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Das Gold von Maraskan - Darpatien

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Inhaltsverzeichnis:<br />

<strong>Das</strong> <strong>Gold</strong> <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong><br />

I. Kapitel: Schneesturm über der Sichel.........................................................................................................................................1<br />

II. Kapitel: Der Inquisitor.............................................................................................................................................................18<br />

III. Kapitel: Die Piraten der Blutigen See ....................................................................................................................................38<br />

IV. Kapitel: Die Todesfahrt der Fran-Horas.................................................................................................................................69<br />

V. Kapitel: In Schwarzen Landen ..............................................................................................................................................105<br />

VI. Kapitel: Unter Schmugglern und Freischärlern....................................................................................................................140<br />

VII. Kapitel: Die Fischer der Käferinsel ....................................................................................................................................180<br />

VIII. Kapitel: Mylendijians Klause ............................................................................................................................................209<br />

Epilog: Der Dank des Inquisitors ...............................................................................................................................................280<br />

Anhang: Die Personen................................................................................................................................................................289


I. Kapitel: Schneesturm über der Sichel<br />

Alvan blickte gemütlich gähnend ins Kaminfeuer, das neben ihr prasselte und Wärme sowie arangenfarbenes Licht<br />

in den ansonsten kalten, abgedunkelten Rittersaal warf. Auch wenn die schweren Fensterläden in den friedwanger<br />

Farben längst geschlossen und verriegelt waren spürte sie doch, dass es draußen wieder zu schneien begonnen<br />

hatte. Kein Zweifel, der Winter war mit voller Macht über die Baernfarner Heide hereingebrochen.<br />

Alvans südländisches Gemüt verspürte beim Gedanken an Schnee eine kindliche Freude, so wie ihre Bauern<br />

ihrerseits große Augen bekamen, sobald sie ihnen <strong>von</strong> palmenumsäumten Oasen in der Khomwüste oder dem<br />

südlichen Regenwald mit seinen bunten Vögeln und exotischen Pflanzen erzählte. Nichtsdestotrotz ließ sie ihr<br />

südländisches Gemüt die Kälte grimmer als einen Einheimischen spüren, der Zeit seines Lebens in der Baernfarn<br />

verbracht hatte.<br />

Tatsächlich befand sich das Dorf – ihr Dorf – noch immer in der Baernfarner Heide, wenn auch in deren<br />

nördlichsten Ausläufer. Überhaupt hätte man den Eindruck gewinnen können, man befände sich noch immer auf<br />

dem Gebiet der Baronie Gallys – der ein wenig weidenerisch klingenden Sprache, dem rustikalen Aussehen und<br />

der Firungläubigkeit nach unterschieden sich die Nordenheimer kaum <strong>von</strong> den Bewohnern der Stadt am<br />

Artemaberg, was nicht erstaunlich war, stammten sie doch ursprünglich <strong>von</strong> Auswanderern aus der südlichen<br />

Nachbarbaronie ab. Sogar der Name Nordenheim deutete die – zumindest sumugraphische – Abhängigkeit <strong>von</strong><br />

Gallys an, was Alvan ein wenig erstaunte. Während der Priesterkaiserzeit war eine fromme Legende<br />

aufgekommen, nach der Nordenheim seinen Namen <strong>von</strong> dem heiligen Greifen Nerdan ableitete, der den Heiligen<br />

Alboran in einem Traum zur Auswanderung aus dem „Sündigen Gallys“ aufgefordert haben sollte. Nun, die Edle<br />

wusste, dass die Praioten zu dieser Zeit viele alte schwarzsichler Sagen zu ihren Gunsten verändert hatten, und<br />

wollte auch diese Geschichte nicht recht glauben, zumal selbst dem friedwanger Praiosgeweihten ein Greif dieses<br />

Namens völlig unbekannt war.<br />

In der Rohalszeit hatte man den Dorfnahmen auf die elfische Begrüßung „Nurd´dhao“ – „Gedeihen sei mit Dir“ –<br />

zurückgeführt, eine Deutung, die der Edlen Alvan <strong>von</strong> Baernfarn-Nordenheim, in deren Adern ja zur Hälfte<br />

Elfenblut floß, entscheidend besser gefiel.<br />

Glücklicherweise war heute kaum noch etwas <strong>von</strong> dem Streit zwischen den Erben der Firunheiligen Artema und<br />

dem Praiosheiligen Alboran zu spüren. Im Gegenteil, nachdem der Praiostempel des Ortes am Ende der<br />

Pfaffentyrannei niedergebrannt worden war, stand dort nun ein hölzerner Firuntempel, den der allzeit finster<br />

blickende Geweihte Orchan Erttelgrimm leitete.<br />

Die Nordenheimer unterhielten sich über Ereignisse in Gallys als sei dies der Hauptort ihrer Baronie, schworen bei<br />

der Heiligen Artema und dem Heiligen Alwin und dachten hin und wieder sogar laut darüber nach, ob ihr Dorf<br />

nicht unter Gallyser Hoheit besser aufgehoben wäre. So gesehen hatte Serwa mit der Ernennung einer Baernfarn<br />

zur Edlen <strong>von</strong> Nordenheim im friedwanger Interesse gehandelt, wodurch der „Los-<strong>von</strong>-Friedwang“-Stimmung<br />

Einiger der Wind aus den Segeln genommen worden war – um so mehr, da die unklare Grenzlinie südlich der<br />

Nordenheimer Gemarkung immer wieder zu Reibereien mit den in Gallys residierenden <strong>von</strong> Baernfarns geführt<br />

hatte. Mittlerweile graste das Nordenheimer Vieh weit südlich des Jargel, ohne dass in Jork – dem ersten Dorf auf<br />

der Gallyser Seite der Grenze – deswegen Widerspruch zu hören gewesen wäre.<br />

Die Nordenheimer selbst hatten sie, die Baernfarn, überraschend freundlich aufgenommen, auch wenn sich so<br />

mancher ob ihres Faibles für maraskanische Philosophie fragen mochte, was für absonderliche Riten die Herrin<br />

hinter verschlossenen Türen abhielt – und ob sie damit jenseits der Trollpforte nicht besser aufgehoben wäre...<br />

lediglich im nahen Markt Friedwang wurde sie schief angesehen, wenn sie einmal ihre barönliche Verwandte oder<br />

den dortigen Markt besuchte (entgegen einem weitverbreiteten Irrtum besaß Nordenheim nämlich nicht das<br />

Marktrecht, es gab lediglich einen Handelsplatz in der Nähe, wo der Rotpelz einmal im Jahr seine Waren reisenden<br />

Händlern anbot: Felle, Knochenschnitzereien und dergleichen).<br />

Alvan rückte ein wenig näher ans Feuer heran – Gut Belenburg, benannt nach dem bosparanischen Kastell, auf<br />

dessen Grundmauern es errichtet worden sein sollte, war ein recht zugiger Ort. Draußen nahm der Wind hörbar an<br />

Gewalt zu, fauchte wie ein Rudel wütender Wildkatzen und rüttelte an den Fensterläden. Alvan runzelte die Stirn.<br />

<strong>Das</strong> hörte sich bedenklich nach einem Blizzard an, auch wenn das Wetter noch vor einer Stunde harmlos gewirkt<br />

hatte. Ihr Blick ging zu dem mit rötlichem Rindsleder eingebundenen Büchlein auf dem Tisch, wo sie heute die<br />

letzte große Schuldtilgung eingetragen hatte. Anders als das Dürrejahr 31 Hal hatte der jetzige Götterlauf einmal<br />

eine gute Ernte eingebracht. Langsam aber sicher ging es wieder bergauf, auch wenn für Übermut wahrlich kein<br />

Anlass bestand. Ein strenger und langer Winter war jedenfalls etwas, was die Baronie Friedwang ganz gewiss nicht<br />

gebrauchen konnte: „Ist der Boron stürmisch kalt, wird in der Scheuer das Korn nicht alt“ – so wollte es die<br />

Bauernregel.<br />

1


„Herrin, verzeiht...“ Ein Klopfen an der Tür ließ Alvan hochblicken. Nach einem knappen „Herein“ betrat einer<br />

ihrer Knechte die Stube, dessen gewichtiger Körper die <strong>von</strong> Holzwürmern zerfressenen Dielenbohlen knacken und<br />

knarren ließ. Wie alt die schweren Holzbalken und Bohlen aus dem Schratenwald wohl sein mochten? Gut<br />

Belenburg machte den Eindruck, als habe Satinav es schon vor Jahrhunderten in seinem ursprünglichen Zustand<br />

eingefroren.<br />

„Was ist?“ etwas herrischer als sie beabsichtigt hatte sah die Baernfarn den bärtigen Schwarzsichler an. Nein, es<br />

war keineswegs falsch, gegenüber dem Gesinde die Edelfrau heraus zu kehren, auch wenn ihr als weitgereister<br />

Abenteurerin diese Maskerade etwas unangenehm war. Sofort stand der <strong>von</strong> seinen Eltern mit dem Namen Helme<br />

gestrafte Mann stramm.<br />

„Verzeiht, Euer Wohlgeboren. Aber es wird bald einen Gallysard geben.“<br />

Alvan schmunzelte. „Einen Blizzard, meinst Du wohl.“ <strong>Das</strong>s die Friedwangen immer alles Schädliche mit dem<br />

Namen Gallys in Verbindung bringen mussten. „Ja, dass ein Schneesturm im Anmarsch ist habe ich bereits<br />

bemerkt. Die Narben schmerzen schon seit...“ die Edle räusperte sich. Sie wollte nicht wehleidig klingen, auch<br />

wenn sich vor allem die schwere Wunde aus dem Khomkrieg unangenehm ins Gedächtnis rief.<br />

„Es ist nicht die Weiße Frau, die mir Sorgen bereitet. Dieser Gutshof hat schon einige Schneestürme überstanden,<br />

auch wenn´s diesmal besonders heftig zu werden scheint. Sagt zumindest der alte Travin, und der muss es wissen.<br />

Acht Reto zum Beispiel...“<br />

„Schon gut, acht Reto ist lange her.“ Alvan ließ ihre Stimme ungeduldig klingen. „Also, was gibt es?“<br />

Einige rasch dahinschmelzende Schneeflocken auf den breiten Schultern des Knechts verrieten, dass er noch vor<br />

kurzem im Freien gewesen war. „Gerade eben kam ein Reiter <strong>von</strong> Jork her. Ein Kaiserlicher auf Heimaturlaub –<br />

nach Giessenborn wollte er. Sah aus wie der Herr Firun selbst, der Bart war ganz vereist. Hinter ihm kam es noch<br />

dicker. Sah wirklich übel aus, bei der Heiligen Artema...“<br />

„Schon gut. <strong>Das</strong>s es übel wird wissen wir ja nun. Ich nehme an, dass Xavert und die anderen die Häuser und den<br />

Stall schon verbarrikadiert haben...“<br />

„So ist es, Euer Wohlgeboren. Der Reiter also kam im gestreckten Galopp hierher. <strong>Das</strong> Pferd war völlig fertig<br />

wegen dem vielen Schnee auf dem Weg <strong>von</strong> Jork. Ich dachte erst, der wollte bei uns um Gastung bitten, aber er ist<br />

dann doch weiter in die Alte Brücke. Aber ein paar Worte habe ich doch mit dem Burschen gewechselt. Vom Krieg<br />

gibt es nicht viel neues, nur im Tobrischen, am Kleinwardstein, wird gekämpft, heißt es.“<br />

„Bei der Schönheit der Welt, ich liebe zwar spannende Geschichten am Kaminfeuer, aber du musst nicht<br />

übertreiben. Also was gibt es nun?“<br />

„Verzeiht, Herrin. Der Gardist ist heute Mittag mit dem Pferd aus Jork aufgebrochen. Der Weg war völlig<br />

menschenleer, bis auf eine Wanderin zu Fuß. Die wollte nach Nordenheim, wie er. Und da die bis jetzt noch nicht<br />

hier eingetroffen ist... Ich meine, wegen dem Schneesturm. Wäre nicht das erste mal, dass sich da draußen jemand<br />

verirrt und... Die Eisfee hat schon so manchen in ihr kaltes Bett geholt... Wie gesagt, das ist schon eine Stunde her,<br />

und langsam wird es ungemütlich in der Heide...“<br />

Alvan nickte. „Ich verstehe, Du meinst man sollte nach ihr suchen lassen?“<br />

„Hm, ja, zwischen hier und Jork gibt es keine Gelegenheit mehr, irgendwo unterzukriechen. Man sieht auch kaum<br />

noch den Weg. Dann die vielen Drôlinen und Spalten... Ich würde sagen, Firun meint es nicht gut mit ihr. Mit<br />

diesem Schneesturm konnte aber auch niemand rechnen. Jedenfalls, wenn wir Leute raus schicken, um sie zu<br />

suchen, dann wird das ebenfalls kein Siruplecken. Ich weiß auch nicht, was man da machen kann.“ Helme sah die<br />

Gutsherrin erwartungsvoll an.<br />

Tja, der Gallysard, dachte Alvan. So ein Schneesturm kommt immer dann auf, wenn feuchte kalte Luftmassen vom<br />

Golf <strong>von</strong> Perricum nordwestlich ziehen. <strong>Das</strong> Darpattal aufwärts, über Niederdarpatien hinweg, bietet sich dem<br />

Wind kaum Widerstand, so dass sich Bruder Firuns und Bruder Efferds ungezügelter Zorn auf die Schwarze Sichel<br />

hin entladen können. Und für die Friedwangen heißt dies, dass der Wind halt aus Richtung Gallys kommt. Äußerst<br />

unangenehmes Wetter, das hier am Südrand der Sichel sein kaltes Element zeigt. Nicht zuletzt auch, weil seit dem<br />

Fall <strong>Maraskan</strong>s und dem Verderben der Blutigen See immer der Geruch <strong>von</strong> Tod in der Luft vorhanden ist. Alvan<br />

schauderte. Wie mochte es derzeit auf der Insel im Osten, mit der sie ihr Schicksal verband, aussehen? Alvan schob<br />

den unangenehmen Gedanken beiseite, denn es galt jetzt zu handeln. Der Knecht erwartete eine klare Anweisung,<br />

was zu tun sei. Alvan erteilte nicht gern Befehle, aber sie hatte in leidvoller Erfahrung gelernt, dass man sie als<br />

Edle nicht ernst nahm, wenn sie lediglich eine Bitte aussprach. Zugleich wusste sie, dass sie, wenn sie den Befehl<br />

gab, nach der Geweihten zu suchen, möglicherweise ihre Leute in den Tod schickte. Es war ein wagemutiges<br />

Unterfangen für einen Bauern, sich bei einem solchen Blizzard aus dem sicheren Dorf zu entfernen.<br />

"Wir können eine menschliche Seele nicht in der Kälte umher irren lassen. Es ist unsere Pflicht, Ihr Hilfe zu leisten,<br />

soweit wir dies vermögen."<br />

Der Knecht schauderte. Insgeheim hatte er gehofft, dass die Gutsherrin entschied, man könne der Geweihten nicht<br />

helfen, auch wenn er selbst nicht so recht erwartet hatte, dass die Halbelfe einfach abwartete. Sie wäre nicht die<br />

Tochter Odilons, würde sie einfach die Hände in den Schoß legen wenn eine Seele in Not ist.<br />

2


"Also, geht zuerst in das Gesindehaus. Thalbert soll die Lampen bereiten - und sagt ihm, er soll auch nicht säumen,<br />

zu überprüfen ob sich denn genug Öl darin befinde! Außerdem soll er fünf Bündel für die Suche bereitstellen. Für<br />

jeden ein paar Schneeschuhe, einen warmen Umhang und ein Stück Krumenbrot mit Speck. Und in mein Bündel<br />

soll er eine Flasche Brannt einpacken - die Perainepredigerin wird ihn gebrauchen können."<br />

"Ja, Euer Wohlgeboren. Ich eile"<br />

"Halt noch, Helme! Sag der Küchenmagd bescheid, sie soll auf dem alten Turm (Gut Belenburg verfügte über<br />

einen alten Turm, der in der Gegenwart jedoch nur noch als Lager diente) ein Feuer errichten. Es mag als<br />

Wegweiser dienen, damit es leichter fällt, den Weg nach Nordenheim zu finden. Danach gehst Du zum<br />

Erttelgrimm. Er soll ein Gebet für die verlorene Perainegeweihte sprechen, und für uns, die nach ihr suchen.<br />

Außerdem sage ihm, dass ich ihn bitte, mich auf der Suche zu begleiten. Wohlgemerkt, ich bitte ihn. Ich befehle es<br />

niemanden, mich auf so eine gefahrvolle Suche zu begleiten. Und dann fragst Du die Dorfbewohner, die Dir<br />

geeignet erscheinen, mir auf der Suche zu helfen. Zwei oder drei dürften genügen. Sag ihnen ebenfalls, dass ich sie<br />

bitte, nicht aber ihnen befehle, mit mir zu kommen. Ich kann ihnen nicht mehr in Aussicht stellen als meine<br />

Dankbarkeit und eine Flasche Heidebrannt aus meinen Vorräten. Frag, wer immer Dir geeignet erscheint. Elfische<br />

Bürger wohnen ja genug in der Gegend, die sich in der Wildnis auskennen. Oder frag den Jäger, der in der<br />

schwarzen Hütte wohnt. Ach was, du kennst die Dörfler ja selbst."<br />

Helme deutete eine kurze Verbeugung an und eilte zur Tür, den ihm gestellten Auftrag zu erledigen.<br />

Alvan wandte ihren Blick zu Sigismund, ihren Gast, der in der Zwischenzeit noch etwas Holz in den Kamin<br />

nachgelegt hatte und der Unterredung seiner Verwandten mit Helme schweigend gefolgt war.<br />

"Natürlich werde ich Dich begleiten, meine Liebe." Es war Kavalierspflicht, eine Dame mit einer solchen Aufgabe<br />

nicht alleine zu lassen. Aber im Inneren war ihm alles andere als wohl bei dem Gedanken, in diese firunische Kälte<br />

hinauszugehen. Er hatte sich seinen Besuch bei Alvan anders vorgestellt. Anstatt gemütliche Stunden am<br />

Kaminfeuer bei einem guten Wein zu verbringen - oder auch ohne Wein in der Schlafstatt - ging Alvan emsig auch<br />

im Boron ihrem Tagesgeschäft nach und unternahm in ihrer freien Zeit auch noch Jagdausflüge. Dennoch war es<br />

eine Regel der hohen Minne, auch in dieser Situation, die ihm Unbehagen verursachte, der Angebeteten zur Seite<br />

zu stehen.<br />

Doch Alvan schüttelte den Kopf - und Sigismund atmete auf. "Nein, lieber Vetter. Du bleibst besser hier und sorgst<br />

dafür, dass das Gesinde meine Anweisungen erfüllt und vor allem, dass das Feuer auf dem Turm gut geschürt wird.<br />

Draußen im Wald wärst Du ohnehin keine Hilfe für mich." Mit ihrer direkten und teilweise uncharmanten Art,<br />

dachte Sigismund, würde Alvan auf dem Parkett einer Garether Festlichkeit keine gute Figur abgeben. Er folgte der<br />

Edlen in ihre Gemächer, wo sich diese ihres ansehnlichen, aber für einen Schneesturm wahrlich ungeeigneten<br />

Kleides entledigte, und aus der großen Truhe ein geeigneteres Gewand fischte. Sigismund wandte seinen Blick<br />

zwar höflich zur Seite, aber dennoch entging ihm aus den Augenwinkeln nicht der Anblick der exotisch-gebräunten<br />

Haut Alvans, ihrer zierlich-anmutigen Gestalt und ihres straffen schlanken Bauches, in deren Nabel sich ein Ring<br />

befand.<br />

Die Halbelfe legte eine pelzbesetzte lederne Hose und einen dicken wollenen Wams an. Weiter griff sie nach<br />

Umhang, Fellmütze und Fäustlingen und schlüpfte in ihre festen Lederstiefel. Wie kann man sich nur in solch<br />

unförmige Stoffe kleiden, dachte Sigismund bei sich. Überhaupt, der ganze Besuch hier in Nordenheim verlief<br />

nicht so, wie er sich das gewünscht hätte. Er war nun schon seid dreieinhalb Wochen hier, und auch wenn die<br />

Halbelfe gegen seine leidenschaftlichen Küsse und innigen Umarmungen nichts einzuwenden hatte - sofern dies<br />

nicht in der Öffentlichkeit geschah - so hatte sie es ihm noch nicht gestattet, das Lager mit ihm zu teilen. Noch<br />

niemals zuvor war ihm so geschehen, dass er trotz höchster Minnekunst und trotz des sichtbaren Gefallens der<br />

Dame an seiner Person noch immer zurückgewiesen wurde.<br />

"Alsdann, preise die Schönheit, Bruderschwester!" der kurze Abschied Alvans war Sigismund zugedacht. Dann<br />

ging sie in den großen Saal, um zu sehen, welche Freiwilligen Helme aufgetrieben hatte.<br />

Tatsächlich stand hier schon das kleine Trüppchen, das Helme in der Zwischenzeit zusammen getrommelt hatte<br />

und entzündete nacheinander die Öllampen. Die meisten sahen verlegen drein und lauschten dem Gallysard, der<br />

nun das Haupthaus wie eine Horde brüllender Orken berannte. Niemandem war wohl bei dem Gedanken, dort<br />

hinauszugehen, jetzt, wo der Sturm anscheinend erst richtig Luft holte. Da draußen würden bald die Niederhöllen<br />

losbrechen -schmerzende Kälte, Myriaden <strong>von</strong> Eiskristallen, die wie Dämonenkrallen jedes Stückchen freier Haut<br />

zerfetzten, dazu ein ohrenbetäubendes infernalisches Kreischen und völlige Finsternis. Es grenzte an Wahnsinn,<br />

dem Unheil auch noch entgegenzugehen.<br />

Dennoch, jeder Baernfarner wusste, was es bedeutete, in einer solchen Lage einsam und götterverlassen<br />

herumzuirren, so dass die Zahl der Freiwilligen sogar etwas größer war als erwartet. Mit ernstem Blick, wie eine<br />

Offizierin vor einem gefährlichen Stoßtruppunternehmen musterte Alvan die Angetretenen. Die beiden Hirsbach-<br />

Brüder waren mit dabei, das war schon einmal ein beruhigendes Gefühl. Auf die kräftigen, zupackenden und vor<br />

allem ortskundigen Burschen konnte Alvan sich jederzeit verlassen.<br />

3


Auch der Barönliche Forstwart, der Jäger in der Schwarzen Hütte, wie er auch genannt wurde, war mit <strong>von</strong> der<br />

Partie. Einen Moment lang musste die Edle schmunzeln. Damian Firunsdank war nicht unbedingt ein gewöhnlicher<br />

Vertreter seines Standes - wenn er einmal zu reden begonnen hatte, hörte er so schnell nicht mehr auf. Es gab das<br />

Gerücht, dass er als Kind in Quasselwurzelabsud gefallen sei, andere behaupteten, dass er im Schratenwald einmal<br />

einem gehässigen Kobold begegnet sei, der ihm die Schwatzwut angehext habe. Wie auch immer, selbst<br />

Firunsdank war ob der tobenden Naturgewalten schweigsam wie ein Borongeweihter.<br />

Alvans Blick glitt weiter zu einem hübschen, braunhaarigen Mädchen, dessen Pelzumhang mit auffallend bunten,<br />

firungefälligen Stickereien übersät war: Missila, die Novizin des Firuntempels. Der Geweihte würde den Suchtrupp<br />

also nicht selbst begleiten. Im Grunde hatte Alvan nichts anderes erwartet. Der Firungeweihte war der Ansicht,<br />

dass jemand, der sich der Natur nicht selbst erwehren konnte, keine fremde Hilfe erwarten durfte. Firun tötete eben<br />

alles Schwache und Lebensunfähige. So gesehen war es noch sehr entgegenkommend <strong>von</strong> Erttelgrimm, dass er<br />

überhaupt jemanden geschickt hatte.<br />

Die bäuerlich wirkende Frau hinter Missila kannte Alvan nur vom Sehen, sie sah aber ganz zuverlässig aus. Einen<br />

Elfen konnte sie nicht entdecken, was bedauerlich war, denn Magie hätte die Suche um einiges erleichtert. Aber das<br />

Alte Volk hatte sich nach dem Massaker <strong>von</strong> Loskarnossa selbst in der Nordenheimer Gegend rar gemacht.<br />

Die Gesichter sahen sie erwartungsvoll an, und Alvan überlegte sich, was sie den Leuten sagen sollte. Viel zu reden<br />

gab es eigentlich nicht, die Situation war offensichtlich. Irgendwo an einem Nebengebäude knallte ein<br />

Fensterladen, der sich losgerissen hatte, in einem düsteren Takt gegen die Wand - es klang wie die Trommel auf<br />

dem Gang zur Hinrichtung.<br />

"Ich danke euch, dass Ihr meiner Bitte gefolgt seid. Da draußen... ah, dieses verfluchte Ding. Helme, sieh nach, ob<br />

du den Laden wieder irgendwie fest kriegst. Danach hilfst du oben beim Feuer - bring ihnen das restliche<br />

Lampenöl, sonst werden sie es wohl nicht zum Brennen bringen."<br />

Der Knecht, dankbar, nicht mit hinaus in die weiße Hölle geschickt zu werden, machte sich mit einem knappen<br />

Nicken da<strong>von</strong>. Nun wandte sich die Edle wieder dem Trupp zu. Fünf Bündel lagen auf dem Tisch - das bedeutete,<br />

dass einer zu viel war. "Alwin, du bleibst hier" entschied sie kurzentschlossen und wies auf den jüngeren der<br />

beiden Hirsbachs. In dessen Gesicht machte sich fast so etwas wie Empörung breit.<br />

"Ich danke dir für deine Hilfsbereitschaft, aber wir haben nur Ausrüstung für fünf." Nein, es war besser, wenn<br />

lediglich Randolf, der Ältere und Erfahrenere sie begleiten würde. Der alte Hirsbach hatte nur noch seine zwei<br />

Söhne, nachdem die übrigen Kinder dem Krieg und der Seuche zum Opfer gefallen waren. Er sollte im<br />

schlimmsten Fall nicht beide verlieren. . .<br />

"Nun denn. Die Zeit drängt. Lasst uns jetzt aufbrechen. Missila, könntest du für uns ein Gebet sprechen? "<br />

Die Novizin nickte und schlug das Zeichen des Bogens. "Firun, Weißer Jäger, wir bitten dich, steh uns bei und<br />

verschone uns und die geweihte Frau vor deinem Zorn." Auch die übrigen Nordenheimer zeichneten das<br />

Firnszeichen in die Luft, murmelten leise Gebete. Nach einer strengen Ermahnung der Gutsherrin, eng hinter<br />

einander zu bleiben, gingen die fünf nach draußen...<br />

Wie eine Faustkämpferin, die schon in der ersten Runde <strong>von</strong> einem überlegenen Gegner mit Fausthieben<br />

überschüttet wurde, prallte Alvan vor dem Toben der Elemente zurück. Binnen Herzschlägen hatte die sewerische<br />

Kälte ihren Mantel und den Wams durchdrungen und begann, ihre Glieder zu martern. Wie Hagel schlug der<br />

fauchende Schnee in ihre Wangen, die zum Glück schon nach wenigen Augenblicken steifgefroren waren und<br />

kaum noch Schmerzen empfanden. Wie ein Frostwurm, wie ein einziger gigantischer Eisdrache kam ihr diese<br />

Urgewalt <strong>von</strong> Sturm vor.<br />

Halbblind, Schritt vor Schritt, stapfte die Gruppe in den Gallysard hinein. Der Schnee roch nach kaltem Tod und<br />

Verwesung, wie ein fäulnisgetränktes Leichentuch, dass man immer wieder ins Gesicht geschlagen bekam.<br />

Mund und Nase mit einem Schal vermummt, die eisumrandeten Augen mit der Hand bedeckt, sah sich Alvan um.<br />

Nordenheim auf der anderen Seite des Jargel war kaum noch als Schattenriß zu erahnen und sah zwischen den<br />

wirbelnden Schneemassen aus wie ein letzter Außenposten der Zivilisation irgendwo am Rande der Brecheisbucht.<br />

<strong>Das</strong> Feuer auf dem Turm brannte noch immer nicht, aber darauf konnte Alvan nicht warten.<br />

Im Grunde gab es jetzt schon kaum Hoffnung, dass die Perainegeweihte noch lebte, es sei denn, sie trug winterfeste<br />

Kleidung, womit ob des freundlichen Wetters der letzten Tage aber nicht zu rechnen war.<br />

Die Baernfarn gab einen Wink, und ihre Begleiter stapften weiter voran. Im Grunde war die Orientierung gar nicht<br />

einmal so schwer - man musste sich immer nur geradewegs in den peitschenden Schnee vorkämpfen, der ja fast<br />

direkt aus Richtung Jork kam - aber der Gedanke an die vielen Löcher und Spalten zu beiden Seiten der<br />

Landstrasse machten Alvan doch einige Sorgen. Nur nicht allzu sehr vom Weg abkommen. . .<br />

