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Erinnerung an Völkermord als politische Waffe in der Gegenwart ...

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Fr<strong>an</strong>kfurter<br />

Montags-<br />

Vorlesungen<br />

Politische Streitfragen<br />

<strong>in</strong> zeitgeschichtlicher Perspektive<br />

© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe <strong>der</strong> Quelle<br />

Neue Folge 04<br />

<strong>Er<strong>in</strong>nerung</strong> <strong>an</strong> <strong>Völkermord</strong> <strong>als</strong> <strong>politische</strong><br />

<strong>Waffe</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Gegenwart</strong>. Das Beispiel des<br />

osm<strong>an</strong>ischen Genozids <strong>an</strong> den Armeniern<br />

Egbert Jahn<br />

4. Juni 2012<br />

Adresse des Autors: Prof. Dr. Egbert Jahn<br />

Joh<strong>an</strong>n Wolfg<strong>an</strong>g Goethe-Universität Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong><br />

Fachbereich 03 Gesellschaftswissenschaften<br />

Institut für Politikwissenschaft<br />

Robert-Mayer-Str. 5<br />

D-60054 Fr<strong>an</strong>kfurt<br />

Tel.: +49-69-798 22667 (Sekretariat)<br />

Fax: +49-69-798 28460<br />

E-mail-Adresse: e.jahn@soz.uni-fr<strong>an</strong>kfurt.de<br />

http://www.gesellschaftswissenschaften.<br />

uni-fr<strong>an</strong>kfurt.de/<strong>in</strong>stitut_2/ejahn/


Zusammenfassung<br />

© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe <strong>der</strong> Quelle<br />

2<br />

Am 27. J<strong>an</strong>uar 2006 gedachten die Vere<strong>in</strong>ten Nationen erstm<strong>als</strong> e<strong>in</strong>es <strong>Völkermord</strong>es, nämlich<br />

des deutschen nation<strong>als</strong>ozialistischen Mordes <strong>an</strong> den europäischen Juden. Das fr<strong>an</strong>zösische<br />

Parlament wollte 2011/12 sogar die Leugnung des <strong>Völkermord</strong>es <strong>an</strong> den Juden wie auch <strong>an</strong><br />

den Armeniern strafbar machen, scheiterte jedoch <strong>an</strong> e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>spruch des Verfassungsrates<br />

am 28. Februar 2012. Die <strong>Er<strong>in</strong>nerung</strong> <strong>an</strong> e<strong>in</strong>en <strong>Völkermord</strong> soll z.B. die Bestrafung <strong>der</strong> Täter<br />

und Mittäter des Mordes, die politisch-moralische Verurteilung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Führungsschicht,<br />

<strong>der</strong> Partei, Teile <strong>der</strong> Wählerschaft und des Staatsvolkes, die die Völkermör<strong>der</strong><br />

<strong>an</strong> die Macht brachten und ihnen ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>halt geboten, o<strong>der</strong> die Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung zukünftiger<br />

<strong>Völkermord</strong>e haben. Die Anerkennung <strong>der</strong> Tatsache e<strong>in</strong>es <strong>Völkermord</strong>s durch den dafür ver<strong>an</strong>twortlichen<br />

(Nachfolge-)Staat for<strong>der</strong>t erhebliche gesellschaftliche Kosten. Aber auch die<br />

Nicht<strong>an</strong>erkennung k<strong>an</strong>n sehr kostspielig se<strong>in</strong> und die <strong>in</strong>ternationale Ächtung mit erheblichen<br />

Folgen für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung e<strong>in</strong>es Staates zur Folge haben.<br />

Der osm<strong>an</strong>ische ittihadistische <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> den Armeniern wurde l<strong>an</strong>ge Zeit und wird<br />

teilweise auch heute noch geleugnet o<strong>der</strong> verschwiegen, weil die heutige türkische Führungsschicht<br />

und Teile des Volkes sich großenteils noch mit <strong>der</strong> für den <strong>Völkermord</strong> ver<strong>an</strong>twortlichen<br />

„jungtürkischen“ Führungsschicht im Osm<strong>an</strong>ischen Reich identifizieren und weil die<br />

verbündeten Staaten <strong>der</strong> Türkei die Bündnis<strong>in</strong>teressen für gewichtiger halten <strong>als</strong> die Interessen<br />

e<strong>in</strong>es kle<strong>in</strong>en Volkes, das zudem durch den <strong>Völkermord</strong> drastisch dezimiert und aus großen<br />

Teilen se<strong>in</strong>es ehemaligen Siedlungsgebietes vertrieben wurde.<br />

In den letzten drei Jahrzehnten wuchs erheblich die öffentliche Aufmerksamkeit für zahlreiche<br />

<strong>Völkermord</strong>e. In vielen Län<strong>der</strong>n hat die wissenschaftliche und öffentliche Ause<strong>in</strong><strong>an</strong><strong>der</strong>setzung<br />

mit ihnen Auftrieb erhalten. Auf m<strong>an</strong>che Län<strong>der</strong> wird erheblicher <strong>in</strong>nen- und vor allem<br />

außen<strong>politische</strong>r Druck auf Anerkennung <strong>der</strong> Tatsache e<strong>in</strong>es historischen <strong>Völkermord</strong>es<br />

nach dem deutschen Beispiel ausgeübt, so vor allem auf Jap<strong>an</strong>, Fr<strong>an</strong>kreich, die USA, Rußl<strong>an</strong>d<br />

und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Türkei. Im Falle <strong>der</strong> Türkei ist die Nicht<strong>an</strong>erkennung des <strong>Völkermord</strong>es<br />

<strong>an</strong> den Armeniern zu e<strong>in</strong>er <strong>Waffe</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>nertürkischen wissenschaftlich-öffentlichen Aufarbeitung<br />

des ittihadistischen Massenmordes <strong>an</strong> den Armeniern und auch <strong>der</strong> Außenpolitik geworden.<br />

Die Klärung des <strong>Völkermord</strong>begriffs ist e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> unabd<strong>in</strong>gbares Element <strong>der</strong> Liberalisierung<br />

und Demokratisierung <strong>der</strong> Türkei, e<strong>in</strong> Junktim zwischen <strong>der</strong> Anerkennung <strong>der</strong><br />

Tatsache des <strong>Völkermord</strong>es und <strong>der</strong> EU-Mitgliedschaft wäre jedoch <strong>an</strong><strong>der</strong>erseits äußerst<br />

schädlich für die Bemühungen um e<strong>in</strong>e Liberalisierung und Demokratisierung dieses L<strong>an</strong>des.


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3<br />

1 Politische Interessen <strong>an</strong> <strong>der</strong> Nichtthematisierung des Schicks<strong>als</strong> <strong>der</strong> Armenier<br />

unter osm<strong>an</strong>ischer Herrschaft<br />

Am 27. J<strong>an</strong>uar 2006 gedachten die Vere<strong>in</strong>ten Nationen erstm<strong>als</strong> e<strong>in</strong>es <strong>Völkermord</strong>es, nämlich<br />

des deutschen nation<strong>als</strong>ozialistischen Mordes <strong>an</strong> den europäischen Juden. Dies trägt zum e<strong>in</strong>en<br />

dem e<strong>in</strong>zigartigen Charakter dieses <strong>Völkermord</strong>es Rechnung, zum <strong>an</strong><strong>der</strong>en k<strong>an</strong>n es auch<br />

Aufmerksamkeit für das Gedenken <strong>an</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>e <strong>Völkermord</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verg<strong>an</strong>genheit wecken. Die<br />

<strong>Er<strong>in</strong>nerung</strong> <strong>an</strong> e<strong>in</strong>en <strong>Völkermord</strong> dient fast nie ausschließlich dem Gedenken <strong>der</strong> Opfer, son<strong>der</strong>n<br />

verfolgt <strong>in</strong> aller Regel auch zahlreiche <strong>politische</strong> Zwecke, wie das auch die Verdrängung<br />

und Leugnung des <strong>Völkermord</strong>s tut. Ziel <strong>der</strong> <strong>Er<strong>in</strong>nerung</strong> soll z.B. se<strong>in</strong>: die Bestrafung <strong>der</strong><br />

Täter und Mittäter des Mordes, die politisch-moralische Verurteilung <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Großgruppe (Führungsschicht, Partei, Teile <strong>der</strong> Wählerschaft) und des Staatsvolkes, die die<br />

Völkermör<strong>der</strong> <strong>an</strong> die Macht brachten und ihnen ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>halt geboten, die Wie<strong>der</strong>herstellung<br />

o<strong>der</strong> Bildung e<strong>in</strong>es eigenen Staates <strong>der</strong> Überlebenden des <strong>Völkermord</strong>es, die Restitution<br />

von Privateigentum <strong>an</strong> überlebende Erben <strong>der</strong> Opfer, Entschädigungszahlungen <strong>an</strong> die überlebenden<br />

Opfer o<strong>der</strong> <strong>an</strong> die sie repräsentierenden Org<strong>an</strong>isationen und Staaten, E<strong>in</strong>schränkungen<br />

des außen- und militär<strong>politische</strong>n H<strong>an</strong>dlungsspielraums <strong>der</strong> Regierungen <strong>in</strong> den (Nachfolge-)<br />

Staaten, die Ver<strong>an</strong>twortung für e<strong>in</strong>en <strong>Völkermord</strong> tragen, o<strong>der</strong> die Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung zukünftiger<br />

<strong>Völkermord</strong>e. Die Anerkennung <strong>der</strong> Tatsache e<strong>in</strong>es <strong>Völkermord</strong>s durch den ver<strong>an</strong>twortlichen<br />

(Nachfolge-)Staat for<strong>der</strong>t deshalb erhebliche gesellschaftliche Kosten. Aber auch die Nicht<strong>an</strong>erkennung<br />

k<strong>an</strong>n unter Umständen sehr kostspielig se<strong>in</strong> und die Ächtung und Isolation des<br />

betreffenden Staates <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>ternationalen Gesellschaft mit erheblichen Folgen für dessen<br />

wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zur Folge haben.<br />

Die wie<strong>der</strong>holte Leugnung des nation<strong>als</strong>ozialistischen Holokausts <strong>der</strong> Juden durch den ir<strong>an</strong>ischen<br />

