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Fichtes »Reden an die deutsche Nation« im Licht der Globalisierung ...

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Grund <strong>der</strong> Vergrößerung <strong>der</strong> ökonomischen Ungleichheit als <strong>der</strong> Nivellierung <strong>der</strong><br />

kulturellen Verschiedenheit jedes Volk, können <strong>die</strong> Reden neue Bedeutung erl<strong>an</strong>gen.<br />

2. Son<strong>der</strong>stellung und Son<strong>der</strong>aufgabe <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Nation<br />

Nach <strong>Fichtes</strong> Ansicht hat <strong>die</strong> Beherrschung Napoleons über Deutschl<strong>an</strong>d eine<br />

Vorgeschichte. In den verschiedenen <strong>deutsche</strong>n Lebensbereichen verstärkte sich bereits<br />

vorher eine Tendenz <strong>der</strong> Nachahmung des fr<strong>an</strong>zösischen Stills. Indem Fichte es vemeindet,<br />

Frazosen direkt be<strong>im</strong> Namen zu nennen, kritisiert er das Liebhaben vom »ausländischen<br />

Sehwerkzeug« (Rede 1. 268) und <strong>die</strong> »Auslän<strong>der</strong>ei« als »Grundseuche« (Rede 5. 336).<br />

Im Mitteleuropa bisher hatte Deutschl<strong>an</strong>d eine friedliche Haltung zu den <strong>an</strong><strong>der</strong>en<br />

europäischen Nationen. »Die <strong>deutsche</strong> <strong>Nation«</strong> war »wenig geneigt, Kunde von den<br />

benachbarten Völkerschaften zu nehmen.« »Im Verlaufe <strong>der</strong> Zeiten bewahrte sie ihr<br />

günstiges Geschick vor dem unmitellbaren Abtheile am Raube <strong>der</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>n Welten.« (Rede<br />

13. 461) Aber <strong>die</strong> Politik des »Gleichgewichts <strong>der</strong> Macht« <strong>der</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>en Nationen<br />

verwickelte Deutschl<strong>an</strong>d in Zwisten. »Nur durch <strong>die</strong>ses künstliche Bindungsmittel wurden<br />

alle Zwiste […] zu eignen Zwisten <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Stämme unterein<strong>an</strong><strong>der</strong>« (Rede 13. 464).<br />

Viele Wi<strong>der</strong>sprüche Europas konzentrierte sich auf Deutschl<strong>an</strong>d. Deutschl<strong>an</strong>d wurde<br />

sozusagen zum »Inbegriff des gesamten christlichen Europa <strong>im</strong> Kleinen« (Ebenda)<br />

gemacht. Deutschl<strong>an</strong>d fehlte es l<strong>an</strong>ge Zeit <strong>an</strong> dem einheitlichen Staat. Aus <strong>die</strong>sem Grund<br />

konnten <strong>an</strong><strong>der</strong>e Nationen es einmischen bzw. beherrschen.<br />

Aus <strong>die</strong>ser Son<strong>der</strong>stellung Deutschl<strong>an</strong>ds entsteht seine welthistorische Aufgabe. Der<br />

Kampf <strong>der</strong> Deutschen gegen Napoleon schließt <strong>an</strong> <strong>die</strong> Befreiung g<strong>an</strong>z Europas <strong>an</strong>. Nach<br />

<strong>der</strong> Vorstellung <strong>Fichtes</strong> entspricht <strong>die</strong> Beherrschung Napoleons über das Europa <strong>der</strong><br />

Erweiterung des Römischen Reichs. Im Altertum kämpfte <strong>die</strong> <strong>deutsche</strong> Nation gegen das<br />

Römische Reich und hemmte seine Beherrschung über Mitteleuropa (Rede 13. 389). Sie<br />

steht jetzt in <strong>der</strong> ersten Front <strong>der</strong> Befreiung des g<strong>an</strong>z Europas von <strong>der</strong> Herrschaft<br />

Napoleons. Im Gegensatz zur napoleonischen Ambition <strong>der</strong> »Universalmonarchie« (Rede<br />

13. 467) zielt Fichte auf <strong>die</strong> Realisierung <strong>der</strong> Fö<strong>der</strong>ation Europas auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> gleichen<br />

Assoziierung verschiedener Nationen.