Die Zeit verstrich, aber Alvan verlor bald ebenso jedes Gefühl für Satinavs Element, wie sie auch ihre Glieder<br />

kaum noch spürte. Irgendwie kam sie sich vor wie eine durchgeschüttelte Figur in einer dieser mit<br />

schneeähnlichem Pulver gefüllten Glaskugeln, die sie einmal in der Auslage eines Spielzeugladens gesehen hatte.<br />

4


Irrlichtern gleich flackerten die Öllampen gegen den Sturm an, der eisig an ihren Trägern zerrte und sie zu Boden<br />

zu drücken versuchte. Bald musste Alvan der Versuchung nachgeben, sich nicht einfach fallen zu lassen und<br />

auszuruhen - sie wusste, dass sie dann nicht mehr aus eigener Kraft aufstehen würde.<br />

Also biss sie hinter dem steifgefrorenen Wollschal die Zähne zusammen und brüllte gegen den Sturm an, verfluchte<br />

ihn, forderte ihn heraus und fühlte sich doch nur wie ein Zwerglein, das sich ängstlich vor dem über alles<br />

hinwegdonnernden Giganten duckte.<br />

Zwei der fünf Lampen waren bereits zersprungen und erloschen - kein Wunder, für diese Kälte und den Winddruck<br />

war das Glas einfach nicht geschaffen. In der Khom hatte Alvan einmal einen der schweren Sandstürme überlebt,<br />

aber darin fror man wenigstens nicht. Hier schienen sich sämtliche Elemente gegen die Handvoll Menschlein<br />

verschworen zu haben, die durch das wirbelnde weiße Nichts taumelten.<br />

Eine Zeitlang bewegte sich Alvan einfach nur noch besinnungslos vorwärts, bis ein Klirren sie in die Realität<br />

zurückholte. Auch ihre Lampe war zersprungen. Sie drehte sich nach hinten um, um sich ein anderes Licht reichen<br />

zu lassen. Immerhin stellte sie dabei fest, dass ihr kleiner Trupp noch vollzählig war.<br />

Nun denn, bisher hätte es auch schlimmer kommen können. Langsam erwachte in Alvan die Abenteuerlust.<br />

Gehörte nicht auch dieser peitschende Sturm zu der Schönheit der Welt?<br />

Mit der neuen Lampe in der Hand ging Alvan weiter. Der Sturm schien nun etwas nachzulassen, Kraft zu schöpfen.<br />

Immerhin konnten nun auch sie etwas durchatmen und Zeit gutmachen. Waren sie überhaupt noch auf dem Weg?<br />

Aber wie hätte man den unter schritthohem Schnee erkennen sollen?<br />

Es war mehr ein Gefühl des Erstaunens als wirklicher Schreck, den Alvan verspürte, als unter ihr der Schnee<br />

nachgab und sie schräg nach unten wegrutschte. Alvan fluchte, was der Lampe galt, die ihr aus der behandschuhten<br />

Hand geglitten war und nun irgendwo in der Tiefe zersplitterte. Dann schlitterte sie auch schon hinterher.<br />

Immerhin, die dicke Winterkleidung, das Bündel auf dem Rücken und die sperrigen Schneeschuhe schützten sie<br />

auf dem erschreckend langen Weg nach unten - besser, als es ein Kettenhemd vermocht hätte. Erst die letzten paar<br />

Schritt waren unangenehm hart und steil. Alvan krachte mit dem Kopf gegen eine Eisplatte oder einen Stein, dann<br />

wurde um sie alles schwarz...<br />

Wenig später erwachte sie wieder aus ihrer Benommenheit, und sah nach oben. Licht flackerte herein, die grellen<br />

Rufe ihrer Begleiter drangen an ihr Ohr. Bis auf ein paar Prellungen, Abschürfungen und blauen Flecken war sie<br />

unverletzt. Lediglich den einen Schneeschuh hatte es völlig zertrümmert und der gute Branntwein war ebenfalls<br />

futsch.<br />

Alvan stand auf, zog den anderen, ebenfalls lädierten Schneeschuh aus und hinkte mit schmerzverzerrtem Kopf zu<br />

der Spalte, wo das Lampenlicht mitsamt dem Schnee hereinfiel. Es ging verdammt weit hinauf, aber wenigstens<br />

nicht steil, sondern in sanften Übergängen, was ihr neben der dicken Vermummung und einigem Glück die<br />

Knochen, wenn nicht das Leben gerettet hatte.<br />

Mit einem knappen "Hier bin ich! Alles in Ordnung!" beruhigte sie den Jäger, der oben aufgeregt herum<br />

gestikulierte. Alvan zog die Handschuhe aus und prüfte die Grifffestigkeit des Gesteins. Bald merkte sie, dass sie<br />

hier mit Kletterkünsten allein nichts auszurichten vermochte.<br />

Der Kalkstein war glatt ausgewaschen und zusätzlich mit einer dünnen Eisschicht bedeckt, was ihren Sturz<br />

einerseits mehr zu einer Rutschpartie als einen freien Fall gemacht hatte, andererseits aber nun verhinderte, dass sie<br />

wieder herausklettern konnte. Bis nach oben mochten es gut fünf, eher sechs Schritt sein.<br />

Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, ein Seil in eines der Bündel zu packen - ein verdammter<br />

Anfängerfehler, den man als weitgereiste Abenteurerin nicht begehen sollte. <strong>Das</strong> sah ihr ähnlich - den Khomkrieg<br />

hatte sie mehr oder weniger heil überstanden, aus dem südlichen Regenwald war sie wieder herausgekommen, nur<br />

um hier ein, zwei Meilen <strong>von</strong> der Haustür entfernt in der Falle zu sitzen.<br />

Immerhin, hier unten war es etwas wärmer und vor allem windstiller als oben, wo der Sturm nun wieder an<br />

Heftigkeit zunahm, was jede Verständigung mit ihren Begleitern unmöglich machte. Da oben musste nun die<br />

Vierte Dämonenschlacht toben.<br />

Alvan entzündete ein Stückchen Zunder und sah sich in ihrem Gefängnis um. Die kleine Kalksteinhöhle glänzte<br />

und glitzerte wie eine Gletscherspalte, so dass die Edle trotz des spärlichen Lichts erstaunlich weit sehen konnte.<br />

Tatsächlich, der Riss in Sumus Leib schien weiter nach unten zu führen, auch wenn es sehr eng wurde. Neugierig<br />

geworden, zwängte die Edle ihren Kopf hinein. Tatsächlich, hier gab es so etwas einen natürlichen Gang, auch<br />

wenn selbst ein Zwerg Schwierigkeiten gehabt hätte, hier durch zu kommen. Alvan suchte die Lampe und<br />

entzündete sie aufs Neue. Dann folgte sie, auf allen Vieren kriechend, den Gang. Immerhin, sie war eine grazile<br />

Halbelfe, kein plumper Zwerg, und nicht gewohnt, in alten Stollen herum zu stöbern.<br />

Der Gang erweiterte sich rasch, so dass sie bald, wenn auch geduckt, aufrecht gehen konnte. Schließlich hörte sie<br />

aus der Ferne Stimmen, wenn auch durch die Felswände gedämpft und verzerrt. Nun erwachte Alvans<br />

Abenteurerinstinkt und rasch huschte sie zum Gangende, das sich vor ihr abzeichnete. Tatsächlich, nun konnte sie<br />

auch unsteten Feuerschein wahrnehmen. Vorsichtshalber löschte sie ihre Lampe und schlich sich näher.<br />

5


Wie sie erwartet hatte, befand sich am Gangende eine Höhle, wo ein kleines Lagerfeuer prasselte (seltsam,<br />

Feuerholz gab es in der Heide eigentlich nicht. Also musste sich der Schratenwald ganz in der Nähe befinden).<br />

Vorsichtig lugte Alvan um die Ecke. Am Feuer saßen drei, nein vier rotpelzige Gestalten, brieten irgendein<br />

Wildbret, zischelten, lispelten und brummten wild durcheinander. Ein widerwärtiger Geruch nach nassem Fell und<br />

Kot verpestete die Luft. In einer Ecke saß eine größere Gestalt, eine Frau. Die Perainegeweihte?<br />

Dummerweise konnte Alvan <strong>von</strong> ihrem Standpunkt aus nicht allzu viel <strong>von</strong> dieser fünften Person erkennen.<br />

Gefesselt schien sie jedenfalls nicht zu sein, aber fliehen hätte sie bei dem Wetter ohnehin nicht können.<br />

Auch wenn die Goblins abgelenkt schienen - sie wühlten in einer Umhängetasche herum und zankten sich lautstark<br />

um den Inhalt - wollte die Edle lieber in Deckung bleiben.<br />

Dem Flackern des Feuers nach zu urteilen, musste sich auf der anderen Seite ein Ausgang ins Freie befinden. Mit<br />

ihren scharfen Ohren glaubte sie tatsächlich das Heulen des Sturms zu hören - oder spielten ihr die gepeinigten<br />

Sinne einen Streich?<br />

Es half alles nichts, sie musste herausfinden, um wen es sich bei der Gestalt in der Ecke handelte. Also trat sie<br />

einen Schritt aus dem Schatten hervor, und bereute es sofort, als einer der Goblins just in diesem Moment aufstand<br />

und ein Stück Holz ins Feuer legte. Hätte er dabei in ihre Richtung geblickt, sie wäre ohne Zweifel entdeckt<br />

worden. Hastig zog sie sich wieder ins Dunkel zurück.<br />

Immerhin hatte sie die vier Goblins nun etwas genauer betrachten zu können. Den Stammeszeichen auf ihrer<br />

Lederkleidung nach zu urteilen war es ein Trupp Njakuul, die gerade jetzt, im Winter, ausgedehnte Streifzüge<br />

unternahmen, um etwas zum Beißen zu organisieren. In einem aus krummen Holzstangen zusammengefügten<br />

Käfig gackerten einige Hühner, die vermutlich schon irgendein Bauer aus Jork schmerzlich vermisste. Aus einem<br />

schmutzigen Sack waren einige getrocknete Äpfel, Eier sowie ein fauliger Kohlkopf gerollt - goblinische<br />

Jagdbeute! Mehr hatte sie in der kurzen Zeit nicht ausmachen können.<br />

Zu allem Überfluss ging der Goblin, der gerade aufgestanden war, auf Alvans Versteck zu, um sich dann in<br />

Griffweite neben sie in eine Höhlennische zu kauern.<br />

Einige unzweifelhafte Geräusche und ein übler Geruch verrieten, was er dort machte. Grunzend riss der Rotpelz<br />

eine Seite aus einem Büchlein, dass er in seinen Händen hielt und wie ein Scholarius auf der Latrine<br />

durchgeblättert hatte, bevor er sich damit den Hintern abwischte. Einen Herzschlag lang konnte Alvan einen Blick<br />

auf den Inhalt erhaschen: Zeichnungen <strong>von</strong> Pflanzen und Kräutern, sowie einige Schriftzüge, die wie Eintragungen<br />

<strong>von</strong> Rezepten aussah. Also war die Gefangene am anderen Höhlenende vermutlich wirklich die vermisste<br />

Perainedienerin.<br />

Alvan überlegte sich schon, ob sie den abgelenkten Rotpelz packen und mit einem Schlag auf den Kopf ausschalten<br />

sollte - er saß wirklich verlockend nahe neben ihr - da zog dieser seine Lederhose wieder hoch und kehrte zu seinen<br />

Gefährten zurück. Die waren mittlerweile über das Kaninchen hergefallen, das an einem Stock über dem Feuer<br />

kokelte, und bewiesen schmatzend und knurrend, woher der Ausdruck "goblinische Tischmanieren" stammte.<br />

Nun musste sie erneut eine Entscheidung treffen. In dieser Höhle ließ sich der Schneesturm gut überstehen, aber<br />

zuvor musste sie irgendwie ihren Begleitern bescheid geben, die draußen sicherlich schon am Erfrieren waren.<br />

Außerdem gab es noch die Goblins...<br />

"Nun eile sie sich" herrschte Sigismund die Magd an. "<strong>Das</strong> Feuer muss hell brennen, damit es auch durch den<br />

Sturm hin weit zu sehen ist" Die Magd goß etwas Öl auf die bereiteten Holzscheite. Zudem hatte sie den guten<br />

Gedanken gehabt, etwas Glut aus dem Kamin mitzunehmen. Damit und mit dem Öl sollte es ihr wohl gelingen,<br />

trotz des Sturmes ein Feuer zu entfachen. Wenn ihr nur der wichtigtuerische Verwandte ihrer Herrin nicht<br />

andauernd im Wege stehen würde. Der Mann war ihr vom ersten Augenblick an unsympathisch gewesen mit seiner<br />

ständig schäkernden Art. Mochte der Karnmann wissen, welchen Grimmbären ihre Herrin gerade an dem gefressen<br />

hatte. Die Magd gab keine Antwort, sondern entzündete das Feuer, was ihr nach drei Versuchen endlich gelang.<br />

Während die anderen drei ratlos neben dem Loch standen, in dem die Baernfarn verschwunden war, behielt die<br />

Novizin des Wintergottes einen klaren Kopf. Sie blickte in die Tiefe, wo sich eine schemenhafte Gestalt regte. Die<br />

Edle war also unverletzt. Und das Loch war wohl nicht mehr als sechs Schritt tief. Also keine größere<br />

Schwierigkeit, wie man vermuten mochte. Missila bemerkte wohl, dass Alvan sich vergeblich mühte, aus dem<br />

Loch zu klettern. So ging das natürlich nicht. Aber als mit der Wildnis der Sichel vertraute Firuni wusste sie, was<br />

zu tun war. So leichtfertig wie die südländische Edle war sie natürlich nicht in das Unwetter aufgebrochen.<br />

Der Sturm nahm an Heftigkeit zu, so dass sogar Missila fröstelte. Außerdem, das wurde ihr jetzt offenbar, waren<br />

sie vom Weg abgekommen. Denn ein derart großes Loch, so nahe am Weg, hätte sie wohl gekannt. Aber das hieß<br />

auch, dass der Schratenwald nicht weit war, vielleicht gar nur wenige Schritt entfernt.<br />

Missila mußte laut schreien, damit ihre Begleiter sie trotz des Sturmes verstehen konnten. <strong>Das</strong> Heulen und Jaulen<br />

des Sturmes hatte ein enormes Maß angenommen. Sie gab den anderen zu verstehen, dass sie sich ihrer Gürtel<br />

entledigen sollten. Vier Gürtel zusammen verbunden ergaben wohl ein improvisiertes Seil <strong>von</strong> viereinhalb bis fünf<br />

Schritte Länge. Ausreichend, dass die Edle das untere Ende ergreifen und daran hoch klettern konnte. Randolf und<br />

6


Damian sollten das obere Ende festhalten, die beiden waren schließlich kräftige Männer. Und wenn auch nur die<br />

Hälfte der Geschichten stimmte, die man sich über die Abenteuer der Edlen in der Khomwüste und in <strong>Maraskan</strong><br />

erzählte, dann dürfte es Alvan nicht schwer fallen, sich an einem Lederstrick emporzuziehen.<br />

Alvan schauderte. Nun, sie hatte die Geweihte gefunden, aber was half ihr das? Sie war gefangen in einer Höhle,<br />

ihre Gefährten froren vermutlich erbärmlich, und gegen die vier Goblins musste ihr erst noch etwas einfallen. Ihren<br />

Dolch hatte sie dabei, den Göttern war’s gedankt. Aber Missila war natürlich ohne Bogen aufgebrochen; immerhin<br />

hatte sie aber ihr Jagdmesser bei sich, wie die Edle gesehen hatte. Randolf war gewiss kräftig, aber unbewaffnet.<br />

Und ob der Jäger und die Bäuerin eine Waffe bei sich trugen, wusste sie nicht, vermutlich eher nicht oder allenfalls<br />

ein Messer. Vier kräftige Goblins waren allzumal ernstzunehmende Gegner. Und sie war sich auch nicht sicher, ob<br />

sich vielleicht noch mehr in der Höhle oder in der Nähe da<strong>von</strong> herumtrieben. Andererseits: Bei den Rotpelzen hatte<br />

sie ebenfalls keine Waffen gesehen (oder doch? aber etwas Größeres als ein Messer wäre ihr bestimmt aufgefallen),<br />

und sie waren einer mehr, hatten den Überraschungsmoment auf ihrer Seite und konnten vielleicht auch noch auf<br />

die Hilfe der Geweihten zählen. Nicht zuletzt waren die Rotpelze ja für ihre Furchtsamkeit bekannt, vielleicht ließ<br />

sich darauf eine Strategie aufbauen.<br />

Indes toste draußen der Sturm. Die scharfen wirbelnden Eiskristalle scheuerten die Gesichtshaut der Wartenden<br />

wund. Damian ließ das Ende des improvisierten Seiles in das Loch herab. Alvan ergriff es und zog sich daran<br />

empor.<br />

"Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Euch. Die Geweihte befindet sich in der Höhle, und die<br />

Gefahr des Erfrierens droht ihr nicht. Allerdings befindet sie sich in der Gewalt <strong>von</strong> vier Njakuul." begann die Edle<br />

ihren Bericht. Dann beratschlagten sie was zu tun sei. Schließlich schickte Alvan Missila in die Richtung, wo sie<br />

den Eingang der Höhle vermutete, um dort die Goblins auszuspähen. In Gedanken hatte sie schon einen Plan<br />

erdacht, aber sie wollte erst wissen, wie es am Eingang der Höhle aussah. Dann würde sie Missila, Damian und die<br />

Bäuerin zum Eingang schicken; sie selbst würde mit Randolf in die Höhle herabsteigen. Dann würden sie<br />

gleichzeitig <strong>von</strong> beiden Seiten losschlagen. Mit einer Wache am Höhleneingang war eigentlich nicht zu rechnen,<br />

denn welcher Rotpelz erwartete schon bei einem solchen Schneesturm, dass die Schwarzsichler etwas anderes taten<br />

als sich am heimischen Kaminfeuer zu wärmen. Aber sie wollte sicher gehen.<br />

Alvan kalkulierte darauf, dass bei einem zeitgleichen Losschlagen Damian und Randolf je einen Rotpelz in einem<br />

Überraschungsschlag ins Reich der Träume schicken könnten. Als Waffe, so die beiden nicht selbst eine mit sich<br />

führten, würde ein Stein ausreichen, <strong>von</strong> denen genügend in der Höhle herum lagen. Es war damit zu rechnen, dass<br />

mindestens einer der beiden Erfolg haben würde.<br />

Zugleich würden sie und Missila mit ihren Dolchen je einen weiteren Goblin attackieren und nach Möglichkeit<br />

überwältigen. Je nach Situation den Rotpelz mit einem Messer an der Kehle oder am Bauch (Alvan war ja eine so<br />

zierliche Person) bedrohen und überwältigen, oder, wenn es gar nicht anders ging, Bruder Boron überantworten.<br />

Alvan schauderte bei diesem Gedanken. Auch hierbei rechnete sie damit, dass entweder sie oder Missila<br />

erfolgreich sein wird. Die Bäuerin Amanda würde als Ass im Ärmel dort eingreifen, wo es ihr am hilfreichsten<br />

erschiene. Nach diesem Überraschungsschlag müssten sie mit vereinten Kräften noch zwei verbleibenden<br />

Rotpelzen gegenüberstehen, was diese normalerweise zum Aufgeben bewegen dürfte, wenn man ihnen versprach<br />

sie zu verschonen. Aber es hing da<strong>von</strong> ab, was Missila am Höhleneingang erspähte. Vor allem hinsichtlich der<br />

endgültigen Anzahl und Bewaffnung der Rotpelze. Danach hieß es, die eigene Bewaffnung zu überprüfen. Da fiel<br />

ihr etwas ein. Die kräftige Bäuerin trug ja einen langen Ledergürtel mit schwerer Schnalle. Die Eisenschnalle,<br />

kräftig und genau geschwungen, war eine gefährliche Waffe und einem Dolch oder Kurzschwert allemal<br />

ebenbürtig. Sie erinnerte sich daran, wie sie im Khomkrieg einen Al`Anfanischen Söldner auf diese Weise einmal<br />

zu Bruder Boron geschickt hatte mit ihrem Gürtel. Nun, jetzt hieß es erst einmal abwarten, was Missila erspäht<br />

hatte.<br />

Es dauerte eine kleine Ewigkeit bis Krusa Missila (das Mädchen wurde einmal mit ihrem einen, mal mit dem<br />

anderen Vornamen angesprochen, so dass Alvan sie zunächst für zwei unterschiedliche Novizinnen gehalten hatte)<br />

wieder als dunkler Schemen aus dem Schneetreiben auftauchte. Der Wind riß ihr die Worte <strong>von</strong> den blaugefrorenen<br />

Lippen, so dass es noch einmal eine ganze Weile dauerte, bis Alvan verstand, dass ihre Kundschafterin tatsächlich<br />

den Höhleneingang gefunden hatte, bis auf einen kleinen Schlitz schon ganz unter Schnee verborgen. Von einer<br />

Wache sei nichts zu sehen gewesen.<br />

"Also gut... dann ma... wir es... wie besprochen... Damian, Aman... geht mit... ila... zum Eingang... greifen <strong>von</strong> zwei<br />

Seiten an... aber lasst uns erst wieder... hinunter!" Alvan deutete auf den Spalt.<br />

Ungelenk schlitterte Randolf am improvisierten Seil in die Tiefe. Aber auch Alvan rutschte mehr, als dass sie<br />

kletterte. Die Kälte und die Müdigkeit machten ihr zunehmend zu schaffen. Zwar war sie es als ehemalige<br />

Seesöldnerin gewohnt, trotz Sturm und Schlachtenlärm schwierige Entscheidungen zu treffen, aber mittlerweile<br />

hatte der niederhöllisch kalte Wind jeden klaren Gedanken in ihrem Gehirn zu Eisstaub zerblasen. Wenn sie daran<br />

dachte, wie viele Unwägbarkeiten auch nur ein derart schlichter Plan wie der ihre beinhaltete, bewunderte sie<br />

Heerführer, die ganze Armeen mit einigen wenigen Befehlen in die richtige Richtung zu dirigieren vermochten.<br />

7


Schließlich verließ sie die Kraft, der Gürtel glitt ihr aus den behandschuhten Händen. Unten landete sie mehr oder<br />

weniger sanft im Schnee und den Armen des jungen Hirsbach - zum Glück hatte der gerade anderes als<br />

Rahjagefälliges im Sinn.<br />

"Ah.. danke!"<br />

Nachdem sie ihr Messer gelockert hatte - wie nicht anders zu erwarten, war die Klinge an der Scheide festgefroren<br />

- kroch sie als Erste in den Durchgang, wozu sie mittlerweile schon einigen Schnee beiseite schaufeln musste.<br />

Ausgerechnet in diesem Moment ging die Lampe aus - kein Öl mehr. Noch ein letztes Flackern, dann war<br />

stockfinstere Nacht. Alvan hörte, wie hinter ihr Randolf zu keuchen begann. <strong>Das</strong> fehlte noch, dass der<br />

Bauernbursche in Panik geriet.<br />

"Euer Wohlgeboren, was machen wir nun?"<br />

"Alles in Ordnung, ich kenne den Weg!"<br />

Tatsächlich gelang es Alvan, sich durch die Engstelle zu schieben. Vorsichtig tastete sie sich voran. Nach einer<br />

Biegung wurde es langsam hell. Dem leisen Schnarchen nach zu urteilen hatten sich die Goblins bereits schlafen<br />

gelegt. Umso besser... Auf Zehenspitzen huschte die Baernfarn zum Gangende.<br />

Plötzlich stand einer der Rotpelz vor ihr, mit aufgerissenen Schweinsäugelein, die spitzen Zähne zu einem<br />

Alarmruf gefletscht.<br />

Sie hatte unterschätzt, über welch scharfes Gehör die Goblins verfügten.<br />

Dann ruckte die linke Hand des Njakuul vor. Ein Steinmesser drang in Alvans steifgefrorenen Umhang, fraß sich<br />

durch den Wollpullover und riß eine Wunde in Alvans Oberarm. Einen Augenblick lang rang die Edle um Atem,<br />

wich zurück. Wo Randolf nur blieb? War er am Ende im Gang stecken geblieben?<br />

Geduckt, knurrend schlich der Goblin näher. Alvan schlug mit der Lampe zu, aber geschickt tauchte der Rote<br />

darunter hinweg, so dass das Glas an der Wand zerschellte. Na wunderbar, nun hatten sie überhaupt keine Lampe<br />

mehr - und der Überraschungsangriff war auch dahin.<br />

Im nächsten Augenblick warf sich Randolf an Alvan vorbei auf den Goblin und schlug mit der Faust zu. Schon<br />

nach dem dritten Hieb brach sein Gegner zusammen - Alvan war zum erstenmal für die vielen Schlägereien in der<br />

Alten Brücke dankbar.<br />

"Seid Ihr verletzt?"<br />

"Es geht schon, nur ein Kratzer! Nimm das Messer"<br />

Die übrigen Goblins sahen verwirrt vom Lagerfeuer auf, wo sie sich bereits schlafen gelegt hatten. In diesem<br />

Moment waren vom anderen Höhleneingang her Geräusche zu hören: "Auf sie mit Gebrüll!" <strong>Das</strong> musste Damian,<br />

der Forstwart, sein.<br />

Im Nu war das schönste Handgemenge im Gange.<br />

Auch Alvan suchte sich einen Rotpelz aus, der japsend nach einem schartigen Säbel neben seiner Lagerstelle griff.<br />

Die Edle vergaß ihre Taktik, ihn mit dem Dolch bedrohen zu wollen, sondern hämmerte dem Unglücklichen gleich<br />

den Knauf über die Schläfe.<br />

Benommen wälzte sich der Njakuul an ihr vorbei in Richtung Lagerfeuer - wo er schreiend und mit brennendem<br />

Fell wieder auf die Beine kam. Mit einem kräftigen Fausthieb beförderte Alvan ihren Gegner an die Höhlenwand,<br />

wo das Feuer erlosch.<br />

"Im Namen Travias, haltet ein! Achtet das Heilige Herdfeuer!"<br />

Die Frau war am anderen Höhlenende aufgesprungen und stellte sich mit hoch erhobenen Armen zwischen die<br />

Kämpfenden. Alvan war verwirrt und hielt tatsächlich inne.<br />

"Travia? Ich dachte, Ihr seid eine Perainedienerin?"<br />

"<strong>Das</strong> bin ich, aber wenn ich auch das Kleid der Milden Göttin trage, so achte ich doch die Gebote aller Götter!"<br />

Die wüste Keilerei löste sich auf. Die beiden verbliebenen Goblins, froh, nicht noch weitere Prügel zu beziehen,<br />

zogen sich in die dunkelste Ecke der Höhle zurück.<br />

Alvan wollte schon zu einer scharfen Erwiderung ansetzten - immerhin hatten sie hier für die Geweihte gekämpft<br />

und sich zuvor stundenlang durch einen mörderischen Schneesturm geschlagen - als sie mit einem mal stutzte.<br />

Irgendwoher kam ihr die dunkelhaarige Fremde bekannt vor.<br />

"Genug jetzt. Lasst sie in Ruhe!" <strong>Das</strong> galt ihren Mitstreitern, die die Njakuul in ihrer Ecke einzukreisen versuchten.<br />

"Sammelt ihre Waffen ein und passt auf, dass sie bleiben, wo sie sind. Verzeiht, Euer Gnaden, ich sollte mich erst<br />

einmal vorstellen. Mein Name ist Alvan <strong>von</strong> Baernfarn. Ich bin aus Nordenheim und auf der Suche nach Euch."<br />

"Nach mir? Aber wieso..."<br />

"Nun, ein Reiter brachte uns am frühen Abend Kundschaft, dass eine Perainegeweihte im Schneetreiben<br />

umherirren würde. Wir haben uns sofort auf die Suche nach Euch gemacht." Alvans Stimme klang vorwurfsvoll.<br />

"Eine Perainegeweihte? Nun, ich bin Dienerin des Therbuniten-Ordens. Ja, es stimmt, ein Reiter hat mich heute<br />

Nachmittag überholt. Ich danke Euch, dafür, dass Ihr mich retten wolltet, aber es wäre nicht nötig gewesen, dass<br />

Ihr Euch für mich in Gefahr begebt. Kaum, dass der Sturm angefangen hat, habe ich mich in den Wald geflüchtet.<br />

Ich wusste, dass es hier viele Höhlen gibt. Mit den Goblins habe ich allerdings nicht gerechnet. Nun ja, sie waren<br />

8


eigentlich ganz manierlich, für Goblinverhältnisse. Ein Pulver gegen Flohbefall hier, eine Salbe auf den wunden<br />

Daumen dort, und wir haben uns eigentlich ganz gut verstanden... "<br />

"Ihr seid hier aus der Gegend?"<br />

"Ich komme aus Rommilys, aber ich habe früher" - hatte ein Flackern des Lagerfeuers Alvan irregeführt oder<br />

verdunkelte sich das Gesicht der Therbunitin bei diesen Worten etwas? - "einmal in Heidengrund gelebt und kenne<br />

daher die Baernfarn ganz gut. O, verzeiht, wie unhöflich <strong>von</strong> mir. Mein Name ist Gunelde."<br />

