Was bringt Disziplin? - Familylab.ch
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<strong>Was</strong> <strong>bringt</strong> <strong>Disziplin</strong>?<br />
Ein altes Konzept auf dem Prüfstand<br />
Interview mit Jesper Juul<br />
Immer mehr Eltern und Lehrer beklagen den Mangel an <strong>Disziplin</strong> bei Kindern und Jugendli<strong>ch</strong>en und<br />
fordern strengere Regeln in der S<strong>ch</strong>ule. Der international bekannte Familientherapeut und Pädagoge<br />
Jesper Juul hält <strong>Disziplin</strong> jedo<strong>ch</strong> bloß für eine Krücke im S<strong>ch</strong>ulalltag. Er spri<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> für mehr<br />
Eigenverantwortung und Freude am Lernen aus.<br />
Das Alter von 10 bis 18 Jahren, in das au<strong>ch</strong> die Pubertät fällt, prägt ents<strong>ch</strong>eidend die Entwicklung<br />
eines Mens<strong>ch</strong>en. Wie verändert si<strong>ch</strong> der Blick von Jugendli<strong>ch</strong>en auf die Welt in dieser Zeit?<br />
Mit zehn Jahren ist der Mens<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> ein Kind. Er orientiert si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> vorwiegend an den Eltern, am<br />
Elternhaus und der Familie. Mit zunehmendem Alter geraten immer mehr die Glei<strong>ch</strong>altrigen in den<br />
Blick, aber au<strong>ch</strong> andere Erwa<strong>ch</strong>sene. Das heißt ni<strong>ch</strong>t, dass die Eltern an Bedeutung verlieren – das<br />
Zuhause bleibt immer no<strong>ch</strong> als Fundament und Vertrauensbasis enorm wi<strong>ch</strong>tig. Do<strong>ch</strong> in der Pubertät<br />
beginnt eine neue Lebensphase, in der si<strong>ch</strong> die jungen Mens<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t mehr vorbehaltslos mit den<br />
Eltern identifizieren. Sie müssen si<strong>ch</strong> weiterentwickeln und selbstständig werden. Sie<br />
experimentieren und stellen Fragen wie: Wer bin i<strong>ch</strong> eigentli<strong>ch</strong>? <strong>Was</strong> will i<strong>ch</strong> – mit mir?<br />
Wie wirkt si<strong>ch</strong> das auf das Lernen aus?<br />
Lernen spielt immer eine wi<strong>ch</strong>tige Rolle im Leben eines Mens<strong>ch</strong>en. Das s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Lernen wandert<br />
für die meisten Jugendli<strong>ch</strong>en in diesem Alter jedo<strong>ch</strong> in den Hintergrund. Das liegt ni<strong>ch</strong>t daran, dass<br />
sie generell das Interesse am Lernen verlieren, sondern an den S<strong>ch</strong>ulen selbst, die keinen Raum für<br />
die Jugend und ihre Bedürfnisse bieten. Sie wollen, dass si<strong>ch</strong> die Jugendli<strong>ch</strong>en immer no<strong>ch</strong> wie Kinder<br />
verhalten. Es gibt natürli<strong>ch</strong> Jugendli<strong>ch</strong>e, die von Anfang an begeistert für das Lernen sind und si<strong>ch</strong><br />
gern mit jedem Unterri<strong>ch</strong>tsstoff bes<strong>ch</strong>äftigen. Do<strong>ch</strong> für die meisten wirkt der s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Unterri<strong>ch</strong>t<br />
eher demotivierend. Sie gehen in die S<strong>ch</strong>ule wie zur Arbeit: weil sie müssen. Do<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>werpunkt<br />
ihres Lebens vers<strong>ch</strong>iebt si<strong>ch</strong> in die Freizeit.<br />
Wie motivieren wir denn die Jugendli<strong>ch</strong>en in dieser s<strong>ch</strong>wierigen Lebensphase zum Lernen?<br />
