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Material<br />

Klagepsalmen<br />

Klagepsalmen sind eine Psalmengattung, die stets folgenden Aufbau aufweist:<br />

a. klagende Anrufung des Gottesnamens,<br />

b. Schilderung der Not mit der Bitte um Rettung<br />

c. Vertrauen zu Gott wird bekannt oder ein Dankversprechen folgt – damit Vorwegnahme der<br />

erhofften Rettung<br />

Erarbeitung im Plenum anhand folgender Aufgaben:<br />

1. Farbige Markierung des Aufbaus<br />

2. Klären, weswegen Gott angerufen wird<br />

3. Interpretation des Gottesbildes<br />

13, 1 Ein Psalm Davids, vorzusingen.<br />

2 HERR, wie lange willst du mich so ganz vergessen?<br />

Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?<br />

3 Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele/und mich ängsten in meinem Herzen täglich?<br />

Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?<br />

4 Schaue doch und erhöre mich, HERR, mein Gott! Erleuchte meine Augen, dass ich nicht im Tode<br />

entschlafe,<br />

5 dass nicht mein Feind sich rühme, er sei meiner mächtig geworden,<br />

und meine Widersacher sich freuen, dass ich wanke.<br />

6 Ich aber traue darauf, dass du so gnädig bist;/mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst.<br />

7 Ich will dem HERRN singen, dass er so wohl an mir tut.<br />

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© Friedrich Verlag GmbH | ENTWuRF 4 | 2012<br />

Gott als Erzieher?<br />

Der Auszug aus dem sehr bekannten Roman „Illuminati“ (Dan Brown) spielt in Rom. Nach dem Tod des<br />

bisherigen Papstes ist ein Nachfolger zu wählen. Die vier aussichtsreichsten Kandidaten werden entführt<br />

und ermordet, nachdem sie mit einem Zeichen der Illuminati versehen wurden. Der berühmte Symbologe<br />

Robert Langdon versucht mithilfe des Camerlengos (im Roman eine Art Kammerdiener) den Mörder<br />

zu finden. Die folgende Szene ist eine Rückblende zwischen einem Leutnant der Schweizer Garde,<br />

Chartrand, und dem Camerlengo.<br />

Vor zwei Monaten, an einem friedlichen Nachmittag in der Vatikanstadt, war Chartrand dem Camerlengo<br />

über den Weg gelaufen, als dieser aus einem Gebäude gekommen war. Der Camerlengo hatte den<br />

jungen Leutnant offensichtlich gleich als neuen Gardisten erkannt und ihn eingeladen, ein Stück mit<br />

ihm durch die Gärten zu spazieren. Sie hatten sich über alles und jenes unterhalten und Chartrand hatte<br />

sogleich Vertrauen zu dem Camerlengo gefunden.<br />

„Vater“, hatte er gesagt, „darf ich Ihnen eine Frage stellen, die Ihnen vielleicht eigenartig erscheint?“<br />

„Nur, wenn ich eine eigenartige Antwort geben darf, mein Sohn.“<br />

Chartrand hatte gelacht. „Ich habe jeden Priester gefragt, den ich kenne, Vater, und ich verstehe es immer<br />

noch nicht.“<br />

„Was verstehst du noch nicht, mein Sohn?“ […]<br />

Chartrand hatte tief durchgeatmet. „Was ich nicht verstehe, ist diese Sache mit der Allmacht und der<br />

grenzenlosen Güte, Vater.“<br />

Der Camerlengo hatte gelächelt: „Du hast die Heilige Schrift studiert, mein Sohn.“<br />

„Ich versuche es, Vater.“<br />

„Du bist verwirrt, weil die Bibel Gott als eine allmächtige und gütige Wesenheit beschreibt.“<br />

„Ja.“<br />

„Allmächtig und gütig bedeutet lediglich, dass Gott alles kann und es gut mit uns Menschen meint.“<br />

„Ich verstehe das Konzept, es ist nur … ich sehe einen Widerspruch!“<br />

„Ja. Der Widerspruch lautet Schmerz. Menschen verhungern, führen Kriege, werden krank …“<br />

„Genau.“ Chartrand wusste, dass der Camerlengo ihn verstehen würde. „Es geschehen so schreckliche<br />