Nun fiel bei Alvan der Heller. "Gunelde? Gunelde <strong>von</strong> Friedwang?"<br />

Es war zwar schon über drei Jahre her, dass sie die enterbte Schwester des Barons <strong>von</strong> Friedwang gesehen hatte,<br />

damals in Wolkenried bei der Examination Alriks durch Veneficus, aber kein Zweifel - die Ähnlichkeit mit dem<br />

Baron war nicht zu übersehen.<br />

Gunelde nickte. "Wenn Ihr das `<strong>von</strong> Friedwang´ weglasst, habt Ihr völlig recht. Ihr seid jetzt Herrin <strong>von</strong> Gut<br />

Nordenheim, nicht wahr?"<br />

"So ist es. Ich glaube, wir sind uns in Wolkenried schon einmal begegnet. Ihr seid auf dem Weg zu Eurem Bruder<br />

auf Burg Friedstein, nehme ich an?"<br />

Die Perainejüngerin nickte ein weiteres mal. Alvan hatte den Eindruck, als ob Gunelde irgendeine Sorge mit sich<br />

herum tragen würde.<br />

"Verzeiht, Herrin" Randolf hielt mit gezückten Messer den Goblin mit dem noch immer schmauchenden Fellhemd<br />

im Auge, der stöhnend zu seinen Gefährten kroch. "Was sollen wir nun machen? Bleiben wir heute Nacht hier?"<br />

Die Edle überlegte kurz. Zwar hätte sie sich liebend gern ans Feuer gelegt und erst einmal ein paar Stunden<br />

geschlafen, aber das war vermutlich keine gute Idee. Ein solcher Schneesturm konnte leicht mehrere Tage anhalten,<br />

und dabei noch an Kraft gewinnen, außerdem behagte ihr die Anwesenheit der Goblins nicht. Am meisten Sorgen<br />

aber machte ihr Sigismund, ihr Rosenkavalier. Würde seine Angebetete längere Zeit ausbleiben, käme er bestimmt<br />

auf die Idee, sich selbst auf die Suche zu begeben, schon allein, um sich als großer Held aufzuspielen, und geriet<br />

ganz gewiss in größte Schwierigkeiten.<br />

"Nein. Noch hat der Sturm seinen Höhepunkt nicht erreicht. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es in einer Stunde<br />

zurück aufs Gut."<br />

Die Nordenheimer sahen enttäuscht, fast schon ein wenig verzweifelt drein.<br />

"Nun, ein wenig Zeit zum Ausruhen bleibt uns allemal. Esst erst einmal was, und wärmt Euch etwas am Feuer.<br />

Aber passt auf die Goblins auf. Ich traue ihnen nicht."<br />

"Ihr seid verletzt?" Gunelde betrachtete mit großen Augen das Blut, dass aus Alvans Seite auf den Höhlenboden<br />

rann. Mit der Wärme kehrten auch die Schmerzen in den Körper der Baernfarn zurück.<br />

"Es ist nur ein Kratzer" Erschöpft ließ sich die Edle am Lagerfeuer nieder und zog die schweren Handschuhe aus.<br />

Ihr Blick ging zu den Goblins, die sich eingeschüchtert <strong>von</strong> der anderen Seite den Flammen näherten, hin und her<br />

gerissen zwischen der Furcht vor den Blankhäuten und der niederhöllischen Kälte, die vom Höhleneingang<br />

heranwehte.<br />

Irgendwie sahen sie jetzt mehr wie geprügelte Hunde aus als wie gefährliche Räuber. Die Baernfarn schämte sich<br />

beinahe, dass sie auch daran gedacht hatte, ihre Gegner zu töten. Was hätte Odilon dazu gesagt, ihr Vater, der<br />

immer sehr unleidig reagierte, wenn man auf die "Heimtücke" der "kleinen Stinker" zu sprechen kam. Heimtücke?<br />

<strong>Das</strong> hinterhältigste Wesen auf Dere ist immer noch der Mensch, Alvan. Einst haben die Berge den Suulak gehört,<br />

wie sie sich in ihrer Sprache nennen. Dann kamen wir und haben sie gejagt und erschlagen wie wilde Tiere.<br />

Natürlich vermögen sie nicht mit ritterlichen Methoden gegen uns Eindringlinge zu kämpfen. Ich habe auch noch<br />

nie einen Magier gesehen, der ritterlich gegen einen Vielgehörnten gekämpft hat. Denn so kommen wir grausamen,<br />

riesengroßen Blankhäute mit unseren Stahlrüstungen, Steinhäusern, Pferden und Waffen den Goblins vor. Also<br />

erzähl mir nichts <strong>von</strong> Heimtücke. Oft hatte Odilons Stimme bei solchen oder ähnlichen Worten vor Empörung<br />

gezittert. Ihr Vater...Wie gern hätte sie ihn in diesem Augenblick bei sich gehabt.<br />

"Kommt bloß nicht auf dumme Gedanken!" Drohend hielt Randolf einen Knüppel in der Hand - wo immer er den<br />

her hatte. "Sollten wir die Burschen nicht besser fesseln?"<br />

"Mit was denn? Wir haben eh kein Seil. Lass gut sein. Wir sind in der Überzahl und haben ihre Waffen. Besonders<br />

kampflustig sehen die nicht aus."<br />

"Goblinpack bleibt Goblinpack" Damian spuckte aus. "Warum schicken wir sie nicht einfach zu ihren Götzen, in<br />

die Niederhöllen?" Der Jäger fuhr mit den Fingern übern den Hals.<br />

"Weil der Herrin Travia jedes Feuer in der Wildnis heilig ist" antworte Gunelde an Alvans statt. "Es wäre ein<br />

Frevel, an einem solchen Ort Blut zu vergießen."<br />

"Ihr habt gehört, was die Perainedienerin gesagt hat. Also lasst sie in Frieden. Die haben für heute genug" Alvan<br />

zog ihr Bündel zu sich heran und schnürte es auf. Etwas zu Essen wäre jetzt nicht schlecht.<br />

"Sagt das mal den Rotpelzen" murrte Amanda. "So wie die ausschauen, würden die uns am liebsten zum<br />

Abendessen verspeisen." So leicht war den Nordenheimern der Hass auf das rotpelzige Volk nicht auszutreiben.<br />

9


"Sie kann das Rotgepelz ja mit ihrem Gürtel erschlagen" knurrte Alvan. "Oder erdrosseln..." Ein scharfer Blick,<br />

und die Bäuerin senkte die Augenlider.<br />

Die Edle packte ihr Krumenbrot aus und begann, daran zu kauen. Dann ging ihr Blick zu Gunelde, die sich mit<br />

ihrer Umhängetasche neben sie setzte und die Wunde vorsichtig freizulegen begann. Dann reinigte sie die tiefe<br />

Schramme - denn mehr hatte die Klinge nicht hinterlassen - mit dem bisschen Premer Feuer, das <strong>von</strong> den Goblins<br />

noch verschont worden war, und hüllte die Wunde unter einen dicken Verband.<br />

"Ist tatsächlich nur ein Kratzer. Übermorgen werdet Ihr nichts mehr da<strong>von</strong> spüren."<br />

"Ich danke Euch. So seid Ihr also unter die Heiler gegangen? Entsinne ich mich recht und hattet Ihr nicht einen<br />

Mann, in Heidengrund?"<br />

Guneldes Gesichtszüge verfinsterten sich ein weiteres Mal, diesmal eindeutig.<br />

"Verzeiht, ich wollte Euch nicht zu nahe treten."<br />

Die Therbunitin packte das Verbandsmaterial wieder umständlich in ihre Tasche.<br />

"Schon gut. Ihr könnt es ja nicht wissen... Mein Mann... Firnjan... die Kaiserlichen haben ihn einen Monat vor der<br />

Schlacht an der Trollpforte mitgenommen. Ich habe seitdem nichts mehr <strong>von</strong> ihm gehört."<br />

"<strong>Das</strong> tut mir leid." Alvan blickte in die Flammen, die hochwirbelten, als Missila ein großes Stück Holz ins Feuer<br />

warf. "<strong>Das</strong> tut mir wirklich sehr leid."<br />

"Wenig später sind dann meine beiden Kinder sehr krank geworden und... gestorben...die Älteste an einem Tag, die<br />

Kleine gleich am nächsten" Die Therbunitin schluckte. "Wären sie etwas älter gewesen und hätten mehr zu essen<br />

bekommen...hätte ich mich mit Krankheiten besser ausgekannt..."<br />

"<strong>Das</strong> Schicksal hat es nicht gut mit Euch gemeint." versuchte Alvan die richtigen Worte zu finden. "Der Krieg war<br />

für uns alle eine harte Prüfung... ich habe selber viele Menschen verloren, die ich sehr... die mir sehr nahe standen...<br />

und..."<br />

"Ich weiß, es war Krieg, und ich war wahrlich nicht die einzige, die an ihm zu leiden hatte. Danach gab es nichts<br />

mehr, was mich in Heidengrund hätte halten können... also bin ich Therbunitin geworden, um wenigstens das Elend<br />

der anderen lindern zu helfen..."<br />

Auch Gunelde setzte sich nun ans Feuer, hüllte sich in ihren Mantel und starrte in die Flammen.<br />

"Der Gedanke, dass Firnjan... Ihr wisst ja, was sie mit den Toten machen... diese Unsicherheit war das<br />

Grauenhafteste" Letztere Worte hatte Gunelde kaum mehr geflüstert. "Verzeiht, was schwatze ich da? Wir haben<br />

derzeit nun wahrlich andere Sorgen."<br />

"Nun, ich weiß, was es heißt, einen guten Freund, einen Kameraden im Kampf gegen einen solchen Feind<br />

zurücklassen zu müssen. Aber vielleicht ist Euer Gemahl ja auch gar nicht gefallen, sondern in Gefangenschaft<br />

geraten und..." Alvan schalt sich selbst eine Närrin. Die Dreckigen machten keine Gefangenen, und wenn ja, war es<br />

allemal besser, seinem Leben eigenhändig ein Ende zu setzen.<br />

"Nein, das glaube ich nicht. Ich bin sicher, dass er tot ist."<br />

"Wir <strong>Maraskan</strong>er... die <strong>Maraskan</strong>er glauben, dass mit dem Tod das Leben nicht zu Ende ist...wenn er wirklich nicht<br />

mehr unter den Lebenden weilen sollte, dann weilt seine Seele nun in einem anderen Lebewesen, ebenso die Seele<br />

Eurer Kinder. <strong>Das</strong> Rad des Lebens bricht nicht, sondern dreht sich in einem fort..."<br />

"Wir <strong>Maraskan</strong>er?" Die Therbunitin sah Alvan unverwandt an.<br />

"Äh, verzeiht, ich habe mich auf der Käferinsel ein wenig mit maraskanischer Philosophie beschäftigt." Einen<br />

Augenblick lang kam sich die Halbelfe ausgesprochen glaubensschwach vor. Aber sie hatte schon mehr als einmal<br />

erlebt, dass Diener der Zwölfe überaus intolerant auf gewisse Aspekte des Rur-und-Grorglaubens reagierten.<br />

"Ihr ward einmal auf <strong>Maraskan</strong>?" Gunelde hielt einen Augenblick inne, als müsse sie erst angestrengt über etwas<br />

nachdenken. "Vielleicht könnt Ihr mir ja weiterhelfen..."<br />

"Wieso, interessiert Ihr Euch für maraskanische Philosophie?" Alvan war dankbar <strong>von</strong> dem Thema Tod und<br />

Sterben im Krieg wegzukommen, dass auch ihr nur zu gut bekannt war.<br />

"Nun, nicht direkt... Es ist nur so... Vielleicht sollte ich etwas weiter ausholen..."<br />

"Erzählt, ich erfahre gerne Neuigkeiten, vor allem wenn es um <strong>Maraskan</strong> geht. Auch wenn <strong>von</strong> dort fast nur noch<br />

schlechte Neuigkeiten kommen."<br />

"Nun, wo soll ich anfangen. Vor einigen Wochen habe ich mich <strong>von</strong> meinem Orden beurlauben lassen und bin<br />

nach Boronia aufgebrochen, Ihr wisst schon, dem Heiligtum des Schweigsamen an der Trollpforte..."<br />

"Um mehr über das Schicksal Eures Mannes herauszufinden?"<br />

"Gewiss. Nun, um es kurz zu machen... Die Geweihten waren sehr...entgegenkommend zu mir... sie waren wirklich<br />

sehr freundlich... und ich weiß nun mit Gewissheit, dass Firnjan...dass mein Gemahl..." Tränen traten in die Augen<br />

der Therbunitin. "Ich bin mir nun sicher, dass er tot und seine Seele bei Boron ist. Möge er in Frieden ruhen."<br />

Gunelde senkte ihre Stimme wieder.<br />

"Aber da war noch etwas anderes. Dieser Traum in Boronia... Haben Träume, die einem in einem Borontempel<br />

ereilen, nicht immer etwas zu bedeuten? Zumal es der dritte Tag seines heiligen Monats war... Mir träumte <strong>von</strong><br />

einem Grab... einem Grab im Dschungel... ein mächtiges, verrostetes Schwert steckte darin, sowie ein verrottetes<br />

Boronsrad, ein halbes Wagenrad an irgendeinen Pfahl gebunden. <strong>Das</strong> Grab war völlig überwuchert und lag auf<br />

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einer Lichtung, unter einem morschen Baum...Da kam diese Frau, ich glaube, es war eine Priesterin, sie trug<br />

jedenfalls ein eigentümlich schillerndes Gewand... An der Hand führte sie einen Esel, auf dessen Rücken befand<br />

sich ein großer Krug... Die Frau, eine Südländerin, sah sich immer wieder gehetzt um, so als befürchtete sie<br />

verfolgt zu werden... In der anderen Hand hielt sie eine Art Sense, eine gerade Klinge an einem Stock... Es war<br />

alles so real... Als ob ich mit auf der Lichtung gestanden hätte.“<br />

"Einen Schnitter" unterbrach Alvan.<br />

"Wie? Ja, so hat Hochwürden Aedin die Waffe auch genannt. Woher wisst Ihr...?"<br />

"Sagtet Ihr nicht, Eure Geschichte hätte mit <strong>Maraskan</strong> zu tun? Diese Frau war offenbar eine Rur- und Gror-<br />

Priesterin auf der Flucht."<br />

"Ganz recht, das haben auch die Borongeweihten gesagt, als ich ihnen <strong>von</strong> meinem Traum erzählte. Die Priesterin<br />

sah sich eine Weile um, dann ging sie zu dem Baum, erweiterte ein Loch in dessen Stamm, und stellte den Krug<br />

hinein. Dann geschah etwas sehr Furchtbares." Gunelde stockte. "Aus der Luft, nein, aus dem Baumwipfel regneten<br />

plötzlich diese gelbgrünen Würmer herab, wie Tausendfüßler sahen sie aus, sicherlich drei Dutzend, ein ekliges,<br />

schleimiges Gezücht. Der Schwarm fiel über die Unglückliche her, sie sank zu Boden, die Würmer hüllten sie nach<br />

und nach in ihren Schneckenschleim ein... und... nein, es ist zu gräßlich..." Die Friedwangerin schwieg und stopfte<br />

sich vor Grauen die Faust in den Mund.<br />

"Die Insekten sind durch die Ohren, den Mund und die Nase in sie eingedrungen und haben sie <strong>von</strong> innen<br />

aufgefressen" ergänzte Alvan. "<strong>Maraskan</strong>federn... die gehören zu dem scheußlicheren Ungeziefer, was der<br />

Dschungel hervorbringt...nun ja, und natürlich irgendwie auch zur Schönheit der Welt. Aber Ihr habt Recht, Euer<br />

Traum scheint mir sehr viel mit <strong>Maraskan</strong> zu tun zu haben. Zum Beispiel, dass er im dortigen Dschungel spielt.<br />

<strong>Das</strong> Gefäß scheint einer der Krüge mit dem Heiligen Wasser des Talued zu sein, das die Priesterschaft der<br />

Zwillinge dorthin vor dem Zugriff der Dreckigen in Sicherheit gebracht hat. Und der dritte Boron, ja, das ist, wenn<br />

ich mich nicht irre, der Jahrestag der Schlacht <strong>von</strong> Hemandu." Letzte Worte hatte Alvan mehr zu sich selbst<br />

gesprochen. "Aber was es mit dem Grab auf sich hat, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Jedenfalls scheint dort ein<br />

Garethja beigesetzt worden zu sein, wegen dem gebrochenen Rad, kein <strong>Maraskan</strong>er."<br />

Gunelde sah hoch: "Nun, ich glaube, ich weiß, wer in dem Grab liegt: Alboran Sigismund <strong>von</strong> Friedwang-<br />

Glimmerdieck, mein Großvater. Er ist in der Schlacht <strong>von</strong> Jergan gefallen, damals, 6 vor Hal. Und genau deswegen<br />

bin ich unterwegs zu meinem Bruder. Ich glaube, Großvater hat mir diesen Traum gesandt, weil er nun schon seit<br />

so langer Zeit in entweihter Erde liegt, in einem derart fürchterlichen Land, über das nun auch noch die Diener der<br />

Niederhöllen herrschen. Ich fürchte, sein Seelenheil ist in Gefahr..."<br />

Alvan sinnierte vor sich hin. Wollte die Geweihte ihren Bruder darum bitten, die Gebeine des Alboran Sigismund<br />

zu bergen? <strong>Das</strong> wäre ein waghalsiges Unterfangen. Um nicht zu sagen ein Alveranskommando. Eigentlich war es<br />

der schiere Wahnsinn. Aber anders betrachtet: Es war für Alvan eine Möglichkeit, die Insel ihres Glaubens und<br />

ihrer Träume wieder zu sehen. Sie konnte Alrik und Serwa vorschlagen, das Unternehmen als Orts- und<br />

Sprachkundige Führerin zu begleiten. Außerdem hatte sie im Inneren ohnehin schon lange die Abenteuerlust und<br />

das Fernweh wieder gepackt. Schon oftmals hatte sie sich dabei ertappt, wie sie statt sich um den Alltag auf der<br />

Belenburg zu kümmern, schlicht ihren Tagträumen nachgehangen war, wie sie auf ihren Waldspaziergängen, wenn<br />

sie allein war, mit einem Stock in der Hand mit unsichtbaren Gegnern gefochten hatte. Nein, es war an der Zeit,<br />

wieder etwas anderes in ihrem Leben zu machen. Vielleicht war das ein Wink der göttlichen Geschwister, die ihre<br />

Tochter wieder nach <strong>Maraskan</strong> riefen. Vielleicht hatte Rur ihr eine wichtige Rolle in seinem göttlichen Plan<br />

zugedacht. Es musste eine Fügung des Schicksals sein, die der Geweihten diesen Traum gesandt hatte, und die den<br />

Schneesturm heraufbeschworen hat, mit dem einzigen Zweck, dass sie diese Dienerin Peraines traf. Es war<br />

offenbar der Schönheit der Welt dienlich, wenn sie sich dieser Aufgabe annahm und Gunelde nach <strong>Maraskan</strong><br />

begleitete. Denn es war ja offenbar: Ohne den Schneesturm wäre Gunelde ohne Halt zum Friedstein gereist, um<br />

dort ihrem Bruder zu berichten. Rur hatte in seiner Weisheit den Schneesturm vom Anbeginn der Welt so<br />

vorgesehen, um diese Begegnung mit der Geweihten zu ermöglichen. Es war Rurs Wille, dass sie erneut nach<br />

<strong>Maraskan</strong> aufbrach. Fast hoffte sie, dass die Geweihte einen solchen Plan hegte. Auf der Belenburg wäre der rechte<br />

Augenblick, darüber mit Gunelde zu sprechen.<br />

Ein Auftosen des Sturmes unterbrach Alvans Gedankengang. Missila drängte zum Aufbruch, und sie hatte Recht<br />

damit. Wenn sie nicht jetzt sofort aufbrachen, dann würden sie hier in der Höhle mit den Rotpelzen ausharren<br />

müssen. Kein beruhigender Gedanke. Aber noch mehr beunruhigte sie, was Sigismund während ihrer Abwesenheit<br />

auf dem Gut anstellen würde. Sie hatte kein gutes Gefühl dabei.<br />

"Gunelde, würdet Ihr mir die Ehre erweisen, uns zurück zur Belenburg zu begleiten und dort meine Gastung<br />

genießen, bis dieses Unwetter vorbei ist? Sobald es die Umstände wieder zulassen werde ich Euch zu Serwa und<br />

Alrik <strong>von</strong> Friedwang begleiten."<br />

"Es ist nicht weit nach Nordenheim, nicht wahr? Dann dürfte es wahrlich die bessere Alternative sein, auf Gut<br />

Belenburg das Unwetter zu überstehen als hier in dieser Höhle." Mit diesen Worten packte sie ihre wenigen<br />

Habseligkeiten zusammen. Sie vergaß auch nicht, die <strong>von</strong> einem der Rotpelze zweckentfremdete Seite aus ihrem<br />

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Brevier sorgfältig im Schnee zu reinigen und ihrem Büchlein wieder beizufügen. Amanda und Missila hüllten sich<br />

wieder in ihre Umhänge, und Damian zog sich wieder seine Wollmütze über. Zu den Goblins gewandt sagte Alvan:<br />

"Ihr habt eine Geweihte überfallen. Nach Recht und Gesetz würdet ihr daher eine harte Strafe verdienen. Aber um<br />

des Friedens willen werde ich <strong>von</strong> einer Bestrafung absehen. Lediglich Eure Waffen werde ich einbehalten, damit<br />

ihr damit keinen friedlichen Bauern mehr bedroht oder ausraubt!" Dann setzte sie sich an die Spitze der Gruppe<br />

und führte sie ins Freie.<br />

Der Rückmarsch zum Gut gestaltete sich etwas einfacher als der Hinweg, da sie den mörderisch dahinfetzenden<br />

Schnee statt in den Augen nun im Rücken hatten, und sich nicht mehr mit aller Gewalt gegen ihn stemmen<br />

mussten. Alvan hatte sich die Schneeschuhe eines der Goblins "geborgt", ebenso wie die Therbûnitin. Da sie kein<br />

Licht mehr hatten und sich Alvan nicht schon wieder in der Richtung irren wollte - tatsächlich schwenkten die<br />

Böen mal nach Osten, dann wieder nach Westen - , liefen sie im Schutz der Bäume am Waldrand entlang, wo der<br />

Sturm weniger Kraft entfalten konnte als auf offener Heide. Der Höhleneingang hatte versteckt unter den Wurzeln<br />

einer alten Eiche gelegen - es war ein kleines Wunder, dass ihn Missila so schnell gefunden hatte. Aber vielleicht<br />

war ihr Gott heute Nacht auch einfach näher als sonst...<br />

Es dauerte eine Weile, bis sie den zugefrorenen Jargel erreichten - offenkundig waren sie doch weiter <strong>von</strong><br />

Nordenheim entfernt, als sie gedacht hatte. Angestrengt hielt Alvan nach dem Leuchtfeuer Ausschau. Tatsächlich,<br />

dort drüben flackerte ein unruhiges Licht wie die Flamme eines Leuchtturms inmitten des Zorns der Elemente. Mit<br />

dem Jargel als Landmarke neben sich, stapfte die Gruppe auf den Hof zu, während nebliger Eishauch auch um ihre<br />

Beine fegte. Irgendwann taumelten die sechs, abgefroren und halb blind vor Schnee, Eiskrusten und<br />

Schneekristallen in Haaren und Gesicht, in das Haupthaus, wo sie <strong>von</strong> der aufgeregten Dienerschaft sowie dem<br />

jungen Alwin bereits überglücklich mit Decken und heißen Getränken empfangen wurden.<br />

Es dauerte eine Weile, bis Alvan wieder soweit bei Kräften war, dass sie sich nach Sigismund erkundigen konnte.<br />

Eingehüllt in eine warme Decke, einen heißen Tee in der noch immer zitternden Rechten, vernahm sie, dass ihr<br />

Verehrer in sein Gemach gegangen war, wo er vermutlich schlief - offenkundig war es ihm oben auf dem Turm<br />

schließlich doch zu kalt und zu windig geworden. Die Edle war viel zu erschöpft, um groß einen Gedanken darüber<br />

zu verlieren - sollte Sigismund doch machen, was er wollte.<br />

Die Therbûnitin taute nun buchstäblich etwas auf, streckte ihre langsam wieder aus der Eisstarre erwachenden<br />

Glieder und überprüfte ihre Zehen. "Viel hätte nicht mehr gefehlt" gab sie sich selbst eine Antwort und stöhnte vor<br />

Schmerz. "Mit dem Abfrieren, meine ich. Solange man sie noch spürt, ist alles in Ordnung".<br />

"So gesehen geht es meinen Füßen ebenfalls ausgezeichnet." ächzte die Baernfarn. Mit einigen kurzen<br />

Dankesworten verabschiedete sie die Nordenheimer, die sich ebenfalls am Feuer und Heidelbeerwein gewärmt<br />

hatten. Für eine lange Rede fehlte ihr der rechte Sinn, sie würde den wackeren Trupp bei nächster Gelegenheit noch<br />

einmal ausgiebig belobigen müssen.<br />

Draußen orgelte noch immer der Sturm, aber hier, in der warmen großen Halle, trug das gedämpfte Geräusch fast<br />

schon zu Alvans Behagen bei. Allzu spät konnte es noch nicht sein - infolge des Sturms war es schon am späten<br />

Nachmittag stockfinster geworden, und laut Helmes Schätzung hatte ihre Suche insgesamt nicht mehr als zwei oder<br />

drei Stunden in Anspruch genommen. <strong>Das</strong> bedeutete, dass es gerade einmal um die zweite Phexstunde herum sein<br />

müsste, auch wenn sich Alvan fühlte, als wäre Mitternacht schon lange vorüber. Noch immer brauste der Sturm in<br />

ihrem Kopf - ein Gefühl, dass sie bereits <strong>von</strong> den Orkanen des Perlenmeers kannte.<br />

"Nun denn. Ich muss mich bei Euch bedanken. Ihr habt all diese Strapazen auf Euch genommen, um mir zu helfen.<br />

Wenn ich mich irgendwie erkenntlich zeigen kann... <strong>Das</strong> Mindeste ist, dass ich Euch <strong>von</strong> nun an in die Gebete an<br />

die Milde Herrin mit einbeziehen kann. Was macht eigentlich die Wunde?"<br />

"O danke, Ihr habt sie bereits vorzüglich verarztet. Diesbezüglich hat mir die Kälte sogar gut getan, der Schnitt hat<br />

auf dem Rückweg kaum noch geblutet..." Alvan schüttete noch einige Tropfen Rum in ihren Tee. "Aber reden wir<br />

heute nicht mehr <strong>von</strong> Kälte. Wir haben uns in der Höhle über <strong>Maraskan</strong> unterhalten... im Shikanydad ist es jetzt<br />

schön warm..."<br />

Die Edle gähnte genüsslich. Sentimentale Sinneseindrücke <strong>von</strong> der Käferinsel stiegen in ihr auf, exotische,<br />

sinnenverwirrende Düfte, Bilder <strong>von</strong> turmähnlichen Häusern mit papierenen Schiebetüren, braunhäutige Menschen<br />

in buntschillernden Trachten, die schwarzen Haare zu den phantasievollsten Frisuren hoch gesteckt, das muntere<br />

Geplapper des Kladj, auf jenem eigentümlich maraskanischen Kauderwelsch aus Tulamidya und Garethi, dem sie<br />

so gerne lauschte. Erst nach einer Weile wurde Alvan wieder schmerzhaft bewusst, dass es diese Welt nicht mehr<br />

gab, zumindest nicht mehr, wie sie früher einmal gewesen war. Auch diese Insel hatten die Dreckigen aus einem<br />

Hort eigenwilliger Schönheit in einen Abgrund niederhöllischer Schrecken verwandelt, das gehörte sicherlich nicht<br />

zu Rurs göttlichem Plan. Dieser bruderlose Abschaum!<br />

Auch wenn <strong>Maraskan</strong>er dem sterblichen Leib wenig Aufmerksamkeit angedeihen ließen - darin waren sie den<br />

Elfen ähnlich - konnte sie Gunelde verstehen: Für sie, die nicht an die Wiedergeburt glaubte, musste es eine<br />

entsetzliche Vorstellung sein, dass alles, was derisch <strong>von</strong> ihrem Großvater übrig geblieben war, nun in verfluchter<br />

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Erde verweilte - wenn er denn überhaupt noch darin ruhte und nicht längst <strong>von</strong> einem irrsinnigen Nekromanten zu<br />

untotem Leben erweckt worden war.<br />

"Wenn Ich Euch recht verstanden habe, tragt Ihr Euch mit dem Gedanken, den Leib Eures Großvaters <strong>von</strong><br />

<strong>Maraskan</strong> aufs Festland zu überführen?" sprach Alvan die Therbûnitin unvermittelt an. "Nun denn, so Ihr dies<br />

wirklich beabsichtigt, könntet ihr eine landeskundige Führerin sicher gebrauchen."<br />

Gunelde fühlte sich sichtlich überrumpelt: "Nun, ich weiß nicht. Gerade deswegen wollte ich mich mit meinem<br />

Bruder beratschlagen. Immerhin herrschen in <strong>Maraskan</strong> nun die Niederhöllen, Peraine sei bei uns!"<br />