Staatspräsidenten Mahmud Ahmad<strong>in</strong>edschad <strong>in</strong> den letzten Jahren verfolgt beispielsweise<br />

offen den Zweck, das Existenzrecht Israels zu bestreiten sowie zur Beseitigung dieses<br />

Staates und damit <strong>der</strong> Präsenz <strong>der</strong> meisten Juden im Nahen Osten aufzurufen, gleichzeitig<br />

aber auch, e<strong>in</strong>en zw<strong>in</strong>genden kausalen Zusammenh<strong>an</strong>g zwischen dem Holokaust und <strong>der</strong><br />

Staatsgründung Israels herzustellen, <strong>als</strong>o die <strong>an</strong>tisemitischen Deutschen und Europäer für die<br />

Verdrängung und Vertreibung <strong>der</strong> Araber aus Teilen Paläst<strong>in</strong>as mitver<strong>an</strong>twortlich zu machen.<br />

Der deutsche und <strong>in</strong>ternationale Umg<strong>an</strong>g mit dem nation<strong>als</strong>ozialistischen Judenmord wird<br />

oftm<strong>als</strong> zum Maßstab für den Umg<strong>an</strong>g mit <strong>an</strong><strong>der</strong>en <strong>Völkermord</strong>en gemacht. Der von <strong>der</strong> Führung<br />

<strong>der</strong> <strong>politische</strong>n Bewegung und Partei İttihad ve Terakki (E<strong>in</strong>heit und Fortschritt), den<br />

sogen<strong>an</strong>nten Jungtürken o<strong>der</strong> Ittihadisten, systematisch org<strong>an</strong>isierte Massenmord <strong>an</strong> den os-


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4<br />

m<strong>an</strong>ischen Armeniern und se<strong>in</strong> Charakter <strong>als</strong> <strong>Völkermord</strong> wird bis heute von <strong>der</strong> türkischen<br />

Regierung und dem größten Teil <strong>der</strong> türkischen öffentlichen Me<strong>in</strong>ung und Wissenschaft geleugnet.<br />

Allenfalls wird zugegeben, daß e<strong>in</strong>ige Hun<strong>der</strong>ttausend (300.000 o<strong>der</strong> mehr) Armenier<br />

im Zusammenh<strong>an</strong>g mit ihrer Deportation nach Mesopotamien, wo nur wenige <strong>an</strong>kamen und<br />

überlebten, und mit <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung armenischer Aufstände umgekommen seien. Insgesamt<br />

seien weit mehr Moslems (Türken, Kurden und <strong>an</strong><strong>der</strong>e) von den verbündeten Russen<br />

und Armeniern umgebracht worden <strong>als</strong> Armenier von den Türken und Kurden. Die wechselseitigen<br />

Massaker – <strong>der</strong> Ausdruck <strong>Völkermord</strong> wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> offiziellen und offiziösen türkischen<br />

Literatur kategorisch abgelehnt – seien durch die armenischen Nationalrevolutionäre,<br />

die von Rußl<strong>an</strong>d, Großbrit<strong>an</strong>nien, Fr<strong>an</strong>kreich und den USA <strong>an</strong>gestachelt und f<strong>in</strong><strong>an</strong>ziert worden<br />

seien, ausgelöst worden. Alle Opfer <strong>der</strong> Massaker seien somit bedauerliche, schreckliche<br />

Begleitersche<strong>in</strong>ungen e<strong>in</strong>es von den Armeniern begonnenen Bürgerkrieges im Rücken <strong>der</strong><br />

Fronten im Westen, Nordosten und Südosten des Osm<strong>an</strong>ischen Reiches, das von <strong>der</strong> Zerstükkelung<br />

bedroht war, und <strong>in</strong> dem das türkische Volk um se<strong>in</strong>e Existenz r<strong>an</strong>g.<br />

In <strong>der</strong> armenischen Literatur wird h<strong>in</strong>gegen überwiegend von e<strong>in</strong>em osm<strong>an</strong>isch-türkischen<br />

<strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> 1,5 Millionen Armeniern gesprochen und e<strong>in</strong>er ger<strong>in</strong>gen Zahl von muslimischen<br />

Opfern (Türken, Kurden, Aserbaidsch<strong>an</strong>ern und <strong>an</strong><strong>der</strong>en) <strong>in</strong>folge von armenischen Rev<strong>an</strong>chemassakern,<br />

die bei armenischen Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>dsaktionen und im Rücken <strong>der</strong> <strong>in</strong> das Osm<strong>an</strong>ische<br />

Reich e<strong>in</strong>gedrungenen rußländischen Armeen stattf<strong>an</strong>den.<br />

E<strong>in</strong>ige Autoren werfen dem Deutschen Reich, das im Ersten Weltkrieg die politischmilitärische<br />

Kontrolle über das Osm<strong>an</strong>ische Reich ausgeübt habe, die Hauptver<strong>an</strong>twortung<br />

o<strong>der</strong> gar die Urheberschaft für den <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> den Armeniern vor und weisen den Türken,<br />

Kurden und <strong>an</strong><strong>der</strong>en Moslems eher ausführende Funktionen zu. So wurde <strong>der</strong> <strong>Völkermord</strong><br />

<strong>an</strong> den Armeniern auch <strong>als</strong> „Holokaust vor dem Holokaust“ <strong>an</strong> den Juden bezeichnet<br />

und e<strong>in</strong>e Kont<strong>in</strong>uität deutscher Vernichtungspolitik konstruiert.<br />

Der deutsche Bundestag hat am 16. Juni 2005 erstm<strong>als</strong> gewagt, auf Antrag aller vier Fraktionen,<br />

<strong>der</strong> „Vertreibungen und Massaker <strong>an</strong> den Armeniern 1915“ zu gedenken. Dabei wurde<br />

<strong>der</strong> Ausdruck <strong>Völkermord</strong> vermieden, aber es war von „Verbrechen am armenischen Volk“<br />

die Rede. „Deutschl<strong>an</strong>d muß zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“<br />

hieß es im Titel des Beschluß<strong>an</strong>trages. In den Jahren zuvor waren entsprechende Initiativen<br />

mit Rücksicht auf den NATO-Partner Türkei und die deutschen Interessen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Türkei stets<br />

gescheitert. Bis zum Gedenken im Bundestag hatten allerd<strong>in</strong>gs die Regierungen o<strong>der</strong> die Par-


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5<br />

lamente schon <strong>in</strong> zahlreichen <strong>an</strong><strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n den <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> den Armeniern verurteilt<br />

und die Türkei zur Anerkennung <strong>der</strong> historischen Tatsache desselben aufgefor<strong>der</strong>t. Das fr<strong>an</strong>zösische<br />

Parlament g<strong>in</strong>g im Dezember 2011 und J<strong>an</strong>uar 2012 e<strong>in</strong>en Schritt weiter und verabschiedete<br />

e<strong>in</strong> Gesetz, das die Verherrlichung o<strong>der</strong> Leugnung von offiziell konstatierten <strong>Völkermord</strong>en<br />

wie den <strong>an</strong> den Juden und Armeniern beg<strong>an</strong>genen unter Strafe stellen sollte. Es<br />

wurde allerd<strong>in</strong>gs am 28. 2. 2012 vom Verfassungsrat <strong>als</strong> verfassungswidrig <strong>an</strong>nulliert, da es<br />

die Me<strong>in</strong>ungsfreiheit verletze. Die Auffor<strong>der</strong>ungen vor allem türkischer Autoren zur Anerkennung<br />

<strong>der</strong> historischen Tatsache von Massakern armenischer Aufständischer und Truppenverbände<br />

sowie rußländischer Streitkräfte <strong>an</strong> den Moslems <strong>in</strong> Ost<strong>an</strong>atolien und im Kaukasus<br />

blieben ohne Reson<strong>an</strong>z. Hierbei zeigte niem<strong>an</strong>d e<strong>in</strong> Interesse für diese Taten aus offenkundigen,<br />

wenn auch entgegengesetzten Motiven den Ausdruck <strong>Völkermord</strong> zu benutzen.<br />

Beim Streit um den massenhaften Tod <strong>der</strong> Armenier im Osm<strong>an</strong>ischen Reich geht es um mehrere,<br />

<strong>an</strong>alytisch trennbare Gegenstände. Nicht wenige Mißverständnisse werden schon durch<br />

unterschiedliche Verständnisse des Begriffs <strong>Völkermord</strong> ausgelöst, <strong>der</strong> heute e<strong>in</strong>en immer<br />

noch nicht völlig klar umrissenen völkerrechtlichen Strafbest<strong>an</strong>d bezeichnet, im Ersten Weltkrieg<br />

aber noch gar ke<strong>in</strong>er war. Überwiegend wird er <strong>als</strong> e<strong>in</strong> politisch-moralischer Begriff<br />

benutzt. Wahrsche<strong>in</strong>lich ist vom Mord <strong>an</strong> Völkern schon sehr früh gesprochen worden, das<br />

Wort Genozid ist aber erst 1943 von dem Polen Raphael Lemk<strong>in</strong> <strong>in</strong> H<strong>in</strong>blick auf die Ermordung<br />

von Polen durch Deutsche geprägt und im Jahr darauf auch auf die Ermordung <strong>der</strong> Juden<br />

<strong>an</strong>gew<strong>an</strong>dt worden. Holokaust (griech. für Br<strong>an</strong>dopfer) h<strong>in</strong>gegen ist e<strong>in</strong> schon vor sehr<br />

l<strong>an</strong>ger Zeit im Deutschen gebrauchtes Wort für Massenmord, wurde aber <strong>in</strong> wi<strong>der</strong>s<strong>in</strong>niger<br />

Sprachgewohnheit erst <strong>in</strong> amerik<strong>an</strong>ischer Schreibweise und Aussprache <strong>als</strong> Holocaust durch<br />

den gleichnamigen Film aus dem Jahr 1979 allgeme<strong>in</strong> bek<strong>an</strong>nt. Die Debatte über den <strong>Völkermord</strong><br />

