geübte Deutung eschatologischer Zeichen<br />

(Dautzenberg, 1992, 736). Charakteristisch hierfür ist Flav. Jos. Bell. VI 315: »Die Juden<br />

deuten eben manche <strong>der</strong> Vorzeichen nach ihren Wünschen, über an<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong> setzten<br />

sie sich leichtsinnig hinweg, bis endlich <strong>der</strong> Fall ihrer Hauptstadt und ihr eigenes Ver<strong>der</strong>ben<br />

sie von ihrem Unverstand überzeugten« (vgl. 291.295).<br />

Zusammenfassende Auslegung(Deutungshorizonte)<br />

Die bei Matthäus und Lukas übereinstimmende Grundstruktur zeigt, dass es bereits im<br />

Q-Text einerseits um die Frage geht, wie man Jesus verstehen kann, und an<strong>der</strong>erseits um<br />

das Erstaunen darüber, dass viele ihn missverstehen. Die Adressaten sind durchaus in <strong>der</strong><br />

Lage, Zeichen zu deuten und das künftige Wettergeschehen am Himmel zu erkennen.<br />

Was für die Beobachtung des Himmels gilt, gilt aber offenbar nicht für die Deutung<br />

dessen, was um sie herum vorgeht. Matthäus bringt beides in einen prägnanten Gegen-<br />

174


Gt 08020 / p. 189 / 28.9.2007<br />

satz: Obwohl die Pharisäer und Sadduzäer das »Angesicht des Himmels« kennen und<br />

beurteilen können (Mt 16,3), for<strong>der</strong>n sie ein »Zeichen vom Himmel« (Mt 16,1). Es geht<br />

also um die anerkannte Fähigkeit <strong>der</strong> Menschen, Wetterzeichen zu erkennen und richtig<br />

zu deuten. Die zweimalige Bestätigung in Lk 12,54f. »und so geschieht es« unterstreicht,<br />

dass diese Deutung <strong>der</strong> Wetterzeichen angemessen und richtig ist. Umso erstaunlicher<br />

ist, dass die Menschen an<strong>der</strong>e Zeichen, die ebenso auf <strong>der</strong> Hand liegen, nicht deuten<br />

können o<strong>der</strong> wollen. Das Vorstellungsfeld »Wetterbeobachtung und ihre Deutung« wird<br />

also aufgegriffen und auf einen an<strong>der</strong>en Bereich übertragen. Dabei geht es offensichtlich<br />

um »die <strong>Zeit</strong>« bzw. »die <strong>Zeit</strong>en«. Im Zusammenhang von Q wird in 12,39-59 das unerwartete<br />

Kommen des Menschensohnes thematisiert. Die »Zeichen <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>« sind hier mit<br />

dieser eschatologischen Erwartung verknüpft.<br />

Aspekte <strong>der</strong> ParallelüberlieferungundWirkungsgeschichte<br />

<strong>Wetterregeln</strong> Q 12,54-56<br />

Bereits in Mt 12,38ff. hatte Jesus nach <strong>der</strong> Darstellung des Matthäus die For<strong>der</strong>ung nach<br />

einem Beglaubigungszeichen abgelehnt. Waren es dort die Pharisäer und Schriftgelehrten,<br />

die das Zeichen for<strong>der</strong>ten, so treten hier die Pharisäer und Sadduzäer gemeinsam auf<br />

(vgl. 16,6.11f.). Pharisäer und Sadduzäer wurden bereits in 3,7 als gemeinsame Gegner<br />

des Johannes genannt. Möglicherweise will Matthäus daran erinnern. Auf jeden Fall sind<br />

sich für Matthäus diese sonst so uneinigen Gruppierungen (vgl. Apg. 23,6-8) in <strong>der</strong> Gegnerschaft<br />

gegenüber Johannes und Jesus einig (Luz 3 1999, 444). Dementsprechend wird<br />

ihre Frage eingeführt: Sie wollen ihn damit fangen und versuchen (so wie in 4,1.3 <strong>der</strong><br />