Die <strong>deutsche</strong> Nation hat l<strong>an</strong>ge <strong>die</strong> Tradition, beson<strong>der</strong>s <strong>die</strong> sprachliche Tradition <strong>der</strong><br />

germ<strong>an</strong>ischen Nation behalten, während <strong>an</strong><strong>der</strong>e germ<strong>an</strong>ische Nationen in <strong>die</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>e<br />

kulturelle Bereiche w<strong>an</strong>delten und <strong>die</strong>se Tradition abschwächten (Rede4. 314). Nach<br />

<strong>Fichtes</strong> Verständnis gehörten Deutschen und Fr<strong>an</strong>zosen zusammen zur germ<strong>an</strong>ischen<br />

Nation und bildeten das fränkische Reich. Aber unter dem Einfluss <strong>der</strong> römischen Tradition<br />

haben <strong>die</strong> Frazosen <strong>die</strong> germ<strong>an</strong>ische Tradition verloren. Fichte nennt <strong>die</strong> Frazosen »neue<br />

Römer« (Rede 5. 336) und <strong>die</strong> fr<strong>an</strong>zösiche Sprache »neulatainische Sprache« (Rede 6.<br />

344). Diese Charakterisierung <strong>der</strong> Frazosen aber bedeutet nicht, dass Fichte eine feindliche<br />

Haltung <strong>Fichtes</strong> Ihnen gegenüber einn<strong>im</strong>mt. Fichte versucht, durch <strong>die</strong> Kooperation <strong>der</strong><br />

»beide[n] Theile[n] <strong>der</strong> gemeinsamen <strong>Nation«</strong> (Rede 5. 341), nämlich zwischen den<br />

Deutschen und den Fr<strong>an</strong>zosen eine neue Ordnung des Europas zu bauen.<br />

Während K<strong>an</strong>t <strong>die</strong> internationale Erweiterung des Verkehrs und des H<strong>an</strong>dels als Basis des<br />

Weltfriedens erfasste, schätzt Fichte sie <strong>an</strong><strong>der</strong>s ein. Nach <strong>Fichtes</strong> Ansicht bedrohen <strong>die</strong><br />

»Freiheit <strong>der</strong> Meere« und »Welth<strong>an</strong>del« den Weltfrieden. »Innere Selbständigkeit und<br />

H<strong>an</strong>delunabhängikeit« je<strong>der</strong> Nation sind entbehrlich sowohl für den Deutschen als für g<strong>an</strong>z<br />

Europa (Rede 13. 467). Fichte w<strong>an</strong>rnte (nach meiner Ansicht) vor damaligen Mini-<br />

<strong>Globalisierung</strong> <strong>im</strong> Europa. Die Erweiterung <strong>der</strong> Industrie und des Verkehrs hat seines<br />

Erachtens durch den Wetteifer <strong>die</strong> Beraubung und <strong>die</strong> Beherrschung <strong>der</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>en Nationen<br />

zur Folge.<br />

»Jahrhun<strong>der</strong>te hindurch, während des Wetteifers aller <strong>an</strong><strong>der</strong>en Nationen, hat <strong>der</strong> Deutsche<br />

wenig Begierde gezeigt, <strong>an</strong> <strong>der</strong>selben in einem ausgedenhten Maasse theil zu<br />

nehmen« (Rede 13. 465 f.). »O möchte doch nur den Deutschen sein günstiges Geschick<br />

ebenso vor dem mittelbaren Antheile <strong>an</strong> <strong>der</strong> Beute <strong>der</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>n Welten bewahrt haben, wie es<br />

ihn vor dem ummittelbaren bewahrte!« (Rede 13. 465) »Möchten wir endlich einsehen,<br />

dass alle jene schwindelnden Lehrgebäude über Welth<strong>an</strong>del und Fabrication für <strong>die</strong> Welt«<br />

»bei den Deutschen keine Anwendung haben« (Rede 13. 466).<br />

Schon in dem geschlossenen H<strong>an</strong>delsstaat von 1800 gegen Erweiterung des Verkehrs<br />

schlug Fichte er <strong>die</strong> Autarkie je<strong>der</strong> Nation vor. In den Reden bestätigt Fichte <strong>die</strong>sem<br />

Vorschlag: »ehe irgend jem<strong>an</strong>d voraussehen konnte, was seitdem sich ereignet, ist den


Deutschen gerathen worden, vom Welth<strong>an</strong>del sich unabhängig zu machen, und als<br />

