Leseprobe als pdf - Edition Tiamat
Leseprobe als pdf - Edition Tiamat
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Wolfgang Pohrt<br />
Das allerletzte Gefecht
Wolfgang Pohrt, 1945 geboren, ist Soziologe und lebt in Stuttgart.<br />
Buchveröffentlichungen:<br />
»Theorie des Gebrauchswerts«, Ffm. 1976, Berlin 1995<br />
»Ausverkauf«, Berlin 1980<br />
»Endstation«, Berlin 1982<br />
»Kreisverkehr, Wendepunkt«, Berlin 1984<br />
»Honoré de Balzac. Der Geheimagent der Unzufriedenheit«,<br />
Berlin 1984, 1990, 2012<br />
»Stammesbewußtsein, Kulturnation«, Berlin 1984<br />
»Zeitgeist, Geisterzeit«, Berlin 1986<br />
»Ein Hauch von Nerz«, Berlin 1989<br />
»Der Weg zur inneren Einheit«, Hamburg 1991<br />
»Das Jahr danach«, Berlin 1992<br />
»Harte Zeiten«, Berlin 1994<br />
»Brothers in Crime«, Berlin 1997<br />
»FAQ«, Berlin 2004<br />
»Gewalt und Politik«, Berlin 2010<br />
»Kapitalismus Forever«, Berlin 2012<br />
<strong>Edition</strong><br />
TIAMAT<br />
Deutsche Erstveröffentlichung<br />
Herausgeber:<br />
Klaus Bittermann<br />
1. Auflage: Berlin 2013<br />
© Verlag Klaus Bittermann<br />
www.edition-tiamat.de<br />
Titelbildgestaltung:<br />
Felder Kölnberlin Grafikdesign<br />
ISBN: 978-3-89320-174-7
Wolfgang Pohrt<br />
Das allerletzte<br />
Gefecht<br />
Über den universellen Kapitalismus,<br />
den Kommunismus <strong>als</strong> Episode<br />
und die Menschheit<br />
<strong>als</strong> Amöbe<br />
Critica<br />
Diabolis<br />
205<br />
<strong>Edition</strong><br />
TIAMAT
INHALT<br />
Vorbemerkung<br />
(7)<br />
Die Vertreibung aus dem Paradies<br />
Von Adam & Eva bis heute<br />
(14)<br />
Die lange Vorgeschichte ganz kurz<br />
Verbraucherparadies und Atompilz<br />
Protestbewegung und Apollo 11<br />
Krebs wuchert weiter, Ressourcen schrumpfen<br />
Kommunismus versickert wie Regenwasser<br />
Etikettenschwindel fliegt auf und geht weiter<br />
Marx neu gelesen<br />
Kunst und Kultur halten die Menschheit im Gleichgewicht<br />
Menschheitsbeglücker sind Engelmacher<br />
Thesen zur aktuellen Lage<br />
Gebremster Schaum<br />
Linksradikalismus im Sozi<strong>als</strong>taat<br />
(62)<br />
Unheilbare Krankheiten<br />
Kapitalismus <strong>als</strong> System<br />
(85)<br />
Die Menschheit <strong>als</strong> Amöbe
Klassenkampf und Darwinismus<br />
(99)<br />
Sie kriegt ihn!<br />
Die Kameliendame siegt<br />
(126)<br />
Entwöhnungsmittel<br />
Lustige Witwe<br />
Traurige Witwe<br />
Männlein oder Weiblein?<br />
Unerfahrenes Einzelkind<br />
Sex sells<br />
Der Preis bestimmt den Wert<br />
Pascha und Puffmutter<br />
Jeder mit jedem durch jeden<br />
Der weibische Mann und die Heroine<br />
Andere Ursachen, gleiche Probleme<br />
Die Kameliendame siegt<br />
Dumas andersrum
Vorbemerkung<br />
Vor 40 Jahren hat unsereiner noch an die heile Welt geglaubt.<br />
Wenn man sie machen wollte, musste man nur ins<br />
richtige Rezeptbuch schauen. Wir lasen Marx und fingen<br />
an zu träumen. Es war die Zeit, <strong>als</strong> Mitscherlich das Phänomen<br />
von der vaterlosen Gesellschaft entdeckte – genial,<br />
denn von alleinerziehenden Müttern sprach dam<strong>als</strong><br />
noch keiner. Da fehlte was, und Marx füllte mit seinen<br />
boni patres familias die Lücke:<br />
»Selbst eine ganze Gesellschaft, ja alle gleichzeitigen<br />
Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer<br />
der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre<br />
Nutznießer, und sie haben sie <strong>als</strong> boni patres familias<br />
den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.«<br />
1<br />
