Der Stand der Dinge Theorie und Praxis eines ... - Kulturserver NRW
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<strong>Der</strong> <strong>Stand</strong> <strong>der</strong> <strong>Dinge</strong><br />
<strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong> <strong>eines</strong> selbst erteilten Forschungsauftrages<br />
I. Anspruch: Wirklichkeit<br />
“Das Verzweifelte, daß die <strong>Praxis</strong>, auf die es ankäme,<br />
verstellt ist, gewährt paradox die Atempause zum<br />
Denken, die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre.“<br />
(T. W. Adorno)<br />
Sämtliche hier versammelten Photographien <strong>und</strong> Gesprächsauschnitte wurden im<br />
zweiten Halbjahr 2005 in Duisburg-Bruckhausen aufgenommen. <strong>Der</strong> Anspruch, den<br />
diese Versammlung erhebt, ist <strong>der</strong> <strong>der</strong> Gespräche <strong>und</strong> Photographien, es ist <strong>der</strong> des<br />
Projekts, das zu diesen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en künstlerischen wie theoretischen Mitteln (einem<br />
philosophischen Seminar zum "Zustand <strong>der</strong> Welt", einer Theateraufführung mit Elementen<br />
des Butoh <strong>und</strong> des HipHop) griff, um ihn einzulösen: In Bruckhausen den<br />
<strong>Stand</strong> <strong>der</strong> <strong>Dinge</strong> zu erfassen <strong>und</strong> darzustellen.<br />
Dieser Anspruch erscheint – zumal in <strong>der</strong> Begrenzung auf den überschaubaren<br />
Duisburger Stadtteil Bruckhausen – bescheiden. Auf den <strong>Stand</strong> <strong>der</strong> <strong>Dinge</strong> läßt man<br />
sich mal eben bringen, man erhält Kenntnis <strong>eines</strong> Sachverhaltes, <strong>eines</strong> Entwicklungsstandes,<br />
läßt sich mit Informationen versorgen. Je nach dem institutionellen<br />
Zusammenhang, in dem <strong>der</strong> Vorgang stattfindet, kann er auch wechselseitig sein: Er<br />
wird dann zum Erfahrungsaustausch, einem märchenhaften Tauschakt, in dem alle<br />
Beteiligten das, was sie austauschen, behalten <strong>und</strong> das, was sie eintauschen, zusätzlich<br />
erwerben. Das alles gilt als unverzichtbarer <strong>und</strong> unproblematischer Bestandteil<br />
ökonomischer wie politischer Verwaltungsvorgänge <strong>und</strong> kommt meist ohne<br />
theoretisch avancierte o<strong>der</strong> gar künstlerische Mittel aus.<br />
<strong>Der</strong> bescheidene Anspruch ist nicht unserer. Er vermag nicht zu erklären, was die<br />
beteiligten Künstler <strong>und</strong> Theoretiker [hier wie im Folgenden soll die männliche Form<br />
auch die beteiligten Frauen repräsentieren <strong>und</strong> in dieser sprachlichen Anmaßung<br />
auch die patriarchalen Verhältnisse in unseren Köpfen <strong>und</strong> außerhalb] in Duisburg-<br />
Bruckhausen im letzten halben Jahr taten, warum <strong>und</strong> warum sie es dort taten. Am<br />
Anfang stand nicht ein Interesse am Stadtteil. Dieses Interesse ist vielmehr Ergebnis<br />
des Wunsches, Wirklichkeit zu erfassen <strong>und</strong> des Glaubens, hier ginge das beson<strong>der</strong>s<br />
gut.<br />
Das Ziel des Informationsinteresses, den eben nicht unscheinbaren Anspruch unseres<br />
Projektes, hat Christoph Schlingensief benannt:<br />
"Ich will eine Klärung haben, was das Universum macht."
Dieser Wille ist <strong>der</strong> subjektive Motor je<strong>der</strong> <strong>Theorie</strong>: zu schauen, was da ist, wie es ist<br />
<strong>und</strong> zu durchschauen, warum es so ist. Kritische <strong>Theorie</strong> ist zudem charakterisiert<br />
durch die Reflexion auf die gesellschaftliche Bedeutung ihres eigenen Tuns. Sie weiß<br />
sich als eine gesellschaftliche <strong>Praxis</strong>, die praktische Effekte bewirkt. Sie weiß sich<br />
aber auch historisch <strong>und</strong> sozial bedingt: kategorial geb<strong>und</strong>en an den gesellschaftlichen<br />
Kontext, in dem sie entsteht <strong>und</strong> agiert, auch in untrennbarer Verbindung mit<br />
an<strong>der</strong>en <strong>Praxis</strong>formen vor <strong>und</strong> neben ihr. “Embedded thinking” – nicht als korrupte<br />
Einbindung in ein so nicht mehr kritisch zu betrachtendes machtvolles Ensemble, als<br />
Verkauf <strong>eines</strong> an<strong>der</strong>s einnehmbaren externen <strong>Stand</strong>punktes, son<strong>der</strong>n als Reflexion<br />
auf die Bedingungen einer Struktur <strong>und</strong> <strong>eines</strong> Geschehens, von denen ein Teil zu<br />
sein sie sich bewußt ist.<br />
Was nicht notwendig in einen utilitaristisch o<strong>der</strong> pragmatisch o<strong>der</strong> gar realistisch sich<br />
stilisierenden Verrat an den Möglichkeiten des Denkens – <strong>und</strong> des Handelns – mündet.<br />
Die Fragen nach <strong>und</strong> zu Gott als Inkarnation dessen, was Auskunft über die Realität<br />
nur höchst indirekt gibt: als Ausdruck des in ihr Möglichen, aber nicht Realisierten<br />
– diese Fragen getrost an<strong>der</strong>en zu überlassen, heißt eben nicht, auf eine Klärung<br />
<strong>der</strong> Frage zu verzichten, was das Universum macht, wie es so tickt <strong>und</strong> wir zunächst<br />
einmal mit ihm. Im Gegenteil.<br />
Stellt sich die Frage nach dem Ort, den eine solche <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> die sie praktizierenden<br />
Theoretiker innerhalb des gegebenen Bewegungsrahmens einnehmen sollten.<br />
Dafür ist zunächst <strong>der</strong> Teil des Universums zu bestimmen, <strong>der</strong> einer Klärung durch<br />
uns zugänglich ist <strong>und</strong> dessen Klärung uns interessiert. Das ist <strong>der</strong> Universumsauschnitt,<br />
den menschliche Gesellschaften ausmachen. Er wie<strong>der</strong>um ist, obzwar eine<br />
kleine Teilmenge des Universums, noch so umfassend, daß er nur sehr abstrakt,<br />
formal in den Blick genommen werden kann. Die Konkretion bedarf <strong>der</strong> Konzentration.<br />
Es ist also zu fragen:<br />
Warum Bruckhausen exemplarisch für das Universum ist.<br />
Ein privilegierter Ort theoretischer Erkenntnis, mindestens <strong>der</strong> über das Funktionieren<br />
unserer Gesellschaft, ist ihr Rand. Die sozialen (Re-)Produktionsmechanismen sind<br />
hier deshalb beson<strong>der</strong>s gut erkennbar, weil sie nicht (mehr) reibungslos ablaufen,<br />
son<strong>der</strong>n zumindest partiell gestört sind <strong>und</strong> so aufsässig werden. Das in <strong>der</strong> Fabrik<br />
des blühenden Industriezeitalters ausgebeutete Subjekt ist, auch o<strong>der</strong> gerade, wo es<br />
im eigenen Bewußtsein die seine Arbeitskraft ausnutzenden Verhältnisse affirmiert,<br />
noch glatter – <strong>und</strong> damit keine neue Erkenntnisperspektive erzeugen<strong>der</strong> – Spiegel<br />
eben dieser Verhältnisse. <strong>Der</strong> aus dem ökonomischen Verwertungskreislauf ausgeschlossene<br />
Mensch, <strong>der</strong> vielleicht schon nicht einmal mehr als Teil einer industriellen<br />
Reservearmee fungiert, o<strong>der</strong> auch die kollektiv in diesen Status degradierte Gruppe<br />
sind es nicht länger.
