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Ethisches Urteilen in Entscheidungskonflikten - Entwurf online

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<strong>Ethisches</strong> <strong>Urteilen</strong> <strong>in</strong> <strong>Entscheidungskonflikten</strong><br />

E<strong>in</strong> Unterrichtsentwurf am Beispiel des Umgangs mit<br />

schwerstgeschädigten Neugeborenen (Gy 11.2 WP)<br />

Mirjam und Ruben Zimmermann<br />

H<strong>in</strong>führung<br />

In konfliktiven Situationen (Dilemmata) wie z.B. bei der Behandlungsentscheidung von schwerstgeschädigten<br />

Neugeborenen ist ethische Reflexion <strong>in</strong> besonderem Maß angezeigt. Unter Ethik verstehen<br />

wir dabei den Versuch, e<strong>in</strong>e Handlungsentscheidung h<strong>in</strong>sichtlich ihrer zu Grunde liegenden<br />

Maximen und Kriterien systematisch zu untersuchen, mit dem Ziel, für nachfolgende konkrete<br />

Entscheidungen e<strong>in</strong>e Handlungsorientierung zu geben bzw. vollzogene Entscheidungen argumentativ<br />

und <strong>in</strong>tersubjektiv überprüfbar zu machen. E<strong>in</strong>e derartige „analytische Ethik“ präjudiziert<br />

zugleich die didaktische Umsetzung im Bereich „ethischer Erziehung“: Neben e<strong>in</strong>er materialen<br />

Werteerziehung, bei der e<strong>in</strong>zelne <strong>in</strong>haltlich gefüllte Werte und Normen vorgegeben werden, sehen<br />

wir die Aufgabe der Moralerziehung vorrangig dar<strong>in</strong>, das selbstständige ethische Urteilsvermögen<br />

der Schüler/<strong>in</strong>nen zu schulen. Dies setzt zunächst voraus, dass die Schüler/<strong>in</strong>nen Grundpr<strong>in</strong>zipien<br />

ethischer Argumentation sowie verschiedene Wertemodelle kennen lernen und konkrete Fallentscheidungen<br />

h<strong>in</strong>sichtlich ihrer impliziten Werte und Normen prüfen lernen.<br />

Die Notwendigkeit ethischer Urteilsfähigkeit wird hier am Beispiel der Behandlungsentscheidung<br />

zusätzlich untermauert, da der Konfliktbereich rechtlich nur unzureichend geklärt ist (Beurteilungsrahmen<br />

des Arztes). Dadurch wird e<strong>in</strong> bei den Schüler/<strong>in</strong>nen beliebter Orientierungsmaßstab<br />

<strong>in</strong>nerhalb der konventionellen Begründung moralischer Urteile (Gesetz und Ordnung, L. Kohlberg)<br />

entzogen. Ethische Urteile können also nicht e<strong>in</strong>fach als Applikation vorhandener Regeln vollzogen<br />

werden, sondern müssen im Spannungsfeld unterschiedlicher Wertesysteme jeweils begründet<br />

und ausgelotet werden. Ethische Urteilsfähigkeit wird demnach auf der Basis e<strong>in</strong>es Grundwissens<br />

über pr<strong>in</strong>zipielle Begründungsweisen an konkreten Konfliktfeldern erprobt und gefördert. Als Methode<br />

der ethischen Urteilsf<strong>in</strong>dung soll die von H. E. Tödt ausgeformte Schrittfolge (Problemfeststellung,<br />

Situationsanalyse, Erörterung der Verhaltensalternativen, Prüfung der Normen, Urteilsentscheid,<br />

Überprüfung der Angemessenheit des Urteils) e<strong>in</strong>geübt werden. 1<br />

Wahl des Fallbeispiels: Behandlungsentscheidung bei Sp<strong>in</strong>a bifida-K<strong>in</strong>dern<br />