Wir glauben heutzutage viel zu sehr an die S<strong>ch</strong>ule und die dort stattfindenden Lernprozesse. Das<br />
haben sie kaum verdient. In der Pubertät geht es um ganz andere Lernvorgänge. Man kann diese Zeit<br />
mit den ersten beiden Lebensjahren verglei<strong>ch</strong>en – man muss jeden Tag etwas Neues über das Leben<br />
lernen, si<strong>ch</strong> selbst und andere beoba<strong>ch</strong>ten, Zusammenhalt und Kooperation lernen. Do<strong>ch</strong> für diesen<br />
Identitätsaufbau ist der traditionelle Lehrplan an der S<strong>ch</strong>ule denkbar s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t geeignet. Dabei ist<br />
gerade das Erwerben von sozialen und persönli<strong>ch</strong>en Kompetenzen in diesem Alter von
ents<strong>ch</strong>eidender Bedeutung für den zukünftigen Lebensweg. Das s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>e Lernen – Bildung im<br />
akademis<strong>ch</strong>en Sinn – kann später na<strong>ch</strong>geholt werden.<br />
Diese beiden Prozesse des s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Lernens und der persönli<strong>ch</strong>en Entwicklung spielen immer<br />
zusammen. Wir sehen das in Dänemark. Dort gibt es sehr viele Internatss<strong>ch</strong>ulen. Während sie früher<br />
für sogenannte s<strong>ch</strong>wierige Kinder geda<strong>ch</strong>t waren, werden sie heutzutage überwiegend von normalen<br />
Jugendli<strong>ch</strong>en im Alter von 14, 15 Jahren besu<strong>ch</strong>t. Und bei ihnen lässt si<strong>ch</strong> beoba<strong>ch</strong>ten, dass sie auf<br />
einmal viel besser lernen, sobald sie ni<strong>ch</strong>t mehr zu Hause wohnen und keiner ständigen Kontrolle<br />
und Überwa<strong>ch</strong>ung mehr ausgesetzt sind. Sie demonstrieren viel mehr Kompetenzen, als ihre Eltern<br />
ihnen zugetraut haben. Deren positive Reaktion verstärkt wiederum die Motivation ihrer Kinder.<br />
Denn was Jugendli<strong>ch</strong>e viel dringender als Bildung brau<strong>ch</strong>en, ist Vertrauen – wenn sie das Gefühl<br />
haben, dass jemand an ihre Fähigkeiten glaubt, sind sie au<strong>ch</strong> motivierter zum Lernen. Am Internat<br />
sind sie selbst für ihr Lernen, ihre Ents<strong>ch</strong>eidungen und ihre Lernerfolge verantwortli<strong>ch</strong> und das<br />
steigert die Motivation. Man sollte ni<strong>ch</strong>t vergessen, dass Kinder und Jugendli<strong>ch</strong>e seit Anfang ihrer<br />
s<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>en Laufbahn zu einer bestimmten Art des Unterri<strong>ch</strong>ts gezwungen werden, die ni<strong>ch</strong>t optimal<br />
auf ihr Lernen ausgelegt ist. Das ist keine gute Grundlage für die Entwicklung von Lernlust. In diesem<br />
Berei<strong>ch</strong> haben unsere S<strong>ch</strong>ulen viel aufzuholen.<br />
Die Amerikanerin Amy Chua hat mit ihrem Bu<strong>ch</strong> „Die Mutter des Erfolgs“ viel Furore ausgelöst. Darin<br />
vertritt sie die These, dass bei der Kindererziehung vor allem strenge <strong>Disziplin</strong> unerlässli<strong>ch</strong> ist. Für wie<br />
wi<strong>ch</strong>tig halten Sie <strong>Disziplin</strong> beim Lernen?<br />
Heutzutage steigt die Na<strong>ch</strong>frage na<strong>ch</strong> <strong>Disziplin</strong>, do<strong>ch</strong> werden sol<strong>ch</strong>e Forderungen ni<strong>ch</strong>t von den<br />