Dinge in dieser Welt. Die menschliche Tragödie erscheint wie der Beweis, dass Gott längst nicht so allmächtig<br />

und gütig ist, wie die Bibel es sagt. Wenn Er uns liebte und die Macht besäße, alles zu ändern,<br />

dann würde Er es doch sicher tun, oder nicht?“<br />

Der Camerlengo runzelte die Stirn. „Würde Er das?“<br />

Chartrand wurde nervös. Hatte er seine Grenzen überschritten? War dies eine der religiösen Fragen, die<br />

man nicht stellte?<br />

„Nun, ich meine …wenn Gott uns liebt und die Macht besitzt, uns zu beschützen, muss Er es doch tun!<br />

Es scheint, dass Er entweder allmächtig und ohne Liebe ist, oder Er ist gütig und besitzt nicht die Macht,<br />

uns zu helfen.“<br />

„Haben Sie Kinder, Leutnant?“<br />

Chartrand errötete. „Nein, Monsignore.“<br />

„Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen achtjährigen Sohn … würden Sie ihn lieben?“ „Selbstverständlich.“<br />

„Würden Sie alles in Ihrer Macht Stehende tun, um Schaden von ihm abzuwenden?<br />

„Natürlich.“<br />

„Würden Sie ihn mit dem Skateboard fahren lassen?“ […]<br />

„Ja, ich denke schon“, sagte Chartrand. „Sicher, ich würde ihn damit fahren lassen, aber ich würde ihn<br />

auch ermahnen, vorsichtig zu sein.“<br />

„Also würden Sie als Vater diesem Kind ein paar Ratschläge mit auf den Weg geben und dann es seine<br />

eigenen Fehler machen lassen? […] und wenn er hinfallen und sich die Knie aufschlagen würde?“<br />

„Dann würde er lernen, beim nächsten Mal besser aufzupassen.“<br />

Der Camerlengo lächelte. „Also würden Sie Ihre Liebe dadurch zeigen, dass Sie ihm ermöglichen, seine<br />

Lektionen selbst zu lernen, obwohl Sie einschreiten und Schmerz von Ihrem Kind abwenden könnten?“<br />

„Selbstverständlich. Schmerz gehört zum Aufwachsen. Auf diese Art und Weise lernen wir Menschen.“<br />

Der Camerlengo nickte nur. „Genau.“<br />

Aus: Dan Brown, Illuminati, Bergisch-Gladbach, 38. Aufl. 2007, S. 455– 457 in Auszügen.<br />

© Verlag Bastei-Lübbe, Bergisch-Gladbach<br />

Arbeitsaufgaben<br />

1. Begründet Aussagen pro oder kontra zur Meinung des Camerlengos.<br />

2. Überprüft, ob die Posistion des Camerlengo vereinbar mit der Vorstellung vom allmächtigen Gott ist.


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© Friedrich Verlag GmbH | ENTWuRF 4 | 2012<br />

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Der dunkle Gott als Chance<br />

Kaum jemand, der nicht um bedrückende Erfahrungen weiß, die Menschen zutiefst treffen können. Leid,<br />

Entfremdung, Angst oder pure Bosheit belasten das persönliche Leben. Aber auch Probleme, die unmittelbar<br />

mit den gesellschaftlichen Systemen und Strukturen zu tun haben, beschädigen und verhindern<br />

menschliches Lebensglück. Man denke an Ar-mut, Geschlechterdifferenzen oder rigorose bzw. fundamentalistische<br />

Moralvorstellungen.<br />

Im Kontext von Kirche und Glauben wurden und werden solche Erfahrungen direkt mit Gott in Verbindung<br />

gebracht, aber auf unterschiedliche Weise. Sie werden gerne verdrängt, indem man allzu eilig eine<br />

‚passende‘ Gottesrede „darauf setzt“: Gott als der Trost in allem Leid, die Rettung in Gefahr, die siegreiche<br />

Macht über Bosheit und Tod, das Licht in der Nacht, der Erlöser in Schuld und Versagen. So aber benutzt<br />

man das Wort „Gott“ wie eine fixe Formel, wie ein Allheilmittel gegen die Abgründe und unwägbarkeiten<br />

des Lebens. Andere halten Gott lieber aus allem heraus, sprechen ihn frei, lassen ihn ungeschoren.<br />

Dann ist ein ominöses Schicksal oder der Mensch selbst an allem schuld. Gott hat nichts damit zu tun.<br />