Versucher selbst an Jesus herangetreten ist). In 19,3; 22,18 werden die Pharisäer dies<br />

wie<strong>der</strong>holen.<br />

Sollte Jesus nach 12,38 ein Zeichen tun, so wird nun ein »Zeichen vom Himmel«<br />

gefor<strong>der</strong>t. Da Jesus kurz vor dieser For<strong>der</strong>ung zweimal eine große Menschenmenge auf<br />

wun<strong>der</strong>bare Weise gespeist (14,13-21; 15,32-39) und viele Kranke geheilt hat (14,34-36;<br />

15,21-28.29-31), geht es offenbar nicht um ein weiteres Wun<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n um ein Himmelszeichen,<br />

das jeglichen Zweifel an Jesus ausschließen soll (was aber nach Ansicht seiner<br />

Gegner gar nicht zu erwarten ist). Schon das Wort shme…on (sēmeion) deutet darauf<br />

hin; die Wun<strong>der</strong> Jesu werden sonst in <strong>der</strong> Regel als Machttaten (dun€mei@ dynameis)<br />

bezeichnet.<br />

Jesus antwortet mit einem Vergleich: Abendrot deutet auf schönes Wetter am folgenden<br />

Tag hin, ein roter und trüber Himmel am Morgen dagegen auf ein kommendes<br />

Unwetter. Dieses Aussehen des Himmels, dieses Himmelszeichen können die Pharisäer<br />

und Sadduzäer deuten. Wie kommt es dann, fragt Jesus, dass sie die »Zeichen <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>en«<br />

nicht deuten können? Diese Zeichen können im Erzählzusammenhang nur die Worte<br />

und Taten Jesu selbst sein (in 26,18 werden das bevorstehende Passamahl und das Leiden<br />

als kairƒ@ kairos bezeichnet). Sie sind in aller Öffentlichkeit geschehen. Angesichts dieser<br />

Zeichen ein Zeichen vom Himmel zu for<strong>der</strong>n, weist auf die versucherische Absicht <strong>der</strong><br />

Gegner hin. Ihre For<strong>der</strong>ung wird in Anlehnung an alttestamentliche Scheltworte (vgl. Jer<br />

3,8 f.; 5,7; Hos 2,4; Ez 16,15ff.) als die eines bösen und abtrünnigen (eigentlich: ehebrecherischen)<br />

Geschlechts bezeichnet. Aber sie werden kein Zeichen bekommen außer dem<br />

des Jona. Das Jonazeichen wird hier nicht näher erläutert. Aber es wurde ja bereits in<br />

12,38-40 gedeutet: So wie Jona drei Tage und Nächte im Bauch des Fisches war, so <strong>der</strong><br />

175


Gt 08020 / p. 190 / 28.9.2007<br />

Parabelnin<strong>der</strong>LogienquelleQ<br />

Menschensohn drei Tage und Nächte im Schoß <strong>der</strong> Erde (Lk 11,30-32 deutet das Zeichen<br />

an<strong>der</strong>s). Auf diese erste Zeichenfor<strong>der</strong>ung wird zurückgegriffen. Eine erneute Erläuterung<br />

erübrigt sich. Entsprechend abrupt ist <strong>der</strong> Schluss des Abschnitts: Jesus lässt die<br />

Fragesteller stehen und geht weg. Wenn er sie das nächste Mal trifft (19,3; 22,23), werden<br />

sie ihn mit ihren Fragen wie<strong>der</strong> in die Falle locken wollen. Matthäus greift die Zeichenfor<strong>der</strong>ung<br />

hier erneut auf, weil er mit ihrer Hilfe zeigen kann, wie sich <strong>der</strong> Konflikt zwischen<br />

Jesus und seinen Gegnern steigert und unumkehrbar wird. Die Steigerung zeigt<br />

sich sowohl im Rückgriff auf das Jonazeichen als auch bei dem vermutlich von Q angestoßenen<br />

Hinweis auf die Fähigkeit <strong>der</strong> Gegner, Wetterzeichen zu deuten. Obwohl sie dies<br />

können, weigern sie sich, die Wun<strong>der</strong>, die Jesus tut, als Zeichen dafür zu sehen, dass er in<br />

