Die nationalsozialistische Herrschaft in Niedersachsen ... - FOKO-NS
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Detlef Schmiechen-Ackermann<br />
Vortrag im Niedersächsischen Landtag am 5.3.2007<br />
DIE NATIONALSOZIALISTISCHE HERRSCHAFT IN NIEDERSACHSEN:<br />
ZUSTIMMUNG, ANPASSUNG UND WIDERSTAND IN DER<br />
BEVÖLKERUNG<br />
Knapp zehn Jahre nachdem Daniel Goldhagen sehr medienwirksam se<strong>in</strong>e These e<strong>in</strong>es für die<br />
Deutschen verme<strong>in</strong>tlich charakteristischen »elim<strong>in</strong>atorischen Antisemitismus« vorgetragen<br />
hatte, war es der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Artikel der Wochenzeitung »<strong>Die</strong> Zeit« als »Streit-Historiker«<br />
porträtierte Götz Aly, der dem Thema Nationalsozialismus im Frühjahr 2005 e<strong>in</strong>mal mehr<br />
besondere Beachtung <strong>in</strong> den Feuilletons und auf dem umkämpften Buchmarkt gesichert hat.<br />
<strong>Die</strong> provokante Kernaussage se<strong>in</strong>er sowohl <strong>in</strong> den Medien als auch <strong>in</strong> der Fachwissenschaft<br />
breit diskutierten und heftig umstrittenen Studie »Hitlers Volksstaat« lautet:<br />
<strong>Die</strong> <strong>nationalsozialistische</strong> <strong>Herrschaft</strong> sei e<strong>in</strong>e »Gefälligkeitsdiktatur« gewesen, errichtet<br />
eben nicht auf der Basis von Terror und Zwang, sondern durch e<strong>in</strong>en Konsens, mit dem die<br />
große Mehrheit e<strong>in</strong>er leicht korrumpierbaren Bevölkerung soziale Wohltaten für sich gegen<br />
die Zustimmung und das Wegschauen bei der Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung von<br />
Juden und politisch Andersdenkenden gleichsam »e<strong>in</strong>getauscht« habe.<br />
Welche Relevanz hat diese These? Warum lohnt es sich, anhand von konkreten<br />
Beispielen diesen Interpretationsansatz zu diskutieren? »Obwohl Aly <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Hauptanliegen scheitert, das <strong>NS</strong>-Regime als umverteilende Wohlfahrtsdiktatur zu<br />
beschreiben«, so äußerte sich der Mannheimer Sozialhistoriker Mark Spoerer, werde von<br />
se<strong>in</strong>er Studie am Ende »mehr bleiben« als von Goldhagens Thesen, da Aly nämlich mit se<strong>in</strong>er<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Punkten überzeugenden, <strong>in</strong> der Gesamt<strong>in</strong>terpretation aber überzogenen und daher<br />
problematischen Analyse zu engagierter Gegenrede provoziere, was ja bekanntlich den Stand<br />
der Forschung regelmäßig vorantreibe. Genau hier will ich mit me<strong>in</strong>en Überlegungen<br />
anknüpfen.<br />
Was ich Ihnen im Folgenden mit Blick auf die Geschichte <strong>Niedersachsen</strong>s <strong>in</strong> der Zeit des<br />
Nationalsozialismus vortragen werde, s<strong>in</strong>d sowohl Erkenntnisse aus eigenen Aktenstudien als<br />
auch Ergebnisse aus vorliegenden Untersuchungen zu e<strong>in</strong>igen niedersächsischen Regionen<br />
und Städten. Häufig s<strong>in</strong>d es allerd<strong>in</strong>gs auch offene Fragen, die erst durch e<strong>in</strong>e weiterführende<br />
und vor allem vergleichend angelegte wissenschaftliche Analyse noch systematisch<br />
beantwortet werden müssen. Denn <strong>Niedersachsen</strong> hat derzeit auf dem Gebiet der regionalen<br />
<strong>NS</strong>-Forschung leider e<strong>in</strong>en erheblichen Rückstand gegenüber Bundesländern wie<br />
beispielsweise Bayern, Baden-Württemberg, dem Saarland und Schleswig-Holste<strong>in</strong>, wo<br />
<strong>in</strong>tensive regionalbezogene Studien durch größere Forschungsprojekte und teilweise sogar<br />
eigens hierfür e<strong>in</strong>gerichtete Forschungs<strong>in</strong>stitute durchgeführt worden s<strong>in</strong>d. <strong>Die</strong> Tatsache, dass<br />
im vorletzten Jahr nun auch die Mitarbeiter der Hamburger Forschungsstelle für<br />
Zeitgeschichte die lange erwartete umfangreiche Darstellung zu »Hamburg im ›Dritten<br />
Reich‹« vorgelegt haben, bildete den letzten Impuls dafür, geme<strong>in</strong>sam mit Kolleg<strong>in</strong>nen und<br />
Kollegen von mehreren niedersächsischen Universitäten die Vorbereitungen für<br />
weiterführende Forschungen aufzunehmen, die im Rahmen e<strong>in</strong>es niedersachsenweiten<br />
Verbundprojektes realisiert werden sollen. Soviel zum Kontext me<strong>in</strong>er Ausführungen.<br />
Damit wende ich mich nun ausgewählten empirischen Befunden zu, wobei ich<br />
chronologisch mit der Ausgangssituation, d.h. mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus <strong>in</strong><br />
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<strong>Niedersachsen</strong> bis zum Jahre 1933, beg<strong>in</strong>nen werde. Im zweiten Abschnitt betrachte ich<br />
Stimmungen und Verhalten <strong>in</strong> unterschiedlichen sozialen Gruppen und Milieus, wobei der<br />
Schwerpunkt auf den Vorkriegsjahren des »Dritten Reiches« liegen wird, punktuell aber auch<br />
schon darüber h<strong>in</strong>ausgegriffen wird. Schließlich behandele ich im dritten Schritt e<strong>in</strong>ige<br />
spezielle Probleme der Kriegszeit. Auf der Basis dieses Materials werde ich zum Schluss<br />
dann die e<strong>in</strong>gangs aufgeworfene Frage beantworten, ob der Nationalsozialismus als<br />
»Zustimmungs«- oder gar als »Gefälligkeitsdiktatur« zureffend charakterisiert werden kann.<br />
Der Aufstieg der <strong>NS</strong>-Bewegung <strong>in</strong> <strong>Niedersachsen</strong> bis 1933<br />
In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre hatte sich die wirtschaftliche Lage der deutschen<br />
Landwirtschaft dramatisch verschlechtert. <strong>Die</strong> E<strong>in</strong>kommen waren erheblich gesunken, viele<br />
Bauern gerieten <strong>in</strong> Existenznot und reagierten mit e<strong>in</strong>er rapiden politischen Radikalisierung.<br />
Es kam zu Krawallen und Massendemonstrationen. <strong>Die</strong> teilweise gewaltsamen Aktionen der<br />
Bauern zielten vor allem darauf, Pfändungen oder gar Zwangsversteigerungen von Höfen zu<br />
verh<strong>in</strong>dern. Vielerorts wurde zum Steuerboykott aufgerufen. <strong>Die</strong> schwarze Fahne der völkisch<br />
e<strong>in</strong>gefärbten Landvolkbewegung, die sich bald als wichtige Mittler<strong>in</strong> im Übergang zum<br />
Nationalsozialismus erweisen sollte, wehte schon 1929 unangefochten über Schleswig-<br />
Holste<strong>in</strong>, das zu e<strong>in</strong>er Art Modelfall für die Nazifizierung der protestantischen Prov<strong>in</strong>z wurde.<br />
Auch <strong>in</strong> den evangelisch geprägten ländlichen Gebieten <strong>Niedersachsen</strong>s erkannten die<br />
Nationalsozialisten nun ihre große Chance.<br />
Im Gau Osthannover vollzog Gauleiter Otto Telschow 1931 e<strong>in</strong>en taktischen Schwenk.<br />
Hatte sich die <strong>NS</strong>DAP im Nordosten <strong>Niedersachsen</strong>s bis dato als »Arbeiterpartei« zu<br />
profilieren versucht, so wurde jetzt die Parole ausgegeben, der »Schwerpunkt« der politischen<br />
Arbeit liege »bei den Bauern«. Man konzentrierte die anfangs noch sehr bescheidenen Kräfte<br />
von SA und Partei fortan nicht mehr länger auf die Stadt Lüneburg oder gar das proletarische<br />
Harburg-Wilhelmsburg, das sich für den Nationalsozialismus als e<strong>in</strong> sehr schwieriges Terra<strong>in</strong><br />