Alvan musste schmunzeln. Die Garethja konnte nicht wissen, dass Schwester Peraine dem freien <strong>Maraskan</strong><br />

tatsächlich beistand... mit einem krabbelnden, beißenden, giftspritzenden Heerbann, dem sie als Dreckiger gewiss<br />

nicht in die Quere kommen wollte.<br />

"Es wäre Wahnsinn, dorthin aufzubrechen. Jetzt, zu dieser Zeit. Andererseits ist mir der Gedanke unerträglich, dass<br />

Großvater... Man weiß doch, was sie mit den Leibern der Toten..." Guneldes Stimme zitterte, nun nicht mehr vor<br />

Kälte, sondern vor Empörung.<br />

"Ich verstehe Euch sehr gut. Wie gesagt, auch ich habe Verwandte und Freunde im Krieg verloren, und mancher<br />

Kamerad ist auf der anderen Seite der Front zurück geblieben. Eine entsetzliche Vorstellung."<br />

Alvan musste in diesem Moment an den ungeheuren Schatz denken, der in dem Baum neben dem Grab verborgen<br />

war, so wie es aussah, ein Krug mit dem lebensspendenden Wasser des Talued. Ein großer Krug. Eine Flut <strong>von</strong><br />

Gedanken schwirrte mit dem Brausen des Sturms in Alvans Kopf herum. Ein solcher "Heiltrank" mochte für den<br />

einäugigen Alrik Anreiz genug sein, sich auf ein derart gefährliches Unternehmen einzulassen. Andererseits<br />

gehörte das heilige Talued-Wasser der Gemeinschaft der Göttlichen Zwillinge, einmal abgesehen da<strong>von</strong>, dass es<br />

auch eine gewisse Nebenwirkung besaß. Außerdem grenzte es tatsächlich an Wahnsinn, sich nach<br />

Schwarzmaraskan zu begeben. Im Grunde war schon die Blutige See eine kaum zu überwindende Barriere. Nun,<br />

sie würde morgen noch einmal in aller Ruhe darüber nachdenken müssen. Da war heute ein bisschen viel auf sie<br />

eingestürmt, im wahrsten Sinne des Wortes...<br />

"Verzeiht, wissen wir, ich meine wisst Ihr überhaupt, wo sich das Grab Eures Großvaters befindet? Irgendwo in der<br />

Nähe des Schlachtfelds, habt Ihr gesagt... andererseits scheint Euer Traum im Dschungel zu spielen, das hat mich<br />

ein wenig verwirrt."<br />

"Nun, darüber weiß ich auch nur wenig. Gerade deswegen würde ich in Friedwang gerne einige Nachforschungen<br />

anstellen. Großvater ist jedenfalls lange vor meiner Geburt gestorben. Alles, was ich sagen kann, ist, dass er<br />

tatsächlich nicht direkt auf dem Schlachtfeld begraben wurde. Seine Leute hatten offenkundig Angst, wegen der<br />

Rur und Gror-Anbeter... äh, Gläubigen." Unsicher sah Gunelde Alvan an und versuchte die Tiefe ihrer<br />

Empfindungen für "maraskanische Philosophie" zu ermessen. "Nun, wegen dem maraskanischen<br />

Wiederauferstehungsglauben dachten sie, dass die heim... die einheimischen Priester mitunter Tote zum Leben<br />

erwecken würden, auf, äh, unheilige Weise. Also haben sie das Grab vorsichtshalber versteckt..."<br />

"Bei der Schönheit der Welt, die Diener der Zwillinge sind doch keine bruderlosen Nekromanten" fauchte Alvan.<br />

"Verzeiht, aber die Soldaten Eures Barons wussten offenbar nicht allzu viel <strong>von</strong> dem Glauben derjenigen, deren<br />

Land sie... gegen die sie Krieg geführt haben. Immerhin, ein Gutes hat die Sache: Wenn das Grab wirklich so<br />

versteckt liegt, ist es auch für einen Schwarzmagier nicht leicht zu finden. Im Gegensatz zu den Rur-und Gror-<br />

Gläubigen erwecken die Dreckigen nämlich durchaus Tote zu unheiligem Leben" Alvan, die letzteren Satz mit<br />

süffisantem Ton begonnen hatte, schloss ihn mit einem versöhnlichen Lächeln. "Wie auch immer, wenn ich es<br />

richtig sehe, wisst Ihr also selbst nicht genau, wo Euer Großvater bestattet wurde. <strong>Das</strong> macht die Sache nicht<br />

unbedingt einfacher. Warum wurde der Leichnam eigentlich nicht schon früher nach Friedwang überführt, in die<br />

Krypta seiner Ahnen zum Beispiel?"<br />

"Nun, soweit ich weiß, war es der letzte Wille meines Großvaters, auf <strong>Maraskan</strong> beigesetzt zu werden. Er wollte<br />

nicht in einem Faß maraskanischen Rum auf Festland gebracht werden, soll er gesagt haben.<br />

Ich glaube, er liebte die Käferinsel. Er war ein leidenschaftlicher Sammler <strong>von</strong> Schmetterlingen und anderen<br />

Insekten, müsst Ihr wissen." Gunelde senkte die Stimme. "Außerdem hatte er sich am Ende mit fast seiner<br />

gesamten Familie zerstritten, mit Ausnahme seiner Gemahlin. Ich glaube, das war der eigentliche Grund, warum er<br />

nicht in der Gruft unserer Familie beigesetzt werden wollte. Aber wie gesagt, ich bin erst einige Jahre später zur<br />

Welt gekommen und kenne Großvater nur vom Hörensagen. Leider... ich bin sicher, er war ein guter Mensch. Die<br />

Bauern in Friedwang sprechen noch heute mit Bewunderung <strong>von</strong> ihm, ja, er war ein sehr guter Baron..."<br />

"Nun, soweit ich gehört habe, war Euer Verhältnis zu dem Haus Friedwang ebenfalls nicht immer das Beste?"<br />

"<strong>Das</strong> habt Ihr sehr freundlich ausgedrückt. Meine Mutter hat mich enterbt, gewiss."<br />

"Weil Ihr einen Bauernsohn aus Gallys gefreit habt. Nun, verzeiht meine Neugierde, in meinen Augen ist so etwas<br />

gewiss kein Makel. Aber es wundert mich, wie ausgerechnet eine Baronstochter aus Friedwang dazu kommt, in<br />

eine Gallyser Bauernfamilie einzuheiraten."<br />

"Im Grunde ist das alles eine einfache Geschichte, und auch kein Geheimnis. Als ich damals, als junges Mädchen,<br />

nach Wehrheim gebracht wurde, auf die Kriegerakademie, habe ich Firnjan kennen gelernt. Die Kutsche ist durch<br />

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ein Versehen in den Graben der Reichsstraße gerutscht und musste repariert werden. Firnjan gehörte zu denjenigen,<br />

die sie wieder auf die Straße gehoben haben. Die Bauern haben mich zu sich ins Feld eingeladen." Gunelde lachte<br />

leise auf. "Ich weiß noch, dass der gute Ferdin ganz außer sich war, weil ich mich dazu herabließ, mit Bauernvolk<br />

zu picknicken, und das auch noch mitten in Gallys. Ich hatte damals schon meinen eigenen Kopf...<br />

Meine Zofe war ebenfalls empört, was hat Griniguld nicht gezetert, aber ich war ja die hochgeborene junge Dame.<br />

Wie auch immer, im Grunde war auch ich damals der Meinung, dass Bauern allesamt schmutzig, braungebrannt<br />

und blöde Halbgoblins wären. Besonders die aus Gallys, verzeiht. Eigentlich war mein Verhalten reine Schikane<br />

den beiden Dienern gegenüber... und, wie soll ich sagen..." Guneldes Augen begannen zu leuchten. "Rahja hat mich<br />

für meinen Hochmut bestraft. Aber was für eine süße Bestrafung! Im Kornfeld lernte ich Firnjan kennen. Er war<br />

überhaupt nicht blöde, schmutzig oder grob zu mir, im Gegenteil!"<br />

Die Therbûnitin räusperte sich.<br />

"So war es Liebe auf den ersten Blick?"<br />

"<strong>Das</strong> nicht. Ihr habt eine zu hohe Meinung <strong>von</strong> dem verzogenen Biest, das ich damals war. In meiner Einfalt bildete<br />

ich mir ein, es sei für ein Baronstöchterlein etwas besonderes, <strong>von</strong> einem kräftigen hübschen Bauernburschen statt<br />

<strong>von</strong> einem blasierten Edelmann entjungfert zu werden. <strong>Das</strong>s die unglückliche Griniguld etwas mitbekommen zu<br />

haben schien, fand ich besonders reizvoll. Nun ja, einige Tage später war der gute Firnjan beinahe schon wieder<br />

vergessen. Als er mir dann auch noch einen Brief auf die Akademie geschrieben hat - besser gesagt, hat einen<br />

schreiben lassen, - habe ich mich mit meinen Stubengefährtinnen darüber lustig gemacht. Ihr wisst ja, wie grausam<br />

heranwachsende Töchter aus gutem Hause sein können."<br />

"Wann habt Ihr Firnjan dann wieder gesehen?"<br />

"Eine dumme Geschichte. An sich fing alles harmlos an. Wegen irgendeiner kleinen Insubordination wurde ich zu<br />

einem Tag verschärften Arrest verurteilt. Aber Gunelde <strong>von</strong> Friedwang-Glimmerdieck war nun einmal ein stolzes<br />

Persönchen, das sich nicht ohne weiteres das Wehrheimer Strammstehen beibringen lassen wollte. Also bin ich <strong>von</strong><br />

der Akademie geflohen, desertiert, wie man dort sagen würde, und als heulendes Elend zu meiner Mutter zurück<br />

nach Friedwang. Ich habe meine Mutter auf den Knien angefleht, mich nicht auf die Akademie zurück zu schicken,<br />

aber sie blieb hart. Heute weiß ich, dass sie Recht hatte und mein Verhalten überaus dumm war, aber damals kam<br />

sie mir so herzlos vor wie eine leibhaftige Erzdämonin. Ich glaube, seitdem mein Vater in der Ogerschlacht<br />

geblieben war, war ich eine sehr schwierige Tochter, eine richtige Zicke, nicht nur gegenüber dem Gesinde, aber in<br />

diesem Moment fühlte ich mich so ungerecht behandelt wie nie zuvor in meinem Leben.<br />

Als ich dann in der Kutsche wieder zurückgefahren wurde, die schwere Strafe im Sinn, die mich in Wehrheim<br />

erwarten würde, das anschließende Strafexerzieren und der gewöhnliche Drill, der dort ja schon hart genug ist, als<br />

wir dann durch Heidengrund kamen - nun, ich bin einfach aus der Kutsche gesprungen und in dem Feld<br />

verschwunden, in dem damals ich und Firnjan..." Gunelde lachte leise auf. "Nun, wir Friedwangs gelten alle als<br />

bockig und sprunghaft in unseren Entscheidungen - umsonst führen wir den Steinbockkopf nicht im Wappen. Nur<br />

schade, dass ich das Gesicht der armen Griniguld nicht habe sehen können. Ich weiß nicht einmal, ob ich in diesem<br />

Augenblick schon einen fertigen Plan hatte, irgendwie dachte ich wohl, ich könnte solange bei Firnjan<br />

unterschlüpfen, bis meine Mutter wieder zur Besinnung käme und mich wieder <strong>von</strong> der Akademie nähme.<br />

Tatsächlich habe ich mich einige Tage in einer Scheune versteckt und mich dort mit Firnjan getroffen, der mir<br />

Essen und Trinken zugesteckt hat. Der gute Firnjan.<br />

Nun, irgendjemand hat wohl unsere Treffen beobachtet, denn wenig später kamen zwei Reiter des Barons und<br />

brachten mich auf die Lindwurmburg, <strong>von</strong> wo man meine Mutter benachrichtigte. Einige Tage später kam dann<br />

<strong>von</strong> ihr ein Brief, wonach ich überhaupt nicht mehr zurückkommen bräuchte, da ihr eine Gunelde <strong>von</strong> Friedwang<br />

gänzlich unbekannt sei...<br />

Nachher hieß es dann, ich sei mit einem Gallyser Bauernburschen ´durchgebrannt´. Nun ja, das war die Sicht<br />

meiner Mutter. Typisch, dachte ich mir, dass sie wegen einer solchen Lappalie derart überreagiert. Aber zu Firnjan<br />

bin ich erst gegangen, als ich begriffen hatte, dass es ihr mit diesem Brief völlig ernst war. Schon allein aus Trotz<br />

habe ich ihn geheiratet, und auch ein wenig aus Mitleid, weil sie ihn im Dorf beinahe mit dem Maul zerrissen<br />

haben. Erst später habe ich erfahren, dass meine Mutter mich gar nicht wegen meiner Flucht nach Gallys enterbt<br />

hatte. Damals ging in Friedwang das Gerücht - ich glaube, mein schurkischer Vetter Gernot hat es in die Welt<br />

gesetzt - dass ich schon ein Jahr zuvor <strong>von</strong> Firnjan schwanger geworden sei und das Kind dann noch auf der<br />

Akademie mittels eines Kräutleins abgetrieben hätte. Meine Mutter war eine überaus tsagläubige Frau, sie trug den<br />

Namen der Göttin bereits in dem ihren. Nach allem, was vorgefallen war, hat sie dann auch noch dieses schlimme<br />

Gerücht geglaubt..." Gunelde verstummte.<br />

"Nun, ich bin mit Firnjan trotz allem glücklich geworden. Auf dem Hof habe ich nicht nur hart arbeiten, sondern<br />

auch sonst noch einige Lektionen gelernt. Aber die Götter haben es mir am Ende dann doch wieder anders<br />

beschieden..."<br />

Alvan nickte. "Nun ja, es ist der Vorzug der Jugend, noch Fehler machen zu dürfen. Nur schade, dass Ihr dieses<br />

unselige Missverständnis mit dem Kind nicht mehr ausräumen konntet."<br />

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"O doch, das konnte ich. Im darauffolgenden Jahr ist meine Mutter ja nach Gallys einmarschiert, und bei dieser<br />

Gelegenheit konnten wir uns aussprechen. Aber ich und Firnjan hatten ja schon den heiligen Traviabund<br />

geschlossen, also konnte und wollte ich nicht mehr zurück nach Friedwang. <strong>Das</strong>s mein Leben <strong>von</strong> nun an der<br />

Peraine gehörte, hatte ich schon damals begriffen."<br />

Alvan nickte. Langsam verstand sie, warum Gunelde mit dem Gedanken spielte, die Gebeine ihres Großvaters,<br />

Baron Alboran <strong>von</strong> Friedwang, über das Perlenmeer zu holen. Sie glaubte wohl, gegenüber ihrer Familie etwas gut<br />

machen zu müssen.<br />

Alvan blickte in die warm züngelnden Flammen des Kaminfeuers. „Wir... die <strong>Maraskan</strong>er glauben, dass alles in der<br />

Welt <strong>von</strong> Rur und Gror so geschaffen wurde, dass es der Schönheit der Welt am meisten dient. Ihr habt also den<br />

Gedanken gefasst, wie ich annehme, nach <strong>Maraskan</strong> zu reisen um den Leichnam Eures Großvaters zu seinen Ahnen<br />

zu überführen. Es mag wohl kein Zufall sein sondern ebendem der Schönheit der Welt dienlich gewesen sein, dass<br />

Ihr in diesen Schneesturm geraten seid und <strong>von</strong> den Rotpelzen aufgehalten ward, so dass wir uns letztlich trafen.<br />

Hätte es den Gallysard nicht gegeben, Ihr wäret zugleich ohne Rast in Nordenheim nach Friedwang gereist. Es<br />

entspricht der maraskanischen Philosophie zu glauben, dass ich <strong>von</strong> Eurer Geschichte erfahren sollte. Damit ist für<br />

mich die Aufgabe verbunden, Euch bei Eurer gefahrvollen Reise nach <strong>Maraskan</strong> beizustehen.“<br />

„Seid bedankt für Euer Angebot, aber ich kann nicht <strong>von</strong> Euch verlangen...“<br />

„Nein, bedankt Euch nicht. Es dient der Schönheit der Welt, mit Euch nach <strong>Maraskan</strong> zu reisen. Auch wenn es<br />

noch gar nicht zu erkennen ist, welchen Zweck Rur dieser Fahrt zugedacht hat, so ist es mein Schicksal, Euch zu<br />

begleiten.“<br />

„Nun, den Zweck habe ich doch bereits erläutert. Die Gebeine meines Großvaters sollen in geweihtem heimischen<br />

Boden ihre letzte Ruhe finden.“<br />

„Gewiss, das ist der Zweck, zu dem Ihr zu dieser Reise aufbrecht. Ob wir diese Aufgabe erfüllen können oder nicht<br />

wird sich weisen. Für mich ist gewiss, dass ich Euch begleiten muss. Auf welche Weise unsere gemeinsame<br />

Aufgabe die Schönheit der Welt mehrt, weiß allein Rur. Vielleicht ist der eigentliche Zweck dieser Fahrt, dass wir<br />

unterwegs in einem kaum beachteten Geschehen ein Kind retten, dass in zwanzig Jahren <strong>Maraskan</strong> zu befreien<br />

vermag. Vielleicht, ach, es ist müßig, den Plan Rurs erraten zu wollen. Es reicht zu wissen, dass einem jeden <strong>von</strong><br />

uns der rechte Platz und die rechte Aufgabe zugewiesen wurde, auch wenn wir diese nicht erkennen können. Rur<br />

ließ mich erkennen, dass es meine Aufgabe ist, Euch zu begleiten. Allein deswegen ist es geschehen, wie es<br />

geschehen ist!“<br />

Alvan hielt inne. Zum erstenmal seit sie in Nordenheim lebte hatte sie nicht nur über die maraskanische<br />

Philosophie geredet, sondern auch an ihren Worten erkennen lassen, dass sie dem maraskanischen Glauben an die<br />

Gottzwillinge anhing. Und das im Beisein einer Geweihten der Zwölf. Was soll´s, dachte Alvan. Wenn es Rurs<br />

Wille ist, dass ich mit der Priesterin gemeinsam reise, dann will ich mich nicht verstellen. Gunelde machte einen<br />

weltoffenen Eindruck. Es war nicht damit zu rechnen, dass das Gespräch nun in eine theologisch-philosophische<br />

Diskussion ausarten würde. Um eine solche jedoch gar nicht erst aufkommen zu lassen wandte sich Alvan anderen<br />

Themen zu.<br />

„Wir müssen also zunächst nach Friedwang aufbrechen, da wir Baronin Serwa und Baron Alrik in Kenntnis setzen<br />

müssen. Und nicht zuletzt muss ich Serwa als meine Lehensherrin bitten, dass sie mir die Erlaubnis zu dieser Reise<br />

gewährt. Nun, sie wird nichts dagegen einzuwenden haben, aber der Form muss allemal genüge getan werden. Und<br />

wer weiß, vielleicht lassen es sich die Herren <strong>von</strong> Friedwang nicht nehmen, uns einen Recken beiseite zu stellen,<br />

der für den Bewaffneten Schutz sorgen wird. Gefolgsleute haben Alrik und Serwa ja genügend, wir werden sehen<br />

ob sich da ein geeigneter findet.“<br />

„Meint Ihr, es sei erforderlich, noch jemanden mitzunehmen. Ist es denn nicht besser, in einer kleinen<br />

Gemeinschaft zu reisen, da eine größere Gruppe Mittelreicher ohnehin nur auffallen würde?“<br />

„Gewiss, zu viele sollten es nicht sein. Aber ich vermute fast, dass Baron Alrik darauf bestehen wird, uns einen<br />

Recken aus seinem Gefolge beizugeben. Sei es aus innerfamiliärer Solidarität, sei es um über den genauen Verlauf<br />

der Reise nicht nur aus unserem Munde sondern direkt <strong>von</strong> einem treuen Gefolgsmann zu erfahren, oder auch weil<br />

er sich nicht nachsagen lassen will, dass er seine Verwandte sich nicht ungeschützt auf ein solch waghalsiges<br />

Unternehmen einlassen sehen will. Aber wir werden sehen.“<br />

„Ihr habt vielleicht Recht. Wir werden ja bald erfahren, wie Alrik reagieren wird. Aber sagt, auf welchem Weg,<br />

meint Ihr, gelangt man am besten nach <strong>Maraskan</strong>? Über Aranien nach Khunchom und dann mit einem Schiff nach<br />

Sinoda, nehme ich an? Danach nordwärts durch den Dschungel?“<br />

„Lasst das mal meine Sorge sein. Ich werde mir alle denkbaren Routen noch einmal durch den Kopf gehen lassen.<br />

Doch jetzt solltet Ihr Euch ausruhen. Wir werden morgen zeitig nach Friedwang aufbrechen, und es ist schon spät<br />

geworden.“<br />

Alvan brachte Gunelde nach oben in das Gästezimmer, das der Knecht zuvor bereitet hatte. Sie wünschte der<br />

Geweihten einen <strong>von</strong> Bruder Boron gesegneten Schlaf und ging dann ebenfalls in ihre Stube. <strong>Das</strong> ihr schon seit<br />

langen vertraute Knarren ertönte, als sie die alte Eichentür hinter sich schloß. Zuvor während des Gesprächs mit der<br />

15


Geweihten war ihr gar nicht bewusst geworden, wie erschöpft sie war, wie sehr sie der Marsch durch die Kälte<br />

angestrengt hatte. Sie war nicht wirklich müde, sie würde wohl lange nicht einschlafen können, so sehr beschäftigte<br />

sie der Gedanke, die Käferinsel wiederzusehen. Aber ihre Beine schmerzten ob der vollbrachten Anstrengung.<br />

Ohne sich auszukleiden ließ sie sich in ihr Bett fallen und schloss die Augen.<br />

Sanfte Hände berührten sie an ihren Schultern. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihren Körper. Die zarten Hände<br />

ihres Vetters verstanden es, einen überanstrengten Körper belebend zu massieren. Alvan genoss es schweigend, wie<br />

ihr Körper wohltuend <strong>von</strong> Sigismund bearbeitet wurde.<br />

„Ich habe gehört, was Du mit der Geweihten besprochen hast. Ein wagemutiges Unternehmen.“ Alvan wollte<br />

auffahren, aber mit einem sanften Druck seiner Hände überzeugte Sigismund sie, dass sie jetzt lieber verwöhnt<br />

werden wollte und lauschte daher ohne Widerworte den Ausführungen ihres Vetters. „Ich habe nicht gelauscht. Der<br />

Kamin im Saal und der in diesem Raum sind verbunden, wie du weißt. Ich bin erwacht, als ihr unten gesprochen<br />

habt. Es war nicht möglich, nichts zu hören.“ Alvan erwiderte nichts. Es war egal, was Sigismund gehört hatte, da<br />

sie es ihm ohnehin erzählt hätte. Die Hände Sigismunds tasteten mit vorsichtigem, aber beständigem Druck die<br />

Rippen des mageren Körpers der Edlen ab. Sigismund erspürte die Verspannungen an den Schultern und Rippen<br />

Alvans.<br />

„Du hattest wohl einen Grund, das Gespräch abzubrechen, als Gunelde auf die Route zu sprechen kam. Nein,<br />

antworte nicht. Ich weiß, du musst dir noch über den besten Weg klar werden und die Gefahren der verschiedenen<br />

Möglichkeiten überdenken. Und doch meine ich, dass du dich schon für einen bestimmten Weg entschieden hast.“<br />

„Na wenn schon. Was kümmert´s Dich, auf welchem Weg ich die Priesterin auf die Insel zu führen gedenke.“<br />

Alvan reagierte unwirsch, aber zugleich spannte sie ihre Rückenmuskeln an und zeigte Sigismund damit, dass er<br />

nicht aufhören solle, sie zu massieren.<br />

„Vielleicht ist´s der Geweihten nicht egal, auf welchem Weg du sie führst. <strong>Das</strong> du nicht über Khunchom reisen<br />

willst, ist deutlich zu erkennen gewesen. Ich kenne Dich mittlerweile besser als du denkst.“<br />

Sigismund hat zweifellos Recht, dachte Alvan. Der Weg über Khunchom und Sinoda erschien ihr nicht als der<br />

ideale. Und das nicht nur, weil er der längste aller möglichen Wege war.<br />

„Lass mich raten. Über Khunchom und Sinoda ist der Weg viel zu lang. Und der Weg <strong>von</strong> Sinoda nach Jergan<br />

durch den maraskanischen Dschungel und durch vom Feind besetzte Gebiete sind ein so großes Risiko, dass man<br />

auch den direkten Weg nehmen kann über die Blutige See.“<br />

Falsch, dachte Alvan, aber sie erwiderte nichts. Aber nicht völlig falsch. Tatsächlich schätzte sie den Landweg<br />

durch <strong>Maraskan</strong> nach Norden als gefährlich ein. Vor allem aber war zu bedenken, dass vermutlich jeder, der vom<br />

Raulschen Reich aus nach <strong>Maraskan</strong> will, diesen Weg wählen würde. Eben deswegen würden die<br />

schwarzmaraskanischen Besatzer damit rechnen und dementsprechend häufig würden im Grenzbereich Patrouillen<br />

unterwegs sein. Ganz zu schweigen da<strong>von</strong>, dass sie nicht wusste, ob sich dort nicht sogar Armeeteile <strong>von</strong> Schwarz-<br />

und Weißmaraskan gegenüberstanden. Nein, das war in ihren Augen mit Sicherheit ein gefährlicher Weg mit<br />

unvorhersehbaren Risiken. Mal abgesehen da<strong>von</strong>, dass eine Reise durch den Dschungel <strong>Maraskan</strong>s auch vor der<br />

Eroberung durch Helme Haffax und seine Schergen zahlreiche Gefahren bereithielt. Manchmal war es klüger, nicht<br />

den augenscheinlich leichtesten Weg zu nehmen, sondern den, bei dem der Feind nicht damit rechnete, weil er sich<br />

dort als am besten gerüstet und gewappnet glaubt.<br />

Sigismund hatte das Kleid Alvans aufgeschnürt, wohl nicht nur um die Halbelfe besser massieren zu können. Noch<br />

immer strichen seine Hände sanft und wohltuend über ihren Rücken. „Es ist wie beim Kartenspiel. Ein guter<br />

Spieler ahnt, was sein Gegner <strong>von</strong> ihm erwartet. So kann er im entscheidenden Moment anders handeln als es der<br />

andere Spieler vermutet und damit das ganze Spiel seinen Wünschen entsprechend verlaufen lassen. Du meinst,<br />

dass die Schwarzmaraskaner am ehesten mit Scharmützeln mit den Bewaffneten Sinodas rechnen und<br />

dementsprechend dort am wachsamsten agieren werden. Hingegen dürfte Haffax am wenigsten damit rechnen, dass<br />

eine kleine Truppe auf direktem Weg in sein Reich vorstößt. Von mittelreichischem oder aranischem Boden<br />

erwartete Haffax derzeit wohl keinen Vorstoß, da sich die genannten Länder zuallererst Schwarztobrien und Oron<br />

widmeten.“<br />

„Mag sein. Mag auch nicht sein. Es dürfte nicht dein Problem sein, welchen Weg ich wähle.“ Alvan wollte ihrem<br />

Vetter gegenüber nicht zugeben, dass dieser sie richtig einschätzte. Aber zumindest erahnte er nicht, dass sie bereits<br />

konkret wusste, wo sie ein Schiff nach <strong>Maraskan</strong> finden würde und wer ihr dabei behilflich sein würde.<br />

Sigismund war <strong>von</strong> seinen massierenden zu streichelnden Bewegungen übergegangen. Seine Finger umspielten<br />

ihre Schultern und ihren Nacken. Sigismund wusste genau, welche Berührungen der Halbelfe gefielen.<br />

„Welchen Weg auch immer du wählst, du brauchst nicht nur bewaffneten Geleitschutz. Du brauchst jemanden mit<br />

Erfahrung im Umgang mit Menschen, der in den Gassen der Städte am Wegesrand weniger auffällt als eine<br />

Geweihte und eine Halbelfe. Jemanden, der sich ungesehen und unbemerkt nach Informationen erkundigen kann.<br />

Ich werde Dich daher begleiten.“<br />

Alvan wollte auffahren, aber die Hände Sigismunds strichen so sanft seitlich über ihre Brüste, dass sie beschloß, zu<br />

einem anderen Zeitpunkt gegen die Begleitung Sigismunds zu protestieren. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen.<br />

„Du kannst morgen Gunelde um ihre Meinung fragen. Wenn sie deiner Begleitung zustimmt, soll´s mir recht sein.“<br />

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war alles, was sie sagen konnte. Im selben Augenblick bereute sie ihre Worte schon wieder. So sanft und zärtlich<br />

Sigismund auch war, für eine Reise nach <strong>Maraskan</strong> mit all ihren Gefahren schätzte Alvan ihren Vetter nicht als den<br />

richtigen Gefährten ein. Aber nach dem anstrengenden Tag war sie zu erschöpft, um weiter darüber nachzudenken.<br />

Sie entspannte sich und ließ mit einem wohligen Knurren die Zärtlichkeiten Sigismunds über sich ergehen. <strong>Das</strong>s<br />