Kindern selbst, sondern von den Erwa<strong>ch</strong>senen geäußert – von den Eltern oder von Lehrern, die erlebt<br />
haben, dass die Kinder ni<strong>ch</strong>t mehr so diszipliniert sind wie no<strong>ch</strong> vor 15 Jahren. Für das Lernen,<br />
insbesondere bei Jugendli<strong>ch</strong>en, ist vor allem eine gewisse Selbstdisziplin notwendig. Ohne<br />
Selbstdisziplin kann man seine Ziele ni<strong>ch</strong>t errei<strong>ch</strong>en und seine Träume ni<strong>ch</strong>t umsetzen.<br />
<strong>Disziplin</strong>ierung – also <strong>Disziplin</strong> in dem Sinne, dass alle dasselbe zur selben Zeit tun – ist für das Lernen<br />
hingegen kontraproduktiv. Das ist ein Traum der Lehrer, die denken, dass das gut für die Kinder ist.<br />
Woher kann denn eine sol<strong>ch</strong>e Selbstdisziplin bei Jugendli<strong>ch</strong>en kommen?<br />
Selbstdisziplin kommt aus Freude. Wenn Kinder zum ersten Mal in die S<strong>ch</strong>ule gehen, freuen si<strong>ch</strong> die<br />
meisten sehr darauf zu lernen. Na<strong>ch</strong> zwei, drei Jahren hört dieses Gefühl für viele auf. Wenn man<br />
dann die Kinder fragt, warum sie zur S<strong>ch</strong>ule gehen, antworten sie: Das muss man. Alle müssen zur<br />
S<strong>ch</strong>ule gehen. Dieser Zwang bedeutet im Endeffekt für das Kind, dass es ni<strong>ch</strong>t selbst für seine<br />
S<strong>ch</strong>ularbeit verantwortli<strong>ch</strong> ist, denn es wurde dazu von den Erwa<strong>ch</strong>senen und von der Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
verpfli<strong>ch</strong>tet – die sind für das Ergebnis verantwortli<strong>ch</strong>. Na<strong>ch</strong> einigen Jahren erleben Lehrer allerdings<br />
häufig au<strong>ch</strong> eine Wende bei ihren S<strong>ch</strong>ülern, wenn diesen plötzli<strong>ch</strong> aufgeht, dass das Lernen einen<br />
Sinn hat und Spaß ma<strong>ch</strong>en kann. Dann übernehmen die Kinder die Verantwortung für ihr Lernen.<br />
Sol<strong>ch</strong>e Kinder haben viel Selbstdisziplin, sie brau<strong>ch</strong>en keine zusätzli<strong>ch</strong>en Lektionen. Do<strong>ch</strong> an unseren<br />
S<strong>ch</strong>ulen gibt es nur wenig Raum für eine sol<strong>ch</strong>e Erkenntnis – die Kinder müssen viel auswendig lernen<br />
und Faktenwissen erwerben, aber sie lernen ni<strong>ch</strong>t, selbst Verantwortung für ihren Lernprozess zu<br />
übernehmen.
Aber funktioniert Lernen wirkli<strong>ch</strong> nur, wenn es Spaß ma<strong>ch</strong>t?<br />
Spaß ist das fals<strong>ch</strong>e Wort. Wie das englis<strong>ch</strong>e Wort „fun“ impliziert es ein oberflä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Vergnügen.<br />
In erster Linie muss das Lernen Sinn ma<strong>ch</strong>en. Das ist es, was Freude geben kann.<br />
Um eine neue Spra<strong>ch</strong>e zu erlernen, fängt man damit an, Vokabeln auswendig zu lernen. Das ma<strong>ch</strong>t in<br />
dem Moment wenig Freude, do<strong>ch</strong> es ist nötig, um diese Fremdspra<strong>ch</strong>e irgendwann zu beherrs<strong>ch</strong>en.<br />
Können Jugendli<strong>ch</strong>e dur<strong>ch</strong> dieses Ziel motiviert werden? Sehen sie s<strong>ch</strong>on so weit in die Zukunft, dass<br />
das Auswendiglernen so als sinnvoll empfunden werden kann?<br />
Nein – aber mit Grammatik und Vokabeln anzufangen, ist au<strong>ch</strong> nur eine Methode, um Spra<strong>ch</strong>en zu<br />
