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Vom Elend der Transzendentalphilosophie am Beispiel Schellings ...

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<strong>Vom</strong> <strong>Elend</strong> <strong>der</strong> <strong>Transzendentalphilosophie</strong> <strong>am</strong> <strong>Beispiel</strong> <strong>Schellings</strong><br />

Albert Mues A München<br />

Weltverbesserer <strong>am</strong> ptolemäischen System<br />

Stellen Sie sich bitte eine riesige Müllhalde vor und betrachten Sie sie, ihre Unordnung, ihre<br />

ekligen, abstoßenden Massen, vernehmen Sie den üblen, sich verbreitenden Geruch, malen Sie<br />

sich aus, Sie müssten diesen Müllberg besteigen ... . Dieser Müll soll nun nicht <strong>Schellings</strong><br />

Naturphilosophie repräsentieren. Man wird aber auch nicht auf den Gedanken kommen, diesen<br />

Berg „Natur” zu nennen.<br />

Nun bitte ich Sie, sich umzudrehen. Sie sollen vor sich sehen saftige Wiesen, <strong>am</strong> Horizont einen<br />

grünen Waldsaum, darüber stehe ein Himmel weiß-blau, Bussarde kreisen in ihm ... . Sie werden<br />

ausrufen „Natur!”. Und Sie werden in Worten schwelgen, die ich nicht wähle, in denen Sie<br />

jedoch schwärmen, und die ich Ihnen hier noch einmal vorstelle:<br />

„Da erhob sich mein Denken vom Boden <strong>der</strong> Erde zu allen Wesen <strong>der</strong> Natur, zu dem allgemeinen Zus<strong>am</strong>menhang<br />

<strong>der</strong> Dinge, zu dem unbegreiflichen Wesen, in dem alles ist. Dann verlor sich mein Geist in dieser Unendlichkeit, ich<br />

dachte nicht, ich vernünftelte nicht, ich philosophierte nicht, aber ich fühlte mich mit einer Art von Wollust<br />

nie<strong>der</strong>gedrückt durch die Wucht des Universums. [...] Wenn ich alle Geheimnisse <strong>der</strong> Natur entschleiert hätte, wäre<br />

ich bestimmt nicht so glücklich gewesen, wie ich es in jener betäubenden Ekstase war, <strong>der</strong> sich mein Geist ohne<br />

Rückhalt hingab und in <strong>der</strong> ich von Erregung überwältigt immer wie<strong>der</strong> ausrief: großes Wesen, großes Wesen - ohne<br />

mehr sagen, mehr denken zu können.”<br />

Dieser Text ist rund 250 Jahre alt 1 - aber könnte er nicht von Ihnen sein?<br />

Unser heutiger Begriff von Natur ist philosophisch ziemlich untauglich, da er nicht exakt ist. In<br />

unserem <strong>Beispiel</strong> erkennt man sogleich, dass er auf den Müllberg nicht angewandt werden kann.<br />

Wohl aber auf jene grüne Aussicht. Mit „Natur” ist schon eine Ordnung gemeint, aber es wird<br />

nicht gesagt, worin diese Ordnung besteht und woher sie denn st<strong>am</strong>mt. Schelling nennt „den<br />

Inbegriff alles blos Objectiven in unserem Wissen Natur” 2 , meint d<strong>am</strong>it aber ganz sicher keine<br />

Müllhalde und unterstellt also hiermit schon jene Ordnung, die doch erst hergestellt werden<br />

muss. Nach „seinem Entwurf eines Systems <strong>der</strong> Naturphilosophie” kann erwartet werden, „daß<br />

sich [...] in <strong>der</strong> als selbstständig und reell gedachten Natur [...] <strong>der</strong> Ursprung solcher regel- und<br />

zweckmäßigen Producte [also das Regel- und Zweckmäßige] als nothwendig muß nachweisen<br />

lassen, daß also das Ideelle auch hinwie<strong>der</strong>um aus dem Reellen entspringen und auch aus ihm erklärt werden<br />

muß.” 3 Ideelle und reelle Kräfte för<strong>der</strong>n sich gegenseitig, gleichs<strong>am</strong> ganz natürlich. Ist dies<br />

1 Rousseau à Chrétien-Guillaume de L<strong>am</strong>oignon de Malesherbes A „A Montmoreney Le 26 jan r 1762 A<br />

[...] Bientôt de La Surface de la terre j’elevois mes idées a tous les etres de La nature, au Systeme universel des<br />

choses, a L’etre incomprehensible qui embrasse tout. Alors, l’esprit perdu dans cette immensité, je ne pensois pas, je<br />

ne raisonnois pas, je ne philosophois pas, je me Sentois avec une sorte de volupté accablé du poids de cet univers, je<br />

me livrois avec ravissement a la confusion de ces grandes idées, j’aimois à me perdre en imagination dans l’espace;<br />

mon coeur resserré dans Les bornes des êtres s’y trouvoit trop à l’etroit, j’etouffois dans L’univers, j’aurois voulu<br />

m’enlancer dans L’infini. Je crois que, Si j’eusse devoilé tous les mysteres de La nature, je me Serois Senti dans une<br />

Situation moins delicieuse que cette etourdissante extase a laquelle mon esprit Se livroit sans retenue et qui dans<br />

L’agitation de mes transports me faisoit écrier quelquefois ô grand Etre! ô grand Etre! sans pouvoir dire ni penser<br />

rien de plus. [...]” (Correspondance complète de Jean Jacques Rousseau, Vol. 10, Genève 1969, lettre no. 1650, S. 55)<br />

III, S. 339.<br />

2 System des transcendentalen Idealismus von Friedr. Wilh. Joseph Schelling. Tübingen 1800, S. 1. - SSW<br />

3 Einleitung zu seinem Entwurf eines Systems <strong>der</strong> Naturphilosophie O<strong>der</strong>: Ueber den Begriff <strong>der</strong><br />

speculativen Physik und die innere Organisation eines Systems dieser Wissenschaft. Von F. W. J. Schelling. Jena und<br />

