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Hurra, wir leben noch! - Draußen

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Text | Bericht: Sabrina Kipp, Michael Heß | Fotos: Brigitte Klimenta<br />

<strong>Hurra</strong>, <strong>wir</strong> <strong>leben</strong> <strong>noch</strong>!<br />

…und groß geworden sind <strong>wir</strong> auch…<br />

Unsere Kinderbetten und Holzbausteine<br />

waren mit toxischen Farben bemalt, die<br />

Decken und Wände trieften nur so von<br />

Formaldehyd und Cadmium. Ganz zu<br />

schweigen vom Tapetenleim, dem Kleber<br />

des Linoleums oder den PVC-Dämpfen.<br />

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Filzstifte und Tintenkiller hatten gemeine<br />

Ausdünstungen. Schranktüren und<br />

Schubladen waren <strong>noch</strong> nicht kindersicher.<br />

Mindestens einmal hat sich jeder<br />

daran die Finger geklemmt. Medizinflaschen<br />

hatten keine Kindersicherung<br />

und trotzdem gab es unter uns Kindern<br />

keinen verbreiteten Medikamentenkonsum.<br />

Messer, Schere, Gabel und Licht<br />

wurden uns zwar verboten, aber auch<br />

hier hieß die Devise: Nur Versuch macht<br />

klug! Kleine Verletzungen bereicherten<br />

unsere Erfahrungen.<br />

Der Fahrradsitz war wacklig und am<br />

Lenker montiert, einen Helm gab es nicht.<br />

Auch Roller und Rollschuhe konnten<br />

ohne besondere Schutzkleidung benutzt<br />

werden. Bei Urlaubsfahrten wurde aus<br />

dem Rücksitz ein „Bett“, wo <strong>wir</strong> unangeschnallt<br />

liegen durften. Ein Auto hatte<br />

hinten nicht mal Gurte, geschweige denn<br />

Airbag, ABS oder sonstige Sicherheitsvorkehrungen.<br />

Wir sind mit einem relativ<br />

überschaubaren Risiko per Anhalter in<br />

den nächsten Ort gefahren!<br />

Wasser haben <strong>wir</strong> direkt aus dem<br />

Gartenschlauch oder aus der Schwengelpumpe<br />

getrunken. Wir aßen fettige<br />

Pfannkuchen und frischgebackenes Brot<br />

mit fingerdick Butter drauf, dazu gab es<br />

überzuckerte Limonaden oder künstlich<br />

gefärbtes TriTop. Fett geworden sind <strong>wir</strong><br />

deswegen nie, weil <strong>wir</strong> immer draußen<br />

waren. Wir haben auch manchmal<br />

zu fünft aus einer Limonaden Flasche<br />

getrunken und alle haben es überlebt.<br />

Stunden- und tagelang haben <strong>wir</strong> in<br />

Nachbars Scheune an irgendwelchen Gefährten<br />

geschraubt, die <strong>wir</strong> aus rostigem<br />

Schrott und altem Holz konstruiert hatten.<br />

Dann sind <strong>wir</strong> damit die Hügel runter<br />

gebrettert. Nachdem <strong>wir</strong> ein paar Mal in<br />

der Böschung gelandet waren, haben <strong>wir</strong><br />

gelernt, wie <strong>wir</strong> Bremsen und Lenkung<br />

verbessern konnten.<br />

Wir hatten Freunde! Wir gingen raus<br />

und <strong>wir</strong> haben uns selber diese Freunde<br />

gesucht. Wir sind zu diesen Freunden<br />

ganz alleine geradelt, haben an der Tür<br />

geläutet und sind dort geblieben. In den<br />

Ferien gingen <strong>wir</strong> früh Morgens nach<br />

draußen und haben den ganzen Tag gespielt,<br />

höchstens unterbrochen von kurzen<br />

Essenspausen. Wir kamen erst wieder<br />

rein, wenn es dunkel wurde und man<br />

den Fußball oder die Hinkekästchen nicht<br />

mehr richtig sehen konnte. Wir haben


Spiele erfunden mit Stöcken und<br />

Bällen, haben mit Ästen gefochten<br />

und Würmer gegessen. Und<br />

obwohl es uns immer wieder<br />

