Im Rückwärtsgang in die schwarze Pädagogik - Aktion Humane ...
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Andreas Renger, Gudrun Schuster<br />
<strong>Im</strong> <strong>Rückwärtsgang</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>schwarze</strong> <strong>Pädagogik</strong><br />
Michael W<strong>in</strong>terhoff: Warum unsere K<strong>in</strong>der zu Tyrannen werden, oder: Die Abschaffung<br />
der K<strong>in</strong>dheit, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 2008, 191 S., € 17,95<br />
Der Psychotherapeut und K<strong>in</strong>der- und Jugendlichenpsychotherapeut Andreas<br />
Renger und <strong>die</strong> K<strong>in</strong>der- und Jugendlichenpsychotherapeut<strong>in</strong> Gudrun Schuster<br />
setzen sich mit dem zunehmend populärer werdenden Erziehungsratgeber von<br />
Michael W<strong>in</strong>terhoff kritisch und aus personzentrierter Sicht ause<strong>in</strong>ander.<br />
Es gibt Bücher, <strong>die</strong> könnte man e<strong>in</strong>fach ignorieren, zumal, wenn sie kaum wissenschaftlichen<br />
Anspruch erheben, formal ke<strong>in</strong>erlei Verweise auf andere Autoren oder<br />
Literaturangaben be<strong>in</strong>halten, sich ausschließlich aus der <strong>in</strong>tuitiven Erkenntnis des<br />
Autors speisen - e<strong>in</strong>es Autors, der ohne jegliche Bemühung, sich mit der aktuellen<br />
Fachdiskussion ause<strong>in</strong>anderzusetzen, auskommt. Gerade auf dem Markt der so genannten<br />
Erziehungsratgeber gibt es sicher viele solcher wohlfeilen Angebote. Wie<br />
gesagt, man könnte sie ignorieren, stiege da nicht e<strong>in</strong> solches Werk auf <strong>in</strong> <strong>die</strong> Bestsellerlisten<br />
von Spiegel und Focus, h<strong>in</strong>auf <strong>in</strong> <strong>die</strong> ersten Plätze, mittenre<strong>in</strong> zwischen<br />
<strong>die</strong> Feuchtgebiete und Bohlenwege des deutschen Büchermarktes. Man könnte auch<br />
<strong>die</strong>ses Buch ignorieren, würde dem Autor, e<strong>in</strong>em Bonner K<strong>in</strong>der- und Jugendpsychiater,<br />
<strong>in</strong> Funk und Fernsehen und <strong>in</strong> zahlreichen Vortragsveranstaltungen nicht Gelegenheit<br />
geboten, Stammtischpositionen zu Erziehungsfragen e<strong>in</strong>er ratlosen und dabei<br />
hilfesuchenden Öffentlichkeit zu präsentieren, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en Trend zu be<strong>die</strong>nen<br />
sche<strong>in</strong>en, wie ihn vor ihm bereits Bernhard Bueb mit se<strong>in</strong>er Streitschrift „Lob der<br />
Diszipl<strong>in</strong>“ angestoßen hat. Hier zeigt sich e<strong>in</strong> Trend, der allmählich entwickelte und<br />
mühsam <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gesellschaft <strong>in</strong>tegrierte humanistische und personzentrierte Ideen der<br />
letzten Jahrzehnte zu entwerten droht.<br />
W<strong>in</strong>terhoff sieht K<strong>in</strong>der als Tyrannen<br />
Schon der Titel verrät uns, was wir zu erwarten haben: Um <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>en Tyrannen geht<br />
es wieder e<strong>in</strong>mal - seit Ir<strong>in</strong>a Prekop der Inbegriff von K<strong>in</strong>dern, <strong>die</strong> dank der Unfähigkeit<br />
ihrer Eltern und e<strong>in</strong>er vom Werteverfall gezeichneten Kultur zu kle<strong>in</strong>en Monstern<br />
mutieren und e<strong>in</strong>e bedrohliche Zukunft für uns alle erwarten lassen. „Wir leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Ausnahmezustand“, erfahren wir bei W<strong>in</strong>terhoff, „<strong>in</strong> dem <strong>die</strong> K<strong>in</strong>der zu den Erziehern<br />