lernen. I<strong>ch</strong> zum Beispiel habe Deuts<strong>ch</strong> weniger dur<strong>ch</strong> den Grammatikunterri<strong>ch</strong>t an der S<strong>ch</strong>ule als<br />
vielmehr dur<strong>ch</strong> Praxis und Übung gelernt. Kinder lernen auf viele vers<strong>ch</strong>iedene Weisen – „Lernstile“<br />
sagt man heute –, denn au<strong>ch</strong> ihre Gehirne funktionieren ganz unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>. I<strong>ch</strong> habe zum Beispiel<br />
nie ein großes mathematis<strong>ch</strong>es Verständnis gehabt. Do<strong>ch</strong> Lehrer setzen einfa<strong>ch</strong> den Rotstift an, ohne<br />
sol<strong>ch</strong>e individuellen Unters<strong>ch</strong>iede zu berücksi<strong>ch</strong>tigen. S<strong>ch</strong>ule ist defizitorientiert: Es geht um die<br />
Lücken im Wissen, die aufgefüllt werden müssen, ni<strong>ch</strong>t um die sinnvolle Einordnung des Gelernten.<br />
Bei einem sol<strong>ch</strong>en Unterri<strong>ch</strong>t geht es nur um die Lernpfli<strong>ch</strong>t, die keinen Raum für Freude lässt.<br />
Die Hirnfors<strong>ch</strong>ung kann uns heute klar sagen, wann Lernprozesse optimal funktionieren. Dazu<br />
müssen zwei Phänomene aufeinander treffen: Lehrer, die von ihrem Fa<strong>ch</strong> aufri<strong>ch</strong>tig begeistert sind,<br />
und ein Lernumfeld, das ni<strong>ch</strong>t langweilig und ni<strong>ch</strong>t kritis<strong>ch</strong> ist. Viele S<strong>ch</strong>üler langweilen si<strong>ch</strong>, weil der<br />
Unterri<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t individuell auf sie zuges<strong>ch</strong>nitten ist, sondern viellei<strong>ch</strong>t ein Drittel der Klasse –<br />
meistens die „netten Mäd<strong>ch</strong>en“ – anspri<strong>ch</strong>t. Die übrigen S<strong>ch</strong>üler werden als Problemfälle eingestuft<br />
und kritisiert. Das ers<strong>ch</strong>wert das Lernen – ni<strong>ch</strong>t nur das Erwerben von akademis<strong>ch</strong>em Wissen,<br />
sondern au<strong>ch</strong> von sozialen und persönli<strong>ch</strong>en Kompetenzen.<br />
Aber wie kann man Kritik beim Lernen vermeiden? Wenn Dinge fals<strong>ch</strong> sind, muss man das do<strong>ch</strong> dem<br />
S<strong>ch</strong>üler mitteilen.<br />
Es gibt einen großen Unters<strong>ch</strong>ied bei den Arten der Vermittlung sol<strong>ch</strong>er Kritik – man kann sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
darüber aufklären, warum etwas fals<strong>ch</strong> ist, und man kann mit dem S<strong>ch</strong>üler s<strong>ch</strong>impfen, ihn sogar<br />
persönli<strong>ch</strong> angreifen. Die zweite Herangehensweise, fast s<strong>ch</strong>on Mobbing, ist heutzutage ein großer<br />
Teil des Unterri<strong>ch</strong>ts geworden. Das ist ni<strong>ch</strong>t in erster Linie die S<strong>ch</strong>uld der Lehrer. In Ländern wie<br />
Deuts<strong>ch</strong>land, Österrei<strong>ch</strong> oder Frankrei<strong>ch</strong> gibt es vielmehr eine wieder erstarkende S<strong>ch</strong>ulkultur, die<br />
auf Regeln und <strong>Disziplin</strong> abzielt. Das ist eine Tragödie. Ni<strong>ch</strong>t nur für die S<strong>ch</strong>üler, sondern besonders<br />
für die Lehrer, die daran ebenso kaputt gehen können. <strong>Was</strong> wir heute brau<strong>ch</strong>en, ist ein neues<br />
Lernparadigma. Das jetzige können wir ni<strong>ch</strong>t mehr verbessern – wir müssen ganz anders anfangen.<br />
Wie sieht dieses Lernparadigma aus?
