Franz Lüthi - OFSG - St. Galler Orgelfreunde
Franz Lüthi - OFSG - St. Galler Orgelfreunde
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Liebe <strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> Orgelfreundinnen und <strong>Orgelfreunde</strong><br />
ST. GALLER ORGELFREUNDE<br />
<strong>OFSG</strong><br />
BULLETIN <strong>OFSG</strong> 17, NR. 2, 1999<br />
Wir möchten Sie herzlich einladen zu unserer nächsten Veranstaltung am<br />
Mittwoch 16.06.99 1930 h<br />
Kathedrale <strong>St</strong>. Gallen<br />
Orgelwerke von Olivier Messiaen<br />
Domorganist Karl Raas<br />
(Treffpunkt: Seiteneingang rechts vor der Kathedrale)<br />
Rickenbach, im Mai 1999<br />
Messiaen gehört zu den bedeutendsten Orgelkomponisten der Gegenwart. Sein Name ist auch<br />
in <strong>St</strong>. Gallen in den letzten Jahren zum Begriff geworden. Wir sind glücklich, in Domorganist<br />
Karl Raas einen kompetenten Referenten zu diesem Thema gefunden zu haben, zumal Messiaen<br />
auch durch seine Domorgelkonzerte zunehmend bekannt geworden ist. Als Zusammenfassung<br />
des Wesentlichen möchte ich daher das Interview mit Karl Raas an den Anfang stellen (Seite<br />
23). Es folgt eine kurze Einführung in Leben und Werk des Komponisten. Als<br />
Zusatzinformation für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Abend wird die<br />
Disposition der <strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> Domorgel angefügt (Seite 37). Bitte beachten Sie auch die wiederum<br />
zahlreichen Angebote von Orgelkonzerten in unserer Region. Und natürlich freue ich mich am<br />
16. Juni auf viele an Messiaen interessierte <strong>Orgelfreunde</strong>/innen und weitere Menschen, die<br />
bereit sind, zu staunen.<br />
Mit freundlichen Grüssen<br />
Redaktion Bulletin <strong>OFSG</strong><br />
<strong>Franz</strong> <strong>Lüthi</strong>, Rainstrasse 8, 9532 Rickenbach<br />
Fax 071 923 46 85 E-Mail: franz.luethi@hin.ch Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
22<br />
Nächste Anlässe <strong>OFSG</strong><br />
Samstag 10.07.99 1000 h<br />
Eine neue Orgel bei der Endmontage<br />
Pfarrkirche Mörschwil<br />
Matthias Hugentobler, Orgelbauer Firma Späth<br />
Orgelreise ins Tessin.<br />
Do 26.- So 29.08.99<br />
Ein rundes Dutzend Orgeln verschiedenster Bauart,<br />
von Tessiner Organisten vorgeführt.<br />
Leitung Jürg Brunner<br />
Hinweise auf weitere Veranstaltungen<br />
Mittwoch 22.09.99 1915 h<br />
Choralsammlungen von J.S. Bach<br />
Grossmünster, Zürich<br />
Rudolf Scheidegger<br />
Mittwoch 27.10.99 1930 h<br />
Die neue Metzler-Orgel<br />
in der Dorfkirche Urnäsch.<br />
Jürg Brunner<br />
Fr 04.06.99 1915 h Amriswil, Evang. Kirche: Orgelmusik zum Wochenende.<br />
André Manz. Irène Friedli (Mezzosopr.): Langlais, Missa in simplicitate<br />
Sa 05.06.99 1915 h <strong>St</strong>. Gallen, Kathedrale. Domorgelkonzert.<br />
Bernhard Haas, <strong>St</strong>uttgart, Chor- und Hauptorgel<br />
Muffat, J.S. Bach, Händel, Mozart, Messiaen, Liszt.<br />
Fr 11.06.99 1915 h Amriswil, Evang. Kirche: Orgelmusik zum Wochenende.<br />
Roman Lopar: Bach - Vierne - Messiaën - Dupré.<br />
Sa 12.06.99 1915 h <strong>St</strong>. Gallen, Kathedrale. Domorgelkonzert.<br />
Ludger Lohmann, <strong>St</strong>uttgart, Chor- und Hauptorgel<br />
J.S. Bach, Scheidt, Mozart, A.G. Ritter, Reger.<br />
Fr 18.06.99 2000 h Amriswil, Evang. Kirche: Orgelmusik zum Wochenende.<br />
Daniela Mueller: Bach - Mendelssohn - Vierne - Wegmann.<br />
Sa 19.06.99 1915 h <strong>St</strong>. Gallen, Kathedrale. Domorgelkonzert.<br />
Susanne Doll, Basel. Messiaen, Dupré, Debussy, Duruflé.<br />
Fr 25.06.99 1915 h Amriswil, Evang. Kirche: Orgelmusik zum Wochenende.<br />
André Manz, Amriswil: "Von der Spieluhr zum Glockenspiel " (II)<br />
Sa 26.06.99 1915 h <strong>St</strong>. Gallen, Kathedrale. Domorgelkonzert.<br />
Jon Laukvik, <strong>St</strong>uttgart, Chor- und Hauptorgel<br />
Müthel, J.S. und C.Ph.E. Bach, Widor (VI. Symphonie)<br />
Weitere Veranstaltungshinweise auf Seite 40<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
23<br />
"Messiaen spricht zu allen, die noch staunen können"<br />
Interview mit Domorganist Karl Raas über den Komponisten Olivier Messiaen<br />
F.L. Karl Raas, Sie haben neben Ihrer Ausbildung zum Konzertorganisten und einem<br />
<strong>St</strong>udium in Musikwissenschaft und Ethnologie auch ein vollständiges<br />
Theologiestudium abgeschlossen. Man möchte in diesem Werdegang auch die Wurzel<br />
für eine besondere Beziehung zur Musik von Olivier Messiaen vermuten. Dürfen wir<br />
etwas über diese Entwicklung erfahren?<br />
Karl Raas: In der Zeit des Gymnasiums (sechs Jahre im Gymnasium Marienburg<br />
Rheineck und zwei Jahre Lyzeum an der <strong>St</strong>iftsschule Einsiedeln) gab es von Seiten<br />
meiner Lehrer nie einen Hinweis auf Messiaen. Ich hatte mir aber sozusagen heimlich<br />
die Noten von Combat de la mort et de la vie angeschafft, weil die von Akzidentien 1)<br />
begleiteten Akkordtürme (jede Note ist im Combat mit einem Vorzeichen versehen)<br />
meine Aufmerksamkeit erregten. Rein drucktechnisch handelte es sich um ein<br />
Wunderwerk. Die Komposition übertraf meine damaligen Fähigkeiten bei weitem.<br />
Nach einigen Versuchen merkte ich jedoch, dass der Komponist durchaus für die<br />
Hand komponierte, also mit der Orgel vertraut sein musste. Der "Kampf zwischen Tod<br />
und Leben" wurde durch schnell gehämmerte und gegenläufige Akkordkaskaden<br />
dargestellt. Sie klangen für den unvorbereiteten Zuhörer wie ein wildes und<br />
willkürliches Herumschlagen. Sie waren wohl der Grund dafür, dass im Jahre 1945<br />
dem heute noch in Luzern wirkenden Komponisten Caspar Diethelm (wie er mir<br />
erzählte) das Orgelspiel im ganzen Kanton Nidwalden untersagt wurde, nachdem ihn<br />
ein Pfarrer beim Üben dieses Werkes "erwischt" hatte. So wurde Diethelm nicht, wie er<br />
eigentlich wollte, Organist, sondern "nur" Komponist, allerdings mit beachtlichem<br />
Erfolg.<br />
Während der Zeit meines Theologistudiums in Wien und Bonn beschäftigte ich mich<br />
nur beiläufig mit Messiaen. In Wien gab es zahlreiche andere Komponisten, u.a. Anton<br />
Heiller, die mich sehr interessierten und faszinierten. An der Kölner Musikhochschule<br />
wurde ich in die Klasse des Kölner Domorganisten Josef Zimmermann aufgenommen,<br />
der auf Grund seiner ausserordentlichen Begabung für die Improvisation und seine<br />
starke Neigung zur Pariser Organistenszene "der kölsche Dupré" 2) genannt wurde.<br />
Bei diesem Meister studierte ich neben Bach und Reger vor allem die <strong>Franz</strong>osen<br />
Dupré und Messiaen. 1971 spielte ich in einem Konzert im Kölner Dom drei Sätze des<br />
Zyklus Les corps glorieux, darunter den zentralen Satz Le combat de la mort et de la<br />
vie. In vielen Konzerten der Musikhochschule wurde Messiaen gespielt. Mit dieser Zeit<br />
begann die ernsthaftere Beschäftigung mit Messiaen.<br />
1) Akzidentien = Vorzeichen<br />
2) "kölsch" = kölnisch<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
24<br />
F.L. Viele durchaus gläubige Menschen tun sich heute schwer mit der Theologie. Auf<br />
den ersten Blick wirken die dogmatisch geprägten Titel und Bemerkungen Messiaens<br />