ihrer Eltern geworden s<strong>in</strong>d und <strong>die</strong>se re<strong>in</strong> lustbetont steuern können, ohne<br />
Grenzen aufgezeigt zu bekommen.“ Endzeitstimmung macht sich breit und <strong>die</strong> Heilsbotschaft<br />
schickt er sogleich h<strong>in</strong>terher, <strong>in</strong>dem er erklärt, se<strong>in</strong> Ansatz sei „<strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige<br />
Möglichkeit, <strong>die</strong>sen Trend s<strong>in</strong>nvoll zu analysieren und Strategien zu entwickeln, wie<br />
man ihm wirksam entgegenwirken kann.” Um nicht missverstanden zu werden, beteuert<br />
er immer wieder, dass es ihm ke<strong>in</strong>eswegs darum gehe, Eltern zu beschuldigen<br />
oder zu diffamieren – alle<strong>in</strong> der Frust über bornierte Eltern und „freche“ K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> der<br />
alltäglichen Sprechstunde se<strong>in</strong>er Praxis quillt dem Leser aus jeder Seite <strong>die</strong>ses Buches<br />
entgegen. Oft sche<strong>in</strong>t ihm das selber nah an der Bewusstse<strong>in</strong>schwelle, wenn er<br />
unbeholfen erklärt, „der Umgang mit K<strong>in</strong>dern sollte immer liebevoll se<strong>in</strong>, K<strong>in</strong>der brauchen<br />
unbed<strong>in</strong>gt“ (me<strong>in</strong>t er wirklich „unbed<strong>in</strong>gt“ im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er personzentrierten 1 Haltung?)<br />
„Zuwendung, etwa <strong>in</strong> Form von Kuscheln, <strong>in</strong> den Arm nehmen...“ Alle<strong>in</strong> der<br />
Zugang zum Bewusstse<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t ihm versperrt, und e<strong>in</strong>e damit e<strong>in</strong>hergehende Re-
flektion der H<strong>in</strong>tergründe und Bed<strong>in</strong>gungszusammenhänge, der möglicherweise eigenen<br />
Anteile und daraus zu entwickelnden Handlungsstrategien, wie es <strong>in</strong> der von<br />
ihm als fachliche Heimat benannten tiefenpsychologisch fun<strong>die</strong>rten Psychotherapie<br />
Usus ist, sche<strong>in</strong>t ihm völlig fremd. So verharrt er mit all se<strong>in</strong>en Thesen im Raum des<br />
Vorbewussten.<br />
Drei Formen von Beziehungsstörungen stellt W<strong>in</strong>terhoff zwischen Eltern und K<strong>in</strong>dern<br />
fest, e<strong>in</strong>e apokalyptische Trias sieht er aufziehen, <strong>die</strong> über uns herfällt und <strong>die</strong> Erziehung<br />
des Nachwuchses nachhaltig gefährdet. Es s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>s: Partnerschaftlichkeit,<br />
Projektion und Symbiose. Begriffe, <strong>die</strong> es ver<strong>die</strong>nen, genauer betrachtet zu werden,<br />
um zu verstehen, was W<strong>in</strong>terhoff damit me<strong>in</strong>t und <strong>in</strong> welcher Weise er sie für se<strong>in</strong>e<br />
Zwecke zu <strong>in</strong>strumentalisieren versucht. Ohne jeglichen Rückgriff auf bisher entwickelte<br />
Theorien zu <strong>die</strong>sen Begriffen und ohne sie <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Thesen zu <strong>in</strong>tegrieren,<br />
werden <strong>die</strong>se Störungen durch unwiderlegbare Allgeme<strong>in</strong>plätze, <strong>die</strong> allenfalls Kopfnicken<br />
bei e<strong>in</strong>er pädagogisch-konservativen Laienschar oder resignierten Vertretern<br />
aus Schule und Jugendhilfe hervorrufen, illustriert. Die Methode, Fallbeispiele aus<br />
