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Franz Lüthi - OFSG - St. Galler Orgelfreunde

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ST. GALLER ORGELFREUNDE<br />

<strong>OFSG</strong><br />

BULLETIN <strong>OFSG</strong> 31, NR. 1, 2013<br />

Mörschwil, im Februar 2013<br />

Liebe <strong>OFSG</strong> Mitglieder<br />

Im Namen des Vorstandes möchte ich Sie herzlich einladen zum ersten<br />

Anlass in diesem Jahr:<br />

Mittwoch, 20. März 2013, 19:30 Uhr<br />

Katholische Kirche <strong>St</strong>. Nikolaus, Wil<br />

Orgelvorstellung und -Konzert:<br />

Marie-Louise Eberhard Huser, Organistin an <strong>St</strong>. Nikolaus und<br />

Vorstandsmitglied der <strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong><br />

Wil wurde urkundlich erstmals im Jahr 754 erwähnt und die <strong>St</strong>adtgründung<br />

dürfte auf die Grafen von Toggenburg zurückzuführen sein. In<br />

enger Beziehung zur Fürstabtei <strong>St</strong>. Gallen entwickelte sich Wil im Mittelalter<br />

zum Residenzstädtchen und noch heute ist der Titel „Äbtestadt“<br />

geläufig. Der Bau der Pfarrkirche <strong>St</strong>. Nikolaus geht auf das 15. Jahrhundert<br />

zurück und erlebte verschiedene Renovierungen mit zum Teil<br />

folgenschweren Eingriffen. Die Orgelgeschichte ist seit dem frühen 19.<br />

Jahrhundert gut belegt. Die heutige Mathis Orgel wurde 1983 eingeweiht.<br />

Gemäss dem Kollaudationsbericht besitzen die 45 Register ein<br />

ausgeprägtes Eigenleben verbunden mit vorzüglicher Verschmelzungsfähigkeit.<br />

Die Orgel erlaubt die Wiedergabe eines vielfältigen Spektrums<br />

der Orgelliteratur und dank der reichhaltigen Zungenregister vor allem<br />

auch der französischen Literatur.<br />

Es freut uns sehr, dass unser neues Vorstandsmitglied Frau Marie-<br />

Louise Eberhard Huser uns „Ihre“ Orgel vorstellen wird.<br />

Unser Ehrenmitglied <strong>Franz</strong> <strong>Lüthi</strong> hat das Bulletin verfasst. Nebst der<br />

Einführung in die Orgelgeschichte und der ausführlichen Beschreibung<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


2<br />

der Mathis Orgel gibt Ihnen diese Schrift einen vertiefenden Einblick in<br />

die französische Orgelwelt des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Beitrag ist<br />

eine umfassende Einführung in diese musikalische Epoche und erleichtert<br />

wesentlich das Verständnis der eigenen Nomenklatur mit den vielen<br />

speziellen Begriffen (Grand jeu, Plein jeu, Jeu inégale, Jeu de Tierce<br />

etc.). Wir danken <strong>Franz</strong> <strong>Lüthi</strong> sehr herzlich für diese Riesenarbeit.<br />

Der Vorstand heisst alle Mitglieder herzlich willkommen und freut sich<br />

auf Ihre Teilnahme.<br />

Mit freundlichen Grüssen<br />

Walter Angehrn, Präsident<br />

Mitfahrgelegenheit<br />

Für alle unsere Anlässe organisiert das Sekretariat für Sie gerne eine Mitfahrgelegenheit.<br />

Falls Sie von unserem Angebot Gebrauch machen wollen, melden Sie sich<br />

bitte jeweils bis spätestens eine Woche vor dem Anlass beim Sekretariat.<br />

Hinweis zu unserer nächsten Veranstaltung (29./30. April sowie 1./ 2.Mai 2013)<br />

Das Seminar "Orgelbau-Grundlagen" gibt Gelegenheit, die wichtigsten Teile einer<br />

Orgel und deren Funktion aus der Nähe kennenzulernen. Damit dies möglich wird, ist<br />

die Zahl der Teilnehmenden pro Abend auf 10 Personen beschränkt. Um aber dennoch<br />

alle Interessentinnen und Interessenten berücksichtigen zu können, wird das<br />

gleiche Programm an vier aufeinander folgenden Tag angeboten. Mit dem nächsten<br />

Bulletin wird ein Anmeldeformular versandt, auf dem der gewünschte Tag angegeben<br />

werden kann.<br />

Impressum<br />

<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> (<strong>OFSG</strong>): www.ofsg.org<br />

Sekretariat:<br />

Redaktion Bulletins:<br />

Brigitte <strong>Lüthi</strong>, Rainstrasse 8, 9532 Rickenbach b. Wil TG,<br />

sekretariat@ofsg.org<br />

Hansjörg Gerig, Huebstrasse 7e, 9011 <strong>St</strong>. Gallen,<br />

hjgerig@bluewin.ch<br />

Für den Inhalt seines Textes ist der jeweilige Autor allein verantwortlich.<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


3<br />

Übersicht über die Veranstaltungen im Jahr 2013<br />

Mittwoch,<br />

20. März<br />

19:30 Uhr<br />

Katholische Kirche <strong>St</strong>. Nikolaus, Wil<br />

• Orgelvorstellung und -Konzert (Mathis, III/P, 45, 1983)<br />

Marie-Louise Eberhard, Organistin an <strong>St</strong>. Nikolaus, Wil<br />

Woche vom<br />

29. April bis<br />

2. Mai<br />

(Mo/Di/Mi/Do)<br />

jeweils<br />

19:30 Uhr<br />

Evangelische Kirche Rorschach<br />

• Seminar: Orgelbau-Grundlagen<br />

Das gleiche Thema wird an vier Abenden angeboten. Die Zahl der<br />

Teilnehmer ist pro Abend auf 10 Personen beschränkt. Zu dieser<br />

Veranstaltung wird rechtzeitig ein separates Programm mit<br />

Anmeldetalon versandt.<br />

Matthias Hugentobler, Orgelbauer, <strong>St</strong>ein AR<br />

Mittwoch,<br />

19. Juni<br />

19:30 Uhr<br />

Katholische Paulus-Kirche, Gossau<br />

• Orgelvorstellung und -Konzert (Pflüger, II/P, 24, 2011)<br />

<strong>Franz</strong> Koller und Lea Rezzonico, Organisten in Gossau<br />

Montag,<br />

2. September<br />

bis<br />

Mittwoch,<br />

4. September<br />

Orgelreise ins Engadin<br />

Brusio – Zernez – Susch – Ardez – Scuol – Ramosch –<br />

<strong>St</strong>. Moritz <strong>St</strong>. Karl – <strong>St</strong>. Moritz evang. Dorfkirche<br />

Zu dieser Orgelreise wird rechtzeitig ein separates Programm mit<br />

Anmeldetalon versandt. Organisatorische Leitung: Hansjörg Gerig.<br />

Tobias Willi, Hauptfach-Dozent für Orgel an der Zürcher<br />

Hochschule der Künste<br />

Samstag<br />

28. September<br />

ganzer Tag<br />

Orgelfahrt 2013 in den östlichen Thurgau<br />

Horn, kath. Kirche – Arbon, kath. Kirche –<br />

Bischofszell, <strong>St</strong>. Pelagius<br />

Zu dieser Orgelreise wird rechtzeitig ein separates Programm mit<br />

Anmeldetalon versandt. Organisatorische Leitung: Hansjörg Gerig.<br />

Dieter Hubov, Organist in Horn und Arbon, Philippe Frey,<br />

Organist in Bischofszell und Angelus Hux, Frauenfeld<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


4<br />

Foto F. L.<br />

Die <strong>St</strong>adtkirche <strong>St</strong>. Nikolaus in Wil<br />

Beschreibung der Orgel auf Seite 33 ff<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


5<br />

Zusammenfassung:<br />

Orgel und Orgelmusik<br />

in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert<br />

Charakteristisch für Frankreichs Orgelmusik im 17. und 18. Jahrhundert<br />

ist eine enge Verflechtung des Orgelbaus mit den musikalischen Formen<br />

und ihrem Gebrauch im Gottesdienst. Unter dem Einfluss flämischer<br />

Orgelbauer entwickelte Jehan Titelouze in Rouen als einer der Pioniere<br />

um 1600 einen prägenden Orgeltyp, der auch inspirierend wirken sollte<br />

auf neue Kompositionen: Ein Instrument mit reichen Klangfarben, einer<br />

Vielfalt von Soloregistern, insbesondere Zungenstimmen und Cornet, mit<br />

polyphoner Transparenz und dialogisierendem Kontrast zwischen den<br />

beiden Hauptmanualen. Typisch war ein dagegen eher spärlich ausgestattetes<br />

Pedal, das immerhin konstant mit einer Trompette 8' besetzt<br />

war. Um 1630 wurde dieser Orgeltyp erweitert durch ein III. Manual<br />

(Récit oder stattdessen Écho), das im Diskant ebenfalls eine Cornet-<br />

Registrierung ermöglichte. Das erste Orgelbuch von G.G. Nivers 1665<br />

läutete sozusagen die Blütezeit der klassischen Orgel ein, die rund 70<br />

Jahre dauern sollte. Nivers zeigte paradigmatisch die neuen Klangtypen<br />

und belegte damit die enge Verflechtung von Orgelbau, Registrierpraxis<br />

und Liturgie. Alle grossen Instrumente besassen nun vier Manuale:<br />

Positif und Grand-Orgue, Récit, Écho und Pedal. Sie waren reich ausgestattet<br />

mit Aliquoten, Cornet- und Zungenregistern, wie sie in den Registriervorschriften<br />

der Livres d'Orgue vorgesehen waren. In der weiteren<br />

Entwicklung machte sich die Orgel von der liturgischen Alternatimpraxis<br />

und dem Cantus firmus zunehmend selbständig und bevorzugte neue<br />

Formen: Plein-jeu- und Grand-jeu-<strong>St</strong>ücke, Offertoires, die sich virtuos<br />

expandierten. Freie Orgelstücke, teilweise Suiten genannt, hatten den<br />

Vorteil, dass sie vielfältig verwendbar waren. Die Orgelmusik in der<br />

zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tendierte mehr zu Lautstärke und<br />

Orchesterimitation. Die nunmehr fünfmanualigen Orgeln erhielten ein<br />

eigenes Bombardenklavier und auch ein stärkeres Pedal.<br />

Im Weiteren werden die wichtigsten Begriffe zur französischen Orgelmusik<br />

sowie die wichtigsten Register erklärt und dazu einige zum Hören<br />

vielleicht hilfreiche Tipps gegeben. Ausführlich, aber vereinfachend,<br />

kommen die vielen Registriermöglichkeiten zur Sprache, zum Beispiel<br />

Plein jeu (Prinzipalplenum mit Mixturen), Plain Chant, Grundstimmenmischungen,<br />

Récits und andere Solo-Registrierungen sowie Dialogue<br />

sur les Grands jeux (Zungen-Kornettplenum ohne Prinzipalmixturen).<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


6<br />

Orgel und Orgelmusik in Frankreich<br />

im 17. und 18. Jahrhundert<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Lüthi</strong><br />

Das Thema "<strong>Franz</strong>ösische Orgelmusik des 17. und 18. Jahrhunderts"<br />

war vor bald drei Jahrzehnten Gegenstand eines Bulletins [13]. Seither<br />

hat eine Vielzahl von Monografien, Handbüchern und Fachartikeln unser<br />

Wissen bereichert, und nicht zuletzt erleichtern die heutigen Möglichkeiten<br />

der Textverarbeitung eine übersichtlichere Darstellung des weitläufigen<br />

Themas. Es ist in vier Abschnitte aufgeteilt:<br />

1. Entwicklung der klassisch-französischen Orgel<br />

2. Die Orgel im Gottesdienst und ihr Einfluss auf die<br />

musikalischen Formen<br />

3. Wichtige Komponisten dieser Epoche<br />

4. Registrierung auf der klassisch-französischen Orgel<br />

Charakteristisch für Frankreichs Orgelmusik im 17. und 18. Jahrhundert<br />

ist die enge Verflechtung des Orgelbaus mit den musikalischen Formen<br />

und ihrem Einsatz im Gottesdienst. Dabei wurde der spezifische Klang<br />

der Orgel und ihrer Musik schon früh auch deutlicher vom Cembalo unterschieden<br />

als etwa in Deutschland.<br />

1. Entwicklung der klassisch-französischen Orgel<br />

Im Hinblick auf den engen Zusammenhang zwischen Entwicklung der<br />

französischen Orgel und der Entstehung ihrer musikalischen Formen<br />

müssten eigentlich diese beiden Faktoren, wie auch die Registrierpraxis,<br />

in einem gemeinsamen Kapitel behandelt werden, was eine Übersicht<br />

stark erschweren würde. Aus Gründen der besseren Verständlichkeit<br />

schien es sinnvoll, die Entwicklung der Orgel und jene der Orgelkomposition<br />

wie auch die Registrierungen in separaten Kapiteln zu betrachten.<br />

Im vorliegenden Kapitel soll zunächst die Entwicklung der französischen<br />

Orgel erörtert werden.<br />

Der spezifische französische Orgeltyp entstand in schöpferischer Zusammenarbeit<br />

von Komponisten, Organisten und Orgelbauern. Mit den<br />

Orgelbauern Robert Clicquot (ca. 1645–1719) und der Familie Thierry<br />

(Pierre 1604–1665, dessen Sohn Alexandre ca. 1646–1699 und Enkel<br />

François 1677–1749) war Paris auch orgelbaulich ein kulturelles<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


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Zentrum. Aber auch in andern Teilen des Landes gab es namhafte<br />

Orgelbauer, etwa in der Normandie die Familie Lefebvre mit ihrem<br />

bedeutendsten Vertreter Jean-Baptiste Nicolas Lefebvre (1706–1784).<br />

Berühmt auch wegen ihrer Arbeiten in Deutschland waren der Burgunder<br />

Karl Josef Riepp (1710–1775) sowie der Elsässer Andreas Silbermann<br />

(1678–1734) und dessen Sohn Johann Andreas Silbermann (1712–<br />

1783).<br />

Die zeitliche Entwicklung des klassisch-französischen Orgeltyps lässt<br />

sich in vier Abschnitte gliedern [6]:<br />

1.1 1580–1630: Prototyp: Orgel mit zwei reich ausgestatteten<br />

Manualen und eher bescheidenem Pedal.<br />

Titelouze und die flämischen Orgelbauer Barbier und Carlier<br />

Wie die norddeutsche und spanische hatte auch die französische Orgel<br />

den niederländisch-brabantischen Orgeltyp mit seinen selbständig ausgebauten<br />

