Bewegung hörbar machen – Warum? Zur ... - FOKO-NS
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<strong>Bewegung</strong> <strong>hörbar</strong> <strong>machen</strong> <strong>–</strong> <strong>Warum</strong>?<br />
<strong>Zur</strong> Zukunftsperspektive einer systematischen Umsetzung<br />
von <strong>Bewegung</strong> in Klänge<br />
Alfred O. Effenberg und Heinz Mechling<br />
Zusammenfassung<br />
In diesem Artikel geht es um die zukünftige Perspektive<br />
einer konsequenten Weiterentwicklung der<br />
akustischen Informationskonzepte auf der Grundlage<br />
der Sonification. Er stellt eine Fortschreibung der<br />
sportwissenschaftlichen Rhythmustheorie und einen<br />
Beitrag zu einer notwendigen Theorie der Audiomotorik<br />
dar.<br />
Die bisher vorliegenden Ergebnisse aus Untersuchungen<br />
zu Rhythmus und im weiteren Sinne zu<br />
nonverbaler akustischer Informationsvermittlung werden<br />
hinsichtlich ihrer Anwendungs- und ihrer Wirkungszusammenhänge<br />
belegt.<br />
Gestaltpsychologische Prinzipien, die in der Sonification<br />
eine zentrale Rolle spielen, werden auf die Körper-<br />
und <strong>Bewegung</strong>swahrnehmung übertragen, um so<br />
möglicherweise bestehende strukturelle Analogien<br />
zwischen den Bereichen der auditiven Wahrnehmung,<br />
der kinästhetischen Wahrnehmung und der motorischen<br />
Organisation aufzudecken. Anhand eines Beispiels<br />
aus dem alpinen Skilauf wird veranschaulicht,<br />
wie das Sonification-Konzept auf die <strong>Bewegung</strong>sforschung<br />
übertragen werden kann und wie die Strukturen<br />
der Motorik systematisch analysiert und angesteuert<br />
werden können.<br />
Auf dieser Basis werden zusammenfassend Hypothesen<br />
über die Wirksamkeit bewegungsdefinierter akustischer<br />
Informationen formuliert.<br />
Abstract<br />
The article deals with the further perspective of the<br />
development of acoustic information processing on<br />
the basis of the sonification concept. In correspondence<br />
with rhythm-theory in physical education it is<br />
a contribution to a necessary and desirable theory of<br />
audio-motor behavior.<br />
Previous studies concerning rhythmical methods and<br />
non-verbal auditory information-processing are substantiated<br />
with regard to coherence of the way of application<br />
and attained effects.<br />
Principles of ‘gestalt’-psychology, which are of crucial<br />
importance to sonification, are applied to the perception<br />
of the body and of movement. By this the potential<br />
structural analogies of auditory and kinesthetic<br />
perception and structures of motor control shall be<br />
revealed. An example of alpine skiing illustrates how<br />
the sonification-concept can be adapted to the field of<br />
kinesiology and physical education and how motor<br />
structures can be explored and influenced systematically.<br />
Summerizing this knowledge base hypothesis are formulated<br />
on the potential effectivenes of motor-defined<br />
acoustic information.<br />
Der Beitrag entstand mit Unterstützung der Deutschen<br />
Forschungsgemeinschaft (Projekt-Nr. ME 1526/1<strong>–</strong>1).<br />
Dr. Alfred O. Effenberg/Prof. Dr. Heinz Mechling<br />
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn<br />
Institut für Sportwissenschaft und Sport<br />
Nachtigallenweg 86, 53127 Bonn<br />
Tel. (02 28) 910 18-19/-39, Fax. (02 28) 9 10 18 -49<br />
E-Mail: sportinstitut@uni-bonn.de<br />
28 psychologie und sport · Schorndorf 5 (1998) · Heft 1
<strong>Bewegung</strong> <strong>hörbar</strong> <strong>machen</strong> <strong>–</strong> <strong>Warum</strong>? <strong>Zur</strong> Zukunftsperspektive einer systematischen Umsetzung von <strong>Bewegung</strong> in Klänge<br />
1 Einführung<br />
In der sportlichen <strong>Bewegung</strong>spraxis und der sportwissenschaftlichen<br />
Motorikforschung ist die akustische<br />
Begleitinformation zur zeitlichen und<br />
dynamischen Strukturierung der <strong>Bewegung</strong> eingesetzt<br />
worden (Rieder et al., 1991, Pechtl, 1989). Neben<br />
den traditionellen rhythmischen Verfahren wurden<br />
akustische Informationskonzepte entwickelt,<br />
um die menschliche Motorik akustisch ansteuern zu<br />
können. Allerdings fehlt eine Theorie zur Audiomotorik.<br />
Das für die Motorikforschung adaptierte<br />
Sonification-Konzept 1 eröffnet gegenwärtig eine<br />
weiterreichende Perspektive: Über eine Kopplung<br />
von video- und kraftmeßgestützter <strong>Bewegung</strong>sanalyse<br />
und elektronischer Soundsynthese werden<br />
quantitativ und qualitativ neue Formen der Analyse<br />
und Ansteuerung senso-motorischer Prozesse ermöglicht.<br />
Kinematische und dynamische Parameter<br />
komplexer <strong>Bewegung</strong>en können in Klangsequenzen<br />
umgesetzt werden, und die Verlaufscharakteristik<br />
der <strong>Bewegung</strong>sparameter kann akustisch abgebildet<br />
werden.<br />
Es erscheint jedoch neben diesen neuen technischen<br />
Entwicklungen für die Motorikforschung wichtiger,<br />
daß gerade in der Sonification-Forschung gestaltpsychologische<br />
Prinzipien explizit aufgegriffen<br />
werden. Mit der Aufarbeitung und Weiterentwicklung<br />
der Erkenntnisse über die Organisationstendenzen<br />
innerhalb der auditiven Wahrnehmung<br />
soll eine konsistente theoretische Basis zur Strukturierung<br />
und Wirksamkeit akustischer Ereignisreihen<br />
entwickelt werden. Hier liegt auch der<br />
Schwerpunkt des Artikels: Die auf der Ebene der<br />
Phänomene entstehenden auditiven Gestalten<br />