erwiesen hatte. Auf den Dörfern ließen sich, zum<strong>in</strong>dest kurzfristig, wesentlich größere<br />
Erfolge verzeichnen: Bei den für die <strong>NS</strong>DAP so erfolgreichen Reichstagswahlen vom Juli<br />
1932 standen den »nur« knapp 30% im Stadtkreis Harburg-Wilhelmsburg weit<br />
überdurchschnittliche 55% der Stimmen im Landkreis Lüneburg gegenüber.<br />
Zur zentralen Figur dieser ländlichen Agitation der <strong>NS</strong>DAP entwickelte sich mit Georg<br />
Weidenhöfer e<strong>in</strong> Klostergutspächter aus der Nähe von Zeven, der zugleich wichtige<br />
Funktionen im Stader Bezirksverband des Landbundes ausübte. Se<strong>in</strong>e politische Karriere<br />
entsprach der Umorientierung zahlreicher Wähler <strong>in</strong> der protestantischen Prov<strong>in</strong>z:<br />
Weidenhöfer kam ursprünglich aus der Deutschnationalen Volkspartei, wechselte aber 1922<br />
zu den Deutschvölkischen und saß vier Jahre lang für sie im Reichstag. Im April 1929 schloss<br />
er sich der <strong>NS</strong>DAP an und wurde bereits e<strong>in</strong> Jahr später zum stellvertretenden Gauleiter<br />
berufen. Sowohl im Spiegel dieser exemplarischen Biographie als auch <strong>in</strong> den Analysen des<br />
Wählerverhaltens erweist sich die <strong>NS</strong>DAP somit als e<strong>in</strong>e erfolgreiche<br />
Massen<strong>in</strong>tegrationspartei, die sich freilich re<strong>in</strong> negativ aus Protest und antidemokratischer<br />
Agitation heraus bestimmte.<br />
Im Gau Südhannover-Braunschweig agitierte seit 1927 vor allem Werner Willikens,<br />
Landwirt und <strong>NS</strong>DAP-Ortsgruppenleiter <strong>in</strong> Groß Flöthe und zugleich Führer des<br />
Kreislandbundes Goslar, ebenso rührig wie erfolgreich für die Hitlerbewegung und erreichte,<br />
dass die <strong>NS</strong>DAP <strong>in</strong> vielen Dörfern des Braunschweiger Landes Fuß fassen konnte. Willikens<br />
entwickelte sich zu e<strong>in</strong>em noch wertvolleren Propagandisten und Milieuöffner, nachdem er<br />
1931 zum stellvertretenden Vorsitzenden des Reichslandbundes gewählt worden war.<br />
Übrigens stammt aus e<strong>in</strong>er Rede, die er 1934 als Staatssekretär im preußischen<br />
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Landwirtschaftsm<strong>in</strong>isterium hielt, auch jenes Zitat, das der britische Historiker Ian Kershaw<br />
als Leitmotiv für se<strong>in</strong>e vielbeachtete Hitler-Biografie herangezogen hat:<br />
[...] bis jetzt hat jeder an se<strong>in</strong>em Platz im neuen Deutschland dann am besten gearbeitet,<br />
wenn er sozusagen dem Führer entgegenarbeitet. Wer dabei Fehler macht, wird es schon<br />
früh genug zu spüren bekommen, wer aber dem Führer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>ie und se<strong>in</strong>em Ziel richtig<br />
entgegenarbeitet, der wird [...] den schönsten Lohn dar<strong>in</strong> haben, dass er e<strong>in</strong>es Tages plötzlich<br />
die legale Bestätigung se<strong>in</strong>er Arbeit bekommt.<br />
Vor dem skizzierten H<strong>in</strong>tergrund der extremen Radikalisierung der protestantischen Prov<strong>in</strong>z<br />
entwickelten sich die Reichstagswahlkreise Osthannover und Südhannover-Braunschweig <strong>in</strong><br />
den späten Weimarer Jahren zu ausgesprochenen Hochburgen des Nationalsozialismus.<br />
Beispielweise erzielte die <strong>NS</strong>DAP bei den Märzwahlen 1933 <strong>in</strong> Osthannover mit über 54%<br />
der Stimmen e<strong>in</strong>e klare absolute Mehrheit auf Gauebene, während der Reichsdurchschnitt<br />
immerh<strong>in</strong> um 10 Prozentpunkte niedriger lag. Stellt man für die letzten fünf Reichstagswahlen<br />
der Weimarer Jahre – also von 1928 bis 1933 – jeweils e<strong>in</strong>e auf den Stimmenanteil der<br />
<strong>NS</strong>DAP bezogene Rangfolge der <strong>in</strong>sgesamt 35 Wahlkreise auf, so rangierte der Gau<br />
Südhannover-Braunschweig auf Rangplätzen zwischen 2 und 10, der Gau Osthannover<br />
zwischen 2 und 13.<br />
Im Gau Weser-Ems, der den Freistaat Oldenburg, die westlichen Landesteile der Prov<strong>in</strong>z<br />
Hannover und die Hansestadt Bremen umfasste, lagen die Wahlerfolge <strong>in</strong>sgesamt deutlich<br />
niedriger. <strong>Die</strong>s war vor allem darauf zurückzuführen, dass hier die gau<strong>in</strong>ternen Unterschiede<br />
besonders ausgeprägt waren. Sowohl die sozialdemokratische Hochburg Bremen als auch die<br />
katholisch geprägten Gebiete des Oldenburger Münsterlandes und des Emslandes erwiesen<br />
sich als Regionen, <strong>in</strong> denen es der <strong>NS</strong>DAP schwer fiel, organisatorisch Fuß zu fassen.<br />
Dagegen erzielte sie <strong>in</strong> den protestantisch-ländlichen Kreisen Oldenburgs und Ostfrieslands<br />
herausragende Wahlergebnisse. Ich möchte dies mit e<strong>in</strong>er konkreten Vergleichszahl für die<br />
Reichstagswahl vom Juli 1932 verdeutlichen: Im Kreis Ammerland verbuchte die <strong>NS</strong>DAP<br />
ihren niedersächsischen Spitzenwert mit knapp 78% der gültigen Stimmen, im nicht weit<br />
entfernt liegenden emsländischen Kreis Aschendorf erhielt sie dagegen nur ganze 8%.<br />
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass weite Teile <strong>Niedersachsen</strong>s ausgeprägte Hochburgen<br />
der <strong>NS</strong>-Bewegung darstellten, als markante Gegenpole dazu aber auch Regionen und Milieus<br />
existierten, <strong>in</strong> denen der bis 1933 anhand von Wahlergebnissen messbare Zuspruch zum<br />
Nationalsozialismus weit unterdurchschnittlich blieb. Mit dieser vielfältigen, aber auch klar<br />
konturierten Struktur erweist sich <strong>Niedersachsen</strong> von der Ausgangslage her als e<strong>in</strong> sehr<br />
geeignetes Beispiel, um die Frage zu untersuchen, aufgrund welcher Voraussetzungen, <strong>in</strong><br />
welchem Maße und <strong>in</strong> welchen konkreten Ausprägungen der Nationalsozialismus den<br />
Charakter e<strong>in</strong>er »Zustimmungsdiktatur« gew<strong>in</strong>nen konnte.<br />
Stimmungen und Verhalten nach 1933 <strong>in</strong> unterschiedlichen sozialen Gruppen<br />
und Milieus<br />
Aufgrund der vorliegenden Forschungsergebnisse besteht <strong>in</strong>sgesamt ke<strong>in</strong> Zweifel darüber,<br />
dass für die Zeitspanne von der Machtübertragung an Adolf Hitler bis zum Beg<strong>in</strong>n des<br />
Zweiten Weltkrieges die Gesamttendenz des Verhaltens der deutschen Bevölkerung<br />
gegenüber dem Nationalsozialismus als e<strong>in</strong> Prozess wachsender Zustimmung zu beschreiben<br />
ist. Näherer Untersuchung bedürfen aber zahlreiche Fragen, die sich aus diesem allgeme<strong>in</strong>en<br />
Befund ergeben: Gilt der zu beobachtende Trend für alle Teile der Bevölkerung und für alle<br />
Regionen im gleichen Maße? Welche E<strong>in</strong>flussfaktoren spielten die größte Rolle für diese<br />
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Entwicklung? Gab es über die Jahre Schwankungen <strong>in</strong> der Popularität des Regimes oder<br />
handelte es sich um e<strong>in</strong>en kont<strong>in</strong>uierlichen Prozess erfolgreicher politischer Integration?<br />
Offensichtlich gab es jedenfalls e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Gründen dafür, dass sich e<strong>in</strong>e<br />
m<strong>in</strong>destens partielle, häufig aber auch recht weitgehende Zustimmung <strong>in</strong> Gruppen und<br />