Manualwerken zum Vorbild. Flämische Orgelbauer brachten<br />

die entscheidenden Impulse. Die erste Orgel dieses neuen <strong>St</strong>ils war bereits<br />

1580 in Gisors durch Nicolas Barbier errichtet worden. Ihre Disposition<br />

blieb für die nächsten Jahrzehnte mustergültig. Die reiche <strong>St</strong>adt<br />

Rouen, an dessen Kathedrale Jehan Titelouze seit 1588 als Organist<br />

wirkte, spielte mit ihren engen Handelsbeziehungen zu Flandern auch<br />

kulturell eine bedeutende Rolle. So wurde Titelouze massgebend für die<br />

Ästhetik der neuen französischen Orgel, besonders durch seine beiden<br />

Sammlungen (Hymnes de l'église 1623 und Le Magnificat 1626), in<br />

denen er Instrumente postulierte, wie sie von den Flamen gebaut<br />

wurden: Klangfarben und Klangstärken mit polyphoner Transparenz und<br />

einem dialogisierenden Kontrast zwischen den beiden Hauptmanualen.<br />

Diese Orgeln sollten die Musiker auch zu neuen Kompositionen anregen.<br />

So erhielt die Orgel eine Vielfalt von Soloregistern, insbesondere Zungenstimmen<br />

und Cornet. Anders als in Norddeutschland war das Pedal<br />

mit seinen wenigen eigenen Registern (fast nur Trompette 8') kein<br />

gleichberechtigter Gegenspieler des Hauptwerks, sondern diente lediglich<br />

zur Hervorhebung eines Cantus firmus im Tenor oder Bass.<br />

Bereits um 1600 hatte Titelouze die über 100-jährige Renaissance-Orgel<br />

der Kathedrale von Rouen von einem wallonischen Meister im Sinne der<br />

neueren <strong>St</strong>römungen umbauen lassen. Details darüber wissen wir kaum,<br />

mehr aber über die von Titelouze geplante Orgel der Kathedrale von<br />

Poitiers, die Crespin Carlier 1612 vollendete. Sie repräsentiert den<br />

Typus der frühbarocken französischen Orgel, wie er sich in der ersten<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


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Hälfte des 17. Jahrhunderts in ganz Frankreich verbreitete ("Titelouze-<br />

Orgel").<br />

Poitiers, Kathedrale, erbaut von Crespin Carlier 1612 [6, S. 170]<br />

II. Grand-Orgue I. Positif Pédale<br />

Montre 16' Montre 8' Flûte 8'<br />

Bourdon 16' Prestant 4' Sacqueboute 8'<br />

Montre 8' Doublette 2' [= Trompette 8']<br />

Bourdon 8' Fourniture 3f.<br />

Prestant 4' Cymbale 2f.<br />

Doublette 2'<br />

Fourniture 4f. *<br />

Cymbale 3f.<br />

Tiercette<br />

1 3 /5'<br />

Quintadin 4' Flûte 4'<br />

Nazard 2⅔' Nazard 2⅔'<br />

Flûte traversine 2' Petit Nazard 1⅓'<br />

Sifflet 1' Larigot 7 pouces [⅔' ?]<br />

Cornet<br />

Trompette 8' Cromorne 8' Tremblant<br />

Clairon 4' Rossignol<br />

Voix humaine 8' Musette<br />

* Fourniture aufgeteilt in zwei Züge<br />

Die beiden selbständigen Manualwerke sind in je einem eigenen Gehäuse,<br />

Hauptwerk auf 16'- und Positif (= Rückpositiv) auf 8'-Basis. Das<br />

Pedalwerk mit einem 8'-Zungenregister und einem offenen 8' befindet<br />

sich im oder hinter dem Orgelgehäuse. Das Hauptwerk enthält in dieser<br />

Frühzeit noch ein Terzregister in Prinzipalmensur (Tiercette 1 3 /5'), aber<br />

ohne die (prinzipalische) Quinte 2⅔', ferner Flötenregister verschiedener<br />

Bauart sowie farbige Solostimmen: Nazard 2⅔', Flûte 2', Cornet, Trompette<br />

8', Clairon 4' und Voix humaine 8'. Der Positif besitzt mindestens<br />

Flûte allemande 4' und Larigot 1⅓', als Zungenregister Cromorne 8' (mit<br />

weiter Mensur und kräftigem Klang, anders als das deutsche Krummhorn).<br />

Das Holzprinzipal 8' im Pedal (= "Flûte 8' ") eignet sich zur Begleitung<br />

von Soloregistern, die starke Trompette 8' für das Cantusfirmus-Spiel.<br />

Die Schiebekoppel Positif–G.O. war obligat. Kleinere<br />

Orgeln hatten vereinzelt nur ein angehängtes Pedal ohne eigene Register<br />

oder manchmal eine Pedalkoppel. Ein virtuoses Spiel auf dem fran-<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


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zösischen Pedal mit den kurzen Tasten war nicht möglich; Klangbasis<br />

war ja nicht das Pedal, sondern das Hauptwerk mit seinen 16'-<strong>St</strong>immen.<br />

1.2 1630–1655: Erweiterung mit III. Manual (Récit oder Écho)<br />

und 4' im Pedal.<br />

Die Orgel erhielt jetzt zusätzlich ein drittes Manual. Zunächst konnte<br />

darauf lediglich der Cornet des Hauptwerks separat im Diskant (c 1 –c 3 )<br />

gespielt werden ("Cornet séparé"). Erst ab 1664 erhielt dieser Cornet<br />

eigene Pfeifen, die – aufgebänkt über den Hauptwerkspfeifen – durch<br />

eine eigene Windlade versorgt wurden. Der Récit wurde somit ein selbständiges<br />

Werk.<br />

Anstelle eines Récit konnte das III. Manual auch als Écho (Echowerk,<br />

Umfang ebenfalls c 1 –d 3 ) ausgeführt sein. Wie beim Récit waren hier die<br />

Tasten im unteren Bereich vorhanden, aber stumm. Auch dieses Werk<br />

enthielt einen fünffachen Cornet (8', 4', 2⅔', 2', 1 3 /5'), der aber in Einzelzüge<br />

("Cornet décomposé") aufgeteilt sein konnte. Das Echowerk<br />

befand sich unmittelbar über dem Spielschrank im geschlossenen Gehäuse<br />

(ohne Schallaustrittsöffnungen) und war in Paris in den 1640er<br />

Jahren beliebter als der Récit. Manchmal enthielt es auch ein kleines<br />

Plenum.<br />

Im Hauptwerk wurde der Weitchor (weit mensurierte = flötige Register)<br />

ausgebaut durch die Grosse (= weite) Tierce 1 3 /5', anfänglich oft gleichzeitig<br />

mit der bisherigen engen, "prinzipaligen" Tiercette 1 3 /5'. Das weite<br />

Register Quarte de Nazard 2' ersetzt den etwas engeren Flageolet 2'.<br />

Auch das Pedal erhielt eine Ergänzung durch Flûte 4'. Die Pedalkoppel,<br />

ohnehin nur selten gebaut, verschwand vorübergehend ab ca. 1650.<br />

Einzige Koppel blieb die Schiebekoppel Positif–G.O. Das Konzept der<br />

klassischen französischen Orgel war nun in den Grundzügen<br />

geschaffen.<br />

1.3 1665–1730: Blütezeit der klassischen Orgel<br />

Vier Manuale und Ausbau der Nebenklaviere III und IV<br />

Diese prächtigen Instrumente sind eng assoziiert mit den Namen berühmter<br />

Orgelbauer wie Robert Clicquot (ca. 1645–1719) und der Orgelbauerdynastie<br />

Thierry: Vater Pierre (1604–1665), Sohn Alexandre (ca.<br />

1646–1699) und Enkel François (1677–1749). Im Jahre 1665, dem<br />

eigentlichen Geburtsjahr der klassischen Orgel, erschien das (erste)<br />

Livre d’Orgue Contenant Cent Pièces de tous les Tons de l’Église (1665)<br />

von Guillaume-Gabriel Nivers. Als Meilenstein zeigte diese Sammlung<br />

im Wesentlichen die neuen Klangtypen auf und dokumentierte die enge<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


10<br />

Verflechtung von Orgelbau, Registrierpraxis und Liturgie (Alternatimpraxis).<br />

Alle grossen Instrumente besassen nun vier Manuale: Positif, Grand-<br />

Orgue, Récit, Écho und Pedal. Im Grand-Orgue verschwand die Prinzipalterz<br />

(Tiercette 1 3 /5') vollständig. Die Tierce 3 1 /5', die Oberton-Terz zum<br />

16'-Register, die anfänglich noch als Double Tierce bezeichnet wurde,<br />

traf man ab 1700 regelmässig an. Der Récit erfuhr eine leichte<br />

Erweiterung in Bassrichtung; vereinzelt besass er nun auch ein Zungenregister.<br />

Theoretische Maximaldisposition zur Blütezeit<br />

einer voll ausgebauten klassisch-französischen Orgel<br />

gemäss den Registriervorschriften in den Livres d'Orgue 1665–1737<br />

Zusammengestellt nach [4, S. 242] sowie der Disposition der Orgel von François<br />

Couperin an Saint-Gervais 1690 nach dem Umbau durch Alexandre Thierry [7].<br />

I. Positif II. Grand-Orgue III. Récit<br />

Montre 8' Montre 16' Cornet 5f. 8'<br />

Bourdon 8' Bourdon 16' Trompette 8'<br />

Prestant 4' Montre 8'<br />

Flûte (selten) 4' Bourdon 8' IV. Écho<br />

Nazard 2⅔' Prestant 4'<br />

Doublette 2' Flûte (selten) 4' Bourdon 8'<br />

Quarte de Nazard 2' Tierce 3 1 /5' Flûte 4'<br />

Tierce 1 3 /5' Nazard 2⅔' Cymbale 3f.<br />

Larigot 1⅓' Doublette 2' Nazard 2⅔'<br />

Fourniture 3f. Quarte de Nazard 2' Doublette et<br />

Cymbale 2f. Tierce 1 3 /5' Tierce 2' + 1 3 /5'<br />

Cromorne 8' Cornet 5f. (ab c 1 ) 8' Cromorne 8'<br />

Trompette * 8' Fourniture 4f.<br />

Clairon * 4' Cymbale 3f. Pédale<br />

Trompette 8'<br />

Voix humaine 8' (Flûte) * 16'<br />

Clairon 4' Flûte 8'<br />

Tremblant doux Flûte 4'<br />

Tremblant fort (Bombarde) * 16'<br />

Schiebekoppel G.O.–Pos. Trompette 8'<br />

Clairon 4'<br />

* erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts<br />

Klaviaturumfänge (Beispiel, gemäss [7]): Positif und Grand-Orgue: AA / C–c 3 ;<br />

Récit: g° oder c 1 –c 3 ; Écho: c°–c 3 ; Pedal: AA / C–f 1 .<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


11<br />

Das Echowerk erhielt ein kleines Prinzipalplenum, das bereits um 1700<br />

wieder verschwand. Dagegen wurde der Cornet 5-fach auf zwei oder<br />

drei Registerzüge aufgeteilt, wenn sich gleichzeitig eine Mixtur in diesem<br />

Werk befand. Dadurch konnten die 8', 4' und 2'-Einzelkomponenten des<br />

Cornet auch für das Mixturplenum gebraucht werden. Ferner kam oft<br />

noch eine Zunge dazu (Cromorne 8' oder Voix humaine 8').<br />

1688 trifft man erstmals, ab 1700 regelmässig ein Clairon 4' im Pedal<br />

grösserer Instrumente. Der Pedalumfang erhielt für die Zungenstimmen<br />

bei grossen Orgeln oft ein Ravalement ("Erweiterung") nach unten,<br />

manchmal bis zum Kontra-F, damit der Tonumfang für den Cantus firmus<br />

reichte. Pedalkoppeln wurden in dieser Zeit praktisch nicht gebaut. Die<br />

Tremulanten, der starke (Tremblant fort) und der sanfte (Tremblant doux)<br />

wurden zunehmend beliebt.<br />

1.4 1730–1791: Ausbau auf fünf Manuale zugunsten Klangkraft,<br />

Lautstärke (Bombardenwerk) und Orchesterimitation, sowie<br />

16'-Pedal<br />

In der Zeit nach 1730 zielte das Klangideal entsprechend dem Vorbild<br />

der Orchesterinstrumente auf Gravität und Klangkraft. Prinzipal-, Weitchor<br />

und Zungenchor wurden mit vorwiegend 8'- und 16'-<strong>St</strong>immen angereichert<br />

sowie die Klaviaturumfänge in Manual und Pedal erweitert. Im<br />

Hauptwerk baute man das Prinzipalplenum aus, oft bis zum gedeckten<br />

oder offenen 32'. Die Zungenbatterie erhielt Verstärkung, teils durch<br />

Doppelbesetzung: erste und zweite Trompette 8', Clairon 4', ev. auch<br />

zweites Clairon 4'.<br />

Entsprechend erhielt der Positif oft eine 16'-Basis, zusätzlich eine<br />

Trompette 8', ein Clairon 4' und im Diskant ein Cornet 5f. zur Verstärkung<br />

der Zungenstimmen. Zwischen G.O. und Récit kommt neu als<br />

III. Manual ein Bombardenwerk mit Bombarde 16', das fix an das<br />

Hauptwerk gekoppelt sowie an das Pedal gekoppelt oder koppelbar war.<br />

Dieses Werk konnte in besonders grossen Orgeln noch weitere Register<br />

enthalten: eine oder zwei Trompeten 8', Clairon 4', ev. auch Cornet 5f. im<br />

Diskant.<br />

Dagegen ging die Besetzung der kleinen Klaviere eher zurück: Im Récit<br />

(IV) blieben Cornet, Trompette, (ev. Hautbois 8') – mit Flûte 8' zur "Abdeckung"<br />

der Zungen. Im Echowerk (V) konnte ev. Cornet fehlen, neu<br />

kamen Trompette 8' und Flûte 8' dazu.<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