zu seinen Werken oft lebensfremd. Könnte es sein, dass wir diese Formulierungen zu<br />
wörtlich auffassen?<br />
K.R. Ganz bestimmt versteht man Messiaen falsch, wenn man ihn nur akademisch<br />
versteht. Tatsächlich hat er ein neues Harmonie- und Rhythmussystem entwickelt,<br />
über welches man durchaus akademisch reden und urteilen kann. Die Musik<br />
Messiaens erlaubt aber einen Zutritt auch denen, die keine höheren Weihen<br />
empfangen haben. Manchmal ist es sogar schädlich, zu sehr auf erklärende Worte<br />
von Komponisten zu achten. Messiaen hat sich häufig zu seinen Kompositionen<br />
geäussert, und in manchen Fällen ist das durchaus hilfreich, besonders für den<br />
Interpreten. Es sind jedoch nicht seine theoretischen Erörterungen, die einen Zugang<br />
zum Werk verschaffen, vielmehr ist es der beinahe naive Zugang zu seiner Klangwelt,<br />
welcher den Weg zur Theologie öffnet. Dabei wird man weniger von Theologie als<br />
vielmehr von mystischer Erfahrung reden müssen. Wenn man Messiaen einen<br />
Theologen nennen kann, dann nur in dem Sinne, dass er dort mit seiner Darstellung<br />
beginnt, wo die Theologie mit dem Wort aufhört. Und wenn man ihn einen<br />
katholischen Theologen nennt, dann nur in dem Sinne eines gläubigen Menschen, der<br />
für alle Wege des Göttlichen in dieser Welt offen ist. So ist seine Entdeckung und<br />
Einschmelzung der indischen Musik und der für alle Menschen erfahrbaren<br />
Vogelstimmen Medium für Erfahrungen, die allen Menschen gemeinsam sind. Sein<br />
Tonsystem und seine Rhythmik spiegeln Erfahrungen, die bisher nicht gemacht, auf<br />
jeden Fall bisher nie weitergegeben wurden. Messiaen entdeckt Intervalle, die bisher<br />
als unsanglich oder sogar als unnatürlich bezeichnet wurden, als die melodischsten<br />
und natürlichsten (Tritonus und grosse Septime).<br />
Messiaen ist oft als typisch katholischer Komponist bezeichnet worden. Diese<br />
Bezeichnung ist nur dann richtig, wenn man "katholisch" im wörtlichen Sinne mit<br />
"allumfassend" übersetzt. Von 1931 bis zu seinem Tode 1992 betreute Olivier<br />
Messiaen den Organistendienst an der Grossen Orgel der Eglise de la Sainte Trinité in<br />
Paris. Diese Tatsache verleitet dazu, ihn als typisch katholisch zu bezeichnen.<br />
Messiaen hat einige Werke im Hinblick auf das Mysterium der Dreifaltigkeit<br />
geschaffen. Von besonderer Bedeutung für ihn sind aber auch Weihnachten, die<br />
Himmelfahrt und vor allem das Pfingstfest. Seine Katholizität könnte man an seinem<br />
frühen Werk "Die Erscheinung der Ewigen Kirche" festmachen. Aber hier wird schon<br />
deutlich, dass es sich nicht um die streitende 3) aktuelle Kirche handelt, sondern um<br />
eine jenseitige, welche nur als Vision erlebt werden kann.<br />
F.L. Es gehört wohl zu jeder künstlerischen Vision, dass sie nicht ohne weiteres<br />
begriffen wird. Auch Johann Sebastian Bach wurde ja allzuoft als "Mathematiker"<br />
missverstanden.<br />
K.R. Zwischen dem Lutheraner Bach und dem Katholiken Messiaen gibt es<br />
mancherlei Parallelen. Beide dienten der Kirchenmusik, weisen aber weit über ihre<br />
Kirche hinaus. Beide sind dem Missverständnis ausgesetzt, dass sie zu intellektuell<br />
3) streitende Kirche = alter Begriff der katholischen Glaubenslehre für die Kirche in der<br />
Welt<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
25<br />
seien: Bach als Kontrapunktiker und Messiaen als Erfinder eines neuen<br />
Musiksystems. Wahr ist, dass man bei beiden an kein Ende kommt, sondern immer<br />
wieder überrascht wird, und dass es beide den Zuhörern nicht leicht machen, aber<br />
diejenigen beschenken, die ihre Musik wirklich zu hören verstehen, auch wenn sie von<br />
theoretischen Grundlagen keine Ahnung haben.<br />
F.L. Die Akzeptanz der Theologie und ihrer Dogmen ist in der heutigen Zeit<br />
zunehmend im Schwinden. Sie haben dargelegt, dass Messiaen dort mit seiner<br />
Darstellung beginnt, wo die Theologie aufhört und dass er Erfahrungen aufnimmt, die<br />
allen Menschen gemeinsam sind. Ersehen Sie darin eine Chance, dass die Botschaft,<br />
die Kunst Messiaens, auch für die Zukunft eine Bedeutung haben wird?<br />
K.R. Mit dem Nachlassen des Interesses an der Theologie als Wissenschaft und an<br />
der Kirche als Institution wird das Interesse an der Orgelmusik von Olivier Messiaen<br />
eher zunehmen. Messiaen vereinigt auf seinem musikalischen Entdeckungsweg<br />
Elemente aus verschiedenen Kulturen und Religionen. Dazu kommt die Entdeckung<br />
der Vogelstimmen und ihre Verwendung in seiner Musik. Die Verwendung der sehr<br />
differenzierten Rhythmen aus der indischen Musik mag für den Laien schwer zu<br />
verstehen sein, für die Rezeption der Musik ist deren bewusste Wahrnehmung nicht<br />
wesentlich. Es handelt sich hier eher um ein selbstgewähltes Korsett für den<br />
Komponisten, damit sein Werk nicht aus den Fugen gerät.<br />
F.L. Gibt es Werke Messiaens, die für Sie am überzeugendsten sind, am ehesten das<br />
Göttliche in der Musik darstellen?<br />
K.R. Ich will nur von den Werken sprechen, die ich selber gespielt habe: L'Apparition<br />
de l'Eglise éternelle (1932); L'Ascension (1934); La nativité du Seigneur (1936); Les<br />
corps glorieux (1939); Messe de la Pentecôte (1950). Es handelt sich durchaus um<br />
frühe Werke, doch in ihnen ist ein deutlicher Weg sichtbar von einer scheinbar naiven<br />
zu einer subtileren Sprache, von einer mehr erzählenden zu einer mehr meditativen<br />
Darstellung von biblischen und liturgischen Themen. So scheint Messiaen in seiner<br />
"Pfingstmesse" einen Höhepunkt erreicht zu haben in der Synthese von Naivität und<br />
Subtilität, von grösster Einfachheit und höchster Kompliziertheit. Die Verbindung von<br />
sprudelndem Wasser und Vogelstimmen und dem <strong>St</strong>urm des Heiligen Geistes ist<br />
gleichzeitig naiv und subtil. Messiaen spricht zu allen, die noch staunen können.<br />
F.L. Worin liegt die Bedeutung von Olivier Messiaen für die zeitgenössische Musik?<br />
K.R. Messiaen hatte wohl hervorragende Lehrer. Er ging aber seinen eigenen Weg. Er<br />
hat wohl viele Nachahmer, aber keinen Nachfolger. Sein Nachfolger an der Trinité-<br />
Kirche, Naji Hakim, spricht eine ganz andere, eher vordergründige Sprache. Messiaen<br />
ist als Anreger in fast allen Improvisationen grosser Organisten präsent.<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
26<br />
F.L. Herr Raas, als Domorganist obliegt Ihnen die Leitung der Domorgelkonzerte, die<br />
jeden Sommer weitherum auf grosses Interesse stossen. Auch das Programm 1999<br />
sieht in 4 von den 10 stattfindenden Konzerten Werke von Messiaen vor. Wie sehr<br />
eignet sich die Grosse <strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> Domorgel zur Interpretation der Orgelwerke<br />
Messiaens?<br />
K.R. Mein langjähriger Vorgänger hat in der Kathedrale <strong>St</strong>. Gallen eine Orgel errichtet,<br />
die für die Interpretation der Orgelmusik Messiaens sehr gut geeignet ist. Er selber hat<br />
Messiaen nicht gespielt. Er war selber ein hervorragender Improvisator, der sich die<br />
Lektüre solch schwieriger Werke ersparen konnte. Vor allem die zahlreichen Aliquot-<br />