Alvan diese aber nicht erwiderte, sondern stattdessen ob ihrer Erschöpfung mit einem lächelnden Gesichtsausdruck<br />

einschlief war jedoch nicht in Sigismunds Sinn. Von draußen hörte man noch immer das heftige Wüten des<br />

Sturmes.<br />

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II. Kapitel: Der Inquisitor<br />

Angewidert sah Alvan auf den Matsch, der ihrem Pferd <strong>von</strong> den Schenkeln tropfte. Die Landstraße nach Friedwang<br />

war eine einzige langgestreckte Lehmgrube, in deren unzähligen Schlaglöcher brackiges Schmelzwasser stand Auf<br />

der Heide und im umliegenden Wald, der <strong>von</strong> dem schweren Gallysard ziemlich in Unordnung gebracht worden<br />

war, lagen noch immer große, schmutziggraue Schneeflächen.<br />

Es war ein nasskalter, ungemütlicher Tag Anfang Hesinde, eigentlich kein guter Tag zum Reisen. Nun, bis nach<br />

Friedwang waren es nur noch wenige Meilen, trotz der diesigen Luft waren die Burg und die Häuser zu ihren<br />

Füßen bereits schemenhaft zu erkennen. Krähen taumelten durch die Luft und krächzten heiser, eine Stimmung, die<br />

eher dem Herren Boron als der Göttin der Weisheit genehm sein mochte.<br />

Alvan fluchte. Die Straße war wirklich in einem miserablen Zustand, selbst für das winterliche Tauwetter. Baron<br />

Alrik, dieser Geizkragen! Hätten nicht ein paar Bauern aus Schneiß hier und da Tannenreisig auf die schlimmsten<br />

Schlammkuhlen geworfen, die armen Gäule wären längst irgendwo stecken geblieben.<br />

Jetzt, gegen Abend, setzte wieder leichter Schneefall ein. Die Therbûnitin, die einige Schritt hinter ihr auf einem<br />

Esel ritt, hüllte sich enger in ihren klammen Mantel. Unter normalen Umständen hätten sie die kurze Strecke <strong>von</strong><br />

Nordenheim nach Friedwang zu Pferde in wenigen Stunden bewältigt, aber heute... Sigismund war sich zu fein<br />

gewesen, mit zu reiten, er wollte bis zu ihrer Rückkehr auf Gut Belenburg warten. Gut so, wenn sich hungriges<br />

Rotgepelz in der Gegend herumtrieb, wollte sie besser einen Edlen auf den Hof wissen, der notfalls dem Gesinde<br />

Anweisungen geben konnte. Gunelde hatte nichts gegen seiner Teilnahme an der borongefälligen Queste<br />

einzuwenden gehabt, sehr zur Freude ihres Kavaliers. Nun, er ahnte nicht, auf was er sich da einlassen wollte.<br />

Der Schneesturm hatte mit kleinen Unterbrechungen fast zwei Tage gedauert. Am darauffolgenden Morgen hatte<br />

bereits das Tauwetter eingesetzt, und erst seit heute war der Schlamm wieder soweit verfestigt, dass man überhaupt<br />

die eigentlich kurze Strecke zur Burg in Angriff nehmen konnte.<br />

Die letzten Meilen vor Friedwang befand sich die Straße wieder in einem leidlich guten Zustand - die Löcher waren<br />

mit Schieferkies verfüllt, und auch sonst hatten die Friedwanger mit Schotter nicht gegeizt.<br />

Es dämmerte bereits, als die beiden Frauen durch das Tor in die engen Gassen des Marktfleckens ritten. Friedwang<br />

war ein typisch darpatisches Dorf, das fast schon ein wenig kleinstädtisch wirkte: schmucke Fachwerkhäuser, mit<br />

Schieferschindeln gedeckt, hier und da leuchtete heimelig eine Laterne im Orange der Travia.<br />

Vor allem der gepflasterte Alboransplatz gab Friedwang den Eindruck einer Landstadt: Der schmucke<br />

Gänsebrunnen mit der Pferdetränke, die prächtige Basilika des Praios sowie die heilige, <strong>von</strong> einer großen Kuppel<br />

überwölbte Halle der Travia waren für ein Dorf <strong>von</strong> rund achthundert Einwohnern eigentlich bereits Luxus. Im<br />

"Springenden Steinbock" ging es hoch her, fröhlicher Lärm, Becherklirren und Lautengeklimper waren zu hören.<br />

Eine Katze eilte mit wirbelnden Pfoten auf eine große Scheune zu, vermutlich fühlte sie sich <strong>von</strong> den Reisenden<br />

gestört.<br />

Alvan wendete ihr Pferd nach rechts, in die Burggasse, die <strong>von</strong> hier aus zum Friedstein hinaufführte. Es schneite<br />

wieder stärker, allerdings blieb der Schnee nicht liegen.<br />

Wenig später standen die beiden vor dem Tor der Burg. Barnhelm, der Büttel, war gerade dabei, die mächtigen<br />

Flügel zu schließen, gemeinsam mit einem Gefährten, den Alvan nicht kannte. Nach kurzem Geplauder wurden die<br />

beiden in den Vorhof eingelassen, wo ein herbeigerufener Knecht die völlig erschöpften Pferde übernahm.<br />

Barnhelm legte den schweren Riegel des Burgtores vor, dann führte er die beiden Neuankömmlinge über den<br />

Haupthof in den Tedesco-Saal, wo ein gemütliches Kaminfeuer prasselte, und eine Magd die völlig durchnässten<br />

Mäntel an sich nahm.<br />

Die Wärme war noch nicht zur Gänze in Alvans Glieder zurückgekehrt, als der Baron und seine Gemahlin die<br />

Treppe herab geschritten kamen.<br />

"Meine Schwester hier in Friedwang?" dröhnte Alrik los. "Ein ungewöhnlicher Besuch. Noch dazu in Begleitung<br />

der werten Alvana <strong>von</strong> Nordenheim. Den Habit der Peraine trägst du auch noch, liebe Gunelde, wahrlich, was für<br />

eine Überraschung. Nun denn, willkommen auf Burg Friedstein."<br />

Nach dem Austausch einiger Höflichkeitsfloskeln wurde ein kleines Abendessen auf den schweren eichenen Tisch<br />

gestellt und Wein in die zinnenen Becher gefüllt. Langsam wich die Last der Reise <strong>von</strong> den beiden Frauen ab.<br />

Alvans Blick ging zu Serwa, die, wie sie erst jetzt bemerkte, niedergeschlagen, wenn nicht gramerfüllt wirkte.<br />

Waren ihre Augen nicht gerötet, gar so, als hätte sie vor kurzem bitter geweint?<br />

"Was ist mit Dir, liebe Serwa?" fragte Alvan. "Du wirkst bedrückt."<br />

Einen Augenblick lang schwieg die Baronin, dann kämpfte sie erneut mit den Tränen.<br />

"Deggen... Deggen ist tot" stieß sie schließlich mit tonloser Stimme hervor, begleitet <strong>von</strong> einem Schluchzen. Hastig<br />

presste sie sich eine Serviette an die bebenden Lippen.<br />

18


Alvan erstarrte. Deggen tot? Aber... das konnte... das durfte nicht sein. Nach einigen Schrecksekunden hörte sie in<br />

sich die kalte Seesöldnerin sprechen: Er war ein Rondrageweihter. Du musstest damit rechnen.<br />

"<strong>Das</strong>... das sind wahrlich schlechte Neuigkeiten. Wie... wie ist das passiert?"<br />

"Heute Morgen lag er unter dem Tisch... sie haben ihn vergiftet... entschuldige mich" Serwa sprang auf, und<br />

taumelte <strong>von</strong> einem erneuten Weinkrampf geschüttelt nach draußen.<br />

Es dauerte eine Weile, bis Alvan begriff, dass nicht der ehemalige Baron <strong>von</strong> Gallys, Serwas Bruder und Alvans<br />

Vetter, sondern Serwas gleichnamiger Hund gemeint war. Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim fühlte Erleichterung in sich<br />

aufsteigen, aber auch Ärger. Wegen einem Hund ein solches Gewese zu machen. Serwa benahm sich, obwohl sie<br />

beinahe vierzig Götterläufe zählte, manchmal immer noch wie ein großes Kind.<br />

Schon allein, dass sie diesen Mischlingsköter "Deggen" genannt hatte. Für Serwa war es ein feiner Scherz gewesen,<br />

eine Provokation gegenüber der Fürstin, die es verboten hatte, den Namen des Verbannten laut zu nennen. Mehr als<br />

einmal war Alvan zusammengezuckt, wenn die Baronin den Name ihres Bruders durch die Burg gerufen hatte. So<br />

war der Hund nun also tot. Sei´s drum, Alvan war mehr als nur in einer Hinsicht froh, dass der<br />

Alborandinermischling gemeint war und nicht sein zweibeiniger Namensvetter. Für den stellte es ja wohl auch eine<br />

Beleidigung, wenn man einen Hund nach ihm benannte.<br />

"Bei der Schönheit der Welt, der H u n d ist zu Bruder Boron gegangen. Ich dachte schon..."<br />

Alrik seufzte. "Gewiss, man könnte meinen, sie hätte ihren Bruder verloren. So eine Spinnerei." fügte er leise<br />

hinzu. "Nun ja, sie wird darüber hinweg kommen."<br />

"Wie ist es denn passiert?"<br />

"Wahrscheinlich vergiftet. Nichts Genaues weiß man nicht. Jedenfalls rennt Serwa jetzt den ganzen Tag herum,<br />

droht und schreit. Hinrichten lassen will sie den Mörder, vierteilen und aufhängen. Dabei war es vermutlich nur ein<br />

treuer Rabenmundanhänger, der es für seine Pflicht gehalten hat, dem Treiben ein Ende zu setzen. Ihr weißt ja, die<br />

Fürstin..."<br />

"Gewiss, der Name des Tieres war... ein wenig verfänglich." Einen Augenblick überlegte sich Alvan, ob nicht der<br />

Baron selbst dahinter steckte. Wenn ja, dann ließ er es sich nicht anmerken.<br />

"Nun denn, die Rommilyser hängen keinen. Mir ist die ganze Sache eher peinlich. Ich muss mich bei euch<br />

entschuldigen. Es gibt wirklich größere Katastrophen, als der Tod eines Hundes. Habt Ihr den Sturm gut<br />

überstanden?"<br />

"Mehr oder weniger. In Nordenheim gab es schon einige Schäden, vor allem Wald. Aber wegen dem Sturm sind<br />

wir eigentlich hier..."<br />

Der Baron kniff sein gesundes Auge zusammen. "Geht es um Geld?"<br />

"Nein, keine Sorge, so schlimm war es nicht. Aber vielleicht sollte eher Eure Schwester erzählen."<br />

"Meine Schwester... äh, ja" Einen Augenblick lang wirkte der schwarzgelockte Mann mit der Augenklappe<br />

verlegen. "Seit Wolkenried haben wir nichts mehr <strong>von</strong> uns gehört. Ich hätte dich kaum wiedererkannt, äh,<br />

Schwesterchen. Seit wann trägst du das Ornat des Therbûnitenordens?"<br />

"<strong>Das</strong> ist eine lange Geschichte." Gunelde räusperte sich, dann begann sie zu erzählen. Nur ab und an wurde sie <strong>von</strong><br />

Alvan unterbrochen, die ihren Teil des Geschehens beisteuerte. Gerade als die beiden geendet hatten, trat Serwa<br />

wieder ein, mühsam beherrscht. Alrik fasste für sie den Bericht noch einmal zusammen.<br />

Die Baronin hatte sich offenkundig wieder gefasst, denn ihre Stimme klang ruhig, als sie zu Sprechen anhob:<br />

"Fürwahr, eine seltsame Fügung des Schicksals. Nach <strong>Maraskan</strong> wollt Ihr beiden nun reisen. <strong>Das</strong> ist fürwahr sehr<br />

mutig."<br />

Alrik schnaubte verächtlich (tatsächlich hatte er schon verhaltene Ablehnung gezeigt, als Alvan auf ihre Pläne zu<br />

sprechen gekommen war): "Mutig? <strong>Das</strong> ist der helle Wahnsinn! In die Schwarzen Lande reisen, um ein paar alte<br />

Knochen auszugraben. Sein Leben riskieren - wegen einem Toten... Was sage ich da: Leben? <strong>Das</strong> Seelenheil."<br />

"Immerhin ist es dein... unser Großvater, der dort in verfluchter Erde ruhen muss!" Gunelde sah ihren Bruder<br />

vorwurfsvoll an. "Du weißt, was sie mit den Toten machen!"<br />

"Ich weiß, was sie dort mit den Lebenden machen" knurrte Alrik. "Nein, das verstehe ich nicht. Auf einen bloßen<br />

Traum hin all diese Gefahren auf sich zu nehmen."<br />

"Ein Traum, der mich in einem Borontempel ereilt hat, am Jahrestag der Schlacht <strong>von</strong> Jergan! <strong>Das</strong> ist, das kann<br />

doch kein Zufall sein. Großvater selbst hat mir diesen Traum gesandt, wenn nicht..." Gunelde brach ab, blickte<br />

nach oben, zu dem mächtigen Radleuchter, auf dem mehrere Kerzen blakten.<br />

"Der Schweigsame selbst?" vervollständigte Alrik den Satz. "Gewiss doch, der Herr Boron ist unersättlich. Zwei<br />

Tote mehr in seinen Hallen, warum nicht. Reist ruhig nach Osten, man wird Euch dort mit offenen Armen und<br />

gewetzten Klingen empfangen. Boron wird es freuen, gewiss, so ihr denn den Weg in seine Hallen findet." Der<br />

Baron wedelte mit der Hand vor dem Mund, die lästerlichen Worte symbolisch zu vertreiben.<br />

"So darfst du nicht sprechen" Gunelde Stimme klang scharf. "<strong>Das</strong> ist Lästerung."<br />

"O nein! Im Monat der Göttin der Klugheit derartig hirnrissige Pläne zu schmieden - das nenne ich lästerlich"<br />

polterte Alrik zurück. "Du weißt nicht, <strong>von</strong> was du sprichst. Ich war drüben - bei den Dreckigen." Der Friedwang<br />

19


tippte auf seine Augenklappe, dann wies er nach unten, auf seinen Oberschenkel. "Oder warum glaubst du, warum<br />

dein Bruder zum Krüppel geworden ist? Aber selbst das war nur ein Spaziergang - verglichen mit dem, was ihr<br />

vorhabt. Verzeiht, werte Alvan, aber wenn ich mir euch beide so anschaue, dann werdet Ihr es nicht einmal übers<br />

Perlenmeer schaffen. Eine Perainegeweihte und eine zierliche Halbelfe - wahrlich eine Streitmacht, vor der sich<br />

Helme Haffax fürchten muss" Alrik war wie so oft kurz davor, sich in Rage zu reden.<br />

"Ich kenne mein Schicksal und weiß, dass ich es nicht ändern kann" Alvans Stimme klang betont gelassen, aber<br />

bestimmt. "Ihr habt recht: Wir können Hilfe gebrauchen. Zwar wird uns noch Sigismund, ein guter Freund<br />

begleiten, aber eine weitere Klinge wäre fürwahr <strong>von</strong>nöten. Deswegen sind wir hier. Ich wollte Euch fragen, ob Ihr<br />

uns nicht einen Eurer Dienstmannen als Leibwache zur Verfügung stellen könntet?"<br />

Alrik fingerte eine Pfeife hervor, und begann sie zu stopfen, wobei der meiste Tabak sich mehr auf dem Tisch als<br />

im Pfeifenkopf verteilte:<br />

"Also insgesamt dann vier Tote in Aussicht? Na wunderbar. Wie stellt Ihr Euch das vor? Soll ich diesem Krieger<br />

befehlen, erst Selbstmord zu begehen, mehr noch, seine Seele aufs Spiel zu setzen? Nein, werte Alvan, dieser Tanz<br />

ist mir eindeutig zu heiß. Wir sollten uns besser setzen und dem munteren Treiben aus gebührender Ferne zusehen.<br />

Nach Schwarzmaraskan reisen, haha!" Alrik lachte auf, als habe die Nordenheimerin einen köstlichen Scherz<br />

gemacht.<br />

"Nun gut, dann werden wir eben nur zu dritt aufbrechen" Guneldes Stimme zitterte leicht. "Wenn Du mir keine<br />

Hilfe leisten möchtest, Bruder. Ich werde auf jeden Fall reisen! <strong>Das</strong> bin ich Großvater schuldig! Der Schweigsame<br />

sei mein Zeuge: Ich werde seine Gebeine nach Friedwang bringen!"<br />

Alrik musterte seine Schwester lange, während er mit der Pfeife zu paffen begann: "Oho, ich verstehe, jetzt soll ich<br />

ein schlechtes Gewissen kriegen. Aber glaube mir, ich hätte ein schlechteres Gewissen, wenn ich einem braven<br />

Mann oder einer wackeren Frau befehlen müsste, in den sicheren Tod zu gehen. Wenn es denn nur der Tod wäre,<br />

der sie dort drüben erwartet. Sei´s drum, wenn ihr glaubt, auf göttliches Geheiß hin zu handeln, kann ich euch nicht<br />

aufhalten. Aber ins Verderben mitschicken werde ich euch niemanden. "<br />

Einen Moment lang herrschte quälendes Schweigen.<br />

"Warum gehst Du nicht mit?"<br />

Es war Serwa, die diese Frage gestellt hatte.<br />

"Was?"<br />

"Nun, Gunelde hat recht. Immerhin ist es dein Großvater, der dort drüben in ungeweihter Erde ruhen muss."<br />

"Oh, keine schlechte Art und Weise, seinen Gatten zu beseitigen. Nachdem es in Drachweiler nicht ganz geklappt<br />

hat." Alrik schüttelte den Kopf.<br />

Die Edle musste schmunzeln. Sie hatte einige Gerüchte aufgeschnappt, wonach Serwa und der junge Adran <strong>von</strong><br />

Oppstein... Aber das gehörte nun nicht hierher. Serwas Idee hatte etwas für sich: Alrik kannte sich in den<br />

Schwarzen Landen aus und besaß bereits Dschungelerfahrung. Nicht zuletzt sah er mit seiner Augenklappe, der<br />

südländischen Hautfarbe und dem schwarzen Spitzbart selbst derart zwielichtig aus, dass er unter<br />

Dämonepaktierern und Söldnerabschaum nicht sonderlich auffallen würde. Die Frage war nur, was ihn dazu<br />

bewegen konnte, bei dieser Queste mitzumachen. Nach einigen Augenblicken wusste Alvan die Antwort.<br />

"Bedenkt, das heilige Wasser des Talued ist äußerst heilkräftig. Es vermag selbst schwere Verstümmelungen zu<br />

heilen."<br />

"Ach ja? Irgendwie macht es wenig Sinn, sich auf der Suche nach einem Heiltrank erst blutig schlagen zu lassen!"<br />

"Verzeiht, ich will Euch nicht zu nahe treten, aber Ihr seht mir aus, als könntet Ihr schon jetzt einen Schluck aus der<br />

Taluedquelle gebrauchen."<br />

Alrik blies eine große Rauchwolke über den Tisch, während im Kamin ein brennendes Scheit zur Seite rumpelte.<br />

"Danke für die Blumen. Ich habe schon verstanden. Aber wer sagt denn, dass in diesem Krug wirklich Talub-<br />

Wasser"<br />

"Talued-Wasser..."<br />

"...dass sich im Versteck wirklich dieses berühmte Heilwässerchen befindet. Es könnte sich dabei auch um einen<br />

Krug maraskanischen Rum handeln ..."<br />

"Nicht sehr wahrscheinlich, den Umständen nach zu schließen. Immerhin kam in Guneldes Traum eindeutig eine<br />

Priesterin der Göttlichen Zwillinge vor, und die verstecken gemeinhin keinen Schnaps."<br />

"Gut, dass dieser Rur- und Gror-Pfaff... äh, Priester keine Säufer sind, sei Euch bewilligt. Aber ich verspüre keine<br />

Lust, auf einen bloßen Traum hin durch den maraskanischen Dschungel zu tappen. Im Gegensatz zu Euch hänge<br />

ich nämlich an meinem Leben und an meiner Seele." Der Baron lehnte sich knarrend zurück "Ist Euch eigentlich<br />

schon einmal aufgefallen, dass Ihr keinen blassen Schimmer habt, wo sich dieses Grab überhaupt befindet?"<br />

"Nun, die Umstände weisen eindeutig auf die nähere Umgebung des Schlachtfelds <strong>von</strong> Jergan hin."<br />

"Ach, und was macht Euch da so sicher?"<br />

"Nun, Euer Großvater ist doch in dieser Schlacht gefallen."<br />

20


"O, ich habe da auch eine andere Geschichte gehört. Danach ist er an einem Käferbiss gestorben - irgendwo im<br />

tiefsten Dschungel."<br />

Die Perainedienerin sah betreten drein, ebenso Alvan. Nun meldete sich wieder Serwa zu Wort: "Nun, ich denke,<br />

diese Frage läßt sich klären. Es gibt noch einige Friedwangen, die damals mit auf der Käferinsel waren. Die<br />

müssten doch eigentlich was wissen. Mal überlegen... Herdfriede Karrer? Nein, die wohnt in Senkenthal... der<br />

einarmige Darpinian Rotappel... der ist letztes Jahr gestorben. Hmmm..."<br />

"Der alte Dankwart Heimstein hockt um diese Stunde bestimmt unten im Steinbock und läßt sich vollaufen"<br />

brummte Alrik. "Der war doch bei sämtlichen großen Schlachten der letzten hundert Götterläufe dabei, so wie der<br />

immer angibt. Vielleicht sollten wir den mal herkommen lassen...?"<br />

"Warum gehen wir nicht hinunter in den Steinbock" schlug Serwa vor. "Es ist immer ratsam, den Kontakt zum<br />

einfachen Volk zu pflegen."<br />

"Ganz recht, da können selbst manche Adelige noch was lernen, was gesunden Menschenverstand angeht." Der<br />

Einäugige schüttelte verständnislos den Kopf.<br />

Der gute Heimstein war tatsächlich schon ziemlich angetrunken, als die Vier in die Schankstube des alten<br />

Wirtshauses traten. Offenbar weilte Alrik des öfteren hier unten, zumindest schienen es die Dörfler für eine nicht<br />

allzu große Sensation zu halten, als ihr Baron mit einem mal unter sie trat. Einige Augenblicke später saß man in<br />

einem Hinterzimmer, der nun doch etwas eingeschüchtert wirkende Veteran mit einem neuen Humpen Ogerbräu in<br />

der Hand. Dankwart Heimstein war nicht ganz so betagt, wie ihn sich Alvan vorgestellt hatte: ein blonder Mann um<br />

die sechzig Götterläufe, die Haare bereits schütter und ergraut, das Gesicht vom Wetter gegerbt und der Sonne<br />

gebräunt. Die fehlenden zwei Finger an der linken Hand mochten eine Kriegsverletzung sein, vielleicht waren sie<br />

aber auch einfach auf einen Unfall mit der Sichel zurück zu führen. Jedenfalls sah der biedere Mann nicht so aus,<br />

als sei er im Leben je aus der Baronie Friedwang herausgekommen.<br />

"Also, nun erzähl mal, Dankwart, wie war das damals auf der Käferinsel. Als dort der Baron gestorben ist...Wo<br />

habt Ihr den guten Alboran begraben? "<br />

"Joll, das is´ ´ne lange Geschichte, Herr Baron. Wir sind mit der Zweiten Legion unter dem guten Voltan <strong>von</strong><br />

Rommilys - Voltan Vorwärts, nannten wir ihn - die Straße <strong>von</strong> Tuzak rauf, nachdem wir dort die Flotte <strong>von</strong> den<br />

Käferfressern abgefackelt ham. Rondra, war das ein Spektakel. <strong>Das</strong> werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Die<br />

Käferzähler haben geblökt wie die Darpatochsen, als sie ins Wasser gehüpft sind, und einige haben gebrannt wie<br />

Pechfackeln. Die an Land sind dann gerannt wie die Goblins. Feige Schweine! Viel zu kämpfen gab es nicht,<br />

Peraine sei Dank. Mir hat so ein altes Muttchen den Nachttopf auf den Kopf geschüttet, <strong>von</strong> so ´nem Turm runner,<br />

und dabei hat sie geflucht wie ein Kesselflicker, aber das war´s im Großen und Ganzen schon. Können halt nicht<br />

kämpfen wie wir Wehrheimer, die damischen Fladenschmeißer."<br />

Alvan sah ungehalten drein, sagte aber nichts.<br />

"Schon gut" unterbrach Alrik den Redefluss. "Uns interessiert eher das Ende <strong>von</strong> diesem glorreichen Feldzug."<br />

"Natürlich, Euer Hochgeboren. Wir sind also die Straße nach Jergan raufgelatscht. Drei Banner Friedwangen war´n<br />

wir, hieß es, aber das ist natürlich Quatsch, wir waren selbst am Anfang nich´ mal zwölf Hände voll, eher weniger.<br />

Naja, der Marsch war kein Spaß, bei Peraine. Nich wegen den <strong>Maraskan</strong>ern, nee, <strong>von</strong> denen hat sich keiner blicken<br />

lassen und wenn, dann nur <strong>von</strong> hinten. Sind halt feige Schweine und kämpfen höchstens wie die Goblins, aus dem<br />

Hinterhalt, oder mit Gift und so ´nem krummen Zeugs..."<br />

Bei dem Wort "Gift" verfinsterte sich wiederum Serwas Miene.<br />

"Naja, dem haben wir das Wehrheimer Strammstehen schon beigebracht. Wir hatten trotzdem Verluste, wegen<br />

Krankheiten und so, <strong>von</strong> uns hatte ja jeder die Scheißerei, ´tschuldigung, Frau Baronin. Die Blutkäfer haben uns<br />

auch mächtig zugesetzt und den guten Xavert hat so eine Riesenspinne totgestochen, so eine Marasse, oder wie die<br />

ekligen Viecher heißen. Naja, und ab und zu flog auch schon mal ein Pfeil aus dem Hinterhalt. Jedenfalls sind wir<br />

ziemlich zurück geblieben, einen Tag oder zwei vom Hauptheer entfernt, was aber nur daran lag, dass wir keine<br />

genagelten Stiefel hatten so wie die feinen Herren Gardisten. Jedenfalls waren wir nicht die einzigen Nachzügler,<br />

das müsst ihr mir glauben, neben mir ist zum Beispiel so ein Albernier gelaufen, dem sein Pferd ist tot umgefallen<br />

wegen einem Schlangenbiss. Also, wie soll ich sagen, als der gute Voltan am dritten Boron den Alrechs bei<br />

Hemandu den Arsch aufgerissen hat, da waren wir noch ziemlich weit weg vom Schuss. Nicht, dass wir überhaupt<br />

nichts zu tun bekommen hätten. <strong>Das</strong> muss so um den zweiten Boron rum gewesen sein. Mitten im Dschungel sind<br />

sie über uns hergefallen, keine Ahnung, ob das Bauern waren oder Straßenräuber, wie die Palastwache <strong>von</strong> diesem<br />

Frumold sahen die jedenfalls nicht gerade aus. Naja, es gab ein kleines Scharmützel und das feige Pack hat sich<br />

auch ziemlich schnell in den Dschungel verkrümelt. wenn echte Schwarzsichler hinlangen, da nimmt man auch<br />

besser Reißaus. Na gut, sechs <strong>von</strong> uns lagen auch tot auf dem Boden oder waren auf dem besten Weg abzunippeln,<br />

darunter mein Nachbar, der arme Zoltan Heuenstroh" Tränen traten in die Augen des stoppelbärtigen Bauern, der<br />

hastig einen weiteren Schluck nahm.<br />

"Den hat so eine maraskanische Klinge den Bauch aufgerissen, das alles raus gequollen ist wie beim Schlachttag,<br />

kein schöner Anblick, aber was will man machen, so is´ eben der Krieg. Nix für unsereins. Ich glotz gerade hin und<br />

21


überleg mir, ob ich kotzen soll, da schreit unser Herr Baron auf... nach so einem Käfer auf der Wange hat der<br />

geschlagen. hat ihn wohl für ´ne Stechmücke gehalten, und das Mistding muss ihn dann irgendein Gift rein<br />

gespritzt haben. Ist schon eine Schweinerei: Den ganzen Feldzug über kriegt der gute Herr Alboran keinen Kratzer<br />

ab und wegen so nem kleinen Käferlein fällt der dann aus dem Sattel, rollt mit den Augen, hat Schaum vor dem<br />

Mund und lallt wirres Zeug. Am Abend des zweiten Boron war er dann mausetot, vielleicht war es aber auch schon<br />

nach Mitternacht und der dritte Boron, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Naja, die Stimmung war danach<br />

endgültig im Eimer. Ich meine, da fragt man sich schon, was der ganze Aufwand eigentlich soll: Ne Insel erobern,<br />

auf der mal eben so ein kleines Käferchen herfliegt und unseren Baron totmacht. Ich meine, der gute Kaiser Reto<br />

wird schon gewusst haben, was er auf diesem peraineverfluchten Eiland will, unsereins hat ja nicht den rechten<br />