Schichten der Bevölkerung ausbreitete, die vor 1933 dem Nationalsozialismus überwiegend<br />
ablehnend gegenüber gestanden hatten:<br />
<strong>Die</strong> Überw<strong>in</strong>dung der Massenarbeitslosigkeit bee<strong>in</strong>druckte vor allem <strong>in</strong> der Arbeiterschaft<br />
– auch wenn die Erfolge (wie wir <strong>in</strong>zwischen aus e<strong>in</strong>schlägigen wirtschaftsgeschichtlichen<br />
Analysen wissen) ke<strong>in</strong>eswegs der propagandistisch herausgekehrten <strong>nationalsozialistische</strong>n<br />
»Arbeitsschlacht« geschuldet waren, sondern im Wesentlichen aus der Verbesserung der<br />
weltwirtschaftlichen Situation resultierten und durch die auf e<strong>in</strong>en baldigen Krieg<br />
ausgerichtete Rüstungskonjunktur wichtige Impulse erhielten. Aber dies registrierte man<br />
damals nicht und für die Beurteilung der wirtschaftlichen Lage s<strong>in</strong>d Stimmungen eben<br />
bisweilen auch wichtiger als harte Fakten.<br />
Im Bürgertum, durchaus aber auch <strong>in</strong> Teilen der Arbeiterschaft wurden die Aufsehen<br />
erregenden Ergebnisse der aggressiven Außenpolitik Hitlers – vor allem die Rückgliederung<br />
des Saargebietes, die Besetzung des entmilitarisierten Rhe<strong>in</strong>landes durch die Wehrmacht, der<br />
so genannte »Anschluss« Österreichs und die Zerschlagung der Tschechoslowakei – weith<strong>in</strong><br />
mit Befriedigung aufgenommen. Zudem gelang es der <strong>NS</strong>-Propaganda, e<strong>in</strong>en Führerkult um<br />
Adolf Hitler zu schaffen, der <strong>in</strong> hohem Maße die politische Integration im<br />
<strong>nationalsozialistische</strong>n Deutschland förderte.<br />
Mehr denn je gewann also die <strong>NS</strong>-<strong>Herrschaft</strong> <strong>in</strong> der zweiten Hälfte der 1930er Jahre den<br />
hier diskutierten Charakter e<strong>in</strong>er »Zustimmungsdiktatur«. Aber selbst <strong>in</strong> diesen Jahren gab es<br />
im Kontrast hierzu immer wieder auch Streitfragen und Politikbereiche, <strong>in</strong> denen das Regime<br />
mit se<strong>in</strong>em kompromisslosen <strong>Herrschaft</strong>swillen energischen Widerspruch provozierte, der<br />
von situationsbed<strong>in</strong>gten Verstimmungen und Protesten über sich verfestigende nonkonforme<br />
Haltungen bis h<strong>in</strong> zu pr<strong>in</strong>zipiellem Widerstand reichte. Ich will diese <strong>in</strong>sgesamt sehr<br />
ambivalenten Verhältnisse anhand von ausgewählten Beispielen verdeutlichen:<br />
Wir hatten eben bereits gesehen, dass die Bauern für die <strong>NS</strong>-Bewegung e<strong>in</strong>e Zielgruppe<br />
von herausgehobener Bedeutung darstellten. Nach 1933 wurde <strong>Niedersachsen</strong> – das nun zum<br />
Kernland des germanischen Bauerntums stilisiert wurde – zum bevorzugten Schauplatz der<br />
<strong>nationalsozialistische</strong>n Blut-und-Boden-Propaganda. <strong>Die</strong> Massenaufmärsche anlässlich der<br />
Erntedankfeste am Bückeberg bei Hameln und die Reichsbauernfeste <strong>in</strong> Goslar gehörten – um<br />
mit dem Hamburger Politikwissenschaftler Peter Reichel zu sprechen – zum »schönen Sche<strong>in</strong><br />
des Dritten Reiches«. <strong>Die</strong> offenkundigen Defizite dieser symbolischen Bauernpolitik blieben<br />
der Landbevölkerung freilich nicht lange verborgen: Alle<strong>in</strong> die Proklamation von rund e<strong>in</strong>em<br />
Viertel aller Bauernstellen zu so genannten »Erbhöfen«, die nicht mehr geteilt oder ohne<br />
Genehmigung verkauft und erst recht nicht versteigert werden konnten, löste nämlich noch<br />
ke<strong>in</strong>eswegs die ökonomischen Probleme der betroffenen Bauern. <strong>Die</strong>se konnten sich sogar<br />
zuspitzen, da aufgrund des Bestandsschutzes Kredite für diese Höfe kaum noch zu erhalten<br />
waren. Insofern kann es nicht erstaunen, dass vor den <strong>in</strong> den Kreisen gebildeten<br />
Anerbengerichten sowie dem Preußischen Landeserbhofgericht <strong>in</strong> Celle als Revisions<strong>in</strong>stanz<br />
etliche Streitfälle verhandelt wurden, <strong>in</strong> denen Landwirte zumeist erfolglos versuchten, ihre<br />
Höfe wieder aus der Erbhöferolle streichen zu lassen. E<strong>in</strong> Erbhofbauer aus Freiburg an der<br />
Elbe, der se<strong>in</strong>en Obsthof durch den Bau e<strong>in</strong>er neuen Kühlanlage modernisieren und se<strong>in</strong>en<br />
Vertrieb durch Investitionen ausbauen wollte, scheiterte genau an dieser Hürde. Nicht alle<br />
Landwirte konnten also glücklich se<strong>in</strong> über die Konsequenzen der Blut-und-Boden-Politik.<br />
Zudem fühlten sich viele Bauern aufgrund von planwirtschaftlichen Regulierungen der<br />
Nahrungsmittelproduktion bevormundet und gegängelt. Der Landrat des Kreises Celle fasste<br />
im Sommer 1934 die Stimmung wie folgt zusammen: »Der niedersächsische Bauer ist se<strong>in</strong>er<br />
Natur nach <strong>in</strong>dividualistisch e<strong>in</strong>gestellt und wird sich sehr langsam an die vom<br />
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Nationalsozialismus vertretene sozialistische Denkungsart <strong>in</strong> wirtschaftlichen D<strong>in</strong>gen<br />
gewöhnen.«<br />
In späteren Jahren ergaben sich massenhaft Konflikte durch das gegen die<br />
Kriegswirtschaftsverordnung verstoßende »Schwarzschlachten«, mit dem unbotmäßige<br />
Bauern ihr Vieh der vom Staat beanspruchten Verfügungsgewalt entzogen. Was die<br />
Landwirte als ihr gutes Recht ansahen, deuteten die Machthaber als Sabotage der<br />
Kriegsanstrengungen und zerrten die Betroffenen vor die Schranken der für solche politischen<br />
Straftaten zuständigen Sondergerichte. Im W<strong>in</strong>ter 1942/43 verurteilte das Sondergericht<br />
Hannover wegen »Schwarzschlachtens« nicht weniger als 32 E<strong>in</strong>wohner aus zwei <strong>in</strong> der Nähe<br />
des Ste<strong>in</strong>huder Meeres gelegenen Dörfern. Hieraus resultierten – wie e<strong>in</strong>e Aktennotiz der<br />
Kreisbauernschaft belegt – groteske Zustände: »<strong>Die</strong> Situation ist <strong>in</strong> Hagenburg und<br />
Altenhagen nun so, daß e<strong>in</strong> großer Teil der Betriebsführer zur Wehrmacht e<strong>in</strong>berufen und der<br />
Rest nunmehr <strong>in</strong>folge Vergehens <strong>in</strong>haftiert ist. <strong>Die</strong> Bewirtschaftung liegt ganz <strong>in</strong> den Händen<br />
von ausländischem Arbeitspersonal, hauptsächlich Ostarbeitern.«<br />
Überall dort, wo unterschiedliche Zielsetzungen der <strong>NS</strong>-Politik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en grundsätzlichen<br />
Konflikt mite<strong>in</strong>ander gerieten, erwies sich sehr schnell der vor allem <strong>in</strong>szenatorische und<br />
ke<strong>in</strong>eswegs substantielle Charakter der <strong>nationalsozialistische</strong>n Bauernpolitik: Als zum<br />
Beispiel für die E<strong>in</strong>richtung des Truppenübungsplatzes <strong>in</strong> Bergen oder für den Bau des<br />
späteren Wolfsburger Volkswagenwerkes durch die <strong>NS</strong>-Organisation »Kraft-durch-Freude«<br />
große Flächen benötigt wurden, enteignete man ohne mit der Wimper zu zucken kurzerhand<br />
die dort ansässigen Bauern – und zwar völlig gleichgültig, ob es sich um Erbhöfe oder<br />
kle<strong>in</strong>ere Bauernstellen handelte. Im Ergebnis ersche<strong>in</strong>t es daher plausibel, dass das im<br />