<strong>St</strong>immen, die eine Reihe von Obertönen realisieren und das reich ausgestattete<br />
französische Récit im III. Manual kommen den von Messiaen geforderten Farben sehr<br />
entgegen. Neben der Beherrschung der Spieltechnik ist die genaue Beobachtung aller<br />
zusätzlichen Angaben über Register und Klangfarben möglichst genau zu befolgen.<br />
Das ist natürlich nur auf bestimmten Orgeln möglich.<br />
Interview: F. <strong>Lüthi</strong><br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
27<br />
Religiosität in zeitgemässer musikalischer Sprache:<br />
Olivier Messiaen 1908 - 1992<br />
<strong>Franz</strong> <strong>Lüthi</strong><br />
Obwohl sein Tod erst wenige Jahre zurückliegt, besteht kein Zweifel daran, dass<br />
Olivier Messiaen zu den grossen Komponisten gehört. Sein Leben verläuft<br />
symmetrisch über das 20. Jahrhundert, und ziemlich genau ab der Mitte dieses<br />
Jahrhunderts - nämlich um 1950 - prägte er eine grosse Zahl von Schülern und<br />
Schülerinnen durch seinen musikalischen Einfluss.<br />
Messiaen wurde am 10. Dezember 1908 in Avignon geboren. Er ist halb<br />
provenzalischer, halb flämischer Herkunft: Seine Mutter Cécile Sauvage war eine<br />
Dichterin aus der Provence, der Vater Pierre Messiaen ein Englischlehrer und<br />
anerkannter Shakespeare-Uebersetzer. In der Verwandtschaft finden sich keine<br />
Musiker; sein Onkel war sogar Chirurge. Der Umzug der Familie nach Grenoble im<br />
Jahre 1914 brachte wohl eine nachhaltige Prägung durch die Gebirgslandschaft mit<br />
sich. Mit 7 Jahren wurde Olivier in der Schule fasziniert von einem alten, verstimmten<br />
Klavier. So lernte er autodidaktisch das Klavierspiel. Anstelle von Spielzeug wünschte<br />
er sich immer wieder Noten, vor allem Opernpartituren. In Nantes, wo der Vater nach<br />
dem Krieg während 6 Monaten als Englischlehrer angestellt war, erhielt er die<br />
Grundbegriffe der Harmonielehre. Beeindruckt durch die Musik Claude Debussys<br />
(besonders Pelléas et Mélisande) machte er schon früh eigene<br />
Kompositionsversuche. Nach erneutem <strong>St</strong>ellenwechsel des Vaters ans Pariser<br />
Gymnasium kam der junge Olivier mit 11 Jahren ins Konservatorium Paris. Er erhielt<br />
eine Ausbildung in Klavier, Harmonielehre, Kontrapunkt und Musikgeschichte (Maurice<br />
Emmanuel), später in Komposition bei Charles Marie Widor. Schliesslich wurde er in<br />
die Kompositionsklasse von Paul Dukas aufgenommen. In dieser Zeit gewann er eine<br />
Reihe von ersten Preisen. Nachdem seine hervorragende Gabe zur Improvisation<br />
entdeckt wurde, wies man ihn 1926 an Marcel Dupré in Meudon. Dort lernte er<br />
Orgelspiel und Improvisation, und so kam er mit dem für ihn später so wichtigen<br />
Instrument in Kontakt.<br />
Mit Louis Vierne, dem damals führenden Pariser Organisten, hatte Messiaen keinen<br />
Kontakt. Dagegen besuchte er häufig die Improvisationen von Charles Tournemire in<br />
Sainte-Clotilde, die er sehr schätzte. Er registrierte ihm einigemale und hat ihn<br />
zeitweise auch vertreten. Befreundete <strong>St</strong>udienkollegen waren Jean Langlais und<br />
Gaston Litaize, mit denen er die gleiche Klasse besuchte und sehr befreundet war.<br />
Flüchtig kannte er auch Jehan Alain (1911-1940). Maurice Duruflé war zwar um 8<br />
Jahre älter, hatte aber zusammen mit Messiaen Unterricht in Harmonielehre und<br />
Kontrapunkt.<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
28<br />
Bereits 1930 wurde er als jüngster Titularorganist Frankreichs zum Organisten der<br />
Kirche "La Trinité" in Paris ernannt, wo er über 50 Jahre tätig war. Die Orgel wurde<br />
nun sein wichtigstes Instrument. Allerdings blieb sein Orgelspiel im wesentlichen auf<br />
diese Kirche beschränkt. Wenn Messiaen auswärts spielte, dann nur als Interpret<br />
seiner eigenen Werke. 1936 Heirat mit der Geigerin Claire Delbos. 1940/41 war er<br />
während 11 Monaten in einem Lager für französische Kriegsgefangene in der Nähe<br />
von Görlitz. Relativ frei gehalten, konnte er sich hier weitgehend seinen musikalischen<br />
Interessen widmen und komponierte Quatuor pour la fin du temps für Violine,<br />
Klarinette, Violoncello und Klavier. Zusammen mit andern Internierten führte er dieses<br />
Werk vor mehr als 500 Kriegsgefangenen erstmals auf. Die positive Sicht seiner<br />
"transzendenten Schöngeisterei" stiess zuweilen auf Unverständnis; Messiaen<br />
reagierte auf diese Kritik mit dem Bedauern, dass er für andere Dinge einfach nicht<br />
begabt sei [10 (S. 4)].<br />
Seit der Rückkehr aus der Gefangenschaft 1941 unterrichtete er weiter am Pariser<br />
Conservatoire, zuerst Harmonielehre, ab 1947 Analyse. Seit ca. 1966 führte er eine<br />
Kompositionsklasse. Nachdem 1959 seine Ehefrau Claire Delbos nach schwerer<br />
Krankheit verstorben war, heiratete er 1962 mit der Pianistin Yvonne Loriod. Olivier<br />
Messiaen starb in Paris am 27. April 1992 in einem Pariser Spital.<br />
Das Werk<br />
Bereits mit 8 Jahren schrieb Olivier Messiaen sein erstes Werk, ein Klavierstück. Eine<br />
weitere Komposition für Klavier aus dem Jahre 1920, La tristesse d'un grand ciel<br />
blanc, enthält die ersten kennzeichnenden melodischen Prinzipien. Le banquet céleste<br />
(Das himmlische Gastmahl) entstand mit 20 Jahren, zuerst als symphonische<br />
Dichtung für Orchester. Die einzige <strong>St</strong>elle, die "annähernd gut war", nahm Messiaen<br />
heraus und arrangierte sie für Orgel.<br />
Für Messiaen hat die Orgel offensichtlich eine besondere Bedeutung. Er brauchte sie<br />
nie in Kombination mit Singstimmen oder mit andern Instrumenten. Auch trennte er<br />
kaum zwischen kirchlicher und konzertanter Instrumentalmusik und führte geistliche<br />
Werke selbstverständlich im Konzertsaal oder Opernhaus auf. Das brachte ihm<br />
zeitweise Kritik ein. L'Ascension existiert beispielsweise auch in einer Fassung für<br />
Sinfonieorchester (1932). Vingt regards sur l'enfant Jésus (1944) ist eine Komposition<br />
für ein, Visions de l'Amen (1943) für zwei Klaviere. Das grosse symphonische Werk<br />
von 1964 Et exspecto resurrectionem mortuorum hat eine Besetzung mit 18 Holz- und<br />
16 Blechbläsern, 3 Cercerros, 1 Röhrenglockenspiel, 6 Gongs und 3 Tamtams)<br />
Messiaens Werk für Orgel besteht im Wesentlichen aus<br />
7 Orgelzyklen: 1933 L'Ascension<br />
1935 La Nativité du Seigneur<br />
1939 Les corps glorieux<br />
1950 Messe de la Pentecôte<br />
1951 Livre d'orgue<br />
1969 Méditations sur le mystère de la Sainte Trinité<br />
1984 Livre du saint Sacrement<br />
und 4 Einzelwerken: 1928 Le banquet céleste<br />
1930 Diptyque<br />
1932 L'Apparition de l'Eglise éternelle<br />
1960 Verset pour la Fête de la Dédicace<br />
sowie einigen nicht veröffentlichen Frühwerken.<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
Werkverzeichnis für Orgel (aus [11] )<br />
29<br />
Die Sätze der einzelnen Zyklen sind nur bei den bekannteren Werken (Jahreszahlen<br />
mit Fettdruck) angegeben.<br />
1928 Le banquet céleste Das himmlische Gastmahl<br />
1930 Diptyque Diptychon<br />
1932 L'Apparition de l'Eglise éternelle Die Erscheinung der ewigen Kirche<br />
1933 L'Ascension Himmelfahrt (Orgelfassung)<br />