Verstand dafür. Auf jeden Fall haben wir den guten Herrn Baron am nächsten Morgen beerdigt, am Tag der großen<br />

Schlacht, nahe der Senke, wo uns das Pack überfallen hat. Ein kleines schattiges Seitental in den Dschungel hinein,<br />

ziemlich nebelig. <strong>Das</strong> `Tal der Glühwürmchen´, so nennen die Einheimischen die Gegend. Da war nämlich ein<br />

kleiner Weiler in der Nähe, den Namen habe ich allerdings vergessen, vielleicht hatte er auch gar keinen. Am<br />

Eingang des Tals standen zwei Felsen, sahen ein bisschen aus wie Raben, `die Wächter´ haben wir sie genannt. Ich<br />

glaube, deswegen haben wir uns auch das Tal als letzte Ruhestätte für unseren Herrn Baron ausgesucht. Rechtsab<br />

vom Weg war das, soweit ich mich erinnern kann, irgendwo südwestlich <strong>von</strong> Nuran, ein gutes Stück weiter<br />

praioswärts, da wo die Straße durch den Dschungel geht, aber fragt mich bloß nicht nach Meilen, wir kamen uns<br />

damals schon vor wie in der Mitte <strong>von</strong> Nirgendwo und es ist auch schon lange her, fast vierzig Jahre."<br />

Alvan nickte: "Nuran liegt südwestlich <strong>von</strong> Jergan...Bis zum Dschungel sind es <strong>von</strong> dort aus allerdings noch einige<br />

schöne Meilen, fast eine Tagesreise. <strong>Das</strong> ist allerdings eine völlig andere Gegend als das Schlachtfeld <strong>von</strong><br />

Hemandu. Aber die Felsformation dürfte ausfindig zu machen sein. Man müßte halt in der Gegend um Hemandu<br />

die richtigen Personen fragen. Aber das würde sich vor Ort klären, jetzt standen erst einmal die<br />

Reisevorbereitungen im Vordergrund."<br />

Alrik nickte. Auch wenn er zuvor noch lautstark geschimpft hatte über den waghalsigen Plan seiner Schwester, so<br />

reizte ihn doch einmal mehr die Fahrt ins Ungewisse. Zu lange schon war er hier auf Burg Friedwang gewesen.<br />

Und die Hoffnung, dank des Talued-Wassers sein Augenlicht wieder zu erlangen, war wirklich verlockend und ein<br />

Wagnis wert.<br />

***<br />

Zwei Praiosläufe danach saßen die vier im Sattel und ritten die alte Sichelstraße südwärts. Gallys, das die vier an<br />

diesem Abend erreichen wollten, lag einen strammen Tagesritt südöstlich <strong>von</strong> Nordenheim. Alvan führte die<br />

Gruppe an. Die Halbelfe hatte sich in einen langen Rock und eine Bluse aus einfachem Leinen gekleidet – wie<br />

Sigismund fand eine abscheuliche Kleidung, die zwar die schlanke Figur Alvans betonte, aber ansonsten eher<br />

ärmlich aussah. Man musste sie ja auf den ersten Blick gar für eine Magd halten. Sigismund musste jedoch<br />

zugeben, dass dies ja auch so seinen Zweck hatte, denn man konnte ja kaum nach Schwarzmaraskan einreisen und<br />

dem Zöllner freundlich sagen, man sei <strong>von</strong> darpatischem Adel. Absurde Vorstellung. Zweckmäßig war die<br />

Kleidung allemal, und gegen Wind und Regen bot der braune vom langen Tragen verschlissene Reisemantel<br />

ebenso. Um die Hüften trug Alvan einen viel zu breiten Ledergürtel, an dem ihr Dolch, ein Krug und ein<br />

Lederbeutel mit ein paar Habseligkeiten hingen. Auch ihren Kurzbogen und einen Köcher mit Pfeilen führte sie mit<br />

sich. Alvan hoffte, in Gallys ihren Vater zu treffen und dazu überreden zu können, sie zu begleiten. Bei der<br />

gefahrvollen Reise, die sie erwartete, war Odilon gewiss ein wertvoller Begleiter. Alvan kannte niemanden, der das<br />

Schwert sicherer führte als ihr Vater. Allein wusste sie nicht, ob er derzeit überhaupt in Gallys weilte.<br />

Sigismund war seinerseits nicht dazu bereit gewesen, sich in ärmliche Lumpen, wie er sagte, zu hüllen. Aber man<br />

mochte ihm zugute halten, dass seine Kleidung zwar bunt und farbenfroh war, aber nicht so kostbar, dass sie zu<br />

auffallend gewesen wäre. Eine weite dunkle Leinenhose und ein nach Landsknechtsstil geschnittenes Hemd war<br />

bei Spielern und Streunern aus aller Herren Länder verbreitet und würde keinen Argwohn erregen. Alvan hatte<br />

ihnen allen eingeschärft, dass sie aus Vorsichtsgründen als Gemeine reisen, und sich nicht als Adelige zu erkennen<br />

geben sollten. Den beiden folgten die Geschwister Alrik Tsalind und Gunelde. Sigismund hatte seit dem Aufbruch<br />

ein mehr und mehr ungutes Gefühl befallen. Welcher Dämon mochte ihn geritten haben, dass er freiwillig zu einer<br />

solchen Reise bereit war. Alvan mochte hübsch sein und als Edle <strong>von</strong> Nordenheim auch nicht arm, aber für eine<br />

Frau das Leben zu riskieren war doch wahrlich eine Dummheit gewesen. Es gab schließlich auch noch andere,<br />

weniger komplizierte und weitaus hübschere Frauen. Aber jetzt war er schon dabei, und es war eine Sache der<br />

Ehre, sein Wort nicht zu brechen.<br />

„Wie stellt Ihr Euch die Reise vor?“ erkundigte sich Gunelde bei Alvan. „Welchen Reiseweg haltet ihr für den<br />

besten?“<br />

„Wie ich schon sagte, wir müssen einen Weg wählen, der nicht auffällt. Wenn in jeder Schänke bekannt wird, dass<br />

wir nach <strong>Maraskan</strong> reisen, wird man uns nicht nur für der heiligen Noiona gefällig halten. Vielmehr dürfte sich das<br />

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auch herumsprechen, was zu einer hinderlichen Bekanntheit führen würde – und die Schergen der Schwarzen<br />

Lande haben ihre Zuträger. Also werden wir uns zunächst nach Zorgan halten. Wer uns nach dem Ziel unserer<br />

Reise fragt, dem sagen wir, wir seien Pilger auf dem Weg zum Perainetempel in Zorgan. Mit Euch als der Göttin<br />

geweihter Begleitung wird niemand Argwohn hegen, steht doch nicht umsonst der bedeutendste Tempel Peraines<br />

eben in Zorgan.“<br />

„Kein schlechter Gedanke“ stimmte Alrik dem zu. „Ich habe auch nicht das Bedürfnis, es an die<br />

Praiostempelglocke zu hängen, dass ich mich für ein solch wahnwitziges Unternehmen habe überreden lassen.<br />

Ganz Rommilys wird mich für völlig verrückt halten, wenn man da<strong>von</strong> erfährt. Von der spitzen Zunge des<br />

Oppsteiners möchte ich gar nicht reden. Nein, es ist fürwahr besser, wenn wir inkognito reisen.<br />

„Gewiss doch.“ Stimmte Sigismund zu, und freute sich dabei darüber, möglicherweise einmal ein nützliches Detail<br />

zuviel über Alrik Tsalind zu wissen. „Aber dann dürfte es erforderlich sein, dass wir auch die standesgemäßen<br />

Etikette außer acht lassen. Eine Reisegesellschaft einfacher Pilger redet sich für gewöhnlich nicht mit Ihr an,<br />

abgesehen natürlich <strong>von</strong> unserer geschätzten Geweihten. Gunelde, Ihr werdet demnach auch nach außen hin als die<br />

Sprecherin <strong>von</strong> uns auftreten müssen. Mir als einfachem Streuner und Pilger, der ich ja dann wohl bin, stünde dies<br />

jedenfalls nicht zu. Ebenso nicht der augenscheinlich als Fährtenkundigen beschäftigten Halbelfe. Ja, Alvan, du<br />

hörst recht. Mit Deinen spitzen Ohren wird man Dir die Pilgerfahrt zu Ehren der Peraine nicht unbedingt<br />

abnehmen. Man hegt halt mancherorts Vorurteile gegenüber Elfen.“<br />

„Also hab ich mich dann als Waldläuferin und weitgereiste Elfe für Geld als Führerin anwerben lassen? Wohl auch<br />

nicht gerade die typischste Beschäftigung einer Halbelfe. Aber auch nicht schlechter als die perainegläubige<br />

Elfenpilgerin. Gut, halten wir es so.“ Alvan gab ihrem Pferd einen leichten Schenkeldruck und es verfiel in einem<br />

schnellen Trab. Sie legte ein gutes Tempo vor, so dass sie nahezu zeitgleich mit dem Sonnenuntergang die Stadt am<br />

Artemaberg erreichten.<br />

***<br />

Es regnete, als sie Gallys verließen. Über der Heide lag ein bewölkter, bleigrauer Winterhimmel, der die Berge und<br />

die Wälder als noch finsterer erscheinen ließ, als sie es ohnehin schon waren.<br />

Alrik hob den Kopf, so dass ihm etwas Wasser <strong>von</strong> der Hutkrempe troff und schnaubte: "Wahrlich ein<br />

niederhöllisches Wetter! Erst ein Schneesturm, dann Tauwetter, nun dieses ständige Geniesel. Warum sind wir<br />

nicht einen Tag länger auf Burg Gallys geblieben?"<br />

"Heute Morgen war der Himmel noch klar. Aber solange es regnet, gibt es wenigstens keinen neuen Schneesturm.<br />

Wir müssen das milde Wetter ausnutzen" antwortete Alvan, während ihr Pferd weiter auf dem Weg nach Süden<br />

ausholte. Tatsächlich war es für die Jahreszeit ungewöhnlich warm, obwohl der Gallysard erst wenige Tage zurück<br />

lag. Mittlerweile kam ihr das Fauchen und Heulen, die Kälte und die Urgewalt des Sturms nur noch wie ein<br />

schlechter Traum vor.<br />

"Mildes Wetter? Na, ich weiß nicht recht. Irgendwie kommt für mich das alles aus dem Osten" entgegnete<br />

Sigismund an Stelle des Barons. "Seitdem dort die Verfluchten herrschen, ist nicht einmal mehr das Wetter<br />

berechenbar. Also gut. Halten wir fest: Dein Vater ist mit Jirka in den Bergen, um sich ein paar warme Pelze für<br />

den Winter zu schießen. " Sigismund kniff die Augen zusammen, wo ihn ein Regentröpfchen getroffen hatte.<br />

"Er wird aber in den nächsten Tagen zurückerwartet und uns vielleicht nachfolgen. Soweit habe ich den guten Raul<br />

ja noch verstanden. Aber was bei Hesinde wollen wir in diesem Nest Orweiler?"<br />

"Nun, Orweiler liegt auf dem Weg nach Bohlenburg.“<br />

"<strong>Das</strong> ist mir schon klar, Alvan. Aber was wollen wir da <strong>von</strong> diesem komischen Magus, diesem Hesindian Fardon<br />

da Silfos?"<br />

"Hesindian Silpho ya Phaitos" verbesserte Alrik. "Nun, Hesindian ist ein alter Freund <strong>von</strong> mir. Dank Raul und<br />

Valyria wissen wir nun, dass er sich zurzeit auf seinem Gut in Orweiler aufhält."<br />

"Ja, um sich vollaufen zu lassen. Wenn ich Veneficus Anspielungen richtig verstanden habe" Sigismund lächelte<br />

geringschätzig. "Ich habe den Namen Hesindian <strong>von</strong> Orweiler durchaus schon gehört. Völlig meschugge soll der<br />

Bursche sein, komplett durchgedreht. Noch mehr durch den Wind, als es Magier eh´ schon sind."<br />

"Immerhin hat er sich unlängst um eine Stelle als fürstlicher Hofmagus beworben" warf Alrik ein.<br />

"Na, eben. Ein Säufer bittet darum, in die Dienste der Fürstin treten zu dürfen. Was wollen wir eigentlich bei so<br />

einem Übergeschnappten?"<br />

"Nun, einen Magiekundigen könnten wir auf <strong>Maraskan</strong> schon gut gebrauchen. Hesindian war schon zweimal in den<br />

Schwarzen Landen, kennt sich dort drüben also aus. <strong>Das</strong> letzte Mal hat er mir das Leben gerettet." Alriks Stimme<br />

klang leicht vorwurfsvoll, was dem "Streuner" galt, den der ständige Wetterumschwung reizbar gemacht hatte.<br />

"Zweimal in den Schwarzen Landen? " Sigismund pfiff durch die Zähne. "Kein Wunder, dass Euer Freund verrückt<br />

geworden ist."<br />

"Verrückt ist ein bisschen übertrieben..." meinte Alrik.<br />

23


Als die Reisenden um einen kleinen Hügel herum geritten waren erblickten sie die ärmlich anmutenden Hütten <strong>von</strong><br />

Orweiler.<br />

"NEEEEEEEEEEIIIIIIIIN !!!"<br />

Klirrend zerbarst irgendetwas etwas Zerbrechliches an der Wand der kleinen Blockhütte, die dem Edlen <strong>von</strong><br />

Orweiler als "Gutshof" diente.<br />

Eine bleiche, zottelhaarige Gestalt mit zerfetzter schmuddeliger Robe lief erregt gestikulierend im Inneren der<br />

Hütte herum, in die Alvan und ihre Gefährten verlegen starrten.<br />

Alrik, der zunächst allein mit seinem Freund hatte sprechen wollen, wich bis zur Tür zurück.<br />

"Ich... ich werde niemals wieder einen Fuß DORTHIN setzen! Niemals! Hörst Du? Niemals!" erklang die sich<br />

überschlagende Stimme des Magus.<br />

Der Baron <strong>von</strong> Friedwang schlug hinter sich die Tür dazu, dann war erregtes Gerede zu hören. Alvan verstand<br />

lediglich die Worte "Wahnsinn" und "Selbstmord", die allerdings regelmäßig wiederkehrten.<br />

"Verrückt ist also ein bisschen übertrieben." Sigismund schüttelte den Kopf. Sein Blick ging über Orweiler hinweg,<br />

drei kleine geduckte Bauernhöfe, die wie demütige Büßer entlang der Straße nach Bohlenburg standen. Hesindians<br />

Blockhütte war, wenn man so wollte, das vierte und jüngste Gebäude des "Dorfes" und stand ebenso wie Alriks<br />

Begleiter auf einem kleinen Hügel auf der gegenüber liegenden Seite.<br />

Der Regen ging mittlerweile wieder in Schnee über - selbst das Wetter schien also mittlerweile völlig<br />

übergeschnappt zu sein." Alrik hat schon recht" meinte Gunelde. "Wir könnten einen Magier schon gebrauchen."<br />

Alvan nickte: "Es gibt vieles, was man nicht mit dem Schwert bekämpfen kann. Vor allem dort, wo wir hinwollen."<br />

"Wollen wir denn dort hin? Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr muss ich dem werten Herrn Alrik recht<br />

geben. Die ganze Reise erscheint mir nun auch ein wenig gewagt."<br />

"Guneldes Traum scheint <strong>von</strong> Bruder Boron selbst gesandt worden zu sein. Es ist unsere Pflicht, die Gebeine des<br />

toten Barons nach Friedwang zu bringen, um sie dort zu bestatten." Wie zur Bestätigung krächzte irgendwo über<br />

dem schweigenden Wald ein Schwarm Krähen.<br />

"Ich dachte, ein Leichnam wäre für dich nur eine leere Hülle, etwas, was ohnehin keine Bedeutung für die, wie<br />

nennst du sie, `Anwesenden´ mehr hat?“<br />

"Alles auf der Weltenscheibe hat seine Bedeutung. Es vermehrt bereits die Schönheit der Welt, die Überreste eines<br />

tapferen Mannes aus dem Reich der Geschwisterlosen in seine Heimat zu bringen. Außerdem gibt es da noch das<br />

Wasser der Heiligen Taluedquelle, das nicht in die Hände der Dreckigen fallen darf. Und es wird in die Hände der<br />

Bruderlosen fallen, wenn sie auf der Suche nach Knochen das Grab des Barons entdecken. Vergiss nicht, dieses Tal<br />

der Glühwürmchen liegt nur wenige Meilen <strong>von</strong> der Straße zwischen Tuzak und Jergan entfernt. "<br />

"Ich weiß nicht. Mir kommt das alles reichlich makaber vor. Außerdem war die Beschreibung dieses Bauern<br />

ziemlich dürftig: Lichtung im Urwald. Ein Tal der Glühwürmchen rechterhand der Straße nach Jergan. Am<br />

Eingang zwei Felsen, die entfernt wie Raben aussehen. Eine ausführliche Wegbeschreibung hört sich für mich<br />

anders an."<br />

Die Halbelfe nickte ernst. "<strong>Das</strong> stimmt schon. Glühwürmchen und Leuchtkäfer hat es im Regenwald viele, Täler<br />

auch." Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim wandte sich der Therbûnitin zu, die sich geistesabwesend, wie im Gebet, die<br />

Beine vertrat. "Sagt, Gunelde, wisst Ihr noch, wie der Baum aussah, in dem die Priesterin den Krug versteckt hat,<br />

die aus Eurem Traum? Vielleicht hilft uns das ja ein wenig weiter."<br />

<strong>Das</strong> Gesicht der Perainedienerin hellte sich auf, als die Rede auf Pflanzenkunde kam. "Aber natürlich. <strong>Das</strong> wollte<br />

ich Euch schon lange erzählen, habe seit Friedwang nicht mehr daran gedacht. Der Baum sah wirklich markant aus,<br />

eher wie ein großes Faß als eine Pflanze. Etwa zwanzig Schritt hoch, würde ich schätzen, und dabei bestimmt zehn<br />

Schritt breit. Die Äste saßen weit ob an, waren ziemlich kurz und ihre Blätter eigenartig gefranst. An Blüten kann<br />

ich mich nicht erinnern, wenn, dann waren sie unscheinbar. Alles in allem ein merkwürdiger Anblick. Und dann<br />

diese Geräusche vom Stamm her, dieses ständige Seufzen, Pochen, Flüstern und Knarren. Richtig unheimlich klang<br />

das."<br />

Alvan nickte: "Ein Trommelbaum. Ich glaube, im Südmeer nennen die Eingeboren ihn wegen seiner Form sogar<br />

tatsächlich Faßbaum. Die <strong>Maraskan</strong>er glauben, dass in manchen <strong>von</strong> ihnen ein Geist haust, den sie Karamujin<br />

nennen, den unsichtbaren Schüttler. Kein schlechtes Versteck. Ein Trommelbaum ist innen hohl, und durch die<br />

Geräusche, die er deswegen <strong>von</strong> sich gibt, werden Neugierige abgeschreckt, während man selbst den Baum leichter<br />

wieder zu finden vermag. Nun, das ist immerhin schon einmal ein Anhaltspunkt."<br />

"Ein Geisterbaum also." Sigismund schauderte. Dann beruhigte er sein Pferd, das ruckartig am Zügel zerrte.<br />

"Seltsam, dass die Friedwangen ihren Baron ausgerechnet im Schatten eines solchen unheimlichen Baumes<br />

begraben haben. Die waren doch ohnehin mit ihren Nerven am Ende. Ich bin es ja auch bald, wenn ich noch länger<br />

Geschichten <strong>von</strong> modrigen Gräbern unter pochenden Bäumen lauschen muss, bei Praios!"<br />

"Vergiss nicht, dass Retos <strong>Maraskan</strong>feldzug schon beinahe vierzig Jahre her ist. Dieser Faßbaum hier scheint noch<br />

nicht völlig ausgewachsen zu sein, meistens sind sie bis zu dreißig Schritt hoch. Zurzeit, als Alboran begraben<br />

24


wurde, war unser Baum bestenfalls ein junges Bäumchen. Auf jeden Fall wirst du auf <strong>Maraskan</strong> noch ganz anderen<br />

Kreaturen..."<br />

In diesem Moment wies Gunelde wies mit ihrem Finger den Weg zur Reichsstraße hinauf.<br />

"Wer kommt denn da?"<br />

Tatsächlich war auf der Straße nach Gallys ein Schatten auszumachen. Nach einer Weile entpuppte er sich als<br />

Reiter auf einem Pferd - ein kräftiger Recke mit Rüstung, Bogen und Schwert, soviel war <strong>von</strong> hier aus bereits zu<br />

erkennen.<br />

"Vater, das ist Vater!" entrang sich Alvans Kehle ein Freudenschrei. "Ich wusste doch, dass er uns begleiten<br />

würde."<br />

Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim legte die Handfläche an die Stirn. Es war ohne jeden Zweifel ihr Vater, der Schwarze<br />

Bär <strong>von</strong> Gallys, der dort im gestreckten Galopp heranpreschte. <strong>Das</strong> herrliche Pferd, die einmalige Statur des<br />

Helden, sein wehender Wintermantel und der Köcher über der Schulter - wie hätte sie ihn da nicht erkennen sollen!<br />

In diesem Moment trat Alrik aus der Hütte und schüttelte frustriert den Kopf. "Nichts zu machen, bei Phex.<br />

Hesindian ist so stur wie ein Esel. Er trägt es mir noch immer nach, dass ich ihn auf Perricumer Weise für die<br />

Rächer Rondras angeheuert habe. Man kann einfach nicht mit ihm reden. Schon gar nicht über eine Reise die<br />

<strong>Maraskan</strong>"<br />

"Ist es die Trunksucht?" wollte die Therbûnitin wissen. "Ich hätte hier ein Säftlein, das diesbezügliche Leiden ein<br />

wenig mildert."<br />

"Nein, er ist völlig nüchtern und schon seit Monaten trocken. Deswegen ist er ja wahrscheinlich so gereizt. Da kann<br />

man nichts machen. Ist das Euer Vater, der dort heran reitet?"<br />

"Ja. Wir scheinen uns in Gallys nur knapp verpasst zu haben."<br />

"Odilon Wildgrimm scheint ein Mann kurzer Entschlüsse zu sein."<br />

"<strong>Das</strong> kann man wohl sagen."<br />

Wenig später gab es ein herzliches Zusammentreffen zwischen Odilon Wildgrimm und seiner Tochter, die er<br />

wahrlich wie ein Bär mit beiden Pranken umarmte.<br />

"Jirka wollte noch eine Nacht in der Wildnis verbringen, sonst wäre ich gestern schon in nach Gallys zurück<br />

gekehrt. Was gibt es? Veneficus hat mir zwar bereits Bericht erstattet. Aber ich bin nicht sicher, ob ich ihn wirklich<br />

verstanden habe. Ihr wollt also nach Weißmaraskan aufbrechen und braucht meine Hilfe?" Erwartungsvoll sah der<br />

bärtige Hüne, der mit den Schneeflocken auf Mantel und Gesicht sowie der kräftigen Stimme wahrhaft<br />

firungefällig wirkte, in die Runde.<br />

"Nicht ganz, Vater. Wir wollen nicht ins Shikanydad, sondern, äh, nach Schwarzmaraskan."<br />

Der Recke sah seine Tochter tief an, als wäre sie ein kleines Mädchen und berichte ihm in unklaren Worten <strong>von</strong><br />

irgendeinem kindischen Streich, den sie verbrochen hatte. "Nach... Schwarzmaraskan. Und Ihr, Baron, habt ihr das<br />

nicht ausgeredet? Oder Du, Sigismund?" Odilon sah nacheinander die beiden Männer an, die betreten schwiegen.<br />

Mit wenigen Worten erstattete die Edle Bericht über die Umstände, aufgrund denen sie sich zu der Queste<br />

entschlossen hatte.<br />

"Es geht nicht nur um die Gebeine Alboran <strong>von</strong> Friedwangs, eines darpatischen Barons. Wie es scheint, ist in der<br />

Nähe auch ein Krug mit heiligem Talued-Wasser versteckt, den es in die Obhut der Gemeinschaft der Zwillinge<br />

zurück zu bringen gilt. Außerdem" Alvan senkte den Blick "habe ich da einfach so ein Gefühl, dass ich wieder<br />

zurück auf die Insel muss."<br />

"Heimweh nach der Käferinsel, wie?" Odilon musterte seine Tochter, sah ein wenig ungehalten, aber auch gerührt<br />

drein. War es der Schnee oder bereits das Alter, der sein Haar derart weiß färbte? "Hast dir eine schlechte Zeit für<br />

eine Reise nach <strong>Maraskan</strong> ausgesucht, Alvan. Aber selbstverständlich werde ich Dich begleiten. Kann meine<br />

Tochter doch nicht den Halunken dort überlasssen. Du wirst schon wissen, was Du dort möchtest" Liebevoll strich<br />

der Schwarze Bär der Edlen über die Wange, was Sigismund ein wenig säuerlich dreinblicken ließ.<br />

Odilon sah nach oben. "Jirka sagt, es wird einen kalten Winter geben. Warum also nicht die nächsten Monde im<br />

Warmen verbringen? Wandelur ist mir schon gram, weil ich die letzte Zeit nur noch Bavhano´Braith singen lasse."<br />

Der Baernfarn tätschelte mit großer schwieliger Hand die Klinge an seiner Seite.<br />

Dann blickte er zur Hütte. "Der Edle <strong>von</strong> Orweiler. Sagt nur, den alten Saufkopf wollt Ihr auch mitnehmen?"<br />

"Oh, der gute Hesindian ist so trocken wie die Heide im Sommer" lachte Alrik. "Ich fürchte, das ist gerade sein<br />

Problem. Er weigert sich mit uns zu kommen. Aber einen Magus werden wir wohl gebrauchen können, dort, wo<br />

kein Licht in die Finsternis fällt."<br />

"Sechs Leute? Ist das nicht ein wenig auffällig? Und vor allem, wie willst Du uns über die Blutige See bringen?"<br />

Die Frage galt Alvan.<br />

"In Zorgan ist gewissermaßen schon eine Passage für uns gebucht" meinte die Edle ausweichend.<br />

"Nun, ich glaube Dir gern, dass du als alte Seesöldnerin da noch Beziehungen hast" lachte Odilon. "Wenn ich es<br />

recht überblicke, ist es unser momentanes Hauptproblem, den Maulwurf da aus seinem Loch zu holen?"<br />

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"So ist es" nickte der Friedwanger. "Wenn sich <strong>von</strong> uns jemand in den Schwarzen Landen auskennt, dann<br />

Hesindian. Und, wie gesagt, ohne seine Zauberkünste werden wir bald aufgeschmissen sein."<br />

"Nun denn." Odilon setzte sich im Sattel gerade.<br />

"Hesindian <strong>von</strong> Orweiler!" Der Ruf des Veteranen der Ogerschlacht klang wahrlich wie das Brüllen eines<br />

bepelzten Untiers.<br />

"Ich bin es, Odilon! Kommt raus, ich habe mit Euch zu sprechen."<br />

"Ach, leckt mich an meinem Allerwertesten" kam die dumpfe Antwort. "Ihr seid ja alle verrückt geworden!"<br />

"Hört, hört, spricht man so mit dem Schwarzen Bären?"<br />

In der Hütte blieb es stumm.<br />

"Reizt mich nicht, ich warne Euch!“<br />

Auch diesmal kam keine Antwort.<br />

Odilon zuckte mit den Schultern, zog aus seinem Rucksack eine Fackel und ein Fläschchen, zündete sie an und<br />

stieß sie, als ob es das Selbstverständlichste der Welt wäre, in einen überdachten Holzstoß neben der Hütte. Dann<br />

goß er den ölig riechenden Inhalt der Flasche darüber und wich hastig <strong>von</strong> der hochfauchenden Stichflamme<br />

zurück. Den Rest warf er auf das Dach, <strong>von</strong> wo aus nun ebenfalls Öl ins Feuer rann.<br />

Die Umstehenden sahen sich entgeistert an. In Windeseile breiteten sich die Flammen aus, fraßen sich den<br />

schindelgedeckten Anbau hoch und leckten bald, dem Schneeregen zum Trotz, auch über das große Dach.<br />

Als erster fand Sigismund seine Stimme wieder "Was machte Ihr da?" schrie er empört. "Ihr zündet ja das Haus<br />

an."<br />

Wortlos schwang sich Odilon in den Sattel und beobachtete schweigend sein Werk. Als der trotz seiner jungen<br />

Jahre bereits weißhaarige Magier heraus taumelte, und die Katastrophe sah, schrie er lauthals auf, lief zurück und<br />

versuchte die Feuersbrunst mit einem Umhang auszuschlagen. Vergebens. Binnen kürzester Zeit stand das gesamte<br />

Dach in hellen Flammen. Der Magus konnte gerade noch zurück in die Hütte laufen und einige prächtige Folianten,<br />

seinen Stab sowie das eine oder andere Fläschchen vor sich in den Matsch werfen, als Teile des Daches einstürzten<br />

und die Flammen nun auch noch aus den Fenstern schlugen.<br />

Verstört sah der Edle <strong>von</strong> Orweiler auf die Verwüstung, die der Waldläufer wie beiläufig angerichtet hatte. Auch<br />

die übrigen waren entsetzt. Die Hütte war nicht mehr zu retten und stürzte rasch in sich zusammen. Zischend fielen<br />