12<br />

Im Pedal – zu dem nun auch die Basstöne des koppelbaren III. Manuals<br />

gehörten – wurden die bisherigen Grundstimmen durch Flûte 16' ergänzt,<br />

in der Normandie oft noch durch Nazard 2⅔', Quarte de Nazard 2'<br />

und Tierce 1 3 /5', ja sogar durch Double Nazard 5 1 /3' und Double Tierce<br />

3 1 /5'.<br />

Ein berühmtes Beispiel dieses späten Typs steht in Saint-Maximin-en-<br />

Var (1772, IV/43). Auf Positif, Grand-Orgue, Résonance und Récit<br />

besitzt die Orgel 14 mehrheitlich vollbecherige Zungenstimmen. 22<br />

Prinzipalregister ermöglichen gravitätische Plein-jeu-Registrierungen.<br />

Das Pedal besitzt keine eigenen Register. Das III. Manual (Résonance)<br />

ist fest an das Pedal gekoppelt und enthält Flûtes 16', 8' und 4',<br />

Bombarde 16', zwei Trompettes 8' und Clairon 4'. Im Diskant (Dessus)<br />

des III. Manuals werden auch die drei <strong>St</strong>immen angespielt, die einem<br />

Echowerk entsprechen.<br />

Saint-Maximin-La-Sainte-Baume (Var)<br />

Basilique Sainte-Marie-Madeleine<br />

Disposition (nach [18])<br />

I. Positif II. Grand-Orgue III. Résonance<br />

Montre 8' Montre 16' Flûte 16'<br />

Bourdon 8' Bourdon 16' Flûte 8'<br />

Flûte 8' Montre 8' Flûte 4'<br />

Prestant 4' Bourdon 8' Bombarde 16'<br />

Doublette 2' Prestant 4' 1ère Trompette 8'<br />

Quarte 2' Double Nasard 5⅓' 2è Trompette 8'<br />

Nasard 2⅔' Double Tierce 3 1 /5' Clairon 4'<br />

Tierce 1 3 /5' Dessus de<br />

Larigot 1⅓' Cornet 5f. Dessus de Flûte 8'<br />

Dessus de Grande Fourniture 2f. Dessus de<br />

de Cornet 5f. Petite Fourniture 4f. Trompette * 8'<br />

Fourniture 3f. Cymbale 4f. Dessus de Cornet 5f.<br />

Cymbale 3f. Trompette 8'<br />

Trompette 8' Dessus de IV. Récit<br />

Cromorne 8' Trompette * 8'<br />

Clairon 4' Voix humaine 8' Cornet 5f.<br />

Clairon 4' Trompette 8'<br />

Hautbois 8'<br />

Weitere Angaben zur Orgel:<br />

• Orgel erbaut von Jean-Esprit Isnard, IV/aP (=angehängtes Pedal), 43, 1772/73<br />

• Umfang der Manuale I, II und III: CD-d 3 ; IV: g°-d 3<br />

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13<br />

• Das Pedal (CD-g 1 ) hat keine selbständigen <strong>St</strong>immen und<br />

ist fix an das III. Manual gekoppelt.<br />

• <strong>St</strong>immen, welche mit "Dessus de" bezeichnet sind, erklingen nur im Diskant.<br />

• * Dessus de Trompette en chamade = Horizontaltrompeten im Prospekt<br />

• Manualkoppeln: Pos./G.O., Rés./G.O.<br />

• Tremblant doux<br />

Mit der Revolution fand die Blütezeit der französischen Orgel ihr Ende.<br />

Die meisten Instrumente wurden zerstört. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />

konnte sich eine neue Orgelkultur entwickeln, die in ein konzertantromantisches<br />

Konzept mündete und mit den Instrumenten von Cavaillé-<br />

Coll (1811–1899) einen erneuten Höhepunkt fand.<br />

2. Die Orgel im Gottesdienst und ihr Einfluss auf die<br />

musikalischen Formen<br />

Mit dem Ende der Hugenottenkriege und dem endgültigen Beitritt Heinrichs<br />

IV. zur römischen Kirche im Jahre 1593 – zwecks Übernahme des<br />

französischen Königsthrones – wurde die katholische Liturgie auch<br />

massgebend für die Entwicklung der Orgelmusik. Frühe Kompositionen,<br />

die noch deutlich dem Kontrapunkt und der Polyphonie verpflichtet sind,<br />

finden wir in den zwei bereits erwähnten Sammlungen von Jehan<br />

Titelouze (Hymnes de l'église 1623 und Le Magnificat 1626). In diesen<br />

<strong>St</strong>ücken verwendet Titelouze noch mehrheitlich den Cantus-firmus-Satz.<br />

Auch in Frankreich pflegte man die Alternatim-Praxis im Gottesdienst.<br />

Die Orgel hatte die Aufgabe, einzelne Abschnitte des Mess-Ordinariums<br />

(der gleichbleibenden Teile der Messe), das <strong>St</strong>undengebet, bei der<br />

Vesper das Magnificat sowie die Hymnen des Kirchenjahres mit der<br />

Choralschola alternierend zu gestalten. So begann im Kyrie zum Beispiel<br />

die Orgel mit dem ersten Satz, die Schola antwortete mit dem zweiten<br />

Satz, dann wieder die Orgel etc. (insgesamt 9 Sätze für das Kyrie). Meist<br />

handelte es sich um die Choralmesse IV ("Cunctipotens genitor"), die in<br />

Frankreich damals bei höheren Festen üblich war.<br />

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14<br />

<strong>St</strong>renge Alternatim-Sätze, die einen gregorianischen Cantus firmus<br />

übernehmen oder bearbeiten, kommen allerdings nur in den frühen<br />

Sammlungen konsequent vor (Titelouze, Nivers, Lebègue). Als selbständige<br />

Messe-Sätze fielen der Orgel schon früh zusätzlich Offertorium,<br />

Elevation (Benedictus), Communio und Deo gratias als eigene Soli zu.<br />

Die Livres d’Orgue<br />

Entscheidend für die die neue klassische Epoche der französischen<br />

Orgelmusik wurde das Aufkommen der Livres d’Orgue, die in der Zeit<br />

von 1665–1737 im Druck erschienen. Den Anfang machten 1665<br />

Guillaume-Gabriel Nivers mit seinem erstem Orgelbuch (das zweite und<br />

dritte folgte 1667 und 1675) und Nicolas-Antoine Lebègue mit vier<br />

Sammlungen (1676, 1678, 1685 und 1688). Es folgten André Raison<br />

(1688 und 1714), Jacques Boyvin (1689), Gilles Jullien (1690), François<br />

Couperin (1690), Louis Marchand (1696), Nicolas de Grigny (1699),<br />

Gaspard Corrette (1703) und Michel Corrette (1737). Trotz ihres oft<br />

neutralen Titels (Livre d’Orgue, Pièces d’Orgue), enthalten diese Sammlungen<br />

praktisch ausschliesslich Messesätze. Sie spiegeln die Entwicklung<br />

der Tonsprache und der Registrierpraxis und waren geeignet zum<br />

Erlernen der neuesten Mode im Pariser Orgelstil.<br />

Bereits bei Guillaume-Gabriel Nivers (1632–1714), dem Begründer der<br />

französischen "Orgelmesse", tauchen die wesentlichen Elemente dieser<br />

neuen Kompositionsform auf: Abkehr von der Polyphonie, melodiestützende<br />

Harmonik für die Solostimmen und Festlegung einer bestimmten<br />

Registrierung.<br />

Wie oben besprochen, hingen die neuen musikalischen Gattungen eng<br />

mit den zeitgenössischen Orgeln zusammen, die um 1690 mit den<br />

Orgelbauern Robert Clicquot, A. Thierry, Lefebvre und den Organisten<br />

F. Couperin, Boyvin, de Grigny einen kunsthandwerklichen Höchststand<br />

erreicht hatten. Sie sind das Ergebnis einer fruchtbaren Zusammenarbeit<br />

zwischen Organisten und Orgelbauern, Ausdruck auch eines Bemühens,<br />

vokale und instrumentale Ensembleformen in den Orgelsatz aufzunehmen.<br />

Zu den bereits gewohnten Orgelmusikformen wie Plein jeu (oder<br />

Prélude) und Grand jeu traten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts<br />

neue Formen auf: Sätze für zwei bis vier obligate <strong>St</strong>immen: Duo, Trio,<br />

Quatuor, Fugue à cinq, Récit und chorische Ensembleformen (Concert<br />

de flûtes und Dialogue sur les Grands jeux). Die Récits boten eine<br />

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15<br />

Plattform für charakteristische Solo-Register wie Cromorne, Trompette,<br />

Cornet, Nazard, Tierce.<br />

In der Alternatimpraxis des Gottesdienstes verhielt sich die Orgel bald<br />

einmal recht selbständig: Während sich die Choralschola weiterhin an<br />

die Choralmelodie hielt, befolgte die Orgel ihren Cantus firmus meist nur<br />

noch in den ersten Sätzen und bewegte sich in den folgenden ziemlich<br />

frei, so dass von der (Vokal-) Musik, die sie zu vertreten hatte, oft nur<br />

noch die Kirchentonart übrig blieb.<br />

Beispiel: Couperin, Messe à l'usage des paroisses: Nur die beiden ersten<br />

Sätze und der letzte Satz des Kyrie halten sich an die Choralmelodie, wobei<br />

erster und letzter Satz als Plain chant (= Plein jeu mit Cantus firmus im Pedal)<br />

geschrieben sind).<br />

So ist erklärbar, dass bereits 1662 das Caeremoniale Parisiense [6, S. 40]<br />

vorschrieb, die Orgel habe in der Alternatim-Praxis ein Minimum an<br />

choralgebundener (Cantus firmus bezogener) Musik auszuführen. Trotzdem<br />

entfernte man sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch<br />

weiter von dieser strengen Bindung.<br />

Die Orgelmusik folgte dafür andern Konventionen. Alle liturgischen <strong>St</strong>ücke<br />

begannen mit einem Plein-jeu-<strong>St</strong>ück und schlossen mit einem Grand jeu;<br />

die "Offertoires" sind oft Dialogues zwischen den Grands jeux. In den<br />

Orgelversen traten anstelle der Choralmelodie zuweilen Textdeutungen<br />

auf (zum Beispiel das "Domine Deus" im Gloria von Couperins "Messe<br />

pour les paroisses"; das "Benedictus" aus der gleichen Messe erinnert an<br />

Elevationstoccaten von Frescobaldi).<br />

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts traten Gregorianik und<br />

Kontrapunktik weiter in den Hintergrund. Die grosse Zeit der Messbearbeitungen<br />

eines François Couperin oder N. De Grigny endete ziemlich<br />

genau mit dem Ende des 17. Jahrhunderts. Die zunehmende Bevorzugung<br />

Cantus-firmus-freier Versetten und freier Orgelstücke hatte<br />

den Vorteil, dass die <strong>St</strong>ücke vielfältig verwendbar waren. Solche<br />

volkstümliche Charakterstücke wurden um 1700 erstmals als "Suite"<br />

bezeichnet.<br />

Auch die mit "Prélude" überschriebenen Sätze (Plein-jeu-<strong>St</strong>ücke) erhielten<br />

ausserhalb der Liturgie konzertante Bedeutung. Meister wie<br />

François Couperin und Louis Marchand schufen breit ausgeführte<br />

Tierce-en-taille-Sätze oder Offertoires. Besonders die Offertoires<br />

(mehrteilige Grand-Jeu-<strong>St</strong>ücke) boten Gelegenheit zu einem längeren<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


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virtuosen Orgelspiel, oft auch improvisiert – eine konzertante Tradition<br />

die bis ins 20. Jahrhundert hinein gepflegt wurde.<br />

Als besondere Gattung entstand 1682 die Bearbeitung volkstümlicher<br />

Weihnachtslieder, zunächst in Form von einfachen, schlichten Variationsreihen<br />

(Lebègue). Im 18. Jahrhundert wurden diese <strong>St</strong>ücke kompositorisch<br />

zunehmend anspruchsvoller und umfangreicher. Ein eigentlicher<br />

Boom entstand ab 1715 mit einem Höhepunkt um 1745 mit Louis-<br />

Claude Daquin. Die Popularität der Noëls fand nicht überall Gefallen.<br />

Balbastre etwa erhielt 1762 vom Erzbischof ein Verbot, in der Weihnachtsmette<br />

solche Noëls zu spielen. Mit dem Repertoire der Noëls<br />

wandte sich die Orgelmusik weiter ab vom herkömmlichen liturgischen<br />

Spiel und folgte damit dem Trend in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts,<br />

wo Virtuosität, Tonmalereien und galante Formen zunehmend<br />

Einzug in die Orgelmusik erhielten.<br />

3. Die wichtigsten Komponisten dieser Epoche<br />

<strong>Franz</strong>ösische Komponisten und einige Zeitgenossen in Mitteleuropa<br />

Jean (Jehan) Titelouze ~1563 – 1633 J. P. Sweelinck 1562–1621<br />

G. Frescobaldi 1583–1643<br />

S. Scheidt 1587–1654<br />

Louis Couperin ~1626 – 1661 J. J. Froberger 1616–1667<br />

François Roberday 1624 – 1680<br />

Nicolas Lebègue (Le Bègue) ~1631 – 1702<br />

Guillaume-Gabriel Nivers ~1632 – 1714<br />

Nicolas Gigault ~1627 – 1707 D. Buxtehude 1637–1707<br />

Gilles Jullien ~1651 – 1703<br />

André Raison ~1640 – 1719 Jan Adam Reincken 1643–1722<br />

Jacques Boyvin ~1649 – 1706<br />

Nicolas de Grigny 1672 – 1703<br />

Louis Marchand 1669 – 1732<br />

François Couperin ("Le Grand") 1668 – 1733<br />

Gaspard Corrette ~1671– ~1733<br />

Pierre du Mage 1674 – 1751<br />

Louis-Nicolas Clérambault 1676 – 1749 Antonio Vivaldi 1678–1741<br />

Jean-François Dandrieu ~1682 – 1738 Johann Seb. Bach 1685–1750<br />

Louis-Claude Daquin (d'Acquin) 1694 – 1772 Domenico Scarlatti 1685–1757<br />

Claude Balbastre 1724 – 1799<br />

Es kann nicht Ziel dieser kurzen Darstellung sein, die Bedeutung der<br />

einzelnen Komponisten gebührend zu würdigen. Dennoch wäre ein Aufsatz<br />

über französische Orgelmusik ohne ihre Erwähnung unvollständig.<br />

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17<br />

Ausführliche Angaben sind in der Literatur heute leicht zugänglich. Die<br />

nachfolgenden Angaben stützen sich im Wesentlichen auf Informationen<br />

aus der deutschen und französischen Ausgabe von Wikipedia.<br />

Jean (Jehan) Titelouze (~1563–1633)<br />

wirkte ab 1588 an der Kathedrale in Rouen. Noch verwurzelt in der Vokaltradition der<br />