Die Weltgeschichte <strong>als</strong> kleinbäuerlicher Familienbetrieb<br />
auf eigener Scholle mit einem Patriarchen an der Spitze,<br />
das war nach dem Geschmack vaterlos herangewachsener<br />
Flüchtlingskinder. Wir wollten wieder Wurzeln schlagen,<br />
und diesmal gleich für immer.<br />
Aber so einfach ging das gar nicht, der Eigentumsformen<br />
im Kapitalismus wegen nämlich. Marx hat zwei<br />
gefunden und bewiesen, dass alle beide schädlich sind:<br />
»Bei beiden Formen tritt an die Stelle selbstbewußter<br />
rationeller Behandlung des Bodens <strong>als</strong> des gemeinschaftlichen<br />
ewigen Eigentums, der unveräußerlichen<br />
Existenz- und Reproduktionsbedingung der Kette sich<br />
ablösender Menschengeschlechter, die Exploitation und<br />
Vergeudung der Bodenkräfte.« 2<br />
Eine Aufforderung zum Handeln: Wir müssen Sozialis-<br />
1 MEW 26, S.784<br />
2 MEW 26, S.820<br />
7
mus machen, und dann ist die Erde wieder rund. Denn<br />
wenn ich historisches Subjekt geworden bin, ist der Akker<br />
mein. Für immer. Versprochen.<br />
Aber der Weg zum Sozialismus ist weit, so weit, auf<br />
der langen Reise hat man viel Zeit und kommt dabei ins<br />
Grübeln. Mal angenommen, wir haben den Sozialismus,<br />
ich bin ein Bauer, ich mobilisiere alle meine Brutpflegeund<br />
Arterhaltungsinstinkte und bin bereit, mein ganzes<br />
Sinnen und Trachten darauf zu richten, dass ich den<br />
Nachkommen einen verbesserten Boden hinterlasse. Aber<br />
weiß ich denn überhaupt, ob meine Enkel auf dem Acker<br />
ein Maisfeld oder einen Wald haben wollen, oder ob er<br />
dann Baugrund für eine Wohnsiedlung oder eine Fabrik<br />
geworden ist? Ich weiß es nicht, und die ganze schöne<br />
Geschichte vom ewigen Eigentum, das ich pflegen soll,<br />
fällt zusammen. Raumordnungspläne für die Ewigkeit<br />
sind reiner Unfug<br />
Marx verlangt Hellseher, Hellseher aber sind die Menschen<br />
nicht und werden sie auch im Sozialismus nicht.<br />
Dies umso weniger, <strong>als</strong> die Natur ja auch noch ein Wörtchen<br />
mitreden kann. Da hatten die Menschen nun im<br />
Pharaonenreich nicht nur den Boden hervorragend präpariert,<br />
sondern obendrein ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem<br />
installiert, aber dann blieb der Regen plötzlich<br />
aus, und das von vielen Generationen fruchtbar gemachte<br />
Schwemmland wurde eine Wüste. Gut, dass die<br />
Leute dam<strong>als</strong> Marx noch nicht gelesen hatten, sie hätten<br />
sonst ziemlich belämmert dagestanden: Wir haben doch<br />
alles richtig gemacht! Wieso jetzt das?<br />
In den Religionen findet auch die Unberechenbarkeit<br />
der Natur ihren Platz, in der Gestalt von Gottes unerforschlichen<br />
Ratschlüssen. Mal schickt er Überschwemmungen,<br />
mal Dürre, mal reiche Ernte und mal keine.<br />
Einerseits zwar »Macht Euch die Erde untertan!«, eine<br />
Forderung, aus der man eine Fürsorgepflicht im<br />
Marxschen Sinne ableiten kann, andererseits unausgesprochen<br />
daneben aber der Vorbehalt: »Ob Ihr das<br />
schafft, hängt von meinem Wohlwollen ab!«<br />
8
Bei Marx verschwindet diese Drohung. Wenn jede Generation<br />
der nachfolgenden den Boden verbessert hinterlässt<br />
und einzig dieser Prozess die Entwicklung bestimmt,<br />
dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir wieder<br />
im Garten Eden angekommen sind, nämlich in der kommunistischen<br />
Gesellschaft, die es mir<br />
»möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens<br />
zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht<br />
zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich<br />
gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker<br />
zu werden.« 3<br />
Also wäre die kommunistische Gesellschaft eine, in der<br />
man mindestens zehn Hobbys braucht, um die Zeit totzuschlagen.<br />
Marx verspricht hier den feudalen Lebensstil<br />
eines britischen Landedelmannes für alle, den Lebensstil<br />
eines Lord Peter Wimsey zum Beispiel, den wir <strong>als</strong> Held<br />
der Krimis von Dorothy Sayers kennen.<br />
Auf Erwerbsarbeit seines Vermögens wegen nicht angewiesen,<br />
ist er die zweckfreie Kombination aus Universalgelehrtem,<br />
Sportsmann, Kunstkenner, Dichter, Hausvater,<br />
Lebemann, Meisterschütze und Landwirt. Voraussetzung<br />
für seine Freiheit, beim Wechseln der Tätigkeiten<br />
eigener Lust oder Unlust zu folgen, sind natürlich Bedienstete<br />
und Knechte, die ihm Essen kochen, vor allem<br />
aber das Vieh füttern, wenn er selbst keine Lust auf den<br />
Stall hat, <strong>als</strong>o fast immer. Bei Marxens Feierabendviehzüchter<br />
muss es sich um einen Scherz oder eine Provokation<br />
gehandelt haben, oder Marx hatte von Tierhaltung<br />
keinen blassen Schimmer.<br />
Ein komfortables Leben <strong>als</strong>o, wie man es sich gar nicht<br />
besser wünschen kann, aber doch langweilig, reizlos,<br />
trostlos, für uns wie für ihn, gäbe es nicht außerdem die<br />
Verbrecher und Verbrecherbanden, die unter Lebensgefahr<br />
dingfest zu machen der Edelmann sich zum Ziel<br />
3 Karl Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, S.33.<br />
9
gesetzt und zur Aufgabe gemacht hat. Ab diesem Zeitpunkt<br />
ist er nicht mehr frei, sondern er muss sich der<br />
Aufgabe und dem Ziel unterwerfen. Nicht seine Lust<br />
entscheidet, sondern die Entwicklung des Falles zwingt<br />
ihn zu tun, was getan werden muss. Und die belebende<br />
Spannung, die er empfindet und wir auch, resultiert aus<br />
dem Risiko des Scheiterns.<br />
Im Rückschluss wirft solche Verschränkung von Hochgefühl<br />
und Risiko, von Pflicht und Genuss die Frage auf,<br />
ob der Kommunismus vielleicht deshalb immer nur gescheitert<br />
und keinen Schritt vorangekommen ist, weil er<br />
dem Menschen eine Welt verspricht, die sie im Grunde<br />
ihres Herzen gar nicht mögen, eine Welt ohne Zwänge,<br />
Bewährungsproben und Risiken. Vielleicht sind die Menschen<br />
von Natur aus Glücksritter und Spieler, die nicht<br />
nur leben wollen, sondern auch gewinnen.<br />
Der Sammler – der braucht Glück – und der Jäger – der<br />
will einen Kampf gewinnen –, alle beiden stecken nun<br />
mal in unseren Genen. Vielleicht ist es unmöglich, diese<br />
Gestalten und ihre Begierden abzutöten, ohne die Menschen<br />
selbst umzubringen.<br />
Und wenn das so ist, braucht man andere Ideen, weil<br />
die sich ändern lassen, man die Menschen aber nehmen<br />
muss, wie sie nun mal sind. Dass der Kapitalismus die<br />
letzte Etappe der Weltgeschichte wird ist ebenso unwahrscheinlich<br />
wie eine nachfolgende Gesellschaft ohne Gewinner<br />
und Verlierer. Man kann nur die Spielregeln ändern<br />
und dafür sorgen, dass Menschen nicht unter Entbehrungen<br />
leiden müssen, wenn sie beim großen Gewinnspiel<br />
nicht mitmachen wollen oder können.<br />
Ist es schlimm, nach lebenslanger Beschäftigung mit<br />
Marx einsehen zu müssen, dass der Kommunismus wohl<br />
doch nicht funktionieren wird? Muss man sich grämen<br />
wegen der vielen verlorenen Jahre vergeblichen Bemühens?<br />
Überhaupt nicht, es sei denn, man nähme sich wichtiger,<br />
<strong>als</strong> man ist. Nirgends ist man mehr Kind seiner Zeit<br />