<strong>an</strong> den Armeniern wird dadurch erschwert, daß er oftm<strong>als</strong> auch <strong>als</strong> Vorläufer-<br />

Holokaust mit dem außergewöhnlichen und e<strong>in</strong>zigartigen <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> den Juden gleichgesetzt<br />

wird, nicht aber <strong>als</strong> e<strong>in</strong> eigenständiger, unter den beson<strong>der</strong>en Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>es Weltkrieges<br />

und e<strong>in</strong>er drohenden Teilung des L<strong>an</strong>des entst<strong>an</strong>dener <strong>Völkermord</strong> unter vielen <strong>an</strong><strong>der</strong>en.<br />

Durch die Gleichsetzung <strong>der</strong> beiden <strong>Völkermord</strong>e werden von <strong>der</strong> Türkei ähnliche Entschädigungsleistungen<br />

wie die Deutschl<strong>an</strong>ds erwartet.<br />

Umstritten ist ferner die Zahl <strong>der</strong> armenischen Opfer, s<strong>in</strong>d die Bed<strong>in</strong>gungen, unter denen sie<br />

sterben mußten: Waren es absichtlich herbeigeführte, bloß <strong>in</strong> Kauf genommene o<strong>der</strong> kaum<br />

abwendbare <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em schrecklichen Krieg auf osm<strong>an</strong>ischem Territorium. Verschwiegen, betont<br />

o<strong>der</strong> propag<strong>an</strong>distisch überzeichnet wird e<strong>in</strong>e sich h<strong>in</strong>ziehende Grausamkeit des Tötens


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6<br />

o<strong>der</strong> Sterbenlassens durch Hunger, Durst, Kr<strong>an</strong>kheiten, Selbstmord, werden die vielfältigen<br />

Demütigungen vor dem Tod und die Leiden <strong>der</strong> wenigen Überlebenden.<br />

Auch die Leugnung e<strong>in</strong>es <strong>Völkermord</strong>es k<strong>an</strong>n viele Facetten besitzen. Sie k<strong>an</strong>n von e<strong>in</strong>em<br />

schieren Verschweigen und Bestreiten des massenhaften Tötens unbewaffneter Angehöriger<br />

e<strong>in</strong>es Volkes <strong>als</strong> solchen, über e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>imierung <strong>der</strong> Opferzahl bis zur Rechtfertigung des<br />

Tötens <strong>als</strong> Vergeltung für die Verbrechen reichen, die von Angehörigen des Opfervolkes tatsächlich<br />

o<strong>der</strong> <strong>an</strong>geblich beg<strong>an</strong>gen wurden. Außerdem f<strong>in</strong>den Massenmorde <strong>als</strong> Reaktion auf<br />

Massenmorde oftm<strong>als</strong> großes Verständnis. Vergeltungsmassenmorde werden nur selten <strong>als</strong><br />

<strong>Völkermord</strong> bezeichnet, son<strong>der</strong>n gar m<strong>an</strong>chmal <strong>als</strong> verdiente kollektive Strafe <strong>an</strong>gesehen.<br />

2 Wechselseitiges Bürgerkriegsgemetzel o<strong>der</strong> <strong>Völkermord</strong>?<br />

Gab es überhaupt e<strong>in</strong>en <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> den Armeniern? Die Be<strong>an</strong>twortung dieser Frage setzt<br />

zweierlei voraus, zum e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e Klärung des Begriffs <strong>Völkermord</strong>, zum <strong>an</strong><strong>der</strong>en e<strong>in</strong>e Sichtung<br />

<strong>der</strong> Literatur über die empirischen Belege, die e<strong>in</strong>en <strong>Völkermord</strong> im Osm<strong>an</strong>ischen Reich<br />

beweisen o<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>legen sollen.<br />

Der engste Begriff von <strong>Völkermord</strong> bezeichnet e<strong>in</strong>en Vorg<strong>an</strong>g, mit dem die Ausrottung e<strong>in</strong>es<br />

g<strong>an</strong>zen Volkes <strong>als</strong> solches nicht nur beabsichtigt son<strong>der</strong>n auch weitgehend ausgeführt wird.<br />

Nach diesem Verständnis gab es zwar viele <strong>Völkermord</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> fernen Verg<strong>an</strong>genheit, <strong>als</strong> die<br />

Völker nur e<strong>in</strong>ige Hun<strong>der</strong>te o<strong>der</strong> Tausende Menschen umfaßten, aber <strong>in</strong> <strong>der</strong> jüngsten Geschichte<br />

nur e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen, den deutschen nation<strong>als</strong>ozialistischen Mord <strong>an</strong> den Juden <strong>in</strong> dem<br />

vom Deutschen Reich zeitweise beherrschten Europa. Oft wird für dieses e<strong>in</strong>zigartige Ereignis<br />

auch <strong>der</strong> Ausdruck Holokaust monopolisiert, <strong>als</strong> e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er <strong>Völkermord</strong> unter vielen<br />

<strong>an</strong><strong>der</strong>en, gewöhnlichen <strong>Völkermord</strong>en. E<strong>in</strong>ige Autoren gebrauchen allerd<strong>in</strong>gs das Wort Holokaust<br />

im Plural für die g<strong>an</strong>z großen, massenhaften <strong>Völkermord</strong>e mit Hun<strong>der</strong>ttausenden und<br />

Millionen Opfern im Unterschied zu den häufigeren <strong>Völkermord</strong>en mit weit ger<strong>in</strong>gerer Opferzahl,<br />

etwa dem von Srebrenica im Juli 1995 mit 7-8.000 bosniakischen Opfern o<strong>der</strong> dem<br />

von Sumgait vom 27./28.2.1988 mit Dutzenden armenischen Opfern (nach sowjetischen Behörden:<br />

26 Armenier und 6 Aserbaidsch<strong>an</strong>er) o<strong>der</strong> von Xocalı am 25.2.1992 mit nach unterschiedlichen<br />

Angaben 161 bis 613 aserbaidsch<strong>an</strong>ischen Opfern.<br />

E<strong>in</strong>e sehr weite Def<strong>in</strong>ition von <strong>Völkermord</strong> enthält die „Konvention über die Verhütung und<br />

Bestrafung des <strong>Völkermord</strong>es“ <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen vom 9. Dezember 1948, die am 12.<br />

J<strong>an</strong>uar 1951 <strong>in</strong> Kraft trat. D<strong>an</strong>ach bedeutet „<strong>Völkermord</strong> e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> folgenden H<strong>an</strong>dlungen, die


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7<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Absicht beg<strong>an</strong>gen wird, e<strong>in</strong>e nationale, ethnische, rassische o<strong>der</strong> religiöse Gruppe <strong>als</strong><br />

solche g<strong>an</strong>z o<strong>der</strong> teilweise zu zerstören: (a) Tötung von Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gruppe; (b) Verursachung<br />

von schwerem körperlichem o<strong>der</strong> seelischem Schaden <strong>an</strong> Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gruppe; (c)<br />

vorsätzliche Auferlegung von Lebensbed<strong>in</strong>gungen für die Gruppe, die geeignet s<strong>in</strong>d, ihre körperliche<br />

Zerstörung g<strong>an</strong>z o<strong>der</strong> teilweise herbeizuführen; (d) Verhängung von Maßnahmen, die<br />

auf die Geburtenverh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Gruppe gerichtet s<strong>in</strong>d; (e) gewaltsame Überführung<br />

von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gruppe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e <strong>an</strong><strong>der</strong>e Gruppe.“ Hiernach k<strong>an</strong>n e<strong>in</strong> <strong>Völkermord</strong> sogar<br />

d<strong>an</strong>n vorliegen, wenn ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Mensch getötet wird.<br />

Gemäß <strong>der</strong> weiten VN-Def<strong>in</strong>ition ist das Verbrennen von fünf Mitglie<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>er Familie <strong>in</strong><br />

ihrem Haus <strong>in</strong> Sol<strong>in</strong>gen am 29. Mai 1993, aus dem e<strong>in</strong>zigen Grund, daß sie Türken waren,<br />

bereits e<strong>in</strong> <strong>Völkermord</strong>, da ke<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>destgröße für e<strong>in</strong>en <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong>gegeben wird. Lediglich<br />

<strong>der</strong> Plural „von Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Gruppe“ besagt, daß die Ermordung e<strong>in</strong>es Menschen<br />

noch ke<strong>in</strong> <strong>Völkermord</strong> se<strong>in</strong>, wohl aber die von zweien. Legt m<strong>an</strong> den weiten <strong>Völkermord</strong>begriff<br />

von 1948 zugrunde, so k<strong>an</strong>n es nicht den ger<strong>in</strong>gsten Zweifel <strong>an</strong> e<strong>in</strong>em <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong><br />

den Armeniern im Osm<strong>an</strong>ischen Reich geben, da unstrittig – auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sicht fast aller türkischer<br />

Wissenschaftler – se<strong>in</strong>erzeit viele Menschen ermordet wurden, nur weil sie Armenier<br />

waren. Der türkischen offiziellen und offiziösen Leugnung e<strong>in</strong>es <strong>Völkermord</strong>s <strong>an</strong> den Armeniern<br />

liegt e<strong>in</strong> weitaus engerer <strong>Völkermord</strong>begriff zugrunde <strong>als</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> VN.<br />

E<strong>in</strong>ige Autoren kritisieren, daß die <strong>Völkermord</strong>konvention <strong>der</strong> VN <strong>in</strong> m<strong>an</strong>cher H<strong>in</strong>sicht viel<br />

zu eng ist, da sie das Töten von Mitglie<strong>der</strong>n des eigenen Volkes nicht verbietet. Nur <strong>der</strong> <strong>Völkermord</strong><br />

(Genozid), nicht <strong>der</strong> Volks- o<strong>der</strong> Bevölkerungsmord (Demozid) wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> VN-<br />

Konvention verurteilt, da die Sowjetunion und wohl auch <strong>an</strong><strong>der</strong>e Staaten <strong>als</strong> Mitunterzeichner<br />

<strong>der</strong> Konvention se<strong>in</strong>erzeit e<strong>in</strong> Interesse hatten, die staatlichen Massenmorde am eigenen Volk<br />

von e<strong>in</strong>er Strafverfolgung auszunehmen. Die Konvention ist somit auch nicht <strong>an</strong>wendbar im<br />