werden mit den kinästhetisch empfundenen <strong>Bewegung</strong>sgestalten<br />
verglichen, um etwaige Analogien<br />
beider Wahrnehmungsbereiche aufzudecken.<br />
Über „bewegungsdefinierte Klangsequenzen“<br />
sollen mögliche Gestaltäquivalenzen kinästhetischer<br />
und auditiver Wahrnehmung zunächst<br />
systematisch erforscht und nachfolgend motorische<br />
Lern- und Umlernprozesse akustisch unterstützt<br />
werden.<br />
2 Zum Stand der Entwicklung und<br />
Wirksamkeit akustischer<br />
Informationskonzepte<br />
Zwischen kinetischen und akustischen Ereignissen<br />
besteht ein untrennbarer Zusammenhang: Geräusche,<br />
Töne und Klänge sind die akustischen Konsequenzen<br />
kinetischer Ereignisse. Geräusche, die<br />
beispielsweise beim Skifahren auf gefrorenem<br />
Untergrund entstehen, enthalten Informationen über<br />
die Eigenschaften der beteiligten Materialien und<br />
Medien (Belag, Kanten, Eis, Schnee) und über die<br />
kinetischen Einflußgrößen (Kraft-Zeit-Verläufe).<br />
<strong>Bewegung</strong>sbegleitende Geräusche werden für die<br />
motorische Steuerung genutzt, allerdings ist ihre<br />
konkrete Funktion für die motorische Steuerung<br />
und Regelung bisher in der Motorikforschung nur<br />
am Rande thematisiert worden 2 . Mit den über die<br />
natürlichen bewegungsbegleitenden Geräusche hinausgehenden<br />
Studien zur nonverbalen akustischen<br />
Informationsgebung können folgende Anwendungs-<br />
und Wirkungszusammenhänge belegt werden:<br />
Voraussetzungen und<br />
Anwendungszusammenhänge:<br />
<strong>–</strong> Die biomechanische Analyse ist als Bezugsgrundlage<br />
für die Erfassung der <strong>Bewegung</strong>smerkmale<br />
geeignet, die ein <strong>Bewegung</strong>smuster<br />
charakterisieren. Darüber hinaus werden sie als<br />
Bezugsgrößen der Klangmodulation herangezogen<br />
(Stache & Woitas, 1988).<br />
<strong>–</strong> Die Auswahl und akustisch/auditive Gewichtung<br />
der erfaßten <strong>Bewegung</strong>smerkmale muß unbedingt<br />
an der Struktur der propriozeptiven <strong>Bewegung</strong>swahrnehmung<br />
orientiert werden (Rieder<br />
et al., 1991).<br />
1 Sonifikation kann sinngemäß mit „systematischer Vertonung“<br />
übersetzt werden. Die Sonification-Forschung<br />
entwickelt sich seit Beginn der neunziger Jahre vor allem<br />
in den Vereinigten Staaten disziplin-übergreifend anwendungsorientiert<br />
(weitere Erläuterungen im Text). Dieser<br />
Forschungszweig ist von Effenberg (1996) in die Motorikforschung<br />
eingeführt worden.<br />
2 Bei Schmidt (1988 2 ,S. 151) findet sich lediglich ein<br />
Hinweis auf audiomotorische Zusammenhänge, Lippens<br />
(1992) und Bauer (1993) behandeln die Rolle von<br />
<strong>Bewegung</strong>sgeräuschen beim Rudern und Dreisprung.<br />
Takeuchi (1993) hat eine Untersuchung im Tennis durchgeführt.<br />
psychologie und sport · Schorndorf 5 (1998) · Heft 1 29
Alfred O. Effenberg und Heinz Mechling<br />
<strong>–</strong> Akustische Zusatzinformationen können während<br />
der <strong>Bewegung</strong>sausführung wahrgenommen<br />
und verarbeitet werden (Chollet et al., 1992).<br />
<strong>–</strong> Akustische Zusatzinformationen können als<br />
ideomotorisches Trainingsmittel eingesetzt werden<br />
(Binghuai, 1984).<br />
<strong>–</strong> Zyklische und technomotorisch anspruchsvolle<br />
<strong>Bewegung</strong>stechniken bilden primär den Einsatzbereich<br />
der akustischen Zusatzinformation<br />
(Pechtl, 1989).<br />
<strong>–</strong> Ein interaktiver Einsatz der Soundsequenz hat<br />
sich als besonders effektiv erwiesen (Pechtl, 1989).<br />
Wirkungszusammenhänge:<br />
Akustische Zusatzinformationen<br />
<strong>–</strong> erweitern die Orientierungsgrundlage und ermöglichen<br />
eine präzisere und umfassendere Entwicklung<br />
der <strong>Bewegung</strong>svorstellung,<br />
<strong>–</strong> besitzen große Effektivität bei der Ansteuerung<br />
der zeitlich-dynamischen Koordinationsstruktur,<br />
<strong>–</strong> sind sowohl bei der direkten <strong>Bewegung</strong>sansteuerung<br />
als auch im motorischen Lernprozeß<br />
wirksam,<br />
<strong>–</strong> intensivieren und präzisieren das Bewußtsein für<br />
die zeitlich-dynamische Struktur der <strong>Bewegung</strong>,<br />
<strong>–</strong> unterstützen das Wiedererlernen bei z. B. durch<br />
Krankheit verlorengegangener <strong>Bewegung</strong>sgrundmuster,<br />
<strong>–</strong> können eine Stabilisierung der technischen Fertigkeiten<br />
unterstützen,<br />
<strong>–</strong> können die Optimierung der Ausführungsgeschwindigkeit<br />
unterstützen,<br />
<strong>–</strong> erhöhen die Sensibilität für die kinästhetischen<br />
Empfindungen,<br />
<strong>–</strong> können die Motivation steigern und die Angst<br />
reduzieren (vgl. hierzu Pechtl, 1989; Rieder et<br />
al., 1991; Wehner et al., 1982).<br />
Damit ist eine vielseitige Perspektive akustischer<br />
Zusatzinformationen zur Ansteuerung motorischer<br />
Prozesse skizziert und in ersten Studien auch bereits<br />
3 In der neurophysiologischen Forschung finden sich ergänzende<br />
Hinweise auf einen verstärkenden Charakter<br />
multimodal präsentierter Informationen für die Verhaltensregulation,<br />
wenn die multimodalen Reize eine zeitlich-räumliche<br />
Konvergenz aufweisen (Stein et al., 1989,<br />
Meltzoff, 1990, Stein & Meredith, 1993).<br />
empirisch belegt worden. Allerdings finden sich<br />
über die Wirkungszusammenhänge von akustischer<br />
Information und Motorik in den experimentellen<br />
Studien bisher kaum <strong>–</strong> mit Ausnahme von Rieder<br />