An ihm, an ihr läßt sich zweierlei erkennen. Zum einen die auch hier noch relativ einheitlich<br />
wirksame gesellschaftliche Präfiguration individueller Subjektkonstituion – im<br />
defizitären Status (etwa: arbeitslos ohne individuelle Schuld noch Chance) klarer<br />
noch sichtbar als im funktionierenden Zustand (etwa: Lohnsklave). Zum an<strong>der</strong>en das<br />
weiter bestehende Funktionieren des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses<br />
noch dort, wo keine umfassend herrschende, integrative Disziplinierungsstrategie<br />
mehr direkt wirkt: in individuell o<strong>der</strong> kollektiv ideologischen Kompensationsstrategien<br />
o<strong>der</strong> schlicht im Eingefügtsein ins Ausgeschlossensein.<br />
Gefängnisse <strong>und</strong> Psychiatrien sind solche Orte, welche die Gesellschaft – prägnant<br />
zunehmend, wachsend – innerhalb ihrer geographischen Grenzen als externe konstituiert.<br />
Ohne Mauern <strong>und</strong> ohne geson<strong>der</strong>te Nomenklatur gibt es diese Orte vermehrt<br />
auch mitten im frei zugänglichen sozialen Terrain, juristisch wie politisch nominell<br />
nicht unterschieden von an<strong>der</strong>en Segmenten dieses Terrains. Banlieues war das<br />
Zauberwort für solche Orte, das wir in <strong>der</strong> Mitte unserer Arbeit in Bruckhausen durch<br />
TV <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e Medien kennen lernten. Warum es hier nicht brenne, fragten auch<br />
uns die plötzlich hier präsenten Radio- <strong>und</strong> Fernseh-Reporter. Wir wußten es nicht.<br />
Nur daß es vom individuellen wie vom Klassenstandpunkt aus wi<strong>der</strong>sprüchlich anmutet,<br />
das Auto s<strong>eines</strong> nicht min<strong>der</strong> marginalisierten Nachbarn anzuzünden, weil es<br />
den Stempel <strong>eines</strong> Staates trägt, <strong>der</strong> repressiv o<strong>der</strong> vielleicht auch nur gleichgültig<br />
gegenüber dem eigenen Schicksal erscheint.<br />
Mehr noch, als wir es bereits waren, wurden wir von diesem medialen Intermezzo an<br />
die Menschen verwiesen, die Feuer in ihren Straßen entfachen o<strong>der</strong> eben hier nicht,<br />
die Kirchen, Moscheen, Arbeitsämter <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> kollektiv den Zoo besuchen, die ihre<br />
Essenswünsche gekonnt mit ihren ökonomischen Ressourcen vermitteln, die kleine<br />
Hoffnungen hegen <strong>und</strong> im Großen Befürchtungen, die an konkreten Fortschritten im<br />
sozialen Miteinan<strong>der</strong> arbeiten o<strong>der</strong> von solchen Fortschritten profitieren o<strong>der</strong> aber <strong>der</strong><br />
harten, aber spannenden Zeit davor nachtrauern, die glauben, Haifische werden zu<br />
können o<strong>der</strong> eben doch nicht, die im HipHop ihren Ausdruck suchen o<strong>der</strong> gef<strong>und</strong>en<br />
haben o<strong>der</strong> dies glauben. O<strong>der</strong> aber die ihre eigenen Empfindungen <strong>und</strong> Gedanken<br />
für so nichtig erachten, wie sie es im Allgemeinen werden, ohne daß sie es sind.<br />
II. Funktion: Produktion <strong>und</strong> Reproduktion<br />
“<strong>Der</strong> <strong>Stand</strong> <strong>der</strong> <strong>Dinge</strong>: Das ist das eine. Die herrschende<br />
Form zu wirtschaften ist ein Witz. Und wir alle sind<br />
seine Figuren.“ (H.P. Piwitt)<br />
Die industrielle Produktion hat das Universum ökonomisch, sozial <strong>und</strong> ökologisch so<br />
sehr verän<strong>der</strong>t, daß davon nicht o<strong>der</strong> weniger erfaßte Produktionsweisen <strong>und</strong> Lebenswelten<br />
marginalisiert wurden. Diese Marginalisierung kann den Charakter <strong>eines</strong><br />
Privilegs annehmen, sie wird dann folkloristisch, museal o<strong>der</strong> idyllisch. Sie kann auch
edrohlich werden: Für die nichtindustrialisierte Landwirtschaft Betreibenden <strong>und</strong> von<br />
ihr Lebenden etwa bestehe, so <strong>der</strong> Sozialwissenschaftler Samir Amin, die Gefahr<br />
<strong>eines</strong> "kapitalistischen Genozids". <strong>Der</strong> Provokation, die diese Terminologie möglicherweise<br />
darstellt, korrespondiert dabei das Phlegma, mit dem das Gemeinte, <strong>der</strong><br />
millionenfache Tod durch Verhungern, hingenommen wird.<br />
Obwohl die Wirkungen industrieller Produktion in allen drei Dimensionen (ökonomisch,<br />
sozial, ökologisch) universal präsent sind <strong>und</strong> selbst das Nichtassimilierte, das<br />
Ausgestoßene, Marginale die eben auch zentrifugale Kraft <strong>der</strong> Industrialisierung bezeugt,<br />
sind diese Wirkungen an verschiedenen (räumlichen wie sozialen) Orten unterschiedlich<br />
stark sichtbar.<br />
Duisburg-Bruckhausen, dessen heutige soziale wie materielle Gestalt sich wesentlich<br />
auf die Planungen des Industriellen August Thyssen zurückführen läßt sowie auf den<br />
historischen Wandel <strong>der</strong> ökonomischen Bedürfnisse schwerindustrieller Akteure, bezeugt<br />
sie unmittelbarer als die Herkunftsorte <strong>der</strong> hier lebenden Arbeitsmigranten o<strong>der</strong><br />
die Konsumtionsstätten des hier produzierten Mehrwertes.<br />
A 42, Kokerei, Hauptverwaltung<br />
Die Schwerindustrie in den klassischen Metropolen Europas <strong>und</strong> Nordamerikas<br />
schrumpft. Sie gibt <strong>Stand</strong>orte auf <strong>und</strong> verkleinert an<strong>der</strong>e. Und noch wo <strong>der</strong> Umfang<br />
<strong>der</strong> Produktion gleichbleibt o<strong>der</strong> gar wächst, geschieht dies mit Hilfe immer effektiverer<br />
Ausnutzung maschineller Kräfte sowie <strong>der</strong> Kräfte immer weniger Arbeiter. Gemäß<br />
<strong>der</strong> Stellung im Produktionsprozess war Bruckhausen als Produktionsort von Stahl<br />
<strong>und</strong> Koks Avantgarde gegenüber den <strong>der</strong>zeit medial präsenteren Produktionsorten<br />
<strong>der</strong> Automobil- o<strong>der</strong> Waschmaschinenindustrie. Als Produktionsstandort zeigt sich<br />
Duisburg-Bruckhausen <strong>und</strong> zeigen sich die dort lebenden Menschen als bereits seit<br />
längerem postindustriell marginalisiert.<br />
Dieser Zustand charakterisiert eine größer werdende Zahl von Orten <strong>und</strong> Menschen,<br />
<strong>und</strong> er ist ökonomisch durch folgende Umstände charakterisiert: Eine weitere Ausbeutung<br />
<strong>der</strong> vorhandenen Naturgüter, Infrastruktur <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> Arbeitskraft ist betriebswirtschaftlich<br />
verantwortungslos, damit volkswirtschaftlich unvernünftig <strong>und</strong> gesellschaftlich<br />
nicht zu leisten. 2005 waren in Bruckhausen ein beträchtlicher Teil <strong>der</strong><br />
Gewerbe- <strong>und</strong> Wohnbebauung städtebaulich überflüssig. Sie standen leer. Im an<strong>der</strong>en<br />
Teil wohnen zu einem beträchtlichen Teil ökonomisch zunehmend überflüssige<br />
Menschen. Als Bezieher geringer "Transfereinkommen" schwindet ihre Bedeutung<br />
als Konsumenten, da sie keinen Mehrwert (mehr) produzieren, haben sie auch als<br />
Produzenten keine.<br />
Je nach <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> dafür erfolgten finanziellen Kompensationen (als Abfindung,<br />
Frührente, Sozialhilfe, ALG I o<strong>der</strong> II an die Subjekte, als Struktur- o<strong>der</strong> Projektför<strong>der</strong>ung<br />
an den Sozialraum adressiert) kann auch diese postindustrielle Marginalisierung
idyllischen o<strong>der</strong> bedrohlichen Charakter haben. Die Bereitschaft o<strong>der</strong> Fähigkeit zu<br />
solchen Kompensationen schwindet <strong>und</strong> <strong>der</strong> Bedrohungscharakter wird dominant.<br />
Ein kapitalistischer Genozid im Wortsinn ist metropolenintern gleichwohl nicht in<br />