Innerhalb des Themas der Behandlungsentscheidung ist es wiederum ratsam e<strong>in</strong> konkretes Beispiel<br />

herauszugreifen. Wir haben exemplarisch die „Sp<strong>in</strong>a bifida“-Erkrankung / Schädigung ausgewählt,<br />

weil sie mit e<strong>in</strong>em Vorkommen von 1-2 Promille <strong>in</strong> der BRD zu e<strong>in</strong>er der häufigsten angeborenen<br />

schweren Beh<strong>in</strong>derungen zählt. Ferner ist die pränatale Diagnostik der Sp<strong>in</strong>a bifida<br />

trotz weit reichender Verbesserungen ke<strong>in</strong>eswegs flächendeckend möglich. E<strong>in</strong>e neuere Statistik<br />

ergab, dass nur bei ca. 27% der Sp<strong>in</strong>a bifida-Beh<strong>in</strong>derten die Schädigung vor der Geburt erkannt<br />

worden war 2 , so dass das Problem <strong>in</strong> absehbarer Zeit nicht pränatal (etwa durch Abtreibung) zu<br />

„umgehen“ ist. Schließlich wurde das Problem der Behandlungsgrenzen von beh<strong>in</strong>derten Neugeborenen<br />

am Beispiel der Sp<strong>in</strong>a bifida <strong>in</strong> der Fachwelt am <strong>in</strong>tensivsten diskutiert.<br />

entwurf 3-2000 – Ethisch Handeln <strong>in</strong> <strong>Entscheidungskonflikten</strong> – Dr. Myriam Zimmermann 1/11


Methodisch-didaktische Impulse<br />

Das den Schüler/<strong>in</strong>nen bekannte Schema e<strong>in</strong>er ethischen Urteilsf<strong>in</strong>dung (H. E. Tödt) bildet den<br />

Grundriss der Vorgehensweise: Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung des Problems bzw. des<br />

ethischen Handlungsbedarfs, was zunächst affektiv erreicht werden soll. Die Fotografie e<strong>in</strong>es<br />

schwerstbeh<strong>in</strong>derten Säugl<strong>in</strong>gs (M1) macht betroffen und evoziert Assoziationen. Indem von verschiedener<br />

Seite Assoziationen geäußert werden, werden <strong>in</strong> dieser Spontanphase neue Gedanken<br />

angestoßen. E<strong>in</strong> (weiterer) emotional-affektiver Bezug soll durch Äußerungen e<strong>in</strong>es direkt Betroffenen<br />

erzeugt werden. Die „Gedanken e<strong>in</strong>es Vaters“ (M2) bei der Geburt se<strong>in</strong>es schwerstbeh<strong>in</strong>derten<br />

K<strong>in</strong>des können vorgelesen, besser sogar mit e<strong>in</strong>em unbekannten Sprecher auf Kassette<br />

aufgenommen werden, um sie dann möglichst authentisch zu Gehör zu br<strong>in</strong>gen. Dieser Betroffenenaussage<br />

liegen Zitate aus biografischen Aufarbeitungen des Problemkreises zugrunde. 3 In Ergänzung<br />

zum visuellen Impuls der Fotografie kommen die „Gedanken“ nun auditiv zu Gehör und<br />

fordern durch die implizite „Anrede“ zusätzlich zu e<strong>in</strong>er „Antwort“ der Schüler/<strong>in</strong>nen, d.h. zu e<strong>in</strong>er<br />

ethischen Stellungnahme, heraus. Die po<strong>in</strong>tierte Schlussfrage des Vaters: „Was soll ich sagen,<br />

wenn sie mich morgen fragen?“ unterstreicht die Intention dieses e<strong>in</strong>leitenden Teils.<br />

Werden im Reflexionstext des Vaters bereits Sach<strong>in</strong>formationen gegeben und die Problemfeststellung<br />

ermöglicht, soll die hier aufs Notwendigste beschränkte Sachanalyse <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>es Frage-<br />

Dialogs (Sammlungsphase) vertieft werden, bei dem sich der Lehrer als „Experte“ (im Rahmen<br />

se<strong>in</strong>er Möglichkeiten) zur Verfügung stellt. Die Inhaltsbereiche der Sachanalyse (rechtliche, gesellschaftliche,<br />

mediz<strong>in</strong>ische Situation) sollen so wiederholt und im Befragen angewandt werden und<br />

führen dabei zu e<strong>in</strong>er Versachlichung des Problems. 4<br />

Die Normenprüfung kann dann anhand <strong>in</strong>dividueller Reflexion theoretischer Positionen erfolgen,<br />

bedarf aber ferner e<strong>in</strong>es Dialogs der verschiedenen Betroffenen und ethischen Instanzen. Um die<br />