et al. (1991) und Pechtl (1989) <strong>–</strong> weiterreichende<br />
theoretische Überlegungen. Diese sollen in dem<br />
nachfolgenden Abschnitt in bezug auf die Sonification-Forschung<br />
skizziert werden 3 .<br />
3 Sonification und <strong>Bewegung</strong>:<br />
Die gezielte Nutzung auditiver<br />
Wahrnehmungsgestaltung<br />
Mit der Sonification-Forschung entwickelt sich ein<br />
Wissenschaftsbereich, in dem systematisch die<br />
Möglichkeiten der akustischen Abbildung, Darstellung<br />
und Vermittlung verschiedener bedeutungshaltiger<br />
Verlaufscharakteristika und (Ausgangs-)<br />
Prozesse untersucht werden. Dabei werden besonders<br />
Prozesse bedacht, die für den Menschen direkt<br />
nicht wahrnehmbar sind 4 . Die Gestaltpsychologie<br />
wird explizit als theoretische Basis für eine akustische<br />
Transformation bedeutungshaltiger Prozesse<br />
ausgewiesen (vgl. Bregman, 1990; Kramer,<br />
1993; Williams, 1993). Das Ziel der Sonification-<br />
Forschung besteht in der Konstituierung einer zusätzlichen<br />
akustischen Dimension zur Strukturierung<br />
der Wahrnehmung. Die akustische Abbildung<br />
soll die Entwicklung einer Vorstellung von den „sonifizierten“<br />
Prozessen unterstützen; Scaletti (1993,<br />
S. 2.2) formuliert dazu: “[Sonification is] a mapping<br />
of numerically represented relations in some domain<br />
under study to relations in an acoustic domain<br />
for purposes of interpreting, understanding or communicating<br />
relations in the domain under study.”<br />
4 Das für die Motorikforschung adaptierte Sonification-<br />
Konzept weicht von dieser Zielstellung ab, weil die<br />
Körperbewegung individuell natürlich intensiv über<br />
Kinästhesie, Vestibularorgan usw. wahrgenommen wird.<br />
Innerhalb der <strong>Bewegung</strong>swissenschaft zielt die Sonification<br />
auf eine strukturell adäquate und intersubjektive<br />
Abbildung der morphologischen und dynamischen <strong>Bewegung</strong>sstrukturen,<br />
die auch die Basis für die kinästhetische<br />
Wahrnehmung bilden. Ein direkter Bezug der unterschiedlichen<br />
Betrachtungsebenen aufeinander (hier der<br />
Bezug äußerer <strong>Bewegung</strong>smerkmale auf ihre Erscheinungsform<br />
in der Wahrnehmung) ist im Rahmen der<br />
Motorikforschung ausdrücklich gefordert (z. B. Bös &<br />
Mechling, 1983, Kap. 2.4).<br />
30 psychologie und sport · Schorndorf 5 (1998) · Heft 1
<strong>Bewegung</strong> <strong>hörbar</strong> <strong>machen</strong> <strong>–</strong> <strong>Warum</strong>? <strong>Zur</strong> Zukunftsperspektive einer systematischen Umsetzung von <strong>Bewegung</strong> in Klänge<br />
Dabei bezieht sich die Sonification-Forschung auf<br />
die gestalthaft integrierende Wahrnehmungsorganisation,<br />
da diese bedeutungskonstituierend wirkt:<br />
“Auditory grouping is the perceptual process by<br />
which the listener separates out the information<br />
from an acoustic signal into individual meaningful<br />
sounds.” (Williams, 1993, S. 4.66).<br />
Innerhalb der Sonification-Forschung werden die<br />
Relationen zwischen den einzelnen in die Gestalt<br />
eingehenden Elemente bzw. Ereignisse als das<br />
grundsätzlich Gestalt-konstituierende Element verstanden,<br />
doch heißt das nicht, daß mit einer derartigen<br />
Sicht gestalthafte Phänomene wie z. B. die<br />
Übersummativität ausgeschlossen werden: Es wird<br />
lediglich ein bestimmbares Verhältnis zwischen den<br />
Strukturen, wie sie physikalischen Ereignisreihen<br />
eigen sind, und den durch sie angeregten Wahrnehmungsgestalten<br />
angenommen. Den Wahrnehmungsgestalten<br />
werden durchaus emergente Qualitäten<br />
zugerechnet, diese sollen gerade über die<br />
auditive Wahrnehmung gezielt angeregt werden.<br />
Die internen Integrationstendenzen in der Wahrnehmung,<br />
die zu einer gestalthaften Strukturierung<br />
der Phänomene führen, sollen durch die systematische<br />
Strukturierung der akustischen Informationssequenzen<br />
gezielt genutzt werden.<br />
Das Sonification-Konzept in der<br />
Motorikforschung: Wie sieht eine Sonification<br />
eines <strong>Bewegung</strong>smusters beispielhaft aus?<br />
Zunächst einmal sind die Parameter einer <strong>Bewegung</strong><br />
auszuwählen, die einerseits für die <strong>Bewegung</strong>stechnik<br />
charakteristisch sind und andererseits<br />
mit der zur Verfügung stehenden Technik (z. B.<br />
Kraftmeßsensoren, Videotechnik) quantitativ erfaßt<br />
werden können. Soll beispielsweise die Technik des<br />
Hochentlastungsschwungs im alpinen Skifahren<br />
mit der eines Tiefentlastungsschwungs verglichen<br />
werden <strong>–</strong> sofern in den Bindungsplatten der Ski<br />
integrierte Kraftmeßaufnehmer, Videotechnik und<br />
ein 3D-<strong>Bewegung</strong>sanalysesystem zur Verfügung<br />
stehen (vgl. Mester, 1988; Rieder et al., 1991) <strong>–</strong> so<br />
können die berechneten dreidimensionale <strong>Bewegung</strong>sdaten<br />
(z. B. Winkelverläufe, <strong>Bewegung</strong>sgeschwindigkeiten<br />
und -beschleunigungen) und<br />
Kraftmeßwerte systematisch in Tonhöhen- oder<br />
Lautstärkemodulationen umgesetzt werden.<br />
Überträgt man die erzeugte Akustiksequenz auf das<br />
Videoband, so können z. B. die mit den Kraftmeßaufnehmern<br />
ermittelten Reaktionskräfte auf die<br />
Bindungsplatten als ein an- bzw. abschwellender<br />
Ton wahrgenommen werden, und zwar synchron<br />
zum Videobild, so daß eine konkretere Vorstellung<br />
der durch die jeweilige <strong>Bewegung</strong>saktion erzeugten<br />