Sicht. Extrapoliert man unsere Erfahrungen in Bruckhausen zumindest auf diese europäischen<br />
<strong>und</strong> nordamerikanischen Metropolen, indem man dem Stadtteil den Status<br />
einer Passionsavantgarde auf dem Weg in die postindustrielle Marginalität zubilligt,<br />
ergibt sich vielmehr folgende Naherwartung: Die Armut <strong>der</strong> überflüssigen Menschen<br />
wird größer, bleibt aber unspektakulär. Die zunehmende Schwierigkeit, mit<br />
den genannten Transfereinkommen eine – gesellschaftlich wie subjektiv als minimale<br />
postulierte – soziale Existenz zu führen, wird individualisiert. Es gibt keine (eigentums-)kriminelle<br />
Devianz <strong>der</strong> statistisch armen Bruckhausener, hier rudimentär verbliebene<br />
Vertreter einer (Einkommens-)Mittelschicht <strong>und</strong> Besucher des Stadtteils<br />
werden nicht angebettelt. Eine partielle Solidarisierung <strong>der</strong> Marginalisierten findet auf<br />
privater <strong>und</strong> auf nachbarschaftlicher <strong>und</strong> lokal-institutioneller Ebene zwar in signifikanter<br />
Weise statt, eine darüber hinaus gehende Artikulation <strong>und</strong> Organisation sozialen<br />
Wi<strong>der</strong>standes o<strong>der</strong> auch nur Protestes bleiben dagegen unterdurchschnittlich.<br />
An<strong>der</strong>slautende Erwartungen werden nur aus professioneller Sicht geäußert, nicht<br />
von den Überflüssigen.<br />
Stattdessen werden im Stadtteil räumliche, ethnische/kulturelle <strong>und</strong> geschlechtliche<br />
Binnendifferenzierungen vorgenommen <strong>und</strong> dabei Vorurteile <strong>und</strong> soziale (Ab-<br />
)Wertungen übernommen, die außerhalb Bruckhausens präexistieren <strong>und</strong> sich gegen<br />
den Stadtteil <strong>und</strong> seine BewohnerInnen insgesamt richten.<br />
Arbeitsamt, Konsum, Hüttenwerk<br />
Die Auswirkungen postindustrieller Marginalität von immer mehr Menschen sind we<strong>der</strong><br />
auf den gesellschaftlichen Sektor Ökonomie beschränkt noch auf die Gruppe <strong>der</strong><br />
unmittelbar Betroffenen: davon zeugt die Integrationsdebatte – wenn auch in extremer<br />
ideologischer Verzerrung, die sich aus <strong>der</strong> Konzentration auf kulturelle Differenzen<br />
<strong>und</strong> sprachliche Defizite <strong>der</strong> schon numerisch vergleichsweise irrelevanten<br />
Gruppe von nach gelten<strong>der</strong> Gesetzeslage einbürgerungsfähigen MigrantInnen ergibt.<br />
<strong>Der</strong> Zusammenhang von gesellschaftlicher Reproduktion <strong>und</strong> Integration, d. h. zwischen<br />
dem Erhalt <strong>der</strong> wesentlichen Eigenheiten unseres bürgerlichen <strong>und</strong> kapitalistischen<br />
Gemeinwesens <strong>und</strong> <strong>der</strong> gesellschaftlichen Teilhabe möglichst aller seiner Mitglie<strong>der</strong>,<br />
wird in <strong>der</strong> Debatte anerkannt. Die Analyse <strong>der</strong> Mechanismen aber, die diese<br />
Integration sicherstellen können, beschränkt sich auf den Überbau, auf Religion,<br />
Werte, das Wissen um Mittelgebirge <strong>und</strong> vernachlässigt die Integrationsmechanismen<br />
<strong>der</strong> ökonomischen Basis. Real jedoch ist eine bürgerliche Gesellschaft, die immer<br />
größere Teile ihrer Mitglie<strong>der</strong> desintegriert, d.h. sie auf Dauer von einem bürgerlichen<br />
Leben ausschließt, in ihrem Fortbestand tatsächlich so bedroht, wie sie Einzelne<br />
o<strong>der</strong> machtvolle Fraktionen etwa durch die Nationalhymne in türkischer Version<br />
bedroht sehen o<strong>der</strong> als bedroht behaupten.
<strong>Der</strong> mächtigste Reproduktionsmechanismus ist die Teilhabe an <strong>der</strong> Produktion. Wer<br />
auf Dauer aus diesem sozialen Sektor ausgeschlossen ist, weil er keiner Erwerbsarbeit<br />
nachgeht, bei dem greift <strong>der</strong> wirkungsmächtigste gesellschaftliche Integrationsmechanismus<br />
nicht mehr: die In-Funktion-Setzung. Diese ökonomische Nutzlosigkeit<br />
zersetzt die Sozialpartnerschaft. Während die Dax-Unternehmen Rekordgewinne<br />
erzielen <strong>und</strong> Deutschland zum Exportweltmeister machen, steht (<strong>der</strong> Großteil von)<br />
Bruckhausen <strong>und</strong> stehen (<strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong>) Bruckhausener im Abseits. Dem <strong>Stand</strong>ortdiskurs<br />
entspricht metaphorisch <strong>der</strong> Pfiff des Schiedsrichters: Wer im Abseits<br />
steht, ist nicht nur funktionslos geworden. Er stört das Spiel, schwächt die eigene<br />
Mannschaft, wie <strong>der</strong> Bezieher von Sozialleistungen in öffentlicher <strong>und</strong> oft auch in eigener<br />
Wahrnehmung die Volkswirtschaft.<br />
Als am häufigsten von uns erfahrene individuelle Folgen dauerhafter Arbeitslosigkeit<br />
<strong>und</strong> des Lebens in einem marginalisierten Stadtteil tauchen folgerichtig <strong>und</strong> schon<br />
bei Kin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen in Bruckhausen ein Gefühl <strong>der</strong> Leere, <strong>der</strong> Eindruck,<br />
daß "hier nix ist", auf. Diese Entwertung <strong>der</strong> eigenen Umgebung schließt auch die<br />
eigenen Nachbarn, teilweise auch die eigene Bezugsgruppe o<strong>der</strong> gar das wertende<br />
Individuum selbst ein: Jugendliche Auslän<strong>der</strong> beklagen "zu viele Auslän<strong>der</strong>" o<strong>der</strong><br />
stilisieren sich selbst zum "König von Scheißebauen". Diese Emotionen <strong>und</strong> Wahrnehmungen<br />
bilden den subjektiven Spiegel <strong>eines</strong> objektiven Zustandes: Sie bezeugen<br />
in <strong>der</strong> Eminenz des Verlusts <strong>der</strong> wesentlichen Funktion in einer auf möglichst<br />
vollständige Funktionalisierung angelegten gesellschaftlichen Struktur diese Struktur.<br />
Wo sich Sinn- <strong>und</strong> Werthaftigkeit sozialer, d h. auch individueller Existenz primär <strong>der</strong><br />
ökonomischen Funktion verdanken, ist die Selbsteinschätzung <strong>eines</strong> überflüssig Gewordenen<br />
als sinn- <strong>und</strong> wertlos nicht individualpathologischer Ausdruck einer Lebenskrise,<br />
dem <strong>und</strong> <strong>der</strong> (psycho-)therapeutisch zu begegnen wäre, son<strong>der</strong>n zutiefst<br />
realitätsgerechter subjektiver Nachvollzug <strong>und</strong> damit Aufweis objektiver (wenn auch<br />
ungerechter) sozialer Realität. Wo diese Selbsteinschätzung in ganzen Stadtteilen<br />
majoritär wird, bezeugt dies eine lokal begrenzte Reproduktionskrise <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />
gesellschaftlichen Verhältnisse, die zumindest durch diese Subjekte hindurch<br />
qua zunächst sozialer Teilhabe <strong>und</strong> erst in Folge durch Affirmation <strong>und</strong> Akklamation<br />
nicht länger sich reproduzieren lassen.<br />
Denn auch <strong>der</strong> zweitmächtigste gesellschaftliche Integrationsmechanismus, <strong>der</strong> Konsum,<br />
ergreift die Überflüssigen nur noch unzureichend: Die wie erwähnt größer werdende<br />
Armut, die immer notdürftigere materielle Kompensation ökonomischer Exklusion<br />
verhin<strong>der</strong>t diese gesellschaftlich nächstliegende (weil unter den gegenwärtigen<br />
Produktionsbedingungen nächstgelegte) Kompensation <strong>der</strong> Erfahrung eigener Funktions-<br />
<strong>und</strong> damit Sinnlosigkeit. <strong>Der</strong> Weg in die Boutiquen, <strong>der</strong> die nicht erwerbstätigen<br />
familialen Anhängsel ökonomisch erfolgreicher Subjekte gesellschaftlich integriert,<br />
indem er ihnen zumindest konsumatorisch gesellschaftliche Teilhabe verschafft <strong>und</strong><br />
dabei (surrogatorisch?) Sinneffekte produziert, ist den meisten Bruckhausenern aus<br />
materiellen <strong>und</strong> nicht aus kulturellen Gründen verschlossen.