ländlichen Bereich vor 1933 vielerorts erreichte extrem hohe Maß an Zustimmung zum<br />
Nationalsozialismus aufgrund des deutlichen Ause<strong>in</strong>anderfallens von Ideologie und Realität<br />
während des »Dritten Reiches« eher zurückgegangen se<strong>in</strong> könnte.<br />
Organisierter politischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist – wie überall –<br />
auch <strong>in</strong> <strong>Niedersachsen</strong> vor allem aus den Reihen der Arbeiterschaft geleistet worden. Nach<br />
den vorliegenden Polizeiberichten wurden 1933 alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Hannover im monatlichen<br />
Durchschnitt etwa 100 kommunistische Aktivisten verhaftet. <strong>Die</strong>se ausgesprochen hohe<br />
Opferrate des kommunistischen Massenwiderstandes erklärt sich unter anderem auch daraus,<br />
dass <strong>in</strong> der nur mangelhaft getarnten Untergrundarbeit weiterh<strong>in</strong> Beitragszahlungen ordentlich<br />
dokumentiert und regelmäßig illegale Versammlungen abgehalten wurden. Da die Gestapo<br />
zudem durch Spitzel über das Personal und die Strukturen der Untergrundarbeit <strong>in</strong> der Regel<br />
recht gut <strong>in</strong>formiert war, musste dieses Konzept zwangsläufig scheitern. Bis 1935 war das<br />
umfangreiche Netzwerk des kommunistischen Widerstandes nahezu komplett zerschlagen.<br />
Spätere Reorganisationsbemühungen waren nur sehr punktuell erfolgreich.<br />
Der sozialdemokratische und sozialistische Widerstand agierte eher <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eren,<br />
vone<strong>in</strong>ander besser abgeschirmten Gruppen und <strong>in</strong> <strong>in</strong>formellen Kontaktkreisen. Konspirative<br />
Tarnungen konnten daher länger aufrecht erhalten werden. Dennoch ist festzustellen, dass<br />
auch <strong>in</strong> sozialdemokratischen Hochburgen wie Hannover oder Braunschweig die<br />
Bed<strong>in</strong>gungen politischer Widerstandstätigkeit seit Mitte der 1930er Jahre immer prekärer<br />
wurden. <strong>Die</strong> »Sozialistische Front« als größte Gruppe des Arbeiterwiderstands <strong>in</strong> Hannover<br />
wurde bis zum Herbst 1937 von der Gestapo komplett zerschlagen und auch die kle<strong>in</strong>eren<br />
Zirkel des besonders effektiv arbeitenden Internationalen Sozialistischen Kampfbundes<br />
mussten ihre Untergrundtätigkeit <strong>in</strong> Hannover, Braunschweig, Gött<strong>in</strong>gen und Hannoversch-<br />
Münden etwa zur selben Zeit e<strong>in</strong>stellen.<br />
Der Arbeiterwiderstand basierte während der Anfangsphase der <strong>NS</strong>-<strong>Herrschaft</strong> <strong>in</strong> hohem<br />
Maße auf <strong>in</strong>tensiven Milieub<strong>in</strong>dungen, die sich am Arbeitsplatz, im Wohnviertel und im<br />
Vere<strong>in</strong>swesen entfalteten. Zuverlässige Freunde, die bei der Herstellung von Flugblättern<br />
behilflich se<strong>in</strong> konnten, Frauen, die diese anschließend im K<strong>in</strong>derwagen transportierten, e<strong>in</strong><br />
Kellerversteck für die Schreibmasch<strong>in</strong>e, e<strong>in</strong> unauffälliger Treff im Schrebergarten, e<strong>in</strong><br />
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sicherer Unterschlupf für anreisende Kuriere – das waren ganz alltägliche Elemente der<br />
Untergrundtätigkeit, die sich aus e<strong>in</strong>er vertrauten alltäglichen Lebenswelt heraus entfaltete.<br />
Unter den Bed<strong>in</strong>gungen der sich stabilisierenden Diktatur mussten diese Milieustrukturen<br />
freilich über kurz oder lang anfälliger werden. Zudem boten sie auch der professionell<br />
agierenden Gestapo wichtige Anhaltspunkte für ihre Ermittlungen. <strong>Die</strong> Verwurzelung im<br />
Milieu, die anfangs die Stärke des Arbeiterwiderstandes ausgemacht hatte, wurde nun<br />
zunehmend zu e<strong>in</strong>em Faktor, der die konspirative Tarnung bedrohte.<br />
<strong>Die</strong> Aussage, dass Arbeiter den zahlenmäßig größten Anteil am organisierten politischen<br />
Widerstand hatten, bedeutet allerd<strong>in</strong>gs im Umkehrschluss ke<strong>in</strong>eswegs, dass die Arbeiterschaft<br />
<strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong>e resistente Haltung gegen den Nationalsozialismus e<strong>in</strong>genommen und<br />
durchgehalten hätte. Sehr große Verhaltensunterschiede ergaben sich zwischen dem <strong>in</strong> den<br />
Freien Gewerkschaften und sozialistischen Vere<strong>in</strong>en fest verankerten Kernmilieu der<br />
Industriearbeiter und anderen, eher organisationsabst<strong>in</strong>enten und <strong>in</strong>sgesamt nationaler<br />
e<strong>in</strong>gestellten Gruppen der Arbeiterschaft, die etwa bei der Post oder der Eisenbahn und eher<br />
<strong>in</strong> der Kle<strong>in</strong>stadt oder <strong>in</strong> ländlichen Gebieten vorzuf<strong>in</strong>den waren. <strong>Die</strong> Erfahrung, nach langen<br />
Jahren der Arbeitslosigkeit unter Hitler wieder Beschäftigung zu f<strong>in</strong>den, söhnte zudem<br />
manchen Kritiker zum<strong>in</strong>dest teilweise mit dem ungeliebten Regime aus. Schließlich sprachen<br />
die Nationalsozialisten ganz gezielt auch die Arbeiterschaft mit den Mitteln der symbolischen<br />
Politik an: Der 1. Mai wurde zum Feiertag der nationalen Arbeit erhoben, womit e<strong>in</strong>e alte<br />
Forderung der sozialistischen Bewegung geschickt usurpiert wurde. <strong>Die</strong> Unterschiede<br />
zwischen den »Arbeiter der Stirn und der Faust« sollten aufgehoben werden, lautete e<strong>in</strong>e<br />
plakative Parole.<br />
Systematische Untersuchungen darüber, welche Erfolge die Nationalsozialisten mit ihrer<br />
Arbeiterpolitik erzielten, gibt es kaum. Derzeit s<strong>in</strong>d wir eher auf punktuelle Beobachtungen<br />
und Indizien angewiesen. Vor etlichen Jahren habe ich beispielsweise im Rahmen e<strong>in</strong>es<br />
regionalen Forschungsprojektes mit e<strong>in</strong>er größeren Zahl von Zeitzeugen aus Hannover-<br />
L<strong>in</strong>den (und zwar sowohl aus dem sozialdemokratischen Mehrheitsmilieu als auch aus dem<br />
katholischen Diasporamilieu) <strong>in</strong>tensive Gespräche geführt. Dabei hat sich e<strong>in</strong> sehr<br />
vielschichtiges und ambivalentes, zum Teil auch widersprüchliches Bild der Verhältnisse<br />
ergeben. Neben zahlreichen Episoden, die e<strong>in</strong>e vergleichsweise hohe Resistenz illustrieren,<br />
wurden ebenso auch gegenteilige Erfahrungen geschildert, etwa dass rote Fahnen quasi über<br />
Nacht durch Hakenkreuzfahnen ersetzt worden seien. E<strong>in</strong> Interviewpartner berichtete: »Kurz<br />
vor dem 30. Januar zog noch e<strong>in</strong>e kommunistische Schalmeien-Kapelle durch L<strong>in</strong>den. Unter<br />
ihnen waren welche, die e<strong>in</strong>ige Tage später <strong>in</strong> SA-Uniform durch die Straßen g<strong>in</strong>gen und<br />
Nazigegner verhafteten.«<br />
Völlig konträr hierzu steht die Er<strong>in</strong>nerung e<strong>in</strong>es katholischen Kaplans über e<strong>in</strong>e<br />
Straßenbahnfahrt durch L<strong>in</strong>den <strong>in</strong> den Kriegsjahren: »Stehe vorne neben dem Fahrer. Zivil,<br />
mit Schlips und so weiter. Bei den Nazis g<strong>in</strong>gen wir ja viel zivil. Und der f<strong>in</strong>g an, auf die<br />
Nazis zu schimpfen. Und da sage ich: Na, hören Sie mal, haben Sie ke<strong>in</strong>e Angst? Na, sieht<br />