und kinästhetisch wahrgenommenen Kräfte (zeitlich-dynamische<br />
<strong>Bewegung</strong>sstruktur) in Relation zu<br />
den zeitlich-räumlichen Komponenten (z. B. Drehen<br />
der Ski) vermittelt werden kann. Auf diese<br />
Weise läßt sich auch die unterschiedliche zeitliche<br />
Abfolge der entlastenden Aktion (Hochschwung =<br />
Knie-/Hüftgelenkstreckung, Tiefschwung = Knie-/<br />
Hüftgelenkbeugung) und der Drehbewegung der<br />
Ski prägnanter darstellen und vermitteln: Die Kompression<br />
der Gelenke muß beim Tiefschwung<br />
wesentlich explosiver erfolgen, die Drehung der Ski<br />
fällt zeitlich dichter mit der Kompression zusammen.<br />
Bei Aneinanderreihung einiger Schwünge entsteht<br />
in Vergleich zum Hochschwung ein anderer<br />
<strong>Bewegung</strong>srhythmus, der <strong>–</strong> akustisch transformiert<br />
<strong>–</strong> kontinuierlich quantitativ dargestellt werden<br />
kann und von dem angenommen werden kann, daß<br />
er eine strukturelle Analogie zu den Kraftempfindungen<br />
aufweist.<br />
Von „bewegungsdefinierten Akustik- oder auch<br />
motoakustischen Informationssequenzen“ wird in<br />
diesem Zusammenhang gesprochen, weil die<br />
elektronisch erzeugten, akustischen Ereignisreihen<br />
(z. B. Tonreihen) direkt über die <strong>Bewegung</strong>sparameterverläufe<br />
moduliert werden. Motorische<br />
Lernprozesse können über motoakustische Zusatzinformationen<br />
unterstützt werden, indem auf der<br />
Ebene der Wahrnehmungsphänomene auditive Gestalten<br />
angeregt werden, die von ihrer Struktur her<br />
den <strong>Bewegung</strong>sgestalten entsprechen. So kann<br />
beispielsweise der <strong>Bewegung</strong>srhythmus direkt in<br />
einen akustischen Rhythmus transformiert werden.<br />
Weitere bewegungsbezogene Komponenten können<br />
parallel abgebildet werden: Bei dem Beispiel des<br />
Hoch-/Tiefentlastungsschwingens sind etwa Oberkörperdrehung<br />
(Schulterachse relativ zur Hüftachse)<br />
und Stockeinsatz ergänzend darstellbar. Primär<br />
sollen zeitlich-dynamische Komponenten der <strong>Bewegung</strong>sstruktur<br />
zusätzlich zum Videobild dargestellt<br />
werden.<br />
Das Ziel der <strong>Bewegung</strong>s-Sonification liegt primär<br />
in der akustischen Unterstützung der <strong>Bewegung</strong>svorstellung.<br />
Diese kann über die akustische Darstellung<br />
der zeitlich-dynamischen Koordinationsstruktur<br />
im Zusammenhang unterstützt werden: Im<br />
Gegensatz zur verbalen <strong>Bewegung</strong>sbeschreibung<br />
psychologie und sport · Schorndorf 5 (1998) · Heft 1 31
Alfred O. Effenberg und Heinz Mechling<br />
5 Der Begriff der „Propriozeption“ bezeichnet Wahrnehmungen<br />
aus dem eigenen Körper, der Begriff der „<strong>Bewegung</strong>swahrnehmung“<br />
steht für die Gesamtheit aller <strong>–</strong><br />
proprio <strong>–</strong> wie exterozeptiver <strong>–</strong> Wahrnehmungen, die Informationen<br />
über <strong>Bewegung</strong>sphänomene enthalten. Von<br />
diesen Begriffen abweichend wird hier von der „kinästhetischen<br />
Wahrnehmung“ gesprochen (Relativbewegungen<br />
und Stellung einzelner Körperteile zueinander), weil ihr<br />
eine Schlüsselrolle für die Motorik zukommt und sich die<br />
auf die Kinästhesie beziehenden äußeren <strong>Bewegung</strong>smerkmale<br />
(Trajektorien, Winkel(-verläufe), <strong>Bewegung</strong>sgeschwindigkeiten<br />
etc.) mit der vorhandenen Technik erfaßt<br />
werden können. Generell können sich Sonificationen<br />
menschlicher <strong>Bewegung</strong>smuster auf alle erfaßbaren <strong>Bewegung</strong>sparameter<br />
beziehen.<br />
6 Zum Begriff der „propriozeptiven Eichung“ vgl.<br />
Mechling (1986, 13).<br />
wird ein ganzheitlicher Eindruck mit realzeitlichem<br />
Verlauf vermittelt. Die <strong>Bewegung</strong> muß nicht in<br />
semantische Einheiten (z. B. Verbalisierungen, Einzelbilder)<br />
zergliedert werden. Durch die Nähe und<br />
die weitreichenden strukturellen Analogien von<br />
auditiver und kinästhetischer Wahrnehmung ist<br />
eine hohe Effektivität für das <strong>Bewegung</strong>slernen zu<br />
erwarten, da der Propriozeption 5 für die Motorik<br />
eine elementare Bedeutung beigemessen wird<br />
(Mechling, 1986; Rubinstein, 1971). Wenn es in der<br />
akustischen Abbildung gelingt, eine weitreichende<br />
strukturelle Entsprechung und Übertragbarkeit der<br />
motoakustischen Zusatzinformationen auf die<br />
kinästhetische Wahrnehmung zu realisieren, könnte<br />
der Prozeß der „propriozeptiven Eichung“ im<br />
Sinne einer internen Orientierung und Beurteilung<br />
der kinästhetischen Empfindungen an den akustisch-musikalischen<br />
Gestalten zu einer „auditivkinästhetischen<br />
Eichung“ erweitert werden 6 :Bereits<br />
in frühen Stadien motorischen Lernens stünden<br />
auditive Wahrnehmungsgestalten zur Verfügung,<br />
die eine übergreifende Orientierung und Beurteilung<br />
der kinästhetischen Wahrnehmungen ermöglichen<br />
würden.<br />
Verschiedene Komponenten der <strong>Bewegung</strong>svorstellung<br />
lassen sich kombiniert und in ihren realen<br />
zeitlichen Zusammenhängen darstellen. Anstelle<br />
der bisher durchgeführten willkürlich-subjektiven<br />
Zuordnung von <strong>Bewegung</strong>smerkmalen zu akustischen<br />
Ereignissen kann nun eine direkte akustische<br />
Transformation der objektivierten <strong>Bewegung</strong>sparameter<br />
realisiert werden. Während über die visuelle<br />
Modalität insbesondere zeitlich-räumliche Komponenten<br />
der <strong>Bewegung</strong> vermittelt werden können, ist<br />