Normenprüfung zu systematisieren, ist jeweils e<strong>in</strong> Text zu den drei Verhaltensalternativen abgedruckt<br />

(siehe M3: Arbeitsblatt), der h<strong>in</strong>sichtlich der auf e<strong>in</strong>er vorbereiteten Tabelle (M4) vorgeschlagenen<br />

Stichworte zu lesen und zu erfassen ist (z.B. als Gruppenarbeit).<br />

Dabei sollen die Schüler/<strong>in</strong>nen:<br />

1. Die Normen (Kriterien des Lebenswertes) e<strong>in</strong>zelner Positionen benennen<br />

2. Die Positionen e<strong>in</strong>em ihnen bekannten ethischen Grundmodell zuordnen<br />

3. Diese beurteilen, <strong>in</strong>dem sie die unterschiedlichen Ansätze auf Probleme und Gefahren<br />

überprüfen.<br />

So setzen sie sich soweit mit dem Problem ause<strong>in</strong>ander, dass das Abwägen e<strong>in</strong>er eigenen begründeten<br />

ethischen Position <strong>in</strong> Ansätzen möglich wird.<br />

Ergebnisse der daran anschließenden Schlussdiskussion anhand der eigenen Stellungnahme könnten<br />

se<strong>in</strong>:<br />

– Die ärztliche Behandlungspflicht darf nicht alle<strong>in</strong> durch die mediz<strong>in</strong>isch-technischen<br />

Möglichkeiten bestimmt werden, vielmehr s<strong>in</strong>d human-ethische Beurteilungskriterien <strong>in</strong> die<br />

Entscheidungen mite<strong>in</strong>zubeziehen.<br />

– E<strong>in</strong>e steile Normenethik („Unantastbarkeit des Lebens“) alle<strong>in</strong> reicht als praktische<br />

Entscheidungshilfe nicht. Konkrete Entscheidungen s<strong>in</strong>d stets an das Abwägen verschiedener<br />

Güter geknüpft.<br />

– Dennoch mag die Grundnorm der „Ehrfurcht vor dem Leben“ als Leitsatz gelten, von dem<br />

aus alle abweichenden Entscheidungen zu begründen s<strong>in</strong>d. Solche Abweichungen s<strong>in</strong>d jedoch<br />

im E<strong>in</strong>zelfall möglich (im S<strong>in</strong>ne A. Schweitzers nicht ausnahmslos wie <strong>in</strong> der Ethik<br />

Kants).<br />

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– Die Norm der „Ehrfurcht vor dem Leben“ darf nicht nur als Pflicht zur dogmatischen<br />

Lebenserhaltung des Säugl<strong>in</strong>gs ausgelegt werden, sondern muss auch das Leben der betroffenen<br />

Angehörigen mite<strong>in</strong>beziehen.<br />

– Die Folgen e<strong>in</strong>er S<strong>in</strong>gerschen Ethik s<strong>in</strong>d nicht absehbar und die Gefahr e<strong>in</strong>er Ausweitung<br />

ist groß (Dammbruchargument).<br />

– Entscheidungen über Leben und Tod müssen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en rechtlich verb<strong>in</strong>dlichen Rahmen<br />

gestellt werden. Diese rechtlichen Grundlagen sollen e<strong>in</strong>e angemessene Vermittlung zwischen<br />

dem Schutz des Lebens beh<strong>in</strong>derter Säugl<strong>in</strong>ge und den Grenzen der ärztlichen Behandlungspflicht<br />

leisten und nach Möglichkeit auch soziale Komponenten (Situation, Sorgerecht<br />

der Eltern / Erziehungsberechtigten) berücksichtigen. 5<br />

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Informationen zu Sp<strong>in</strong>a bifida<br />

Kernsymptome e<strong>in</strong>er Sp<strong>in</strong>a bifida s<strong>in</strong>d: die angeborene Querschnittslähmung, die damit e<strong>in</strong>hergehende<br />

Blasen- und Mastdarmlähmung, sowie der Hydrocephalus (Wasserkopf). Zusätzliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />

können Anfallsleiden, Wahrnehmungsdefekte, Intelligenzm<strong>in</strong>derungen als Begleitersche<strong>in</strong>ungen<br />

des Hydrocephalus, sowie Erkrankungen der Gelenke (Hüfte, Füße, Knie) und Nierenfunktionsstörungen<br />