Eine Inspiration zu diesem Paradigma kann aus der S<strong>ch</strong>weiz stammen. Dort wird statt „Lehrer“ der<br />
Begriff „Lerncoa<strong>ch</strong>“ verwendet. Das <strong>bringt</strong> eine ganz andere Aufteilung von Verantwortung mit si<strong>ch</strong>:<br />
Die S<strong>ch</strong>üler sind für ihre eigenen Lernprozesse verantwortli<strong>ch</strong> und die Lerncoa<strong>ch</strong>es sind keine<br />
Kontrolleure, sondern eben Betreuer. Man sieht dort, wie viel besser das funktioniert als der<br />
traditionelle Unterri<strong>ch</strong>t.<br />
Diesen Ansatz trifft man au<strong>ch</strong> bei anderen an – zum Beispiel in der sogenannten<br />
Montessoripädagogik, die den offenen Unterri<strong>ch</strong>t anwendet. Montessori-‐ und Waldorfs<strong>ch</strong>ulen haben<br />
aber eine ernsthafte Bes<strong>ch</strong>ränkung, denn sie sind auf einer bestimmten Ideologie aufgebaut. Diese<br />
kann man als Gesells<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t kopieren und auf alle S<strong>ch</strong>ulen übertragen – wir können ni<strong>ch</strong>t alle der<br />
Anthroposophie von Rudolf Steiner folgen.<br />
Aber au<strong>ch</strong> diese S<strong>ch</strong>ulen haben S<strong>ch</strong>wierigkeiten mit dem Konzept der Eigenverantwortung. Das ist<br />
ein Problem der Gegenwart. Wir leben in einer Zeit, in der wir im Verglei<strong>ch</strong> mit der Weltges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
sehr viele Freiheiten haben. Dafür müssen wir aber au<strong>ch</strong> einen Preis entri<strong>ch</strong>ten – und dieser Preis<br />
heißt Eigenverantwortung. Wir müssen als Erwa<strong>ch</strong>sene jeden Tag persönli<strong>ch</strong>e Ents<strong>ch</strong>eidungen<br />
treffen – das ist heute Stressfaktor Nummer eins in unserem Leben. Das war früher entweder ni<strong>ch</strong>t<br />
mögli<strong>ch</strong> oder ni<strong>ch</strong>t notwendig. Kinder müssen das von Anfang an, insbesondere in der Pubertät. Sie<br />
haben alle Mögli<strong>ch</strong>keiten und müssen qualifiziert und verantwortli<strong>ch</strong> wählen können. Es hilft ni<strong>ch</strong>t,<br />
wenn jemand ihnen seine Moralvorstellungen überstülpen will – Pornografie ist s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t, das darfst<br />
du ni<strong>ch</strong>t sehen, Online-‐Gambling ist s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t, das darfst du ni<strong>ch</strong>t ma<strong>ch</strong>en. Das funktioniert<br />
heutzutage überhaupt ni<strong>ch</strong>t, denn wir haben keinen moralis<strong>ch</strong>en Konsens mehr in unserer<br />
Gesells<strong>ch</strong>aft. Aber Eigenverantwortung ist der wi<strong>ch</strong>tigste S<strong>ch</strong>lüssel zu einem selbstbestimmten<br />
Leben. Das heißt ni<strong>ch</strong>t, dass Kinder alles immer eigenständig erledigen können. Im Gegenteil: Kinder<br />
können viel mehr selbstständig ma<strong>ch</strong>en, als wir Erwa<strong>ch</strong>senen es für mögli<strong>ch</strong> halten – aber ni<strong>ch</strong>t<br />
allein.<br />
Daher gibt es heute neue Rollen für alle Erwa<strong>ch</strong>senen – für Eltern und für Lehrer glei<strong>ch</strong>ermaßen.<br />
Unsere Kinder brau<strong>ch</strong>en Begleitung und Führung auf ihrem Lebensweg, wofür wir aber kaum<br />
Vorbilder haben. Deswegen habe i<strong>ch</strong> immer wieder gesagt und ges<strong>ch</strong>rieben, dass eine Verbesserung<br />