die auditive Modalität besonders für zeitlich-dynamische<br />
Strukturen geeignet (Pechtl, 1989). Daß es<br />
bei der überaus komplexen Körperwahrnehmung<br />
sehr schwierig ist, die Elemente sowohl im gesamten<br />
Wahrnehmungsstrom als auch in den Körperbzw.<br />
<strong>Bewegung</strong>sgestalten zu bestimmen, die durch<br />
die Integrationstendenzen entstehen, erscheint<br />
dabei zunächst problematisch. Doch gibt es in den<br />
gestaltpsychologischen Arbeiten zur <strong>Bewegung</strong>swahrnehmung<br />
bereits Hinweise auf intersubjektive<br />
Präferierungen und Strukturierungen innerhalb der<br />
Wahrnehmungsgestalten, wie in dem nachfolgenden<br />
Abschnitt gezeigt wird.<br />
Ziel und Ausgangspunkt der bewegungsdefinierten<br />
akustischen Information <strong>–</strong><br />
Die Körper- und <strong>Bewegung</strong>swahrnehmung:<br />
Die Wahrnehmungsphänomene sind gestalthaft<br />
vorstrukturiert, dort erscheinen nur bestimmte Einheiten<br />
innerhalb der komplexen, sich den Sinnen<br />
darbietenden Reizanordnungen. Die Vorstrukturierung<br />
erfolgt dabei weitgehend unbewußt und nach<br />
bestimmten allgemeinen Regeln (Gestaltgesetzen<br />
bzw. Integrationsprinzipien), ist aber andererseits<br />
auch erfahrungsabhängig (Metzger, 1986). In dem<br />
das Bewußtsein erreichenden „phänomenbezogenen<br />
Gesamtfeld“ wird allerdings subjektiv und<br />
handlungsspezifisch gewichtet, d. h. innerhalb der<br />
in diesem Feld herrschenden, in dynamischer Wechselwirkung<br />
stehenden Integrationstendenzen findet<br />
eine individuelle und situative Auswahl und Prägung<br />
statt (Kohl, 1956, 1979; Ennenbach, 1989, 1991).<br />
Das elementare Prinzip, auf dem die Gestaltbildung<br />
basiert, ist die Integration einzelner Elemente und<br />
die Ausgrenzung anderer. Zuvorderst ist dazu das<br />
von den Gestaltpsychologen formulierte Prinzip der<br />
Ähnlichkeit und das Prinzip der Nähe zu nennen:<br />
Gleiche oder ähnliche, nah beieinanderliegende<br />
Elemente werden zu einer Gruppe zusammengefaßt,<br />
andere Elemente werden demgegenüber<br />
ausgegrenzt bzw. dem Hintergrund zugerechnet<br />
(Katz, 1969 4 ; Tenney & Polansky, 1980). Diese elementaren<br />
Integrationsprinzipien gelten sowohl für<br />
die visuelle als auch für die auditive Wahrnehmung,<br />
für die der Begriff der Nähe auf die Tonhöhe, aber<br />
auch auf das zeitliche Erscheinen zweier oder mehrerer<br />
Töne zu beziehen ist (Bregman, 1990, 1993).<br />
Die Integrationstendenzen konkurrieren miteinan-<br />
32 psychologie und sport · Schorndorf 5 (1998) · Heft 1
<strong>Bewegung</strong> <strong>hörbar</strong> <strong>machen</strong> <strong>–</strong> <strong>Warum</strong>? <strong>Zur</strong> Zukunftsperspektive einer systematischen Umsetzung von <strong>Bewegung</strong> in Klänge<br />
der, da ein Element jeweils nur direkt in eine Gestalt<br />
integriert werden kann und sowohl eine Integration<br />
eines Tones mit zeitlich benachbarten Tönen als<br />
auch mit in der Tonhöhe ähnlichen Tönen möglich<br />
ist (Kramer, 1993, 1994) 7 .<br />
Bei der Selbstwahrnehmung kann zunächst in ein<br />
„Körperschema“ oder „Raumbild“ (Katz, 1969; Kohl,<br />
1988) und in die „<strong>Bewegung</strong>sgestalten“ (Buytendijk,<br />
1956) unterschieden werden. Das Körperschema<br />
ist eine plastische Gestalt, in der sich die<br />
Gesamtgestalt maßgeblich in Wechselwirkung mit<br />
den einzelnen Teilen konfiguriert. Die Peripherie<br />
bestimmt durch dynamische Selbstregulierungsvorgänge<br />
das Zentralorgan (vgl. Katz, 1969). Eine<br />
stabile Grundstruktur des Körperschemas ist jedoch<br />
mit der Anatomie des Körpers gegeben, da die<br />
einzelnen Körperteile auf der Ebene der Phänomene<br />
unterschiedliche und eindeutig zuzuordnende<br />
Empfindungen hervorrufen.<br />
Die <strong>Bewegung</strong>sempfindungen hingegen sind dynamische<br />
Zeitgestalten Die Bedeutung von einzelnen<br />
Teilen und dem Ganzen läßt sich erst in der eigenen<br />
gelungenen <strong>Bewegung</strong>sausführung erfassen. Eine<br />
komplexere Gestalt besitzt in der Regel auch eine<br />
größere Prägnanz, was die Transponierbarkeit erleichtern<br />
kann (Katz, 1969). In der Selbstwahrnehmung<br />
wirken vertikale, das „Körperschema“<br />
konfigurierende, und horizontale, für die „<strong>Bewegung</strong>sgestalten“<br />
verantwortliche Integrationstendenzen<br />
zusammen 8 . Die <strong>Bewegung</strong>swahrnehmung<br />
wird jedoch durch die horizontale (über die Zeit<br />
wirkende) Integrationsrichtung dominiert.<br />
Innerhalb der Selbstwahrnehmung werden folgende<br />
Prägnanzmerkmale erkennbar 9 :<br />
7 Auch innerhalb der ökologischen Ansatzes werden<br />
dem Konzept der Selbstorganisation (Kelso et al., 1981;<br />
Turvey, 1991) bzw. dem Synergetik-Ansatz Hakens<br />
(1983) die elementaren Prinzipien der Integration bzw.<br />
Desintegration einzelner Elemente und Komponenten<br />
hinsichtlich übergeordneter systemischer Funktionen<br />
behandelt. Wie allerdings die Selbstorganisation auf den<br />
unteren, nicht bewußtseinsfähigen Ebenen der Wahrnehmungsfunktionen<br />
entsteht, darüber existieren gegenwärtig<br />
lediglich Vermutungen.<br />
8 Während die vertikalen Integrationstendenzen für das<br />
Zustandekommen der generellen <strong>–</strong> weitgehend zeitlich<br />
unabhängigen <strong>–</strong> Körperempfindung verantwortlich sind,<br />
konfigurieren die horizontalen Integrationstendenzen die<br />
<strong>Bewegung</strong>sgestalten in ihrem spezifischen zeitlichen Verlauf.<br />