I. Majesté du Christ demandant sa gloire à son père<br />
Majestät Christi, der seinen Vater um Verherrlichung bittet<br />
II. Alléluias sereins d'une âme qui désire le ciel<br />
Fröhliches Hallelujah einer Seele, die sich nach dem Himmel sehnt<br />
III. Transports de joie d'une âme devant la gloire du Christ qui est la sienne<br />
Freudenausbrüche einer Seele vor der Herrlichkeit Christi, die ihre eigene ist<br />
IV. Prière du Christ montant vers son Père<br />
Gebet Christi, zum Vater aufsteigend<br />
1935 La Nativité du Seigneur Die Geburt des Herrn (Neun Meditationen für Orgel)<br />
I. La Vierge et l'Enfant Die Jungfrau und das Kind<br />
II. Les Bergers Die Hirten<br />
III. Desseins éternels Ewige Ratschlüsse<br />
IV. Le Verbe Das Wort<br />
V. Les enfants de Dieu Die Kinder Gottes<br />
VI. Les anges Die Engel<br />
VII. Jésus accepte la souffrance Jesus nimmt das Leiden auf sich<br />
VIII. Les Mages Die Weisen<br />
IX. Dieu parmi nous Gott unter uns<br />
1939 Les corps glorieux Die verklärten Leiber<br />
I. Subtilité des corps glorieux Die Geistigkeit der verklärten Leiber<br />
II. Les eaux de la grâce Die Wasser der Gnade<br />
III. L'Ange aux parfums Der Engel mit dem Räucherwerk<br />
IV. Combat de la mort et de la vie Kampf zwischen Tod und Leben<br />
V. Force et agilité des corps glorieux Kraft und Gewandtheit der verklärten Leiber<br />
VI. Joie et clarté des corps glorieux Freude und Glanz der verklärten Leiber<br />
VII. Le mystère de la Sainte Trinité Das Geheimnis der heiligen Dreifaltigkeit<br />
1950 Messe de la Pentecôte Pfingstmesse<br />
I. Les langues de feu (entrée)<br />
Die feurigen Zungen (Eröffnung)<br />
II. Les choses visibles et invisibles (offertoire)<br />
Die sichtbaren und die unsichtbaren Dinge (Gabenbereitung)<br />
III. Le don de Sagesse (consécration)<br />
Die Gabe der Weisheit (Wandlung)<br />
IV. Les oiseaux et les sources (communion)<br />
Die Vögel und die Quellen (Kommunion)<br />
V. Le vent de l'Esprit (sortie)<br />
Der <strong>St</strong>urmwind des Geistes (Auszug)<br />
1951 Livre d'orgue Orgelbuch<br />
1960 Verset pour la Fête de la Dédicace Versett zum Kirchweihfest<br />
1969 Méditations sur le mystere de la Sainte Trinité<br />
Meditationen über das Geheimnis der Heiligen Dreifaltigkeit<br />
1984 Livre du saint Sacrement Buch des Altarsakramentes<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
30<br />
Uebrige Werke (chronologisch)<br />
1929 Huit préludes (Klavier)<br />
1930 Trois mélodies (Sopran und Klavier)<br />
Les offrandes oubliées (Orchester)<br />
1932 Hymne (Orchester)<br />
Thème et variations (Violine und Klavier)<br />
L'Ascension (Orchesterfassung)<br />
1936 Poèmes pour mi (Sopran und Klavier)<br />
1937 Poèmes pour mi (Version für Sopran und Orchester)<br />
O sacrum convivium (gemischter A-Capella-Chor)<br />
1938 Chants de terre et de ciel (Sopran und Klavier)<br />
1941 Quatuor pour la fin du temps (Violine, Klarinette, Violoncello, Klavier)<br />
1943 Rondeau (Klavier)<br />
Visions de l'Amen (Zwei Klaviere)<br />
1943-44 Trois petites liturgies de la présence Divine (Frauenstimmenchor,<br />
Klavier solo, Onde martenot solo, Celesta, Vibraphon, Manacas, kleine und<br />
grosse Tamtams, <strong>St</strong>reichorchester)<br />
1944 Vingt regards sur l'enfant Jésus (Klavier)<br />
1945 Harawi (Sopran und Klavier)<br />
1946-48 Turangalîla-Symphonie (Klavier Solo, Onde Martenot solo und grosses<br />
Orchester)<br />
1948 Cinq rechants (12 gemischte <strong>St</strong>immen a capella)<br />
1949 Canteyodjayâ (Klavier)<br />
1949-50 Quatre études de rythme (Klavier)<br />
1951 Le merle noir (Flöte und Klavier)<br />
1953 Réveil des oiseaux (Klavier und Orchester)<br />
1956 Oiseaux exotiques (Klavier solo, Glockenspiel, Xylophon,<br />
5 Schlaginstrumente und kleines Blasorchester)<br />
1956-58 Catalogue d'oiseaux (Klavier)<br />
1959-60 Chronochromie (grosses Orchester)<br />
1962 Sept Haïkaï (Klavier solo, Sylophon, Marimba, 11 Holzbläser, 1 Trompete,<br />
1 Posaune, 8 Violinen, 4 Schlaginstrumente)<br />
1963 Couleurs de la Cité (Klavier solo, Xylophon, Sylorimba, Marimba,<br />
3 Klarinetten, kleine D-Trompete, 3 Trompeten, 2 Hörner, 3 Posaunen,<br />
1964 Et exspecto resurrectionem mortuorum (18 Holzbläser, 16 Blechbläser,<br />
3 Cercerros, 1 Röhrenglockenspiel, 6 Gongs, 3 Tamtams)<br />
1965-69 La transfiguration de notre Seigneur Jésus Christ (7 Solisten: Klavier,<br />
Violoncello, Flöte, Klarinette, Xylorimba, Vibraphon, Marimba; gemischter<br />
Chor mit 100 Sängern und ein sehr grosses Orchester).<br />
1970 La fauvette des jardins (Klavier)<br />
1971-74 Des canyons aux étoiles ... (Klaviers solo, Horn solo, Xylorimba,<br />
Glockenspiel und Orchester - als Schlaginstrumente: Eoliphon und<br />
Geophon).<br />
1975-83 Saint François d'Assise (Oper in 3 Akten)<br />
1985 Petites esquisses d'oiseaux (Klavier)<br />
1986 Un vitrail et des oiseaux (Klavier solo, 16 Holzbläser, 1 Trompete,<br />
Xylophon, Xylorimba, Marimba und 5 Schlaginstrumente).<br />
1986 La ville d'en-haut (Klavier solo, 17 Holzbläser, 14 Blechbläser, Glockenspiel,<br />
Xylophon, Xylorimba, Marimba und 4 Schlaginstrumente).<br />
1989 Un sourire (Orchester)<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
31<br />
1988-91 Éclairs sur l'au-delà ... (sehr grosses Orchester: 27 Holzbläser, 17 Blechbläser,<br />
5 Tasteninstrumente, <strong>St</strong>reicher und 10 Schlaginstrumente).<br />
1990-91 Concert à quatre (4 Solisten - Flöte, Oboe, Violoncello, Klavier - und<br />
Orchester).<br />
Zu den grössten Werken des Meisters gehören La transfiguration de notre Seigneur<br />
Jésus Christ (1965-69) (7 Solisten: Klavier, Violoncello, Flöte, Klarinette, Xylorimba,<br />
Vibraphon, Marimba; gemischter Chor mit 100 Sängern und sehr grosses Orchester)<br />
und das Livre du saint Sacrement (1984) (Buch des Altarsakramentes) mit über zwei<br />
<strong>St</strong>unden Aufführungsdauer - als erstes Orgelwerk nach 18-jähriger Pause! Das<br />
grösste Werk dürfte die mehrstündige Oper in 3 Akten Saint François d'Assise (1975-<br />
83) sein, an der Messiaen 8 Jahre arbeitete. Ihre Uraufführung fand 1983 an der<br />
Pariser Oper statt.<br />
Grundzüge im Schaffen von Olivier Messiaen<br />
Obwohl man stilistisch die Musik Olivier Messiaens noch am ehesten mit dem<br />
"farbenreichen" Ausdruck eines Jehan Alain vergleichen könnte, sieht der Komponist<br />
sich selbst - trotz hervorragender musikalischer Lehrer - nicht von einem bestimmten<br />
Vorbild beeinflusst. Messiaen steht ausserhalb der gängigen <strong>St</strong>römungen und geht<br />
weitgehend eigene Wege. Im Selbststudium erarbeitete er Rhythmen der griechischen<br />
Metrik und aus der Musik der alten Inder. Als Vogelkenner hat er viele Gesänge<br />
aufgezeichnet und nimmt wohl als einziger Komponist solche Naturstimmen in seine<br />
Musik auf. Als wichtigstes Element seines musikalischen Ausdrucks erwähnt er die<br />
Eigenschaft und Fähigkeit, dass er beim Hören von Klängen Farben sieht und diese<br />
Farben wiederum in Musik umsetzt. Die Farben können und müssen beim Hörer nicht<br />
gesehen werden. Sie werden aber nach Messiaens Vorstellung unbewusst<br />