Schneeflocken ins hochlodernde Feuer.<br />

***<br />

Hesindian schreckte hoch. Kawumms! Es dauerte eine Weile, bis er wirklich begriffen hatte, dass er neben einem<br />

Bett lag, einem Bett, dass nicht sein eigenes in Orweiler war.<br />

Es dauerte noch eine Weile, bis ihm gewahr wurde, dass er sich in einem Gasthaus in Rommilys befand, und er<br />

gerade schlecht geträumt hatte. Ein wüster Traum <strong>von</strong> Viergehörnten, entführten Waldläufern, schwarzen Kutschen<br />

und einer brennenden Hütte. Seiner Hütte! Zum Glück war das alles nur ein schlechter Traum gewesen. Bis auf den<br />

Teil mit der Hütte.<br />

Durch einen Spalt im Fensterladen drangen die ersten Strahlen einer Wintermorgensonne herein. Rommilys<br />

erwachte. Karren und Fuhrwerke rumpelten vorbei, sicherlich schon seit einer geraumen Weile. Irgendwo wieherte<br />

ein Pferd.<br />

Der junge Magus mit dem weißen Haar rappelte sich auf, starrte auf das kleine Ölgemälde an der Wand, dass einen<br />

Mann auf einen Rappen im Kampf mit einem halben Dutzend Wegelagerer zeigte, darunter auch eine Elfe oder<br />

Halbelfe. In einem Baum am Wegrand steckten einige Pfeile, ebenso in einer Kutsche, die offenbar gerade <strong>von</strong> den<br />

Räubern überfallen wurde. Der Reiter, der sie verteidigte, sah Odilon sogar ein wenig ähnlich. Seinem Feind.<br />

Einem alten Freund, der sich ihm gegenüber wie ein Feind verhalten hatte.<br />

Auch wenn es noch sehr früh am Morgen war - zumindest für seine Verhältnisse - beschloss er aufzustehen und in<br />

den Schankraum hinunter zu gehen. Seine erste Regung bestand darin, sich dort zum Tresen zu bewegen und<br />

einfach vollaufen zu lassen. Irgendwie war ihm seit Orweiler alles gleichgültig. Nun gut, bis zur Treppe und dort<br />

hinunter waren es noch einige schöne Schritt. Zeit genug für eine Entscheidung, ob er wieder zum Säufer werden<br />

wollte. Deprimiert genug fühlte er sich dazu.<br />

Oder sollte er besser Premer Feuer nehmen? Es war jedenfalls kalt im Gasthof, sehr kalt. Auf den Dächern <strong>von</strong><br />

Rommilys lag der Schnee.<br />

An den Stufen nach unten hielt er inne. Vom Schankraum waren Stimmen zu hören, ebenso Geräusche aus der<br />

Küche, wo offenbar der Wirt zugange war. Ein heimeliges Feuer prasselte im Kamin, erfüllte die Schankstube nach<br />

und nach mit Wärme.<br />

Kein Zweifel, dort unten saßen der bärtige Waldläufer und seine Tochter, die hübsche Edle <strong>von</strong> Nordenheim und<br />

unterhielten sich leise. Dieser verfluchte Brandstifter. Hesindian wollte sich schon wieder ins Zimmer begeben -<br />

Schweinekälte hier oben, und den Anblick Odilons hielt er auch nicht länger als nötig aus - aber fast im letzten<br />

Moment erst siegte die Neugier. War da unten nicht sein Name gefallen?<br />

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"Auf ein Wort, Vater" hörte er die hübsche, ein wenig südländisch klingende Stimme der Edlen. "Was sollte das<br />

werden?"<br />

"Was sollte w a s werden?" Die brummige, wettergerauhte Stimme des Brandstifters erklang. Der Baernfarn saß<br />

gerade über einigen Würsten, einen Humpen Bier vor sich und tunkte eine der Würste in Senf.<br />

"Du hast mich schon verstanden. Musstest du die Hütte des armen Hesindian gleich niederbrennen? Musste das<br />

wirklich sein?"<br />

Der Waldläufer antwortete nicht, sondern stopfte sich die Wurst nebst einem Brötchen in den bärtigen Mund, leckte<br />

sich die Finger und spülte mit einem Bier nach. Also fuhr Alvan, mit vor Empörung leicht zitternder Stimme fort:<br />

"Gunelde ist ganz außer sich ob der travialästerlichen Brandstiftung, und ich... ich muss sagen, ich kann sie sehr gut<br />

verstehen. Ich habe dich immer für einen Edelmann gehalten, Vater, immer zu dir aufgeblickt, aber das hier geht<br />

einfach zu weit. Jeder in der Gruppe ist dieser Ansicht. <strong>Das</strong>... das ist doch sonst nicht deine Art."<br />

"So? Aha!" Odilons Stimme klang ein wenig spöttisch, wie die eines Menschen, der sich sicher ist, seine Gefährten<br />

durch einen vorzüglichen Streich verblüfft zu haben. "Du willst also eine Erklärung für mein Verhalten. Nun, die<br />

kann ich dir geben. Es gab keine andere Möglichkeit, Hesindian zum Mitkommen zu bewegen. Du weißt, dass ich<br />

wahrlich kein geborener Diplomat bin und lieber mit dem Schwert als dem Mundwerk fechte. Aber den Magier<br />

hätte keine Elfenzunge zum Mitkommen bewegt. An seiner Stelle hätte ich genauso gehandelt. Er weiß eben, was<br />

auf uns zukommt, im Gegensatz zu euch. Naja, mit Ausnahme Alriks. Wir aber brauchen einen Magus, wollen wir<br />

nicht als Zwischenmahlzeit im Rachen irgendeiner niederhöllischen Kreatur enden. Hesindian war schon zweimal<br />

drüben, und gerade deswegen möchte ich ihn dabei haben. Nicht etwa, weil er Erfahrungen mit den Dreckigen<br />

hätte, denn Gewissheiten gibt es dort drüben nicht. Da geht es in einem Augenblick so und im nächsten anders...<br />

Aber ein Magier, der zweimal der Versuchung widerstanden hat, überzulaufen, ist auch ein drittes mal davor<br />

gefeit."<br />

Alvan verschränkte die Arme, lehnte sich im knarrenden Stuhl zurück. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie das<br />

Gesagte nicht sonderlich überzeugt hatte. "Ach ja, du denkst also, einem Mann, dem du das Haus abgebrannt hast,<br />

kannst du besonders sicher sein? Mein Vater, der kundige Waldläufer, durch nichts zu beirren? Wo bleibt nur dein<br />

vielgerühmter Edelmut? Man kann einen Menschen nicht zwingen, in sein Verderben zu laufen. Nicht auf diese<br />

Art"<br />

"Verderben?" Odilon winkte ab. "Ich kenne Hesindian, länger als du. Nach der Schlappe am Fürstenhof, wegen<br />

dem Posten als Hofmagier, hat er sich wie ein geprügelter Hund auf sein Edlengut zurückgezogen. Aber was heißt<br />

da schon Edlengut? Eine kümmerliche Hundehütte. Ich habe schon Gerüchte gehört, dass er wieder das Trinken<br />

angefangen hätte, und, bei allen Zwölfen, er hätte auch wieder zu saufen begonnen, wenn er auch nur eine Woche<br />

länger in diesem verdammten Loch hätte ausharren müssen. Was er braucht, ist eine Herausforderung. Besser, ein<br />

Mann wird wie Brin <strong>von</strong> Dämonenhand gefällt als <strong>von</strong> einer Flasche wie Valpo. Nun schau mich nicht so<br />

vorwurfsvoll an. Ich weiß, dass ich grausam war. Na gut, ein wenig zu grausam vielleicht, bei Firun. Glaubst du,<br />

ich habe das zum Vergnügen gemacht? Aber, verdammt noch mal, auch deine Gefährten haben diese Lektion<br />

gebraucht. Ich mußte sie aufrütteln, schockieren, so wie sie in den Schwarzen Landen schockiert sein werden, wenn<br />

sie dort wirklich Schrecklichem begegnen. Insbesondere dieser Helligfarn, dein Verehrer, scheint unser Vorhaben<br />

für eine Reise in die Sommerfrische zu halten. Aber das ist es nicht. <strong>Das</strong> ist es verdammt noch mal wirklich nicht.<br />

Auch du hältst <strong>Maraskan</strong> noch für das wunderschöne Eiland aus der Zeit vor der Rückkehr des Bethaniers, wo die<br />

Gefahren allein <strong>von</strong> Marasken und dergleichen Getier ausgehen. Aber diese Zeiten sind vorbei. In den Dschungel<br />

willst du reisen? Hast du noch nichts vom Heerbann der Friedlichen Schwestern gehört? Die ganze Natur spielt<br />

dort verrückt. Die <strong>Maraskan</strong>er haben längst sämtliche Dörfer im Hinterland aufgegeben. Einmal angenommen, wir<br />

schaffen es über die Blutige See und durch das Reich des Verräters, dann bringt uns der verfluchte Dschungel mit<br />

seinen Tierschwärmen um, <strong>von</strong> den Schlangenanbetern einmal abgesehen. Ich glaube, und das meine ich sehr ernst,<br />

dass auch dir noch nicht klar ist, auf was wir uns hier eingelassen haben. Deswegen auch meine Brandstiftung."<br />

Odilon wurde etwas leiser, so dass der lauschende Magier Schwierigkeiten hatte, seinen Worten zu folgen.<br />

"Außerdem, glaubst du, ich nehme Hesindian nur aus Eigennutz mit, wie man Seeleute beim Perricumer Anheuern<br />

an Bord zwingt? Nein, ich habe auch für ihn so gehandelt. Hesindian braucht Hilfe und Hilfe heißt in seinem Fall<br />

Vergessen, Vergessen, dass er die ganze Zeit im Alkohol gesucht hat. <strong>Das</strong> Heilige Wasser des Talued, <strong>von</strong> dem du<br />

gesprochen hast, wird sämtliche Erinnerungen an den Krieg aus seinem Gedächtnis verbannen. Er hat doch ohnehin<br />

keine Wahl. Entweder er endet irgendwann bei den Noioniten oder als versoffenes Wrack, was so ziemlich<br />

dasselbe ist. Oder er begleitet uns, unter der Gefahr, auf einer heiligen Queste für Boron ums Leben zu kommen."<br />

"Glaubst Du wirklich, dass es keine Wiederkehr für uns geben wird?"<br />

"Wer kann das sagen? Die Schwarzen Lande sind jedenfalls nicht die Kaiserthermen in Gareth oder das Gallyser<br />

Immanstadion, wo man zur Erholung oder zum bloßen Vergnügen hingeht. Aber ich hoffe inständig, dass Herr<br />

Boron seine Hand über uns halten wird, da wir in diesem Fall in seinem Auftrag zu handeln scheinen. Also wird er<br />

uns hoffentlich <strong>von</strong> der Sense seines Dieners springen lassen. Auch wenn ich mir da noch nicht ganz sicher bin,<br />

mit dem Traum, meine ich. Wer weiß schon, was er wirklich gezeigt hat und welche Zeit. Er könnte zum Beispiel<br />

27


auch aus den Jahren stammen, als die <strong>Maraskan</strong>er noch gegen die Kaiserlichen gekämpft haben. Vielleicht waren in<br />

dem Krug ja auch Reis oder Shatak für die Rebellen, und der Baum so eine Art toter Briefkasten?"<br />

"Etwas Ähnliches hat Alrik auch gemeint. Aber warum sollte uns Bruder Boron mit einem solchen Traum in die<br />

Irre führen wollen?"<br />

"Nun, meistens sind es wir Sterbliche selbst, die uns gegenüber den Göttern in die Irre führen. Wer sagt, dass Ihr<br />

den Traum richtig deutet? Ich frage ja nur, weil ich schon gerne genau wissen will, für was ich da meinen Kopf<br />

hinhalte."<br />

"Manchmal muss man eben mehr seinem Gefühl gehorchen, als seinem Verstand."<br />

"Hoho. Spreche ich da gerade mit Jirka oder mit meiner Tochter? Aber du hast Recht. Manchmal kommt man mit<br />

einem Appell an den Verstand einfach nicht weiter. Aus dem gleichen Grund habe ich ja auch die Hütte<br />

abgebrannt. Sei´s drum, ich bin nicht sicher, ob Du mein Verhalten versteht. Auch ich selbst fühle mich nicht wohl<br />

bei dem Gedanken daran, was ich getan hab. Obwohl ich es tun mußte. Aber vertrau mir, ich weiß schon, was ich<br />

damit bezwecken will. Allerdings ist mir noch nicht ganz klar, wie Dein weiterer Plan aussieht. Du willst uns nun<br />

als Perainepilger nach Zorgan bringen. Und danach?"<br />

Alvan wollte gerade zu einer Antwort ansetzen - der Unwille war ihr dabei anzumerken -, als ihr Vater sie mit einer<br />

Geste zum Innehalten aufforderte. Aus den Augenwinkeln heraus hatte er den Magier bemerkt. Also hatten ihn<br />

seine in Jahrzehnten geschärften Waldläuferinstinkte doch nicht getäuscht.<br />

Nun, wenn ihm Hesindian zuhörte, umso besser. Ein Gespräch unter vier Augen wäre ihm doch unangenehm<br />

gewesen, ihm, der langes Gerede immer verabscheut hatte.<br />

"Schon gut, Alvan, Du wirst ebenfalls wissen, was du vorhast."<br />

Odilon spürte, dass er seine Tochter immer noch nicht ganz überzeugt hatte. Genauer gesagt, schien für sie gerade<br />

das ehrwürdige Bild ihres Vaters ziemlich angekratzt, wenn nicht zerbrochen zu sein.<br />

"Einen Grund für mein Verhalten habe ich Dir noch nicht genannt, den wichtigsten."<br />

"Ach, und der wäre?"<br />

Alvans Augen blitzten, ihre Stimme klang noch immer zornig. Sieh an, sieh an, dachte Odilon, die Kleine wurde<br />

aufmüpfig. Auch wenn Odilon das Selbstbewusstsein seiner Tochter gefiel, verspürte er doch so etwas wie einen<br />

nagenden Schmerz.<br />

Odilon atmete tief durch.<br />

"Drei Ritter des Bannstrahlordens sind an dem Morgen, als ich aufgebrochen bin, <strong>von</strong> Osten her zum Stadttor<br />

geritten und haben sich nach dem Weg nach Orweiler zu Magister Hesindian erkundigt. Ich habe sie erst einmal in<br />

Richtung Heidengrund geschickt." Odilon senkte den Blick. Auch wenn er mittlerweile lange genug mit Jirka<br />

zusammen war, um eine Lüge gegenüber Praioseiferern nicht mehr als Sünde zu empfinden, war ihm die<br />

Geschichte doch unangenehm. Nur zu gut konnte er sich an den lodernden, durchdringenden Blick des Anführers<br />

erinnern, der nicht im Mindesten zu ahnen schien, dass ihm sein Gegenüber nicht die Wahrheit sagte.<br />

Zum Glück hatte der Mann ihn, den Recken in der Kluft des Abenteurers nicht als Mitglied des Hauses Baernfarn<br />

erkannt - zumindest hoffte Odilon das. Die Männer waren die ganze Nacht hindurch geritten, das sah man ihnen an,<br />

und kamen <strong>von</strong> der Front. Auf dem Packpferd hatte er in einem Käfig eine Brieftaube ausmachen können. Die<br />

Burschen hatten es eilig - und das war bei Geißlern kein gutes Zeichen.<br />

Alvan pfiff leise durch die Zähne: "Der Bannstrahl sucht Hesindian? Aber warum denn das?"<br />

"<strong>Das</strong> haben sie mir nicht gesagt. Sie haben sich sofort in Richtung Heidengrund aufgemacht" Odilon lächelte<br />

hintersinnig, dann wurde er wieder ernst. "Nun, ein Graumagier mit dieser Vorgeschichte, der sich in Frontnähe<br />

aufhält, ist wohl immer verdächtig, zumindest für diese Fanatiker. Denk an seine schlohweißen Haare, obwohl er<br />

gerade mal dreißig Götterläufe zählt. Was ich da schon an Schauergeschichten gehört habe, selbst unter den Bauern<br />

der Baernfarn, die ja einiges gewohnt sind."<br />

"Mag sein. Aber Veneficus ist auch ein Magus der Grauen Gilde, ebenso Gwandromir."<br />

"Nun, sie beide waren noch nicht in den Schwarzen Landen und zumindest Veneficus ist durch seinen Stand<br />

einigermaßen geschützt. Aber gut möglich, dass Hesindian nur das lose Fadenende sein soll, mit dem man die<br />

ganze Naht auftrennen möchte, wenn Du verstehst was ich meine. Ich war jedenfalls froh, dass sie Jirka nicht zu<br />

Gesicht bekommen haben."<br />

"Aber, wenn das so ist... warum hast du das Hesindian nicht gesagt?"<br />

"<strong>Das</strong> hätte ich ihm gerne, aber er wollte ja nicht mit mir sprechen. Hätte ich durch das ganze Dorf brüllen sollen,<br />

dass der Edle <strong>von</strong> Orweiler <strong>von</strong> Bannstrahlern gesucht wird, und der ehemalige Baron <strong>von</strong> Gallys die Praiosdiener<br />

in die Irre geführt hat, um seinem alten Freund, dem gesuchten Magier, zur Flucht Richtung Schwarzmaraskan zu<br />

verhelfen? Du weißt, dass ich kein Feigling bin, aber ehrlich gesagt hatte ich in dieser Situation ganz schön<br />

Muffensausen. Ich habe mir die ganze Zeit eingebildet, dass die drei Weißmäntel schon im gestreckten Galopp<br />

hinter mir her wären, und mich bereits als Mitverschwörer eines Dämonenpaktierers auf dem Scheiterhaufen<br />

brennen sehen. Von Jirkas und deinen spitzen Ohren mal ganz zu schweigen. Wer weiß, was sich Jagos Häscher<br />

aus so was zusammen reimen. Naja, jedenfalls war mein erster Gedanke der an Feuer."<br />

28


"Bei der Schönheit der Welt, warum hast du uns das nicht schon längst gesagt, auf dem Weg hierher nach<br />

Rommilys?"<br />

Odilons Blick ging zur Küche, wo der Wirt noch immer fröhlich vor sich hinpfeifend pfeifend zu Gange war. Dem<br />

geschäftigen Klappern nach zu urteilen, hatte er nichts <strong>von</strong> dem Gespräch mitbekommen.<br />

"Weil ich Euch aus der Sache raushalten wollte. Bannstrahler anlügen, einem Gesuchten zur Flucht verhelfen, eine<br />

Elfe als Gefährtin, eine Halbelfe als Tochter - es sind schon Leute für weniger verbrannt worden. Deswegen mußte<br />

ich die Hütte auch verbrennen. So kann niemand sagen, wir hätten einem gesuchten Magus zur Flucht verholfen.<br />

So wird es heißen, die Familie Baernfarn hätte einen enttarnten Schurken verjagt. Ich mußte so handeln, zum<br />

Schutz unserer Familie. Aber Hesindian ließ die letzten Tage nicht mit sich reden. Außerdem, jetzt habe ich es Dir<br />

ja gesagt."<br />

Hesindian hatte das Gespräch mitgehört. Es dauerte eine Weile, bis er alles wirklich verstanden hatte, mehrmals<br />

mußte er über das gehörte nachdenken. Aber letztlich begriff er Odilons Handlungsweise, auch wenn er sie weder<br />

gutheißen noch gänzlich verzeihen mochte.<br />

***<br />

Selbfried war ein ebenso nachdenklicher wie scharfsinniger Mann. Er hatte einen wachen Verstand, dem so leicht<br />

nichts entging, und er führte sein Schwert fast genau so behände wie seine Zunge. Selbfried war ein Meister des<br />

Wortes. Es war ihm immer leicht gefallen, andere <strong>von</strong> sich selbst und seinem Standpunkt zu überzeugen, da er<br />

intuitiv jeden Zweifel seiner Gegenüber erkannte und seine Worte gezielt und wirkungsvoll einzusetzen verstand.<br />

Seine Redekunst, gepaart mit seinem selbstsicheren Auftreten und der Robe des Geweihten, die ihm eine natürliche<br />

Autorität verlieh, ließen ihn aus jedem Disput siegreich hervorgehen. Selbfried verstand es, mit seinen stechenden<br />

blauen Augen sein gegenüber zu fixieren. Er wusste, dass viele Menschen unruhig und unsicher werden, wenn man<br />

ihnen mit festem Blick in die Augen sah. Sein Gesicht, das streng und unnachgiebig wirkte. Seine kurzen dunklen<br />

nach hinten gekämmten Haare und sein rechtwinklig mit dem Lineal gezogener Schnurrbart trugen das ihre zu<br />

diesem Eindruck bei. Selbfried hatte sich und seine Gefühle immer unter Kontrolle. Zu keiner Zeit gelang es einem<br />

anderen zu ergründen, was er gerade dachte oder empfand.<br />

Selbfried hatte es auch noch nie in seinem Leben zugelassen, sich mit etwas anderen als mit der reinen Lehre des<br />

Praios zu befassen. Er war ein Asket. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Schluck Bier oder Wein getrunken,<br />

und auch den Tobak hatte er noch nie probiert. <strong>Das</strong> war namenloses Zeug, das war Sünde. Sogar den Frauen, die<br />

andere Geweihte des Öfteren in Versuchung führten, war er gänzlich abhold. Frauen lenkten einen Priester<br />

lediglich vom Wesentlichen ab, <strong>von</strong> der Lehre des Praios. Darin war die Gefahr. Frauen hatten keinen anderen<br />

Zweck auf Deres Weltenrund, als Kinder zu gebären. Darüber hinaus waren Frauen zu nichts nütze. Sie besaßen<br />

einen nur eingeschränkten Verstand, waren an Kraft und Ausdauer unterlegen und hatten regelmäßig einen<br />

penetranten Geruch. Weil sie unvollkommene Wesen waren ließ Praios sie regelmäßig bluten. Lange hatte<br />

Selbfried darüber nachgedacht, warum sich Männer für Frauen interessierten, obwohl Frauen so übel, so<br />

unvollkommen waren. Warum hatte Praios vielen Männern ein Verlangen nach Frauen in ihren Verstand gelegt.<br />

Praios hatte nichts in der Welt unüberlegt so gefügt, nur war manchmal Praios´ Wille schwer zu deuten. Aber dann<br />

war es ihm auf einmal klar geworden. Würden alle Männer so wie er die abstoßende Natur der Frauen erkennen,<br />

dann würde die Menschheit ja aussterben. Dann würden keine praiosgefälligen Männer Aventurien bevölkern, dann<br />

wäre Aventurien ja den gottlosen Orken, Goblins, Elfen und Zwergen überlassen. Oder gar den Geschuppten. Eine<br />

widerwärtige Vorstellung. Dann ist es wohl besser, dass die Männer Aventuriens mit Frauen gestraft sind.<br />

Selbfried war <strong>von</strong> kräftiger, nicht aber dicker Statur. Er war ein zäher Bursche. Er konnte Schmerzen ertragen - und<br />

um nicht weich und bequem zu werden geißelte er sich jeden morgen. Und er hatte einen kräftigen Schwertarm, mit<br />

dem er praioslästerlichem und tageslichtfeindlichem Gesindel hart zusetzen konnte. Selbfried lächelte kalt. Er war<br />

in der Dämonenschlacht an vorderster Front gewesen. Die Finger seiner Hände reichten bei weitem nicht aus, die<br />

<strong>von</strong> ihm gefällten Gegner zu zählen. Und doch hätte es ihn beinahe selbst erwischt, als er sich einst drei Untoten<br />

gegenüber sah. Aber es hatte Praios gefallen, ihm im letzten Moment Rettung durch einen bärtigen Söldner zu<br />

schicken. Praios hatte für ihn noch höhere Aufgaben vorgesehen. Durch seine gezeigte Kampfkraft war er dem Abt<br />

jedoch aufgefallen.<br />

Genau deswegen war in sein Amt berufen worden. Nur wenige schafften den Aufstieg vom einfachen Geweihten<br />

eines Praiostempels in der Provinz zu einem geachteten und erfolgreichen Inquisitor der heiligen Praioskirche. Der<br />

Abt schätzte es an ihm, dass er absolut fest im Glauben war und daher auch mit schwierigen Aufgaben betraut<br />

werden konnte. Und seine neue Aufgabe war eine heikle und nicht ganz leichte Sache. Es galt zu überprüfen, ob<br />

unter den Einflussreichen und mächtigen der Grenzprovinz <strong>Darpatien</strong> Kontakte zu den Heptarchenreichen<br />

bestanden. Es war denkbar, wenn nicht wahrscheinlich, dass die Heptarchen auf versteckten Wegen Einfluß an den<br />

weltlichen Höfen der Macht suchten. Der Abt hatte ihm befohlen, in dieser Sache zu ermitteln. Und das war seine<br />

große Chance. Sich unter den anderen Inquisitoren zu profilieren war nicht leicht. Viele <strong>von</strong> Ihnen waren nicht nur<br />

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fest im Glauben, sondern auch überaus erfolgreich. Wenn er in der Hierarchie der Inquisition aufsteigen wollte,<br />

dann mußte er sich einen Namen machen, und dazu mußte er herausragende Erfolge vorweisen. Der Abt war<br />

fünfundsechzig Sommer alt. Er würde in nicht allzu ferner Zukunft seinen Nachfolger vorschlagen. Und Selbfried<br />

hatte gute Chancen, sein Nachfolger zu werden. Wenn er in dieser Mission erfolgreich war.<br />

Einen ersten Hinweis hatte Selbfried bald gefunden. Ein Baron aus der Schwarzen Sichel war offen als Überläufer<br />

des Bethaniers entlarvt worden. Es handelte sich dabei um einen Gernot <strong>von</strong> Friedwang. Die Sache hatte nur zwei<br />

Nachteile: Erstens war der Fall bereits aufgeklärt und zweitens war der Überläufer bereits verstorben. Also nicht<br />

geeignet, um sich als sein Erfolg vorweisen zu lassen. Aber wenn der einstige Friedwanger Baron ein Überläufer<br />

war, dann mochten sich in seinem Umfeld noch andere schwarze Schafe befinden. Und Selbfried würde das sehr<br />

genau überprüfen.<br />

Selbfried hatte sich daher zunächst ins Aktenstudium vertieft. Über jeden Adeligen des Reiches, und war er auch<br />

noch so bedeutungslos, gab es dort ein Dossier. Und Selbfried war dabei auf weitere Hinweise gestoßen. Kurz vor<br />

seinem Tod war Gernot Mitinitiator einer Gesellschaft <strong>von</strong> Adeligen gewesen, die sich "Trutzbund der Schwarzen<br />

Sichel" nannte. Im Prinzip keine bedeutende Vereinigung. Aber vielleicht hatte Gernot damit versucht, mehrere<br />

Adelige zum Überlaufen zu bewegen? <strong>Das</strong> war denkbar. Er hatte sich daher mit den Akten der betreffenden<br />

Adeligen befasst. Dabei war er zunächst auf einen Redenhardt <strong>von</strong> Oppstein gestoßen, dem neuen starken Mann im<br />

genannten Trutzbund, der offensichtlich nach Einfluß am Hofe strebte. Intrigant und einflussreich, religiös<br />

uninteressiert, dem eigenen Wohlstand und der eigenen Macht verpflichtet waren die Worte, mit denen der<br />

Oppsteiner in den Inquisitionsakten beschrieben wurde. Selbfried hatte eine Weile gedacht, dass Redenhardt ein<br />

Verräter sein könnte. Aber durch Zufall hatte er dessen Verwandten, den Inquisitor Parinor Rukus <strong>von</strong> Oppstein<br />

getroffen. Dieser hatte in ihm sämtliche Zweifel an Redenhardt ausgeredet. Zugleich hatte Parinor Selbfried zwei<br />

weitere Hinweise geben können. Er solle doch einmal das Gallyser Adelshaus unter die Lupe nehmen. Die<br />

Baernfarns seien schon immer ein wenig sonderbar gewesen. Und dann gäbe es da noch den ehemaligen Hofmagier<br />

Gernots, einen gewissen Hesindian mit Namen. Dieser soll nicht nur schon einmal in Schwarztobrien gewesen sein,<br />

sondern zudem derzeit mit dem Lehensgut Orweiler belehnt sein. Und Orweiler sei ja, wie Parinor weiter mitteilte,<br />

ein <strong>von</strong> dem Gallyser Baron vergebenes Lehen. Aha! Da war also der Zusammenhang. Selbfried hatte weiter<br />

recherchiert. Die Lehensbestellung wurde unterzeichnet <strong>von</strong> einem gewissen Veneficus <strong>von</strong> Baernfarn. Dieser<br />

wiederum war nicht nur ein bekennender Graumagier, sondern zugleich auch noch der Bruder eines verurteilten<br />

Verräters am Fürstentum <strong>Darpatien</strong>. Daher wehte also der Wind. So langsam schienen Selbfrieds Ermittlungen auf<br />

eine Spur geführt zu haben, die zu verfolgen lohnenswert zu sein versprach. Eine darpatische Baronsfamilie zu<br />

