Grenzüberschreitung und Identitätskonstruktion in Daniel ... - werkstatt
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Natália Kasko:<br />
<strong>Grenzüberschreitung</strong> <strong>und</strong> <strong>Identitätskonstruktion</strong> <strong>in</strong> <strong>Daniel</strong> Kehlmanns 'Ruhm'<br />
literature4you <strong>und</strong> auf Diskussionsseiten, <strong>und</strong> auch wenn ich Blogger sehe,<br />
die Bullshit verzapfen, halt ich mich nicht zurück.” 55 In der Wirklichkeit<br />
des Romans ist er e<strong>in</strong>e unbedeutende Figur, die bei e<strong>in</strong>er Telekommunikationsfirma<br />
arbeitet, ke<strong>in</strong> Privatleben hat, <strong>und</strong> mit se<strong>in</strong>er Mutter zusammenlebt.<br />
Von se<strong>in</strong>em Chef, dem Abteilungsleiter, wird er im achten Kapitel folgenderweise<br />
charakterisiert: „Es klopfte, <strong>und</strong> Mollwitz kam here<strong>in</strong>, schwitzend<br />
wie immer, beschwert von se<strong>in</strong>em grotesken Körperumfang, kle<strong>in</strong>gewachsen,<br />
nackenlos, bedauernswert.” 56<br />
Nach dem Treffen mit Leo Richter hat er e<strong>in</strong>e große Idee: er will <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
se<strong>in</strong>er Geschichten als Figur zusammen mit Lara Gaspard ersche<strong>in</strong>en. Er<br />
versucht Leo möglichst viel von sich selbst zu erzählen, damit dieser se<strong>in</strong>e<br />
Person bemerkt <strong>und</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em nächsten Werk verwendet, denn er weiß,<br />
dass <strong>in</strong> Leos Erzählungen dessen eigene Erfahrungen <strong>und</strong> ihm bekannte<br />
Menschen vorkommen. „Wenn e<strong>in</strong>er so viel im Internet unterwegs ist wie<br />
ich, dann weiß er, daß […] Wirklichkeit nicht alles ist. Daß es Räume gibt,<br />
<strong>in</strong> die man nicht mit dem Körper geht. Nur <strong>in</strong> Gedanken <strong>und</strong> trotzdem da.<br />
Lara Gaspard treffen. Das war possible! Eben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Story.” 57 Er behandelt<br />
Lara fast als e<strong>in</strong>e real existierende Person, mit Körper, Eigenschaften <strong>und</strong><br />
Denkweise <strong>und</strong> das Treffen mit ihr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Geschichte des beliebten Autors<br />
def<strong>in</strong>iert er als den S<strong>in</strong>n <strong>und</strong> das größte Glück se<strong>in</strong>es Lebens, das er überhaupt<br />
nicht mag: „Me<strong>in</strong> ganzes Drecks-Leben, der ständige Streit mit<br />
Mama, der üble Boss <strong>und</strong> das riesen Schwe<strong>in</strong> Lobenmeier: Mir war, als<br />
gäbs Erlösung. Als ich e<strong>in</strong>schlief, war ich glücklich, wie lang nicht. […] Ich<br />
fühlte mich leicht.” 58 Dieser H<strong>in</strong>weis auf se<strong>in</strong>e Leichtigkeit lässt die Interpretation<br />
zu, dass er sich <strong>in</strong> jener Situation schon befreit von se<strong>in</strong>em Körper<br />
<strong>und</strong> der ganzen Wirklichkeit fühlt, als wäre er nur e<strong>in</strong>e virtuelle Figur, ohne<br />
Gewicht. Der Plan gel<strong>in</strong>gt ihm aber nicht <strong>und</strong> er muss se<strong>in</strong> wirkliches<br />
Leben weiterleben. „Immer bloß hier, auf dieser Seite, auf der andren<br />
never. Ke<strong>in</strong>e andre Welt. Morgen früh wieder zur Arbeit. Die Wettervorhersage<br />
ist schlecht. Wär sie gut, mir wärs auch egal. Alles geht weiter, wie<br />
immerschon immer. In e<strong>in</strong>er Geschichte, das weiß ich jetzt, werde ich nie<br />
se<strong>in</strong>.” 59 E<strong>in</strong>e Stelle der expliziten Metafiktion, wie es viele <strong>in</strong> dem Roman<br />
gibt, weist auf die Konstruiertheit der Geschichte <strong>und</strong> der Figuren h<strong>in</strong>. Paradoxerweise<br />
ist Mollwitz, der desillusioniert feststellt, dass er nie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Geschichte se<strong>in</strong> wird, als Figur bereits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Geschichte. Er <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e<br />
Welt s<strong>in</strong>d also schon virtuell, ohne dass er das weiß.<br />
Die Identität der Figuren wird manchmal so sehr von den Medien abhängig,<br />
dass sie ohne diese verloren geht. Wie <strong>in</strong> dem fünften Kapitel<br />
55 Ebd. S. 134.<br />
56 Ebd. S. 107.<br />
57 Ebd. S. 146.<br />
58 Ebd. S. 147.<br />
59 Ebd. S. 158.<br />
Werkstatt, 7 (2012)