Auf den weitgehenden Ausfall dieser beiden Reproduktionsmechanismen reagieren<br />
die disparaten Erwartungshaltungen, die die Zukunft des Stadtteil <strong>und</strong> seiner Bewohner<br />
betreffen. Sie umfassen die Erwartung <strong>eines</strong> sozialen "Sturmes" <strong>der</strong>er, die von<br />
Armut nicht in erster Linie physisch bedroht, son<strong>der</strong>n sozial ausgegrenzt sind, <strong>der</strong><br />
repressiv nicht kontrollierbar sein werde. Sie umfassen auch die Erwartung <strong>eines</strong><br />
weiter friedlichen Miteinan<strong>der</strong>s armer <strong>und</strong> weniger armer Bevölkerungsschichten, die<br />
jeweils im Rahmen ihrer Möglichkeiten konsumatorisch teilhaben <strong>und</strong> Nachbarschaftshilfe<br />
teilweise an die Stelle von Erwerbsarbeit setzen <strong>und</strong> so den Ausfall sozialer<br />
Bindekraft des Integrationsagenten Produktion durch Nachbarschaft <strong>und</strong> Stadtteilpatriotismus<br />
kompensieren können. Diese Erwartungshaltung koexistiert mit <strong>der</strong><br />
Beobachtung, zumindest die überflüssige Wohnbebauung würde durch Zuzug einkommensstärkerer<br />
Menschen (<strong>und</strong> einhergehende Renovierungen) refunktionalisiert<br />
mit dem Ergebnis einer Verdünnung <strong>der</strong> sozialen Probleme des Stadtteils ohne Verdrängung<br />
<strong>der</strong> (problematischen) Restbevölkerung. Zwischen beiden Erwartungshaltungen<br />
steht die <strong>der</strong>jenigen, die – sei es resignativ, sei es vorwurfsvoll – meinen, daß<br />
sich nichts än<strong>der</strong>n werde in Bruckhausen, ein wenig mehr Leere, ein wenig mehr<br />
Armut bevorstehe, aber "keine Entwicklung" zu sehen sei. In den letzten 10 Jahren<br />
nicht <strong>und</strong> auch nicht in den nächsten.<br />
Diese Haltung wird nicht nur von denjenigen vertreten, die sich selber ihrer Chancen<br />
beraubt o<strong>der</strong> nur aller Chancen ledig sehen. Auch <strong>der</strong> vermeintliche Außenblick <strong>der</strong>jenigen<br />
Anwohner, die als regulär Erwerbstätige für sich selbst Entwicklungsmöglichkeiten<br />
sehen, können solche für ihre marginalisierten Nachbarn nicht erkennen. Die<br />
aber sind in den Augen jener daran selbst schuld: "Je<strong>der</strong> kann Haifisch werden", d. h.<br />
mächtiges Subjekt, Mitglied einer herrschenden (Räuber-)Klasse. Dieses <strong>der</strong> Motivationsterminologie<br />
s<strong>eines</strong> Arbeitgebers entnommene Motto <strong>eines</strong> jungen Bruckhausener<br />
Kaufmannes unterstellt, daß alle (aus sich) machen können, was sie wollen. Und<br />
daß, wer nichts aus sich machen konnte, nicht genug wollte.<br />
Stadtteilmanagement, Schule<br />
<strong>Der</strong> Eindruck <strong>der</strong> Leere ist als Wissen <strong>der</strong>jenigen, die in Bruckhausen unter ihr leiden,<br />
nicht von außen zu bestreiten. Er wird nicht wi<strong>der</strong>legt, noch zum alles halb so<br />
schlimm abgemil<strong>der</strong>t durch die Erfahrungen etwa idyllisch-dörflichen Lebens, sozialen<br />
Zusammenhalts, geschäftiger Aktivität <strong>und</strong> Kreativität, bürgerschaftlichen Engagements<br />
<strong>und</strong> engagierter Karrieren im gleichen Stadtteil. Er macht diese auch nicht<br />
halb so schön. Positive wie negative Erfahrungen <strong>und</strong> Zustandsbeschreibungen sind<br />
auch nicht in ein Nebeneinan<strong>der</strong> aufzulösen. Sie gehen jeweils aufs Ganze, d. h. wi<strong>der</strong>legen<br />
einan<strong>der</strong> zwar nicht, doch wi<strong>der</strong>sprechen sie sich. Die Disparatheit <strong>der</strong> Eindrücke<br />
ist auch keine Frage <strong>der</strong> Perspektive, noch macht sie diese Eindrücke gleichberechtigt:<br />
Das Schöne bleibt partikular; das gesellschaftliche Ganze ist doppelt so<br />
schlimm.