Leipzig 1799, S. 2 - SSW III, S. 272.


inzwischen aber nicht nur in <strong>Schellings</strong>, son<strong>der</strong>n auch nach unserem heutigen, romantisch<br />

verbrämten Verständnis Natur so?<br />

Durch <strong>Schellings</strong> Philosophie hat sich nach Kant und Fichte die <strong>Transzendentalphilosophie</strong><br />

<strong>der</strong>art geän<strong>der</strong>t, dass es fraglich ist, ob sie noch „transzendental” genannt werden darf. Ich will<br />

ob dieser Unsicherheit das Verfahren einer jeden Tagung, auf <strong>der</strong> stets Vorträge gehalten und<br />

hinterher durch Fragen aus dem Plenum diskutiert werden, umkehren. Dieses Mal soll gelten:<br />

Ich stelle Ihnen Fragen und hoffe auf Antworten.<br />

Was treibt uns denn zur Emphase „Natur!”? Kant bestimmt kurz und bündig: „Natur ist das<br />

Daseyn <strong>der</strong> Dinge, so fern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist.” 4 Dies sind nach Kant die<br />

Gesetze <strong>der</strong> Kausalität. Doch können diese Gesetze allein wirklich so beflügelnd wirken?<br />

Natur wird über die Ökonomie, über die spazierende Erholung und über ihre Schönheit hinaus<br />

heute zu einem undefinierten und auch undefinierbaren Wert. Ist das berechtigt?<br />

Reinhard Lauth pflegte in Vorlesungen gern auf dies hinzuweisen: In den Texten <strong>der</strong> nach 1770<br />

geborenen Schriftsteller lässt sich das Wort „Natur” durch „Gott” ersetzen, und <strong>der</strong> Text verliert<br />

nicht an gemeintem Sinn.<br />

Schelling ist es, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Natur zu dieser Aufwertung verholfen hat. Ich frage Sie: Hat nicht er <strong>der</strong><br />

Natur metaphysische Größe gegeben? „Die Natur muß ursprünglich sich selbst Object werden,<br />

diese Verwandlung des reinen Subjects in ein Selbst-Object ist ohne ursprüngliche Entzweyung in <strong>der</strong><br />

Natur selbst undenkbar.” 5 Demzufolge muss es nach ihm zwei Grundwissenschaften geben: die<br />

Naturphilosophie und die <strong>Transzendentalphilosophie</strong>. Es sind zwei entgegengesetzte<br />

Wissenschaften, da die in jedem Wissen präsente Einheit von Subjekt und Objekt es nur erlaubt,<br />

nach zwei Richtungen zu abstrahieren, entwe<strong>der</strong> vom Subjekt zu abstrahieren, und dann wird das<br />

Objekt zum Erklärungsgrund, o<strong>der</strong> vom Objekt zu abstrahieren, dann wird das Subjekt zum<br />

Erklärungsgrund. Konsequent sind dies dann zwei Einzelwissenschaften. Was sie an Ergebnissen<br />

bieten, das sind die Fakten <strong>der</strong> Natur in den Naturwissenschaften und die Fakten des Subjekts in<br />

<strong>der</strong> dann von ihm so genannten <strong>Transzendentalphilosophie</strong>. Aus diesen jenen beiden<br />

„Wissenschaften” obliegenden Fakten lassen sich aber keine Prinzipien herleiten. Fakten<br />

generieren keine Prinzipien und d<strong>am</strong>it keine Philosophie im Sinne von Kant und Fichte.<br />

Das sehen Sie beispielsweise gut an den Beteuerungen <strong>der</strong> Physiker. Würden Sie mir das<br />

Folgende bestätigen? Ein heutiger Physiker gibt unumwunden zu, die Welt könne morgen an<strong>der</strong>s<br />

sein, es könne an<strong>der</strong>e Universen geben, <strong>der</strong> Stein könne morgen nach oben fallen. Denn aus<br />

unseren aufgefundenen Gegebenheiten lasse sich nichts über die künftige Gültigkeit <strong>der</strong><br />

entdeckten Naturgesetze aussagen. Und das sagen sie mit Recht, denn aus aufgefundenen<br />

Gegebenheiten eröffnet sich nicht ein Prinzip, und Folgerungen auf die Zukunft sind nicht<br />

möglich. Die entdeckten Naturgesetze zu generellen Prinzipien <strong>der</strong> Physik zu erheben, kann so<br />

nicht gelingen.<br />

Es fehlt also den heutigen Naturwissenschaften an einer sie begründenden Naturphilosophie.<br />

Dies hätte eine heutige <strong>Transzendentalphilosophie</strong> zu leisten. Aber hätte sie überhaupt das<br />

Selbstverständnis, dass sie zu einer solchen Aufgabe sich verantwortlich sehen müsste?<br />

Immerhin hatte Schelling die Aufgabe gesehen, hatte das Problem „Naturphilosophie”<br />

angepackt und eine, wenngleich nur faktische Lösung angeboten. Jedoch heute? Da findet sich<br />

keine <strong>der</strong> <strong>Transzendentalphilosophie</strong> verpflichtete Bereitschaft zur Aufarbeitung <strong>der</strong> Fragen um<br />

die Naturwissenschaften.<br />

Könnte <strong>der</strong> Grund im Folgenden liegen? Die heutige <strong>Transzendentalphilosophie</strong> glaubt, dass<br />

Fichtes „Anstoß”, Fichtes „Hemmung” das ges<strong>am</strong>te Reich des Empirischen, also das aller<br />

Naturwissenschaften meint, eben das des dann offenbar Unableitbaren. So eine Naturkonstante<br />