der S<strong>ch</strong>ulen bei den Lehrern anfangen muss. Sie müssen weitergebildet werden. Dabei ist ni<strong>ch</strong>t der<br />
Fa<strong>ch</strong>unterri<strong>ch</strong>t das große Problem, denn es gibt viele hervorragende Lehrer, die si<strong>ch</strong> für ihre<br />
Thematik begeistern und si<strong>ch</strong> darin sehr gut auskennen. Wo es s<strong>ch</strong>wierig wird, das sind Gesprä<strong>ch</strong>e<br />
mit und Beziehungen zu S<strong>ch</strong>ülern und Eltern, Führungsmethodik von Gruppen und Zusammenarbeit<br />
zwis<strong>ch</strong>en Lehrern. Dafür ist kein Lehrer in ganz Europa ausgebildet. Unsere Politiker wollen das au<strong>ch</strong><br />
offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t – wenn es um eine angestrebte Verbesserung der Lehrerausbildung geht, hängen<br />
sie ein zusätzli<strong>ch</strong>es akademis<strong>ch</strong>es Jahr an das Studium, anstatt Fähigkeiten einzus<strong>ch</strong>ließen, die Lehrer<br />
in ihrem Beruf wirkli<strong>ch</strong> brau<strong>ch</strong>en. Deswegen träumen Lehrer au<strong>ch</strong> von <strong>Disziplin</strong>: Wenn man ni<strong>ch</strong>t mit<br />
S<strong>ch</strong>ülern und Eltern über Probleme in der Klasse reden kann, bewältigt man sie eben mit <strong>Disziplin</strong>.<br />
<strong>Disziplin</strong> dient also als Krücke?<br />
Ja. Es ist ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>, dass Kinder in den letzten 15 Jahren ohne die Fähigkeit zur <strong>Disziplin</strong> geboren<br />
wurden. Sie sind genauso zur <strong>Disziplin</strong> fähig wie früher. Beim Besu<strong>ch</strong> eines Sportclubs oder anderer<br />
außers<strong>ch</strong>ulis<strong>ch</strong>er Aktivitäten sind Kinder zum Beispiel sehr diszipliniert. Warum? Weil sie dort ihren<br />
Coa<strong>ch</strong> oder Betreuer selbst wählen können. Sie müssen au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t weiter hingehen, wenn ihnen die
Lehrmethoden ni<strong>ch</strong>t gefallen. Die Lehrer an der S<strong>ch</strong>ule können sie si<strong>ch</strong> hingegen ni<strong>ch</strong>t aussu<strong>ch</strong>en.<br />
Lehrer fordern <strong>Disziplin</strong> und Respekt von ihren S<strong>ch</strong>ülern, do<strong>ch</strong> was häufig fehlt, ist der Respekt der<br />
Lehrer gegenüber den Kindern und Jugendli<strong>ch</strong>en.<br />
I<strong>ch</strong> habe gerade eine Reihe von Sendungen für das norwegis<strong>ch</strong>e Fernsehen fertiggestellt, für die wir<br />
se<strong>ch</strong>s Wo<strong>ch</strong>en lang mit 12-‐ bis 17-‐jährigen S<strong>ch</strong>ulverweigerern gearbeitet haben. Sie haben mir ihre<br />
Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te erzählt und mir ist aufgefallen, dass sol<strong>ch</strong>e Jugendli<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t im eigentli<strong>ch</strong>en Sinne als<br />
„Dropouts“ zu bezei<strong>ch</strong>nen sind – eher als „Pushouts“. Sie haben ni<strong>ch</strong>t in das System gepasst und<br />
wurden in Folge „hinausgestoßen“. Ihnen fehlte die Fürsorge. Diese Anforderung ist neu für die<br />
Institution S<strong>ch</strong>ule. Traditionellerweise sind S<strong>ch</strong>ulen für den Unterri<strong>ch</strong>t zuständig, do<strong>ch</strong> jetzt hat si<strong>ch</strong><br />
unsere Gesells<strong>ch</strong>aft dahin entwickelt, dass der Unterri<strong>ch</strong>t Stimulierung, persönli<strong>ch</strong>e soziale<br />
Entwicklung und Fürsorge beinhalten muss. Dafür sind die Lehrer ni<strong>ch</strong>t ausgebildet. Es gibt dur<strong>ch</strong>aus<br />