Beides hilft nicht weiter. Deutungen dieser Art – zumal wenn sie schablonenhaft und belehrend eingetragen<br />

werden – machen stumm. Sie bringen den Menschen dazu, sein Leid, seine Verwirrung und die<br />

damit verbundene existenzielle Empörung zu verschweigen oder spirituell zu überhöhen. […]<br />

Mutiger ist es, die bohrende Rückfrage nach Gott in ihrer ganzen unruhe und Schärfe zuzulassen. Man<br />

muss sie aussprechen und wenn nötig hinausschreien dürfen. Erst auf diese Weise bringt man die volle<br />

Realität des Daseins ungeschminkt mit dem zusammen, was Menschen „Gott“ nennen. Dabei wird<br />

eines offenbar: Mit Gott kann man die Verwerfungen, Krisen und Abstürze des Lebens nicht schlüssig<br />

erklären. Gerade deshalb lässt diese Rückfrage Gott nicht mehr los. Sie zieht ihn hinein in die dunklen<br />

Abgründe menschlicher Existenz. Er muss doch etwas damit zu tun haben, wenn er – wie jüdisch-christlich<br />

bekannt wird – der Gott der Väter, der Welt und der Geschichte ist! So gesehen und formuliert, wird<br />

Gott zum „dunklen Gott“, denn nun steht er selbst in Frage. Er ist angesprochen wird herausgefordert,<br />

manchmal sogar angeklagt angesichts der radikalen Fraglichkeit und Bedrängnis seiner Schöpfung: Wo<br />

bist du, Gott? Antworte! Was sind deine Verheißungen noch wert?<br />

Ein solcher Aufschrei nimmt die Verheißungen Gottes so ernst wie sonst keine menschliche Äußerung.<br />

Aber er hinterfragt sie auch und klagt ihre Erfüllung mitten in Not und Verzweiflung ein. Das führt in<br />

den Dialog mit dem „dunklen Gott“. Dieser Dialog ist in allen Epochen der jüdisch-christlichen Glaubensgeschichte<br />

aufgebrochen, oft quer zur herrschenden Theologie und Frömmigkeit. Es ist kein Frevel, mit<br />

Gott so zu reden und zu streiten, sondern vielmehr eine lebensgeschichtliche Notwendigkeit. In Krisen<br />

und an Brüchen und Grenzen stellt dieser Dialog eine ehrliche, wenn auch anstrengende Form der Auseinandersetzung<br />

und des Überlebens dar. Sich mit Gott zu befassen, ihn angesichts der Dunkelheit nach<br />

seiner Verheißung zu fragen, heißt, nicht einfach zu verstummen und zu zerbrechen: Es bedeutet, wach<br />

zu bleiben, gegen den Skandal des sinnlosen Leidens und der unterdrückung zu protestieren und die<br />

Hoffnung auf Heilung und Befreiung nicht völlig aufzugeben. […]<br />

Hanspeter Schmitt, Der dunkle Gott als Chance des Menschen, S. 8 f.<br />

© Katholisches Bibelwerk Stuttgart<br />

Arbeitsaufgaben<br />

1. Gebt die Thesen des Textes in eigenen Worten wieder.<br />

2. Erklärt, inwiefern sich der umgang mit Leid verändert, wenn man Schmitts Idee folgt.<br />

3. Bewertet, ob dies bereits eine Lösung der Theodizeefrage darstellt.<br />

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© Friedrich Verlag GmbH | ENTWuRF 4 | 2012<br />

Jenseits der Theodizee: Wo bleibt Gott?<br />

Den Widerspruch zwischen der erfahrenen Realität des Bösen und der geglaubten Allmacht und Gerechtigkeit<br />

Gottes hat noch kein Denken aufgelöst. Auch die biblische Tradition und der christliche Glaube<br />

haben eine Antwort auf die von Leibniz bis zu Hans Jonas immer neu gestellte Frage, wie das unsägliche<br />

Leiden der Welt mit einem Gottesbegriff vereinbar sein könnte, der das „Sinnganze“ der Welt umfaßt,<br />

5 jedenfalls keine, die sich an den Betrachter des Weltlaufs richtet und ihn zufriedenzustellen vermag. Es gibt<br />

jedoch nicht nur diesen Betrachter, es gibt auch den Betroffenen, den existentiell Bedrohten und Kämpfenden.<br />