man doch, was sie s<strong>in</strong>d. Wenn Sie auch e<strong>in</strong>en Schlips umhaben, dass Sie Pastor s<strong>in</strong>d. Da darf<br />
ich wohl ehrlich se<strong>in</strong> [...] <strong>Die</strong> Leute waren froh, wenn Sie mal etwas Dampf ablassen konnten<br />
[...] <strong>Die</strong> ganze Kirchenpolitik der Nazis hat uns ja näher zusammengeführt, die verschiedenen<br />
Konfessionen.«<br />
In der Diasporasituation – im hier betrachteten Beispiel also mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em als »rot«<br />
bekannten hannoverschen Arbeiterviertel – lebten die Katholiken <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vergleichsweise<br />
unauffälligen und daher erträglichen Sondersituation. E<strong>in</strong>er me<strong>in</strong>er Gesprächspartner hat<br />
gemutmaßt, dass der hier nur etwa 10 bis 15% ausmachende katholische Bevölkerungsteil von<br />
den Machthabern quasi als e<strong>in</strong>e zu vernachlässigende Größe angesehen wurde. Weitaus<br />
brisanter stellte sich dagegen die Konfrontation zwischen dem Katholizismus und dem<br />
Nationalsozialismus im Oldenburger Münsterland dar.<br />
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E<strong>in</strong>en Aufsehen erregenden Höhepunkt erreichten die auf zahlreichen Gebieten ständig<br />
schwelenden <strong>Herrschaft</strong>skonflikte im so genannten »Kreuzkampf«. Der auch für Kirchen und<br />
Schulen zuständige oldenburgische Innenm<strong>in</strong>ister hatte – nachdem ihm von der Gauleitung<br />
e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> konfessionellen Fragen zu »schlappe Haltung« vorgeworfen worden war – im<br />
November 1936 per Erlass angeordnet, dass künftig <strong>in</strong> Schulen »kirchliche und andere<br />
religiöse Zeichen« nicht mehr aufgehängt werden dürften und somit auch die Kreuze, die <strong>in</strong><br />
dieser fast homogen katholischen Gegend seit jeher <strong>in</strong> den Schulen h<strong>in</strong>gen, zu entfernen seien.<br />
Sofort erhob sich e<strong>in</strong> Proteststurm unter katholischen Laien und Geistlichen, der schließlich<br />
dazu führte, dass Gauleiter Carl Röver bei e<strong>in</strong>er Massenversammlung <strong>in</strong> Cloppenburg<br />
rhetorisch den Rückzug antreten und die Rücknahme des umstrittenen Erlasses verkünden<br />
musste. <strong>Die</strong> Kreuze blieben also <strong>in</strong> den Schulen und e<strong>in</strong> modus vivendi zwischen<br />
Katholizismus und <strong>NS</strong>-Regime war nach erheblichen Turbulenzen wiederhergestellt.<br />
Interessant ist, wie Reichspropagandam<strong>in</strong>ister Goebbels den ganzen Vorgang e<strong>in</strong>stufte. Er<br />
vermerkte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Tagebuch: »Mit Röver se<strong>in</strong>e tolle Kruzifix-Aktion besprochen. E<strong>in</strong><br />
verrückter Fehler.«<br />
Generell zeichnet sich für die beiden am stärksten ausgeprägten weltanschaulichen<br />
Ges<strong>in</strong>nungsgeme<strong>in</strong>schaften, also das katholische Sozialmilieu und das sozialistische<br />
Arbeitermilieu, e<strong>in</strong> weitgehend übere<strong>in</strong>stimmender Befund ab: Das trotzige Zusammenrücken<br />
im Milieukern lief parallel mit e<strong>in</strong>em Prozess des Abschmelzens an den nicht so <strong>in</strong>tensiv<br />
<strong>in</strong>tegrierten Rändern, der auf e<strong>in</strong> wachsendes Arrangement mit dem <strong>NS</strong>-Regime verweist.<br />
E<strong>in</strong> Bevölkerungsteil, <strong>in</strong> dem der Nationalsozialismus bereits vor 1933<br />
überdurchschnittlich hohe Zustimmung gefunden hatte, war das protestantische Bürgertum.<br />
Der <strong>NS</strong>DAP war es <strong>in</strong> den Wahlkämpfen der späten Weimarer Zeit gelungen, die<br />
konkurrierenden liberalen und konservativen Parteien immer stärker zu neutralisieren und auf<br />
diese Weise von e<strong>in</strong>er militanten völkischen Sekte zur dom<strong>in</strong>anten Milieupartei des<br />
bürgerlich-nationalen Wählerlagers aufzusteigen. Von der Mehrheit der Gewerbetreibenden,<br />
Angestellten und Beamten sowie vor allem von den kulturellen und berufsständischen<br />
Vere<strong>in</strong>en und Verbänden, <strong>in</strong> denen sich diese Bevölkerungsgruppen organisiert hatten, wurde<br />
die Machtübertragung an Hitler als »nationale Revolution« gefeiert, die sich gleichermaßen<br />
gegen den klassenkämpferischen sozialistischen Internationalismus als auch gegen das<br />
fe<strong>in</strong>dliche Ausland richtete, das den Deutschen – so empfand man es – <strong>in</strong> Versailles e<strong>in</strong>en<br />
»Schandvertrag« aufoktroyiert hatte. In dem von den Nationalsozialisten geschickt<br />
aufgegriffenen Schlagwort der »Volksgeme<strong>in</strong>schaft« ließ sich diese Stimmungslage sehr<br />
konsensfähig bündeln. Dass die politischen Absichten Adolf Hitlers viel weiter reichten und<br />
auf e<strong>in</strong>e rassistisch fundierte totalitäre Diktatur zielten, sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong> der Euphorie des Jahres<br />
1933 dagegen nur wenige Angehörige des Bürgertums klar erkannt zu haben. Insbesondere<br />
spielte der Judenhass zwar für den fanatischen Kern der <strong>NS</strong>-Bewegung e<strong>in</strong>e Identität stiftende<br />
Rolle, wurde aber von e<strong>in</strong>em großen Teil der Massen, die Hitler <strong>in</strong> den 1930er Jahren<br />
zujubelten, zunächst eher als e<strong>in</strong> Nebenaspekt wahrgenommen.<br />
Auch <strong>in</strong> der evangelischen Kirche bildete sich diese Situation ab: Man begrüßte den<br />
»nationalen Aufbruch« freudig, da er mit e<strong>in</strong>er Zurückdrängung der kirchenfe<strong>in</strong>dlichen Kräfte<br />
e<strong>in</strong>herzugehen schien. Bei den Kirchenwahlen 1933 erzielten die »Deutschen Christen«, die<br />
als verlängerter Arm Hitlers im Bereich der Kirche auftraten, <strong>in</strong> den evangelisch-lutherischen<br />
Landeskirchen Hannovers, Braunschweigs und Oldenburgs große Erfolge und stellten fast<br />
überall die Mehrheit der Kirchenvorsteher. Zahlreiche Pfarrer und Laien organisierten sich<br />
freilich bald <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er als »Bekenntnisgeme<strong>in</strong>schaft« bezeichneten Abwehrfront, um die auch<br />
im kirchlichen Leben sehr weitreichenden völkischen Umgestaltungsansprüche der<br />
»Deutschen Christen« abzuwehren. Im so genannten »Kirchenkampf« prallten diese<br />
<strong>in</strong>nerkirchliche Konfliktparteien aufe<strong>in</strong>ander, wobei die Ause<strong>in</strong>andersetzungen <strong>in</strong> der<br />
hannoverschen Landeskirche durch die vermittelnde Haltung des Landesbischofs August<br />
Marahrens erheblich abgemildert wurden. Während die evangelischen Kirchenleitungen für<br />
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e<strong>in</strong>en modus vivendi mit den Machthabern e<strong>in</strong>traten, gab es e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Pfarrern,<br />
die sich mutig und unmissverständlich von der Politik des Regimes distanzierten.<br />
Als erstes Beispiel wähle ich den Stader Pastor Johann Gerhard Behrens, der im<br />
September 1935 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Konfirmandenunterricht die antisemitische Wochenzeitung »Der<br />
Stürmer« als Schmutzblatt bezeichnet und die völkische Rassenlehre kritisiert hatte.<br />