Falle e<strong>in</strong>es sozialen Klassenmords (Soziozid) o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es <strong>politische</strong>n Massenmords (Politizid)<br />

wie im Falle <strong>der</strong> Ermordung von 500.000 „Kommunisten“ <strong>in</strong> Indonesien im Jahre 1965.<br />

Von den Überlegungen zum <strong>Völkermord</strong>begriff und se<strong>in</strong>en nach Zeit und Ort höchst wechselhaften<br />

Verwendung vor Gericht abgesehen lassen sich doch e<strong>in</strong>ige Tendenzen im Sprachgebrauch<br />

beobachten. Auf wenige Stunden o<strong>der</strong> Tage begrenzte Morde <strong>an</strong> Mitglie<strong>der</strong>n nationaler,<br />

ethnischer, rassischer o<strong>der</strong> religiöser Gruppen, die im weiteren zusammenfassend fremde<br />

Gruppen gen<strong>an</strong>nt seien, die oft zwar privat org<strong>an</strong>isiert und ver<strong>an</strong>staltet, aber staatlich geduldet<br />

und <strong>an</strong>gestiftet werden, werden häufig <strong>als</strong> Pogrome bezeichnet, im Unterschied zu


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8<br />

fremdenfe<strong>in</strong>dlichen privaten Mordaktionen, die sofort von staatlichen Org<strong>an</strong>en bekämpft<br />

werden und die auch fast nie <strong>als</strong> <strong>Völkermord</strong> bezeichnet werden wie die erwähnten fremdenfe<strong>in</strong>dlichen<br />

Morde <strong>in</strong> Sol<strong>in</strong>gen. <strong>Völkermord</strong> ist demnach e<strong>in</strong> länger <strong>an</strong>halten<strong>der</strong>, staatlich org<strong>an</strong>isierter<br />

o<strong>der</strong> geduldeter Fremdenmord. Sumgait und vielleicht auch Xocalı wären demnach<br />

Pogrome, aber ke<strong>in</strong>e <strong>Völkermord</strong>e, während Srebrenica e<strong>in</strong> längerfristig org<strong>an</strong>isierter und<br />

durchgeführter <strong>Völkermord</strong> war. Auch im Falle <strong>der</strong> Ermordung von rund 400 Juden <strong>in</strong> den<br />

Tagen um den 9. November 1938 und von weiteren Hun<strong>der</strong>ten d<strong>an</strong>ach spricht m<strong>an</strong> von <strong>der</strong><br />

„Reichspogromnacht“, nicht von e<strong>in</strong>em ersten größeren nation<strong>als</strong>ozialistischen <strong>Völkermord</strong>.<br />

Auch die <strong>in</strong> unmittelbaren Zusammenh<strong>an</strong>g mit kriegerischen Aktionen stehende Ermordung<br />

von zahlreichen Zivilisten gilt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht <strong>als</strong> <strong>Völkermord</strong>. In früheren Zeiten wurden<br />

oftm<strong>als</strong> eroberte Städte und L<strong>an</strong>dstriche für e<strong>in</strong> bis drei Tage den siegreichen Truppen von<br />

ihren Militärkomm<strong>an</strong>deuren zur Plün<strong>der</strong>ung, zum Vergewaltigen und Ermorden freigegeben,<br />

ehe m<strong>an</strong> d<strong>an</strong>ach trachtete, die militärische Diszipl<strong>in</strong> und rechtliche Ordnung wie<strong>der</strong>herzustellen.<br />

Solche frontnahen Massaker <strong>an</strong> Zivilisten und Kriegsgef<strong>an</strong>genen f<strong>an</strong>den auch im Ersten<br />

Weltkrieg sowohl auf osm<strong>an</strong>ischer wie auf rußländischer Seite unter Beteiligung von Armeniern<br />

<strong>in</strong> großem Umf<strong>an</strong>g statt. Mit dem mehrmaligen Vorrücken und Rückzug <strong>der</strong> Truppen<br />

steigerte sich das wechselseitige Rachebedürfnis. Nachdem beispielsweise die osm<strong>an</strong>ischen<br />

Truppen mit deutscher Unterstützung im September 1918 Baku erobert hatten, wurde es den<br />

osm<strong>an</strong>ischen Truppen drei Tage l<strong>an</strong>g freigestellt, die örtlichen Armenier zu berauben, zu vergewaltigen<br />

und zu ermorden, wobei 30.000 Menschen umgekommen se<strong>in</strong> sollen. Diejenigen<br />

osm<strong>an</strong>ischen Soldaten, die ihre Greueltaten auch noch am vierten Tag fortsetzten, ließ das<br />

Militärkomm<strong>an</strong>do <strong>an</strong> e<strong>in</strong>igen zentralen Straßenkreuzungen aufhängen. Nicht bestreiten läßt<br />

sich, daß auch rußländische Truppen, unter denen sich 150.000 Armenier bef<strong>an</strong>den, und mit<br />

ihnen verbündete armenische Kampfe<strong>in</strong>heiten mit wenigen tausend Freiwilligen, die sowohl<br />

aus rußländischen <strong>als</strong> auch osm<strong>an</strong>ischen Staats<strong>an</strong>gehörigen best<strong>an</strong>den, die Unsitte <strong>der</strong> frontnahen<br />

Zivilistenmorde gepflegt hatten, sol<strong>an</strong>ge sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage waren, osm<strong>an</strong>ische Dörfer und<br />

Städte zu erobern.<br />

In wenigen Städten und L<strong>an</strong>dstrichen wie um V<strong>an</strong> waren Armenier <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, e<strong>in</strong>en bewaffneten<br />

Aufst<strong>an</strong>d auszuführen, wobei sie nach armenischer Lesart auf die Deportationsbeschlüsse<br />

<strong>der</strong> osm<strong>an</strong>ischen Regierung und die ersten Greuel <strong>an</strong> Armeniern reagierten, während<br />

sie nach türkischer Lesart mit Rußl<strong>an</strong>d, Großbrit<strong>an</strong>nien und Fr<strong>an</strong>kreich kollaborierten, um die<br />

Separation <strong>der</strong> östlichen Prov<strong>in</strong>zen des osm<strong>an</strong>ischen Reiches zu erzw<strong>in</strong>gen. Bei diesen Aufständen<br />

wurden auch zahlreiche muslimische Zivilisten umgebracht. Ausschreitungen gegen


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die Armenier <strong>in</strong> den Folgemonaten werden von türkischen Autoren wie<strong>der</strong>um mit armenischen<br />

Massakern <strong>an</strong> Muslimen (wohl meist Kurden, seltener Türken) erklärt o<strong>der</strong> gar gerechtfertigt.<br />

Guenter Lewy betont e<strong>in</strong>en weiteren Faktor im tödlichen Geschehen seit dem Deportationsbeschluß<br />

<strong>der</strong> osm<strong>an</strong>ischen Regierung vom Mai 1915. Zu diesem Zeitpunkt waren die Deportation<br />

und die Greueltaten schon e<strong>in</strong>ige Wochen im G<strong>an</strong>ge. Die Alliierten kündigten deshalb öffentlich<br />

e<strong>in</strong>e Bestrafung <strong>der</strong> dafür Ver<strong>an</strong>twortlichen nach dem Krieg <strong>an</strong>. Erst daraufh<strong>in</strong> ver<strong>an</strong>laßten<br />

die drei hauptver<strong>an</strong>twortlichen M<strong>in</strong>ister den offiziellen Deportationsbeschluß des gesamten<br />

Kab<strong>in</strong>etts, um es <strong>in</strong> die Mitver<strong>an</strong>twortung e<strong>in</strong>zubeziehen. Nach Lewy gibt es ke<strong>in</strong>e<br />

Dokumente (mehr), die die Vernichtungsabsicht <strong>der</strong> Zentralregierung belegen. Er hält es für<br />

plausibel, daß viele armenische Opfer nicht auf Vernichtungsabsichten zentr<strong>als</strong>taatlicher o<strong>der</strong><br />

prov<strong>in</strong>zialer Behörden zurückzuführen s<strong>in</strong>d, son<strong>der</strong>n schlicht auf die durch den Krieg geför<strong>der</strong>te<br />

chaotische Desorg<strong>an</strong>isation des Reiches, das nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage war, e<strong>in</strong>e Deportation<br />

e<strong>in</strong>igermaßen geordnet und unter Beachtung hum<strong>an</strong>itärer M<strong>in</strong>destst<strong>an</strong>dards zu ver<strong>an</strong>stalten.<br />

Als Indiz hierfür wird <strong>an</strong>geführt, daß auch g<strong>an</strong>ze osm<strong>an</strong>ische Truppenverbände dem Tod<br />

durch Verdursten, Verhungern o<strong>der</strong> Seuchen ausgeliefert blieben. Nach <strong>der</strong> Desorg<strong>an</strong>isationsthese<br />

waren staatliche Behörden auch nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, die Kolonnen <strong>der</strong> Deportierten, die zu<br />

Fuß, zu Pferde o<strong>der</strong> <strong>in</strong> vom Vieh gezogenen Wagen unterwegs waren, vor privaten krim<strong>in</strong>ellen,<br />

vor allem kurdischen B<strong>an</strong>den zu schützen, die die wehrlosen Armenier beraubten, quälten,<br />

vergewaltigten und nicht selten äußerst grausam ermordeten, ihnen auch Frauen und K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

wegnahmen, um sie zu verkaufen o<strong>der</strong> <strong>in</strong> die eigenen Familien aufzunehmen, zu kurdisieren<br />

o<strong>der</strong> zu türkisieren. Letzteres fällt laut VN-Konvention auch unter den Tatbest<strong>an</strong>d des<br />