H<strong>an</strong>delsstaat sich zu schliessen« (Rede 13. 466). Dieser Vorschlag wurde ignoriert, aber<br />

später wird <strong>die</strong> Beschränkung des Verkehrs »mit Unehre« durch »fremde Gewalt« (ibid.),<br />

nämlich durch <strong>die</strong> napoleonische Politik <strong>der</strong> Kontinentalsperre »genötigt«. Diese Politik<br />

bracht Wi<strong>der</strong>sprüche <strong>der</strong> Erweiterung des Verkehrs <strong>an</strong>s <strong>Licht</strong>.<br />

Diese Behauptung <strong>Fichtes</strong> mag <strong>an</strong>achlonistisch klingen. Aber in <strong>der</strong> heutigen<br />

Globalisilierung unter <strong>der</strong> Berücktsichtung sowohl <strong>der</strong> Vergrößerung <strong>der</strong> ökonomischen<br />

Ungleichheit zwischen den Nationen als auch <strong>der</strong> Verschwendung <strong>der</strong> natürlichen<br />

Ressourcen enthält <strong>die</strong> Kritik <strong>Fichtes</strong> einen vorausschauenden Faktor.<br />

3. Überwindung <strong>der</strong> Selbstsucht als Bedingung <strong>der</strong> nationalen Einheit <strong>der</strong> Deutschen<br />

Fichte empfindet den Hauptm<strong>an</strong>gel <strong>der</strong> Deutschen in <strong>der</strong> Ausbreitung <strong>der</strong> »Selbstsucht«<br />

o<strong>der</strong> des Eigennutzes sowohl in <strong>der</strong> herrschenden Klassen als auch in <strong>der</strong> Volksmassen.<br />

Diese Selbstsucht ist eine Wurzel des Verlusts <strong>der</strong> Selbständigkeit <strong>der</strong> Deutschen.<br />

»Bis zu ihrem höchsten Grade entwickelt ist <strong>die</strong> Selbstsucht, wenn, nachdem sie […] <strong>die</strong><br />

Gesammtheit <strong>der</strong> Regierten ergriffen, sie von <strong>die</strong>sen aus sich auch <strong>der</strong> Regierenden<br />

bemächtigt, und <strong>der</strong>en alleiniger Lebenstrieb wird. Es entsteht einer solchen Regierung<br />

zuvör<strong>der</strong>st nach aussen <strong>die</strong> Vernachlässigung aller B<strong>an</strong>de, durch welche ihre eigene<br />

Sicherheit <strong>an</strong> <strong>die</strong> Sicherheit <strong>an</strong><strong>der</strong>er Staaten geknüpft ist, das Aufgeben des G<strong>an</strong>zen, dessen<br />

Glied sie ist, lediglich darum, damit sie nicht aus ihrer trägen Ruhe aufgestört werde, und<br />

<strong>die</strong> traurige Täuschung <strong>der</strong> Selbstsucht, dass sie Frieden habe, sol<strong>an</strong>ge nur <strong>die</strong> eigene<br />

Grenzen nicht <strong>an</strong>gegriffen sind« (Rede 1. 270).<br />

In den Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, welche sich auf Vorlesungen von<br />

1804-05 begründet und sich in 1806 publiziert wurden, hielt Fichte <strong>die</strong> Überwindung <strong>der</strong><br />

Selbstsucht als dringende historische Aufgabe <strong>der</strong> Menschengattung (FSW VIII, 201).<br />

Aber in den Reden <strong>im</strong> neuen Zust<strong>an</strong>d <strong>der</strong> Herrschaft Napoleons über Deutschl<strong>an</strong>d<br />

verän<strong>der</strong>t er sein Urteil: In Deutschl<strong>an</strong>d »hat <strong>die</strong> Selbstsucht durch ihre vollständige<br />

Entwicklung sich selbst vernichtet, indem sie darüber ihr Selbst und dessen Selbständigkeit<br />

verloren; und ihr, da sie gutwill keinem <strong>an</strong><strong>der</strong>n Zweck, denn sich selbst, sich setzten wollte,


durch äusserliche Gewalt ein solcher <strong>an</strong><strong>der</strong>er und frem<strong>der</strong> Zweck aufgedrungen<br />

worden.« (Rede 1. 264) Damit erffönet sich <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Nation vielmehr eine<br />