se<strong>in</strong>er täglichen Praxis ohne jegliche Beschreibung des <strong>in</strong>dividuellen H<strong>in</strong>tergrundes<br />
oder etwa der Erklärung der Genese der dargestellten Pathologie, aufzureihen, wirkt<br />
wie der hilflose Versuch, unverstandene Psychodynamik 2 aus nicht bewältigten Herausforderungen<br />
des Arbeitsalltags <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dazu erfundene Theorie e<strong>in</strong>zupferchen. So<br />
wirken sie denn auch eher wahllos <strong>in</strong>s Buch gestreut und kaum dazu geeignet, das<br />
von ihm gerade angeprangerte gestörte Beziehungsmuster zu beschreiben. Hier ergibt<br />
sich eher der E<strong>in</strong>druck, dass sie Betroffenheit erzeugen sollen, was sich K<strong>in</strong>der<br />
heutzutage alles herausnehmen und wie <strong>in</strong>kompetent sich Eltern <strong>in</strong> solchen Situationen<br />
verhalten.<br />
W<strong>in</strong>terhoff versucht, aus Irrtümern Kapital zu schlagen<br />
So versucht er das gestörte Muster „Partnerschaftlichkeit“ zu beschreiben: K<strong>in</strong>der<br />
tanzen ihren Eltern auf der Nase rum, Eltern wissen sich nicht zu wehren, unterwerfen<br />
sich der Tyrannei ihrer K<strong>in</strong>der und erklären das Verhalten ihrer K<strong>in</strong>der mit deren<br />
„starker Persönlichkeit“. Nicht, dass es e<strong>in</strong>e solche Interaktion zwischen Eltern und<br />
K<strong>in</strong>dern, Parentifizierungen 3 und Mangel an Struktur und Diffusion von Generationengrenzen<br />
heute nicht gehäuft gäbe. Autoren wie Rogge, Omer oder Rotthaus –<br />
<strong>die</strong> an ke<strong>in</strong>er Stelle erwähnt werden – beschreiben solche Probleme differenziert und<br />
methodisch nachvollziehbar, so dass sich auch Handlungskonzepte daraus ableiten<br />
lassen. Sie haben es allerd<strong>in</strong>gs nicht nötig, hierzu Begriffe der humanistischen Psychologie<br />
wie „Partnerschaftlichkeit“ und „Persönlichkeit des K<strong>in</strong>des“ zu diffamieren.<br />
„Partnerschaftlich“ me<strong>in</strong>t doch vor allem e<strong>in</strong>en durch Wertschätzung und Akzeptanz<br />
der Person geprägten Umgangsstil. Sollten Eltern und Erzieher das missverstanden<br />
haben und Akzeptanz als Akzeptieren jeglichen k<strong>in</strong>dlichen Veraltens verstehen, so<br />
gilt es doch, <strong>die</strong>ses Missverständnis aufzulösen und nicht aus <strong>die</strong>sem Irrtum Kapital<br />
zu schlagen. Nirgendwo wird <strong>die</strong> Gefährlichkeit W<strong>in</strong>terhoffscher Vere<strong>in</strong>fachungen<br />
zum Zwecke e<strong>in</strong>er ideologischen Polemik deutlicher als an <strong>die</strong>ser Stelle.<br />
E<strong>in</strong>e mechanistische und fraktionierte 4 Ausdrucksweise, <strong>die</strong> von der „Nervenzelle<br />
Mensch“ spricht, zeigt <strong>die</strong> eigene Distanz und Abgespaltenheit, von der aus er <strong>die</strong><br />
Kontaktvermeidung der K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> der gegenwärtigen Gesellschaft kritisiert. Wenn<br />
Eltern sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wahrnehmungswelt von K<strong>in</strong>dern h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzen, wenn Eltern das<br />
Verhalten ihrer eigenen K<strong>in</strong>der empathisch verstehen, bezeichnet er <strong>die</strong>s als „Symbiose“.<br />
Das H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>versetzen <strong>in</strong> das Erleben und <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wahrnehmung von K<strong>in</strong>dern ge-