"Warum brennt hier nichts?", war wie erwähnt die Frage <strong>der</strong> mobilen Kamerateams,<br />
die gleichsam anerkannte, daß die Aufrechterhaltung <strong>der</strong> bestehenden sozialen Ordnung<br />
den Interessen <strong>der</strong>jenigen nicht länger entspricht, die we<strong>der</strong> in sie eingeb<strong>und</strong>en<br />
sind, noch von ihr bedeutend profitieren. Das wären in Bruckhausen genug.<br />
Stellen wir dagegen die Frage, wer hier wie <strong>und</strong> womit dafür sorgt, daß in Bruckhausen<br />
noch/wie<strong>der</strong> etwas funktioniert. Dabei geraten die öffentlichen (also durch Staat,<br />
Land o<strong>der</strong> Kommune organisierten <strong>und</strong> finanzierten) Anstrengungen zur gesellschaftlichen<br />
Integration <strong>der</strong> aus Betrieben wie Boutiquen Ausgeschlossenen in den<br />
Blick. Das Stigma <strong>eines</strong> sozialen Problemstandortes hat nicht nur negative Auswirkungen<br />
auf den Stadtteil <strong>und</strong> seine Bewohner, es half <strong>und</strong> hilft auch bei <strong>der</strong> Akquise<br />
öffentlicher Mittel. In vielfältigen Weisen sind diese Mittel über die erwähnte unmittelbare<br />
Alimentierung <strong>der</strong> ökonomisch Marginalisierten hinaus präsent, um die hier beson<strong>der</strong>s<br />
deutlichen Probleme zu lösen o<strong>der</strong> zu mil<strong>der</strong>n. Die inzwischen klassischen<br />
Methoden des Quartiermanagements werden auch in Bruckhausen angewandt. Zu<br />
seinen wichtigsten Instrumenten gehört ein Run<strong>der</strong> Tisch als Diskussions-, Vernetzungs-<br />
<strong>und</strong> Entscheidungsgremium. Er soll die Einbeziehung möglichst aller lokal<br />
relevanten Gruppen <strong>und</strong> Institutionen garantieren <strong>und</strong> steht auch Einzelpersonen<br />
offen. Zentraler Akteur des Quartiermanagements <strong>und</strong> damit <strong>der</strong> Verwaltung öffentlicher<br />
Mittel ist ein Stadtteilbüro <strong>der</strong> Entwicklungsgesellschaft Duisburg. Es wirkt nicht<br />
nur koordinierend <strong>und</strong> mo<strong>der</strong>ierend, son<strong>der</strong>n vielfach initiierend. Trotz aller praktischen<br />
Erfolge solchen Managements scheitert es (bisher/zwangsläufig?) an <strong>der</strong> ihm<br />
mit dem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel hin zu einem schlankeren Staat zugewiesenen<br />
Aufgabe, Strukturen zu schaffen, die ohne einen solchen starken Akteur<br />
<strong>und</strong> ohne jene öffentlichen Mittel überlebensfähig wären. Die aktivierende Wirkung<br />
gemeinsam getroffener Entscheidungen über die Verwendung dieser Mittel ist zwar<br />
unübersehbar, scheint aber nicht stark genug, um ihr Wegbrechen zu überdauern –<br />
zu hoch aufgetürmt <strong>und</strong> v.a. ohne immer neuerliche Intervention kontinuierlich anwachsend<br />
ist <strong>der</strong> durch "baggermäßig(es)" Vor-sich-Herschieben entstehende "Berg"<br />
an individuell nicht zu bewältigenden Problemen, die so nur mehr als "Frust" erlebt<br />
werden.<br />
Die bisher erzielten Erfolge wie die akuten Gefährdungen gelten verstärkt für die als<br />
Kompensation bereits terminologisch kenntlich gemachten Instrumente klassischer<br />
Sozialarbeit, v. a. für den sog. Zweiten o<strong>der</strong> Dritten Arbeitsmarkt. Nach <strong>der</strong> weitgehend<br />
ersatzlosen Streichung fast aller einschlägigen Programme krankt diese Arbeit<br />
daran, daß sie – nach dem Zeugnis in ihr Tätiger – ihrer Klientel "nichts mehr anbieten"<br />
kann. Ebensowenig wie das am Ort verbliebene Großunternehmen, trotz erzielten<br />
Milliardengewinnen, auf dem ersten Arbeitsmarkt. Nach Jahren <strong>der</strong> Ignoranz tritt<br />
nun zwar immerhin ein Interesse an gutnachbarlichen Beziehungen an die Stelle <strong>der</strong><br />
einstmals dominierenden betrieblichen Sozialpartnerschaft. Dieses Interesse hat für<br />
den Stadtteil positive Wirkungen. We<strong>der</strong> die erreichten Luftverbesserungen noch <strong>der</strong><br />
geplante Wallbau – ein begrünter Limes zwischen Hüttenwerk <strong>und</strong> Stadtteil – können<br />
jedoch die integrative Wirkung jener Partnerschaft erreichen.
Unter diesen objektiven Bedingungen des Lebens, für das <strong>und</strong> nicht für sie selbst<br />
ihrem eigenen Anspruch nach sie lehrt <strong>und</strong> lernen läßt, ist auch die Schule mit <strong>der</strong><br />
Aufgabe nachhaltiger sozialer Reproduktion überfor<strong>der</strong>t. Zwar lassen die Rudimente<br />
sozialdemokratischer Kriseninterventionspolitik unter Einsatz öffentlicher Mittel in einem<br />
Stadtteil wie Bruckhausen (noch?) relativ kleine Klassen <strong>und</strong> spezielle (v. a.<br />
Sprach-)För<strong>der</strong>programme zu. Auch auf sie mag es zurückzuführen sein, daß Bruckhausener<br />
SchülerInnen auf weiterführenden Schulen zu den motiviertesten gehören.<br />
Diese Motivation scheint aber im weiteren Verlauf <strong>der</strong> Schullaufbahn zu schwinden<br />
<strong>und</strong> kann die in Deutschland beson<strong>der</strong>s starke – <strong>und</strong> mit Einführung flächendecken<strong>der</strong><br />
Studiengebühren <strong>und</strong> ähnlicher (bildungs-)politischer Entscheidungen sich noch<br />
verstärkende – Abhängigkeit schulischer <strong>und</strong> universitärer Bildungsmöglichkeiten<br />
vom sozialen Status nicht aufbrechen. Mit <strong>der</strong> partiellen (ob erzwungenen, ob ohne<br />
Not erfolgten) Rücknahme des v. a. von <strong>der</strong> klassischen Sozialdemokratie formulierten<br />
Versprechens, die sozialen Verwerfungen, die in Folge des sog. Strukturwandels<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> sog. Globalisierung entstanden, mit öffentlichen Mitteln zu kompensieren<br />
<strong>und</strong> ihre Hauptbetroffenen so sozial zu (re-)integrieren, ist nicht nur die Frage obsolet<br />
geworden, ob das denn möglich gewesen wäre. Die Bereitschaft o<strong>der</strong> Fähigkeit, die<br />
für den temporären Ein- <strong>und</strong> Ersatz konzipierten Integrationsinstrumente des Sozialstaats<br />
einem Dauerbelastungstest auszusetzen <strong>und</strong> finanziell entsprechend höher<br />
auszustatten, ist nicht (länger) vorhanden.<br />
Selbstbeherrschung<br />
Obwohl die in Bruckhausen zwangsläufig früher als an<strong>der</strong>swo spürbaren Mittelkürzungen<br />
die physische Reproduktion ökonomisch marginalisierter Subjekte (einstweilen?)<br />
unangetastet lassen, rücken sie zwangsläufig diejenigen Institutionen <strong>und</strong> Mechanismen<br />
<strong>der</strong> Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse in den Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>, <strong>der</strong>en<br />
Funktionieren weniger auf öffentliche Mittel angewiesen ist. <strong>Der</strong> Blick auf das,<br />
was in Bruckhausen sozialen Zusammenhalt herstellt o<strong>der</strong> zumindest sozialen Frieden<br />
sichert, aber den Staat nichts kostet, wird fündig bei Werten, bei familiären <strong>und</strong><br />
religiösen Zusammenhängen, bei Lokalpatriotismus <strong>und</strong> Ghettostolz, bei Sportvereinen<br />
<strong>und</strong> Kleingärten.<br />