<strong>Völkermord</strong>s. Es gibt auch Berichte von Muslimen, die aus Mitleid armenische K<strong>in</strong><strong>der</strong> retteten<br />

und <strong>in</strong> ihre Familien aufnahmen.<br />

Lewy lehnt den Ausdruck <strong>Völkermord</strong> für die osm<strong>an</strong>ischen Massaker ab, da er e<strong>in</strong>en äußerst<br />

engen <strong>Völkermord</strong>begriff benutzt, <strong>der</strong> <strong>an</strong> dem Muster des deutschen Judenmordes orientiert<br />

ist und darunter die von e<strong>in</strong>er Zentralregierung beabsichtigte Vernichtung e<strong>in</strong>es g<strong>an</strong>zen Volkes<br />

versteht. Für e<strong>in</strong>e solche Absicht gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat ke<strong>in</strong>e Belege; es liegen im Gegenteil<br />

sogar zahlreiche Indizien gegen die Absicht vor, alle Armenier vollständig ausrotten zu wollen.<br />

Gelegentlich wurde das Ziel gen<strong>an</strong>nt, den Armenier<strong>an</strong>teil <strong>an</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung überall auf<br />

fünf Prozent zu reduzieren. Zwischen dem Judenmord und dem Armeniermord gibt es zweifellos<br />

sehr wichtige Unterschiede. <strong>Völkermord</strong> liegt aber auch d<strong>an</strong>n vor, wenn Teile e<strong>in</strong>es<br />

Volkes vernichtet werden und werden sollen, außerdem auch d<strong>an</strong>n, wenn untergeordnete


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staatliche Stellen o<strong>der</strong> gar private Org<strong>an</strong>isationen wie e<strong>in</strong>e Partei die Vernichtungstaten befehlen<br />

o<strong>der</strong> durchführen.<br />

Deutsche, österreichisch-ungarische und amerik<strong>an</strong>ische Diplomaten haben die osm<strong>an</strong>ische<br />

Führung mehrm<strong>als</strong> auf die Greueltaten h<strong>in</strong>gewiesen. Die beiden osm<strong>an</strong>ischen Verbündeten<br />

hielten sich zwar mit allzu scharfer und vor allem öffentlicher Kritik zurück, da sie den wichtigen<br />

Kriegspartner nicht verlieren wollten, <strong>der</strong> die eigenen Streitkräfte von höheren Todesraten<br />

entlastete, for<strong>der</strong>ten aber e<strong>in</strong>e geordnete und e<strong>in</strong>igermaßen hum<strong>an</strong>e Durchführung <strong>der</strong><br />

Deportation <strong>der</strong> Armenier. Der US-amerik<strong>an</strong>ische Botschafter Henry Morgenthau bot sogar<br />

die E<strong>in</strong>reiseerlaubnis für alle Armenier <strong>in</strong> die USA <strong>an</strong>, was Mehmet Talat Pascha zunächst<br />

<strong>an</strong>nahm, d<strong>an</strong>n aber ablehnte, weil er fürchtete, die <strong>in</strong> die USA ausgew<strong>an</strong><strong>der</strong>ten Armenier<br />

würden über die bereits geschehenen Greueltaten berichten. Unzweifelhaft wußte die osm<strong>an</strong>ische<br />

Regierung sowohl von den Massenmorden sowie von dem Massensterben <strong>der</strong> Deportierten.<br />

Selbst wenn sie ursprünglich nicht die teilweise Vernichtung <strong>der</strong> Armenier gewollt haben<br />

sollte, so gab sie wissentlich die Befehle, die zur fortgesetzten massenhaften Vernichtung von<br />

Armeniern durch Taten und Unterlassungen führte.<br />

3 Die Mo<strong>der</strong>nität des <strong>Völkermord</strong>es im Zeitalter <strong>der</strong> Nation<strong>als</strong>taatsbildung<br />

Der <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> den Armeniern steht im Zusammenh<strong>an</strong>g mit <strong>der</strong> Durchsetzung des ethnisch<br />

fundierten Nation<strong>als</strong>taatspr<strong>in</strong>zips <strong>in</strong> Europa, vor allem <strong>in</strong> den dynastischen Reichen des<br />

Ostens. Dieses beruht auf dem Ged<strong>an</strong>ken, daß e<strong>in</strong> meist monoethnisches Volk, das sich <strong>als</strong><br />

Nation versteht, den Anspruch hat, auf se<strong>in</strong>em Siedlungsgebiet e<strong>in</strong>en eigenen Staat zu errichten.<br />

Aus den Diskrep<strong>an</strong>zen zwischen dem oft nicht geschlossenen, son<strong>der</strong>n gemischt besiedelten<br />

Siedlungsgebiet und dem Anspruch auf e<strong>in</strong>en territorial geschlossenen und möglichst imperial<br />

e<strong>in</strong> wenig durch fremdes Gebiet arrondierten Nation<strong>als</strong>taat folgte die Neigung, ethnische<br />

M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten o<strong>der</strong> gar lokale und regionale Mehrheiten zu vertreiben, im äußersten Fall<br />

auch zu vernichten. Zwar wurde nur selten <strong>der</strong> ethnisch homogene, aber meist <strong>der</strong> monoethnisch<br />

hegemoniale Nation<strong>als</strong>taat unter <strong>der</strong> Prämisse <strong>der</strong> Volkssouveränität und <strong>der</strong> Akzept<strong>an</strong>z<br />

e<strong>in</strong>es Staats durch die Mehrheit se<strong>in</strong>er Bevölkerung be<strong>an</strong>sprucht.<br />

Vor 1914 hatte nur das Osm<strong>an</strong>ische Reich bereits riesige Gebiete verloren, während die<br />

christlichen Ostreiche bis zum Ersten Weltkrieg ihre Gebiete erhalten o<strong>der</strong> gar noch ausdehnen<br />

konnten. Mit Hilfe <strong>der</strong> europäischen Großmächte hatten sich bereits Griechenl<strong>an</strong>d, Serbien,<br />

Montenegro, Rumänien, Bulgarien, faktisch auch Ägypten, und schließlich auch Alb<strong>an</strong>ien


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<strong>als</strong> neue Nation<strong>als</strong>taaten separiert. Das dam<strong>als</strong> weith<strong>in</strong> <strong>als</strong> Armenien bezeichnete Gebiet Ost<strong>an</strong>atoliens<br />

mit den sechs bzw. sieben ost<strong>an</strong>atolischen Wilayets (Prov<strong>in</strong>zen) Erzurum, Diyarbekir,<br />

Harput, V<strong>an</strong>, Bitlis und Sivas sowie eventuell auch Trabzon hätte nach den Vorstellungen<br />

vieler armenischer und christlicher Politiker <strong>in</strong> Rußl<strong>an</strong>d und g<strong>an</strong>z Europa nach Mazedonien<br />

<strong>der</strong> nächste unabhängige christliche Nation<strong>als</strong>taat werden sollen, zum<strong>in</strong>dest aber e<strong>in</strong><br />

weitgehend autonomes Gebilde nach dem Vorbild F<strong>in</strong>nl<strong>an</strong>ds im Rußländischen Reich. In diesem<br />

historischen „Armenien“ bildeten die Armenier wahrsche<strong>in</strong>lich kaum die Hälfte <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

und nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Städten und Gebieten, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im Wilayet V<strong>an</strong>, die klare<br />

Mehrheit, während <strong>in</strong> <strong>an</strong><strong>der</strong>en Gebieten die Kurden die Mehrheit und die Türken oft nur e<strong>in</strong>e<br />

M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit darstellten. Seit 1878 hatte es mehrere <strong>in</strong>ternational erzwungene osm<strong>an</strong>ische Versprechen<br />

gegeben, e<strong>in</strong>e armenische o<strong>der</strong> auch armenisch-kurdische territoriale Autonomie <strong>in</strong><br />

den östlichen Wilayets e<strong>in</strong>zurichten.<br />

Osm<strong>an</strong>ische Reformpolitiker versuchten seit Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts vergeblich, die osm<strong>an</strong>ische<br />

Herrschaft, die jahrhun<strong>der</strong>tel<strong>an</strong>g auf dem Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> islamischen Vorherrschaft beruht<br />

hatte, zu mo<strong>der</strong>nisieren und durch die För<strong>der</strong>ung e<strong>in</strong>es osm<strong>an</strong>ischen Staatsbewußtse<strong>in</strong>s auf<br />

<strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Gleichberechtigung aller Staats<strong>an</strong>gehörigen und aller Nationalitäten zu<br />

stabilisieren. 1908 zeigte sich mit dem Verlust Bulgariens und Bosnien-Herzegow<strong>in</strong>as endgültig<br />

das Scheitern des polyethnischen Osm<strong>an</strong>ismus <strong>an</strong>. Der Islamismus blieb e<strong>in</strong>e kurze Überg<strong>an</strong>gsersche<strong>in</strong>ung<br />

und wurde schließlich durch den Türkismus und Tur<strong>an</strong>ismus (Idee e<strong>in</strong>er<br />

Vere<strong>in</strong>igung <strong>der</strong> Turkvölker) abgelöst, <strong>der</strong> durch den Ausg<strong>an</strong>g <strong>der</strong> beiden Balk<strong>an</strong>kriege weiteren<br />

Auftrieb erhielt. Der junge türkische Nationalismus stimulierte se<strong>in</strong>erseits den griechischen,<br />

den armenischen, den arabischen und den kurdischen Nationalismus und begrub die<br />

Idee e<strong>in</strong>es polyethnischen türkisch-kurdisch-armenisch-griechischen Staates <strong>in</strong> Anatolien und<br />

Ostthrazien. Damit drohte nicht nur die Abspaltung Griechisch-Westkle<strong>in</strong>asiens, son<strong>der</strong>n auch<br />

die Abspaltung Armeniens bzw. Kurdist<strong>an</strong>s. In Ost<strong>an</strong>atolien wären die christlichen Armenier<br />

und die islamischen Kurden die eigentlichen nationalen Kontrahenten geworden, falls die<br />

osm<strong>an</strong>isch-türkische imperiale Oberhoheit über Ost<strong>an</strong>atolien zusammengebrochen wäre. Wegen<br />

<strong>der</strong> Sympathie vieler Armenier <strong>in</strong> Rußl<strong>an</strong>d und zum kle<strong>in</strong>eren Teil auch im Osm<strong>an</strong>ischen<br />