prophezeit wurde, haben <strong>wir</strong><br />

kaum ein Auge ausgestochen<br />

und die Würmer haben auch<br />

nicht ins uns überlebt.<br />

Wir spielten Völkerball bis zum<br />

Umfallen und manchmal tat es<br />

weh, wenn man abgeworfen<br />

wurde. Unsere Knie und Knöchel<br />

waren von Frühjahr bis Herbst<br />

lädiert und ein Schienbein ohne<br />

blaue Flecke gab es nicht. Um an<br />

die süßesten Früchte zu kommen,<br />

war kein Baum zu hoch.<br />

Wir sind aus diesen Bäumen und<br />

von Mauern gestürzt, haben uns<br />

geschnitten, aufgeschürft und<br />

haben uns K<strong>noch</strong>en gebrochen<br />

und Zähne ausgeschlagen. Es<br />

waren einfach Unfälle, an denen<br />

<strong>wir</strong> selber Schuld waren. Es gab niemanden,<br />

den man dafür verantwortlich<br />

machen konnte und vielleicht sogar <strong>noch</strong><br />

vor den Kadi zerrte. Die zugezogenen<br />

Wunden wurden notdürftig von Mama<br />

verarztet und weiter ging es.<br />

Wir hatten weder Playstation oder<br />

Nintendo, X-Boxen oder Videospiele,<br />

keine PCs, keine 50 Fernsehkanäle<br />

oder Dolby Surround Anlagen. Wenn<br />

es regnete, spielten <strong>wir</strong> bei Freunden<br />

Monopoly oder Mensch ärgere dich nicht,<br />

Mühle oder Dame und bauten mit Lego-<br />

Steinen ganze Städte auf. Wenn <strong>wir</strong> uns<br />

an Brennnesseln gebrannt haben oder<br />

uns eine Mücke gestochen hatte, haben<br />

<strong>wir</strong> entweder drauf gespuckt oder den<br />

Nachbars Hund drüber lecken lassen. Zur<br />

Not wurde drauf gepinkelt. Geholfen hat<br />

alles. Wir haben gestritten und gerauft,<br />

uns gegenseitig grün und blau geprügelt<br />

und gelernt damit zu <strong>leben</strong> und darüber<br />

weg zu kommen. Später waren alle wieder<br />

Freunde.<br />

Wir waren für unsere Aktionen selbst<br />

verantwortlich. Konsequenzen waren<br />

immer zu erwarten, wenn <strong>wir</strong> Scheiße<br />

gebaut hatten. Der Gedanke, dass ein<br />

Elternteil uns „raushaut“, wenn <strong>wir</strong> mit<br />

dem Gesetz in Konflikt geraten waren,<br />

war undenkbar. Im Gegenteil, die Eltern<br />

stellten sich auf die Seite des Gesetzes.<br />

Stellen Sie sich das einmal vor! Wir waren<br />

nicht ständig zu erreichen. Keine Handys!<br />

Unsere Eltern wussten manchmal<br />

mehrere Stunden nicht, wo <strong>wir</strong> waren!<br />

Selbst wenn Mama und Papa ausgingen<br />

und <strong>wir</strong> bei der Oma waren, hatten die<br />

Eltern kein Handy dabei.<br />

Wir hatten Freiheit<br />

und Zwang, Erfolg<br />

und Misserfolg,<br />

Verantwortung und<br />

Konsequenz. Und<br />

<strong>wir</strong> haben gelernt<br />

damit umzugehen.<br />

Unsere Eltern<br />

trauten uns zu, die<br />

richtigen Entscheidungen<br />

zu treffen.<br />

Meistens hat es<br />

geklappt. Die paar<br />

Mal, die daneben<br />

gingen, zählen <strong>wir</strong><br />

zu unseren Lebenserfahrungen.<br />

Nach dem heutigen<br />

Stand der Wissenschaft,<br />

müssten<br />

alle die bis Anfang<br />

der Achtziger aufgewachsen<br />

sind,<br />

längst tot sein. Denn<br />

nach dem, was der<br />

Gesetzgeber und die<br />

Medien uns täglich<br />

vorbeten und verbieten,<br />

sollte ein<br />

Leben in dieser Zeit<br />

eigentlich gar nicht<br />

möglich gewesen sein. Seien <strong>wir</strong> froh,<br />

dass <strong>wir</strong> es bis hierher geschafft haben.. #<br />

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