4 Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, von<br />

Immanuel Kant. Riga 1783, S. 71. - AA IV, S. 294.<br />

5 Einleitung zu seinem Entwurf ... a. Anm. 3 a. Ort, S. 28; S. 288.


wie etwa die <strong>der</strong> Lichtgeschwindigkeit muss doch unableitbar sein, da sie „Natur” ist! Das sagt<br />

man mit transzendentalem Blick in die Weite des Universums. Und deshalb dürften wir<br />

transzendental beruhigt und berechtigt das Gebiet <strong>der</strong> Natur den Naturwissenschaften<br />

überlassen? Auch eine so elementare Konstante wie das plancksche Wirkungsquantum entzöge<br />

sich doch einer Herleitung. Das alles also sei faktische Naturwissenschaft und bleibe von den<br />

Geisteswissenschaften unberührt? Eben wegen jener Unableitbarkeit?<br />

Schreiben wir d<strong>am</strong>it nicht endgültig die Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft<br />

fest? Wäre es dagegen nicht ein gesun<strong>der</strong> Vorschlag, wie<strong>der</strong> mit Naturphilosophie zu beginnen,<br />

um die ja heute nicht min<strong>der</strong>en Fragen um die Natur und um die Naturwissenschaften und ihre<br />

Ergebnisse, und zwar beginnend beim soliden Kant 6 , vielleicht auch mit Fichte, nicht aber mit<br />

Schelling, anzugehen? Allerdings beherrscht Schelling den heutigen Zeitgeist. Alles hat sich<br />

entwickelt, alles, sogar bis hin zu dieser Zeile. Wenn es denn zu einer Aufhebung jener Trennung<br />

zwischen Natur und Geist nach heutiger Ansicht kommen wird, dann, weil die Natur den Geist<br />

erklärt. Man sehe allein die <strong>der</strong>zeitigen Folgerungen aus <strong>der</strong> Evolutionstheorie! Ich frage Sie:<br />

Dass Natur schon ein Erklärtes ist und sich Erklären immer ihm und ihr vorhergehend ereignet,<br />

wird ja wohl zutreffen, aber wird sich diese Folge nicht doch - so hoffen Sie vielleicht - mit<br />

<strong>Schellings</strong> Hilfe o<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> Evolution umkehren lassen? Geist aus <strong>der</strong> Natur! Lassen sich nicht<br />

doch die Fakten so wenden, dass sie - die Fülle macht’s möglich - zur Leitschnur geflochten<br />

werden, mit <strong>der</strong> nun endlich prinzipielle Gesetze aus <strong>der</strong> Natur für die Natur und dann auch für<br />

den Geist gestrickt werden können? <strong>Transzendentalphilosophie</strong> aus gut gedüngter Natur?<br />

Nehmen wir den Begriff „Zufall”. Es gibt bislang keine naturphilosophische Unterscheidung im<br />

Gebrauch dieses Begriffs, etwa angewandt auf die Mikrophysik, angewandt auf die<br />

Thermodyn<strong>am</strong>ik, auf die Chemie, auf die Biologie. Ein beispielsweise physikalisch verstandener<br />

Begriff von Zufall ergäbe, auf die Biologie angewandt, dann eine physikalische Biologie.<br />

Schelling und <strong>der</strong>zeit auch noch die heutigen - jedenfalls die biologischen - Naturwissenschaften<br />

„finden” Gesetze in <strong>der</strong> Natur. Haben wir Humes Werk vergessen, seitdem keine Gesetze, auch<br />

keine des Zwecks, gefunden werden können? Auch nicht mit Hilfe jenes Zufalls? Wie kommt es in<br />

<strong>der</strong> Evolutionstheorie, die ja ohne verdeckte Zielsetzungen (und seien es die des Anpassens)<br />

nicht auskommt, zu jenen gefundenen Zwecken o<strong>der</strong> wenigstens teleologisch anmutenden<br />

Richtungen, ohne die eine biologische Natur gar nicht entworfen werden kann? Kein Wort<br />

bisher dazu aus transzendentalphilosophischem Munde.<br />

Da Schelling vom Faktum zweier Wissenschaften ausgeht, muss er auch die treibenden<br />

Prinzipien dieser Wissenschaften, aus denen ja gefolgert werden soll, ebenfalls von Außen<br />

einführen. Es sind dies seine „Potenzen”, die zudem schon gerichtet sei müssen. Die Existenz<br />

von Potenzen, mittels <strong>der</strong>er die höheren Stufen in <strong>der</strong> Natur erklommen werden, ist selbst ein<br />

Begriff, <strong>der</strong> kategorial gegründet sein müsste. Er bedürfte also zuvor seiner Ableitung, ehe er<br />

angewendet werden könnte. An<strong>der</strong>enfalls müssten sich diese Potenzen selbst generieren, was<br />

doch wohl auf einen Zirkel hinausliefe: Sie wären schon das, mittels dessen <strong>der</strong> Aufstieg <strong>der</strong><br />

Natur verstanden werden soll. Schränken wir aber heute, durch die Wissenschaft <strong>der</strong> Physik<br />

klüger geworden, jene Potenzen ein auf die eine „Potenz”, durch die inzwischen die Energie ihr<br />

Verständnis verdient, nämlich als die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten, 7 so obläge <strong>der</strong> heutigen<br />

<strong>Transzendentalphilosophie</strong> zu klären, warum dieser Begriff - ohne den Plural - legitimiert ist, in<br />

<strong>der</strong> Physik aufzutauchen, und das auch noch, obwohl es in <strong>der</strong> Physik ja eigentlich keine<br />

6 „Wer einmal Kritik gekostet hat, dem ist auf alle Zeiten das dogmatische Gewäsche verleidet, das sich<br />

heute noch an den Akademien und Universitäten weiter schleppt.” Karl Vorlän<strong>der</strong>, in: Einleitung zu Immanuel<br />

Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. Hrsg. von Karl Vorlän<strong>der</strong>. Leipzig 41905; H<strong>am</strong>burg 1969,<br />

S. XXXII.<br />

7 So in jedem Physiklehrbuch zu finden. Vgl. Brockhaus, Die Enzyclopädie, Leipzig 2001, s. v. „Energie”:<br />

„[...] die in einem physikal. System gespeicherte Arbeit (Arbeitsvermögen), d. h. die Fähigkeit eines physikal.<br />

Systems, Arbeit zu verrichten.”