9 Vgl. Katz (1969); Kohl (1988); Loosch (1993).<br />
a Im Körperschema (vertikale Integrationsrichtung):<br />
<strong>–</strong> distale Körperteile (besonders Hände und Füße)<br />
<strong>–</strong> Gelenkpunkte<br />
<strong>–</strong> Kontaktflächen des Subjekts mit der Umgebung<br />
(auch verwendete Geräte)<br />
b Bezüglich der <strong>Bewegung</strong>sgestalten (horizontale<br />
Integrationsrichtung):<br />
<strong>–</strong> periodisch-rhythmische Muster<br />
<strong>–</strong> Knotenpunkte der <strong>Bewegung</strong><br />
<strong>–</strong> Krafterlebnisse<br />
<strong>–</strong> der primäre Zielaspekt der <strong>Bewegung</strong>.<br />
Die Struktur der Gestalt ist neben ihrer äußeren Erscheinungsform<br />
gerade durch ihren inneren Bau,<br />
ihre innere Struktur und Organisation determiniert.<br />
Die Relationen der einzelnen Teile zueinander und<br />
zum Ganzen sind zentrale Charakteristika. Allerdings<br />
kann die Gestalt nicht vollständig über die<br />
Summe ihrer inneren Proportionen bestimmt werden<br />
(Gestaltkriterium der Übersummativität). Es<br />
gibt bestimmte Proportionen (individuelle Gewichtungen,<br />
wesentliche und unwesentliche Proportionen<br />
etc.), die nicht mit einem ausschließlichen<br />
Bezug auf die Relationen der einzelnen Elemente<br />
zueinander erklärt werden können (Buytendijk,<br />
1956; Katz, 1969). Die Wechselwirkung zwischen<br />
dem Ganzen und seinen Teilen entsteht erst in der<br />
Gestalt. Eine wahrgenommene Gestalt besitzt<br />
offenbar eine Spezifik, über die ihre einzelnen Teile<br />
antizipativ präzise im voraus bestimmt werden<br />
können. Mit dem Sonification-Konzept wird versucht,<br />
die Entwicklung solcher integrativer Wahrnehmungen<br />
und ganzheitlicher Vorstellungen durch<br />
den Einsatz der bewegungsdefinierten Akustiksequenzen<br />
direkt strukturell anzuregen und zu unterstützen.<br />
In der Gegenüberstellung von variablen und invarianten<br />
Strukturmerkmalen der auditiven Wahrnehmung<br />
und der motorischen Steuerung werden eine<br />
Reihe struktureller Analogien sichtbar. Dies läßt aus<br />
10 Die Wahrnehmung bekommt gegenwärtig im Rahmen<br />
des Synergetik-Ansatzes verstärkt Aufmerksamkeit, indem<br />
motorische Selbstorganisationsstrukturen und Ordnungsparameter<br />
beschrieben werden, die funktionell<br />
weitgehend den gestaltbildenden Prinzipien entsprechen.<br />
Haken (1996, S. 34) erkennt „frappierende Analogien<br />
zwischen Synergetik und der Gestaltpsychologie“.<br />
psychologie und sport · Schorndorf 5 (1998) · Heft 1 33
Alfred O. Effenberg und Heinz Mechling<br />
Tab. 1: Überblick über gemeinsame variable und invariante Strukturmerkmale auditiver Wahrnehmung und<br />
motorischer Steuerung<br />
Auditive Wahrnehmung<br />
Motorische Steuerung<br />
* Reihenfolge der Töne * Reihenfolge der Muskelaktionen<br />
Invarianten * Relative Dauer der Töne * Relative Länge der <strong>Bewegung</strong>sphasen<br />
* Relative Lautstärkeverhältnisse * Relative Kraftverhältnisse<br />
* Absolute Sequenzdauer * Absolute <strong>Bewegung</strong>sdauer<br />
Variablen * Absolutes Lautstärkeniveau * Absolutes Kraftniveau<br />
* Absolute Tonhöhe * Funktionelle Muskelauswahl<br />
gestaltpsychologischer Sicht die Vermutung zu, daß<br />
auch die abwärtsgerichtete Desintegration phänomenaler<br />
Handlungsgestalten mit für das Entstehen<br />
motorischer Ordnung verantwortlich sein könnte<br />
(vgl. Effenberg, 1996, S. 172) 10 .<br />
Tabelle 1 gibt einen Überblick über gemeinsame<br />
variable und invariante Strukturmerkmale auditiver<br />
Wahrnehmung und motorischer Steuerung 11 . Die<br />
unter „Auditive Wahrnehmung“ und „Motorische<br />
Steuerung“ aufgeführten Kategorien sind gleichermaßen<br />
in der auditiven Wahrnehmung wie der motorischen<br />
Steuerung beobachtbar. Über diese Kategorien<br />
können die variablen und invariablen Strukturmerkmale<br />
skizziert werden, die für eine Gestalt-<br />
Konstanz bzw. einen Gestalt-Wechsel von Wahrnehmungskorrelaten<br />
verantwortlich sein können.<br />
Die Kategorien des Bereichs „auditive Wahrnehmung“<br />
finden sich so bei Gibson (1973,1982), die<br />
der motorischen Steuerung bei Schmidt (1988).<br />
Ausdrücklich werden sie hier jedoch theorieübergreifend<br />
verstanden, da Ereignisreihen innerhalb<br />
dieser Kategorien hinsichtlich der durch sie angeregten<br />
Wahrnehmungsgestalten definiert werden<br />
können 12 .<br />
Für die Ebene der auditiven und der kinästhetischen<br />
Wahrnehmungsphänomene können verschiedene<br />
Strukturmerkmale benannt werden, die nicht nur<br />
11 Unter „Reihenfolge des Muskelaktionen“ <strong>–</strong> als einer<br />
auch kinästhetisch wahrnehmbaren Invariante <strong>–</strong> sind keine<br />
einzelnen Muskeln zu verstehen, sondern funktionsbezogene<br />
Gruppen (Flexoren, Extensoren etc.)<br />
12 Als Beispiel sei dazu die Transponierbarkeit einer<br />
Melodie (auditive Wahrnehmung) und das „Schreiben“<br />
bekannter Buchstaben sowohl mit der Hand als auch mit<br />
dem Fuß (motorische Steuerung) genannt.<br />
eine Ähnlichkeit der Wahrnehmung in beiden<br />
Sinnesbereichen, sondern auch eine potentiell<br />
analoge Nutzung auditiver wie kinästhetischer Informationen<br />
indizieren. In beiden Sinnesbereichen<br />
• ist ein zeitlicher Verlauf der dynamisch charakterisierten<br />
Wahrnehmungsereignisse zwingend<br />
erforderlich;<br />
• dominiert die Tendenz zur zeitlichen Integration.<br />
Der Zeitraum, in dem die Wahrnehmungsereignisse<br />
zu Gestalten integriert werden, bestimmt<br />