Mit ihm vor allem hat es die Bibel zu tun, und damit ändert sich die Perspektive, denn er fragt<br />

anders nach Gott. Er fragt nicht unter selbstgewählten Bedingungen, er fragt in einer bestimmten, ihm<br />

„von außen“ aufgenötigten Situation und wartet darauf, daß Gott sich ihm „vor Ort“ zu erkennen gibt. […]<br />

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Die Bibel jedenfalls trägt das Problem auf eine andere Weise aus. Sie verzichtet auf eine rational einsichtige<br />

Lösung, die uns von der quälenden Frage nach dem Warum entlasten könnte, und konzentriert sich<br />

statt dessen auf die Situation, der dieses Warum entspringt. Dieser auffallende Verzicht weist bereits auf<br />

den entscheidenden Differenzpunkt hin: Gott wird nicht als Postulat, auch nicht als „Arbeitshypothese“<br />

15 zur Erklärung von Tod, Leiden und Schuld eingeführt, so daß wir mit einer a priori feststehenden, wenngleich<br />

erst am Ende der Geschichte uns offenbar werdenden Antwort zu rechnen hätten. Er führt sich vielmehr<br />

selbst durch die Teilhabe am Rätsel des Bösen in den Zusammenhang von Tod, Leiden und Schuld<br />

ein. Nicht als der „Lückenbüßer“, der einen Wissensmangel kompensiert, sondern als der, der mit Paul<br />

Gerhardt geredet, „des Leben Mangel“ ausfüllt, ist er dem biblischen Glauben als „unser“ Gott bekannt.<br />

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Jeder theologischen Rechenschaft ist dadurch eine bleibende Grenze gezogen. Gibt Gott sich zu erkennen,<br />

indem er in die Situation des menschlichen Lebens eintritt, dann kann man nach ihm nur fragen, indem<br />

man seine eigene Situation in diese Frage einbezieht und in ihr aufs Spiel setzt, dann ist es unmöglich, ihn<br />

vorab durch eine Definition festzulegen, ihn gewissermaßen verfügbar zu machen, um ihn als Lösungs-<br />

25 formel – und das hieße ja: als Deus es machina – in das ungelöste Rätsel des eigenen Daseins einzusetzen.<br />

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Die Frage nach Recht und Sinn menschlichen Leidens läßt sich also nicht „abschieben“ auf Gott, als hätten<br />

wir die Freiheit oder auch nur die Möglichkeit, sie von diesem „Ort“ aus wie von einem archimedischen<br />

Punkt her zur Klarheit zu bringen. Denn tritt Gott nicht von außen, als ein erst noch hinzuzudenkender<br />

Inhalt in die Situation des Menschen hinein, dann bleibt uns nur zu fragen, wie seine Nähe sich in<br />

dieser Situation auswirkt und wie die Situation selbst sich über dieser Nähe wandelt. Das könnte in der<br />

Tat genügen, um die Anklage, die das Leiden gegen Gott zu erheben pflegt, aus den Aporien des klassischen<br />

Theodizeeproblems herauszuführen. Denn bewältigen lassen sich Probleme, indem man sie löst<br />

oder indem sie sich nicht mehr stellen, weil sich die Situation, in der sie aufbrechen mußten, gewandelt<br />

hat. […] Denn das Problem des Leidens findet hier keinerlei Erklärung; als Problem jedoch scheint es sich<br />

zuletzt erübrigt zu haben. Es wirft keinen Schatten auf Gott, der sein Bild bleibend verdunkeln könnte.<br />

Walter Dietrich/Christian Link: Die dunklen Seiten Gottes, S. 124 f.<br />

© Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn<br />

Arbeitsaufgaben<br />

1. Gebt die Thesen des Textes in eigenen Worten wieder.<br />

2. Erklärt, inwiefern sich der umgang mit Leid verändert, wenn man Dietrichs/Links Idee folgt.<br />

3. Bewertet, ob dies bereits eine Lösung der Theodizeefrage darstellt.


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Leiden an Gott<br />

Christliche Hoffnung ist keine erfahrungsbasierte Erwartungsentscheidung unter hohem Risiko […], sondern<br />

eine […] Lebenshaltung des zuversichtlichen „Trotzdem“ und gewissen „Dennoch“, die wider alle Alltagserfahrung<br />