Auch hier wie beim Stadtteilmanagement überwiegt zumindest zunächst <strong>der</strong> Eindruck<br />
<strong>eines</strong> Netzwerkes <strong>und</strong> <strong>der</strong> Kooperation. Die am R<strong>und</strong>en Tisch vertretenen religiösen<br />
Institutionen etwa übernehmen partiell ehemals öffentliche Funktionen. Am deutlichsten<br />
erkennbar als Kompensation einer weitgehend weggefallenen öffentlichen<br />
Kompensation weitgehend weggefallener gesellschaftlicher Teilhabe sind dabei Einrichtungen<br />
wie die Armenspeisung <strong>der</strong> evangelischen Kirche. Aber auch als Träger<br />
von Jugendarbeit gewinnen Kirchen <strong>und</strong> Moscheen an Bedeutung. Gemeinsame<br />
Einschulungszeremonien zeugen nicht nur von <strong>der</strong> Kooperation dieser religiösen Institutionen,<br />
son<strong>der</strong>n auch vom Versuch, ihre sozialen Kontrollfunktionen für soziale<br />
Integrationsaufgaben nutzbar zu machen. Sprachkurse werden etwa von Moschee-
vereinen angeboten <strong>und</strong> die Wahrnehmung dieses Angebots durch die Gemeindemitglie<strong>der</strong><br />
damit zugleich von ihnen sichergestellt. Dabei fällt auf, daß auf <strong>der</strong> Ebene<br />
dieser Kooperation die im öffentlichen Diskurs so virulenten kulturellen Differenzen<br />
<strong>und</strong> Separatwerte pragmatisch genutzt werden. Schule, Jugendarbeit <strong>und</strong> Polizei<br />
setzen auf die mit etwa türkischen Familienstrukturen verb<strong>und</strong>enen Kontrollmöglichkeiten,<br />
indem sie sich an ältere Brü<strong>der</strong> o<strong>der</strong> an angesehene Patriarchen <strong>der</strong> türkischen<br />
Community wenden. Wie weit diese Kontrollmöglichkeiten reichen, zeigt etwa<br />
die Einschätzung (von deutscher Seite), Schlägereien kämen in Bruckhausen kaum<br />
noch vor, weil potentielle Schläger sich nicht vor den Augen <strong>der</strong> islamischen Gemeindevorsteher<br />
schlügen, o<strong>der</strong> die Überzeugung <strong>eines</strong> türkischen Moscheevereinsvorsitzenden,<br />
seine Aufgabe bestünde darin, dafür zu sorgen, daß hier kein Alkohol<br />
öffentlich konsumiert würde <strong>und</strong> diese Aufgabe sei auch erfolgreich bewältigt worden.<br />
<strong>Der</strong> majoritär deutsche Schrebergartenverein hat etliche muslimische Mitglie<strong>der</strong> <strong>und</strong><br />
einen türkischen Kassenwart, <strong>der</strong> nun auch für den Vorsitz kandidieren will, einem<br />
Fußballverein steht in Personalunion <strong>der</strong> Moscheevereinsvorsitzende vor.<br />
In Verbindung mit <strong>der</strong> schon erwähnten Nachbarschaftshilfe <strong>und</strong> <strong>der</strong> eigeninitiativen<br />
Minimierung etwa <strong>der</strong> Bedingungen öffentlichen Drogenhandels mittels Baumbeschnitt<br />
(vgl. Titelbild) durch engagierte Bürger, führt gerade die Stigmatisierung<br />
Bruckhausens als sozialen Problemstadtteil zu einem Stadtteilselbstbewußtsein, das<br />
allerdings zwischen Ghettostolz ("für Schickimickis viel zu hart") <strong>und</strong> eher klassischem<br />
Lokalpatriotismus (gepflegte, nicht mehr zertrampelte Baumscheibe, "an<strong>der</strong>e<br />
Werte", "geht steil nach oben") changiert.<br />
Ohne in eine Debatte zu verfallen, die unsere vermeintlich christlich-abendländischen<br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong>en muslimische (morgenländische?) Wertekanones/n aufeinan<strong>der</strong> richtet,<br />
steht in Frage, inwieweit familiale <strong>und</strong> religiöse Institutionen, die eben nicht dafür<br />
konzipiert sind, die Integration ihrer Mitglie<strong>der</strong> in eine bürgerliche Gesellschaft sicherzustellen<br />
<strong>und</strong> so <strong>der</strong>en Reproduktion zu gewährleisten, diese Aufgaben erfüllen<br />
können <strong>und</strong> welche Schwierigkeiten dabei auftreten.<br />
Welche Grenzen hat also <strong>der</strong> erwähnte pragmatische Zugriff? Zunächst kollidiert das<br />
bruckhauseninterne Selbstbewußtsein <strong>der</strong> hier majoritären nicht deutschstämmigen<br />
Bevölkerung mit <strong>der</strong> gesellschaftlichen Umgebung des Stadtteils, die weiterhin erwartet,<br />
daß sich genau umgekehrt "nicht die Deutschen integrieren", son<strong>der</strong>n dies<br />
"bitteschön die Migranten tun" müßten. Diese Kollision lokal hegemonialer Werte mit<br />
gesamtgesellschaftlich hegemonialen, etwa bei <strong>der</strong> Frage, ob öffentliche Tischtennisplatten<br />
für muslimische Beerdigungsrituale nutzbar sind o<strong>der</strong> eine Moschegemeinde<br />
ein Internat nach Maßgabe ihrer internen Regeln betreiben kann, wirkt konfliktuell<br />
<strong>und</strong> nicht integrativ. Die in Bruckhausen durch die hier wirksamen sozialen<br />
Kontrollen befriedeten Jugendlichen hauen sich dann "in Hamborn die Dachlatten auf<br />
den Kopp", <strong>und</strong> auch das Alkoholverbot ergreift die deutsche Restbevölkerung nicht,<br />
was – ebenso wie die muslimische Geschlechtertrennung im Kleingarten – wie<strong>der</strong>um<br />
segregativ wirkt. Und nicht zuletzt för<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Ghettostolz auch ("König von Scheiße-
auen") die Verhaltensweisen, die einer Reproduktion <strong>der</strong> gesellschaftlichen Verhältnisse<br />
eher im Wege stehen.<br />
Warum hier nichts brennt?<br />
<strong>Der</strong> empathische Betrachter, <strong>der</strong> von jenen Reibungen, wie von <strong>der</strong> Klarheit beeindruckt<br />
ist, mit <strong>der</strong> diese gesellschaftlichen Verhältnisse als ungerecht <strong>und</strong> die eigene<br />
Chancenlosigkeit in ihnen als nicht bloß kontingente, temporäre o<strong>der</strong> selbstverschuldete<br />
erkannt werden, läuft Gefahr, dieses im Wege stehen mit Wi<strong>der</strong>stand zu verwechseln<br />
<strong>und</strong> die erzwungene Selbstbeherrschung <strong>und</strong> -organisation mit autonomer<br />
Zuschreibungsmacht. <strong>Der</strong> nicht empathische wie<strong>der</strong>um läuft Gefahr, hier bloß falsches<br />
Bewußtsein, machistisches Verhalten <strong>und</strong> religiösen Wahn zu diagnostizieren<br />
<strong>und</strong> sich auf <strong>der</strong> Suche nach revolutionärem Potential an<strong>der</strong>en gesellschaftlichen<br />
Gruppen zuzuwenden. In <strong>der</strong> Betrachtung zu verharren bleibt also notwendig projektiv,<br />
sei es anbie<strong>der</strong>nd o<strong>der</strong> arrogant. Die spezifischen Erkenntnismöglichkeiten in<br />
Bruckhausen <strong>und</strong> den Umgang seiner Bewohner mit diesen Möglichkeiten anzuerkennen,<br />
ohne die spezifischen Deformationen, die <strong>der</strong> Chancenlosigkeit folgen, zu<br />
verkennen, ist bloßer theoretischer Betrachtung so wenig möglich wie distanzloser<br />
Pseudopraxis. Das vom Dialog mit dem Leben <strong>und</strong> dem Wissen, das längst zu repräsentieren<br />
es oft sich einbildet, weitergetriebene Denken, stößt im Versuch einer<br />
Beantwortung <strong>der</strong> Frage, was das Universum macht, nach einigen selbständigen<br />
Schritten wie<strong>der</strong> an seine epistemologischen Grenzen <strong>und</strong> wird, obzwar selbst ein<br />