wahrgenommen. Diese Farbschilderung und Farbwahrnehmung macht gemäss<br />
Messiaen einen wichtigen Unterschied zu andern Komponisten aus, deren Werke oft<br />
nur grau, schwarz oder weiss, nie aber farbig seien.<br />
Rhythmik<br />
Die Verarbeitung von indischen und hinduistischen Rhythmen, von griechischen<br />
Versmassen und Themen der Gregorianik zeichnet sich im Schaffen Messiaens schon<br />
früh ab . Damit entwickelt er vor allem auf rhythmischem Gebiet kompositorisch neues,<br />
z.B. durch "durées cromatiques" (immer um eine Zeiteinheit zu- oder abnehmende<br />
Werte), "valeurs irrationnelles" oder "valeurs ajoutées" (hinzugefügte Werte - letztere<br />
als kleinste vorkommende Notenwerte zu einem bereits vollständigen Takt<br />
hinzugefügt. Etwas besonderes ist auch die Verwendung von sogenannten<br />
"personnages rhythmiques": Messiaen versteht darunter rhythmische <strong>St</strong>rukturen, die<br />
immer wiederkehren und trotz Vergrösserung oder Verkleinerung erkennbar bleiben.<br />
Durch die rhythmische Vielschichtigkeit stellt der Komponist oft besonders<br />
geheimnisumwobene Aussagen dar (z.B. Gottessohnschaft Jesu, Dreifaltigkeit).<br />
Extrem Irrationales und kaum Nachvollziehbares wird so in einer ganz rationalen<br />
<strong>St</strong>rukturierung geschildert.<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
32<br />
Ein Beispiel: Die Trois petites liturgies de la présence Divine (1943-44) handeln von<br />
der Allgegenwart und Unendlichkeit Gottes. Diese findet ihren Niederschlag in einer<br />
polymodalen und polyrhythmischen Faktur. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Modi<br />
und Metren symbolisiert die Vielgestaltigkeit und Zeitenthobenheit des Phänomens der<br />
Allgegenwart. Ein derart strenges gedankliches und musikalisches Gerüst erinnert an<br />
die mittelalterliche scholastische Theologie, von der Messiaen stark beeinflusst ist.<br />
Anderseits kann sich seine Musik bei der Schilderung ekstatischer Zustände auch<br />
ohne weiteres von der Rationalität abheben, etwa im 4. Satz des Zyklus L'Ascension,<br />
Gebet des zum Vater aufsteigenden Christus.<br />
Zum Hören eines solchen Werkes ist aber derartig theoretisches Wissen nicht nötig.<br />
Es geht dem Komponisten nicht darum, den Hörer, die Hörerin zum "Nachrechnen" zu<br />
bringen; er will mit seiner Musik den seltsamen Reiz des Unmöglichen vermitteln und<br />
Erstaunen auslösen.<br />
Farben<br />
Farbvorstellungen gehören wesentlich zum Musikverständnis Messiaens: "Wenn ich<br />
Musik höre, sehe ich dabei entsprechende Farben. Wenn ich Musik lese (indem ich<br />
sie innerlich höre), sehe ich entsprechende Farben. (...) Es handelt sich um ein<br />
inneres Sehen, um ein Auge des Geistes. Es sind wunderbare, unaussprechliche,<br />
ausserordentlich verschiedene Farben." (Messiaen an der Erasmus-Preisrede, zit.<br />
nach Krahwinkel [11] Seite 5).<br />
So erhält der Begriff der Klangfarbe bei Messiaen eine besondere Bedeutung,<br />
zunächst allerdings subjektiv für ihn selbst. Auch seine Harmonik wird in oft sehr<br />
schillernden Farben ausgedrückt; die Farbe eines Klanges ist ein ebenso wichtiger<br />
Parameter wie etwa Rhythmus und Tonhöhe.<br />
Werke wie Chronochromie (1959-60) oder Couleurs de la Cité céleste (1963)<br />
bezeichnen schon dem Namen nach die Bedeutung der Farbe für den Inhalt.<br />
Messiaen nannte diese Transparenz den "Kirchenfenstereffekt". Die Messe de la<br />
Pentecôte (1950) (Pfingstmesse) zeigt besonders eindrücklich, wie Messiaen als<br />
"Maler" seine Farbvorstellungen musikalisch ausdrückt und zur Musik in Beziehung<br />
setzt. Wer sich "ausmalen" kann, dass hinter den Noten und Tönen Farben<br />
vorzustellen sind, kommt vielleicht dieser Musik besonders nahe.<br />
Vogelstimmen<br />
Besonders in den Werken der 40er und 50er Jahre sind Vogelstimmen eine wichtige<br />
Quelle der Inspiration und werden immer wieder verwendet (siehe Werkverzeichnis S.<br />
29-31). Er übertrug Vogelstimmen aus verschiedensten Ländern in unsere<br />
Notenschrift. Oft traf man den Meister mit Bleistift und Notenpapier in den Händen<br />
mitten im Wald an. Schon die Uebertragung an sich ist eine musikalische Leistung,<br />
weil Vögel ausserhalb der 12-Ton-Reihe singen und dies oft so schnell, dass unser<br />
Ohr die einzelnen Anschläge nicht wahrzunehmen vermag. Messiaen musste daher<br />
gewisse Anpassungen an die menschliche Hörfähigkeit vornehmen; Details wie<br />
Klangfarben (Harmonien und Obertöne), Rhythmus und Umgebungsgeräusche<br />
wurden aber sehr genau festgehalten.<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
33<br />
Eigenständige Musik<br />
Die Beeinflussung durch aussereuropäische Tonleitern und Rhythmen, sein<br />
Farbempfinden in der Musik und die Beschäftigung mit Vogelstimmen sind wohl der<br />
Grund dafür, dass Messiaen ganz eigenständige Rhythmen, Tonreihen und<br />
Harmonien entwickelt hat, deren Hintergründe für den einfachen Zuhörer nur zu<br />
erahnen sind. Weniger zum besseren Verständnis, aber der Vollständigkeit halber,<br />
seien einige von Messiaen selbst geschaffene und definierte Begriffe angeführt.<br />
Modus mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit (mode à transpositions limitées):<br />
Von Messiaen entwickelte Tonreihen. Diese Modi werden aus mehreren symmetrischen<br />
Gruppen gebildet. Nach einer gewissen Anzahl von Transpositionen, die bei jedem Modus<br />
unterschiedlich ist, sind sie nicht mehr transponierbar, weil z.B. die 4. Transposition<br />
(zumindest auch enharmonisch) genau dieselben Töne ergibt wie die erste.<br />
Akkord auf der Dominante (accord sur la dominante):<br />
Dieser Akkord enthält sämtliche Töne der entsprechenden Durtonleiter<br />
Akkorde mit verdichteter Resonanz (accords à résonance contractée):<br />
Ein Akkord, der alle in der Resonanz eines Tones wahrnehmbaren Töne (teilweise<br />
enharmonisch) enthält.<br />
Hinzugefügter Notenwert (valeur ajoutée):<br />
Ein kurzer Wert (eine Note, eine Pause oder ein Punkt), der einem beliebigen Rhythmus<br />
angefügt wird.<br />
Die Orgel bei Messiaen<br />
Durch seinen Lehrer Marcel Dupré (1886-1971) wurde Messiaen in die grosse<br />
französische Orgeltradition eingebunden, die sich an den romantisch-symphonischen<br />
Meisterinstrumenten orientiert, wie sie von Cavaillé-Coll geschaffen worden waren:<br />
Reichhaltigkeit an Farben in den Grundstimmen, ergänzt durch vollbecherige Zungen<br />
(bis zur Bombarde 32'). Durch Verkoppeln der Klaviere und Ausnutzung eines<br />
dynamisch sehr wirksamen Schwellwerkes ermöglicht diese Orgel eine grosse Palette<br />
von nahtlosen Schattierungen, vom mystischen Pianissimo bis zum brausenden<br />
Vollklang. Durch die an der französischen Orgel vorhandenen "Appels" können die<br />
Registrierungen mit den Füssen geändert werden, ohne dass die Hände von den<br />
Klaviaturen entfernt werden müssen.<br />
Messiaen liebte diese Orgeln Cavaillé-Colls wegen ihrer kräftigen Zungenstimmen,<br />
den charakteristischen Einzelregistern und der 16'-<strong>St</strong>imme in jedem Manual. Als<br />
Besonderheit in seinen Kompositionen nimmt er den Mixturen ihre ursprüngliche<br />
Funktion als Aufheller der Grundstimmen: Er braucht sie wie eigenständige Register<br />