Renaissance und in der Polyphonie, gehören seine Hymnen und Magnificat-Bearbeitungen<br />

zu den frühesten bekannten Sammlungen von Orgelmusik. Er gilt daher<br />

als Pionier der französischen Orgelmusik dieser Epoche.<br />

Louis Couperin (~1626–1661)<br />

aus Chaumes-en-Brie. Onkel von François Couperin ("Le Grand"). 1653 Organist an<br />

<strong>St</strong>-Gervais in Paris und Musiker am Versailler Hof, vermutlich bekannt mit Froberger<br />

und der Musik Frescobaldis, gefeierter Cembalist, Organist und Bratschist. Der frühe<br />

Tod verhinderte die Drucklegung seiner Werke. Gleichwohl ist Louis Couperin bedeutsam<br />

für die französische Cembalo- und Orgelmusik (u.a. auch für den <strong>St</strong>il der<br />

sog. Préludes non-mesurés).<br />

François Roberday (1624–1680)<br />

geboren in Paris, stammt aus einer Goldschmiede- und Musikerfamilie. Organist an<br />

verschiedenen Kirchen von Paris. Vielleicht war Jean-Baptiste Lully einer seiner<br />

Schüler. Roberday gehört zu den letzten Vertretern der polyphonen Tradition eines<br />

Titelouze oder Louis Couperin.<br />

Nicolas Lebègue (Le Bègue) (~1631–1702)<br />

geboren in Laon, ca. 1650 in Paris, wo er ab 1664 an Saint-Merri bis zu seinem Tod<br />

als berühmter Organist und Orgelberater tätig war. Sein Oeuvre umfasst unter<br />

anderem die frühesten Préludes non-mesurés sowie die ersten bekannten Noëls<br />

(Variationen über Weihnachtslieder). Schüler waren u.a. Nicolas de Grigny und Gilles<br />

Jullien.<br />

Guillaume-Gabriel Nivers (~1632–1714)<br />

geboren in Paris, stammt aus wohlhabender Familie. Um 1650 Organist an Saint-<br />

Sulpice bis 1702, daneben bis 1708 auch Organist der Chapelle royale. <strong>St</strong>arb in<br />

Paris. Nivers galt nicht nur als Organist und Komponist, sondern auch als Musiktheoretiker.<br />

Sein Premier Livre d'Orgue von 1665 war des erste beispielhafte Werk der<br />

berühmten "Orgelbücher" dieser Zeit.<br />

Nicolas Gigault (~1627–1707)<br />

geboren in Claye bei Paris. Ausbildung nicht bekannt, Organist an mehreren Pariser<br />

Kirchen. Ärmliche Verhältnisse, Seine finanzielle Situation verbesserte sich nach Antritt<br />

der Organistenstelle zu Saint-Honoré 1646 und besonders nach seiner Heirat<br />

1662. <strong>St</strong>arb in Paris.<br />

Gilles Jullien (~1651–1703)<br />

Über Leben und Werdegang ist nur wenig bekannt. Ab 1667 möglicherweise Organist<br />

an der Kathedrale von Chartres bis zu seinem Tod.<br />

André Raison (~1640–1719)<br />

geboren in Nanterre (heute Vorort von Paris), dort Organist an der Abtei, später auch<br />

an der Jesuitenkirche Paris und an der Kirche der Jakobiner. Obwohl er gegen Ende<br />

des Jahrhunderts zu den Spitzen der Pariser Organisten zählte – Louis-Nicolas<br />

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18<br />

Clérambault gehörte zu seinen Schülern –, lebte er bescheiden und zurückgezogen.<br />

Sein Premier Livre d'Orgue enthält umfangreiche Anweisungen für angehende<br />

Kirchenmusiker. In seiner Orgelmusik bemerkt man erstmals den Übergang zum<br />

suitenähnlichen <strong>St</strong>il [1].<br />

Jacques Boyvin (~1649–1706)<br />

vermutlich geboren in Paris. Ab 1674 Organist der Kathedrale von Rouen bis zu<br />

seinem Tod. In seinen beiden Livres d'Orgue (1689–1700) entwickelt er die von<br />

Nivers und Lebègue geschaffenen Formen in einem grossartigen <strong>St</strong>il – auch für die<br />

Registrierpraxis eine wichtige Informationsquelle.<br />

Nicolas de Grigny (1672–1703)<br />

von Reims, aus einer traditionsreichen Organistenfamilie. Schüler von Nicolas<br />

Lebègue. 1693 und 1695 Organist an Saint-Denis in Paris, kam dort mit dem Werk<br />

von Nicolas Lebègue in Kontakt. Ab 1696 Titularorganist an Notre-Dame de Reims.<br />

Zusammen mit François Couperins Kompositionen gehört sein (übrigens einziges)<br />

Orgelbuch zu den bedeutendsten Orgelwerken des klassischen französischen<br />

Barock. Auch der junge J. S. Bach hat sich mit Grignys Werk beschäftigt.<br />

Louis Marchand (1669–1732)<br />

Wunderkind einer Organistenfamilie aus Lyon. Möglicherweise schon vor dem 20.<br />

Lebensjahr in Paris, schuf er sich rasch einen virtuosen Ruf. Ab 1689 Organist an<br />

zahlreichen Kirchen; ca. 1707 Organist am königlichen Hof. 1713–1717 Deutschland-<br />

Reise. Gemäss deutscher Legende soll er sich 1717 am Dresdner Hof einem musikalischen<br />

Wettstreit mit Johann Sebastian Bach entzogen haben. Zurück in Paris<br />

Organist an der Église des Cordeliers bis zu seinem Tod. Marchand soll überheblich<br />

gewesen und ein heftiges, skandalumwittertes Temperament besessen haben.<br />

François Couperin ("Le Grand") (1668–1733)<br />

Neffe von Louis Couperin und berühmtestes Mitglied der weitverzweigten Musikerfamilie.<br />

Ausbildung bei seinem Vater. Ausgesprochen vielseitiger Komponist. Organist<br />

an Saint-Gervais in Paris und an der Chapelle royale. Zusammen mit Jean-<br />

Philippe Rameau Bedeutung als grosser Meister des Cembalos. Von aussergewöhnlicher<br />

Qualität ist seine bekannte Sammlung mit zwei Messen von 1690: Pièces<br />

d'Orgue / Consistantes en deux Messes / l'une à l'usage ordinaire des paroisses pour<br />

les fêtes solemnelles, l'autre propre pour les Couvents de Religieux et Religieuses<br />

(Paris, 1690). Die Sammlung gehört zu den grossen Meisterwerken der französischen<br />

Orgelliteratur.<br />

Gaspard Corrette (~1671– ~1733)<br />

aus Rouen, ab 1720 in Paris. Als einzig bekanntes Werk komponierte er 1703 die<br />

letzte Orgelmesse in der französischen Tradition des 17. Jahrhunderts.<br />

Pierre du Mage (1674–1751)<br />

studierte im Alter von 20 Jahren in Paris bei Louis Marchand, erhielt dann durch<br />

Nicolas Lebègue 1703 die Organistenstelle an Saint-Quentin. 1710 Organist der<br />

Kathedrale von Laon, gab aber die Musikerstelle wegen Spannungen mit den Vorgesetzten<br />

bereits mit 45 Jahren auf. Das Premier Livre d'Orgue, seine einzige<br />

erhaltene, gleichwohl bedeutende Sammlung, erschien 1708.<br />

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Louis-Nicolas Clérambault (1676–1749)<br />

geboren und gestorben in Paris, stammt aus einer Musikerfamilie. Schüler von André<br />

Raison. 1715 Organist an Saint-Sulpice, 1719 Nachfolger seines Lehrers André<br />

Raison an der Orgel der Grands-Jakobiner.<br />

Jean-François Dandrieu (~1682–1738)<br />

geboren und gestorben in Paris. Entstammt einer Künstler- und Musikerfamilie. Erste<br />

Auftritte am Cembalo mit fünf Jahren vor Louis XIV. 1705 Organist an Saint-Merri in<br />

Paris. 1721 Mitglied der Chapelle royale.<br />

Louis-Claude Daquin (d'Acquin) (1694–1772)<br />

in Paris geboren, die Familie stammt aus Italien. Wunderkind. Eine Zeitlang Schüler<br />

von Marchand, 1732 dessen Nachfolger an der Église des Cordeliers. 1739 an den<br />

Hof berufen, 1755 Titularorganist an Notre-Dame de Paris. Umworbener Virtuose auf<br />

Cembalo und Orgel, besonders mit seinen kunstreichen Noëls.<br />

Claude Balbastre (1724 – 1799)<br />

Mit 13 Jahren Nachfolger seines Vaters an der Kirche <strong>St</strong>-Étienne in Dijon. 1751<br />

Organist an der Kirche <strong>St</strong>-Roch in Paris, 1760 an Notre-Dame. 1766 Organist und<br />

Cembalolehrer von Königin Marie Antoinette, 1776 Organist an der Chapelle royale.<br />

Erhielt 1762 Spielverbot an der Orgel durch den Erzbischof, da die Zuhörer wegen<br />

der gespielten Noëls die Kirche nicht für die nachfolgenden Messen räumen wollten.<br />

Zwar weiter Organist an Notre-Dame, bevorzugte er gegen Ende seines Lebens revolutionäre<br />

Motive und spielte an der Orgel Fantasien über revolutionäre Hymnen.<br />

Dom Bédos de Celles (1709–1779)<br />

Obwohl kein Komponist, sei er als bedeutender Orgelbauer und Orgeltheoretiker hier<br />

erwähnt. Im Auftrag der Pariser Akademie der Wissenschaften schrieb er 1766 bis<br />

1778 das grundlegende Werk L'Art du facteur d'orgues [16].<br />

4. Registrierung auf der klassisch-französischen Orgel<br />

4.1 Allgemeines<br />

4.1.1 Klanggestaltung – zum Beispiel "Jeu inégale"<br />

Bekanntlich lässt sich die Lautstärke eines Tons bei der Orgel wie auch<br />

beim Cembalo nicht durch die Art des Anschlags beeinflussen. <strong>St</strong>attdessen<br />

verlangen diese Instrumente spezifische Fähigkeiten, mit den<br />

Tasten umzugehen, was schon die alten <strong>Franz</strong>osen als "Art de toucher"<br />

bezeichneten. Die Klanggestaltung beschränkt sich auch in der französischen<br />

Orgelmusik keineswegs auf die Kunst der Registrierung,<br />

sondern umfasst unter anderem lebendige Agogik, einfallsreiche Ornamentik<br />

oder eine anspruchsvolle Artikulation mit differenzierten Abstufungen<br />

zwischen <strong>St</strong>accato und Legato. Darauf einzugehen, würde den<br />

Rahmen dieses Bulletins sprengen. Trotzdem soll eine fast sprichwörtlich<br />

französische Art der Agogik, das "Jeu inégale", kurz erwähnt werden,<br />

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das zwar vereinzelt auch in Spanien, Italien und ab dem 16. Jahrhundert<br />

auch in Deutschland praktiziert wurde.<br />

Jeu inégale bedeutetet ungleichmässiges Spiel von zwei gleich lang<br />

notierten, meist Achtel-Notenwerten, die in der Regel lang-kurz (seltener<br />

kurz-lang) ausgeführt werden. Inegal können Notenwerte gespielt werden,<br />

von denen zwei oder vier auf eine Zählzeit fallen, also zum Beispiel Sechzehntelgruppen<br />

im 4/4-Takt. Im langsamen Dreivierteltakt werden eher die<br />

Sechzehntel, im raschen Dreivierteltakt eher die Achtel inegal gespielt.<br />

Eine Pause vor einer einzelnen Achtelnote wird ebenfalls inegal<br />

behandelt:<br />

Inegalität gilt nur bei paarweise auftretenden Noten- und Pausenwerten.<br />

Sie gilt in der Regel nur bei Sekundschritten, also nicht bei grösseren<br />

Intervallen.<br />

Das Jeu inégale war sehr beliebt, weil es der Musik mehr Ausdruck und<br />

Anmut gebe und das Spiel animiere. Die Überlieferung durch mechanische<br />

Spieluhren belegt, dass diese Spielart keineswegs stur gehandhabt<br />

wurde. Sonst hätte man sich kaum die Mühe gemacht, diese Unregelmässigkeit<br />

bei einem mechanischen Automaten zu realisieren. Oft ist die<br />

Inegalität nur schwach oder kaum wahrnehmbar.<br />

Auch für das inegale Spiel gelten die Regeln des "Bon goût" der <strong>Franz</strong>osen<br />

[10]. Es soll gut dosiert und muss nicht überall ausgeführt werden, wo<br />

es möglich ist. Dabei gibt es eine breite Skala zwischen Punktierung und<br />

kaum merklicher Verlängerung.<br />

4.1.2 Allgemeine Bemerkungen zum Klang der Pfeifen und<br />

zu den Registern der klassisch-französischen Orgel<br />

Bei den Lippenpfeifen (Labialregistern) entsteht der Ton durch eine<br />

schwingende Luftsäule. Zu ihnen gehören die Prinzipalregister: Sie<br />

bewirken den typischen, kräftigen, warmen, besonders in der Tiefe oft<br />

leicht streichenden Orgelklang. Der Durchmesser dieser Pfeifen ist "mittelweit",<br />

d.h. nicht so weit wie jener der Flöten (aber auch nicht so eng<br />

wie bei den sogenannten <strong>St</strong>reicherregistern, die erst im romantischen<br />

Orgelbau aufkamen). Eine Besonderheit: Im Pedal der französischen<br />

Barockorgel bedeutet Flûte 8' ein relativ weites Prinzipalregister.<br />

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Beispiele: Montre (Prinzipal), Prestant 4' (Oktav 4'), Doublette 2' (Superoktav 2').<br />