Stück <strong>Praxis</strong>, wie<strong>der</strong>um an eine ihm fremde <strong>Praxis</strong> verwiesen. Gefragt sind Interventionen,<br />
die den Graben nicht leugnen, <strong>der</strong> das Wissen <strong>der</strong> Betroffenen vom nichtbetroffenen,<br />
an<strong>der</strong>s deformierten Wissenden trennt, die aber über diesen Graben<br />
hinweg Partei ergreifen. Gegen den <strong>Stand</strong> <strong>der</strong> <strong>Dinge</strong>, gegen den Zustand <strong>der</strong> Welt.<br />
III. Intervention: Kunst<br />
Fotografie<br />
“Warum kommt das Elend meiner Fre<strong>und</strong>in hier nicht vor?!“<br />
(B. Schütz in R. Polleschs Berliner “Prater“-Inszenierung<br />
“Notti senza cuore - Life is the new hard!“)<br />
Nicht nur die außergewöhnliche topographische Lage Bruckhausens zwischen Thyssenwerk<br />
<strong>und</strong> A 42 <strong>und</strong> die überall so präsente wie imposante Industriekulisse waren<br />
Ausgangspunkte einer fotografischen Auseinan<strong>der</strong>setzung, die Annette Jonak mit<br />
dem Stadtteil führte. Auch <strong>der</strong> Ruf Bruckhausens als <strong>eines</strong> sozialen Brennpunktes, in
dem die gesellschaftlichen Probleme, die das Ruhrgebiet ohnehin stärker prägen als<br />
an<strong>der</strong>e Gegenden Deutschlands, noch einmal stärker augenfällig sind, ging in ihre<br />
Arbeit ein, so wie die Sicht <strong>eines</strong> jeden Besuchers des Stadtteils <strong>und</strong> auch des Betrachters<br />
ihrer Bil<strong>der</strong> von diesem Ruf geprägt ist.<br />
Die Zwiespältigkeit dieses Stadtteils in neue Bil<strong>der</strong> zu fassen, ohne den schon zu oft<br />
veröffentlichten <strong>und</strong> kaum berechtigten Klischees – seien sie wie so oft negativ o<strong>der</strong><br />
vor<strong>der</strong>gründig <strong>und</strong> effekthascherisch idyllisch – zu folgen, war Ziel einer mehrmonatigen<br />
Recherche. Annette Jonak gab sich nicht mit dem intensiven Augenschein <strong>eines</strong><br />
Ortes zufrieden, son<strong>der</strong>n suchte den Kontakt zu seinen Bewohnern, ihren Erfahrungen<br />
<strong>und</strong> Geschichten. Diese Ortserk<strong>und</strong>ung schuf zunächst Bil<strong>der</strong> im Kopf <strong>der</strong> Fotografin,<br />
die sich dabei als Teil <strong>eines</strong> Projektes wußte, das auf verschiedenen künstlerischen<br />
<strong>und</strong> theoretischen Wegen hier den <strong>Stand</strong> <strong>der</strong> <strong>Dinge</strong> zu erfassen suchte.<br />
Die so entstandenen Bil<strong>der</strong> haben alle dokumentarischen Charakter, resultieren aus<br />
dem Gesehenen, Gehörten <strong>und</strong> Erfahrenen, sind zum Teil aber inszenierte <strong>und</strong> neu<br />
zusammengestellte Fotografien, welche die Subjektivität ihrer Urheberin nicht verleugnen.<br />
Sie beschreiben eine mögliche Wahrnehmung des Stadtteils <strong>und</strong> seiner<br />
objektiven, gesellschaftlichen Realität neu. In den bisherigen Ausstellungen dieser<br />
Bil<strong>der</strong> – im Januar <strong>und</strong> Juni 2006 in Bruckhausen, im März-Mai 2006 im Internationalen<br />
Zentrum im Duisburger Innenhafen – <strong>und</strong> nun in ihrer Veröffentlichung in diesem<br />
Buch wurde <strong>und</strong> wird diese Beschreibung an an<strong>der</strong>e Betrachter <strong>der</strong>selben Realität<br />
weitergegeben, <strong>der</strong>en eigene Wahrnehmungen damit nicht oktroyierend, wohl<br />
aber schärfend: bezüglich jener Realität wie mindestens ebenso dieser Wahrnehmungen.<br />
Theater<br />
Eine an<strong>der</strong>e produktive Verbindung suchte das Theater innerhalb des Projekts, indem<br />
es sich mit dem Wissen <strong>der</strong> von den herrschenden gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen<br />
Betroffenen sowie mit den zwar sek<strong>und</strong>ären, aber aus professionellem<br />
Miterleben gewonnenen Reflexionen über sie auseinan<strong>der</strong>setzte. Wie für jedes<br />
ernsthafte Erkenntnisbemühen nötig, brachten auch in diesen Prozeß die (auf<br />
privilegiertere Art ebenfalls gesellschaftlich randständigen) Theater-Akteure sich<br />
selbst <strong>und</strong> ihre eigenen Impulse ein. Das Interesse <strong>der</strong> Theatermacher aber galt nicht<br />
<strong>der</strong> Erweiterung <strong>der</strong> eigenen Formensprache, son<strong>der</strong>n den im Dialog <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Reibung<br />
zwischen dieser Sprache <strong>und</strong> dem ihr Äußerlichen neu zu gewinnenden Einsichten,<br />
Erkenntnissen. Unter einen Strich lassen sich diese ihrer Art nach nicht<br />
summieren, aber <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Konfrontation <strong>und</strong> seiner Effekte läßt sich beschreiben.<br />
1. Butoh-Tanz + Stimmen aus Bruckhausen<br />
Die Performance beginnt an einem Ladenlokal, das es ein Jahr zuvor in einem WAZ-<br />
Artikel als exemplarischer "Schandfleck" des Ruhrgebiets zu regionaler Berühmtheit
gebracht hat. Die nur mehr in Teilen existierende Schaufensterfront (eine geborstene<br />
Ecke ist mit Holz verrammelt) ist, wie in den letzten 20 Jahren des Leerstands dieses<br />
Lokals, von innen mit Packpapier verkleidet. Einige Zuschauer werden in das Innere<br />
des Lokals geleitet, die an<strong>der</strong>en bleiben draußen <strong>und</strong> schauen auf das Papier, bis es<br />
mit Beginn <strong>der</strong> Butoh-Performance zerrissen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Blick in das Lokal freigegeben<br />
wird. Zu sehen ist nun ein leerer, am Boden mit schwarzem, körnigen Material bestreuter<br />
Raum <strong>und</strong> auf einer etwas erhöhten Bühne im Schaufenster liegend ein (eigentlich<br />
nur fast) "nackter Mann!", wie es sich schnell in den umliegenden Teestuben<br />
herumspricht. Mit <strong>der</strong> bald darauf einsetzenden Musik – einer Mischung aus Industriegeräuschen<br />
<strong>und</strong> klassisch-musikalischen Tönen – sind zugleich Stimmen aus<br />
Bruckhausen: Zitate aus den geführten Gesprächen zu hören.<br />
<strong>Der</strong> nun einsetzende <strong>und</strong> über 20 Minuten andauernde Tanz von Harald Schulte<br />
konfrontiert die Betrachter mit einer von ihnen mehrheitlich wohl nie zuvor gesehenen<br />
Bewegungsform, die dennoch nicht so fern ihrer Realität gründet, wie gemeinhin<br />
vermutet. Erst gegen Ende <strong>der</strong> 1950er Jahre nämlich entstand im Japan <strong>der</strong> Nachkriegszeit<br />
<strong>der</strong> Butoh, ein mo<strong>der</strong>ner Tanz also, mit Wurzeln zwar im klassischen Noh<strong>und</strong><br />
Kabukitheater, aber ebenso im damals zeitgenössischen deutschen Ausdruckstanz<br />
<strong>und</strong> nicht zuletzt in <strong>der</strong> Körperlichkeit <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen landwirtschaftlichen <strong>und</strong><br />
industriellen Arbeit. Schockierend wirkt in diesem Tanz an diesem Ort also weniger<br />
eine unüberbrückbare Fremdheit in den Beweg-Gründen des Tänzers <strong>und</strong> seiner<br />
Betrachter, als die Expressivität des individuellen Ausdrucks, den <strong>der</strong> Butoh-Tanz<br />