‘Fähigkeit’ geben sollte.<br />

Da eine Legitimation dieser von Schelling entworfenen Aussicht zweier Wege jedenfalls durch<br />

die Vernunft nicht geleistet werden kann - ihr wird ja gleichs<strong>am</strong> eine Zweiheit und ihr werden<br />

Potenzen schlicht und schlecht vorgegeben -, muss auch diese Legitimation einen ihr fremden<br />

Ursprung haben. O<strong>der</strong>? Was denken Sie? Um dieses Progr<strong>am</strong>m durchzuziehen, muss Schelling<br />

transzendent werden, muss zu Höherem greifen als die Vernunft, zur Selbstoffenbarung Gottes,<br />

eben des dann quantitativ einen - absoluten - Subjekts. Daher die Emphase, die Sie mir boten:<br />

Natur, ein Werk göttlicher Offenbarung! Darin eingeschlossen ist schon die Position des<br />

Theismus, die wie<strong>der</strong>um transzendental nicht zu halten ist. Und auch hier hätte die heutige<br />

<strong>Transzendentalphilosophie</strong> noch sehr viel an Vermeidungsarbeit zu leisten, auf dass nicht die<br />

Vernunft, dann in die Gestalt eines missglückt geformten absoluten Ich gegossen, zu einem<br />

Abzählbaren wird. Si non cogitabimus, non erimus.<br />

Es sollte uns darum gehen, nach den Voraussetzungen zu fragen, <strong>der</strong>en Schelling bedarf, ehe er<br />

zu philosophieren beginnen kann. Setzt er nicht die Kategorie Quantität und in ihr die Vielheit<br />

voraus, wenn er von zwei Wissenschaften ausgeht, wenn er zwei Richtungen weiß, in die zwei o<strong>der</strong><br />

mehr Potenzen zielen? Hat er es sich nicht schon in zwei Ausgangsorten wohnlich gemacht,<br />

bevor er seinen philosophischen Marsch beginnt: in Subjekt und Objekt? Wird also nicht das,<br />

was es zuvor zu gewinnen gälte - darauf hinzuweisen ist Kant mit gutem <strong>Beispiel</strong> for<strong>der</strong>nd<br />

vorangegangen -, schlicht und einfach vorausgesetzt? Ist die Vernunft schon gequantelt, bevor<br />

sie ihre Aufgabe beginnt?<br />

Ich will aus dieser Menge unterstellter Vernunftquanten jetzt eines herausziehen: Subjekt. Wenn<br />

eines mit und nach Schelling Karriere gemacht hat, dann dieses: Subjekt. Zwar haben schon<br />

Gottlob Ernst Schulze (Aenesidemus) und Karl Leonhard Reinhold seinerzeit Fichte<br />

Philosophie aus dem Subjekt unterstellt, doch Schelling ist - noch vor Jacobi - <strong>der</strong> Vater dieser<br />

<strong>der</strong> <strong>Transzendentalphilosophie</strong> gegebenen Interpretation: <strong>Transzendentalphilosophie</strong> ist<br />

Subjektphilosophie.<br />

Eindeutig und leichtsinnigerweise war nichts an<strong>der</strong>es als dies <strong>der</strong> Anlass: Fichte spricht im § 1<br />

<strong>der</strong> „Grundlage <strong>der</strong> ges<strong>am</strong>mten Wissenschaftslehre” von 1794 vom „absoluten Subjekt”. Aber<br />

Fichte bestimmt an dieser Stelle das „Ich = Ich”-Urteil als ein solches, in dem die Stelle des<br />

Prädikates in diesem Urteil als die des logischen o<strong>der</strong> gr<strong>am</strong>matikalischen Subjekts gelten soll.<br />

Subjektseite und Prädikatstelle in diesem Urteil sollen inhaltlich dasselbe, sollen identisch sein.<br />

Es soll also gar kein geson<strong>der</strong>tes Prädikat sein, das sich vom Subjekt im Urteil unterscheidet, es<br />

soll überhaupt kein Prädikat sein, es soll demnach das logische o<strong>der</strong> gr<strong>am</strong>matikalische Subjekt absolut<br />

sein. 8 Nichts von subjektiv, nichts von einem - dann subjektiven - absoluten Subjekt! 9 Fichte<br />

8 „Wir betrachten jezt noch einmal den Saz: Ich bin Ich. a) Das Ich ist schlechthin gesezt. Man nehme an,<br />

daß das im obigen Satze in <strong>der</strong> Stelle des formalen Subjekts *) stehende Ich das schlechthin gesezte; das in <strong>der</strong> Stelle des<br />

Prädikats aber das seyende bedeute; so wird durch das schlechthin gültige Urtheil, daß beide völlig Eins seyen,<br />

ausgesagt, o<strong>der</strong> schlechthin gesezt: das Ich sey, weil es sich gesezt habe. b) Das Ich in <strong>der</strong> erstern, und das in <strong>der</strong><br />

zweiten Bedeutung sollen sich schlechthin gleich seyn. Man kann demnach den obigen Satz auch umkehren, und<br />

sagen: das Ich sezt sich selbst, schlechthin weil es ist. Es sezt sich durch sein bloßes Seyn, und ist durch sein bloßes<br />

