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Nordbayerischer Kurier<br />
6 <strong>Parsifal</strong> 2008 Nordbayerischer Kurier - Freitag, 25. Juli 2008<br />
Daniel Roche<br />
Das Bett ist kein Möbelstück<br />
wie jedes andere. Seitdem er<br />
das harte Lager des Nomaden<br />
verlassen hat, verbringt der<br />
Mensch ein Drittel seines Lebens<br />
im Bett – bei 60 Jahren<br />
sind das etwa 20.000 Stunden<br />
– und im allgemeinen spielen<br />
sich dort auch die ersten und<br />
letzten Augenblicke seines Daseins<br />
ab. Von der Wiege bis<br />
zum Grab –die Ethnologen haben<br />
seit langem schon die<br />
Hauptetappen dieses Weges,<br />
der Arm und Reich gemeinsam<br />
ist, abgesteckt: die Schaukelbettchen<br />
und Brutkästen der<br />
Geburtsstunden, die improvisierte<br />
Schlafgelegenheit und<br />
das Prunkbett, das Liebeslager<br />
und das Ehebett, die Matratzengruft<br />
des Kranken und das<br />
Sterbelager. Aber Bett ist nicht<br />
gleich Bett. Das Schicksal kann<br />
einen in ein weiches Himmelbett<br />
verschlagen oder auf einen<br />
unförmigen Strohsack, auf eine<br />
lieblose Pritsche oder in ein<br />
ausgesprochenes Lotterbett, in<br />
eine Koje oder eine Falle. Kurz,<br />
für ein derart gebräuchliches<br />
Möbelstück wie das Bett steht<br />
eine Vielzahl von Wörtern bereit,<br />
die die Vorstellungskraft in<br />
Gang setzen.<br />
Seine Geschichte allerdings<br />
bleibt noch zu schreiben, denn<br />
seiner Verwendung sind kaum<br />
Grenzen gesetzt. [...] Das Bett<br />
ist ein Dreh- und Angelpunkt<br />
der Existenz. Schlaf, Liebe und<br />
Tod –alles spielt sich hier ab.<br />
Innerhalb der urbanen Zivilisation<br />
ist es die unverzichtbare<br />
Stätte der Erholung, unabding-<br />
Der Mutterkuss<br />
Aus: Dietmar Holland, „Die paradoxe Welt des ,<strong>Parsifal</strong>‘“<br />
Zunächst [...] tritt <strong>Parsifal</strong> als<br />
„blöder, taumelnder Tor“ auf,<br />
wie er sich (im zweiten Aufzug)<br />
einmal selbst nennt. Erkennbar<br />
wird von Anfang an<br />
seine intensive Mutterbindung,<br />
und gerade von Kundry muß<br />
er sich sagen lassen [...], daß<br />
seine Mutter aus Gram über<br />
sein Weggehen gestorben sei.<br />
Wie er dieses Schuldgefühl am<br />
wirksamsten kompensieren<br />
kann –und das scheint wichtiger<br />
zu sein als seine Funktion<br />
des „Erlösers“ –, das ist der<br />
Gegenstand des doppelten Bodens<br />
der Verführung durch<br />
Kundry in der Mitte des zweiten<br />
Aufzugs und damit im<br />
Zentrum der Handlung. Hier<br />
ist es die spezielle Aufgabe der<br />
Verführerin, ihm, dem unerfahrenen<br />
Knaben, zugleich<br />
Mutter und Hure zu sein, um<br />
zum Ziel zu kommen. Unter<br />
dem Deckmantel der Moral<br />
spielt Kundry ein böses Spiel:<br />
Sie ruft ihn bei seinem Namen,<br />
also bei seiner verschütteten<br />
Identität, provoziert damit sein<br />
Erlebnis des déjà vu, aber nicht<br />
um seiner selbst willen, auch<br />
nicht als Mutterersatz, sondern<br />
aus ihrem egoistischen Trieb<br />
heraus, den sie nach außen hin<br />
so rechtfertigt: „Das Wehe, das<br />
dich reut, die Not nun büße im<br />
Trost, den Liebe dir beut!“ Was<br />
sie aber wirklich will und warum<br />
sie sich des Mittels bedient,<br />
die Verführung sowohl<br />
auf psychischer wie auf physischer<br />
Ebene durchzuführen –<br />
sie „weiss die zartesten Saiten<br />
seiner Empfindung durch trau-<br />
Erster Aufzug<br />