talentierte Lehrer, die all diese Ansprü<strong>ch</strong>e in si<strong>ch</strong> vereinen, aber die meisten s<strong>ch</strong>affen das ni<strong>ch</strong>t – und<br />
eine kleine Minderheit will es au<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>t. Die ist nämli<strong>ch</strong> der Meinung, dass das bei ihrer<br />
Ausbildung vor 20 Jahren ni<strong>ch</strong>t nötig war und heute ebenso wenig.<br />
Es sind ja nun ni<strong>ch</strong>t nur Lehrer, die mit jungen Mens<strong>ch</strong>en umgehen. Vor allem Eltern fühlen si<strong>ch</strong> häufig<br />
hilflos angesi<strong>ch</strong>ts von Problemen im Unterri<strong>ch</strong>t. Bleibt ihnen au<strong>ch</strong> nur die Rolle der Lernberater, wenn<br />
sie ihre Kinder in ihren Bildungsanstrengungen unterstützen wollen?<br />
Der große Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en Eltern und Lehrern ist, dass Pädagogen aller Art nur selten die<br />
existenzielle Bedeutung einnehmen, die Eltern für ihre Kinder haben. Das heißt, dass Eltern sehr<br />
vorsi<strong>ch</strong>tig in ihren Bildungsanstrengungen sein müssen. Kinder unter fünf brau<strong>ch</strong>en eigentli<strong>ch</strong> keine<br />
Erziehung, sondern empathis<strong>ch</strong>e, freundli<strong>ch</strong>e Begleitung. Das ist au<strong>ch</strong> eine Art von Coa<strong>ch</strong>ing oder<br />
Beratung. Erziehung hingegen heißt, dass die Eltern bereits ein Ziel vorformuliert haben, an das sie<br />
ihr Kind bringen wollen. Die jungen Mens<strong>ch</strong>en heutzutage lassen si<strong>ch</strong> das aber immer weniger<br />
bieten.<br />
Erziehung basiert grundsätzli<strong>ch</strong> auf einem großen Mangel an Vertrauen: Wenn i<strong>ch</strong> als Vater oder<br />
Mutter ni<strong>ch</strong>t auf die Dur<strong>ch</strong>setzung bestimmter Regeln und Normen a<strong>ch</strong>te, lernt mein Kind es nie und<br />
wird in der Gesells<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t überleben können. Je weniger Zeit Eltern wegen Beruf und anderen<br />
Verpfli<strong>ch</strong>tungen mit ihren Kindern verbringen, desto mehr steigern sie si<strong>ch</strong> in diesen<br />
Erziehungsgedanken hinein und messen die Entwicklung ihres Kindes an einer angebli<strong>ch</strong>en<br />
gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Norm. Diese Anforderungen zerstören oft die Beziehung zwis<strong>ch</strong>en Eltern und Kind.<br />
Deswegen sehen wir heute au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on Kinder mit drei, vier Jahren, die Wutanfälle kriegen – sie<br />
haben zu wenige Entfaltungsmögli<strong>ch</strong>keiten, immer sind sie von Erwa<strong>ch</strong>senen umgeben und werden<br />
erzogen.<br />
Früher war das anders. Da war man hö<strong>ch</strong>stens eine, zwei Stunden mit den Eltern zusammen, bevor<br />
man im Wald oder in den Hinterhöfen mit Glei<strong>ch</strong>altrigen ohne Aufsi<strong>ch</strong>t unterwegs war. Heute<br />
hingegen verbringen skandinavis<strong>ch</strong>e Kinder zwis<strong>ch</strong>en 6 und 16 Jahren 26 000 Stunden in<br />
pädagogis<strong>ch</strong>en Zwangseinri<strong>ch</strong>tungen – in Krippen, Kindergärten oder S<strong>ch</strong>ulen, wo sie überhaupt<br />
keine Ents<strong>ch</strong>eidungsfreiheit über ihr Umfeld haben. Aber sie vertrauen ihren Eltern bedingungslos –<br />
das ist der große Unters<strong>ch</strong>ied zu Lehrern, zumindest bis zur Pubertät.