Auch die (Prinzipal-) Mixturen (= mehrchörige Obertonregister) gehören dazu; diese<br />

Pfeifendurchmesser sind etwas enger als jene der 8-', 4'- und 2'-Prinzipale.<br />

Eine weitere Gruppe der Lippenpfeifen, die Flötenregister tönen flötenartig.<br />

Die Pfeifen haben ein weites Lumen. In der 8'- oder 16'-Lage sind<br />

sie häufig gedeckt (Bourdon oder Gedackt 8' bezw. 16'). Dadurch wird<br />

der Grundton verstärkt, aber auch der Quint-Oberton besser hörbar.<br />

Von sehr weitem Durchmesser sind die sog. Aliquot-Flötenregister, d.h.<br />

solche, die anstelle der gespielten Note einen Oberton (z.B. Quinte oder<br />

Terz) oder bei mehrchörigen Registern mehrere Obertöne enthalten.<br />

Beispiele: Nazard, Tierce, Larigot; mehrchörig: Cornet 5-fach.<br />

Bei den Zungenpfeifen (Lingualpfeifen) entsteht der Ton durch eine<br />

schwingende Metallzunge in der Pfeife. Trompette und Clairon haben<br />

konische Becher und sind weiter gebaut als Cromorne und Regal. Der<br />

Klang dieser Register ist entsprechend charakteristisch.<br />

4.1.3 Einige Tipps zum Registerhören und -erkennen<br />

Zu den fesselnden Eindrücken der klassisch-französischen Orgelmusik<br />

gehören die sehr plastischen und farbigen Registrierungen, die eine<br />

offensichtliche Freude der <strong>Franz</strong>osen an Klängen und Registermischungen<br />

verraten. Für noch wenig erfahrene Interessierte hier einige Hörtipps,<br />

die natürlich an der Orgel selbst am besten zu demonstrieren<br />

sind.<br />

• Prinzipalregister oder Flötenregister, deren Fusszahlen in einem Bruch angegeben<br />

sind, enthalten (und verstärken) die quint- und terzhaltigen Obertöne<br />

eines Grundtones.<br />

• Aliquot-Flötenregister sind Einzel- oder Sammelzüge, die Quinten (5⅓'), 2⅔',<br />

1⅓') oder Terzen (3 1 /5', 1 3 /5') enthalten. Handelt es sich um Quinten, so erhält<br />

der Klang einen quirligen, spritzigen, in tieferen Lagen auch näselnden<br />

Charakter. Handelt es sich um Terzen, bewirken diese Obertonregister einen<br />

verblüffend glockenartigen oder gar bläserartigen Klang, obwohl es sich um<br />

weite und an sich weiche, flötenartige <strong>St</strong>immen handelt.<br />

• Die Oberton-Register der Prinzipalfamilie, vor allem ihre mehrchörige "Klangkrone"<br />

(Mixtur, Cymbel, frz. Fourniture, Cymbale) bewirken den typischen<br />

strahlenden Orgelklang. Im Gegensatz zu Deutschland enthält dieses "Plein<br />

jeu" in Frankreich nie ein Terzregister und kein Zungenregister.<br />

• Umgekehrt enthält das "Grand jeu" der <strong>Franz</strong>osen keine Mixtur-Klangkrone,<br />

dafür eine (terzhaltige) Cornet-Registrierung und Zungenregister. So entsteht<br />

der kernig-herbe Klang des gravitätisch-festlichen Orgelplenums.<br />

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22<br />

• Unter den Zungenregistern gibt es langbecherige (Trompete, Clairon, Posaune,<br />

Bombarde, Cromorne) und kurzbecherige (Voix humaine 8', Regale), die im<br />

Klang sehr charakteristisch sind: Schmetternde Trompeten oder "meckernde"<br />

Regale.<br />

• Die Zungenstimmen werden bei den <strong>Franz</strong>osen praktisch nie alleine verwendet,<br />

sondern mit Labialen gemischt, mindestens mit Bourdon 8'; ev. Prestant (Oktav)<br />

4' oder Flûte 4'. Solche "Abdeckung" durch Labialregister bewirkt eine gewisse<br />

Milderung des manchmal aggressiven Zungenklanges, besonders bei obertonreichen<br />

kurzbecherigen Zungenregistern.<br />

4.1.4 Fachbegriffe in der klassisch-französischen Orgelmusik des<br />

17. und 18. Jahrhunderts<br />

Accouplement (Manual-)Koppel<br />

Bombarde Trompetenregister 16' oder 32'<br />

(Mensur weiter als bei Trompete)<br />

Bombardenwerk,<br />

Bombarde<br />

Bourdon<br />

Clairon Trompete 4'<br />

Claviers accouplés Manuale gekoppelt<br />

Cornet<br />

(= Cornet composé)<br />

Cornet décomposé<br />

= Jeu de Tierce<br />

Cornet séparé<br />

Cymbale<br />

Dessus<br />

Doublette<br />

en taille<br />

Flûte<br />

Fonds<br />

mit starken Zungen (und gemischten <strong>St</strong>immen)<br />

besetztes Manualwerk<br />

Gemäss Dom Bédos Bezeichnung für alle gedeckten<br />

(Gedackte) und rohrgedeckten Grundregister der Orgel:<br />

Bourdon, Rohrflöte (Flûte à cheminée).<br />

5-facher Einzelzug, ab c 1 (8', 4', 2⅔', 2', 1 3 /5'), zur<br />

Verstärkung des schwachen Diskants der Zungen (vor<br />

allem Clairon 4'). Nicht repetierend. Im Grand Cornet<br />

(G.C. = Cornet des G.O.) sind 4'- und 2'-Lage von<br />

Prinzipalmensur (Prestant 4' und Doublette 2'), sonst von<br />

weiter Mensur.<br />

"zerlegtes", aus den Einzelkomponenten (8', 4', 2⅔', 2',<br />

1 3 /5') zusammenstellbares Cornet (meist im Echowerk) (IV.<br />

Manual).<br />

Cornet-Soloregister (ab ungefähr f° bis c°) separat vom<br />

G.C., meist im Récit (III. Manual).<br />

Zimbel; zusammen mit Fourniture = Mixtur (= Plein-Jeu)<br />

Diskant<br />

(Super-) Oktave 2' (klingt eine "doppelte" Oktave höher als<br />

der 8').<br />

Solo im Tenor für linke Hand oder Pedal<br />

Im Pedal der frz. Barockorgel noch in der alten Bedeutung<br />

eines relativ weiten Prinzipalregisters (zu 8' oder 4').<br />

Grundstimmen, labiale Register der 16'-, 8'-, 4'-Lage<br />

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23<br />

Fonds doux<br />

zarte Grundstimmen, in der Regel ohne Prinzipale<br />

Fourniture<br />

zusammen mit Zimbel = Mixtur (= Plein-Jeu)<br />

Grand Plein jeu Plein jeu (Mixtur-Prinzipalplenum !) auf dem G.O.<br />

(Hauptwerk), nicht zu verwechseln mit Grand jeu.<br />

Grand jeu<br />

Zungen-Cornet-Plenum ohne Mixturen;<br />

ganz selten auch = Grand-Orgue<br />

G.O., Grand-Orgue Hauptwerk (im 17. und 18. Jahrhundert: II. Manual)<br />

Jeu<br />

Register, Registrierung<br />

Jeu de Tierce siehe Tierce<br />

Larigot<br />

Quinte 1⅓'<br />

Montre<br />

(Prospekt-) Prinzipal (8', auch 16', selten 4')<br />

Pédale de Flûte Oktavbass 8'<br />

Petit Jeu<br />

Grand-Jeu-Registrierung auf dem Positif<br />

nicht zu verwechseln mit Petit Plein jeu<br />

Petit Plein jeu Plein jeu des Positif (leicht und geschwind zu spielen)<br />

Plein-Jeu<br />

= Fourniture + Cymbale, immer zusammen gezogen;<br />

daher meist nur in einem Zug (Mixtur) (G. Lhôte empfiehlt<br />

Bindestrich zum Unterschied von Plein jeu [12])<br />

Plein jeu<br />

Mixtur-Prinzipalplenum<br />

Positif<br />

Im 17./18. Jahrhundert = Rückpositiv,<br />

spielbar auf dem I. Manual<br />

Prestant 4'<br />

Oktave 4'. Wird laut Dom Bédos so bezeichnet, weil nach<br />

diesem Register alle übrigen gestimmt werden.<br />

Quarte de Nazard 2' im Prinzip = Flöte 2', wird aber als Quarte zu Nazard 2⅔'<br />

verstanden und damit zu den Aliquoten (Obertonregistern)<br />

gezählt.<br />

Récit<br />

1. Im 17./18. Jahrhundert: Diskantsolowerk auf dem<br />

III. Manual, das Cornet séparé und ev. eine Trompette<br />

enthält.<br />

2. Solistisch geführte <strong>St</strong>imme (z.B. "Récit de Cromorne")<br />

[3. Im 19./20. Jahrhundert: Schwellwerk (Récit expressif)]<br />

Tierce 1. Terz (bis Ende 17. Jahrhundert = La grosse Tierce =<br />

weit mensurierte Terz, im Gegensatz zur prinzipalischen<br />

[engen] Terz, die später verschwindet)<br />

2. Jeu de Tierce = Cornet décomposé:<br />

Bourdon 8', Prestant 4', Nazard 2⅔', Tierce 1 3 /5'<br />

(ev. im G.O. Bourdon 16' mit Tierce 3 1 /5',<br />

ev. Doublette 2', Quarte de Nazard 2' und/oder<br />

Larigot 1⅓').<br />

NB. "Grosse Tierce" kann ausnahmsweise auch gleich-<br />

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24<br />

double Tierce =<br />

grande Tierce<br />

Tiercette = petite<br />

Tierce<br />

Tirasse (Abk. Tir.)<br />

Tremblant<br />

bedeutend sein mit "Grand jeu de Tierce", d.h. Jeu de<br />

Tierce du G.O. "Petite Tierce" wäre in diesem Zusammenhang<br />

= "Jeu de Tierce du Positif".<br />

Tierce 3 1 /5' (= lange Terz) =<br />

Oberton-Terz zum 16'-Register<br />

prinzipalmässig mensurierte (enge) Terz<br />

(verschwindet Ende 17. Jahrhundert)<br />

Pedalkoppel<br />

Tremulant. Unterschieden wird zwischen Tremblant doux<br />

und Tremblant à vent perdu (= Tr. fort), der auf die ganze<br />

Orgel wirkt.<br />

4.2 Registrierpraxis in Frankreich im 17. und 18. Jahrhundert<br />

Für die Zeit der Vorklassik (bis 1660) besitzen wir nur spärliche Registrierangaben.<br />

Der Universalgelehrte Marin Mersenne, ein Freund des<br />

Komponisten Jehan Titelouze (~1563–1633), berichtet in seiner Schrift<br />

Traité de l’harmonie universelle (1637) über Registriergewohnheiten der<br />

Pariser Organisten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sie gehen<br />

zum Teil vielleicht auf Titelouze selbst zurück, sind aber recht allgemein<br />

gehalten. Hier erfahren wir auch, dass Grundstimmen-Registrierungen,<br />

Duo, Trio und Récit sowie Cornet-Registrierungen (mit Tierce und/oder<br />

Nazard) bereits gebräuchlich waren [9]. Das Plein jeu enthielt in dieser<br />

Frühzeit noch ein prinzipalisches Terzregister (Tiercette 1 3 /5'). Auch gibt<br />

es Hinweise auf den Gebrauch von Spaltklängen mit fehlendem Pyramidenaufbau,<br />

also "Lücken-Registrierungen" mit 8' + 2' oder gar 16' + 2'.<br />

Über die von Titelouze seit seinem Amtsantritt 1588 gespielte und im<br />

Jahre 1600 umgebaute Orgel in der Kathedrale Rouen wissen wir nur<br />

wenig. Mersenne überliefert, dass sie – mit einem Bourdon 32' und zwei<br />

16'-Registern im Hauptwerk – zu den grössten damaligen Instrumenten<br />

zählte. Titelouze soll die meisten seiner Werke nur manualiter gespielt<br />

und häufig zumindest ein 16'-Register dazu benutzt haben. Das Pedal<br />

dieser Orgel enthielt Trompette 8', Bourdon 8' und eine offene Flûte 4',<br />

aber ohne Pedalkoppel und ohne ein 4'-Zungenregister. Der Pedalumfang<br />

war mit CD bis e' relativ gross. Über das Pedalspiel bei Titelouze ist<br />

vieles unklar. Bei fehlendem 16' im Pedal und fehlender Pedalkoppel<br />

konnte jedenfalls – zusammen mit einer 16'-Registrierung im Manual –<br />

ein Bass-Cantus firmus nicht realisiert werden, es sei denn, man spielte<br />

die 8'-Pedalstimme gleichzeitig mit dem 16' der linken Hand [7]. Mit dem<br />

Tod von Titelouze verlor auch die polyphone Orgelmusik an Bedeutung.<br />

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25<br />

Das Konzept der frühbarocken Orgel von Titelouze (Beispiel Poitiers,<br />

siehe 1.1) entwickelte sich weiter. So erreichte um 1640 die französische<br />

Orgel im Prinzip den neuen klassischen <strong>St</strong>il. Die Tradition der Registrierungen<br />

und der spezifisch französischen Formen beginnt 1665<br />

mit dem frühesten Livre d'Orgue, jenem von Guillaume-Gabriel Nivers,<br />

dem eine Reihe weiterer folgten (siehe Seite 14). Auch das grundlegende<br />

Werk über Orgelbau von Dom Bédos (1770) [16] ist hier zu<br />

erwähnen, da es auf weiten <strong>St</strong>recken ebenfalls Spiel- und vor allem Registrieranweisungen<br />

enthält. Besonders ausführlich sind die Registrierangaben<br />

bei Nivers, Lebègue, Raison, Boyvin, Jullien, Gaspard Corrette<br />

oder Dom Bédos.<br />

Die Komponisten gingen bei ihren Werken jeweils von einer einheitlichen<br />

Klangvorstellung aus, die dem Registerfundus des klassisch-französischen<br />

Orgeltyps entsprach (siehe Maximaldisposition, Seite 10). So<br />

konnten sie die Registrierungen verbindlich festlegen. Bei kleineren<br />

Instrumenten mussten diese natürlich entsprechend adaptiert werden.<br />

Die folgende Zusammenstellung soll in erster Linie das Prinzip der Registrierungen<br />