anstrebt <strong>und</strong> den hier Harald Schulte im jahrelang verriegelten Schaufenster, im zwar<br />
noch von Montanindustrie umgebenen, auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> zu leistenden körperlichen<br />
Arbeit aber zugleich bereits weitgehend postindustriellen Bruckhausen für sich findet<br />
<strong>und</strong> für alle Bewohner dieses Ortes veröffentlicht – zu <strong>der</strong>en eigenen, Wort aber noch<br />
nicht körperlicher Ausdruck gewordenen, ihr Leiden konstatierenden aber (noch)<br />
nicht dagegen sich, wie <strong>der</strong> Körper des Tänzers, aufbäumenden Stimmen.<br />
2. Stadtteil-Führung<br />
<strong>Der</strong> Schauspieler Marcel Schäfer holt die Besucher <strong>der</strong> Butoh-Performance am Ladenlokal<br />
ab. Er führt sie über zwei Straßen <strong>und</strong> zwei Plätze zum Ort des dritten Teils<br />
<strong>der</strong> Aufführung, dem Kultur-Bunker am Heinrichplatz. Sich orientierend am studierten<br />
Wissen, aber auch in Aneignung <strong>der</strong> Kindheitserinnerungen <strong>eines</strong> in Bruckhausen<br />
aufgewachsenen Historikers, beschreibt er die heute sichtbare Außenseite des Ortes<br />
in seiner historischen Genese, läßt Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart, objektives Wissen<br />
<strong>und</strong> subjektives Erleben in eins zusammenfallen. Das extremste Zusammenschießen<br />
dieser Ebenen geschieht auf einem Garagenhof, dem Platz, an dem früher<br />
das größte Theater Duisburgs (damals: Hamborns) stand. Bis zu seiner Zerstörung<br />
durch alliierte Bombenangriffe im zweiten Weltkrieg wurden hier Operetten aufgeführt.<br />
Diese historische Szenerie entsteht neu in einer zu den Klängen <strong>der</strong> letzten<br />
hier gezeigten Operette – Franz Lehars Land des Lächelns – pantomimisch gespielten<br />
Szene auf dem Dach genau <strong>der</strong> Garagenreihe, an <strong>der</strong>en <strong>Stand</strong>ort früher die<br />
Bühne begann. Das Licht zu dieser Szene erzeugt mit ihren Maschinen eine Moped-
crew aus <strong>der</strong> Garage gegenüber. <strong>Der</strong> Lärm <strong>der</strong> Mopeds erinnert an den Lärm <strong>der</strong><br />
bombardierenden Flugzeuge von 1943 <strong>und</strong> ist zugleich, wie die Abgase <strong>der</strong> Zweitakter,<br />
ein Zeichen aus <strong>der</strong> Gegenwart. Denn die Mopedfreaks sind nun einmal wirklich<br />
– <strong>und</strong> "Bruckhausen ist halt gewalttätig", wie spontan einer <strong>der</strong> Beleuchter seine<br />
Zustimmung zur vorgeschlagenen Szene begründete. Den Applaus <strong>der</strong> Operetten-<br />
Zuschauer unterbricht Marcel Schäfer mit <strong>der</strong> über den Lärm <strong>der</strong> Mopeds geschrieenen<br />
Information, daß noch vor <strong>der</strong> Premiere <strong>der</strong> Bruckhausener Land des Lächelns-<br />
Inszenierung <strong>der</strong> Librettist dieser Operette, <strong>der</strong> deutsche Jude Fritz Löhner-Beda, in<br />
Auschwitz ermordet wurde. <strong>Der</strong> Stadtteilr<strong>und</strong>gang endet im alten Nazi-Bunker am<br />
Heinrichplatz.<br />
3. Theaterspiel im Bunker<br />
Ästhetisch verbleibt das abschließende Theaterspiel vielleicht am deutlichsten innerhalb<br />
präexistenter Formen. Inhaltlich unternimmt es den extremsten Versuch einer<br />
Einverleibung des zumeist von solchem Spiel getrennten realen Lebens. Die Texte<br />
<strong>der</strong> Schauspieler bestehen fast ausschließlich aus in den Gesprächen mit in Bruckhausen<br />
lebenden <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> arbeitenden Menschen gewonnenen Aussagen, die Figuren<br />
sind Konglomerate aus den in jenen Gesprächen präsenten Charakteren. Eine<br />
Einfühlung im klassischen Sinne findet nicht statt, ebensowenig aber herrscht eine<br />
distanzierte Spielweise vor. Die auf <strong>der</strong> Bühne präsenten Figuren sind vielmehr Resultat<br />
einer sympathetischen Aneignung des Fremden, resultierend aus <strong>der</strong> Erfahrung<br />
vieler Berührungen dieses Fremden mit dem eigenen Erleben <strong>der</strong> Theatermacher.<br />
Aus welchem Impuls sich die das Spiel beendende gewaltsame Zerstörung <strong>der</strong><br />
gesamten Bühnenszenerie ergibt: aus einem im Textmaterial erspürten Potential o<strong>der</strong><br />
aus <strong>der</strong> eigenen Aggression angesichts des Scheiterns im Versuch, das Leid an<strong>der</strong>er<br />
zu erforschen, es zu nicht zu repräsentieren, aber es in die eigene Form aufzunehmen<br />
<strong>und</strong> so eine Anklage gegen seine Ursachen zu formulieren, diese Frage<br />
bleibt offen.<br />
Was bleibt dann?<br />
Was ist entstanden? Es bleibt <strong>der</strong> Auftrag, weiterhin den <strong>Stand</strong>ort <strong>der</strong> Peripherie einzunehmen.<br />
Und es bleibt <strong>der</strong> Auftrag zu steter Selbstreflexion <strong>der</strong> eigenen theoretischen<br />
<strong>und</strong> künstlerischen <strong>Praxis</strong>. Entstanden ist die Auffor<strong>der</strong>ung, die eingegangene<br />
Arbeit in professioneller Weise fortzusetzen, Bedingungen herzustellen, die dafür<br />
nötig sind. Entstanden ist das Bewußtsein vom Maßstab Qualität: in einem gesellschaftlichen<br />
Kontext, <strong>der</strong> sich auf allen Ebenen auszeichnet durch Unreflektiertheit,<br />
Unprofessionalität, inkonsequentes Denken <strong>und</strong> daraus resultierend beliebiges bzw.<br />
in je<strong>der</strong> Hinsicht systemkonformes Handeln. Es gilt präzise zu sein im Bemühen nach<br />
Erkenntnis <strong>und</strong> kompromißlos auf dem Weg dorthin <strong>und</strong> darin, ebenso präzise im<br />
Versuch, hierbei mit dem Wissen an<strong>der</strong>er zu arbeiten. Den Respekt vor dem Leid,<br />
dem Leben, dem Wissen <strong>der</strong> von den gesellschaftlich vorherrschenden Mechanismen<br />
Marginalisierten zu bewahren <strong>und</strong> noch zu steigern. Die eigene theoretische
Begriffsarbeit <strong>und</strong> künstlerische Formgebung demgegenüber gering zu achten <strong>und</strong><br />
zugleich in höchstem Maße zu achten, als das Wertvollste, was nicht nur dem Theoretiker<br />
<strong>und</strong> dem Künstler gegeben ist im Bemühen, nicht nur (nicht selbst) verschuldetes<br />
Elend, son<strong>der</strong>n seinen Ursprung zu erkennen, ihn nicht nur zu erkennen, son<strong>der</strong>n<br />
ihn bloßzustellen <strong>und</strong> damit auch ihn <strong>und</strong> die von hier aus produzierten Effekte<br />
anzuklagen <strong>und</strong> weiter noch anzugreifen. Ohne die Illusion <strong>eines</strong> Tätersubjekts hinter<br />
all den zu durchschauenden Mechanismen <strong>und</strong> ohne die Illusion <strong>eines</strong> <strong>und</strong>eformiertüberlegenen<br />
Bewußtseins <strong>der</strong>er, die objektiv nur Opfer sind, vielmehr im Angesicht<br />
mit <strong>der</strong> Beschränktheit auch ihrer wie <strong>der</strong> eigenen Erkenntnisfähigkeit <strong>und</strong> in <strong>der</strong> Erwartung<br />
stetigen Scheiterns, trotzdem immer wie<strong>der</strong> neue Attacken zu fahren gegen<br />
die Ursachen des Elends dieser Welt.<br />
© Christian Schoppe, Stefan Schroer