<strong>in</strong>folge der Lähmungen se<strong>in</strong>.<br />

Die Sp<strong>in</strong>a bifida bietet sich auch deshalb als Beispiel des Problemfeldes an, weil hier zwar durch<br />

aufwendige, aber immerh<strong>in</strong> mögliche Maßnahmen e<strong>in</strong>e Therapie möglich ist, die z.T. gute Erfolge<br />

zeigt. Seit den 60er Jahren wurde durch die Entwicklung e<strong>in</strong>es Shunt-Dra<strong>in</strong>age-<br />

Systems der Hydrocephalus operierbar, was heute an allen K<strong>in</strong>derkl<strong>in</strong>iken rout<strong>in</strong>emäßig durchführbar<br />

ist. In vielen Fällen kann somit die geistige Bee<strong>in</strong>trächtigung auf e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum reduziert<br />

oder aufgehoben werden. Allerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d z.T. bis zu 20 Folgeoperationen <strong>in</strong> den ersten 20 Lebensjahren<br />

notwendig. Bei manchen K<strong>in</strong>dern hat der Hydrocephalus schon während der Schwangerschaft<br />

das Gehirn so geschädigt, dass e<strong>in</strong>e dauerhafte geistige Beh<strong>in</strong>derung bleibt. Der offene Rücken<br />

(Austreten des Rückenmarks) kann zwar operativ verschlossen werden, e<strong>in</strong>e Vermeidung der<br />

Querschnittslähmung ist dabei nur <strong>in</strong> sehr wenigen, m<strong>in</strong>der schweren Fällen (Men<strong>in</strong>gocele) möglich.<br />

Prognosen über das Ausmaß der bleibenden Beh<strong>in</strong>derung s<strong>in</strong>d nur schwer möglich. Beide Operationen<br />

s<strong>in</strong>d zur Vermeidung von Folgeschäden <strong>in</strong>nerhalb der ersten Tage – wenn möglich sogar<br />

bis 24 Std. nach der Geburt zu vollziehen, so dass akuter Handlungsbedarf unter Zeit<br />

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Unterrichtsverlauf (m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e Doppelstunde)<br />

Motivation:<br />

Assoziationen zum Bild e<strong>in</strong>es beh<strong>in</strong>derten Neugeborenen<br />

– L. zeigt Bild von beh<strong>in</strong>dertem Säugl<strong>in</strong>g (M1)<br />

– L. schreibt die Assoziationen der Schüler/<strong>in</strong>nen an die Tafel<br />

H<strong>in</strong>führung:<br />

Die Gedanken e<strong>in</strong>es Vaters bei der Geburt se<strong>in</strong>es schwerstgeschädigten K<strong>in</strong>des hören<br />

– L. führt Kassettenaufnahme mit „Gedanken e<strong>in</strong>es Vaters“ (M2) vor oder liest den Text<br />

Erarbeitung:<br />

Klärung des notwendigen Sachwissens – Ause<strong>in</strong>andersetzung mit je e<strong>in</strong>er Position zur Behandlungsentscheidung<br />

a) Sachanalyse:<br />

Schüler/<strong>in</strong>nen befragen L. zur Situation (mediz<strong>in</strong>. Diagnose – Prognose, jurist. und gesellschaftl./<br />

soziale Aspekte)<br />

b) Analyse e<strong>in</strong>er Verhaltensalternative und Prüfung der zu Grunde liegenden Normen als arbeitsteilige<br />

E<strong>in</strong>zelarbeit über je e<strong>in</strong>e Position (Lebenswertkriterien) (M3)<br />

– L. hilft bei Fragen<br />

– L. leitet Sammlung an<br />

Ergebnissicherung:<br />

Erstellen der Tabelle (M4)<br />

– L. ergänzt die Tabelle<br />

Vertiefung:<br />

Diskussion der verschiedenen Me<strong>in</strong>ungen<br />

– L. leitet an und fragt nach, strukturiert und bündelt<br />

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M1<br />

Neugeborenes mit Sp<strong>in</strong>a bifida<br />

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M2<br />

Gedanken e<strong>in</strong>es Vaters<br />

Wir haben uns so auf unser K<strong>in</strong>d gefreut. Hat es wohl me<strong>in</strong>e Augen oder de<strong>in</strong>e. Blonde oder braune<br />