erläutern. Sie ist stark vereinfacht und verzichtet im Sinne<br />

eines Kompromisses weitgehend auf Eigenheiten einzelner Komponisten.<br />

Absicht ist, den <strong>Orgelfreunde</strong>n/innen einen Zugang zum Hörverständnis<br />

zu ermöglichen. Anfänger können sich vielleicht die Klänge<br />

anhand der Hörtipps (siehe Seite 21 f) vorstellen (lassen) – bitte sich<br />

durch allfälligen Frust nicht entmutigen lassen. Fortgeschrittene dürfen<br />

allenfalls interessante Informationen gerne genauer studieren. Fachpersonen<br />

werden in erster Linie die Fachliteratur [3,6,7,9,14,16] oder die<br />

Originalangaben in den Livres d'Orgue konsultieren.<br />

Abkürzungen:<br />

G.O. = Grand-Orgue (Hauptwerk, II. Manual)<br />

Pos. = Positif (= Rückpositiv, I. Manual)<br />

Manualkoppel bedeutet: Koppel Positif – G.O.<br />

Pedalkoppel (Tirasse): Koppel G.O. – Pedal<br />

4.2.1 Plein jeu und Plain Chant<br />

RH = rechte Hand<br />

LH = linke Hand<br />

Ein Plein jeu – das festlich-strahlende Prinzipalplenum – steht oft am<br />

Beginn eines liturgischen Zyklus und wird gelegentlich auch als Prélude<br />

bezeichnet. Auf dem Grand-Orgue (Grand Plein jeu) soll es in 16'-Registrierung<br />

ernst und feierlich, auf dem Positif (Petit Plein jeu) eher nach<br />

Cembalomanier, festlich-leicht, heiter und flink, gespielt werden. Auch<br />

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26<br />

einzelne Teile der Orgelmesse schliessen meist mit einem kurzen Petit<br />

Plein jeu.<br />

G.O.<br />

Pos.<br />

Ped.<br />

Montre 16', Bourdon 16', Montre 8', Bourdon 8', Prestant 4',<br />

Doublette 2', Fourniture, Cymbale<br />

Montre 8', Bourdon 8', Prestant 4', Doublette 2', Fourniture,<br />

Cymbale – Manualkoppel<br />

Pédale de Flûte (Flûtes 8' und 4'),<br />

für Plain Chant (= Cantus firmus): Trompette 8', Clairon 4'<br />

Das Plein jeu klingt homogen, plastisch und niemals schreiend. Einerseits<br />

liegt dies an den weichen Prinzipalregistern, anderseits an den<br />

Mixturen. Die französischen Mixturen repetieren häufiger (ab c° zweimal<br />

pro Oktave). Sie heben damit im Ensemble den Tonhöhenwert der Tonleiter<br />

auf, weil die Oktavzugehörigkeit eines Tones nicht mehr streng definiert<br />

ist. So tönt der Diskant relativ tief und mild, die Basslage eher hell.<br />

Im Gegensatz zu Deutschland repräsentiert das französische Plein jeu<br />

Homogenität und Gravität, nicht polyphone Transparenz. Für polyphone<br />

<strong>St</strong>ücke (z. B. Fugue grave) braucht man auf der französischen Orgel<br />

eine Zungenregistrierung (siehe Grand jeu 4.2.8 und Fugues 4.2.5).<br />

Eine Sonderform des Plein jeu ist der Plain Chant: Das Pedal übernimmt<br />

hier in langen Notenwerten den Cantus firmus. Dieser wird "Plain<br />

Chant" = Cantus planus genannt. Dessen Übersetzung als "eben" ausgehaltener<br />

Gesang erinnert an den Ausdruck "grad häbe" aus der<br />

Appenzeller Volksmusik. Der Brauch, das Pedal vor allem für eine<br />

Tenorstimme (Zunge 8' und 4') einzusetzen, illustriert die etwas ungewohnte<br />

Vorstellung, dass das Pedal nicht Bassklaviatur ist.<br />

4.2.2 Grundstimmenmischungen: Fond d'orgue und Jeu doux<br />

Grundstimmenmischungen eignen sich für leises Spiel und vor allem<br />

auch zur Begleitung von Soloregistern. Der Jeux doux, eine Mischung<br />

aus zarten Grundstimmen (Flöten ohne 16') auf der Grundlage der weich<br />

klingenden Montre 8' und/oder Bourdon 8', kann je nach Soloregister mit<br />

Flûte 4', Prestant 4', allenfalls sogar Nazard 2⅔' oder Doublette 2' ergänzt<br />

werden.<br />

Der Fond d'orgue klingt stärker und umfasst normalerweise auch die 16'<br />

Lage, sofern dies die <strong>St</strong>immführung der 8'-Solostimme im Pedal erlaubt<br />

(Vermeiden einer <strong>St</strong>immkreuzung!). Fond d'orgue soll man in langsamem<br />

Zeitmass, zärtlich und gesanglich spielen (G. Corrette 1703).<br />

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27<br />

G.O. Bourdon 16', Montre 8', Bourdon 8', Prestant 4'<br />

Pos. Bourdon 8', Prestant 4' oder Montre [allein?]<br />

Manualkoppel<br />

Ped. (Dom Bédos:) alle Grundstimmen, kein Tremblant<br />

4.2.3 Duo (meist als Duo sur les Tierces)<br />

RH → Pos.<br />

LH → G.O.<br />

Jeu de Tierce ODER Cornet séparé im Récit<br />

Jeu de Tierce (ev. mit 16'-Basis)<br />

+ ev. Trompette 8' ODER Cromorne 8'<br />

NB: Jeu de Tierce = Cornet décomposé, bestehend aus:<br />

Bourdon 8', Prestant 4', Nazard 2⅔', Tierce 1 3 /5'<br />

(ev. im G.O. Bourdon 16' mit Tierce 3 1 /5', ev.<br />

Doublette 2', Quarte de Nazard 2' und/oder Larigot 1⅓')<br />

4.2.4 Trio (à deux dessus)<br />

Zwei Oberstimmen in der rechten Hand und Unterstimme in der linken<br />

Hand, gespielt in ruhiger Bewegung. Registrierangaben unterschiedlich.<br />

Cromorne, Cornet und Jeu de Tierce eignen sich auch zur Registrierung<br />

bei mehreren Solostimmen (Duo, Trio, Quatuor).<br />

RH → Pos. Bourdon 8', Prestant 4', Nazard 2⅔', (Quarte de Nazard 2'),<br />

Tierce 1 3 /5'<br />

LH → G.O. Bourdon 8', Prestant 4', Nazard 2⅔', (Quarte de Nazard 2'),<br />

Tierce 1 3 /5' ODER Bourdon 8', Prestant 4', Zunge 8'<br />

RH → Pos. Cromorne 8' ODER Bourdon 8', Prestant 4', Nazard 2⅔'<br />

LH → G.O. Trompette 8' ODER<br />

Montre 8', Bourdon 8', Prestant 4', Flûte 4', Tierce 3 1 /5',<br />

Nazard 2⅔', Quarte de Nazard 2', Tierce 1 3 /5'<br />

Manualkoppel; Tremblant doux<br />

Récit Cornet 5f.<br />

4.2.5 Quatuor und Fugues<br />

Für Boyvin ist Quatuor gleichbedeutend mit "Fugue de mouvement"<br />

[15, S. 51f]. Er empfiehlt unter anderem folgende Registrierung:<br />

RH → Pos. Cromorne 8', Bourdon 8', Prestant 4', Tremblant doux<br />

LH → G.O. Jeu de Tierce (= Bourdon 8', Prestant 4', Nazard 2⅔',<br />

Quarte de Nazard 2', Tierce 1 3 /5')<br />

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28<br />

Eigentliche Quatuor-<strong>St</strong>ücke sind – wohl wegen ihrer spieltechnischen<br />

Schwierigkeiten – nur von Marchand und seinem Schüler J. A. Guilain<br />

(~1680–1739) überliefert. Dom Bédos beschreibt Registrierungen für das<br />

Quatuor mit einer je eigenen Klangfarbe pro <strong>St</strong>imme:<br />

Sopran → Récit Trompette 8' ODER Montre 8' und Bourdon 8'<br />

Alt → G.O. Petit Jeu de Tierce<br />

Tenor → Pos. Cromorne 8' und Prestant 4'<br />

Bass → Ped. Flûte 8' oder Jeu de Tierce<br />

Sopran → Récit Cornet<br />

Alt → G.O. Trompette 8' und Prestant 4'<br />

Tenor → Pos. Jeu de Tierce<br />

Bass → Ped. Flûte 8' und ev. Flûte 4'<br />

Die Fugue de mouvement, die für Dom Bédos – im Gegensatz zu<br />

Boyvin – offenbar nicht gleichbedeutend ist mit Quatuor, registriert<br />

Bédos mit Jeu de Tierce in G.O. und Pos. mit Manualkoppel [9, S. 191].<br />

Für die Fugue grave gibt es je nach Komponist verschiedene Vorschläge:<br />

1) G.O. mit Jeu de Tierce + Tremblant<br />

2) eine Art Grand jeu<br />

3) G.O. und Pos. mit Grundstimmen + Zungenregistrierung,<br />

Manualkoppel (Lebègue, Boyvin, Corrette, Dom Bédos).<br />

4.2.6 Récits und andere Solo-Registrierungen<br />

Die Darstellung von Solostimmen, zunächst vor allem im Diskant, war<br />

ein wichtiges Anliegen der französischen Organisten, deren Orgel ja mit<br />

entsprechend solofähigen Registern ausgestattet war. So galt die erste<br />

Erweiterung ihres Orgeltyps um die Mitte des 17. Jahrhunderts einem<br />

zusätzlichen Diskant-Soloklavier – wie das Musikstück ebenfalls "Récit"<br />

genannt – das ein Cornet und eine Trompette enthielt. Die Bezeichnung<br />

"Récit" für ein Orgelstück mit Solostimme (vorwiegend "Dessus" =<br />

Sopran und "en Taille" = Tenor) wurde offenbar in Assoziation an die<br />

solistischen Gesangspartien der Motetten übernommen und damit auch<br />

die Vorstellung von einer erzählenden, gesanglichen, oft zarten<br />

Ausdrucksweise. Es gibt anderseits auch Solostücke mit lebhafter<br />

Vortragsweise, die dann nicht als "Récit", sondern mit der chorischen<br />

<strong>St</strong>immlage der Solostimme, bezeichnet werden (z.B. Basse de<br />

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29<br />

Trompette, Basse de Cromorne). In der nachfolgenden Tabelle sind<br />

beide Arten dieser Solostimmen aufgeführt.<br />

a. Récit de Trompette (Diskant)<br />

RH → Récit Trompette 8' (de Récit)<br />

LH → G.O. Bourdon 8', Prestant 4'<br />

Vortragsweise: eher weicher Ausdruck<br />

b. Basse et Dessus de Trompette<br />

G.O. Trompette 8', (+ Clairon 4'), Bourdon 8', Prestant 4', Cornet 5f.<br />

Pos. Bourdon 8', Prestant 4', (und/oder Larigot 1⅓')<br />

Vortragsweise: lebhaft<br />

c. Récit de Voix humaine (Diskant)<br />

RH → G.O.<br />

LH → Pos.<br />

Voix humaine 8', Bourdon 8', Flûte 4', Nazard 2⅔', Tremblant<br />

Jeu doux (= Bourdon 8', Flûte 4'), ev. Tremblant doux<br />

Vortragsweise: kantabel und getragen<br />

d. Récit de Voix humaine (Bass)<br />

RH → Pos. Jeu doux (= Bourdon 8', Flûte 4'), ev. Tremblant doux<br />

LH → G.O. Voix humaine 8', Prestant 4'<br />

Vortragsweise: kantabel und getragen<br />

e. Récit de Cromorne (Diskant)<br />

RH Pos. Bourdon 8', (Flûte 4',) Cromorne 8'<br />

LH G.O. Bourdon 8' + Prestant 4' ODER Montre 8' allein<br />

Vortragsweise: sanft und anmutig<br />

f. Cromorne en Taille<br />

RH → G.O. (Montre 16', Bourdon 16',) Montre 8', Bourdon 8', (Prestant 4')<br />

LH → Pos. Bourdon 8', Prestant 4', (Nazard 2⅔'), Cromorne 8'<br />

Pédale Flûte 8', (+ ev. Flûte 4', Flûte 16')<br />

g. Basse de Cromorne<br />

RH → G.O. Montre 8' + Bourdon 8' ODER Bourdon 8' + Prestant 4'<br />

LH → Pos. Bourdon 8', Prestant 4', Cromorne 8'<br />

Vortragsweise: lebhaft<br />

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30<br />

h. Récit de Nazard (Diskant)<br />

RH → Pos. Bourdon 8', Prestant 4', Nazard 2⅔'<br />

LH → G.O. Bourdon 8', Prestant 4'<br />

Vortragsweise: zart<br />

i. (Récit de) Tierce en Taille<br />

RH → G.O. (Montre 16',) Bourdon 16', Montre 8', Bourdon 8', Prestant 4'<br />

LH → Pos. (Montre 8'), Bourdon 8', (Prestant 4'), Flûte 4', Nazard 2⅔',<br />

Doublette 2', (Quarte de Nazard 2'), Tierce 1 3 /5', Larigot 1⅓'<br />

Pédale Flûte 8', (+ ev. Flûte 4', Flûte 16').<br />

k. Récit de Cornet<br />

RH → Récit Cornet 5f.<br />

LH → G.O. Bourdon 8', Prestant 4'.<br />

Vortragsweise: lebhaft und mit schneller Bewegung<br />

4.2.7 (Concert de) Flûtes<br />

(nach Boyvin, Corrette)<br />

G.O. (Montre 8'), Bourdon 8', (Flûte 4')<br />

Bourdon 8', (Flûte 4')<br />

Pos.<br />

Manualkoppel, ev. Tremblant doux auf beiden Werken<br />

4.2.8 Grand jeu und Dialogue sur les Grands jeux<br />

(in Klammern = zusätzlich im frühen 18. Jahrhundert)<br />

G.O. (Montre 8',) Bourdon 8', Prestant 4', Nazard 2⅔',<br />

(Quarte de Nazard 2',) Tierce 1 3 /5', Cornet 5f, Trompette 8', Clairon 4'<br />

Manualkoppel, Tremblant fort<br />

Pos. Bourdon 8', Prestant 4', Nazard 2⅔', (Doublette 2'), Tierce 1 3 /5',<br />

Cromorne 8'<br />

III. Récit Cornet séparé<br />

IV. Echo Echo-Cornet<br />

Ped. Flûte 8', Flûte 4', (+ Zungenregister)<br />

Registrierung in der Spätklassik siehe nächste Seite<br />

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31<br />

Spätklassik (Dom Bédos ca. 1770):<br />

G.O. Cornet 5f., Prestant 4', Trompettes 8', Clairons 4', Cromorne 8'.<br />

Kein Tremblant.<br />

Pos. Cornet, Prestant 4', Trompettes 8', Clairons 4', Cromorne 8' (weglassen,<br />

wenn im G.O. nur eine Trompette und ein Clairon) [warum? F.L.]<br />

III. Récit Cornet séparé<br />

IV. Echo Echo-Cornet<br />

Ped. Trompettes 8', Clairons 4'<br />

Grand-jeu-<strong>St</strong>ücke mit dem kernig-herben, gravitätischen Plenum bilden<br />

in der Regel den festlichen Abschluss eines Hymnus, eines Magnificat,<br />

eines Abschlusses innerhalb oder später auch das Schlussspiel einer<br />

Orgelmesse. Grand jeu ist auch die bevorzugte Registrierung für die<br />

Offertoires und erscheint oft in Form eines "Dialogue" (abwechselndes<br />

"Gespräch" auf zwei Manualen). Ausserdem eignet sich diese polyphone<br />

Registrierung für langsame Fugen (Fugues graves).<br />

Charakteristisch an dieser Registrierung sind im Hauptwerk die Zungenregister<br />