Wie sollen Eltern und Lehrer mit Jugendli<strong>ch</strong>en in der Pubertät umgehen?<br />
Au<strong>ch</strong> in der Pubertät muss man Jugendli<strong>ch</strong>en Vertrauen und Respekt entgegenbringen. Sie ma<strong>ch</strong>en<br />
nur, was sie entwicklungspsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en müssen: Na<strong>ch</strong> 13 Jahren Orientierung an den Eltern<br />
müssen sie deren Werte auf die Probe stellen und herausfinden, was davon sie auf ihren eigenen<br />
Lebensweg mitnehmen wollen. Diese Überprüfung ist sehr verantwortli<strong>ch</strong> und wi<strong>ch</strong>tig, denn die<br />
Gesells<strong>ch</strong>aft will ja, dass die Kinder eigene Wege bes<strong>ch</strong>reiten. Denno<strong>ch</strong> interpretieren wir ihre<br />
Umorientierung als Rebellion, obwohl sie nur tun, wozu die Natur sie ges<strong>ch</strong>affen hat.<br />
Insbesondere die verlängerte Kindheit ma<strong>ch</strong>t diesen Wandel so s<strong>ch</strong>wierig. Vor 150 Jahren waren die<br />
Kinder mit elf Jahren weg aus ihrem Elternhaus – heute wohnen sie no<strong>ch</strong> bis 20 oder länger bei ihren<br />
Eltern. Diese Entwicklung ma<strong>ch</strong>t neue Wertvorstellungen für unsere Gemeins<strong>ch</strong>aften notwendig, wie<br />
sie zum Beispiel bereits bei den Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terbeziehungen entstanden sind. Keiner würde heute auf<br />
die Idee kommen, so in einer Ehe zu leben, wie no<strong>ch</strong> unsere Großeltern das getan haben.<br />
Aber wir sind jetzt dahin gekommen, dass Jugendli<strong>ch</strong>e ein Feindbild der Gesells<strong>ch</strong>aft geworden sind.<br />
In Kroatien habe i<strong>ch</strong> neuli<strong>ch</strong> bei der Feier von Maturanten auf der Straße einen Spru<strong>ch</strong> gesehen, der<br />
den Kern der Situation genau trifft: „I am your future. Are you scared?“ („I<strong>ch</strong> bin eure Zukunft. Habt<br />
ihr Angst?“) So ist es. Diese Situation ist für die Zukunft der Gesells<strong>ch</strong>aft sehr gefährli<strong>ch</strong>. Wir pressen<br />
Kinder und Jugendli<strong>ch</strong>e in immer engere Norm-‐ und Wertvorstellungen und geben große Summen<br />
für Kindergärten und S<strong>ch</strong>ulen aus, anstatt zu fragen, wie wir das System Erziehung grundlegend<br />
umgestalten können. Trotz einer alarmierend hohen Quote an S<strong>ch</strong>ulverweigerern wälzen die<br />
Politiker und die S<strong>ch</strong>ulen die Verantwortung auf die Eltern und die „heutige Jugend“ ab. Das ist so,<br />
als würde si<strong>ch</strong> ein Unternehmen bei einem radikalen Umsatzeinbru<strong>ch</strong> darüber beklagen, wie<br />
unmögli<strong>ch</strong> die Kunden do<strong>ch</strong> seien – anstatt darüber na<strong>ch</strong>zudenken, was man besser ma<strong>ch</strong>en kann.<br />
Do<strong>ch</strong> die Politiker haben zu viel Angst vor der Baustelle Bildungssystem. Sie verändern ledigli<strong>ch</strong> die<br />
Struktur der S<strong>ch</strong>ule. In Folge haben wir in zehn Jahren in allen deuts<strong>ch</strong>en Bundesländern nur no<strong>ch</strong><br />
Ganztagss<strong>ch</strong>ulen. Warum? Weil wir ni<strong>ch</strong>t mehr wissen, was wir mit Kindern und Jugendli<strong>ch</strong>en<br />
ma<strong>ch</strong>en sollen.<br />
Glückli<strong>ch</strong>erweise wird die Situation für die Lehrer langsam unerträgli<strong>ch</strong>. Man kann also hoffen, dass<br />
die Lehrer eines Tages sagen: Genug ist genug! Wir müssen S<strong>ch</strong>ule neu denken. Unterri<strong>ch</strong>t muss<br />
ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> Regeln und Strafen strukturiert sein, sondern ein gutes Lernumfeld s<strong>ch</strong>affen. So wie es<br />
jetzt abläuft, zerbri<strong>ch</strong>t S<strong>ch</strong>ule nämli<strong>ch</strong> Kinder, Lehrer und Elternhäuser.<br />
Blicken Sie optimistis<strong>ch</strong> in die Zukunft?<br />
Die jetzige S<strong>ch</strong>ulsituation ist so tragis<strong>ch</strong>, dass man nur optimistis<strong>ch</strong> sein kann. Es kann nur no<strong>ch</strong><br />
besser werden.