Geseztseyn [also das Prädikat ist ebenfalls das Subjekt]. Und dies macht es denn völlig klar, in welchem Sinne wir<br />

hier das Wort Ich brauchen, und führt uns auf eine bestimmte Erklärung des Ich, als absoluten Subjekts. Dasjenige,<br />

dessen Seyn (Wesen) bloss darin besteht, dass es sich selbst als seyend [= geltend], setzt, ist das Ich, als absolutes Subjekt [und das<br />

heißt: ohne Prädikat]. So wie es sich sezt, ist es; und so wie es ist, sezt es sich; und das Ich ist demnach für das Ich<br />

schlechthin und nothwendig.” (GA I,2, S. 259,11) Und dazu die Anmerkung: „*) So ist es auch allerdings <strong>der</strong><br />

logischen Form jedes Satzes nach. In dem Satze A = A ist das erste A dasjenige, welches im Ich, entwe<strong>der</strong><br />

schlechthin, wie das Ich selbst, o<strong>der</strong> aus irgend einem Grunde, wie jedes bestimmte Nicht-Ich gesetzt wird. In<br />

diesem Geschäfte verhält sich das Ich als absolutes Subject; und man nennt daher das erste A das [formale, logische<br />

o<strong>der</strong> gr<strong>am</strong>matikalische] Subject. [...]” (Ebd., S. 259,25)<br />

9 Auch jene Stelle in <strong>der</strong> „Grundlage” - „[...] indem er [Maimon] die Richtigkeit <strong>der</strong> allgemeinen Logik<br />

anerkennt. - Aber es läßt sich etwas aufzeigen, wovon jede Kategorie selbst abgeleitet ist: das Ich, als absolutes


zeigt sogar an fünf Stellen in eben dieser Wissenschaftslehre auf, ab wann systematisch<br />

überhaupt von „Subjekt” geredet werden darf, und wenn, dann immer nur als Wechselglied zu<br />

„Objekt”. 10 Kein Wort von einem absoluten Subjekt als Ego-Subjekt! 11 Schelling machte daraus<br />

die Subjektphilosophie, und wir folgen ihm. „Subjekt”, das ist die Musik in den Ohren heutiger,<br />

sich so nennen<strong>der</strong> „Transzendentalphilosophen”. Im absoluten Ich muss sie tönen, und mit<br />

diesem ihrem absoluten Ich meinen sie schon etwas.<br />

Diese Missdeutung lebt schon gut 200 Jahre im philosophischen Blätterwald, und es kommen<br />

insbeson<strong>der</strong>e heute neue Schonungen hinzu. Quousque tandem abutere ... Man sehe Jürgen<br />

Stolzenberg, in: Historisches Wörterbuch <strong>der</strong> Philosophie. Bd. 10, Basel 1998, s. v. „Subjekt II”,<br />

Sp. 384: „In kritischer Überbietung Reinholds hat J. G. Fichte den Begriff des S.[ubjekts] als<br />

Subjekt.” (GA I,2, S. 262,3) - meint nicht ein Bestimmtes, ein gegenüber dem Objektiven Subjektives, son<strong>der</strong>n den<br />

logisch und transzendentallogisch bestimmungslosen Ort, aus dem auch erst die Kategorien entspringen. Dies zeigt<br />

deutlich die Stelle aus § 3, in <strong>der</strong> ausdrücklich gesagt wird, dass diesem Ort nichts gleich und nichts entgegengesetzt<br />

ist, dem daher auch nicht <strong>der</strong> Charakter des Subjektiven zugemessen werden kann: „[...] das Ich, als absolutes<br />

unbeschränkbares Subjekt, dem nichts gleich ist, und nichts entgegengesetzt ist. - Darum müssen alle Urtheile, <strong>der</strong>en<br />

logisches Subjekt das einschränkbare o<strong>der</strong> bestimmbare Ich, o<strong>der</strong> etwas das Ich bestimmendes ist, durch etwas<br />

höheres beschränkt o<strong>der</strong> bestimmt seyn: aber alle Urtheile, <strong>der</strong>en logisches Subjekt das absolut-unbestimmbare Ich<br />

ist, können durch nichts höheres bestimmt werden, weil das absolute Ich durch nichts höheres bestimmt wird [...].”<br />

(Ebd., S. 279,19) Die da sagen, Fichtes Philosophie stelle an den Anfang seiner Philosopie das absolute Subjekt,<br />

meinen mit „Subjekt” schon etwas Bestimmtes. Und das ist <strong>der</strong> seit gut 200 Jahren waltende Fehler!<br />

10 „Die Mittelbarkeit des Setzens, (wie sich inskünftige zeigen wird, das Gesez des Bewustseyns: kein Subjekt,<br />

kein Objekt, kein Objekt, kein Subjekt) [...].” (GA I,2, S. 332,33) „Also Subjekt ist das, was nicht Objekt ist, und weiter<br />

hat es bis jezt gar kein Prädikat; und Objekt ist das, was nicht Subjekt ist, und weiter hat es bis jezt auch kein<br />

Prädicat.” (Ebd., S. 337,29) „Und nun ist das Ich setzend ein Objekt, und dann nicht das Subjekt; o<strong>der</strong> das Subjekt,<br />

und dann nicht ein Objekt, - insofern es sich sezt, als setzend nach dieser Regel.” (Ebd., S. 347,8) „Ein Ich, das sich<br />

sezt, als sich selbst setzend, o<strong>der</strong> ein Subjekt ist nicht möglich ohne ein auf die beschriebene Art hervorgebrachtes<br />

Objekt (die Bestimmung des Ich, seine Reflexion über sich selbst, als ein bestimmtes ist nur unter <strong>der</strong> Bedingung<br />

möglich, daß es sich selbst durch ein entgegengeseztes begrenze).” (Ebd., S. 361,27) „Subjekt und Objekt werden so<br />

durcheinan<strong>der</strong> bestimmt, daß eins durch das andre schlechthin ausgeschlossen wird. Bestimmt das Ich nur sich<br />

selbst, so bestimmt es nichts außer sich; und bestimmt es etwas außer sich, so bestimmt es nicht blos sich selbst.<br />

Das Ich aber ist jezt als dasjenige bestimmt, welches nach Aufhebung alles Objekts durch das absolute<br />

Abstraktionsvermögen, übrig bleibt; und das Nicht-Ich als dasjenige, von welchem durch jenes<br />