den Integrationsgrad. Mit zunehmender Wahrnehmungsdauer<br />
wird aufwärts integriert 13 (Tenney<br />
& Polansky, 1980);<br />
• ist ein intensiver sukzessiver Charakter der<br />
Wahrnehmung festzustellen. Husserl (1980) bezieht<br />
sich beim Hören auf die Wahrnehmungsgestalt<br />
der Melodie, bei der eine Struktur sich<br />
zeitlich überlagernder, schrittweise ersetzender<br />
Wahrnehmungsabschnitte offensichtlich wird;<br />
• ist die Strukturierung bzw. Organisation innerhalb<br />
des komplexen Wahrnehmungsspektrums<br />
vergleichbar. Williams (1993) benennt eine synthetische<br />
und eine analytische Ausrichtung;<br />
• können die Wahrnehmungs-/Handlungsgestalten<br />
in einem bestimmten Rahmen transponiert werden,<br />
beide Bereiche weisen vergleichbare Variablen<br />
und Invarianten auf;<br />
• können Wahrnehmungsgestalten (z. B. Melodien,<br />
<strong>Bewegung</strong>svorstellungen) in hohem Maße<br />
antizipativ für die Handlungssteuerung verwendet<br />
werden (Hoffmann, 1993, vgl. Effenberg,<br />
1996 a).<br />
13 Zum Begriff des „Aufwärtsintegrierens“ vgl. den<br />
nachfolgenden Abschnitt.<br />
34 psychologie und sport · Schorndorf 5 (1998) · Heft 1
<strong>Bewegung</strong> <strong>hörbar</strong> <strong>machen</strong> <strong>–</strong> <strong>Warum</strong>? <strong>Zur</strong> Zukunftsperspektive einer systematischen Umsetzung von <strong>Bewegung</strong> in Klänge<br />
In diesem Abschnitt konnte damit eine Reihe von<br />
Indizien aufgeführt werden, die auf eine strukturell<br />
analoge Funktionsweise zweier Sinnesbereiche hinweisen.<br />
Daß die auditive und die kinästhetische<br />
Wahrnehmung identisch funktionieren, wird damit<br />
ausdrücklich nicht behauptet. Dennoch wird die<br />
besondere strukturelle Analogie dieser beiden<br />
Sinnesbereiche im Vergleich zum Auge deutlich.<br />
Hier sind Intensitätsschwankungen optischer Reize<br />
keineswegs ausschließlich an kinetische Ereignisse<br />
gebunden, ebensowenig ist das Vorhandensein<br />
kinetischer Ereignisse für die visuelle Wahrnehmung<br />
vergleichbar essentiell: Während auch ein<br />
Photo unproblematisch wahrnehmbar ist, existiert<br />
für das Ohr kein adäquates Wahrnehmungsereignis.<br />
Die Integrationsprinzipien in der auditiven bzw.<br />
musikalischen Wahrnehmung und<br />
die Perspektive ihrer Operationalisierung:<br />
Die auditive Wahrnehmung weist einen hohen integrativen<br />
Charakter auf, wobei die zeitliche Integration<br />
einzelner Elemente (z. B. Töne) dominiert. Am<br />
Beispiel der musikalischen Wahrnehmung wird das<br />
deutlich: Töne und Klänge werden mit zunehmender<br />
Wahrnehmungsdauer in „hierarchisch höhere<br />
Gestalten“ integriert (Phrasen, Passagen, Sätze usw.),<br />
Takt, Rhythmus und Melodie sind ebenso gestalthafte<br />
Wahrnehmungsphänomene. Um die dabei wirksamen,<br />
komplexen und gegenseitig konkurrierenden<br />
Integrationsmechanismen bestimmen zu können,<br />
können mit der elektronischen Soundsynthese<br />
akustische Reizkonstellationen exakt definiert werden<br />
(Tonhöhe, Tondauer etc.), um die Integrationstendenzen<br />
präziser bestimmen zu können (Carterette,<br />
1989). Bregman (1984, 1990) hat dazu in Untersuchungen<br />
zum Phänomen der „stream-segregation“<br />
den gegenseitigen Einfluß der Tonhöhe und der<br />
Tondauer für die Entwicklung von Wahrnehmungsgestalten<br />
detailliert überprüft. Deutsch (1982, 1994)<br />
benennt für den Bereich der auditiven Wahrnehmung<br />
die folgenden vier primär wirksam werdenden gestaltbildenden<br />
Prinzipien, die in Verbindung mit den<br />
nachfolgend genannten sechs akustischen Komponenten<br />
als ein Rahmenkonzept dienen können:<br />
1. Das Prinzip der Nähe<br />
2. Das Prinzip der Ähnlichkeit<br />
3. Das Prinzip der Kontinuität<br />
4. Das Prinzip des gemeinsamen Schicksals.<br />
Die verschiedenen Integrationstendenzen unterliegen<br />
gegenseitigen Abhängigkeiten <strong>–</strong> wie sie mit<br />
dem Phänomen der „Stream-segregation“ beispielhaft<br />
angesprochen wurden <strong>–</strong> und beziehen sich bei<br />
der Wahrnehmung homophoner Melodien<br />
hauptsächlich auf die folgenden sechs akustischen<br />
Komponenten (vgl. Deutsch, 1982, 118<strong>–</strong>127):<br />
1. Die Tonfrequenz<br />
2. Die Klangcharakteristik<br />
3. Die Tonamplitude<br />
4. Die Tondauer<br />
5. Die zeitliche Nähe der Töne<br />
6. Den Tonhöhenverlauf in der Melodie.<br />
Auch läßt sich das Zusammenwirken integrierender<br />
Tendenzen an den drei Grundelementen der Musik<br />
(Rhythmus, Melodie, Harmonie) in einfacher<br />
Form veranschaulichen. Im musikalischen Geschehen<br />
wird der Komplex der zeitlichen Gliederung<br />
(Metrum, Tempo, Takt) im Rhythmus <strong>hörbar</strong>. Durch<br />
die Akzente des Rhythmus wird der Takt bestimmbar,<br />
wenn die übergeordnete Gestalt des Rhythmus<br />
bewußt desintegriert wird. Hier muß desintegriert<br />
werden, da wahrnehmungsseitig das rhythmische<br />
Geschehen immer dem Takt übergeordnet ist (vgl.<br />
Seifert, 1981, 5.4./1.). Die Melodie wird durch die<br />
steigende bzw. fallende Tonhöhenlinie bestimmt,<br />
durch die Tonlänge und die zeitliche Aufeinanderfolge<br />
der Töne, sowie durch ihre rhythmisch-dynamische<br />
Abfolge. Während die Melodie also weitgehend<br />
aus der horizontalen Integration der akustischen<br />
Elemente resultiert, kann der Begriff der<br />
Harmonie auch auf den Zusammenklang gleichzeitiger<br />
Töne (Akkorde) und damit auf die vertikale<br />
bzw. spektrale Integration bezogen werden.<br />