Daraufh<strong>in</strong> wurde er von SS- und SA-Leuten sowie aufgehetzten Jugendlichen überfallen,<br />
misshandelt, mit e<strong>in</strong>em Eimer Wasser übergossen und unter Beschimpfungen wie<br />
»Judenlümmel« und »Volksverräter« durch die Stader Innenstadt getrieben. Derartige<br />
Vorfälle, wie sie auch für e<strong>in</strong>ige andere Orte nachweisbar s<strong>in</strong>d, führten <strong>in</strong> kirchentreu<br />
e<strong>in</strong>gestellten protestantischen Bevölkerungskreisen zu erheblicher Unruhe. Fanatische lokale<br />
<strong>NS</strong>-Aktivisten provozierten auf diese Weise, dass mancher zunächst dem Nationalsozialismus<br />
sehr positiv gegenüber stehende Bürger zum<strong>in</strong>dest auf vorsichtige Distanz g<strong>in</strong>g.<br />
Me<strong>in</strong> zweites Beispiel ist Walter Klose, Pfarrer <strong>in</strong> der hannoverschen Stadtrandgeme<strong>in</strong>de<br />
Stöcken, der 1940 vom Sondergericht Hannover zu e<strong>in</strong>er sechsmonatigen Gefängnisstrafe<br />
verurteilt wurde, weil er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em seelsorgerlichen Gespräch geäußert hatte: »Unser Jupp« –<br />
geme<strong>in</strong>t war Propagandam<strong>in</strong>ister Joseph Goebbels – lüge genauso wie die englische<br />
Propaganda. Zudem hatte Klose erklärt, <strong>in</strong> Deutschland herrsche Zwang, es gäbe ke<strong>in</strong>e<br />
Freiheit mehr. Bemerkenswert an diesem Fall ist vor allem, dass es sich hier um e<strong>in</strong>en<br />
ehemaligen Funktionär der Deutschen Christen handelte, der sich während des »Dritten<br />
Reiches« so radikal von se<strong>in</strong>en ursprünglichen Überzeugungen abwandte, dass er an se<strong>in</strong>er<br />
späteren Wirkungsstätte <strong>in</strong> Barnstorf bei <strong>Die</strong>pholz aufgrund se<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong> bekannten anti<strong>nationalsozialistische</strong>n<br />
E<strong>in</strong>stellung 1945 von der britischen Besatzungsmacht als<br />
Bürgermeister e<strong>in</strong>gesetzt wurde.<br />
Schließlich möchte ich noch Wolfgang Staemmler erwähnen, der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Abteilung der<br />
Bethelschen Anstalten <strong>in</strong> Freistatt bei <strong>Die</strong>pholz als Anstaltspfarrer tätig war. Staemmler hatte<br />
im Juli 1943 beim Frühstück se<strong>in</strong>e Tischgenossen gefragt, ob sie die Ursache für den großen<br />
Erfolg der Reichssp<strong>in</strong>nstoffsammlung kennen würden, und dann ausgeführt: »Der große<br />
Erfolg der Reichssp<strong>in</strong>nstoffsammlung setzt sich zusammen aus dem Geduldsfaden des<br />
deutschen Volkes, den Hirngesp<strong>in</strong>sten des Führers, dem Lügengewebe des<br />
Propagandam<strong>in</strong>isteriums und den Lumpen der Partei.« Drei Jahre Gefängnis, verhängt durch<br />
das Sondergericht Hannover, waren die Konsequenz.<br />
Nun s<strong>in</strong>d dies ausgewählte E<strong>in</strong>zelbeispiele und man kann dem mit Recht entgegen halten,<br />
dass es unter den evangelischen Geistlichen ebenso auch zahlreiche bis 1945 völlig unbeirrte<br />
Parteigänger Hitlers sowie nicht wenige gedankenlose Mitläufer gegeben hat. Für die Stadt<br />
Hannover habe ich allerd<strong>in</strong>gs festgestellt, dass die Gestapo im Laufe der Jahre immerh<strong>in</strong><br />
gegen rund 40% aller evangelischen Geme<strong>in</strong>depfarrer ermittelt hat und <strong>in</strong> etlichen Fällen<br />
Verwarnungen aussprach, Überwachungen anordnete und Geldstrafen verhängte.<br />
Versucht man aus diesen Überlegungen e<strong>in</strong> erstes Zwischenfazit zu ziehen, so könnte der<br />
für Hamburg von Frank Bajohr formulierte Befund zum<strong>in</strong>dest für große Teile <strong>Niedersachsen</strong>s<br />
ebenfalls zutreffend se<strong>in</strong>. Er lautet: <strong>Die</strong> Machtdurchsetzung des <strong>NS</strong>-Regimes wäre 1933 ohne<br />
den E<strong>in</strong>satz von geballter Gewalt nicht möglich gewesen. Am Anfang stand also der Terror.<br />
Bald jedoch gewannen die Nationalsozialisten auch <strong>in</strong> jenen Kreisen der Bevölkerung an<br />
Zustimmung, die ihnen 1933 noch ablehnend gegenüber gestanden hatten. So entwickelte sich<br />
»schrittweise e<strong>in</strong>e Zustimmungsdiktatur, die sowohl auf diktatorialen Elementen als auch auf<br />
e<strong>in</strong>er wachsenden gesellschaftlichen Konsensbereitschaft aufbaute. <strong>Die</strong> Unterstützung des<br />
<strong>NS</strong>-Regimes durch die Bevölkerung erreichte um 1940 e<strong>in</strong>en Höhepunkt, nahm <strong>in</strong> der<br />
Folgezeit jedoch langsam und ab 1943 rapide ab.«<br />
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Spezifische Entwicklungen <strong>in</strong> den Kriegsjahren 1939-1945<br />
<strong>Die</strong>ser Teil me<strong>in</strong>er Ausführungen kann und muss aus unterschiedlichen Gründen sehr kurz<br />
ausfallen. Zum e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d für verschiedene Gruppen der Gesellschaft e<strong>in</strong>ige Beispiele bereits<br />
genannt worden, zum anderen ist der Forschungsstand für die Kriegsjahre besonders<br />
lückenhaft und problematisch. Vielfach können daher derzeit überhaupt nur Fragen und<br />
Hypothesen formuliert werden.<br />
E<strong>in</strong> wichtiger Indikator für die Frage der Zustimmung der Bevölkerung zur Politik des<br />
<strong>NS</strong>-Regimes ist ohne Zweifel das Verhältnis der Deutschen zur Judenverfolgung, das gerade<br />
jüngst von dem <strong>in</strong> London lehrenden Historiker Peter Longerich auf allgeme<strong>in</strong>er Ebene<br />
untersucht worden ist. Er kommt zu dem Schluss, dass die Machthaber kont<strong>in</strong>uierlich ganz<br />
erhebliche Anstrengungen unternehmen mussten, um die Bevölkerung auf die jeweils<br />
nächsten Schritte ihrer »Judenpolitik« zu verpflichten. Sofern e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Übere<strong>in</strong>stimmung<br />
mit den Verfolgungsmaßnahmen dennoch nicht zu erreichen war, so Longerich, musste<br />
zum<strong>in</strong>dest die öffentliche Kritik zum Verstummen gebracht werden.<br />
Welche Rolle spielte – um e<strong>in</strong>es der Argumente von Götz Aly aufzugreifen – das<br />
vielfache Profitieren der »deutschen Volksgenossen« durch die von Partei, Stadtverwaltung<br />
und Landesbehörden <strong>in</strong> konzertierter Aktion <strong>in</strong> die Wege geleitete Ausplünderung von<br />
verfolgten Juden, wie sie beispielsweise für Gött<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> akribischer Detailarbeit straßen- und<br />
hausweise rekonstruiert werden konnte? Das Spektrum der bei dieser so genannten<br />
»Arisierung« erzielten Vorteile war breit: Viele Geschäftsleute konnten sich unliebsamer<br />
Konkurrenz entledigen bzw. so genannte »entjudete« Betriebe zu e<strong>in</strong>em Bruchteil ihres<br />
Wertes übernehmen. Durchschnittliche Bürger ersteigerten günstig Teile des Hausstandes von<br />
deportierten Juden oder konnten sich Hoffnungen auf die Übernahme e<strong>in</strong>er geräumigeren<br />
Wohnung machen. Wie verbreitet und zielgerichtet derartige Vorteilsnahmen tatsächlich<br />
waren, wird beispielsweise dadurch belegt, dass sich die <strong>NS</strong>DAP-Kreisleitung Gött<strong>in</strong>gen im<br />
Dezember 1941 beklagte, sie werde mit Anträgen auf Wohnungszuweisungen überhäuft, da<br />
der bevorstehende Abtransport der Juden bereits <strong>in</strong> der Bevölkerung bekannt geworden sei.<br />