als Obertöne, ohne Fundierung durch Grundtöne. Aus der Sicht der Denkmalpflege für<br />
uns heute fragwürdig, hat Messiaen seine Cavaillé-Coll-Orgel in der Trinité in den<br />
Jahren 1962-65 umbauen lassen: Es entstand ein neuer dreimanualiger Spieltisch mit<br />
elektrischer Tasten- und Registertraktur; neue Register kamen dazu, vor allem<br />
fehlende Aliquoten, Nazard, Terz, Mixturen, Zimbeln. Dieser Umbau und zusätzlich der<br />
Einbau von Setzern (elektrischen Registerkombinationen) gestattete es, die<br />
Vielfältigkeit der französischen Orgel, die seine Musik voraussetzte, in ihren<br />
dynamischen und klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten nochmals zu steigern.<br />
.<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
34<br />
Glaube - Die Suche nach dem Transzendenten<br />
Wichtiger Bestandteil von Messiaens Schaffen war die musikalische Gestaltung der<br />
Liturgie in der Eglise de la Sainte Trinité und der Dienst an ihrer Cavaillé-Coll-Orgel.<br />
Die feierlichen Handlungen der katholischen Liturgie betrachtete er als eigentliche<br />
geistige Heimat. Von hier aus ging seine Suche nach dem Transzendenten, in den<br />
Bereich, der menschliche Vorstellung übersteigt und nur noch mit jener menschlichen<br />
Fähigkeit erfasst wird, die man als Glaube bezeichnen kann. Es ist daher verständlich,<br />
dass viele für den Konzertsaal komponierte Werke liturgischen Charakter tragen.<br />
Tatsächlich gibt es für Messiaen musikalisch keine Trennung zwischen Kirche und<br />
Konzertsaal, weil für ihn Gott überall ist.<br />
Auch wenn seine Musik in erster Linie als Glaubensbekenntnis zu verstehen ist, darf<br />
man sie nicht mit (banaler) kirchlicher Gebrauchsmusik 4) verwechseln. Seine<br />
liturgische Musik ist ein Versuch, Glaubensinhalte oder theologische Aussagen mit<br />
kunstvollen kompositorischen Mitteln auszudrücken. So ist nicht erstaunlich, dass die<br />
Méditations sur le mystere de la Sainte Trinité (1969) (Meditationen über das<br />
Geheimnis der Heiligen Dreifaltigkeit) der umfangreichste Orgelzyklus wurden. So<br />
werden Buchstaben musikalisch dargestellt, aber auch philosophische Themen<br />
gedeutet wie sichtbare und unsichtbare Dinge oder das Phänomen der Zeit.<br />
Erfahrungen an der grossen Cavaillé-Coll-Orgel mit dem eindrücklichen Nachhall,<br />
vielleicht auch die Antwortgesänge in der Liturgie, scheinen ihn zur Meditation über<br />
Zeitphänomene inspiriert zu haben. Zeit wird ja auch durch seine komplexen<br />
Rhythmen ausgedrückt. Messiaen über die Zeit: "Noch bedeutsamer aber wird die<br />
Kenntnis der einander überlagernden Zeiten sein, die uns umgeben: die unendlich<br />
lange Zeit der <strong>St</strong>erne, die sehr lange der Gebirge, die mittlere des Menschen, die<br />
kurze der Insekten, die sehr kurze der Atome (ohne von den uns innewohnenden<br />
Zeiten zu sprechen: der physiologischen und der psychologischen)." (zit. nach [11] ).<br />
Persönlichkeit<br />
Ein amüsantes Zeugnis über Olivier Messiaen als junger <strong>St</strong>udent ist von seinem<br />
Freund und <strong>St</strong>udienkollegen Jean Langlais überliefert. Während vieler Jahre hat<br />
Messiaen diesem blinden Organisten Partituren zum <strong>St</strong>udium vorgespielt. Langlais<br />
berichtet über eine Prüfung Messiaens am Pariser Konservatorium im Jahre 1927:<br />
" (Damals) ... dauerte die Prüfung von sechs Uhr früh bis Mitternacht, achtzehn<br />
<strong>St</strong>unden, und es wurde deshalb den <strong>St</strong>udenten erlaubt, mit einem Handkoffer und<br />
Sandwiches in die Prüfung zu kommen. Messiaen war zur rechten Zeit da (das einzige<br />
Mal in seinem Leben) und man gab ihm einen Raum und das Thema. Um 8 Uhr kam<br />
ein Mann und fragte: 'Alles in Ordnung?' - 'Ja!'. - Um 10 Uhr: 'Alles in Ordnung?' -<br />
'Nein!'. - Um 12 Uhr: 'Geht es besser?' - 'Nein!'. - Auch um 14 Uhr lautete die Antwort<br />
wieder 'Nein!' bis der Mann schliesslich um 16 Uhr fragte, was los sei. Messiaen<br />
antwortete: 'Ich habe Hunger!' - 'Aber Sie haben doch zu essen!' - 'Ja, ich würde gern<br />
essen, aber ich kann meinen Koffer nicht öffnen!' ... Das ist Messiaen, mit dem es<br />
beispielsweise auch sehr schwierig ist, zu telefonieren. Wenn man ihn anruft und sagt<br />
'Hallo!' rührt sich gar nichts. Deshalb sage ich niemals 'Hallo!', sondern singe ein<br />
bestimmtes Thema und er antwortet sofort: 'Ah, Du bist es!'. So kann ich mit ihm<br />
telefonieren, sonst wäre es unmöglich!<br />
4) <strong>St</strong>ichwort: Der Organist als Backgrounder!<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
35<br />
Messiaen ist ein überaus bedeutender Komponist und dies bereits von den ersten<br />
Werken an. Er kannte anfänglich noch nicht sein System, auf das er - wie er mir<br />
einmal erzählte - erst durch die Analyse seiner eigenen Werke kam. Das ist sehr<br />
aussergewöhnlich, er entdeckte nicht vor- sondern nachher. Eine grosse künstlerische<br />
Persönlichkeit! " - Soweit Jean Langlais [8].<br />
Hans Eugen Frischknecht berichtet als Schüler Messiaens über dessen international<br />
berühmte Analyseklasse aus dem Anfang der 1960er Jahre, woraus die vielseitige<br />
Persönlichkeit des Meisters deutlich wird:<br />
" Zur Zeit seiner Analyseklasse war jedes Schuljahr einem bestimmten Thema<br />
gewidmet. Ich selbst hatte die Möglichkeit, von 1962-1964 diese Klasse zu besuchen.<br />
Im ersten Jahr hiess das Thema "Oper", im zweiten "Musique sacrée". Werke, die<br />
Messiaen besonders liebte, standen dabei im Zentrum der Betrachtung. Im<br />
"Opernjahr" waren es Monteverdis "Orfeo", Mozarts "Don Giovanni", Wagners Zyklus<br />
"Ring des Nibelungen"; Mussorgskys "Boris Godunow", Debussys "Pelléas et<br />
Mélisande" und Bergs "Wozzek". Im Jahr der "Musique sacrée" wurde zuerst<br />
eingehend auf die Gregorianik eingegangen, welche in Messiaens Werk eine wichtige<br />
Rolle spielt. Die Kompositionen, welche am ausgiebigsten besprochen wurden, waren<br />
Machaults "Messe de Notre Dame", Bachs "h-Moll-Messe", von seinen eigenen<br />
Werken die "Messe de la Pentecôte" und das "Livre d'orgue". Die Betrachtungen<br />
bleiben dabei nicht auf die Musik beschränkt, sondern weiteten sich auf die Literatur,<br />
auf die Malerei sowie bei der "Musique sacrée" auf theologische Fragen aus. In seiner<br />
Klasse, in welche man nur durch eine strenge Aufnahmeprüfung gelangen konnte,<br />
sassen neben <strong>Franz</strong>osen <strong>St</strong>udenten aus mehreren Ländern Europas und Amerikas<br />
sowie auch aus Japan und Australien." - Soweit Frischknecht ( [4], S. 273).<br />
Messiaens Werk - Verständnis und Verbreitung<br />
Wohl aus dem Bedürfnis heraus, seine Musik möglichst vielen Menschen nahe zu<br />
bringen, hat Messiaen viele eindrucksvoll poetische, oft sehr ausführliche Kommentare<br />
zu seinen Werken selbst verfasst. Ihre Wiedergabe würde den Umfang dieser kurzen<br />
Darstellung sprengen 5). Für den Zuhörer liegt darin möglicherweise ein Nachteil, weil<br />
die Musik vor lauter Text überhört werden könnte: "Messiaen sagte viel mehr über<br />
seine Musik als jeder andere Komponist. Jeder schreibt Bücher über ihn oder nahm<br />