und alles, was dagegen spricht, darauf setzt, dass sich ihre Hoffnung auf das richtet, was<br />

selbst der Grund und ursprung dieser Hoffnung ist. […] Die Herausforderung dieser Hoffnung ist nicht<br />

der Zweifel, sondern die Anfechtung. Anders als Zweifel, der dieses oder jenes in Frage stellt, aber sich<br />

zumindest an sich selbst festhalten kann, ist Anfechtung das Dunkelwerden der Gewissheit, dass Gott<br />

gegenwärtig ist, und damit der Abgrund, in dem alle Hoffnung versinkt. […]<br />

Das Gegenmittel zur Anfechtung ist allein die Hoffnung, dass trotz allem und wider allen Anschein Gottes<br />

Gegenwart gewiss ist. Anderes mag für oder gegen den Glauben an Gottes Gegenwart sprechen und<br />

angeführt werden, der Streit zwischen Hoffnung und Anfechtung wird dadurch nur marginal berührt,<br />

weil sich beide in gegenläufiger Weise auf dasselbe richten: das, was nur um seiner selbst willen oder<br />

überhaupt nicht gewiss ist und sich durch nichts anderes gewiss oder ungewiss machen lässt. […] Das<br />

ist anders bei der Anfechtung. Wer angefochten wird, leidet daran, dass der, auf den sich die Hoffnung<br />

richtet, selbst dunkel, undurchschaubar und unfassbar wird. Nicht nur die anderen, man selbst verliert<br />

damit die Gewissheit der Gegenwart Gottes. Die Hoffnung wird schal, weil man nicht (mehr) wahrzunehmen<br />

vermag, worauf sie sich richtet und was sie begründet. Aus diesem Bösen gibt es keinen Ausweg,<br />

den man selbst gehen könnte. Wo Gott selbst dunkel wird, wird der umweg über Gott ungangbar.<br />

Die Wirklichkeit des Bösen kann dann nicht mehr als vergangen qualifiziert werden, weil es kein gegenwärtiges<br />

Anderes gibt, auf das man sich dabei berufen könnte. Angesichts dieses Leidens ist selbst der<br />

Rekurs auf Gott verstellt, weil Gott selbst der ist, an dem man leidet. […]<br />

Aber dieses Gotterleiden ist ein Sich-öffnen für Gott bzw. ein Geöffnet-werden durch Gott. Das Leiden<br />

an Gott in der Anfechtung dagegen ist gerade umgekehrt ein Sich-nicht-mehr-öffnen-können für Gott<br />

bzw. ein Nicht-mehr-geöffnet-werden durch Gott. Man ist Gott gegenüber nicht ganz und gar offen, sondern<br />

ganz und gar verschlossen. Es ist ein Leiden nicht an der übergroßen Nähe und Anwesenheit, sondern<br />

an der undurchschaubaren Ferne und Abwesenheit Gottes. […]<br />

In dieser Situation gibt es verschiedene Reaktionsmöglichkeiten. Man kann sich der An-fechtung überlassen<br />

und alle Hoffnung auf Gottes Gegenwart fahren lassen. […]<br />

Man kann sich auch wider die Anfechtung zur Wehr setzen und in der Klage über die verlorene Hoffnung<br />

gegen den sich entziehenden Gott protestieren […].<br />

Man kann schließlich vom Protest und von der Verweigerung zur Anklage und zur Rebellion gegen Gott<br />

übergehen und die Anfechtung nicht im Atheismus, sondern im Zorn auf Gott und in der Verfluchung<br />

Gottes enden lassen.<br />

Diese Wendung gegen Gott ist immer noch ein sich Ausrichten an Gott, auch wenn nicht mehr die Hoffnung<br />

auf ein Wahrwerden der Wirklichkeit seiner Gegenwart, sondern die Wut und Verzweiflung über<br />

das sich Verweigern Gottes und das Entziehen und Verbergen seiner Gegenwart das Leben bestimmen.<br />