Haare. Hoffentlich nicht me<strong>in</strong>e große Nase .....<br />

Ob es wohl auch e<strong>in</strong>mal die Musik so lieben würde wie ich, e<strong>in</strong> großer Klavierspieler oder Geiger.<br />

Me<strong>in</strong> Sohn und ich spielen e<strong>in</strong>e große Brahms-Sonate, die g-moll.<br />

Der Sekt wartet seit Tagen kaltgestellt im Kühlschrank.<br />

(verzweifelt) Es kann nicht se<strong>in</strong>, es darf nicht se<strong>in</strong>, das ist nicht me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d!<br />

„Sp<strong>in</strong>a bifida“ nennen sie das, e<strong>in</strong>en offenen Rücken.<br />

Ke<strong>in</strong> Glückwunsch – nur besorgte Gesichter, die leise sprechen, flüstern. Das K<strong>in</strong>d sollte ich besser<br />

noch nicht anschauen.<br />

Ich habe es dennoch getan. Das ist nicht me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, es kann nicht se<strong>in</strong>! Ich erkenne ke<strong>in</strong>e Ähnlichkeit.<br />

Mir wäre es lieber, dieses K<strong>in</strong>d verschwände aus me<strong>in</strong>em Leben. Möge dieses K<strong>in</strong>d sterben, bitte,<br />

es soll sterben. Nur se<strong>in</strong> Tod wäre e<strong>in</strong> Trost für mich, lieber e<strong>in</strong> Ende mit Schrecken als e<strong>in</strong> Schrecken<br />

ohne Ende.<br />

Aber das kann ich doch nicht den Ärzten sagen, wenn sie mich fragen, ob sie alles versuchen sollten.<br />

Ne<strong>in</strong>, möchte ich schreien, ne<strong>in</strong>, lasst es sterben und wenn es nicht stirbt, dann helft ihm<br />

nach, das ist nicht me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d!<br />

(Pause)<br />

Heike denkt ganz anders. Liebevoll ist ihr Blick. Unser Sohn, mir geht das nur schwer über die<br />

Lippen, hätte so etwas Himmlisches, e<strong>in</strong>en Funken der nicht von dieser Welt sei. Sie me<strong>in</strong>t, noch<br />

könne man gar nichts sagen. Sie glaubt der Zukunftsperspektive Rollstuhl, lebenslang W<strong>in</strong>deln,<br />

mehr als zehn Operationen <strong>in</strong> den ersten Jahren, geistige Beh<strong>in</strong>derung, sie glaubt dieser Perspektive<br />

nicht. Sie will es halt auch nicht wahrhaben.<br />

Es wäre so viel e<strong>in</strong>facher, dieses K<strong>in</strong>d würde sich verabschieden. Er soll nicht so leiden müssen.<br />

Die Chancen bei e<strong>in</strong>er neuen Schwangerschaft wieder e<strong>in</strong> beh<strong>in</strong>dertes K<strong>in</strong>d zu bekommen, stehen<br />

fast bei Null, sagte der Chefarzt. (Pause)<br />

Sp<strong>in</strong>a bifida und Wasserkopf – das ist nicht me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d.<br />

Was soll ich sagen, wenn sie mich morgen fragen werden?<br />

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An dem Zahlenwert lasse sich ablesen, ob e<strong>in</strong>e Behandlung stattf<strong>in</strong>den oder besser unterbleiben<br />

soll. Grundlegende Annahme ist für Lorber, dass die geistigen Fähigkeiten um so größer se<strong>in</strong> müssen,<br />

je größer die körperlichen Schäden s<strong>in</strong>d, damit der Beh<strong>in</strong>derte durch se<strong>in</strong>e geistigen Fähigkeiten<br />

die körperlichen Schäden, z. B. durch Bedienen von Prothesen, Rollstuhl usw. ausgleichen<br />

kann. Durch e<strong>in</strong> günstiges Verhältnis zwischen körperlicher Beh<strong>in</strong>derung und Intelligenz könne<br />

sich der Betroffene im späteren Leben selbst helfen und sei nicht nur abhängig von anderen oder<br />

müsse ihnen nur zur Last fallen. Darüber h<strong>in</strong>aus werden die sozialen Verhältnisse der Familie mitberücksichtigt.<br />