lich-feierliches Berühren seiner<br />
Kindheitserinnerungen erzittern<br />
zu machen“ (Prosaentwurf)<br />
und gibt ihm den ersten<br />
Kuß seines Lebens „als Muttersegens<br />
letzten Gruß“ (!) –<br />
weshalb sie also gerade den<br />
unbescholtenen Toren die körperliche<br />
Liebe lehren will, ist<br />
die Ahnung, daß <strong>Parsifal</strong> derjenige<br />
sein könnte, dessen<br />
Keuschheit nicht Schwäche,<br />
sondern Stärke bedeutet. Dennoch<br />
ist sie nicht bereit, den<br />
Verzicht <strong>Parsifal</strong>s auf das Ausleben<br />
der sinnlichen Begierde<br />
mit ihr anzunehmen, obwohl<br />
das ihre einzige Erlösungsmöglichkeit<br />
ist. Die Verführungsszene<br />
gerät zur Paradoxie<br />
einer sinnlich-geistigen Erleuchtung<br />
<strong>Parsifal</strong>s und zwar<br />
bezeichnenderweise bei dem<br />
Eingang zur Erfüllung körperlicher<br />
Liebe: dem Kuß der<br />
Kundry. Es gehört zu Wagners<br />
ingeniösesten Vorwegnahmen<br />
Freudscher Psychoanalyse, daß<br />
er genau diesen Moment ausnutzt,<br />
um die Verquickung von<br />
Mutter- und Frauenliebe zu<br />
Ein Bett für zwei<br />
bar für die Wiederherstellung<br />
der Arbeitskraft; stellt doch die<br />
psychologische Bedeutung der<br />
Nachtruhe die Existenzberechtigung<br />
des Heimes permanent<br />
unter Beweis, die Notwendigkeit<br />
eines Refugiums, das Bedürfnis<br />
nach einer Enklave der<br />
Sicherheit und Ruhe. Das Bett,<br />
ein nicht wegzudenkendes Möbelstück,<br />
wird in der breiten<br />
Bevölkerung, wo der Platz begrenzt<br />
und das Zusammenleben<br />
vieler die Regel ist, zu<br />
einem Symbol der ehelichen<br />
Verbindung, zur letzten Zufluchtstätte<br />
der Intimität, zum<br />
einzigen Ort, wo man dem familiären<br />
Chaos, der ganzen<br />
zeigen. Um so krasser ist die<br />
jähe Wendung des dumpfen<br />
Toren zum Durchschauer des<br />
tragischen Weltengrundes: der<br />
Verstrickung in die blinden<br />
Triebe, wie Schopenhauer sagen<br />
würde. Für Kundry wäre<br />
die gelungene Verführung <strong>Parsifal</strong>s<br />
das Unheil, weiterhin<br />
zum Verführen der Männer<br />
verdammt zu sein. <strong>Parsifal</strong> widersetzt<br />
sich ihrem Liebeswerben<br />
aber nicht eigentlich deswegen,<br />
sondern weil er im<br />
Moment der Sünde blitzartig,<br />
ja suggestiv leibhaftig die<br />
„Wunde“ des Amfortas verspürt,<br />
sich in seine Qualen<br />
hineinversetzt fühlt und geschlechtlich<br />
gesehen, zum Neutrum<br />
erstarrt. Er verspürt drastisches<br />
Mit-Leid mit Amfortas.<br />
Das ist aber kein rationales<br />
Verstehen der Situation, sondern<br />
Identifikation. Damit findet<br />
<strong>Parsifal</strong> seine Identität, und<br />
die ist ihm Ersatz für die Liebe<br />
zwischen Mann und Frau und<br />
zugleich Kompensation der<br />
schuldbeladenen Mutterbindung.<br />
Ich trage dich wie eine Wunde<br />
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.<br />
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt<br />
das Herz sich nicht draus tot.<br />
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre<br />
Blut im Munde.<br />
Gottfried Benn: „Mutter“<br />
Unordnung, dem lästigen Lärm<br />
entkommen kann und der den<br />
Namen ‚Privatsphäre‘ wirklich<br />
verdient. [...]<br />
Wenn es auch ganz allgemein<br />
zutreffen mag, daß ein<br />
weiches Bett einen harten<br />
Schlaf bringen kann – die<br />
Spruchweisheit entbehrt nicht<br />