Nicht irgendetwas anderes verstellt, sondern Gott selbst entzieht seine Gegenwart. […] Das ist der Punkt,<br />

an dem der christliche Glaube an Gott einsetzt […] Er entdeckt den Protest, die Anklage, das Aufbegehren<br />

gegen Gott in Gott selbst.<br />

Ingolf u. Dalferth: Leiden und Böses, S. 206 ff.<br />

© Evangelische Verlagsanstalt Leipzig<br />

Arbeitsaufgaben<br />

1. Gebt die Thesen des Textes in eigenen Worten wieder.<br />

2. Erklärt, inwiefern sich der umgang mit Leid verändert, wenn man Dalferths Idee folgt.<br />

3. Bewertet, ob dies bereits eine Lösung der Theodizeefrage darstellt.<br />

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Gott auf der Anklagebank 1/2<br />

Peter Hahne erzählt in seinem Buch „Leid – Warum läßt Gott das zu?“ die Geschichte einer Gerichtsverhandlung<br />

mit Gott auf der Anklagebank:<br />

Am Ende der Zeiten versammeln sich Millionen Menschen vor dem Thron Gottes. Die einen schauen<br />

ängstlich in das gleißend-helle Licht. Andere kümmert das alles nichts. Sie stehen in Gruppen zusammen<br />

und diskutieren hitzig miteinander. Sie haben nur ein Thema: Wie kann Gott das Leid zulassen, das<br />

die Menschen jetzt im Lebensrückblick so aufgehäuft und erdrückend sehen. „Das soll ein Gott der Liebe<br />

sein?! Wie kann er über uns zu Gericht sitzen? Was versteht er schon von unserem Leid? Hat er denn<br />

jemals leiden müssen?“ faucht eine alte Frau mit schneidender Stimme. Sie zieht ihren Ärmel hoch und<br />

zeigt auf die eintätowierte Nummer eines Konzentrationslagers. Ein farbiger junger Mann öffnet aufgeregt<br />

seinen Hemdkragen: „Schaut euch das an“, fordert er die umstehenden auf und zeigt seine Wundmale<br />

am Hals, Male eines Strickes. „Gelyncht haben sie mich, nur weil ich schwarz bin und nicht weiß. In<br />

Sklavenschiffe hat man uns verschleppt. Von unseren Liebsten wurden wir getrennt. Wie Tiere mußten<br />

wir arbeiten. Soll das ein Gott der Liebe sein?“ Ein junges Mädchen starrt still und teilnahmslos vor sich<br />

hin. Auf ihrer Stirn ist das Wort zu lesen: „unehelich.“ Überall kommt jetzt ärgerliche Stimmung auf. Die<br />

Leute sind empört. und jeder richtet seine Klage gegen Gott, weil er das Böse, das Leid, das unrecht in<br />

der Welt zugelassen hat. Das will ein Gott der Liebe sein … „Wie gut hast du es doch, Gott“, sagen sie alle.<br />

„Wie gut hast du es in deinem Himmel in all der Schönheit und Helligkeit. Bei dir gibt es keine Tränen,<br />

keine Angst, keinen Hunger, keinen Haß, kein Leid. Ja, du hast es gut. Aber wir? Kannst du dir überhaupt<br />

vorstellen, was der Mensch auf der Erde alles erdulden muß? Was es heißt, Leid zu ertragen und Tränen<br />

zu weinen? Schließlich führst du, Gott, doch ein behütetes und beschauliches Dasein …“ So reden die<br />

Leute vor dem Thron Gottes.<br />

und plötzlich hat jemand eine Idee: „Wir wollen Gott den Prozeß machen. Wir wollen ihn verurteilen.“ Jede<br />

der Gruppen wählt sich einen Sprecher. Es ist immer derjenige, der in seinem Leben am meisten gelitten<br />

hat. Da ist ein Jude, ein Schwarzer, eine uneheliche Tochter, ein unberührbarer aus Indien, ein entstellter<br />

Leprakranker, ein Bombenopfer, ein Gefolterter aus den Arbeitslagern Sibiriens … Sie alle diskutieren<br />

aufgeregt miteinander. und dann sind sich alle mit der Formulierung der Anklage gegen Gott einig:<br />

Bevor Gott das Recht hat, über uns zu Gericht zu sitzen, soll er erst mal ertragen, was wir Menschen auf<br />

Erden an Leid erdulden mußten. Gott soll dazu verurteilt werden, auf dieser Erde zu leben. Als Mensch.<br />

Weil Gott aber Gott ist, stellen die Menschen in ihrem Prozeß bestimmte Bedingungen: Er soll keine<br />