(Trompette 8', Clairon 4') und der Cornet, im Positif Cromorne 8',<br />

ggf. Nazard 2⅔' und Tierce 1 3 /5'. Im Gegensatz zum Plein jeu enthält der<br />

Grand jeu also Zungen und Aliquoten, aber nie (Prinzipal-)Mixturen. Im<br />

17. Jahrhundert findet man zum Grand jeu noch unterschiedliche<br />

Angaben, unter anderem auch 16'-Register und "la grosse [= weite]<br />

Tierce" 3 1 /5'. Im 18. Jahrhundert werden die Zungen und Aliquoten gegenüber<br />

den Grundstimmen bevorzugt: Im Hauptwerk Trompette 8',<br />

Clairon 4', Bourdon 8', Prestant 4' und Cornet; im Positif Cromorne 8',<br />

Bourdon 8' und Prestant 4'. Das Cornet des Hauptwerks, das unmittelbar<br />

hinter den Prospektpfeifen erhöht aufgestellt ist, verstärkt den im<br />

Diskant relativ schwachen Klang der Zungen. Sofern vorhanden, haben<br />

auch Récit und Écho Zungen- und Cornetregistrierung. Das Pedal wird<br />

im Grand jeu erst in der späteren Zeit verwendet und wie im Plein jeu<br />

registriert (Pedalkoppel, anfänglich nur Flûte 8' und 4', später ebenfalls<br />

Zungenregister). Oft wurde zum Grand jeu auch der Tremblant fort gebraucht.<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


32<br />

Literatur<br />

1 Billeter, Bernhard. Begleittexte zum Zyklus "<strong>Franz</strong>ösische Orgelwerke aus vier<br />

Jahrhunderten" 01.02.1998–28.11.1999 in der Kirche zu Predigern, Zürich.<br />

Typoskript.<br />

2 Billeter, Bernhard. Orgelmusik ohne oder mit wenig Pedal. Was können<br />

Pianistinnen und Pianisten im Gottesdienst spielen? Musik und Gottesdienst 62.<br />

Jahrgang 2008. S. 91–99.<br />

3 Busch, Hermann J. (Hg.). Zur Interpretation der französischen Orgelmusik.<br />

Überarbeitete und aktualisierte Neuauflage. Berlin, Kassel 2009.<br />

4 Busch, Hermann J., Geuting Matthias (Hg.). Lexikon der Orgel. Artikel Frankreich.<br />

(H.J. Busch, K. Lueders) und Paris (K. Lueders). Laaber 2007.<br />

5 De Crauzat, Claude Noisette. Frankreich mit Elsass und Lothringen.<br />

In: Reichling, Alfred (Hg.). Orgel. Festgabe zur 50. Wiederkehr des Gründungstages<br />

der GdO […]. Seite 87–91. Kassel, Basel etc. 2001.<br />

ISBN 3-7618-1622-7.<br />

6 Diederich, Susanne. Originale Registrieranweisungen in der französischen<br />

Orgelmusik des 17. und 18. Jahrhunderts. Beziehungen zwischen Orgelbau und<br />

Orgelkomposition im Zeitalter Ludwigs XIV. Kassel, Basel etc. 1975.<br />

7 Faber, Rudolf / Hartmann, Philip. Handbuch Orgelmusik. Artikel Frankreich<br />

(Bernhard Billeter) S. 161–186. Kassel 2002.<br />

8 Edler, Arnfried. Geschichte der Klavier- und Orgelmusik. Band 1. Kapitel<br />

Orgelmesse (S. 184–227). Laaber 2007.<br />

9 Gay, Claude. Notes pour servir à la registration de la musique d'orgue française<br />

des XVII e et XVIII e siècles.In "L'organo", 1961/2, S.169–199. Brescia.<br />

10 Kooiman, Ewald. Die "Inégalité" in der französischen Barockmusik.<br />

In [3], S. 53–68.<br />

11 Lade, Günter. Die klassisch-französische Orgel. In: Die regionale Entwicklung des<br />

Orgelbaus in Frankreich, Spanien und Italien. Österreichisches Orgelforum 1988 /<br />

2+3. S. 71–76.<br />

12 Lhôte, Georges. Die französische Orgel,<br />

in: "Iso-Information" Nr, 1, 1969, S. 57 ff (= G3, S. 1 ff).<br />

13 <strong>Lüthi</strong>, <strong>Franz</strong>. Registrierung und Klangvorstellungen in der französischen<br />

Orgelmusik des 17. und 18. Jahrhunderts. Bulletin <strong>OFSG</strong> Nr. 4, 1984.<br />

14 Meylan, Daniel. Registrations françaises du Classicisme à la Révolution (XVIIe–<br />

XVIIIe siècle). La Tribune de l'Orgue 59/3 (2007) S. 25–33 und 59/4 (2007) S. 25–<br />

31.<br />

15 Musch, Hans: Registrierungen, Satztypen und Vortragsweisen in der klassischen<br />

französischen Orgelmusik des 17. und 18. Jahrhunderts.<br />

In [3], Seite 6 – 52.<br />

16 Rensch, Richard (Hg.): Dom Bédos – Die Kunst des Orgelbauers. L’Art du<br />

Facteur d’Orgues. Übersetzung Christoph Glatter-Götz.<br />

Orgelbau-Fachverlag, Lauffen am Neckar 1977.<br />

17 Sonnaillon, Bernard. Die Orgel. München 1985.<br />

18 www.uquebec.ca/musique/orgues/france/smaximinp.html<br />

Besucht am 05.01.2013.<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


33<br />

Die Mathis-Orgel in der <strong>St</strong>adtkirche <strong>St</strong>. Nikolaus in Wil<br />

<strong>Franz</strong> <strong>Lüthi</strong><br />

Wil war bereits um 754 alemannische Siedlung und erhielt von den Grafen<br />

von Toggenburg im Jahre 1200 das <strong>St</strong>adt- und Marktrecht. 1226 ging<br />

die <strong>St</strong>adt als Schenkung an das Kloster <strong>St</strong>. Gallen und erlangte Bedeutung<br />

als Residenz der Fürstäbte sowie als wichtiger strategischer Punkt.<br />

Im Jahre 1292 überfielen die Habsburger die <strong>St</strong>adt Wil und brannten sie<br />

nieder. 1301 ging sie an das Kloster <strong>St</strong>. Gallen zurück, wurde aber 1407<br />

erneut für kurze Zeit von den aufständischen Appenzellern eingenommen.<br />

Nach der französischen Revolution und dem Untergang des Klosters<br />

<strong>St</strong>. Gallen kam Wil 1798 als Munizipalgemeinde zum Kanton Säntis<br />

und wurde 1803 Politische Gemeinde im neuentstandenen Kanton.<br />

Die Kirche <strong>St</strong>. Nikolaus stammt aus der Zeit der <strong>St</strong>adtgründung um<br />

1200. Um 1304 entstand eine romanische Saalkirche. Im 15. Jahrhundert<br />

Erhebung zur Pfarrkirche anstelle von <strong>St</strong>. Peter ausserhalb der<br />

Mauern. 1429 spätgotischer Neubau als Rundpfeilerbasilika (Chor).<br />

Nach einem Unterbruch wurde das Langhaus um 1500 fertig gebaut.<br />

Veränderungen und Umbauten 1603, 1664, 1704, 1829, 1866/67,<br />

1932/33 mit Verlängerung des Schiffs nach Westen und Ersatz des<br />

Frontturms durch einen nachgebildeten Eckturm. 1981/83 Innenrestaurierung<br />

im Sinne einer baulichen Korrektur mit Erhaltung der künstlerischen<br />

Ausstattung früherer Epochen. Auf dem steilen Satteldach des<br />

Chors barocker Dachreiter mit Zwiebelhaube von 1729. Bronzeportale<br />

von Josef Büsser aus dem Jahr 1933, am Mittelportal mit Reliefszenen<br />

aus dem Leben des Nikolaus von Myra, umrahmt von Mosaiken des<br />

Wilers Karl Peterli. Diverse Umbauten und Renovationen haben im Lauf<br />

der Zeit inneres und äusseres Aussehen teilweise radikal verändert. Zu<br />

den prächtigsten Zeugen aus älterer Zeit gehört das Christophorus-<br />

Wandbild, das Hans Haggenberg (1450–1515) zugeschrieben wird.<br />

Geschichte der Orgel<br />

Spätestens seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wahrscheinlich<br />

aber schon früher, besass die <strong>St</strong>. Nikolauskirche eine Orgel. Gemäss<br />

aktuell zugänglichen Quellen wurde Orgelbauer Josef Braun aus<br />

Spaichingen (1807–1877) im Januar 1865 mit der Beurteilung und dem<br />

Abbruch der alten Orgel beauftragt. Wegen ausgedehntem Wurmbefall<br />

und schlecht gearbeiteten Zinnpfeifen riet er von einer Wiederverwendung<br />

für einen Neubau ab. So holte die Gemeinde Offerten ein für eine<br />

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<strong>St</strong>. <strong>Galler</strong> <strong>Orgelfreunde</strong> <strong>OFSG</strong> Bulletin <strong>OFSG</strong> 31, Nr. 1, 2013


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einfache Orgel mit 24 Registern auf zwei Manualen und Pedal. Von<br />

den drei offerierenden Orgelbauern, Josef Braun (Spaichingen), Kuhn &<br />

Spaich (Männedorf), Kyburz & Co. (Solothurn), erhielt Braun offenbar<br />

den Auftrag. Jedenfalls ist er im Januar 1866 an der Arbeit und entschuldigt<br />

sich wegen deren Verzögerung.<br />

1874 schlug Friedrich Goll (Luzern) einige Verbesserungen vor, unter<br />

anderem an den Zungenregistern. Es scheint, dass der beigezogene<br />

Experte, Domorganist Johann Gustav Eduard <strong>St</strong>ehle (1839–1915) mit<br />

der ausgeführten Arbeit nicht zufrieden war. Eine neuerliche, mit Kosten<br />

von Fr. 1345 scheinbar grössere Reparatur führten 1882 die Gebr.<br />

Klingler durch: Anbringen von Kollektivzügen und neues Gebläse – eine<br />

Arbeit, die Experte <strong>St</strong>ehle offenbar akzeptierte. 1894 wiederum Reparatur<br />

am Gebläse, diesmal durch Goll, möglicherweise Einsatz eines<br />

neuen Magazinbalges. 1910 beanstandet Kirchenmusiker Schenk die<br />

<strong>St</strong>öranfälligkeit der Orgel: Alterserscheinungen, Temperatureinflüsse; vor<br />

allem sei die Windlade defekt. Das neue Gebläse funktioniere allerdings<br />

gut. Schenk empfiehlt den einheimischen Orgelbauer Hochreutener für<br />

eine Reinigung, Intonation und umfassende Reparatur, da diese Arbeiten<br />

bei ihm preislich günstiger seien als bei Goll oder Kuhn. Obwohl bei der<br />

Intonation nicht alle Ungleichheiten beseitigt werden konnten, schien<br />

man mit der ausgeführten Arbeit zufrieden. Man lobte das festliche, auch<br />

mit Zungenregistern nicht schreiende Plenum.<br />

Trotzdem befasste man sich offenbar mit einer neuen Orgel, wofür<br />

Orgelbau Goll 1912 eine Offerte einreichte (III/P/31). Gleichzeitig diskutierte<br />

man eine hydraulische oder eher elektrische Motorenanlage für<br />

das Gebläse. Ohne dass die Neubaupläne realisiert wurden, holte die<br />

Kirchgemeinde 1915 nochmals eine Offerte für eine mittlerweile zeitgemässere<br />

Elektroventilatorengruppe ein, die vermutlich in Auftrag gegeben<br />

wurde. Eine neuerliche Offerte von Kuhn vom 16.10.24 lautete auf<br />

ein Instrument mit 49 klingende Registern und 9 Auszügen/Transmissionen.<br />

Die neue Orgel (III/P/57), ein pneumatisches System mit Taschenladen,<br />

wurde 1925 als Opus 590 von Orgelbau Th. Kuhn erstellt. Dabei fand<br />

viel altes Material aus der Vorgängerorgel Verwendung. Die Register des<br />

III. Manuals kamen als Fernwerk in den Estrich; ihre Klangausstrahlung<br />

erfolgte von der Kirchendecke aus durch Jalousien in die obere Empore,<br />

wo sich auch die Hauptorgel befand. Auch die Windversorgung befand<br />

sich auf dem Dachboden. Bereits im Expertenbericht vom 23.11.25<br />

durch Josef Tobler, Altdorf und P. Ambros Schnyder, Gonten, kann man<br />

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diverse Problempunkte erahnen; Begeisterung spricht nicht daraus.<br />