hört aber ebenso zu den Grundbeständen e<strong>in</strong>es Beziehungsaufbaues zum K<strong>in</strong>d wie<br />
zu der Schaffung geeigneter Lernumwelten von K<strong>in</strong>dern. Vergeblich haben wir während<br />
e<strong>in</strong>er öffentlichen Lesung des Autors versucht, mit ihm <strong>in</strong> Kontakt zu treten, um<br />
möglicherweise e<strong>in</strong> Gespräch über kontroverse Themen zu führen; alle<strong>in</strong> hier zeigte<br />
sich, dass <strong>die</strong> bei den K<strong>in</strong>dern so sehr angeprangerte Kontaktvermeidung möglicherweise<br />
e<strong>in</strong>e persönliche Parallele zum Vortragenden be<strong>in</strong>haltet, da er zwar gleich<br />
e<strong>in</strong>em Propheten se<strong>in</strong>e Theorien verkündete und mit deutlicher Zufriedenheit ob des<br />
erschallenden Applauses abschloss, im Anschluss daran jedoch ohne jegliche Möglichkeit<br />
des Austauschs vom Podium schritt, um den Verkauf des Werkes durch persönliche<br />
Signatur zu fördern. Dies machte allerd<strong>in</strong>gs eher den E<strong>in</strong>druck, als könne an<br />
<strong>die</strong>ser Stelle auch e<strong>in</strong>e manifeste Angst vor Kontakt und Ause<strong>in</strong>andersetzung <strong>in</strong> der<br />
Beziehung sichtbar werden.<br />
E<strong>in</strong> Beispiel aus e<strong>in</strong>em Potsdamer Edelk<strong>in</strong>dergarten, an dem er berechtigterweise<br />
<strong>die</strong> projektive 5 Verwechslung der Luxusbedürfnisse der Erwachsenen mit denen der<br />
K<strong>in</strong>der kritisiert, <strong>die</strong>nt jedoch am Ende dazu, <strong>die</strong> realen Bedürfnisse von K<strong>in</strong>dern<br />
gleich mit zu diskreditieren. Überhaupt sche<strong>in</strong>en ihm vitale Bedürfnisse wie <strong>die</strong> nach<br />
Lebendigkeit, Aggression, nach Beziehung, Macht und Lust bei K<strong>in</strong>dern zutiefst suspekt<br />
und daher von strenger Hand zu bändigen. Dazu müssen K<strong>in</strong>der <strong>die</strong> natürliche<br />
Autorität des Erwachsenen respektieren lernen. Dies geschieht am besten durch<br />
ständiges Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g. Verräterische Begriffe wie „E<strong>in</strong>schleifen von Grundfunktionen“<br />
erlauben E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Menschenbild e<strong>in</strong>es Moritz Schreber 6 , <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d<br />
nichts weiter ist als e<strong>in</strong> zu formender Apparat, dem durch Drill – analog zu den Erfolgen<br />
im Leistungssport (Steffi Graf ist ihm hier e<strong>in</strong> leuchtendes Vorbild) – das rechte<br />
Verhalten anzutra<strong>in</strong>ieren ist. Welche Rolle Liebe, Akzeptanz, Beziehung und Identifikation,<br />
kurz Partnerschaftlichkeit, beim Erlernen von Normen und Verb<strong>in</strong>dlichkeiten <strong>in</strong><br />
der Familie spielen, ist W<strong>in</strong>terhoff offenbar selber gänzlich entgangen. Der Stellenwert<br />
personaler B<strong>in</strong>dung, <strong>die</strong> uns Menschen gegebene archaische S<strong>in</strong>nhaftigkeit 7<br />
von Gegenseitigkeit, wird an jeder Stelle des Buches ignoriert, verleugnet oder diffamiert.<br />
Erziehungsvorschläge: Aus Beziehungslosigkeit Beziehung erzw<strong>in</strong>gen<br />
E<strong>in</strong> fest geformtes Weltbild von richtig und falsch weist uns den Weg. Unsere „gesunde<br />
Intuition“ sagt uns, was richtig und falsch, gut und böse, artig und „frech“ ist:<br />
„K<strong>in</strong>der haben nicht mehr das Glück, <strong>in</strong>tuitiv ... durch <strong>die</strong> K<strong>in</strong>dheit geleitet worden zu<br />