Möglichkeit haben, sich aufgrund seiner göttlichen Natur selbst zu helfen. Er soll als Jude geboren werden.<br />

Damit soll er sehen, wie das ist, als Jude leben zu müssen. Die Legitimität seiner Geburt soll zweifelhaft<br />

sein. unehelich im weltlichen Recht soll er geboren werden. Niemand soll wissen, wer eigentlich<br />

sein Vater ist. Als ein solcher Mensch soll er versuchen, seinen Mitmenschen zu erklären, wer Gott ist. Ja,<br />

er soll mit dem Anspruch auf die Erde kommen, selber Gott zu sein. Von seinen engsten Freunden soll<br />

er schließlich verraten werden, nachdem er nur drei Jahrzehnte unter Entbehrungen, Verfolgung, Hunger<br />

und Anfechtungen gelebt hat. Mit falschen Anschuldigungen soll ihm der Prozeß gemacht werden.<br />

Ja, die Leute vor dem Thron Gottes übertrumpfen sich förmlich gegenseitig mit Vorschlägen, wie man<br />

Gott bestrafen soll. Schließlich soll er ja das erleiden, was ihnen in ihrem Leben widerfahren ist. und<br />

zwar in geballter Form. Sein Prozeß soll mit falschen Anschuldigungen geführt werden. Von einem voreingenommenen<br />

Gericht soll er verhört werden. Ein feiger Richter soll ihn aburteilen. Er soll erfahren,<br />

was es heißt, von allen Menschen verlassen und total einsam und hilflos zu sein. Er soll brutal gequält<br />

werden und dann grausam sterben. und das in aller Öffentlichkeit. Eine Menge von Zeugen soll dabei<br />

sein: lachend, spottend, höhnend. Die Menschen vor dem Thron Gottes sind sich einig: Gott soll auf der<br />

Erde alles das erleiden, was ihnen in der Zeit ihres Lebens widerfahren ist. Jeder der Sprecher verkündet<br />

sein urteil gegen Gott. Hart und erbarmungslos. Ein Prozeß ohne Gnade. und während ein urteilsspruch<br />

nach dem anderen vorgetragen wird, geht plötzlich ein Raunen durch die Menge. Als der letzte<br />

sein urteil fällt, wird es ganz still. Ein großes Schweigen macht sich breit. Ein betretenes Schweigen.<br />

Eine Stecknadel könnte man fallen hören. Alle, die Gott so grausam verurteilt haben, senken ihre Köpfe.<br />

Beschämt und erschüttert wenden sie sich ab. Keiner wagt mehr zu sprechen.<br />

Plötzlich weiß jeder dieser Leute, um was es hier geht. Jedem ist klar: Gott hat die Strafe ja schon längst<br />

auf sich genommen. Das urteil hat er ja schon längst getragen. Jesus kam in diese Welt. Als Sohn Gottes<br />

wurde er geboren. Von einer Jungfrau in einem ärmlichen Stall. Jesus, als Jude geboren, in den Dreck<br />

der Welt gekommen. Er behauptete, Gottes Sohn zu sein. Aber die Menschen haben ihn verkannt, verlacht,<br />

verspottet und schließlich verurteilt. – Jesus, in den letzten Stunden seines Lebens einsam, total


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Gott auf der Anklagebank 2/2<br />

verlassen, gequält und gemartert. Alles, was man sich an Leid und ungerechtigkeit vorstellen kann, ist<br />

zusammengeballt auf diesen Einen.<br />

Plötzlich wurde allen klar, die den angeblich so grausamen und selber leidlosen Gott verurteilen wollen:<br />

Das urteil ist ja bereits vollzogen. Gott hat das Leid bereits ertragen. Am eigenen Körper hat er es<br />

durchgemacht. In der Person seines Sohnes Jesus Christus. Wir brauchen Gott gar keinen Prozeß mehr<br />

zu machen. Das urteil ist bereits gefällt. und es ist ein urteil zu unseren Gunsten: „Fürwahr, er trug unsere<br />

Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott<br />

geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde<br />

willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind,<br />

wir geheilt“ (Jesaja 53,4.5).<br />

Peter Hahne: Leid - Warum lässt Gott das zu?, Friesenheim-Schuttern 2012, S. 56 – 60.<br />

© Verlag mediaKern, Friesenheim-Schuttern, ISBN 978-3-8429-1002-7<br />

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