einer gewissen materiellen<br />
Grundlage –, so ist die Qualität<br />
des Schlafes und der Träume<br />
doch in ein Ensemble gesellschaftlich<br />
bedingter Vorstellungen<br />
und Lebensweisen eingebunden.<br />
Wenn die finanziellen<br />
Mittel fehlen, bleibt immer<br />
noch das Hilfsmittel des ‚wilden‘<br />
Komforts, wie ihn die kör-<br />
Der Knabe, den es aus der Enge zu Hause in<br />
den Wald hinaustrieb, um, wie er glaubte,<br />
zu träumen und allein zu sein, erlebte dort die<br />
Aufnahme ins Heer voraus. Im Wald standen<br />
schon die anderen bereit, die treu und wahr<br />
und aufrecht waren, wie er sein wollte, einer<br />
wie der andere, weil jeder gerade wächst, und<br />
doch ganz verschieden an Höhe und Stärke.<br />
perliche Nähe, das –nach Ansicht<br />
der [im 18. Jahrhundert]<br />
um eine Reform der Ideen und<br />
Sitten bemühten Denker –anstößige<br />
Zusammen-Schlafen in<br />
einem Familien- oder Gemeinschaftsbett<br />
verschafft. Der Fortschritt<br />
in den Verhaltensweisen<br />
hängt hierbei eng mit Umbrüchen<br />
zusammen, die ihre<br />
Durchschlagskraft aus der religiösen<br />
und moralischen Neuorientierung<br />
beziehen: Man<br />
vertreibt die Kinder aus dem<br />
Bett der Eltern, die Brüder aus<br />
dem Bett ihrer Geschwister und<br />
aus deren Zimmer; diese materielle<br />
Revolution aber, die eine<br />
‚dritte Wärmesphäre‘, die eigene<br />
Stube nämlich, mit sich<br />
bringt, bedeutet eine tiefgreifende<br />
Umgestaltung im Leben<br />
aller.<br />
Die Erfahrung einer eigenen<br />
Intimsphäre bleibt diesem neuen<br />
historischen Entwicklungsabschnitt<br />
vorbehalten. Man begreift<br />
nun aber, weshalb in früheren<br />
Zeiten die familiäre Bindung<br />
ans Bett verlassene Ehefrauen<br />
und betrogene Gatten<br />
dazu bringen konnte, diesen<br />
unersetzlichen Verlust bei der<br />
Polizei mit den Worten zu monieren:<br />
„Er hat sogar noch sein<br />
Bett versetzt“; „sie hat mich um<br />
mein Bett gebracht“. Im Rahmen<br />
der prekären Intitmität<br />
des Familienlebens breiter<br />
Schichten bedeutete dies, vor<br />
aller Augen deutlich zu bekunden,<br />
daß man mehr verloren<br />
hat, als einfach nur ein Möbelstück:<br />
den eigentlichen Sinn<br />
des zwischenmenschlichen<br />
Kontakts, den Boden des gemeinsamen<br />
Schicksals.<br />
Elias Canetti<br />
Der Knabe<br />
Rainer Maria Rilke<br />
Ich möchte einer werden so wie die,<br />
die durch die Nacht mit wilden Pferden fahren,<br />
mit Fackeln, die gleich aufgegangenen Haaren<br />
in ihres Jagens großem Winde wehn.<br />
Vorn möcht ich stehen wie in einem Kahne,<br />
groß und wie eine Fahne aufgerollt.<br />
Dunkel, aber mit einem Helm von Gold,<br />
der unruhig glänzt. Und hinter mir gereiht<br />
zehn Männer aus derselben Dunkelheit<br />
mit Helmen, die, wie meiner, unstät sind,<br />
bald klar wie Glas, bald dunkel, alt und blind.<br />
Und einer steht bei mir und bläst uns Raum<br />
mit der Trompete, welche blitzt und schreit,<br />
und bläst uns eine schwarze Einsamkeit,<br />
durch die wir rasen wie ein rascher Traum:<br />
Die Häuser fallen hinter uns ins Knie,<br />
die Gassen biegen sich uns schief entgegen,<br />
die Plätze weichen aus: wir fassen sie,<br />
und unsre Rosse rauschen wie ein Regen.<br />
Kindlich-erhaben<br />
Aus: Thomas Mann,<br />
„Leiden und Größe<br />
Richard Wagners“<br />
Das Kindliche mit dem Erhabenen<br />
zu vereinigen, mag großer Kunst<br />
auch sonst wohl gelungen sein;<br />