3. Text: Die christliche Heilpädagog<strong>in</strong> S. Wulfes schreibt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Petition an den Bundestag:<br />

„Manche Eltern erfahren die drohende Beh<strong>in</strong>derung ihres K<strong>in</strong>des mit Sp<strong>in</strong>a bifida als Zumutung,<br />

die über ihre Kräfte geht. Die Krankheit e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des kann aber niemals e<strong>in</strong>e sittliche Rechtfertigung<br />

für se<strong>in</strong>e Tötung se<strong>in</strong>, denn der „Wert“ e<strong>in</strong>es Menschen gründet entscheidend dar<strong>in</strong>, dass der<br />

Mensch von Gott nach se<strong>in</strong>em Bilde geschaffen, von ihm bei se<strong>in</strong>em Namen gerufen und <strong>in</strong> Liebe<br />

angenommen ist.<br />

Zahlreiche Fälle schwerstkranker / beh<strong>in</strong>derter Neugeborener, die trotz ger<strong>in</strong>ger Erfolgsaussichten<br />

weiterbehandelt oder operiert wurden und leben, belegen e<strong>in</strong>drucksvoll, dass e<strong>in</strong>e sichere Erfolgsabschätzung<br />

<strong>in</strong> solchen Extremsituationen – zumal diese schnelles Handeln erfordern – kaum<br />

möglich ist.<br />

Entscheidend am Beispiel der Sp<strong>in</strong>a bifida-K<strong>in</strong>der ist vielmehr: Wo immer Abstriche am Grundpr<strong>in</strong>zip<br />

der „Unantastbarkeit des Lebens“ gemacht werden – egal nach wie immer e<strong>in</strong>gegrenzten,<br />

wissenschaftlich präzisen oder unexakten Kriterien –, da droht e<strong>in</strong>e fortschreitende Aushöhlung<br />

verfassungsmäßiger Grundrechte und humaner Grundsätze des Lebensschutzes. Diese aber haben<br />

über Jahrhunderte h<strong>in</strong>weg zentrale Bedeutung <strong>in</strong> unserer Kultur erlangt.<br />

Jegliche Form von Infragestellung der „Unantastbarkeit des Lebens“ oder damit <strong>in</strong> engem Zusammenhang<br />

des Schutzes von M<strong>in</strong>derheiten hat <strong>in</strong> der Geschichte stets zu schwer kontrollierbaren<br />

und korrigierbaren Ausweitungen, zu e<strong>in</strong>em Verlust an Solidarität und Mitmenschlichkeit und<br />

zu massenhaftem menschlichen Leid geführt. (...)<br />

Gefordert wird also: Sicherung e<strong>in</strong>er Behandlung ausnahmslos aller Neugeborenen unabhängig<br />

von deren Situation nach allen Regeln ärztlicher Kunst.<br />

Der Staat und die Kirchen müssen sich dann <strong>in</strong> der Pflicht wissen, Hilfsangebote <strong>in</strong> breiter Form<br />

zur Verfügung zu stellen, damit etwaige Belastungen von vielen Schultern getragen werden können.“<br />

(Sigl<strong>in</strong>de Wulfes, Petition 2 vom 27.12.1990, 3-5)<br />

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M 4: Tabelle (Schülerblatt)<br />