Abstraktionsvermögen abstrahirt werden kann: und wir haben demnach jezt einen festen Unterscheidungspunkt<br />

zwischen dem Objekte, und Subjekte.” (Ebd., S. 382,32)<br />

11 „Man hört wohl die Frage aufwerfen; was war ich wohl, ehe ich zum Selbstbewußtseyn k<strong>am</strong>? Die<br />

natürliche Antwort darauf ist: ich war gar nicht; denn ich war nicht Ich. Das Ich ist nur insofern; inwiefern es sich<br />

seiner bewußt ist. - Die Möglichkeit jener Frage gründet sich auf eine Verwirrung zwischen dem Ich als Subjekt; und<br />

dem Ich als Objekt <strong>der</strong> Reflexion des absoluten Subjekts, und ist an sich völlig unstatthaft. Das Ich stellt sich selbst<br />

vor, nimmt insofern sich selbst in die Form <strong>der</strong> Vorstellung auf und ist erst nun Etwas, ein Objekt; das Bewußtseyn<br />

bekommt in dieser Form ein Substrat, welches ist, auch ohne wirkliches Bewußtseyn, und noch dazu körperlich<br />

gedacht wird. Man denkt sich einen solchen Zustand, und fragt: Was war d<strong>am</strong>als das Ich; d. h. was ist das Substrat<br />

des Bewußtseyns. Aber auch dann denkt man unvermerkt das absolute Subjekt, als jenes Substrat anschauend, mit<br />

hinzu; man denkt also unvermerkt gerade dasjenige hinzu, wovon man abstrahirt zu haben vorgab; und wi<strong>der</strong>spricht<br />

sich selbst.” (Ebd., S. 260,3) Seit nunmehr gut 200 Jahren denkt man also gerade dasjenige hinzu, wovon man<br />

abstrahiert zu haben vorgab, und wi<strong>der</strong>spricht sich selbst. - Und hier noch ein Beleg aus Fichtes „Ueber den Begriff<br />

<strong>der</strong> Wissenschaftslehre.” Weimar 1794. „A=A ist ohne Zweifel ein logisch richtiger Satz, und in so fern er das ist, ist<br />

seine Bedeutung die: wenn A gesetzt ist, so ist A gesetzt. [...] Setzet: A im obigen Satze bedeute ich, und habe also<br />

seinen bestimmten Gehalt, so hieße <strong>der</strong> Satz zuför<strong>der</strong>st: Ich bin Ich: o<strong>der</strong>, wenn ich gesetzt bin, so bin ich gesetzt.<br />

Aber, weil das Subjekt des Satzes das absolute Subjekt, das Subjekt schlechthin ist, so wird in diesem einzigen Falle,<br />

mit <strong>der</strong> Form des Satzes zugleich sein innerer Gehalt gesetzt: Ich bin gesetzt, weil ich mich gesetzt habe. Ich bin, weil<br />

ich bin. - Die Logik also sagt: Wenn A ist, ist A; die Wissenschaftslehre: Weil A (dieses bestimmte A= Ich) ist, ist A.”<br />

(Ebd., S. 139,21) Der Ort des logischen Subjekts dieses Satzes wird hier nun nicht besetzt durch ein des Prädikates<br />

fähiges Subjekt, son<strong>der</strong>n durch dasjenige, das eines jeden Prädikates entbehrt, das absolute Subjekt. Sein innerer<br />

Gehalt ist also durch die Form des Satzes, nicht aber durch ein Prädikat gewährleistet, das dem Subjekt des Satzes<br />

zugewiesen würde. Das macht das Subjekt absolut, eben nur durch dieses nicht prädikative „weil”, also wie<strong>der</strong>um<br />

nicht durch etwas, was ein Subjekt als Subjekt ausmachen könnte.


erster zum Grundprinzip <strong>der</strong> Philosophie erhoben. In dieser Funktion erscheint er in Fichtes<br />

früher Wissenschaftslehre unter den Titeln 'Ich' bzw. 'absolutes S.[ubjekt]'”. 12 ... patientia nostra.<br />

Drum setze ich hier wie<strong>der</strong> mit meinen Fragen an Sie fort: Versteht sich nicht die heutige<br />

<strong>Transzendentalphilosophie</strong> stets, in welchem weiten o<strong>der</strong> engen Rahmen auch immer, als<br />

Subjektphilosophie? Bis Descartes Objekt-Philosophie, seit Descartes Subjekt-Philosophie! Ist<br />

das nicht die Devise? Man schreibt „Bewusstseinstheorien”, 13 man sucht „Formen des<br />

Bewusstseins”, erforscht „formale Strukturen <strong>der</strong> Subjektivität” und meint, man wäre<br />

transzendental, schließlich beschäftige man sich ja mit dem Bewusstsein. Bei <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong><br />

Substanzialität in Fichtes „Grundlage” „handelt es sich um eine rein subjektimmanente<br />

Selbstbeziehung des endlich-limitierten Ich zu sich.” Es sei keine <strong>der</strong> Grundbestimmungen, die -<br />

wie bei Kant - den Gegenstand ermöglicht, son<strong>der</strong>n eine „subjektimmanente o<strong>der</strong> egologische<br />

Grundbestimmung”. Selbst, wenn wir „einen Gegenstand als eine Substanz bestimmen, dann ist<br />

dies bereits eine ankünftige, objektimmanente kategoriale Bestimmung, die auf eine<br />

subjektimmanente kategoriale Grundbestimmung zurückverweist, nämlich auf das Ich [...].” 14 Ja,<br />

„‘absolutes Ich’ und ‘absolutes Subjekt’ sind Synonyma.” Und daher gilt: „Es ist also nicht nur<br />

erlaubt, son<strong>der</strong>n zwingend erfor<strong>der</strong>lich, das Ich [des § 1 <strong>der</strong> Grundlage] als Substanz zu denken<br />