die Vereinigung aber des Märchentreuherzigen<br />
mit dem Ausgepichten,<br />
der Kunstgriff, das<br />
Hochgeistige als Orgie des Sinnenrausches<br />
zu verwirklichen<br />
und „populär“ zu machen, die Fähigkeit<br />
das Tiefgroteske in<br />
Abendmahlsweihe und klingenden<br />
Wandlungszauber zu kleiden,<br />
Kunst und Religion in einer<br />
Geschlechtsoper von größter Gewagtheit<br />
zu verkoppeln und derlei<br />
heilige Künstlerunheiligkeit<br />
mitten in Europa als Theater-<br />
Lourdes und Wundergrotte für<br />
die Glaubenslüsternheit einer<br />
mürben Spätwelt aufzutun, –dies<br />
alles ist nur romantisch, es ist in<br />
einer klassisch-humanen, der<br />
eigentlich vornehmen Kunstsphäre<br />
durchaus undenkbar. Der Personenzettel<br />
des „<strong>Parsifal</strong>“ –was<br />
für eine Gesellschaft im Grunde!<br />
[...] Ein von eigener Hand entmannter<br />
Zauberer; ein desparates<br />
Doppelwesen aus Verderberin<br />
und büßender Magdalena mit kataleptischenÜbergangszuständen<br />
zwischen beiden Existenzen;<br />
ein liebessicherer Oberpriester,<br />
der auf Erlösung durch einen keuschen<br />
Knaben harrt; dieser reine<br />
Tor und Erlöserknabe selbst, [...]<br />
[–] nur die mythisierenden und<br />
heiligenden Kräfte der Musik<br />
verhüllen die Verwandtschaft<br />
[mit der Romantik in extremis]<br />
und ihr pathetischer Geist ist es,<br />
aus dem das Ganze sich nicht [...]<br />
als schaurig-scherzhafter Unfug,<br />
sondern als hochreligiöses Weihespiel<br />
gebiert.<br />
Wagners Albtraum<br />
Aus: Oliver Hilmes, „Herrin des Hügels“<br />
Wollte Richard Wagners „Gesamtkunstwerk“<br />
ursprünglich<br />
das Volk in seiner gesamten<br />
Breite und Vielfalt ansprechen,<br />
hatte Cosima Wagners Bayreuth<br />
mit dieser Vorstellung<br />
nicht mehr viel zu tun. Der<br />
Grüne Hügel wurde zum<br />
Tummelplatz der Reichen und<br />
Mächtigen –eswar die große<br />
Welt, es waren Cosimas Kreise:<br />
Aristokraten und gekrönte<br />
Häupter, Politiker, Diplomaten<br />
und hohe Militärs und nicht<br />
zuletzt der internationale<br />
Geldadel. Richard Wagner hatte<br />
für die von seiner Frau so<br />
geliebten Fürstenhäuser zeitlebens<br />
nur Spott übrig: „Das<br />
sind alles mehr als Gespenster,<br />
Nachkommen von Gespenstern“,<br />
hielt er ihr einmal ent-<br />
gegen. Gleichwohl schien er<br />
den Einzug dieser „Gespenster“<br />
vorausgesehen zu haben –<br />
zumindest im Traum. Cosimas<br />
Tagebuch vom 8. September<br />
1882: „R. hat eine unruhige<br />
Nacht; er träumt von dem<br />
Haus Wahnfried, welches ganz<br />
umgeändert wäre; überall Anordnungen<br />
zu Empfang, und<br />
er, befragt, wer er wäre, worauf<br />
er laut ärgerlich seinen<br />
Namen sage, zugleich in<br />
einem Nebensaal mich lachen<br />
hört, worauf er erwacht.“<br />
Wagners Traum lässt vermuten,<br />
dass er sich insgeheim<br />
gegen diese Entwicklung gewehrt<br />
hätte. Ob sie aufzuhalten<br />
gewesen wäre, wenn er<br />
länger gelebt hätte? Wir wissen<br />
es nicht.<br />
Da ihm die erznen Flügel<br />
dröhnend vor die Füße klirrten,<br />
Fernhin der Gral entwich und Brodem<br />
feuchter Herbstnachtwälder aus dem Dunkel<br />
sprang,<br />
Sein Mund in Scham und Schmerz verirrt,<br />
indessen die Septemberwinde ihn<br />
umschwirrten,<br />
Mit Kindesstammeln jenes Traums<br />
entrückte Gegenwart umrang [...].<br />
Ernst Stadler:<br />
„Parzival vor der Gralsburg“