Möglichkeit, Selbstsucht zu überwinden, »<strong>die</strong> neue Zeit, vor<strong>an</strong>gehend und vorbildend für<br />

<strong>die</strong> übrigen, zu beginnen.« (Rede 3. 306)<br />

Auch für <strong>die</strong> Erziehung <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Nation ist <strong>die</strong> Überwindung <strong>der</strong> Selbstsucht eine<br />

Hauptsaufgabe. Das Ziel <strong>der</strong> Erziehung besteht darin, den vollkommenen Menschen<br />

auszubilden, welcher »thätig, wirksam, sich aufopfernd« für sein Volk ist (Rede 8. 383).<br />

Ohne »Aufgabe <strong>der</strong> Erziehung zum vollkommenen Menschen« zu lösen, ist es ummöglich,<br />

den »vollkommenen Staat«, den einheitlichen Staat <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Nation zu bauen (Rede 6.<br />

354).<br />

Bedingungen für Mo<strong>der</strong>nisierung je<strong>der</strong> Nation bestehen in <strong>der</strong> Aufbau seines<br />

einheitlichen Staats und in <strong>der</strong> Sicherung <strong>der</strong> Rechte ihrer Bürger. In Deutschl<strong>an</strong>d aber<br />

fehlen <strong>die</strong>se zwei Bedingungen. Deswegen sagte m<strong>an</strong>, dass ausländische Machte<br />

(Fr<strong>an</strong>zosen, Napoleon) »erst <strong>deutsche</strong>n Län<strong>der</strong>n, <strong>die</strong> vorher kein Vaterl<strong>an</strong>d gehabt hatten,<br />

eins brächten«, dass »sie eine sklavische Abhängigkeit <strong>der</strong> Personen […] abschafften«.<br />

(Rede 13. 477) Fichte kritisiert <strong>die</strong>se Ansicht. Obwohl in seinen frühen Werken er mit<br />

<strong>die</strong>sen in <strong>der</strong> fr<strong>an</strong>zösischen Revolution behaupteten Prinzipien sympathisierte, protestiert er<br />

in den Reden <strong>die</strong> Nötigung <strong>die</strong>ser Prinzipien durch Nepoleon.<br />

Fichte möchte <strong>die</strong> politische Einheit Deutschl<strong>an</strong>ds nicht hastig realisieren. Er zieht es in<br />

Betracht, dass in <strong>der</strong> Verg<strong>an</strong>genheit <strong>die</strong> verschiedenen <strong>deutsche</strong>n Reiche eigene<br />

Staatssysteme <strong>an</strong>nahmen, und deshalb <strong>die</strong> Schaffung ihrer politischen Einheit viel Zeit<br />

bedarf. Seit dem Mittelalter haben sich in Deutschl<strong>an</strong>d »Staatsbunde« (Rede 4. 313),<br />

»Reichesbund« und »Völkerrepublik« (Rede 8. 392) gebildet. Es scheint, dass Fichte es als<br />

wünschenswert sieht, <strong>die</strong>se politische traditionalle Verfassungsformen fortzusetzen. In<br />

Augen <strong>Fichtes</strong> überlappt <strong>der</strong> Zust<strong>an</strong>d des Deutschen den des alten Griechen, welcher nicht<br />

einen einheitlichen Staat hatte (Ebenda).<br />

Nach <strong>der</strong> Strategie <strong>Fichtes</strong> besteht <strong>die</strong> dringende Aufgabe <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Nation darin, dass<br />

alle <strong>deutsche</strong> Reiche ihre gemeinsame kulturelle Tradition wie<strong>der</strong>erkennen und sich auf<br />

<strong>die</strong>se Grundlage assoziieren.


4. Verb<strong>im</strong>dung zwischen Nationalität und Internationalität<br />

Fichte betont <strong>die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Nation o<strong>der</strong> des Volks. Das Volk ist für den einzelnen<br />

Menschen das ursprüngliche, »von welchem er abstammt, und unter welchem er gebildet<br />

wurde, und zu dem, was er jetzt ist, heraufwuchs.« (Rede 8. 381) Der einzelne Mensch<br />

k<strong>an</strong>n »<strong>an</strong> <strong>die</strong> ewige Fortdauer seiner Wirksamkeit« glauben, insofern er »<strong>die</strong> Hoffnung <strong>der</strong><br />

ewigen Fortdaur des Volks« hegen k<strong>an</strong>n (Rede 8. 382). In <strong>die</strong>sem Sinne drückt das Volk<br />