Gottes Vollmacht handelt.<br />

Lukas fügt 12,54-56 in einen größeren Zusammenhang ein, <strong>der</strong> das ganze 12. Kapitel<br />

umfasst. Adressat <strong>der</strong> Worte Jesu ist grundsätzlich die Menge (vgl. V. 1.13.54), einige<br />

Abschnitte richten sich aber beson<strong>der</strong>s an die Jünger (12,22.32.41). 12,54-56 sind zur<br />

Menge gesprochen. Es handelt sich um ein Wort des Erstaunens, das zu Verän<strong>der</strong>ung<br />

führen soll. Die Menschen sind in <strong>der</strong> Lage, Wetterzeichen zu beobachten und zutreffende<br />

Schlüsse daraus zu ziehen: Selbst eine einzige Wolke vom Westen (vgl. Bovon 1996,<br />

357) deutet auf Regen hin, <strong>der</strong> Südwind auf Hitze. Das zweimalige »Und es geschieht so«<br />

unterstreicht sowohl die Richtigkeit dieser Wetterprognosen als auch den Sachverhalt,<br />

dass die Menschen tatsächlich in <strong>der</strong> Lage sind, Zeichen zu deuten.<br />

V. 56 ist erstaunter Ausruf und Kritik in einem. Wenn die Menschen aus dem Aussehen<br />

von Erde und Himmel zutreffende Schlüsse ziehen können, wieso sind sie dann<br />

nicht in <strong>der</strong> Lage, »diese <strong>Zeit</strong>« zu beurteilen? Kairos meint auch hier einen <strong>Zeit</strong>punkt<br />

o<strong>der</strong> eine <strong>Zeit</strong>spanne, die auf bestimmte Weise qualifiziert ist. In den synoptischen Evangelien<br />

wird damit unter an<strong>der</strong>em die Parusie des Menschensohnes bezeichnet (vgl. Mk<br />

13,33). Vor <strong>der</strong> Parusie werden viele behaupten, <strong>der</strong> Kairos sei jetzt da. Aber so bald wird<br />

das Ende nicht kommen (Lk 21,8 f.). Zuvor müssen nach Lk 21,24 die »<strong>Zeit</strong>en <strong>der</strong> Völker«<br />

vollendet sein. Die Gegenwart ist für Lukas deshalb eine Entscheidungszeit, die Entzweiung<br />

bringt (12,51-53) und in <strong>der</strong> es darauf ankommt, die Zeichen <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> zu deuten.<br />

Die Anrede »Heuchler« ist hart, schließt aber eine Än<strong>der</strong>ung nicht aus. »Heuchler«<br />

ist für Lukas keine Bezeichnung prinzipieller Ablehnung (vgl. Klein 2006, 471; an<strong>der</strong>s<br />

Giesen 1992) und lässt die Möglichkeit <strong>der</strong> Umkehr offen. Sowohl in 6,42 als auch in<br />

13,15 können sich die dort als Heuchler Angesprochenen än<strong>der</strong>n, und 13,17 hält fest,<br />

dass sich alle schämen, die Jesus wegen <strong>der</strong> Heilung einer Frau am Sabbat verurteilt haben.<br />

So for<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Hinweis auf die Fähigkeit zur Wetterprognose dazu auf, auch die<br />

Zeichen <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> zu deuten und sich <strong>der</strong> Botschaft Jesu doch noch zu öffnen.<br />

In EvThom 91 ist eine Parallelüberlieferung erhalten:<br />

176<br />

EvThom 91: (1) Sie sprachen zu ihm: »Sage uns, wer du bist, damit wir an dich<br />

glauben.« (2) Er sprach zu ihnen: »Ihr prüft das Angesicht des Himmels und <strong>der</strong><br />

Erde. Doch das, was vor euch liegt, habt ihr nicht erkannt, und diesen Augenblick<br />

wisst ihr nicht zu prüfen.«


Gt 08020 / p. 191 / 28.9.2007<br />

Eine Verän<strong>der</strong>ung sowohl gegenüber Matthäus als auch gegenüber Lukas ist vor allem im<br />