[...].” 15 So heißt es, „die Kennzeichnung von Fichtes System als ‘subjektiver Spinozismus’”<br />

betreibe er selbst. 16 Selbstverständlich könnte sich Fichte dann dank seiner angeblich „auf <strong>der</strong><br />

Subjektivität basierenden Wissenschaftslehre”, so wird an<strong>der</strong>norts versichert, 17 schon zu Beginn<br />

12 Und dazu die Anm.: „J. G. Fichte: Grundlage <strong>der</strong> ges. WL (1794/95). Akad.-A. I/2 (1965) 259.” Es ist<br />

genau die Stelle, die ich hier in Anm. 8 zitiere und die, wie oben nachgewiesen, belegt, dass mit „absolutes Subjekt”<br />

das prädikatlose logische Subjekt und daher natürlich auch nicht ein Begriff gemeint ist.<br />

13 Zum <strong>Beispiel</strong>: Karen Gloy: Bewußtseinstheorien A Zur Problematik und Problemgeschichte des<br />

Bewußtseins und Selbstbewußtseins. Freiburg, München 1998. Neuerdings wie<strong>der</strong> Christoph Asmuth: Von <strong>der</strong><br />

Urteilstheorie zur Bewusstseinstheorie. Die Entgrenzung <strong>der</strong> <strong>Transzendentalphilosophie</strong>. In: Fichte-Studien, Bd. 33<br />

(2009), S. 232: „<strong>Transzendentalphilosophie</strong> als Bewusstseinstheorie”.<br />

14 So Rainer Schäfer: Johann Gottlieb Fichtes ‘Grundlage <strong>der</strong> ges<strong>am</strong>ten Wissenschaftslehre’ von 1794.<br />

Darmstadt 2006. Alle drei Zitate aus S. 117. - Gedacht ist die Arbeit als „Werkinterpretion” (S. 2) und hilft<br />

wie<strong>der</strong>um kräftig dazu, diese schwierige Wissenschaftslehre fehl zu deuten.<br />

15 Wolfgang Class, Alois Soller: Kommentar zu Fichtes Grundlage <strong>der</strong> ges<strong>am</strong>ten Wissenschaftslehre.<br />

Amsterd<strong>am</strong> New York 2004 (= Fichte-Studien-Supplementa Bd. 19), S. 83. - Man nennt sich ‘Kommentar’! Dazu<br />

gehörte, dass man weiß, was man kommentiert: „Für das Ich, d. h. für alle Vernunft [...].” (Fichte, Grundriß des<br />

Eigenthümlichen; GA I,3 S. 168,17) - „Bitter weinet um den, <strong>der</strong> fortzieht; denn nimmer kehrt er zurück und sieht<br />

nie wie<strong>der</strong> sein Heimatland!” (Jer 22,10)<br />

16 Ebd., S. 199. - Und an jenem hier in Anm. 8 zitierten Wort Fichtes - „des formalen Subjekts” (GA I,2, S.<br />

259,13) - vermissen die Autoren ein dem Gegensatz verpflichtetes ‘materiales Subjekt’ und schließen schlankweg<br />

ebd.: „wofür nur das Ich qua Subjekt in Frage kommt”. Das hätten sie gern, und da sie’s hier nicht finden, holen sie<br />

es sich ein paar Zeilen später. Allerdings vermisse ich hier, dass sie sich rechtfertigen, warum sie es denn vermissen.<br />

Dass das ‘formale Subjekt’ das <strong>der</strong> Urteilsform, <strong>der</strong> Gr<strong>am</strong>matik sein muss, wird leichtfertig übersehen, obwohl<br />

Fichte just zu diesem Wort eine Anmerkung setzt, in <strong>der</strong> es „<strong>der</strong> logischen Form jedes Satzes nach” auftreten muss.<br />

Aber man will nun einmal jede Gelegenheit nutzen, den ‘subjektiven Spinozismus’ zu etablieren, um sich <strong>der</strong> Mühe<br />

des transzendentalen Denkens zu überheben. Furchtbar wäre ihnen eine solche Last.<br />

17 Rebecca Paimann: Die Logik und das Absolute. Fichtes Wissenschaftslehre zwischen Wort, Begriff und<br />

Unbegreiflichkeit. Würzburg 2006. S. 37. Vgl. diess.: Formale Strukturen <strong>der</strong> Subjektivität. Egologische Grundlagen<br />

des Systems <strong>der</strong> <strong>Transzendentalphilosophie</strong> bei Kant und Husserl. H<strong>am</strong>burg 2002, etwa S. 422: „Daß <strong>der</strong> höchste<br />

Punkt einer <strong>Transzendentalphilosophie</strong> im Ich gesucht werden muß [...]”, und wie<strong>der</strong> versteht man unter „Ich”<br />

etwas mit Vernunft nicht Identisches. So wenig wie es ‘Astronomie bei Cassini und Encke’ geben kann, so wenig gibt<br />

es ‘<strong>Transzendentalphilosophie</strong> bei Kant und Husserl’, weil - entgegen diesem Untertitel -<br />

„<strong>Transzendentalphilosophie</strong> die unabdingbare Voraussetzung aller Wissenschaftlichkeit” ist (S. 43, dort zustimmend<br />

mit Kant KrV A 11; B 24f). Wenn <strong>der</strong> höchste Punkt dieser Philosophie das Ich sein soll, dann kann ihm nicht


jenes § 1 seinen langen Weg ersparen, <strong>der</strong> doch erst <strong>am</strong> Ende des theoretischen Teils jenen<br />

Gewinn zu erreichen verspricht, da erst dort sich endlich Subjekt nicht ohne Objekt und Objekt<br />

nicht ohne Subjekt treffen. Diese hier zitierten Interpretationen allein in unsrem Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />

<strong>Elend</strong>iglich! 18 Man versucht, auf Fichtes Schultern zu steigen, stürzt ab und rühmt da unten in<br />

subjektivem Genuss schwelgend die neue Aussicht, die man da oben erblickt haben will. Es<br />

werden in Brüssel in diesen Tagen in mehreren Sprachen häufiger die Wörter „subjektiv” und<br />

„Subjekt” in den Mund genommen als daselbst im Rest des Jahres. Man sucht Philosophie in<br />

„Grundlegung aus dem Ich” und meint d<strong>am</strong>it etwas an<strong>der</strong>es als Philosophie grundgelegt in <strong>der</strong><br />

Vernunft. 19 Das Subjekt ist die Seele <strong>der</strong> heutigen <strong>Transzendentalphilosophie</strong>. 20 Und darf ich<br />

unterstellen, dass auch Sie nicht wissen, was mit „Ich” und „Subjekt” gemeint sein soll? Soll sich<br />

dieses „Subjekt”, soll sich dieses „Ich” von Vernunft unterscheiden?<br />

Nun, es herrscht ja auch - verständlich - die Meinung, mit „Ich” müsse ein Inhalt verbunden<br />

sein, und sei er auch noch so vage zu bestimmen. Was „Ich”, was „Subjekt” ist, das hat man zu<br />

wissen. Diese heutige <strong>Transzendentalphilosophie</strong> kennt schon einen verborgenen Ursprung, ehe<br />

sie zu philosophieren beginnt. Wird jedoch mit „Ich” ein „Inhalt” verbunden, <strong>der</strong> mit dem <strong>der</strong><br />

Vernunft nicht o<strong>der</strong> auch nur nicht ganz übereinstimmt, haben wir dann die<br />

<strong>Transzendentalphilosophie</strong> nicht schon verraten?<br />

Auch wenn man glaubt, und wäre es auch mit Fichte, dem absoluten Ich die Charaktere „von<br />

sich”, „in sich”, „durch sich” zuschreiben zu dürfen, es wird dann nicht mehr darüber reflektiert,<br />

dass es Zuschreibungen sind. Sie sind Akzidentien, theoretischer o<strong>der</strong> praktischer Art, und das<br />

absolute Ich ist dann schon in den Brunnen gefallen: Es wird zur Substanz dieser Akzidentien.<br />

Und meinen Sie nicht, das trifft ja auch zu: Das absolute Ich ist die Substanz?<br />

Allerdings lässt sich auch beim späten Fichte dazu kein Beleg herbeiholen: „Wie, wenn <strong>der</strong><br />

Begriff [= Vernunft 21 ], von dem wir reden, es selbst wäre, <strong>der</strong> die Form des Bewußtseins und in<br />

ihm die Form eines Ich, einer denkenden und kräftigen Substanz annähme; müßten wir nicht<br />

erst zusehen, wie er dies machte, diese Verwandlung erlitte, und darum für’s Erste die Formel<br />

buchstäblich nehmen?” 22 Offenbar setzt Fichte zu lesen Blindheit voraus.<br />

Ich kenne sie alle, die ihn so lesen. Die <strong>Transzendentalphilosophie</strong> unserer Tage ist Subjekt-<br />

Philosophie. Habe ich nicht recht? Stimmen Sie mir darin zu, dann haben Sie das <strong>Elend</strong> heutiger<br />

<strong>Transzendentalphilosophie</strong> vor Augen. Ist nicht - das sei meine letzte Frage - diese<br />

Subjektivität, und sei dies auch „eine vollständige Theorie <strong>der</strong> Subjektivität [...], aufgrund <strong>der</strong>er die Begründung <strong>der</strong><br />

Philosophie selbst und <strong>der</strong> Konstitution <strong>der</strong> Welt überhaupt erst möglich ist” (S. 422), unterstellt werden, denn<br />

Subjektivität o<strong>der</strong> gar „Selbstreflexion <strong>der</strong> transzendentalen Subjektivität” kann nicht, auch nicht als gefunden, für<br />

die <strong>Transzendentalphilosophie</strong> vorausgesetzt werden. Auch eine Kategorie ist keine ‘formale Struktur <strong>der</strong><br />

Subjektivität’, son<strong>der</strong>n - unter dem Primat des Praktischen - ein Akt des Willens und daher auch kein ‘Ich’ im<br />

zitierten Sinn.<br />

18 „Und das glänzende <strong>Elend</strong>, die Langeweile unter dem garstigen Volke, das sich hier neben einan<strong>der</strong><br />

sieht! Die Rangsucht unter ihnen, wie sie nur wachen und aufpassen, einan<strong>der</strong> ein Schrittchen abzugewinnen! die<br />

elendesten, erbärmlichsten Leidenschaften, ganz ohne Röckchen.” Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen<br />

Werthers. Leipzig 1774. Buch 2, 24. December.<br />

19 Dieter Henrich: Grundlegung aus dem Ich A Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus A<br />

Tübingen - Jena (1790-1794). Frankfurt <strong>am</strong> Main 2004. - Man fände sich spätestens dann in den Armen des<br />

Notdienstes, suchte man „Mathematik in Grundlegung aus dem Ich”.<br />

20 ... doch man übersieht: „Sauerfaß: Sali, du bist die Seele meines Geschäftes. Sali: Ich bin auch überall - -<br />

Sauerfaß: Die Seele muß ein unsichtbarer Gegenstand sein, drum g'hört sie beim Wirtsgeschäft in die Kuchel.”<br />

Johann Nestroy: Umsonst A Posse mit Gesang in drei Akten. Akt. II,4.<br />

21 „Man nennt den absoluten, schlechthin durch sich bestimmten Begriff: V e r n u n f t.” FSW XI, S. 37;<br />

vgl. GA II,13, S. 333,17.<br />

22 Ebd. 11f.; vgl. 313,18.


<strong>Transzendentalphilosophie</strong> jene Müllhalde, vor die ich Sie anfangs führte? Wenn Sie mir das<br />

überzeugend wi<strong>der</strong>legen können, dann stellen Sie mich oben drauf!

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