Reich mit <strong>der</strong> Alli<strong>an</strong>z Rußl<strong>an</strong>ds und <strong>der</strong> Westmächte im Ersten Weltkrieg war die Gefahr e<strong>in</strong>er<br />

armenischen Separation größer <strong>als</strong> die <strong>der</strong> kurdischen. Die Kurden konnten <strong>als</strong>o leicht von<br />

den Türken gegen die Armenier <strong>in</strong>strumentalisiert werden, was bereits Sult<strong>an</strong> Abdul Hamid<br />

II. seit 1891 systematisch bei Armenierpogromen betrieb. Schon zu se<strong>in</strong>er Zeit soll e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>ister<br />

gesagt haben, daß m<strong>an</strong> die armenische Frage am besten aus <strong>der</strong> Welt schaffe, wenn m<strong>an</strong>


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die Armenier aus <strong>der</strong> Welt schafft. Von vere<strong>in</strong>zelten Ausrottungsabsichten läßt sich aber nicht<br />

auf e<strong>in</strong>e tatsächliche Ausrottungspraxis schließen.<br />

Im Ersten Weltkrieg benutzten die Westmächte und Rußl<strong>an</strong>d den armenischen und griechischen<br />

Nationalismus für ihre imperialen Zwecke, wie es das Osm<strong>an</strong>ische Reich und die Mittelmächte<br />

mit dem Nationalismus <strong>der</strong> muslimischen Völker (Aserbaidsch<strong>an</strong>er, Tataren etc.) <strong>in</strong><br />

Rußl<strong>an</strong>d und im Britischen Reich ebenfalls taten. Die Nationalisten aller kle<strong>in</strong>en Völker trachteten<br />

ihrerseits, die Großmächte für ihre nationalen Zwecke zu <strong>in</strong>strumentalisieren. Als die<br />

Briten Anf<strong>an</strong>g 1915 ihre Offensive auf Gallipoli/Gelibolu <strong>an</strong> den Dard<strong>an</strong>ellen beg<strong>an</strong>nen und<br />

die rußländischen Truppen über den Kaukasus bis weit nach dem Südwesten vordr<strong>an</strong>gen, war<br />

die Gefahr e<strong>in</strong>er Separation <strong>der</strong> ost<strong>an</strong>atolischen Wilayets <strong>als</strong> armenischer Nation<strong>als</strong>taat <strong>als</strong>o<br />

durchaus real. Der hier kurz skizzierte Zusammenh<strong>an</strong>g zwischen imperialer Großmachtpolitik<br />

und Nation<strong>als</strong>taatsbildung bildet den H<strong>in</strong>tergrund für den <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> den Armeniern.<br />

Das kle<strong>in</strong>e Volk <strong>der</strong> Armenier von rund 4,5 Millionen Menschen hat wohl mehr <strong>als</strong> e<strong>in</strong> Siebentel<br />

aller Todesopfer des Ersten Weltkrieges erbracht. M<strong>an</strong> muß aber vier Gruppen von<br />

diesen Todesopfern unterscheiden: 1. Soldaten und <strong>an</strong><strong>der</strong>e bewaffnete Kämpfer, die im Staatenkrieg<br />

o<strong>der</strong> <strong>in</strong> armenischen Aufständen gefallen s<strong>in</strong>d, 2. Zivilisten und Kriegsgef<strong>an</strong>gene, die<br />

frontnah im engen zeitlichen und örtlichen Zusammenh<strong>an</strong>g mit Kriegsh<strong>an</strong>dlungen ermordet<br />

wurden (gewöhnliche Kriegsverbrechen), 3. Dorfbewohner und Deportierte, die unbeabsichtigt<br />

aufgrund staatlicher Desorg<strong>an</strong>isation sterben mußten wie viele Türken auch und selbst<br />

osm<strong>an</strong>ische Soldaten, weil die staatlichen Behörden zur Versorgung von Teilen <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Deportierten nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage waren, 4. Zivilisten und <strong>politische</strong> Inhaftierte, die<br />

systematisch von staatlichen Amtsträgern aufgrund amtlicher Befehle erschossen, erschlagen,<br />

ertränkt und verbr<strong>an</strong>nt, <strong>an</strong> private Mordb<strong>an</strong>den o<strong>der</strong> <strong>an</strong> den Tod durch Durst, Hunger, Kr<strong>an</strong>kheiten<br />

ausgeliefert wurden. Hierbei sollen sich die Son<strong>der</strong>e<strong>in</strong>satzgruppen <strong>der</strong> Teşkilât-i Mahsusa<br />

von rund 30.000 M<strong>an</strong>n hervorget<strong>an</strong> haben, die zum Teil aus freigelassenen Schwerstverbrechern<br />

gebildet worden waren und dem Kriegsm<strong>in</strong>isterium unterst<strong>an</strong>den. Aber auch Polizeiverbände<br />

und zum ger<strong>in</strong>geren Teil auch e<strong>in</strong>zelne Armeee<strong>in</strong>heiten haben sich <strong>an</strong> den Greueltaten<br />

beteiligt. M<strong>an</strong>che Beamte leisteten Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>d gegen die Armenierverfolgung und<br />

wurden schwer bestraft. Es wurden aber auch e<strong>in</strong>ige Personen zum Tode verurteilt, die sich<br />

durch unerwünschte Grausamkeit hervortaten.<br />

Nur im Falle <strong>der</strong> vierten Gruppe sollte m<strong>an</strong> von Opfern des <strong>Völkermord</strong>es sprechen. Ihre Zahl<br />

dürfte nach unterschiedlichen Schätzungen um die 650.000 liegen, plus m<strong>in</strong>us 200 – 300.000.


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Welche <strong>der</strong> Zahlen auch immer empirisch am stichhaltigsten ist, <strong>an</strong> <strong>der</strong> Tatsache e<strong>in</strong>es umf<strong>an</strong>greichen<br />

<strong>Völkermord</strong>es <strong>an</strong> Hun<strong>der</strong>ttausenden von Armeniern, im wesentlichen org<strong>an</strong>isiert<br />

durch staatliche Behörden im Schatten des Weltkrieges und <strong>der</strong> drohenden Aufspaltung des<br />

Osm<strong>an</strong>ischen Reiches, k<strong>an</strong>n ke<strong>in</strong> ernsthafter Zweifel bestehen.<br />

E<strong>in</strong>e gewisse Rolle im Streit um die Ereignisse spielen die Prozesse des Osm<strong>an</strong>ischen Reiches,<br />

dessen Nachkriegsregierung versuchte, die alliierten Sieger dadurch günstig für die Erhaltung<br />

des Reiches und des Regierungssystems zu stimmen, daß sie selbst 1919/20 e<strong>in</strong>ige<br />

Ver<strong>an</strong>twortliche für den Armeniermord vor Gericht stellten, diesen aber nicht <strong>als</strong> Werk <strong>der</strong><br />

Regierung und des Staates, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Partei İttihad ve Terakki und <strong>der</strong> prodeutschen M<strong>in</strong>ister,<br />

des Kriegsm<strong>in</strong>isters Enver Pascha, des Mar<strong>in</strong>em<strong>in</strong>isters Cemal Pascha und des Innenm<strong>in</strong>isters<br />

Talat Pascha darstellten. Dam<strong>als</strong> sprach m<strong>an</strong> offiziell von 800.000 umgekommenen<br />

Armeniern. 17 Todesurteile wurden verhängt, die meisten <strong>in</strong> Abwesenheit, da die Massenmör<strong>der</strong><br />

rechtzeitig geflohen waren, zum Teil <strong>in</strong> die Weimarer Republik. In Berl<strong>in</strong> wurde 1921<br />

Taalat Pascha von e<strong>in</strong>em Armenier ermordet, <strong>der</strong> d<strong>an</strong>n <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em spektakulären Prozeß freigesprochen<br />

wurde. Drei Todesurteile wurden noch im Osm<strong>an</strong>ischen Reich vollstreckt, <strong>an</strong> Personen,<br />

für die später Denkmäler <strong>als</strong> Nationalhelden errichtet wurden.<br />

Die Alliierten nahmen ke<strong>in</strong>e Rücksicht auf die osm<strong>an</strong>ische Regierung und verl<strong>an</strong>gten von ihr<br />

die Unterzeichnung des Vertrages von Sèvres vom 10. August 1920, <strong>der</strong> nicht nur die Abtretung<br />

<strong>der</strong> letzten äußeren Reichsgebiete, son<strong>der</strong>n auch die Teilung Anatoliens und selbst die<br />

Zerstückelung des türkischen Siedlungsgebietes vorsah. Dies provozierte die von Militärs<br />

unter Mustafa Kemal geführte nationalrevolutionäre Bewegung zum Sturz <strong>der</strong> osm<strong>an</strong>ischen<br />

Herrschaft, zur Konstitution <strong>der</strong> Republik Türkei und zur Rückeroberung Anatoliens. Kemal,<br />

<strong>der</strong> später den Ehrentitel Atatürk erhielt, hatte <strong>an</strong>f<strong>an</strong>gs durchaus den <strong>Völkermord</strong> <strong>an</strong> den Armeniern<br />

verurteilt, <strong>als</strong> aber die militärisch und politisch wichtigen Führer <strong>der</strong> Ittihadisten, die<br />

sowohl die osm<strong>an</strong>ische Nachkriegsregierung <strong>als</strong> auch die Briten vor Gericht stellen wollten,<br />

zur nationalrevolutionären Bewegung überliefen, war es nicht mehr opportun, den <strong>Völkermord</strong><br />

unter osm<strong>an</strong>ischer Herrschaft zu kritisieren. Außerdem dient seither die Leugnung o<strong>der</strong><br />

gar die Rechtfertigung <strong>der</strong> Massenmorde <strong>als</strong> heroische nationale Verteidigungstaten dem<br />

Schutz vor Restitutions<strong>an</strong>sprüchen auf geraubtes Eigentum durch die Verw<strong>an</strong>dten <strong>der</strong> <strong>Völkermord</strong>opfer.<br />

Die unselige Verknüpfung <strong>der</strong> territorialen Aufteilung Anatoliens und <strong>der</strong> Bestrafung<br />