»das ewiges Leben« (ibid.), sogar »das göttliches Leben« (Rede 8. 380) aus.<br />

Das Volk »liegt weit hinaus über den Staat« als Anstalt für »<strong>die</strong> Erhaltung des innern<br />

Friedens, des Eigenthums, <strong>der</strong> persönlichen Freiheit, des Lebens und des Wohlseyns aller«.<br />

Dieser Staat ist nur »Mittel, Bedingung und Gerüst« für das Volk (Rede 8. 384). Daher<br />

steht <strong>die</strong> »Vaterl<strong>an</strong>dliebe« über »<strong>der</strong> bürgerlichen Liebe zur Verfassung«(Rede 8. 387). In<br />

Deutschl<strong>an</strong>d l<strong>an</strong>ge st<strong>im</strong>mten <strong>der</strong> Vaterl<strong>an</strong>d und <strong>der</strong> Staat nicht überein und viele Reiche<br />

st<strong>an</strong>den nebenein<strong>an</strong><strong>der</strong>. Dieser Zust<strong>an</strong>d ist einerseits insofern nachteilig, als er <strong>die</strong><br />

Einmischung und <strong>die</strong> Beherrrschung durch <strong>die</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>e Nationen verursachte, aber er ist<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>erseits insofern vorteilhaft, als sich viele Reiche durch Nacheiferung gegenseitig<br />

erhöhten (Rede 11. 437).<br />

Nach <strong>Fichtes</strong> Ansicht besteht das Wesen <strong>der</strong> Nation in <strong>der</strong> Gemeinsamkeit <strong>der</strong> Sprache<br />

und in ihrer reinen Erhaltung, für es sind <strong>die</strong> Gemeinsamkeit des Wohnorts und <strong>die</strong> reine<br />

Erhaltung <strong>der</strong> Abstammung sekundär. Trotz <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung ihres Wohnorts und <strong>der</strong><br />

Blutvermischung erhielt <strong>die</strong> <strong>deutsche</strong> Nation <strong>die</strong> germ<strong>an</strong>ische sprachliche Tradition,<br />

während <strong>an</strong><strong>der</strong>e germ<strong>an</strong>ische Nationen <strong>die</strong>se Tradition verloren (Rede 4. 313f.). In <strong>die</strong>sem<br />

Sinne sind <strong>die</strong> Deutschen würdig, »Urvolk« (Rede 7. 359, Rede 7. 374, Rede 8. 381) o<strong>der</strong><br />

»Stammvolk« (Rede 4. 313, Rede 4. 319, Rede 5. 356) gen<strong>an</strong>nt zu werden. Diese<br />

Charakterisierung <strong>Fichtes</strong> scheint nationalistisch. Sie wird aber <strong>im</strong> beschränkten Kontext,<br />

nämlich »<strong>im</strong> Gegensatz mit den übrigen germ<strong>an</strong>ischen Stämmen« (Rede 4. 327), beson<strong>der</strong>s<br />

mit dem fr<strong>an</strong>zösischen gemacht. Fichte gibt hier nicht <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Nation den Vorr<strong>an</strong>g<br />

vor <strong>an</strong><strong>der</strong>en europäischen Nationen.<br />

Fichte fasst »den Ernst«, »<strong>die</strong> Gründlichkeit« und »das freie Denken« (Rede 6. 351 ff.,


Rede 13. 470) als »<strong>deutsche</strong> Grundzüge« auf. Nach seiner Ansicht stammt <strong>die</strong> <strong>deutsche</strong><br />

Freiheit sowohl aus <strong>der</strong> sozialen Freiheit <strong>der</strong> Polis <strong>im</strong> alten Griechl<strong>an</strong>d (Rede 7. 366) als<br />

aus <strong>der</strong> inneren Freiheit des Christentums <strong>im</strong> Altasien (Rede 6. 353) uns er verbindet beide<br />

Freiheitsformen. Die christliche Freiheit wurde durch den römischen Katholizismus<br />

verfälscht, aber durch <strong>die</strong> Reformation Luthers wie<strong>der</strong>hergestellt (Rede 6. 354).<br />

»Die germ<strong>an</strong>ische Nationen« »da waren, <strong>die</strong> <strong>im</strong> alten Europa errichtete gesellschaftliche<br />