se<strong>in</strong>.“ Welche Intuition ist da wohl geme<strong>in</strong>t? Welche Erwachsenen heute können sich<br />
wohl glücklich preisen ob der Intuition, <strong>die</strong> <strong>die</strong> eigenen Eltern, Lehrer und Erzieher<br />
haben walten lassen? Meldet sich da beim nach eigenem Bekunden tiefenpsychologisch<br />
ausgerichteten Autor womöglich das eigene Täter<strong>in</strong>trojekt 8 ?<br />
Wenig erfahren wir darüber, wie denn nun <strong>die</strong>ser von ihm als bedrohlich erkannten<br />
Entwicklung E<strong>in</strong>halt zu gebieten ist. Hier dürfen wir voller Erwartung und Vorfreude<br />
auf das im Vorfeld schon vielfach angepriesene, voraussichtlich im Frühjahr 2009<br />
ersche<strong>in</strong>ende Zweitwerk des Autors se<strong>in</strong>, welches sicherlich <strong>in</strong> großer Hoffnung<br />
steht, e<strong>in</strong>e annähernd hohe Auflagenstärke und damit zum<strong>in</strong>dest für den Autor zukunftssichernde<br />
Perspektive zu eröffnen. E<strong>in</strong>en Ausblick hierauf geben <strong>die</strong> Vorschläge<br />
im aktuellen Werk, wo empfohlen wird, durch „E<strong>in</strong>schleifen“, häufiges Wiederholen<br />
der erwünschten Verhaltensweisen, damit sich <strong>die</strong> Synapsen wunschgemäß verschalten,<br />
vor allem aber offensichtlich durch Auflaufenlassen des K<strong>in</strong>des, durch<br />
Nicht-Reagieren bei unerwünschtem Verhalten, durch Isolieren des K<strong>in</strong>des, e<strong>in</strong>en
„natürlichen Aggressionsabbau“ stattf<strong>in</strong>den zu lassen. Warum um alles <strong>in</strong> der Welt<br />
e<strong>in</strong>e Zurückweisung des K<strong>in</strong>des, e<strong>in</strong> Kontaktabbruch, zu e<strong>in</strong>em „natürlichen Aggressionsabbau“<br />
führen soll, erklärt er uns nicht. Die Tatsache, dass e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Isolation<br />
nach e<strong>in</strong>iger Zeit ruhig wird, sagt aber auch gar nichts über <strong>die</strong> <strong>in</strong>nere Dynamik<br />
des K<strong>in</strong>des aus. Wer da geglaubt hat, <strong>die</strong> „Supernanny“ sei an Schlichtheit nicht<br />
mehr zu überbieten, f<strong>in</strong>det hier neben verhaltenstherapeutischen Simplifizierungen<br />
auch noch e<strong>in</strong>e eiskalte, lerntheoretisch und neurophysiologisch verbrämte Legitimation<br />
für <strong>die</strong> Abwehr lebendiger menschlicher Beziehungen. Auf der Grundlage von<br />
Beziehungslosigkeit soll hier Beziehungsfähigkeit erzwungen werden.<br />
K<strong>in</strong>der sollen es schwer haben im Leben<br />
E<strong>in</strong>e ebenfalls berechtige Kulturkritik an e<strong>in</strong>er Überflussgesellschaft, e<strong>in</strong>e Kritik <strong>die</strong><br />
breite Zustimmung f<strong>in</strong>den darf, wird aber sogleich genutzt, um gegen Bedürfnisbefriedigung<br />
und Lustorientiertheit zu Felde zu ziehen, denn hier liegt nach se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>schätzung<br />
<strong>die</strong> Ursache der zu beobachtenden schw<strong>in</strong>denden Frustrationstoleranz<br />
unserer K<strong>in</strong>der. Früher, ja früher, da erlebte der Mensch „<strong>die</strong> wahre, ursprüngliche<br />
Fremdbestimmung ... durch Hunger, Kälte oder Krieg“, den Fünfjährigen wurde noch<br />
abverlangt, “längere Zeit sitzend am Tisch zu verbr<strong>in</strong>gen... Die K<strong>in</strong>der mussten zusätzlich<br />
<strong>die</strong> Erfahrung machen, manchmal auch ohne Lust, <strong>die</strong>se Arbeiten ausführen<br />