<strong>der</strong> Völkermör<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> alliierten Politik schuf umgekehrt e<strong>in</strong> Interesse <strong>an</strong> <strong>der</strong> Verknüpfung<br />

<strong>der</strong> Wahrung <strong>der</strong> territorialen E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Türkei und <strong>der</strong> Leugnung des <strong>Völkermord</strong>s.<br />

Großbrit<strong>an</strong>nien pl<strong>an</strong>te <strong>an</strong>f<strong>an</strong>gs e<strong>in</strong> <strong>in</strong>ternationales Kriegsverbrechertribunal gegen die


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führenden Ittihadisten, was jedoch Fr<strong>an</strong>kreich verh<strong>in</strong><strong>der</strong>te. Auch <strong>der</strong> Pl<strong>an</strong>, jene vor e<strong>in</strong> britisches<br />

Gericht zu stellen, wurde fallengelassen, nachdem die Nationalrevolutionäre zahlreiche<br />

britische Geiseln genommen hatten. Die verbündeten Großmächte des Osm<strong>an</strong>ischen Reiches<br />

und <strong>der</strong> Türkei, erst Deutschl<strong>an</strong>d und Österreich-Ungarn, d<strong>an</strong>n kurze Zeit Sowjetrußl<strong>an</strong>d, später<br />

ab 1923 Großbrit<strong>an</strong>nien und Fr<strong>an</strong>kreich und ab 1945 die USA hielten jeweils ihre Bündnis<strong>in</strong>teressen<br />

mit <strong>der</strong> osm<strong>an</strong>isch-türkischen Regionalmacht für gewichtiger <strong>als</strong> die Interessen<br />

e<strong>in</strong>es kle<strong>in</strong>en Volkes, das zudem durch den <strong>Völkermord</strong> drastisch dezimiert und aus großen<br />

Teilen se<strong>in</strong>es ehemaligen Siedlungsgebietes <strong>in</strong> Ost<strong>an</strong>atolien vertrieben worden war und unter<br />

sowjetische Herrschaft geriet.<br />

4 Die Risiken e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>ternationalen <strong>politische</strong>n Zw<strong>an</strong>ges zur Anerkennung <strong>der</strong><br />

Tatsache des osm<strong>an</strong>ischen <strong>Völkermord</strong>es <strong>an</strong> den Armeniern<br />

Zahlreiche Parlamente haben bereits Gesetze verabschiedet, die die Leugnung des ittihadistisch-osm<strong>an</strong>ischen<br />

<strong>Völkermord</strong>es <strong>an</strong> den Armeniern unter Strafe stellen, wie umgekehrt die<br />

Erwähnung dieses <strong>Völkermord</strong>es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Türkei oftm<strong>als</strong> mit Haftstrafen und mit Morddrohungen<br />

von nationalistischen Verbänden verfolgt wird. Das Europäische Parlament hat am<br />

28.9.2005 die Anerkennung <strong>der</strong> Tatsache des <strong>Völkermord</strong>es durch die Türkei <strong>als</strong> e<strong>in</strong>e Voraussetzung<br />

ihres Beitritts erklärt.<br />

Gesetze, die die allgeme<strong>in</strong>e Anerkennung von historischen Verbrechen erzw<strong>in</strong>gen wollen,<br />

s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e höchst fragwürdige Angelegenheit. Die Durchsetzung von Geschichtsbil<strong>der</strong>n mit<br />

dem Strafrecht statt durch Aufklärung erzeugt zwar nicht, stärkt aber die Neigung von m<strong>an</strong>chen<br />

Staaten, ihrerseits Geschichtsbil<strong>der</strong>, die die Verbrechen leugnen, durch das Strafrecht<br />

abzusichern. Beides stärkt die Tendenz, Geschichtswissenschaft und Historiker zu Liefer<strong>an</strong>ten<br />

staatlicher und nationaler Ideologien und zu Agenturen politisch erwünschter, strafbewehrter<br />

Geschichtsbil<strong>der</strong> herabzuwürdigen. Auf die Dauer ist mit e<strong>in</strong>er Anhäufung gesetzlich fixierter,<br />

<strong>in</strong>ternational unvere<strong>in</strong>barer Geschichtsbil<strong>der</strong>, die von den jeweiligen <strong>politische</strong>n Machtverhältnissen<br />

und <strong>in</strong>ternationalen Abhängigkeiten bestimmt werden, zu rechnen. Amtliche,<br />

durch Gesetze fixierte Geschichtsbil<strong>der</strong> lassen sich weit schwerer revidieren <strong>als</strong> gesellschaftlich<br />

hegemoniale, vorurteilsgeprägte Geschichtsbil<strong>der</strong>, die sich l<strong>an</strong>gsam durch gesellschaftliche<br />

Lernprozesse und die Verbreitung neuer o<strong>der</strong> gefestigter wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />

än<strong>der</strong>n können. Wahrheiten, die alle<strong>in</strong> aus Furcht vor Strafe übernommen werden, haben nur<br />

ger<strong>in</strong>gen Wert und laufen Gefahr, durch Legenden im Namen freier Me<strong>in</strong>ungsbildung abge-


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löst zu werden. Sie werden d<strong>an</strong>n zu Symbolen nationaler Freiheit und Ehre und tragen zur<br />

staatlichen Formierung und Normierung nationaler Ideologien und zur Erschwernis <strong>in</strong>ternationaler<br />

Beziehungen bei. Sie verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n damit eher gesellschaftliche Lernprozesse. F<strong>in</strong>den<br />

unter <strong>in</strong>ternationalem Druck starker Staaten und Staatenbündnisse dennoch Revisionen des<br />

offiziellen Geschichtsbildes statt, so besteht die Gefahr, daß die Regierungen, die dies tun,<br />

von e<strong>in</strong>er gesellschaftlichen Mehrheit <strong>als</strong> nationale Verräter geächtet werden.<br />

Das E<strong>in</strong>gestehen e<strong>in</strong>es <strong>Völkermord</strong>es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte des eigenen Staates o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es Vorgängerstaates<br />

hat sicherlich Folgen. Mit dem Blick auf die Zukunft k<strong>an</strong>n dies wesentlich zur<br />

Verbesserung <strong>der</strong> Beziehungen zu dem Volk beitragen, das von dem <strong>Völkermord</strong> betroffen<br />

war. Vor allem k<strong>an</strong>n es aber die <strong>politische</strong> Aufmerksamkeit für und den Wi<strong>der</strong>st<strong>an</strong>d gegen die<br />

gegenwärtig vielerorts stattf<strong>in</strong>denden <strong>Völkermord</strong>e schärfen. Unvermeidlich werden allerd<strong>in</strong>gs<br />

auch die <strong>in</strong>nen<strong>politische</strong>n Gegensätze zwischen den Apologeten des <strong>Völkermord</strong>s und<br />

denjenigen, die sich <strong>der</strong> historischen Wahrheit stellen, gestärkt und dabei <strong>in</strong>nen<strong>politische</strong><br />

Kräfteverhältnisse verschoben. Das Ansehen e<strong>in</strong>iger verstorbener Politiker, Beamten und Militärs<br />

und ihrer Familien wird sicherlich bei <strong>der</strong> Konfrontation mit <strong>der</strong> historischen Wahrheit<br />

leiden. M<strong>an</strong>che Heldenmythen werden zerbrechen. Insofern ist die Anerkennung o<strong>der</strong> Leugnung<br />

e<strong>in</strong>es <strong>Völkermord</strong>es unvermeidlich auch e<strong>in</strong> Instrument <strong>in</strong> <strong>der</strong> Innenpolitik <strong>der</strong> Türkei.<br />

In erster L<strong>in</strong>ie ist das E<strong>in</strong>gestehen e<strong>in</strong>es <strong>Völkermord</strong>es e<strong>in</strong> wichtiger politisch-moralischer<br />

Akt. Sie k<strong>an</strong>n aber auch den Anspruch auf e<strong>in</strong>e Wie<strong>der</strong>besiedlung <strong>der</strong> durch den <strong>Völkermord</strong><br />

verlorenen Gebiete und im Extremfalle e<strong>in</strong>e Revision <strong>der</strong> staatlichen Grenzen unterstützen, es<br />

sei denn, das Volk <strong>der</strong> Mordopfer gibt diesen Anspruch explizit auf, was wie<strong>der</strong>um das E<strong>in</strong>gestehen<br />

des <strong>Völkermord</strong>s durch den (Nachfolge-)Staat <strong>der</strong> Mordtäter erleichtert.<br />

E<strong>in</strong>e g<strong>an</strong>z <strong>an</strong><strong>der</strong>e Sache ist es, ob aus <strong>der</strong> Anerkennung <strong>der</strong> Tatsache des <strong>Völkermord</strong>s die<br />

Zustimmung zu e<strong>in</strong>er Wie<strong>der</strong>herstellung geraubten o<strong>der</strong> zw<strong>an</strong>gsverkauften privaten Eigentums<br />

o<strong>der</strong> von Wie<strong>der</strong>gutmachungszahlungen <strong>an</strong> Individuen, Org<strong>an</strong>isationen o<strong>der</strong> den Staat<br />

<strong>der</strong> Mordopfer folgt. Dies ist zweifellos e<strong>in</strong>e schwierig auszuh<strong>an</strong>delnde Angelegenheit. Unter<br />

Umständen reicht aber e<strong>in</strong>e symbolische Wie<strong>der</strong>gutmachung <strong>in</strong> Form von Gedenktagen und<br />

Mahnmälern <strong>an</strong> den Genozid aus. In vielen Fällen wird das E<strong>in</strong>gestehen e<strong>in</strong>es <strong>Völkermord</strong>es<br />

mit Restriktionen für die Außen- und Sicherheitspolitik verknüpft, denen <strong>an</strong><strong>der</strong>e Staaten nicht<br />

unterliegen. Auch dies ist ke<strong>in</strong>e notwendige, son<strong>der</strong>n auszuh<strong>an</strong>delnde Angelegenheit.<br />

Im Falle des Verhältnisses zwischen <strong>der</strong> Türkei und Armenien wird e<strong>in</strong>e türkische Anerkennung<br />