E<strong>in</strong> weiteres mögliches Indiz könnten Optimismus oder Skepsis im H<strong>in</strong>blick auf den<br />
Krieg und <strong>in</strong>sbesondere auf den Russlandfeldzug se<strong>in</strong>. Dabei ist anzunehmen, dass die vor<br />
allem <strong>in</strong> bürgerlichen und kirchlichen Kreisen verbreitete Bolschewismusfurcht e<strong>in</strong><br />
verb<strong>in</strong>dendes Element zwischen Regime und Bevölkerung dargestellt haben mag. Noch am 4.<br />
April 1945, als der Krieg bereits ganz offensichtlich verloren war, verlas der <strong>NS</strong>DAP-<br />
Gauleiter von Südhannover-Braunschweig, Hartmann Lauterbacher, über Rundfunk e<strong>in</strong>en<br />
letzten Durchhalteappell unter dem Titel »Lieber tot als Sklav«. Noch e<strong>in</strong>mal sollte die<br />
Bevölkerung mit dem Motiv der Russenfurcht zum letzten Gefecht mobilisiert werden.<br />
Wörtlich hieß es <strong>in</strong> diesem Aufruf: »Es gäbe nach e<strong>in</strong>er deutschen Niederlage ke<strong>in</strong> englischamerikanisches<br />
West- und ke<strong>in</strong> bolschewistisches Osteuropa. Der Diktator der Alliierten ist<br />
Stal<strong>in</strong>. Europa und Deutschland würde den <strong>in</strong>nerasiatischen Aasgeiern und Dsch<strong>in</strong>giskhanen<br />
zum Opfer fallen, und damit würden auch unsere Heimat und wir alle ausgemerzt. Das muß<br />
unter E<strong>in</strong>satz aller Möglichkeiten – wenn nötig unseres eigenen Lebens – verh<strong>in</strong>dert werden.«<br />
Welche Auswirkungen hatte überhaupt der Bombenkrieg auf die Haltung der<br />
Bevölkerung zur <strong>NS</strong>-<strong>Herrschaft</strong>? Führten die weitgehenden Zerstörungen <strong>in</strong> vielen<br />
niedersächsischen Städten – <strong>in</strong> Emden zu 74%, <strong>in</strong> Wilhelmshaven zu 62% und <strong>in</strong> Hannover,<br />
Braunschweig und Osnabrück zu über 50% – tatsächlich zu der von den Alliierten<br />
<strong>in</strong>tendierten Zermürbung des Durchhaltewillens oder steigerten sie vor allem den Hass auf die<br />
Kriegsgegner? Welche Wirkung erzielte weiterh<strong>in</strong> der umfassende E<strong>in</strong>satz der lokalen<br />
Parteigliederungen der <strong>NS</strong>DAP, die – wie sich etwa für Hannover zeigen lässt – im Chaos der<br />
zerstörten Städte zu e<strong>in</strong>em entscheidenden Ordnungsfaktor wurden: Sie betreuten<br />
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Ausgebombte und organisierten ihre Unterbr<strong>in</strong>gung, verteilten Lebensmittel und sorgten<br />
dafür, dass zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong> Teil des öffentlichen Lebens noch funktionierte.<br />
Schließlich könnte e<strong>in</strong> weiterer Indikator auch das Verhalten der Bevölkerung nach dem<br />
Attentat vom 20. Juli 1944 se<strong>in</strong>. Bekanntlich sah sich Landesbischof August Marahrens<br />
veranlasst, e<strong>in</strong> »Dankgebet zur gnädigen Errettung des Führers« verbreiten zu lassen. Sprach<br />
er damit überhaupt noch e<strong>in</strong>er Mehrheit der Bevölkerung oder zum<strong>in</strong>dest der evangelischen<br />
Gläubigen aus dem Herzen? Gab es – wie etwa für Frankfurt am Ma<strong>in</strong> nachgewiesen – von<br />
der <strong>NS</strong>DAP organisierte öffentliche »Treuekundgebungen« auch <strong>in</strong> niedersächsischen Orten?<br />
Falls ja: Handelte es sich eher um pflichtmäßige Rituale oder stießen diese<br />
Propagandaveranstaltungen noch auf e<strong>in</strong>e echte Resonanz?<br />
All diese Fragen lassen sich derzeit nicht mit Gewissheit beantworten. Damit breche ich<br />
me<strong>in</strong>en kurzen Blick auf die Kriegszeit und überhaupt me<strong>in</strong>e Betrachtung von<br />
niedersächsischen Fallbeispielen an dieser Stelle ab und kehre abschließend zu e<strong>in</strong>igen<br />
systematischen Überlegungen zurück. Wie s<strong>in</strong>d diese vielfältigen und teilweise auch<br />
widersprüchlichen Befunde <strong>in</strong> e<strong>in</strong> stimmiges Gesamtbild e<strong>in</strong>zuordnen?<br />
Konkurrierende Deutungen der <strong>nationalsozialistische</strong>n <strong>Herrschaft</strong><br />
Vor allem hat die Debatte um Götz Alys »Volksstaat«-Buch <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> gerufen, dass<br />
e<strong>in</strong>ige grundlegende Fragen weiterh<strong>in</strong> sehr unterschiedlich beurteilt werden: allen voran die<br />
Frage nach den zentralen Grundlagen und Triebkräften der <strong>nationalsozialistische</strong>n <strong>Herrschaft</strong><br />
und damit zwangsläufig verbunden auch das Problem der damals <strong>in</strong> der deutschen<br />
Gesellschaft vorherrschenden und prägenden Verhaltensmuster.<br />
Mitte der 1980er Jahre schienen diese Forschungsprobleme durch e<strong>in</strong>e ausgewogene<br />
Synthese bereits überzeugend beantwortet worden zu se<strong>in</strong>. Der Münsteraner Historiker Hans-<br />
Ulrich Thamer hatte e<strong>in</strong>e weith<strong>in</strong> konsensfähige Formel geprägt, <strong>in</strong>dem er davon sprach,<br />
»Verführung und Gewalt« – dies seien die beiden zentralen Triebkräfte der<br />
<strong>nationalsozialistische</strong>n <strong>Herrschaft</strong> gewesen. Ian Kershaw formulierte wenig später, »Zwang<br />
und Zustimmung« seien »zwei Seiten derselben Medaille – zwei Hauptstützpfeiler der Macht<br />
Hitlers.«<br />
In den 1990er Jahren wandelte sich allerd<strong>in</strong>gs die Tendenz der Forschung ganz erheblich:<br />
Nun wurden die Konsenspotentiale und die hohe Zustimmung zu Hitler und zur <strong>NS</strong>-Politik <strong>in</strong><br />
der deutschen Bevölkerung immer stärker <strong>in</strong> den Mittelpunkt gerückt. E<strong>in</strong>e Untersuchung<br />
über das Saarland kam zu dem Schluss, e<strong>in</strong> bis zum bitteren Ende des »Dritten Reiches«<br />
funktionierender Grundkonsens hätte alle partiellen Dissense überlagert und neutralisiert. Das<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Forschungsprojekt zu Bayern zuvor für erstaunlich breite Teile der Bevölkerung<br />
festgestellte Verhaltensmuster e<strong>in</strong>er partiellen »Resistenz« gegen den Nationalsozialismus sei<br />
nichts anderes als e<strong>in</strong> Mythos. <strong>Die</strong> Deutschen hätten sich, so spitzte bald darauf der<br />
angesehene amerikanische Historiker Robert Gellately zu, <strong>in</strong> politischer H<strong>in</strong>sicht gleichsam<br />
selbst überwacht und bei den Verfolgungen durchaus »h<strong>in</strong>geschaut«, aber zugleich auch<br />
bewusst »weggesehen«. Entgegen der älteren Forschungsme<strong>in</strong>ung sei es eben »nicht so, dass<br />
die Deutschen nur das ›Gute‹ akzeptierten, das ihnen der Nationalsozialismus bescherte [...]<br />
und das [...] Böse ablehnten«. Vielmehr sei es Hitler gelungen, »sich auf die e<strong>in</strong>e oder andere<br />
Weise die Unterstützung der großen Mehrheit der Bürger zu sichern«. Götz Alys Deutung des<br />
»Dritten Reiches« als populärer »Volksstaat« markiert <strong>in</strong>sofern nur die bislang extremste<br />
Ausprägung e<strong>in</strong>er im letzten Jahrzehnt sehr populären Deutungsrichtung.<br />
Starke Thesen fordern allerd<strong>in</strong>gs stets auch scharfen Widerspruch heraus. So hat der<br />
amerikanische Gestapo-Experte Eric Johnson als kritische Reaktion auf diese skizzierte<br />
Argumentationsl<strong>in</strong>ie bemerkt, die »Beteiligung von gewöhnlichen Deutschen an Terror und<br />