<strong>als</strong> beim Denken und Schreiben, wo man sich dieser Ab-<br />
10
hängigkeit enthoben glaubt. Die vergangenen Zeiten waren<br />
so. Jetzt sind sie anders. Es werden wieder andere<br />
kommen, und dann können die Einsichten von heute sich<br />
<strong>als</strong> Irrtümer erweisen. Ewige Wahrheiten gibt es nicht,<br />
ewig sind nur die Banalitäten.<br />
Am wichtigsten für den Verfasser waren der erste Text<br />
und besonders der letzte. Der erste, Die Vertreibung aus<br />
dem Paradies, weil bei der Arbeit daran die Geschichte<br />
sich von einer unbekannten Seite zeigte. Im letzten Text,<br />
Sie kriegt ihn! geht es um einen Roman, der zeitgleich<br />
mit dem Kommunistischen Manifest erschienen war und<br />
ähnliche Popularität erlangen sollte. Die Inszenierung<br />
von Clemens Schönborn mit Sophie Rois in der Titelrolle<br />
an der Berliner Volksbühne bot Anlass, sich mit Dumas<br />
Kameliendame zu befassen. Und auf Befragen verrät uns<br />
diese traurige Witwe, warum das letzte Gefecht schon<br />
verloren war, bevor es überhaupt angefangen hatte.<br />
Das Bändchen beginnt mit der vaterlosen Gesellschaft<br />
und hört mit der männerlosen auf. Aber nicht den Mut<br />
verlieren, vielleicht renkt sich das wieder ein. Einstweilen<br />
jedoch gilt es, ins allerletzte Gefecht zu ziehen, und dafür<br />
braucht man keine Waffen, sondern einen großen Besen.<br />
Die voraussichtliche Kritik an diesem Bändchen fasst<br />
eine Reaktion im Internet auf dessen Ankündigung zusammen:<br />
»Wolfgang Pohrt frisst sich selber auf.« Soll ein<br />
Schreiber die Irrtümer seines Lebens, das wie jedes Leben<br />
voller Irrtümer ist, lieber <strong>als</strong> Gewissheiten hinterlassen,<br />
wie ein Vermächtnis, und <strong>als</strong> habe er selbst bis zum<br />
letzten Atemzug felsenfest und unerschütterlich daran<br />
geglaubt?<br />
»Wenn alles so kommt, wie ich das voraussage, du,<br />
dann hauen wir hier ab«, soll Marx zu seiner Frau gesagt<br />
haben. Er hätte es besser öffentlich gesagt. Das Eingeständnis<br />
seines eigenen Grauens vor der Revolution, die<br />
er <strong>als</strong> notwendig erachtete, hätte ihn zwar seinen Platz<br />
*<br />
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auf dem Sockel gekostet, aber der Revolution hätten<br />
mehr Selbstzweifel und weniger Selbstgerechtigkeit bei<br />
den Revolutionären bestimmt genützt.<br />
Und man hätte vielleicht einen Weg gefunden, die<br />
Angst vor dieser unerbittlichen Revolution, die alle empfanden,<br />
nicht nur Marx, durch ein Lachen unschädlich zu<br />
machen nach dem Motto: Die Revolution ist das Allerernsteste,<br />
aber so ernst wieder nicht. Für jeden gibt es<br />
wichtigere Dinge im Leben, nicht zuletzt das Leben derer,<br />
die er liebt. Daneben ist der Kapitalismus auf die<br />
Dauer nur ein blödes Spiel, ungefähr wie Murmelkönig.<br />
Versuchen wir es spaßeshalber mal mit einem anderen.<br />
Und wenn das auch nichts taugt, erfinden wir ein neues.<br />
Vollkommen zwecklos hingegen, eine Revolution zu<br />
fordern, die man selbst nur beschreiben, aber nicht machen<br />
will. Marx nicht, sonst hätte er ein bedeutend<br />
schmäleres Werk hinterlassen. Und wir nicht, sonst wären<br />
wir im Knast oder tot.<br />
*<br />
Dank an alle, die durch Einladungen zu Vorträgen Anlass<br />
zum Schreiben und Diskutieren gaben: Laidak Berlin,<br />
Volksbühne Berlin, King Georg Clubbar und Bunt Buchhandlung<br />
Köln, Antifa Duisburg, Akademie der Bildenden<br />
Künste Nürnberg, Wilhelm das war nix Stuttgart.<br />
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