<strong>der</strong> Tatsache des <strong>Völkermord</strong>es sich vermutlich weitgehend auf e<strong>in</strong>e Normalisierung <strong>der</strong>


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diplomatischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zwischen diesen beiden<br />

Staaten sowie ihre Anb<strong>in</strong>dung <strong>an</strong> und ihre eventuelle E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> die Europäische Union<br />

und e<strong>in</strong>ige politisch-moralische Gesten beschränken, g<strong>an</strong>z <strong>an</strong><strong>der</strong>s <strong>als</strong> im Falle des Umg<strong>an</strong>gs<br />

Deutschl<strong>an</strong>ds und <strong>der</strong> Deutschen mit dem nation<strong>als</strong>ozialistischen Judenmord. M<strong>an</strong> k<strong>an</strong>n dies<br />

<strong>als</strong> e<strong>in</strong>en Ausdruck <strong>der</strong> g<strong>an</strong>z unterschiedlichen Machtverhältnisse zwischen <strong>der</strong> Türkei und<br />

Armenien und dessen Verbündeten betrachten, aber auch <strong>als</strong> Ausdruck des gänzlich <strong>an</strong><strong>der</strong>en<br />

Charakters des dezimatorischen Mordes <strong>an</strong> den Armeniern <strong>als</strong> des exterm<strong>in</strong>istischen Mordes<br />

<strong>an</strong> den Juden. Die Unterscheidung zwischen <strong>Völkermord</strong> und <strong>Völkermord</strong> ist nicht nur wissenschaftlich<br />

unverzichtbar, son<strong>der</strong>n auch politisch relev<strong>an</strong>t.<br />

5 Wissenschaftliche und öffentliche Thematisierung des <strong>Völkermord</strong>es ohne<br />

<strong>politische</strong>n Zw<strong>an</strong>g<br />

E<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nvolle Alternative zur <strong>politische</strong>n o<strong>der</strong> gar gesetzlichen Erzw<strong>in</strong>gung von ausgewählten<br />

<strong>Völkermord</strong>en, die unvermeidlich nach <strong>politische</strong>n Opportunitätserwägungen und Machtverhältnissen<br />

erfolgt o<strong>der</strong> unterlassen wird, ist e<strong>in</strong>e beharrliche wissenschaftliche und öffentliche<br />

Thematisierung von <strong>Völkermord</strong>en ohne <strong>politische</strong>n Zw<strong>an</strong>g, aber mit <strong>politische</strong>r Unterstützung<br />

entsprechen<strong>der</strong> wissenschaftlicher und publizistischer Tätigkeit sowie durch Gedenkver<strong>an</strong>staltungen.<br />

Die l<strong>an</strong>gsame Liberalisierung <strong>der</strong> Türkei und auch <strong>der</strong> historische Abst<strong>an</strong>d<br />

zu dem <strong>Völkermord</strong> <strong>der</strong> Jahre 1915/16, die Internationalisierung <strong>der</strong> wissenschaftlichen<br />

und gesellschaftlichen Kontakte vieler Türken haben bereits e<strong>in</strong>e vorsichtige Verän<strong>der</strong>ung des<br />

wissenschaftlichen, literarischen und publizistischen Umg<strong>an</strong>gs mit e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> dunklen Seiten<br />

<strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Republik Türkei und ihres Vorgängerstaates ausgelöst. Die massenhaften<br />

Trauerkundgebungen von Türken nach <strong>der</strong> Ermordung ihres armenischen Mitbürgers Hr<strong>an</strong>t<br />

D<strong>in</strong>k unter dem Slog<strong>an</strong> „Wir s<strong>in</strong>d alle Armenier“ waren e<strong>in</strong> Meilenste<strong>in</strong> <strong>in</strong> diesem hum<strong>an</strong><strong>politische</strong>n<br />

Lernprozeß. Solche Tendenzen gilt es, behutsam und nachdrücklich zu stärken.<br />

Das Angebot <strong>der</strong> Türkei, die Archive für geme<strong>in</strong>same türkisch-armenische Forschungsprojekte<br />

über die Jahre bis 1918 zu öffnen, sollte aufgegriffen werden, auch wenn bek<strong>an</strong>ntlich bereits<br />

zahlreiche, die osm<strong>an</strong>ische Regierung und ihre Behörden belastende Dokumente wie<br />

sogar die Prozeßakten von 1919/20 verschwunden s<strong>in</strong>d. Während die westlichen Archivmaterialien<br />

bereits gründlich ausgewertet wurden, dürften die ehem<strong>als</strong> sowjetischen noch m<strong>an</strong>chen<br />

Aufschluß über die Vorgänge bei <strong>der</strong> rußländischen Offensive nach Ost<strong>an</strong>atolien und dem<br />

späteren Vorrücken <strong>der</strong> osm<strong>an</strong>ischen Truppen nach <strong>der</strong> Oktoberrevolution enthalten.


© 2012 Egbert Jahn – Zitieren bitte nur unter Angabe <strong>der</strong> Quelle<br />

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6 Die Gefahr <strong>der</strong> Instrumentalisierung des osm<strong>an</strong>ischen <strong>Völkermord</strong>es <strong>in</strong> dem<br />

Streit um den Beitritt <strong>der</strong> Türkei zur Europäischen Union<br />

Über die bereits <strong>an</strong>gesprochenen möglichen allgeme<strong>in</strong>en Folgen e<strong>in</strong>er Anerkennung des <strong>Völkermord</strong>s<br />

für die Innenpolitik <strong>der</strong> Türkei h<strong>in</strong>aus hat die Instrumentalisierung des <strong>Völkermord</strong>s<br />

im Osm<strong>an</strong>ischen Reich <strong>in</strong> dem Streit um den Beitritt <strong>der</strong> Türkei <strong>in</strong> die Europäische Union<br />

e<strong>in</strong>en faden Beigeschmack. Sol<strong>an</strong>ge dieser Beitritt nicht <strong>an</strong>st<strong>an</strong>d, son<strong>der</strong>n nur vage <strong>in</strong> Aussicht<br />

gestellt war, war <strong>der</strong> ittihadistische <strong>Völkermord</strong> ke<strong>in</strong> herausragendes Thema. Die gewachsene<br />

Aufmerksamkeit für denselben ist weit weniger auf die starke armenische Emigrationslobby<br />

<strong>in</strong> Fr<strong>an</strong>kreich und den USA zurückzuführen <strong>als</strong> auf die gewachsene <strong>in</strong>ternationale<br />

Aufmerksamkeit für <strong>Völkermord</strong>e überhaupt. Der nation<strong>als</strong>ozialistische Ermordung <strong>der</strong> Juden<br />

ist erst seit den späten 1960er Jahren e<strong>in</strong> großes öffentliches Thema geworden, die <strong>Völkermord</strong>e<br />

<strong>in</strong> Ru<strong>an</strong>da, <strong>in</strong> Jugoslawien sowie <strong>in</strong> den Kolonien <strong>der</strong> europäischen Mächte sowie <strong>an</strong><br />

vielen <strong>an</strong><strong>der</strong>en Orten haben auch den historischen Rückblick auf den ittihadistischen <strong>Völkermord</strong><br />

begünstigt. Diese neue Sensibilität gegenüber <strong>Völkermord</strong> hat sicherlich auch aufrichtige<br />

Bedenken bei vielen Europäern hervorgerufen, e<strong>in</strong>en Staat <strong>in</strong> die Union aufzunehmen, <strong>der</strong><br />

sich e<strong>in</strong>em wichtigen Abschnitt se<strong>in</strong>er Vorgeschichte nicht stellt. Darüber h<strong>in</strong>aus k<strong>an</strong>n m<strong>an</strong><br />

sich aber nicht des E<strong>in</strong>drucks erwehren, daß das Argument <strong>der</strong> türkischen Nicht<strong>an</strong>erkennung<br />

des <strong>Völkermord</strong>s oftm<strong>als</strong> nachgeschoben wird, seitdem die traditionellen Argumente gegen<br />

e<strong>in</strong>en Beitritt <strong>der</strong> Türkei <strong>in</strong> die Europäische Union (Gefährdung des christlichen Charakters<br />

<strong>der</strong> EU, ungelöste Zypern- und Kurdenfrage, sozioökonomische und rechtsstaatliche Rückständigkeit,<br />

Massene<strong>in</strong>w<strong>an</strong><strong>der</strong>ung von Türken <strong>in</strong> die heutige EU, Steigerung <strong>der</strong> Gefahr islamistischer<br />

Aktivitäten) <strong>an</strong> Zugkraft zu verlieren sche<strong>in</strong>en. Es besteht zu befürchten, daß spätestens<br />

bei den Parlaments- und vor allem bei den Volksabstimmungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen europäischen<br />

Län<strong>der</strong>n über den Beitritt <strong>der</strong> Türkei zur Union die Instrumentalisierung des <strong>Völkermord</strong>es<br />

<strong>an</strong> den Armeniern e<strong>in</strong>e wichtige, vielleicht ausschlaggebende Rolle spielen wird.<br />

Dem könnte nur vorgebeugt werden, <strong>in</strong>dem so früh wie möglich von den liberalen Demokraten<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Türkei wie von <strong>der</strong> <strong>in</strong>formierten europäischen Intelligenz <strong>in</strong> g<strong>an</strong>z Europa <strong>der</strong> Weg<br />

zur behutsamen, aber beharrlichen öffentlichen Aufklärung über die schrecklichen Ereignisse<br />

im Osm<strong>an</strong>ischen Reich während des Ersten Weltkrieges weiter beschritten wird, ohne e<strong>in</strong><br />

nachträgliches Junktim zwischen e<strong>in</strong>er Anerkennung <strong>der</strong> Tatsache des Mordes <strong>an</strong> den Armeniern<br />

und e<strong>in</strong>em Beitritt <strong>der</strong> Türkei zur EU zu for<strong>der</strong>n. Dieser Beitritt sollte nach den allgeme<strong>in</strong>en<br />

Kriterien erfolgen o<strong>der</strong> verweigert werden, die auch für die <strong>an</strong><strong>der</strong>en Beitrittsk<strong>an</strong>didaten<br />

galten und gelten.

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