Schlusssatz gegeben. Bei Matthäus steht die Weigerung <strong>der</strong> Pharisäer und Sadduzäer im<br />

Zentrum, <strong>der</strong> Botschaft Jesu Glauben zu schenken, und die Frage in V. 3 ist Ausdruck<br />

dieser Weigerung. Lukas for<strong>der</strong>t mit seiner Fassung die Menschen auf, die Zeichen <strong>der</strong><br />

<strong>Zeit</strong> doch noch so zu lesen, wie sie verstanden werden wollen. Nach EvThom 91 dagegen<br />

können die Leute nicht prüfen, wer Jesus ist. Zwar vermögen sie das Aussehen von Himmel<br />

und Erde zu beurteilen, aber Jesus ist von an<strong>der</strong>er Art und lässt sich auf diese Weise<br />

nicht begutachten. Durch die Betrachtung von Himmel o<strong>der</strong> Meer lässt sich nicht feststellen,<br />

wer Jesus ist (Logion 3), und wenn man die Welt durchschaut, findet man heraus,<br />

dass sie tot ist (Logion 80). Wer Jesus an äußeren Zeichen erkennen will, zeigt deshalb,<br />

dass er o<strong>der</strong> sie in <strong>der</strong> Welt und ihren Erscheinungen gefangen ist (vgl. Logion 3). Dementsprechend<br />

ist die Herrschaft des Vaters jetzt schon über die Erde ausgebreitet, aber die<br />

Menschen sehen sie nicht (Logion 113).<br />

Die Wirkungsgeschichte dieses Abschnitts hat sich grundsätzlich an <strong>der</strong> Zeichenfor<strong>der</strong>ung<br />

o<strong>der</strong> an dem Jonazeichen orientiert (vgl. Luz 3 1999, 278 ff.; Bovon 1996, 204 f.).<br />

Die <strong>Wetterregeln</strong> spielen keine wichtige Rolle.<br />

Das Wetter ist ein unerschöpfliches Thema. Selten ist es »genau richtig«, meist ist es zu<br />

trocken o<strong>der</strong> zu nass, zu kalt, zu heiß, zu unbeständig, jedenfalls dem subjektiven Empfinden<br />

nach und auch dem Wetterbericht zufolge, <strong>der</strong> immer mehr Bedeutung zu gewinnen<br />

scheint. Das Programm des »Weatherchannel« besteht ausschließlich aus Wettervorhersage<br />

und -bericht. Je genauer die Wettervorhersagen werden, umso deutlicher erleben<br />

wir aber auch die Abhängigkeit von meteorologischen Vorgängen. Selbst die »Unwetterzentrale«<br />

kann nicht vorhersagen, wo genau es zu Unwettern kommen wird. Die Erfahrung<br />

und <strong>der</strong> Blick auf die »Wolke vom Westen« ist oft ein besserer Ratgeber. Neuerdings<br />

beobachten wir das Wetter vor allem im Blick auf Klimaverän<strong>der</strong>ungen und eine mögliche<br />

Klimakatastrophe. Umweltverbände for<strong>der</strong>n dazu auf, »die Zeichen <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>« zu erkennen<br />

und das eigene Verhalten zu än<strong>der</strong>n. Insofern sind die <strong>Wetterregeln</strong> bei Matthäus<br />

und Lukas hochaktuelle – und überraschende Texte. Beim Wetterbericht denkt man nicht<br />

an die Bibel. Die Texte können eine Anregung sein, über die »Zeichen <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>« nachzudenken,<br />

die uns vor Augen liegen und die wir doch kaum sehen.<br />

Literatur zumWeiterlesen<br />

<strong>Wetterregeln</strong> Q 12,54-56<br />

Peter Müller<br />

F. Bovon, Wetterkundliches bei den Synoptikern (Lk 12,54-56 par.), BThZ 10 (1993), 175-186.<br />

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