zu müssen und währenddessen ihre Eigenbedürfnisse zurückzustellen.“ E<strong>in</strong> tiefenpsychologisches<br />
Analysieren und Verständnis der destruktiven Anteile des beschworenen<br />
Erziehungsstils mögen wir schon gar nicht mehr erhoffen. Stattdessen eröffnet<br />
sich hier erneut e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> <strong>die</strong> tiefe Lust- und Triebfe<strong>in</strong>dlichkeit des Verfassers.<br />
All <strong>die</strong>s zeugt von wenig pädagogischer Fachkenntnis und Wissen um lernpsychologische<br />
Erkenntnisse: Nicht nur, dass Lernen unter Lustbed<strong>in</strong>gungen besser gel<strong>in</strong>gt,<br />
gerade das Erlernen von Frustrationstoleranz geschieht bei K<strong>in</strong>dern nicht durch In-<br />
situ-Expositionen 9 aversiver Stimuli 10 , sondern durch Erfahrung von Beziehungen, <strong>in</strong><br />
denen geme<strong>in</strong>sam erlebte Spannungssituationen ertragbar, verstehbar und im besten<br />
Falle <strong>in</strong> der Beziehung bewältigbar werden. Fazit: K<strong>in</strong>der sollten es schwer haben<br />
im Leben.<br />
Uns Erwachsenen fehlt zudem <strong>die</strong> Re<strong>in</strong>igung durch Katastrophen und Elend, <strong>die</strong> uns<br />
wieder demütig und leidensfähig werden lässt. Das Buch h<strong>in</strong>gegen verlangt e<strong>in</strong>em<br />
erwachsenen Menschen e<strong>in</strong>e Menge Leidensfähigkeit ab und verrät uns e<strong>in</strong>iges über<br />
<strong>die</strong> verlorene Frustrationstoleranz und den erlebten Kontaktverlust des Autors im<br />
Umgang mit se<strong>in</strong>en großen und kle<strong>in</strong>en Patienten.<br />
Ach, könnte man <strong>die</strong>ses Buch doch e<strong>in</strong>fach ignorieren!<br />
1Unbed<strong>in</strong>gte Wertschätzung ist e<strong>in</strong>er der Schlüsselbegriffe <strong>in</strong> der Personzentrierten Psychotherapie und me<strong>in</strong>t <strong>die</strong><br />
Wertschätzung, <strong>die</strong> beispielsweise e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d bed<strong>in</strong>gungslos entgegengebracht wird, also ohne dass das K<strong>in</strong>d<br />
zunächst irgendwelche Erwartungen zu erfüllen hat, für <strong>die</strong> es dann Wertschätzung „ver<strong>die</strong>nt“. Wertschätzung im<br />
S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er humanistischen Psychologie ist also etwas, was wir unabhängig von unserem Verhalten beanspruchen<br />
dürfen.<br />
2 Psychodynamik me<strong>in</strong>t hier das Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Person, meist <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es<br />
<strong>in</strong>neren Konfliktes, <strong>die</strong> zur Erklärung e<strong>in</strong>es bestimmten auffälligen oder unerwünschten Verhaltens <strong>die</strong>nen sollen.<br />
3 Mit Parentifizierung bezeichnet man <strong>in</strong> der Familientherapie e<strong>in</strong> Beziehungsmuster, bei dem <strong>die</strong> K<strong>in</strong>der nicht<br />
mehr <strong>in</strong> ihrer Rolle als K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> der Familie, sondern als Partner oder Eltern fungieren<br />
4 Fraktionierung me<strong>in</strong>t <strong>die</strong> Zergliederung des Menschen bzw. se<strong>in</strong>er Ganzheit <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelteile und <strong>die</strong> Behandlung<br />
<strong>die</strong>ser E<strong>in</strong>zelteile <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Weise, als hätten wir es noch mit dem ganzen Menschen zu tun.