ihn auf Kassette auf, alle technischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts wurden<br />
verwendet. Es gibt Milliarden Worte von Messiaen und über Messiaen, aber das<br />
bedeutet nicht, dass wir über die eigentlichen Inhalte seiner Musik Bescheid wissen."<br />
(G. Weir in [9], Seite 8) 6).<br />
Auch für den Musiker ist die Versuchung gross, dass die oft komplizierte Notation, die<br />
rhythmischen Gruppierungen zu mechanisch, fast wie von einem Computer, gespielt<br />
werden. Obwohl Genauigkeit beim Spiel gefordert ist, liess Messiaen gemäss<br />
mündlichen Zeugnissen doch auch grosse Freiräume [9] für die Interpreten, die ihnen<br />
5) Eine ausführliche Beschreibung der Orgelwerke durch Messiaen selbst findet sich in<br />
[11], Seite 16-40.<br />
6) Aehnlich auch Karl Raas in dieser Nummer (Seite 24).<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
36<br />
genügend schöpferische Spontaneität erlauben. Zwar sind die grossen Zyklen als<br />
Ganzes geschaffen wurden und sollen eine Ganzheit ausdrücken. Trotzdem hat der<br />
Meister akzeptiert, dass gewisse Teile auch einzeln gespielt werden.<br />
L'Apparition de l'Eglise éternelle (1932) gehört zu den bekanntesten Orgelwerken<br />
Messiaens, die den Zugang zu seiner Tonsprache am ehesten erschliessen [3]. Es<br />
handelt sich hier aber nicht um die Darstellung einer prunkvoll auftretenden Macht,<br />
sondern - nach den Worten des Komponisten - um die "geistliche Kirche".<br />
Auch La Nativité du Seigneur (1935) und Les corps glorieux (1939) sind oft gespielte<br />
Werke. Die Méditations sur le mystere de la Sainte Trinité (1969) werden dagegen<br />
wegen ihrer Länge und der technischen Ansprüche eher selten aufgeführt. Im Livre<br />
d'orgue (1951) setzt sich Messiaen kritisch mit seinem Kompositionsstil auseinander<br />
[9]. Seine Oper Saint-François d'Assise wurde mit grossem Erfolg auch an den<br />
Salzburger Festspielen 1985 teilweise aufgeführt; die gesamte Aufführungszeit beträgt<br />
4-6 <strong>St</strong>unden!<br />
Messiaen besass wohl einen legendären Ruf als Improvisator, als Komponist gehört er<br />
aber zu den meistgespielten und bedeutendsten Meistern unserer Zeit. Er ist vielleicht<br />
auch der originalste Repräsentant der französischen Musik seit dem Tod Debussys im<br />
Jahre 1918. Während er in seiner Heimat Frankreich teilweise widersprüchlich<br />
aufgenommen wurde, fand er von Anfang an verbreitete Anerkennung in England [9].<br />
Als "Organist, Theologe, Ornithologe, Pädagoge" (Krahwinkel [11] ) ist er ein<br />
universaler Mensch. Der Tonsprache, die er in seinem frühesten Orgelwerk Le<br />
Banquet céleste mit 19 Jahren fand, ist er im wesentlichen Zeit seines Lebens treu<br />
geblieben. Schon früh hat Messiaen den musikalischen Horizont erweitert, indem er<br />
sich mit aussereuropäischer Musik beschäftigte und sie in seine Kompositionen<br />
einbezog, ohne seine eigene musikalische Sprache dabei zu verleugnen<br />
Die Orgel ist sein ureigenstes Instrument und Ausdruck des klingenden Kosmos<br />
göttlicher Ordnungen. Messiaen hat die Qualitäten der längst bekannten<br />
Eigenschaften der französischen Orgel nochmals gesteigert, indem er ihnen in seiner<br />
Musik völlig neue Ausdrucksformen gab [5].<br />
Zu seinem Tode am 27.4.92 schrieb ein ehemaliger Schüler, Thomas Daniel<br />
Schlee: " ... Mit Messiaen ging für uns Organisten (aber nicht nur für uns ... ) der<br />
Letzte und zugleich Grösste einer immensen Generation. Wie schmerzlich ist doch die<br />
unverrückbare Tatsache, sich nie mehr in das Mysterium seiner Improvisation<br />
versenken zu können! [ ...] Seit dem 27. April ist Messiaens singuläres Oeuvre<br />
endgültig in den Rang der Geschichtlichkeit erhoben; wir werden von nun an die<br />
Botschaft dieser herrlichen Musik als ein Wirken des Geistes in und durch Schönheit<br />
zu begreifen, ja: zu befolgen haben ." [10].<br />
Messiaen hat als Einwohner einer Weltstadt des 20. Jahrhunderts mit seiner Musik<br />
Bereiche unseres Menschseins angesprochen, die in der modernen Betriebsamkeit<br />
unterzugehen drohen. Die Kompositionen Messiaens sind von einer Ernsthaftigkeit<br />
und tiefen Gläubigkeit geprägt und einzigartig im Musikschaffen des 20. Jahrhunderts.<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
37<br />
Lassen wir ihn, gewissermassen als Zusammenfassung des Gesagten, nochmals<br />
selbst zu Worte kommen. In einem Gespräch mit der bekannten Interpretin Almut<br />
Rössler [11] sagte Messiaen, sein Leben bestehe aus 4 Dramen:<br />
"Erstens: ich spreche von Vogelgesängen zu <strong>St</strong>adtmenschen, die noch nie einen<br />
Vogel gehört haben. Um Vögel zu hören, muss man auf dem Lande leben,<br />
gegebenenfalls um vier Uhr morgens aufstehen und in der Morgen- und<br />
Abenddämmerung den Vögeln zuhören. (...) Das zweite Drama besteht darin, dass ich<br />
den Leuten sage, dass ich beim Musikhören Farben sehe, und sie sehen nichts, gar<br />
nichts. Das ist schrecklich. Und sie glauben mir nicht einmal. Das dritte Drama ist,<br />
dass ich eine Rhythmik ausgearbeitet habe, griechische und indische Rhythmen usw.<br />
erforscht habe, und ich habe dabei eine immer freiere Rhythmik gewonnen, die der<br />
Natur immer näher kam (...). Wenn ich von Rhythmus spreche, verstehen die meisten<br />
Leute nichts, denn für sie (zumindest für die primitivsten) ist der Rhythmus gleich<br />
Militärmarsch oder Jazz. Das ist schrecklich. (...) Das vierte Drama, das schlimmste<br />
von allen: ich glaube und ich rede von den Geheimnissen Christi zu Leuten, die nicht<br />
glauben, die glauben, dass Christus nicht Gott gewesen ist, und die nichts begreifen,<br />
die auch nicht Zeit und Raum begreifen ...".<br />
Die Hauptorgel in der Kathedrale <strong>St</strong>. Gallen<br />
Die Grosse Orgel im <strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> Dom ist ein grösstenteils neues Instrument und wurde<br />
1968 von der Firma Kuhn in Männedorf gebaut. Die Anfänge dieser Orgel gehen auf<br />
das Jahr 1810 zurück. Damals erbaute <strong>Franz</strong> Frosch aus Augsburg ein Werk mit 60<br />
Registern auf 3 Manualen. Der Prospekt stammt von Johann Simon Moosbrugger.<br />
1875 erfolgte ein grundlegender Umbau durch Johann Nepomuk Kuhn. Dabei blieb<br />
der Prospekt erhalten. Die heutige Gambe 16' stammt noch aus der ersten Orgel von<br />
1810, die Vox humana aus dem Jahr 1875.<br />
Beim letzten Umbau 1968 wurde der ursprünglich eher plumpe Prospekt zu einer<br />
eleganteren Form umgestaltet. Aus denkmalpflegerischen Gründen hat man auf ein<br />
Rückpositiv verzichtet. Das Hauptwerk mit Prinzipal 16' steht hinter dem Mittelturm,<br />
den eckigen Türmen und den nach aussen anschliessenden Feldern. Ueber dem<br />
Hauptwerk, hinter den spiegelsymmetrischen Feldern rechts und links vom Mittelturm,<br />
befindet sich das Positiv, zuoberst das Kronwerk. Die Pedaltürme wurden in den<br />
Jahren 1908-1910 erstellt und stehen seit der Umgestaltung heute seitenverkehrt im<br />
Prospekt. Hier stehen die Pfeifen des Grosspedals, ausgenommen Prinzipal 32', das<br />
sich auf einer separaten Windlade hinter dem Orgelgehäuse befindet. In der unteren<br />