Trotz vieler übernommener Register sei das Instrument mit seinen 57<br />

Registern (wohl inkl. Auszügen und Transmissionen) als ein neues Werk<br />

zu betrachten. Die Orgel besass einen Hauptprospekt mit einfachem<br />

Untergehäuse, der vom grössten Teil des Schiffes aus nicht sichtbar war<br />

und schon beim Neubau als Provisorium galt.<br />

Anlässlich der Kirchenrenovation 1933 baute man die Orgel aus und<br />

ergänzte sie beim Wiedereinbau durch ein Rückpositiv mit 7 Registern<br />

an der Emporenbrüstung. Die Orgel erhielt kein weiteres Manual. Das<br />

neue Rückpositiv konnte vom II. Manual aus gespielt werden, wobei die<br />

bestehende Lade des II. Manuals und die neue Rückpositiv-Lade durch<br />

zwei neue Absteller getrennt ein- und ausgeschaltet werden konnten (II<br />

ab und RP ab).<br />

Zum Jahresende 1933 lobte Musikdirektor Schenk die Grosszügigkeit des <strong>St</strong>immbürgers<br />

zugunsten der Orgelerweiterung und erwähnte in diesem Brief auch eindeutige<br />

Registerzahlen: I. Man. 14 / II. 12 / III. 15 (= Fernwerk) / Rückpositiv 7<br />

Register / Pedal 9 Register. Das wären trotz Erweiterung nur 57 Register, also die<br />

gleiche Anzahl wie 1925. Die Zählung von 1925 ist daher anzuzweifeln; auch bei<br />

Berücksichtigung der damaligen nichtklingenden Register geht die Rechnung nicht<br />

auf.<br />

1954 stellte die Firma Kuhn in einem Zustandsbericht fest, dass die<br />

Orgel unpräzise sei. Die Verzögerungen in der pneumatischen Traktur<br />

seien überdies unterschiedlich im Fernwerk (III. Manual) auf dem Estrich<br />

und im Rückpositiv an der Brüstung. Offenbar diskutierte man eine Verbesserung<br />

durch Umstellung auf elektrische Traktur. Orgelexperte Siegfried<br />

Hildenbrand sprach 1963 von einem überdimensionierten Harmonium.<br />

Nicht nur das Fernwerk im Estrich, sondern auch der <strong>St</strong>andort der<br />

Orgel auf der oberen Empore sei wegen der zu geringen Raumhöhe<br />

ungünstig. Eine neue Orgel solle unbedingt auf die untere Empore zu<br />

stehen kommen.<br />

Auf dem Weg zur neuen Mathis-Orgel<br />

Nachdem Musikdirektor Wirz 1970 einmal mehr auf den schlechten<br />

Zustand der Orgel und die <strong>St</strong>örungen aufmerksam machte, holte man<br />

Kostenvoranschläge ein für einen Neubau bei Orgelbau Graf, Sursee,<br />

und Späth, Rapperswil. Eine Orgelexpertise durch Josef Holtz am<br />

16.10.1973 kam zu folgendem Ergebnis (in der damaligen, teils "orgelbewegen"<br />

Ausdrucksweise): Das Klangbild dieser Orchesterorgel von<br />

1925 habe mit einem "echten strahlenden Orgelklang" nichts gemeinsam.<br />

Wenn auch nicht mehr so "dekadent" wie frühere Instrumente aus<br />

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dieser Zeit, klinge sie trotzdem wie ein grosses Harmonium, "zahm und<br />

mulmig" für eine Orgel von über 60 Registern. Dazu kämen die technischen<br />

Mängel: Unpräzise pneumatische Traktur als verfehltes Konzept,<br />

fehlende Töne, Verspätungen vor allem im Fernwerk (III) und im Pedal.<br />

Die ganze Orgel und insbesondere das Fernwerk seien ungünstig platziert<br />

und lägen zu hoch im Raum. Die Orgel sei abbruchreif. Empfohlen<br />

wird ein Neubau nach den Prinzipien heutigen Orgelbaus, wenn möglich<br />

mit Entfernung der oberen Empore. Die neue Empore sollte nur für Kirchenmusik<br />

reserviert und das Rückpositiv Richtung Hauptgehäuse<br />

zurückplatziert werden zwecks besserer Gestaltung der Brüstung. Nach<br />

Einholen von Offerten bei Kuhn (Männedorf) und Mathis (Näfels) für eine<br />

Orgel mit drei Manualen und ca. 45 Registern wird der Auftrag 1977 an<br />

die Firma Mathis vergeben.<br />

Orgelbauer, Architekt und Experte hätten ein Rückpositiv, jedoch nicht<br />

an der Emporenbrüstung, sondern unmittelbar im Rücken des Organisten,<br />

favorisiert. Sie führten klangliche Gründe an (bessere Plastizität)<br />

und eine bessere optische Gliederung der langen Empore. Ausserdem<br />

könne das Rückpositiv als chornahes Positivwerk für die Solisten- und<br />

Chorbegleitung genutzt werden. Der Organist der Nikolauskirche lehnte<br />

diese Variante ab, da er sich zu sehr vom Chor isoliert fühle und da es<br />

unmöglich sei, den Chor im Bedarfsfalle von der Orgel aus zu leiten.<br />

Schliesslich wurde auf ein Rückpositiv verzichtet und dieses als Brustpositiv<br />

im Hauptprospekt eingegliedert.<br />

So konnte für den Bau der neuen Orgel 1983 grünes Licht gegeben<br />

werden. Einige Register der alten Orgel (von 1865, 1925 und 1933)<br />

wurden beim Abbruch 1983 an den Orgelneubau in Tobel abgegeben.<br />

Historische, scheinbar allerdings beim letzten Neubau stark veränderte<br />

Pfeifen von Braun wurden bei Orgelbau Mathis eingelagert zuhanden<br />

allfälliger Renovationen von Braun-Instrumenten.<br />

Die Mathis-Orgel von 1983<br />

Es handelt sich um eine grosse vollmechanische Orgel mit sehr wenigen<br />

Spielhilfen, wobei auf freie Kombinationen völlig verzichtet wurde. Das<br />

sorgfältig gearbeitete, wenig tiefe Gehäuse aus Eichenholz ist harmonisch<br />

gegliedert: siebenteiliges Hauptwerk oben in der Mitte, darunter das<br />

Brustpositiv, flankierend die Pedaltürme.<br />

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Die Mathis-Orgel der <strong>St</strong>adtkirche <strong>St</strong>. Nikolaus in Wil<br />

Foto F. L.<br />

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Disposition<br />

I. Hauptwerk (C-g 3 ) II. Schwellwerk (C-g 3 ) III. Brustpositiv (C-g 3 )<br />

Principal 16' Diapason 8' Holzgedackt 8'<br />

Octave 8' Bourdon 8' Principal 4'<br />

Flauto 8' Gambe 8' Rohrflöte 4'<br />

Gemshorn 8' Unda maris (ab c°) 8' Octave 2'<br />

Octave 4' Octave 4' Sesquialtera 2f. 2⅔'<br />

Spitzflöte 4' Traversflöte 4' Quinte 1⅓'<br />

Quinte 2⅔' Nasat 2⅔' Scharf 4f. 1'<br />

Octave 2' Hohlflöte 2' Krummhorn 8'<br />

Mixtur 3-4f. 1⅓' Terz 1 3 /5' Regal 8'<br />

Cymbel 3f. ⅔' Plein jeu 5f. 2' Tremulant<br />

Cornett 5f. 8' Fagott 16'<br />

Trompete 8' Trompette harm. 8'<br />

Basson-Hautbois 8'<br />

Clairon 4'<br />

Pedalwerk (C-f 1 ) Tremulant<br />

Untersatz 32'<br />

Principal 16'<br />

Subbass 16'<br />

Octavbass 8'<br />

Gedecktbass 8'<br />

Octave 4'<br />

Mixtur 4f. 2⅔'<br />

Posaune 16'<br />

Trompete 8'<br />

Clairon 4'<br />

Weitere Angaben zur Orgel:<br />

• Orgel erbaut von M.Mathis & Söhne, Näfels, III/P, 45, 1983<br />

• Einweihung am Sonntag, 24. April<br />

• mechanische Spiel- und Registertraktur<br />

• 5 Normalkoppeln: SW-HW, BW-HW, HW-P, SW-P, BW-P<br />

• Organo pleno (HW: O8, O4, O2, Mx, Cy; Pedal: P16, O8, O4, Mx)<br />

• Einführungstritte: Tr8 (HW), Tr8 (SW), Pos16 (P), Tr8 (P)<br />

• Intonation: Hermann Mathis, Projekt und Expertise: Josef Holtz, Frauenfeld<br />

• Projektgestaltung: Andreas Heinzle, c/o Orgelbau Mathis in Zusammenarbeit<br />

mit dem Architekten Felix Schmid, Rapperswil<br />

• Einweihung mit Musik von L. N. Clérambault, J. G. Walther, J. S. Bach<br />

Liszt, Franck, J. Holtz, M. Reger (Orgel: Josef Holtz).<br />

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Das Hauptwerk enthält das geschlossene Prinzipalplenum auf 16-Fuss-<br />

Basis. Auch in Brustpositiv und Schwellwerk ist die Prinzipalgruppe gut<br />

vertreten. Begleit-, Solo- und Zungenstimmen finden sich in allen Werken.<br />

Prinzipale, Gedackte, Flöten, Gambe und Diapason besitzen differenzierte<br />

Klangfarben. Das fünffache Cornet im Hauptwerk ist mit einem einzigen<br />

Registerzug zu betätigen (Cornet composé). Auch in den übrigen Manualwerken<br />

sind Kornettregistrierungen durch entsprechende Registerkombinationen<br />

möglich (Cornet décomposé). Zusammen mit den reichhaltigen<br />

Zungenregistern lassen sich somit auch Registrierungen aus der französischen<br />

Orgelliteratur realisieren.<br />

Das registermässig stark besetzte Schwellwerk ist als nicht sichtbares<br />

Hinterwerk in einem mit Jalousien verschliessbaren Kasten aufgebaut. Die<br />

grossen Pedalpfeifen des Untersatz 32' sind hinter der Orgelanlage separat<br />

aufgestellt (gedeckte Holzpfeifen in voller Länge).<br />

Das Instrument beeindruckt durch seinen charakteristischen, obertonreichen<br />

und dadurch verschmelzungsfähigen Klang. So erlaubt die Orgel die<br />

Wiedergabe eines vielfältigen Spektrums der Orgelliteratur, Musik des<br />

deutschen und französischen Barock, aber auch – unter Aufgebot entsprechender<br />

Registranten/innen – romantische Literatur.<br />

Abnahmebericht vom 15. August 1983<br />

über die neue Orgel in der <strong>St</strong>adtkirche <strong>St</strong>. Nikolaus in Wil<br />

Am 12. August 1983 erfolgte durch den Unterzeichnenden die Abnahme der von<br />

Orgelbaufirma Manfred Mathis & Söhne neu erbauten Orgel. Anwesend war Max<br />

Haselbach, Hauptorganist an der <strong>St</strong>adtkirche Wil. Der Orgelbauer hat in der Zwischenzeit<br />

die Klaviaturen des Instrumentes ausgebaut und gewisse Einzeltasten auf<br />

die genauen Mensuren (Masse) korrigiert. Die Tastatur ist jetzt griffiger und angenehmer<br />

zu spielen. Ich darf dem Kirchenverwaltungsrat Wil bestätigen, dass<br />

sämtliche vertraglichen Verpflichtungen des Orgelbauers in jeder Beziehung erfüllt<br />

worden sind.<br />

Die Gestaltung des Orgelwerkes und die prachtvolle Anlage des Gehäuses entsprechen<br />

hohen kunsthandwerklichen Anforderungen. Sämtliche Einzelteile des Instrumentes<br />

wurden aus vorzüglichem Material sehr sorgfältig erbaut. Das gesamte Pfeifenwerk<br />

sowie die technisch anspruchsvolle Konstruktion zeugen von grossem<br />

Können. Die Klanggestaltung ist von hoher Qualität. Jedes der 45 Register besitzt<br />

ein ausgeprägtes Eigenleben, adäquate Klangstärke und Klangfarbe, verbunden mit<br />

vorzüglicher Verschmelzungsfähigkeit. Die Intonation ist zudem ausgeglichen, klangschön<br />

und verdient bei diesem Orgelbau hohe Anerkennung. Das Kollaudationskonzert<br />

hat bewiesen, dass die neue Orgel auch bei gutbesetzter Kirche bezüglich<br />

klanglicher Tragfähigkeit nichts einbüsst. Angenehm leicht und präzise laufen die<br />

mechanische Spiel- und Registertraktur.<br />

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40<br />

Orgelbau Manfred Mathis & Söhne hat den anspruchsvollen Projektentwurf kunsthandwerklich<br />

und klanglich vorzüglich realisiert. So ist in Wil ein hervorragendes<br />

Orgelwerk entstanden, auch dank der sehr guten Zusammenarbeit zwischen dem<br />

Architekten Herrn Felix Schmid, dem Orgelbauer, dem Kirchenverwaltungsrat und<br />

dem Experten.<br />

Ich darf die Uebernahme des prachtvollen und vielseitigen Instrumentes ohne jegliche<br />

Vorbehalte empfehlen. [...]<br />

Frauenfeld, den 15.8.1983<br />

sig. Josef Holtz, Frauenfeld<br />

Literatur und Quellen zur Orgel in der <strong>St</strong>adtkirche <strong>St</strong>. Nikolaus in Wil<br />

Holtz, Josef. Meisterwerk der Orgelbaukunst: <strong>St</strong>adtkirche <strong>St</strong>. Nikolaus<br />

Wil SG. In: Katholische Kirchenmusik (früher "Der Chorwächter")<br />

108. Jg (1983) S. 231–232.<br />

Archiv Kath. Kirchgemeinde Wil: Akten zur Orgel der Kirche <strong>St</strong>. Nikolaus<br />

(seit 1657). Dossier 40.10.05.10.01.<br />

Herrn Urs Bachmann, Leiter Administration Kath. Kirchgemeinde Wil,<br />

danke ich herzlich für den Zugang zu den Orgelakten.<br />

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