Ordnung mit <strong>der</strong> <strong>im</strong> alten Asien aufbewahrten wahren Religion zu vereinigen« (Rede 6.<br />

311 f.). »Wahre Religion, in <strong>der</strong> Form des Christenthums, war <strong>der</strong> Ke<strong>im</strong> <strong>der</strong> neuen Welt,<br />

und ihre Gesammtaufgabe <strong>die</strong>, <strong>die</strong>se Religion in <strong>die</strong> vorh<strong>an</strong>dene Bildung des Alterthums zu<br />

verflössen, und <strong>die</strong> letzte dadurch zu vergeistigen und zu heiligen. Der erste Schritt auf<br />

<strong>die</strong>sem Wege war, das <strong>die</strong> Freiheit raubende äussere Ansehen <strong>der</strong> Form <strong>die</strong>ser Religion<br />

von ihr abzuscheiden, und auch in sie das freie Denken des Alterthums<br />

einzuführen.« (Rede 6. 354)<br />

Die wahre <strong>deutsche</strong> Philosophie ist <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> »<strong>an</strong> Freiheit, <strong>an</strong> unendliche<br />

Verbesserlichkeit, <strong>an</strong> ewiges Fortschreiten unsres Geschlechts glaube« (Rede 7. 374). Die<br />

Philosophie <strong>Fichtes</strong> drückt gerade <strong>die</strong>sen St<strong>an</strong>dpunkt aus.<br />

Obwohl Fichte <strong>die</strong>se Nationaleigentümlichkeiten <strong>der</strong> Deutschen betont, ist er nicht ein<br />

geschlossener o<strong>der</strong> ausschliesssen<strong>der</strong> Nationalis. Er versucht, <strong>die</strong> Nationalität mit <strong>der</strong><br />

Internationalität auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> gegenseitigen Anerkennung <strong>der</strong> Verschiedenheit je<strong>der</strong><br />

Nation zu verbinden. Er versteht es als Hauptausgabe, dass <strong>der</strong> Mensch »zunächst seine<br />

Nation, und vermittelst ihrer das g<strong>an</strong>ze Menschengeschlecht, innigst mit ihm selber<br />

verknüpft« (Rede 8. 382), dass Völker »ihre Eigentümlichkeit beibehalten und […] auch<br />

den <strong>an</strong><strong>der</strong>n Völkern <strong>die</strong> ihrigen zugestehen« (Rede. 14. 471), dass jedes Volk sich zu<br />

»nicht engherzigem, und ausschliessendem, son<strong>der</strong>n allgemeinem und weltbrürgerlichem<br />

Geiste« erhebt (Rede 7. 366).<br />

Diese Ansicht <strong>Fichtes</strong> unterscheidet sich von <strong>der</strong> Weltbürgertumslehre K<strong>an</strong>ts, welche <strong>die</strong><br />

Pluralität <strong>der</strong> Kulturen aller Nationen nicht so hoch schätzt. In allen Phasen seines<br />

Ged<strong>an</strong>keng<strong>an</strong>gs bewahrt Fichte das Weltbürgertum, aber in den Reden akzentuiert <strong>die</strong><br />

Verbindung zwischen Internationalität und Nationalität.


In den Reden berührt Fichte nicht direkt den Inhalt <strong>der</strong> internationalen politischen<br />

Org<strong>an</strong>isationen. Aber m<strong>an</strong> könnte vermuten, dass in <strong>der</strong> Analogie zur inländischen<br />

Staatsverfassung des Deutschl<strong>an</strong>ds Fichte hinsichtlich einer internationalen Org<strong>an</strong>isation<br />

<strong>die</strong> »Völkerbunde«, »Völkerrepublik« vor einem »Weltstaats« vorzieht.<br />

Dieses Konzept <strong>Fichtes</strong> ist auch heute akutuell, um sich bei <strong>der</strong> internationalen<br />

Assoziierung vor <strong>der</strong> Hegemonie-ergreifung, <strong>der</strong> St<strong>an</strong>dardisierung einer best<strong>im</strong>mten Nation<br />

und vor <strong>der</strong> Nivellierung verschiedener Kulturen zu hüten. Die heutige Europäische Union<br />

könnte <strong>die</strong>sem Konzept <strong>Fichtes</strong> vieles lernen.

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