Über das Operationalisieren dieser Integrationstendenzen<br />
werden auf der einen Seite die gestaltbedingenden<br />
Beziehungen unter den einzelnen<br />
akustischen Elementen aufgedeckt, die für ihre gestalthafte<br />
Integration verantwortlich sind. Mit der<br />
zeitlichen Zusammenordnung und Abfolge der<br />
einzelnen Klangelemente entstehen in der Wahrnehmung<br />
spezifische Gestalten, die als Ganzheiten<br />
über ihre einzelnen Elemente charakterisiert sind.<br />
Die über diese ganzheitlichen Wahrnehmungsgestalten<br />
transportierte Spezifik bzw. die in ihr verborgene<br />
und doch gleichzeitig anschauliche Ordnung<br />
soll als strukturelle Information über die<br />
bewegungsdefinierte Soundsequenz vermittelt<br />
werden.<br />
psychologie und sport · Schorndorf 5 (1998) · Heft 1 35
Alfred O. Effenberg und Heinz Mechling<br />
4 Zusammenfassung<br />
Das übergeordnete Ziel der Sonification in der<br />
Motorikforschung liegt in der Konstituierung eines<br />
akustischen Bezugssystems, über das die internen<br />
Prozesse der <strong>Bewegung</strong>sregulation systematisch<br />
exploriert werden können 14 . Im Gegensatz zu dem<br />
als induktiv zu charakterisierenden Vorgehen in<br />
der GMP-Theorie ist hier beabsichtigt, über eine<br />
direkte systematische Gegenüberstellung zweier<br />
Wahrnehmungsbereiche zu weiterführenden Erkenntnissen<br />
über die <strong>Bewegung</strong>sregulation zu<br />
gelangen. Der Versuch, die gestalthaft-integrierenden<br />
Wahrnehmungstendenzen operationell nachzuvollziehen,<br />
erfordert eine Strukturierung der<br />
Innen-/Außensicht-Relation und trifft damit eine<br />
zentrale Problematik der motorischen Lerntheorie.<br />
Eine Theorie der Anwendung funktioneller Musik<br />
wird in der Sonification-Forschung entwickelt<br />
(Kramer 1994; Scaletti 1993). Die Analogien<br />
zwischen beiden Modalitäten bilden <strong>–</strong> neben dem<br />
Fundament musikpsychologischer und -wissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse <strong>–</strong> eine tragfähige Basis für<br />
die Interpretation der Analogien und Divergenzen<br />
kinästhetischer bzw. auditiver Wahrnehmungskonstellationen.<br />
In diesem Zusammenhang kann ein bewegungsdefiniertes<br />
akustisches Bezugssystem eine ganzheitliche<br />
<strong>–</strong> bewußte wie intuitive <strong>–</strong> intersubjektive<br />
Orientierung, Beurteilung,Ansteuerung und Modulierung<br />
individueller <strong>Bewegung</strong>smuster ermöglichen.<br />
Die Form der auditiven Wahrnehmungsgestalten<br />
ist durch die bewegungsabhängige Konfigurierung<br />
der akustischen Ereignisreihen zwar vorstrukturiert,<br />
dennoch bleibt ein Spielraum für eine<br />
subjektive Ausgestaltung und eine individuell gewichtende<br />
Nutzung dieser Gestalten bei der Handlungsorganisation.<br />
Mit einem solchen, ganzheitlich<br />
ausgerichteten Konzept kann die zeitlich-dynamische<br />
Struktur der <strong>Bewegung</strong> zusammenhängend<br />
dargestellt und vermittelt werden. Nachdem verschiedene<br />
Parallelitäten <strong>–</strong> sogar Analogien <strong>–</strong> zwischen<br />
der auditiven und der kinästhetischen Wahrnehmung<br />
identifiziert werden konnten, erscheint<br />
14 Z. B. indem Parameter verschiedener Kategorien<br />
(Winkelgeschwindigkeiten, <strong>Bewegung</strong>sgeschwindigkeiten)<br />
zunächst einzeln und darauffolgend auch kombiniert<br />
akustisch abgebildet werden. Auch die Systematik der<br />
Zuordnung kann variiert werden (vgl. Kramer, 1994).<br />
der Einsatz bewegungsdefinierter Soundsequenzen<br />
im Bereich des motorischen Lernens vielversprechend.<br />
Doch ist der empirische Beleg für die prognostizierte<br />
Wirksamkeit bewegungsdefinierter<br />
Soundsequenzen erst noch zu erbringen, die abschließend<br />
skizzierte Perspektive besitzt daher<br />
hypothetischen Charakter:<br />
• Während die kinästhetische Wahrnehmung als<br />
innere Wahrnehmung einen subjektiven Charakter<br />
besitzt, können motoakustische Informationssequenzen<br />
verschiedener Personen gleichermaßen<br />
präsentiert werden.<br />
• Akustische <strong>Bewegung</strong>stransformationen <strong>machen</strong><br />
die dem <strong>Bewegung</strong>smuster zugrunde liegenden<br />
zeitlich-dynamischen Strukturen rational<br />
wahrnehmbar, aber auch intuitiv zugänglich.<br />
• Werden die motoakustischen Zusatzinformationen<br />
synchron zur <strong>Bewegung</strong>sausführung erzeugt,<br />
wie dies bereits technisch möglich ist,<br />
kann die <strong>Bewegung</strong>sausführung direkt an den<br />
musikalischen Gestalten (z. B. Rhythmus, Melodie)<br />
der akustischen Vorgabesequenz orientiert<br />
werden.<br />
• Akustische <strong>Bewegung</strong>stransformationen können<br />
rehabilitativ eingesetzt werden, indem z. B. einzelne,<br />
fertigkeitsrelevante kinematische Parameter<br />
für einen Seitenvergleich von betroffener und<br />
funktionsfähiger Extremität dargestellt werden.<br />
Auch interpersonelle Konzeptionen sind realisierbar.<br />
• Sollten bei der Sonification menschlicher <strong>Bewegung</strong>smuster<br />
musikalische Formen entstehen <strong>–</strong><br />
und erste Versuche weisen bereits darauf hin <strong>–</strong> so<br />
sind diese über die einzelnen <strong>Bewegung</strong>sphasen,<br />
Teilbewegungen, On-/Offsets, <strong>Bewegung</strong>srhythmen<br />
usw. bestimmt; d. h. die zeitliche Zuordnung<br />
dieser einzelnen Abschnitte, die dynamischen<br />
Verläufe, Akzentuierungen etc. bestimmen die<br />
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