Mittelfront sind die Register des Kleinpedals, dahinter das Schwellwerk.<br />
73 Register, 5465 Pfeifen<br />
6 mechanische Normalkoppeln: Pos-Hw; Sw-Hw; Kw-Hw, Kw-Pos, Hw-Ped, Sw-Ped<br />
Mechanische Spieltraktur<br />
Elektrische Registertraktur<br />
6-fache Setzerkombinationen<br />
Winddruck in mmWS): Hauptwerk 70, Positiv 60, Schwellwerk 75,<br />
Kronwerk 50, Pedal 80<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
38<br />
Disposition der Hauptorgel in der Kathedrale <strong>St</strong>. Gallen<br />
Kuhn Männedorf 1968<br />
I. Positiv C-g''' III. Schwellwerk C-g'''<br />
Quintatön 16' Gedackt 16'<br />
Harfenprincipal 8' Holzoctave 8'<br />
Copula 8' Metallgedackt 8'<br />
Principal 4' Viola 8'<br />
Rohrflöte 4' Unda maris 8'<br />
Superoctave 2' Principal 4'<br />
Octävlein 1' Harfpfeife 4'<br />
Zink 3f 1 3/5' Querflöte 4'<br />
Mixtur 5f 2/3' Quinte 2 2/3'<br />
Dulcian 16' Nachthorn 2'<br />
Krummhorn 8' Terz 1 3/5'<br />
Schalmei 4' Rauschmixtur 5-6f 2'<br />
- Tremulant Cymbel 3f 1/3'<br />
Basson 16'<br />
Trompette harm. 8'<br />
II. Hauptwerk C-g''' Clairon 4'<br />
Principal 16' - Tremulant<br />
Gambe 16'<br />
Praestant 8'<br />
Offenflöte 8' IV. Kronwerk C-g'''<br />
Gemshorn 8' Rohrgedackt 8'<br />
Quinte 5 1/3' Quintade 8'<br />
Octave 4' Principal 4'<br />
Koppelflöte 4' Spitzgedackt 4'<br />
Pommer 4' Sesquialtera 2 2/3'<br />
Terz 3 1/5' Schwiegel 2'<br />
Quinte 2 2/3' Spitzquinte 1 1/3'<br />
Octave 2' Scharf 5f 1'<br />
Flachflöte 2' Farbcymbel 3f 1/14'<br />
Grossmixtur 5-8f 2' Holzregal 16'<br />
Kleinmixtur 4f 1 1/3' Vox humana 8'<br />
Trompete 16' - Tremulant<br />
Trompete 8'<br />
Pedal C-f'<br />
Principal 32' Blockflöte 4'<br />
Praestant 16' Mixtur 5f 2 2/3'<br />
Flötbass 16' Piffaro 2f 2'<br />
Subbass 16' Kontrafagott 32'<br />
Octave 8' Posaune 16'<br />
Spitzflöte 8' Fagott 16'<br />
Basszink 3f 5 1/3' Trompete 8'<br />
Octave 4' Clairon 4'<br />
Singend Cornett 2'<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
Literatur<br />
39<br />
[1] Ahrens Sieglinde. Erinnerungen an die "classe de Messiaen". Ars organi 40, Nr. 3, 1992<br />
(S. 123-124).<br />
[2] Aprahamian Felix. Textheft zur CD Messiaen: Apparition de l'Eglise éternelle. La Nativité du<br />
Seigneur. Der Komponist an der Orgel der Eglise de la Sainte-Trinité, Aufnahme 1956. EMI<br />
Classics 1994.<br />
[3] Busch Hermann J. Olivier Messiaen. Apparition de l'Eglise éternelle. Beobachtungen und<br />
Anmerkungen zur Interpretation. Orgel international 1998 Nr. 5, Seite 48-49.<br />
[4] Frischknecht Hans Eugen. Zum Gedenken von Olivier Messiaen. Musik und Gottesdienst<br />
1992 Nr. 6, S. 273-275.<br />
[5] Guhswald Wolfgang. Bemerkungen zu Olivier Messiaen. Zur Aufführung seiner Werke im<br />
Wiener Konzerthaus 1987. Oesterreichisches Orgelforum 1987/2, Seite 96-98.<br />
[6] Hildenbrand Siegfried. Die Orgelwerke der Kathedrale <strong>St</strong>. Gallen. <strong>St</strong>. Gallen ohne Jahrgang<br />
(ca. 1987).<br />
[7] Lade Günter. Gespräch mit Olivier Messiaen am 26.2.87 anlässlich der österreichischen<br />
Erstaufführung des "Livre du Saint Sacrement" in Wien. Ars organi 36, Nr. 4, 1988<br />
(S. 171-175).<br />
[8] Lade Günter. Bericht über ein Referat von Jean Langlais im Juni 1982 in Wien über die<br />
bedeutendsten Komponisten seiner Epoche, u.a. O. Messiaen. Oesterreichisches Orgelforum<br />
1991/1-3, Seite 203-209.<br />
[9] Metz Ariane. Lost in Space. Interview mit Dame Gillian Weir über die Musik Messiaens.<br />
Orgel international 1998 Nr. 5, Seite 6-8.<br />
[10] Schlee Thomas Daniel. Zum Tode von Olivier Messiaen. Oesterreichisches Orgelforum<br />
1992/1, Seite 285.<br />
[11] Die Orgelkompositionen von Olivier Messiaen (1908-1992). Herausgegeben vom Verein der<br />
<strong>Orgelfreunde</strong> an <strong>St</strong>. Joseph, Bonn-Beuel, e.V. und der Kulturabteilung der <strong>Franz</strong>ösischen<br />
Botschaft in Bonn. Mit einem Beitrag von Guido Krahwinkel über den Komponisten sowie Texten<br />
von O. Messiaen. Bonn 1998.<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999
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Veranstaltungshinweise (Fortsetzung von Seite 22)<br />
Sa 03.07.99 1915 h <strong>St</strong>. Gallen, Kathedrale. Domorgelkonzert.<br />
Wayne Marshall, London/Manchester.<br />
Bach, Saint-Saëns, Langlais, Naji Hakim, Messiaen, Marshall.<br />
Sa 10.07.99 1915 h <strong>St</strong>. Gallen, Kathedrale. Domorgelkonzert.<br />
Karl Raas, <strong>St</strong>. Gallen. Vorstellung einer neuen CD: Toccaten.<br />
Buxtehude, Lübeck, Bach, Reger, <strong>Franz</strong> Schmidt, Paul Müller-Zürich,<br />
Floor Peeters, Siegfried Hildenbrand, Paul Huber.<br />
So 11.07.99 1730 h Frauenfeld-Oberkirch: Orgelmusik zum Sonntagabend.<br />
André Manz und Ambros Koch (Händel, Beethoven u.a.)<br />
So 18.07.99 1730 h Frauenfeld-Oberkirch: Orgelmusik zum Sonntagabend.<br />
Kumiko Matsunami, Bremen/Tokyo (Bach)<br />
So 25.07.99 1730 h Frauenfeld-Oberkirch: Orgelmusik zum Sonntagabend.<br />
Bernhard Marx, Freiburg/Br. (Buxtehude, Bach)<br />
So 01.08.99 1730 h Frauenfeld-Oberkirch: Orgelmusik zum Sonntagabend.<br />
Wolfgang Sieber, Luzern: "Eurorgelspiel" mit Improvisation<br />
Fr 06.08.99 1830 h <strong>St</strong>. Laurenzen: Orgelmusik zum Feierabend.<br />
Dietrich Wagler, Freiberg / Sachsen<br />
Werke von Bach, Ritter, Hans Otto<br />
So 08.08.99 1730 h Frauenfeld-Oberkirch: Orgelmusik zum Sonntagabend.<br />
Gustav Auzinger, Neufelden (Muffat, Buxtehude, Bach)<br />
Fr 13.08.99 1830 h <strong>St</strong>. Laurenzen: Orgelmusik zum Feierabend.<br />
Thomas Leutenegger, Bern<br />
So 15.08.99 1730 h Frauenfeld-Oberkirch: Orgelmusik zum Sonntagabend.<br />
G. und H. Gertschen, Naters (Werke zu 2 und 4 Händen 17.-19. Jh.)<br />
Fr 20.08.99 1830 h <strong>St</strong>. Laurenzen: Orgelmusik zum Feierabend.<br />
<strong>St</strong>efan Küchler, Mörfelden-Walldorf<br />
Werke von Bach, Scheidemann, Küchler<br />
So 22.08.99 1700 h Kirche Linsebühl: <strong>St</strong>efan J. Bleicher (Ochsenhausen).<br />
Das Orgelwerk von <strong>Franz</strong> Liszt.<br />
Präsentation der auf der Linsebühl-Orgel eingespielten CD.<br />
Fr 27.08.99 1830 h <strong>St</strong>. Laurenzen: Orgelmusik zum Feierabend.<br />
Johan Hermans, Hasselt / Belgien<br />
Lemmens, Mailly, Guilmant, Rachmaninoff, Wély, Dubois, Peeters.<br />
So 29.08.99 1900 h Kirche Oberglatt Flawil: Instrumentalformen des 17. Jh.<br />
M. Weilenmann, Flöte; B. Franklin, Gambe; Jürg Brunner, Cembalo.<br />
Fr 03.09.99 1830 h <strong>St</strong>. Laurenzen: Orgelmusik zum Feierabend.<br />
Rudolf Lutz, <strong>St</strong>. Gallen<br />
Fr 10.09.99 1830 h <strong>St</strong>. Laurenzen: Orgelmusik zum Feierabend.<br />
Jürg Brunner, <strong>St</strong>. Gallen. Musique héroique:<br />
Mozart, Mendelssohn, Wély, Saint-Saëns, Franck, Walton, Brunner.<br />
Fr 17.09.99 1830 h <strong>St</strong>. Laurenzen: Orgelmusik zum Feierabend.<br />
Ton van Eck, Den Haag. Zum 100. Todesjahr von Cavaillé-Coll:<br />
Bach, Franck, Widor u.a.<br />
Fr 24.09.99 1830 h <strong>St</strong>. Laurenzen: Orgelmusik zum Feierabend.<br />
Christiaan Ingelse, Gouda<br />
Deutsche Orgelsonaten: Bach, Mendelssohn, Distler.<br />
Bulletin <strong>OFSG</strong> 17, Nr. 2, 1999