Verhaltensalternativen zur Behandlungsentscheidung<br />

bei schwerstgeschädigten Neugeborenen<br />

Verhaltens-<br />

Alternativen<br />

(Vertreter)<br />

K<strong>in</strong>dstötung<br />

(aktive Früheuthanasie)<br />

Selektive<br />

(Nicht-)<br />

Behandlung<br />

Maximale Behandlung<br />

Welche Kriterien des<br />

Lebenswertes werden<br />

genannt?<br />

M 5: Tabelle (Lösungsvorschlag/ Folie)<br />

Verhaltens-<br />

Alternativen<br />

(Vertreter)<br />

K<strong>in</strong>dstötung<br />

(P. S<strong>in</strong>ger)<br />

Selektive Behandlung<br />

(J. Lorber)<br />

Maximale<br />

Behandlung<br />

(S. Wulfes)<br />

Kriterien des<br />

Lebenswertes<br />

Personse<strong>in</strong><br />

(Autonomie,<br />

Selbstbewusstse<strong>in</strong>,<br />

Rationalität)<br />

»Lebensqualität«,<br />

Quotient aus körperlicherBeh<strong>in</strong>derung<br />

und geistigen<br />

Fähigkeiten<br />

jeder Mensch ist<br />

lebenswert,<br />

Wert an sich<br />

durch Gottesebenbildlichkeit<br />

und Liebe<br />

<strong>Ethisches</strong> Grundmodell;<br />

Weg der Urteilsf<strong>in</strong>dung<br />

(Präferenz-)<br />

Utilitarismus;<br />

konsequentialistisch<br />

Handlungs-<br />

Utilitarismus; Verantwortungsethik;<br />

diskursethisch –<br />

durch Güterabwägung<br />

Deontologische<br />

Normenethik;<br />

präskriptiv, deduktiv<br />

Wie wird hier ethisch<br />

argumentiert?<br />

(Methode/ Ethik-Typ)<br />

Probleme,<br />

Gefahren dieses Ansatzes<br />

Welche Kritik gibt es an<br />

dieser Verhaltensalternative?<br />

(Gefahren dieses<br />

Ansatzes)<br />

- Reduktionistisches Menschenbild (kopfzentriert);<br />

- Gleichsetzung von Beh<strong>in</strong>derung und Leid<br />

(leidfreie Gesellschaft ist e<strong>in</strong>e Illusion);<br />

- Schiefe Bahn: Aufweichung des Tötungsverbots<br />

bewirkt Dammbruch (Ausweitung<br />

z.B. auf erwachsene Beh<strong>in</strong>derte, alte Menschen)<br />

- Maßstäbe für Kriterien s<strong>in</strong>d umstritten (Autonomie?;<br />

Lebensqualität?)<br />

- Prognosen s<strong>in</strong>d fehlerhaft<br />

- »Leben erhalten um jeden Preis« kann zu<br />

e<strong>in</strong>em »Terror der Humanität« führen<br />

- wo bleibt der Lebenswert der Angehörigen?<br />

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Anmerkungen<br />

1 Vgl. H. E. Tödt, Versuch e<strong>in</strong>er Theorie ethischer Urteilsf<strong>in</strong>dung, ZEE 21 (1977), 80–93, wieder <strong>in</strong>:<br />

Ders., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 21–48.<br />

2 Von diesen 27 % wurde die Diagnose bei 83 % der Fälle erst zwischen der 30. und 40. Schwangerschaftswoche<br />

gestellt. Vgl. dazu B. Schell, Die Lebenssituation Erwachsener mit Sp<strong>in</strong>a bifida, Diss.<br />

Masch., Heidelberg 1994, 87ff. Zu E<strong>in</strong>zelheiten auch M. Zimmermann, Geburtshilfe als Sterbehilfe?<br />

Zur Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt<br />

a.M. 1997.<br />

3 Vgl. neben persönlich geführten Interviews P. Dreyer, Ungeliebtes Wunschk<strong>in</strong>d, Frankfurt 1988; M.<br />

Jonas, Beh<strong>in</strong>derte K<strong>in</strong>der – beh<strong>in</strong>derte Mütter?, Frankfurt a.M. 1990; ferner E. Zeile (Hg.), Ich habe<br />

e<strong>in</strong> beh<strong>in</strong>dertes K<strong>in</strong>d. Mütter und Väter berichten, München 1988.<br />

4 Vgl. zur mediz<strong>in</strong>ischen, rechtlichen und psychologischen Situation E<strong>in</strong>zelheiten <strong>in</strong> M. Zimmermann,<br />

Geburtshilfe als Sterbehilfe? (a.a.O.).<br />

5 Vgl. dazu die „Grundsätze der Bundesärztekammer“ als Standesrichtl<strong>in</strong>ie und unsere Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

damit <strong>in</strong> M. und R. Zimmermann, Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung.<br />

E<strong>in</strong>e ethische Stellungnahme, ZEE 43 (1999), 86-97.<br />

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