5<br />
Projektive Verwechslung me<strong>in</strong>t, dass Eltern <strong>die</strong> „wahren“ Bedürfnisse ihrer K<strong>in</strong>der nicht wahrnehmen sondern<br />
sie durch ihre eigenen Bedürfnisse oder durch <strong>die</strong> von ihnen vermuteten k<strong>in</strong>dlichen Bedürfnisse überlagern und<br />
entsprechend handeln.<br />
6<br />
Moritz Schreber (1808-1861) gilt als e<strong>in</strong>er der Hauptvertreter der „Schwarzen <strong>Pädagogik</strong>“; er erzog se<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der<br />
mit Hilfe orthopädischer Geräte zu „gesunder Haltung“.<br />
7<br />
Archaische S<strong>in</strong>nhaftigkeit von Gegenseitigkeit me<strong>in</strong>t <strong>die</strong> Annahme der Humanistischen Psychologie, dass jeder<br />
Mensch e<strong>in</strong> von Anfang an angelegtes Bedürfnis nach Kontakt und Beziehung <strong>in</strong> sich trägt, ja, dass sich das ICH<br />
erst entfalten kann <strong>in</strong> der Begegnung mit e<strong>in</strong>em DU.<br />
8<br />
Täter<strong>in</strong>trojekt ist e<strong>in</strong> Begriff aus der Psychoanalyse und me<strong>in</strong>t den Prozess, der sich vollzieht, wenn e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d<br />
sich gegen e<strong>in</strong>en aggressiven Erwachsenen nicht wehren kann, weil es sich gleichzeitig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er starken emotionalen<br />
Abhängigkeit von <strong>die</strong>sem bef<strong>in</strong>det. In <strong>die</strong>sem Fall nimmt es den Erwachsenen nicht als böse wahr, gibt<br />
se<strong>in</strong>e eigene Wahrnehmung auf und identifiziert sich ganz mit dem Täter und idealisiert ihn sogar.<br />
9<br />
In-situ-Exposition me<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> Vorgehen <strong>in</strong> der Verhaltenstherapie, bei dem – beispielsweise – e<strong>in</strong> Angstpatient<br />
unter bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen der für ihn angstauslösenden Situation ausgesetzt wird, bis e<strong>in</strong>e Gewöhnung<br />
e<strong>in</strong>getreten ist oder durch E<strong>in</strong>führung e<strong>in</strong>es positiven Reizes <strong>die</strong> Angst gelöscht ist.<br />
10<br />
aversive Stimuli s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Verhaltenstherapie eben <strong>die</strong>se Reize, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> unangenehmes oder ängstigendes<br />
Erleben auslösen.<br />
© 2008<br />
Andreas Renger<br />
Personzentrierter Psychologischer Psychotherapeut<br />
K<strong>in</strong>der- und Jugendlichenpsychotherapeut<br />
0 22 08 / 7 37 74<br />
andreasrenger@web.de<br />
Gudrun Schuster<br />
Analytische K<strong>in</strong>der- und Jugendlichenpsychotherapeut<strong>in</strong><br />
0 22 46 / 92 52 69<br />
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