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Massenvernichtung« werde mittlerweile »so stark <strong>in</strong> den Vordergrund gerückt, dass dabei<br />
leicht der Blick auf den Umstand verstellt wird, dass es zum Terror gar nicht erst gekommen<br />
wäre, hätte die Führung der Partei ihn nicht unter E<strong>in</strong>satz der Gestapo <strong>in</strong> Gang gesetzt«.<br />
Schließlich staunte die Fachwelt nicht schlecht, als der renommierte britische Historiker<br />
Richard Evans jüngst den zweiten Teil se<strong>in</strong>er mehrbändigen Geschichte des »Dritten<br />
Reiches« vorlegte und dabei als zentrales <strong>Herrschaft</strong>smerkmal auf Terror und Gewalt verwies.<br />
<strong>Die</strong>se Faktoren seien die entscheidenden Mittel sowohl der Machteroberung als auch der<br />
Machterhaltung. Hitler und se<strong>in</strong>e Nazi-Horden seien Krim<strong>in</strong>elle gewesen, die ihre <strong>Herrschaft</strong><br />
mit Terror und Mord, mit Täuschung und Lüge aufrecht erhielten. »Der Terrorapparat des<br />
<strong>NS</strong>-Regimes«, so fasst Evans zusammen, »reichte bis <strong>in</strong> die kle<strong>in</strong>sten E<strong>in</strong>heiten des<br />
Alltagslebens und der täglichen Berufsarbeit.«<br />
<strong>Die</strong> alte und nun also von Evans wieder neu <strong>in</strong> die Diskussion gebrachte Deutung, Terror<br />
und Gewalt seien die entscheidende Grundlage der <strong>nationalsozialistische</strong>n <strong>Herrschaft</strong><br />
gewesen, ist somit nichts anderes als e<strong>in</strong> radikaler Gegenentwurf zu der e<strong>in</strong>gangs erläuterten<br />
These Götz Alys. Zum Abschluss me<strong>in</strong>es Vortrages will ich Sie nun aber nicht mit e<strong>in</strong>er noch<br />
detaillierteren Erörterung der theoretischen Debatte konfrontieren, sondern es dabei belassen,<br />
Ihnen die kontroversen Deutungsmöglichkeiten grob skizziert zu haben. Trotz des vielfach<br />
noch sehr unzureichenden Forschungsstandes möchte ich dagegen <strong>in</strong> aller Vorläufigkeit<br />
bilanzieren, welche Indizien uns die vorgestellten niedersächsischen Fallbeispiele für die<br />
Beantwortung des aufgeworfenen Problems an die Hand geben.<br />
Fazit<br />
Das Funktionieren der <strong>nationalsozialistische</strong>n <strong>Herrschaft</strong> ausschließlich auf die stets präsente<br />
Drohung mit Terror und Gewalt zurückzuführen und der Bevölkerung damit quasi e<strong>in</strong>e<br />
Opferrolle zuzuschreiben, verharmlost das ohne Zweifel <strong>in</strong> breiten Kreisen der deutschen<br />
Gesellschaft vorhandene Maß an begeisterter Zustimmung oder m<strong>in</strong>destens wohlwollender<br />
Loyalität zu Hitler. In gewissem S<strong>in</strong>ne funktionierte das »Dritte Reich« tatsächlich bis <strong>in</strong> die<br />
Kriegsjahre h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> auch als »Zustimmungsdiktatur«.<br />
Gleichzeitig schießt aber auch die von Götz Aly vorgetragene Deutung e<strong>in</strong>er soziale<br />
Wohltaten verteilenden und im Gegenzug politische Zustimmung e<strong>in</strong>tauschenden<br />
»Gefälligkeitsdiktatur« weit über das Ziel h<strong>in</strong>aus. <strong>Die</strong> relativ hohe Stabilität der <strong>NS</strong>-Diktatur<br />
lässt sich mit e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>dimensionalen Interpretation nicht erfassen. Sie erfordert e<strong>in</strong>en weitaus<br />
komplexeren Erklärungsansatz, <strong>in</strong> dem das Zusammenspiel von ideologischer Wirksamkeit,<br />
sozialpolitischer Verlockung und ersatzreligiöser Verführung mit dem auf Rassismus und<br />
terroristischer Gewalt beruhenden Zwangscharakter des Nationalsozialismus angemessen<br />
berücksichtigt wird.<br />
Produktive Debatten drehen sich <strong>in</strong> der Forschung daher heute vor allem darum, wie hoch<br />
die relative Bedeutung der e<strong>in</strong>zelnen genannten E<strong>in</strong>flussfaktoren für das Funktionieren der<br />
<strong>nationalsozialistische</strong>n <strong>Herrschaft</strong> anzusetzen ist. Ich hoffe anhand der ausgewählten<br />
Fallbeispiele deutlich gemacht zu haben, dass <strong>Niedersachsen</strong> für die Klärung dieser Frage e<strong>in</strong><br />
sehr spannendes, aber eben auch noch unzureichend erforschtes Untersuchungsfeld ist.<br />
Zeitgeschichte ist immer auch Streitgeschichte. Denn es geht – wie die amerikanische<br />
Historiker<strong>in</strong> Barbara Tuchman e<strong>in</strong>mal formuliert hat – um die Deutung e<strong>in</strong>er historischen<br />
Epoche, »während sie noch qualmt«. Nun könnte man allerd<strong>in</strong>gs vermuten, dass sich mehr als<br />
60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Rauchwolken über den Trümmern des<br />
»Dritten Reiches« langsam gelichtet hätten, zumal ja <strong>in</strong>zwischen die Fachliteratur zur <strong>NS</strong>-Zeit<br />
ganze Bibliotheken füllt und die nur zwölf Jahre währende <strong>nationalsozialistische</strong> <strong>Herrschaft</strong><br />
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ohne jeden Zweifel den am <strong>in</strong>tensivsten untersuchtesten Zeitabschnitt der deutschen<br />
Geschichte darstellt.<br />
Für die Entwicklung e<strong>in</strong>er »geglückten Demokratie« <strong>in</strong> der Bundesrepublik stellte und<br />
stellt allerd<strong>in</strong>gs die Ause<strong>in</strong>andersetzung mit der <strong>NS</strong>-Diktatur und dem Judenmord nicht nur<br />
e<strong>in</strong> beliebiges, sondern das zentrale Feld der kritischen historischen Selbstreflexion dar.<br />
Holocaust und Vernichtungskrieg markieren zwangsläufig das Zentrum e<strong>in</strong>er spezifischen<br />
nationalen Gedenk- und Er<strong>in</strong>nerungskultur, die diese belastende Vergangenheit eben nicht<br />
e<strong>in</strong>fach »entsorgen« kann, sondern sich stets auf Neue mit ihr ause<strong>in</strong>andersetzen muss.<br />
Publiziert <strong>in</strong>:<br />
Landesgeschichte im Landtag, herausgegeben vom Präsidenten des Niedersächsischen<br />
Landtages, Hannover 2007 (Verlag Hahnsche Buchhandlung), S. 573-581.<br />
Literaturh<strong>in</strong>weise:<br />
Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt am<br />
Ma<strong>in</strong> 2005.<br />
Richard Evans, Das Dritte Reich, Bd. 1: Aufstieg; Bd. 2.1 und 2.2: Diktatur, München 2004ff.<br />
Forschungsstelle für Zeitgeschichte <strong>in</strong> Hamburg (Hg.), Hamburg im »Dritten Reich«,<br />
Gött<strong>in</strong>gen 2005.<br />
Detlef Schmiechen-Ackermann, Stadt und Nationalsozialismus <strong>in</strong> <strong>Niedersachsen</strong> –<br />
Deutungsmuster und konzeptionelle Überlegungen, Stand und Perspektiven der Forschung,<br />
<strong>in</strong>: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte, 77 (2005), S. 31-53.<br />
Detlef Schmiechen-Ackermann, Kooperation und Abgrenzung. Bürgerliche Gruppen,<br />
evangelische Kirchengeme<strong>in</strong>den und katholisches Sozialmilieu <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />
mit dem Nationalsozialismus <strong>in</strong> Hannover, Hannover 1999.<br />
Detlef Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der<br />
<strong>nationalsozialistische</strong> Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktionen <strong>in</strong><br />
den sozialistischen Vere<strong>in</strong>en, Bonn 1998.<br />
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