überführen, das war genau der Erfolg, den Selbfried für seine Karriere brauchte. Und der Schwachpunkt der<br />

Gallyser war dieser Edle <strong>von</strong> Orweiler, dieser Magister Hesindian. Vermutlich hatte seine Ernennung zum Edlen<br />

einzig den Grund, einen Mitwisser bei Laune und beim Schweigen zu halten.<br />

Mit diesem Verdacht hatte er sich an den Abt gewandt und ihn gebeten, ihm Unterstützung bei seinen Ermittlungen<br />

angedeihen zu lassen. Der Abt hatte dem entsprochen und ihm drei Laienbrüder des Ordens Bannstrahl Praios<br />

seinem persönlichem Befehl unterstellt. Eine sehr großzügige Geste des Abtes. Nur leider waren die drei zwar gute<br />

Kämpfer und aufrechte Gesellen, aber nicht unbedingt mit hohen Geistesgaben gesegnet. Den Befehl, Hesindian zu<br />

verhaften und zu einem Verhör zu ihm zu bringen waren die drei in keinster Weise gerecht geworden. Sie hatten<br />

sich <strong>von</strong> irgendeinem Bauerntrottel doch glatt den falschen Weg beschreiben lassen und waren nach einem halben<br />

Tagesritt in Daffel angelangt. Als sie am morgen des nächsten Tages zurückkamen war es natürlich schon zu spät.<br />

Er hatte sich daher selbst mit seinen drei Gefolgsleuten auf den Weg nach Orweiler gemacht, aber als er endlich<br />

dort eintraf war es zu spät. Von den Dorfbewohnern erfuhr er, dass die Hütte des Edlen vor zwei Tagen abgebrannt<br />

sei, und der Edle selbst sei mit einer Gruppe <strong>von</strong> Perainepilgern nach Zorgan gezogen. Für ihr Versagen hatte<br />

Selbfried die drei Bannstrahler mit je vier Schlägen seiner Geißel auf den nackten Rücken belegt. Nachdem sie sich<br />

gehorsam für die Züchtigung bedankt hatten hatte Selbfried dann befohlen, die Verfolgung aufzunehmen. Denn<br />

über eines war er sich jetzt absolut sicher. Seine Vermutung über Hesindian war zutreffend. Aber er hatte die<br />

Sorgfalt und Gerissenheit seiner Gegner unterschätzt. Dieser Veneficus <strong>von</strong> Baernfarn, oder wer auch immer mit<br />

ihm noch im Bunde stand, hatte Hesindian rechtzeitig durch ein paar seiner Gefolgsleute fortschaffen lassen. Mit<br />

einer schlechten Tarnung als Perainepilger, aber etwas Besseres war den Verrätern wohl in der Kürze der Zeit nicht<br />

eingefallen. Immerhin wusste er, wohin die Flüchtenden wollten. Nach Zorgan. Und <strong>von</strong> dort aus vermutlich<br />

irgendwo in die Schwarzen Lande. Sein erster Gedanke war dabei auf Oron gefallen, denn das konnte man <strong>von</strong><br />

Zorgan aus wohl am besten erreichen. Aber soweit würde er Hesindian und seine Helfer nicht kommen lassen.<br />

Immerhin konnten ihm die Bauern aus Orweiler eine einigermaßen brauchbare Beschreibung liefern: Als Sprecher<br />

der Gruppe fungierte eine "Perainepredigerin" <strong>Das</strong>s die unsäglichen nicht einmal davor zurückschreckten, den<br />

Namen einer Göttin in den Schmutz zu ziehen würde ihre Strafe deutlich erhöhen! Dann waren da noch zwei<br />

Pilger, der eine mit südländisch anmutendem Äußeren, der andere hatte ein recht blasiertes Auftreten. Dann war da<br />

noch eine Elfe, die offenbar als Fährtenkundige angestellt war. Eine wirklich schlechte Tarnung. Bessere Söldner<br />

hatte Veneficus wohl nicht gefunden, dass er schon eine Elfe anwerben mußte! <strong>Das</strong> war jedenfalls ein Grund mehr,<br />

dem spitzohrigen Pack zu misstrauen. Und nicht zuletzt war da noch der bärtige Reiter gewesen, der das Haus des<br />

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Magisters in Brand gesteckt haben soll. Nach außen hin wohl, um einen Überfall vorzutäuschen. In Wahrheit aber,<br />

dass wusste Selbfried sicher, um Spuren zu beseitigen. <strong>Das</strong> war ihnen aber schlecht gelungen. Denn wirklich jeder<br />

im Dorf konnte ihnen den Weg der Fliehenden beschreiben. Im Sturmritt hatten er und die drei Bannstrahler die<br />

Küste des Ochsenwassers erreicht, und es war auch dort nicht schwer herauszufinden, dass sich der blasierte Pilger<br />

nach einem Schiff an das nahe Rommilys gelegene Ufer erkundigt hatte. Also hatte Selbfried einem Fischer<br />

befohlen, sie eben dorthin überzusetzen. Ihm war das sofort gelungen, während die angeblichen Pilger dafür einen<br />

Tag gebraucht hatten. Die Flüchtigen hatten also nur einen Tag Vorsprung, und der würde sich auf dem Weg nach<br />

Zorgan wohl einholen lassen.<br />

***<br />

Odilon blickte misstrauisch über seine Schulter. Irgendwie hatte er schon seit mehreren Stunden das Gefühl, als<br />

würden sie verfolgt. Die Reise <strong>von</strong> Rommilys war bislang ohne besondere Vorkommnisse verlaufen. Es waren<br />

zahlreiche Reiter und Wagen auf der Reichsstraße unterwegs gewesen. Die guten Beziehungen zwischen Aranien<br />

und <strong>Darpatien</strong> trugen das ihre dazu bei, dass der Handelsverkehr zwischen Rommilys und Zorgan blühte, und auch<br />

der Anblick <strong>von</strong> Perainepilgern war nichts Ungewöhnliches. So waren sie alle guter Dinge, bald nach Zorgan zu<br />

gelangen. Auch an der Reichsgrenze hatte es keine Schwierigkeiten getreten. Niemand zog die Tarnung als Pilger<br />

in Zweifel. Und dennoch hatte Odilon das untrügliche Gefühl gehabt, dass eine Gefahr drohte, dass sie jemand<br />

verfolgte. Nun gut, man konnte das auch der Tatsache zuschreiben, dass sie nach <strong>Maraskan</strong> reisten. Damit war ja<br />

genügend Gefahr verbunden. Aber in den Jahren als Waldläufer hatte er gelernt, auf seinen Instinkt zu vertrauen. Er<br />

fühlte eine drohende Gefahr. Und wenn er Alvan ansah, dann erkannte er auch in ihren Zügen eine Besorgnis. Es<br />

war nichts konkret Greifbares, nichts, was der Verstand erfassen konnte, aber Odilons Nackenhaare sträubten sich<br />

wie immer, wenn sich Unheil anbahnte. Odilon hatte es gelernt, seinem Instinkt zu vertrauen, und er hatte nur<br />

selten falsch daran getan. Doch er wollte die Mitreisenden nicht verunsichern, denn was hätte er ihnen denn schon<br />

sagen sollen. Wäre er allein gewesen, er hätte schlicht den Weg verlassen und wäre querfeldein durch die Haine<br />

und Felder geritten. Aber mit welchem Argument hätte er seine Mitstreiter zu diesem Umweg überreden sollen?<br />

Also blieb er wachsam, schwieg aber. Vielleicht sollte sich das als Fehler erweisen.<br />

Nach Lage der Dinge konnten nur die Bannstrahler sein für Odilons Gefühl ursächlich sein. Oder begann er bereits<br />

Gespenster zu sehen? <strong>Das</strong> Haus Baernfarn hatte in seiner langen Geschichte mehr als einmal schlechte Erfahrungen<br />

mit Praioseiferern gemacht, da war man auf alles gefasst. Auch wenn es schon Jahrhunderte zurück lag: Die<br />

Hinrichtung Baron Wibhard Artemas, Odilons Urahn, durch die Praiospriester während der Zeit der Priesterkaiser,<br />

hatte sich tief in die Erinnerung der Baernfarns eingegraben.<br />

Bis nach Zorgan konnte es nicht mehr allzu weit sein, einen halben Tag vielleicht noch. Ein leichter Geruch nach<br />

Salz lag in der Luft, die gelbbraunen Hügel am Ufer des Barun-Ulah waren sonnendurchflutet, mit Weinreben<br />

bestanden und immer wieder mit Buschwerk durchsetzt. <strong>Das</strong> Land wirkte auf ihn, der den kalten, waldreichen<br />

Norden gewohnt war, fast schon karg und ausgedörrt; der Schweiß lief ihm über die Stirn. Auch Odilons Pferd<br />

Kutaki machte die ungewohnte Wärme zu schaffen, die Gute war ja nicht mehr die Jüngste. <strong>Das</strong> Feuer dieses<br />

Vulkans – die Stute war nach einem Vulkan der Zyklopeninseln benannt worden - war schon seit einiger Zeit am<br />

Verlöschen.<br />

"Wir werden beide alt" brummte Odilon und tätschelte seinen alten Kampf- und Weggefährten die glänzenden<br />

Flanken, was dieser mit einem vertraulichen Schnauben erwiderte.<br />

Die Augen des Gallysers glitten über seine Gefährten. Die Therbûnitin - für sich selbst nannte Odilon sie die<br />

Perainegeweihte, obschon sie nur Ordensfrau war- wirkte geistesabwesend, Sigismund - "der Sommerfrischler" -<br />

bewunderte arglos die Landschaft und genoss die milde Luft. Alrik saß dicklich und einäugig auf seinem Shadif,<br />

der für seine Verhältnisse ein wenig zu protzig wirkte, und sah immer wieder verstohlen nach hinten, eher triebhaft<br />

als wirklich vom Verstand geleitet. Auch seine Tochter Alvan schien mit dem Instinkt irgendeine Gefahr zu spüren,<br />

zumindest spähte sie immer wieder nervös um sich. Hesindian <strong>von</strong> Orweiler wirkte völlig unbeteiligt, als ging ihm<br />

das alles hier nichts an. Odilon hatte ihn zwar <strong>von</strong> den Bannstrahlern berichtet, aber der Magus war nicht gerade<br />

vor Dankbarkeit zerflossen. Noch immer war die Stimmung zwischen den beiden gespannt, auch jetzt warf der<br />

weißhaarige Magier ihm einen schlecht gelaunten Blick zu.<br />

Aber das sollte seine geringste Sorge sein. Diesen verdammten Praioseiferern wollte er eigentlich nicht begegnen.<br />

Nun gut, sie hatten einen ordentlichen Vorsprung, so wie diese Geißler aussahen, waren sie nach der Begegnung<br />

vor der Lindwurmburg geradewegs weiter nach Westen geritten, ohne nach links oder rechts zu blicken. Da sie die<br />

gesamte Nacht zuvor ihre Pferde und sich selbst geschunden hatten, mussten sie dann erst einmal ausruhen, sofern<br />

es sich bei ihnen noch um menschliche Wesen handelte. Odilon schätzte, dass der Vorsprung der Gruppe gut und<br />

gerne einen Tag betrug, eher mehr. Aber der erfahrene Waldläufer irrte sich.<br />

31


"Da, Vater." Alvan deutete nach vorn, wo in der gleißenden Mittagssonne vier Gestalten auf Pferden den Weg<br />

versperrten, die auf den ersten Blick wie Alveraniare wirkten. Erst auf den zweiten Blick erkannte Odilon die<br />

weiße Tracht des Bannstrahlordens und erstarrte.<br />

Dann sah er den Anführer, ein drahtiger Mann mit schwarzem Schnurrbart und sorgfältig gezogenem Scheitel, im<br />

Ornat des Praioten, drei Sphärenkugeln am Gürtel, das Sonnenszepter mit der zackig ausgestreckten Rechten in den<br />

Praiosschein gereckt. Ein Hochgeweihter, nein, vermutlich sogar ein Inquisitor der Praioskirche. Sie hatten ein<br />

Problem.<br />

Der Gallyser überlegte, ob eine Flucht noch Sinn ergab.<br />

Aber abgesehen da<strong>von</strong>, dass die Pferde der Bannstrahler ausgeruht wirkten, würde das alles nur noch schlimmer<br />

machen. Nur wer ein schlechtes Gewissen hatte floh offensichtlich vor Geweihten. Es gab aber eigentlich nichts,<br />

was man ihnen vorhalten könnte. Oder doch?<br />

Der Schwarzhaarige lenkte sein Pferd heran, dicht gefolgt <strong>von</strong> seinen Begleitern, deren Hand gut sichtbar am<br />

Schwertgriff lag. Auf einem Packpferd schwankten einige schwere Kisten. Odilon konnte sich schon lebhaft<br />

vorstellen, was sie enthielten: Ketten, Folterinstrumente, Praioskrausen.<br />

"Praios zum Gruße" Die Stimme des Inquisitors klang nicht einmal bemüht freundlich. "Wer ist Euer Anführer?"<br />

Gunelde lenkte ihr Pferd heran. "<strong>Das</strong> bin ich, Euer Gnaden, verzeiht, Euer Hochwürden. Mein Name ist Gunelde<br />

<strong>von</strong> Heidengrund. Wir sind Perainepilger auf dem Weg nach Zorgan und..."<br />

"Perainepilger? Fürwahr erblicke ich hier seltsame Früchte im Garten der Herrin Peraine" Selbfrieds Stimme klang<br />

völlig humorlos. "Ein spitzohriges Albenbankert" Der Inquisitor spie die Worte geradezu heraus. "Eine einäugige<br />

Verbrechervisage, ein bis an die Zähne bewaffneter Strauchdieb, ein Streuner, dem die Hoffart bereits in Gesicht<br />

geschrieben steht und ein Magus. Nein, beim güldenen Glanze des Götterfürsten: Ihr seid eine Verhöhnung der<br />

Zwölfe, keine frommen Diener der Peraine. Im Namen der Gemeinschaft des Lichts erkläre ich Euch hiermit für<br />

verhaftet."<br />

"Was wirft man uns vor?" Gunelde versuchte ihrer Stimme Festigkeit zu geben, klang aber eher verzagt.<br />

"Heiliger Gilborn, das ist er. <strong>Das</strong> ist der Schurke, der uns in Gallys in die Irre geführt hat!" Einer der Bannstrahler<br />

deutete aufgeregt auf Odilon, der sein Gesicht die ganze Zeit etwas gesenkt und wohl gerade dadurch Mißtrauen<br />

geweckt hatte. "Ich erkenne ihn wieder."<br />

Drei Schwerter flogen wie auf einen lautlosen Befehl in die Hände der Praiosritter, die ihre Gegner umzingelten.<br />

"Ist Euch eigentlich schon einmal aufgefallen, dass wir in der Überzahl sind?" fauchte Alrik und zog ebenfalls<br />

blank. "Niemand nennt Baron Alrik <strong>von</strong> Friedwang eine Verbrechervisage. Also aus dem Weg mit Euch, bevor..."<br />

Odilon fiel Alrik in den Arm, mit dem gerade sein südländisches Temperament durchging. <strong>Das</strong> gesunde Auge<br />

funkelte.<br />

"Baron?" Der Inquisitor lachte höhnisch auf. "Was erdreistet er sich? Nicht genug, dass er die Göttin Peraine<br />

beleidigt mit seinem Mummenschanz, nun schmäht er auch noch den Adel."<br />

Der Schwertknauf eines der Bannstrahler traf den Friedwang, der einen Moment lang abgelenkt war, an der Stirn.<br />

Blutend stürzte er zu Boden. Dann ging alles sehr schnell. Der Reihe nach wurden die Gefährten aus dem Sattel<br />

gezerrt. Instinktiv griff Alvan zur Klinge, ließ diese dann aber fallen, als sie das Szepter des Inquisitors über sich<br />

dräuen sah und kniete nieder. Odilons Pferd spannte die Muskeln an. Die Stute meinte, ihr Reiter würde sogleich<br />

das Zeichen geben, loszugaloppieren. Es tänzelte leicht. Odilon bemerkte nicht, dass einer der Geißler sein Pferd<br />

Kutaki nervös beobachtete.<br />

"Um Alverans willen, leistet keinen Widerstand!" rief Odilon, der als letzter noch im Sattel saß. "Es wird sich alles<br />

aufklären! Wir sind..."<br />

Dann starrte er entsetzt auf das Schwert, dass einer der Geißler Kutaki bis zum Heft in den Hals gestoßen hatte.<br />

"Runter mit dir, Dämonenknecht!"<br />

Schreiend brach die Stute zusammen, Blut sprudelte in einer schwarzen Fontäne zum Himmel.<br />

"Neeeeeeeeeiiiiiiiiiiin!" schrie Odilon bestürzt aus. Fassungslos sah er sein todwundes Pferd. Die Vorderläufe der<br />

Stute knickten ein, während die Lebenskraft des Tieres mit dem roten Blut aus Kutakis Leib entwich.<br />

Mit bloßen Händen stürzte sich der Gallyser auf den Mann, ein blonder Bursche mit wässrig blauen Augen, der<br />

mitleidlos auf sein blutüberströmtes Schwert starrte, warf ihn vom Pferd, daß dessen Rippen krachten und drückte<br />

mit Urgewalt zu.<br />

"Praios, er ist besessen!" röchelte es unter ihm, dann ging die Stimme des Bannstrahlers in einen einzigen heiseren<br />

Wehlaut unter.<br />

Irgendetwas sehr Hartes traf Odilons Hinterkopf, dann noch einmal.<br />

Plötzlich war alles Schwärze, Ruhe und Frieden....<br />

***<br />

32


Selbfried war sehr zufrieden. Die Verräter waren allesamt dingfest gemacht. Obwohl sie nur zu viert waren hatten<br />

die sechs Bewaffneten sich fast ohne Gegenwehr ergeben. Der Hochstapler, der sich als Baron ausgeben wollte,<br />

hatte sein Schwert nach dem Einschreiten des anderen Strauchdiebs nicht gezogen. Seltsam nur, dass gerade dieser,<br />

der erst mäßigend auftrat, dann den Bannstrahler Anselm mit bloßen Händen angriff. Aber mit der Logik der<br />

wahrhaft Gläubigen war die Handlung eines Verräters wohl nicht nachvollziehbar.<br />

Wie gesagt, es war alles ohne Schwierigkeiten verlaufen. Die sechs Paktierer waren widerstandslos festzunehmen,<br />

damit hätte Selbfried nicht gerechnet. Wie er aus seinen Akten wusste war der Magus Hesindian ein durchaus<br />

ernstzunehmender Gegner, und ihm war als erfahrenem Kämpfer der gerechten Sache des Herrn Praios nicht<br />

entgangen, das der alte bärtige Begleiter des Magus seinen Bewegungen nach ein gefährlicher Gegner sein konnte.<br />

Aber einem geweihten Inquisitor und drei Bannstrahlern gegenüber hat es wohl selbst dieser alte Kämpe mit der<br />

Angst zu tun bekommen, so dass er sich wohl lieber auf das Täuschen versucht hat. Aber Selbfried war nicht leicht<br />

zu täuschen. Nachdem der bärtige Hüne Anselm angegriffen hatte war es Friedhelm gelungen, den Berserker durch<br />

zwei kräftige Hiebe mit seinem Schwertknauf auf dessen Hinterkopf außer Gefecht zu setzen. Und nachdem dieser,<br />

offenbar ihr stärkster Kämpfer, überwältigt war dachten seine fünf Kumpane nicht daran, noch Widerstand zu<br />

leisten und ließen sich ohne Gegenwehr verhaften.<br />

Es war ein leichtes gewesen, die sechs Gefangenen zum Segler „Greif <strong>von</strong> Beilunk“ zu bringen. <strong>Das</strong> Schiff würde<br />

noch am selben Tag nach Perricum auslaufen. Und dort würde er die Gefangenen <strong>von</strong> weiteren Ordensleuten des<br />

Bannstrahl Praios nach Gareth schaffen lassen. Aber die Überfahrt nach Perricum dauerte gewiss zwei oder drei<br />

Tage, da der Wind ungünstig stand. Und die Zeit würde er nützen, um die Gefangenen zu befragen. Als ersten<br />

Delinquenten hatte er sich den Taugenichts <strong>von</strong> Streuner auserkoren. Dieser schien ihm am wenigsten verstockt zu<br />

sein, und er nahm an, dass allein das Vorzeigen der Instrumente genügen würde, um ihm die Zunge zu lockern. Er<br />

schickte Anselm und Corbenian, um ihn zum Verhör heranschaffen zu lassen.<br />

„Anselm, du schreibst auf das Genaueste mit, was dieser Bastard <strong>von</strong> einem Verräter hier <strong>von</strong> sich gibt. Corbenian,<br />

Du wendest auf mein Wort hin die einzelnen Instrumente an.“<br />

„Ja, Herr“, bestätigte Anselm. Corbenian nickte, während er den Streuner an den Mast band. Dann riß Corbenian<br />

dem Streuner das Hemd herunter, so dass dieser mit nacktem Oberkörper an Deck stand. Eine kühle Brise ließ ihn<br />

frösteln, aber Sigismund nahm das gar nicht wahr. Seine Gedanken galten dem teuren Rüschenhemd, für das er<br />

einen halben Dukaten bezahlt hatte, und das dieser Banause <strong>von</strong> einem Praiosinquisitor zerrissen hatte.<br />

„Anselm, erläutere ihm die Regeln der praiosgefälligen Befragung.“<br />

„Sehr wohl, Herr! Höre er zu, Schurke. Praios in seiner Weisheit und Güte hat es gerichtet, dass wer frei <strong>von</strong><br />

Schuld ist und die Wahrheit spricht Gnade findet vor dem Herrn. Der Herr Praios wird demjenigen, der die<br />

Wahrheit spricht, Schutz anheim gedeihen lassen vor Schmerz und Pein. Praios wird jenem die Stärke und die<br />

Willenskraft verleihen, jedem Schmerz zu widerstehen. Jenem aber, der ein falsches Zeugnis ablegt, wird er keinen<br />

Beistand leisten, so dass dieser Schmerzen in voller Stärke empfinden kann. Nun, Schurke, ist er gewillt, alle<br />

Fragen, die Meister Selbfried ihm stellt, mit der vollen Wahrheit zu beantworten?“<br />

„Ja“ antwortete Sigismund. Anselm notierte das Ja des Streuners.<br />

„Sehr gut.“ begann Selbfried. „Wie lautet sein korrekter und vollständiger Name?“<br />

„Sigismund <strong>von</strong> Baernfarn-Helligfarn.“<br />

„Wer sind seine Eltern?“<br />

Mein Vater ist Reto Weldorn <strong>von</strong> Baernfarn-Helligfarn, Edler zu Helligfarn. Meine Mutter ist demselbst die Edle<br />

zu Helligfarn, welches ein Gut auf Efferdträne im schönen Fürstentum <strong>Darpatien</strong> ist.“ Anselm schrieb mit flinker<br />

Hand mit.<br />

„Da er angibt, <strong>von</strong> Adel zu sein. Kann er seine Ahnenreihe darlegen?“<br />

„Aus dem Stegreif nicht gänzlich, jedoch befinden sich ausreichende Aufzeichnungen in Familienbesitz. Die<br />

Ahnenreihe des Hauses Baernfarn ist seit dem Jahr 253 vor der Gründung des Raulschen Reiches dokumentiert.“<br />

„Gut. Aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten auf diesem Schiff kommt als Instrument der Wahrheitsfindung<br />

zunächst nur die Peitsche in betracht. Sobald wir eine geeignete Räumlichkeit zur Verfügung haben können auch<br />

Brandeisen und Fingerschrauben eingesetzt werden als erste Mittel der Wahrheitsfindung. Corbenian, zeige ihm die<br />

Wirkung der Peitsche.“<br />

Corbenian gehorchte. Ein klatschendes Geräusch ertönte, als die Peitsche auf den Rücken Sigismunds traf. Der<br />

Streuner schrie auf. Anselm tauchte die Feder in ein Tintenfass.<br />

„Er hat nun gespürt, wie sich die Peitsche anfühlt, ohne dass Praios Schutz vor Schmerzen gewährt. Nunmehr<br />

erkläre er den hier Anwesenden Zweck und Ziel seiner Reise.“<br />

„Die ganze Reise ist eine Idee <strong>von</strong> Gunelde gewesen...“<br />

„<strong>Das</strong> ist die, die sich als Perainegeweihte ausgibt?<br />

„Ja, genau, die Perainepredigerin. Ihr Großvater war im Jahr 6 vor Hal beim <strong>Maraskan</strong>feldzug Retos gefallen. Da<br />

sie nicht wollte, dass die Gebeine in unheiliger Erde liegen sind wir aufgebrochen, sie zu bergen. Alrik Tsalind, der<br />

33


Baron <strong>von</strong> Friedwang ist Guneldes Bruder und ihr und dem Großvater damit moralisch verpflichtet. Wir anderen<br />

vier reisen zu deren Schutz und Sicherheit mit.“<br />

„<strong>Das</strong> ist der haarsträubendste Unsinn, den ich jemals gehört habe. Na gut, dass Alrik der Baron <strong>von</strong> Friedwang ist<br />

mag ich vielleicht noch glauben. Sein Amtsvorgänger Gernot war ja auch ein Verräter, der Apfel fällt nicht weit<br />

vom Stamm. Aber um die Gebeine eines Verstorbenen zu bergen sechs Menschenleben zu riskieren! Es ist eine<br />

bodenlos unverschämte Frechheit, mir einen solchen hanebüchenen Schwachsinn vorsetzen zu wollen. Corbenian,<br />

die Peitsche. Zwei mal zu Ehren Praios!“<br />

Corbenian holte aus. Die Peitsche sauste hernieder. Dann noch einmal. Sigismund schrie erbärmlich. Der Streuner<br />

war, da hatte sich Selbfried nicht verschätzt, wahrlich nicht sehr schmerzresistent.<br />

„Also, sprich er, aber diesmal die Wahrheit. Zuerst die Namen der anderen. Wer ist der bärtige Hüne?“<br />

„<strong>Das</strong> ist Odilon Wildgrimm <strong>von</strong> Baernfarn. Er ist ein entfernter Verwandter <strong>von</strong> mir, er ist ein Waldläufer...“<br />

„Aha, der Name sagt mir etwas. Der einstige Baron zu Gallys, der zugunsten der Liebe einer Elfe sein Amt<br />

niederlegte. Ein Defätist. Ein Verräter, der die ihm <strong>von</strong> Praios übertragenen Pflichten nicht wahrnimmt. <strong>Das</strong> glaub<br />

ich gern, dass dieser Schurke übergelaufen ist. Wer ist diese angebliche Perainegeweihte?“<br />

„<strong>Das</strong> ist Gunelde <strong>von</strong> Friedwang, die Schwester Baron Alriks. Die beiden sind die Kinder <strong>von</strong> Baronin Tsalinde<br />

Kalmanderia <strong>von</strong> Friedwang. Gunelde ist eine wirkliche Geweihte der Peraine.“<br />

„Mag sein, dass sie sich die Weihen erschlichen hat. Auf alle Fälle ist sie die Schwester eines Verräters, und auch<br />

eine verwandte des erwiesenen Borbaradianers Gernot <strong>von</strong> Friedwang. Und wer ist dieses Elfenbalg“<br />

„Alvan Scheyhathjida <strong>von</strong> Baernfarn-Nordenheim, die Edle <strong>von</strong> Nordenheim, eine Lehensfrau Baron Alriks. Die<br />

Halbelfe ist die Tochter Odilons und der Elfe Jirka. Sie begleitet uns, weil sie vor dem Krieg schon einmal in<br />

<strong>Maraskan</strong> war und daher mit den Eigenheiten der Insel vertraut ist.“<br />

„Anselm, vermerke im Protokoll: Der zu Befragende gibt zu, dass mehrere Angehörige der adeligen darpatischen<br />

Familien Baernfarn und Friedwang in Begleitung eines in deren Diensten stehenden zwielichtigen Magiers nach<br />

<strong>Maraskan</strong> reisen wollten. Vorgeschobene Begründung des Unternehmens ist die angebliche Bergung eines toten<br />

Verwandten.“<br />

Anselms Finger führten die Feder flink über das Pergament.<br />

„Nun, was ist der wahre Grund Eurer Reise?“<br />

„<strong>Das</strong> sagte ich bereits. Wir bergen den...“<br />

„Corbenian, zwei Mal zu Ehren Praios!“<br />

Corbenian gehorchte. Sigismund schrie praioserbärmlich.<br />

„Was hat dieser Veneficus <strong>von</strong> Baernfarn mit der ganzen Sache zu tun?“<br />

„Der hält die ganze Reise schlicht für Wahnsinn, hat uns aber nicht zurückgehalten.“<br />

„Ist Veneficus auch übergelaufen zu den Gottlosen?“<br />

„Niemand ist übergelaufen.“<br />

„Betest Du zu den Gehörnten?“<br />

„Nein, ich bete für mich zu Phex und als unserem Familiengott natürlich zu Firun.“<br />

„Anselm, vermerke: Der zu Befragende streitet es ab, mit den dämonischen Widersachern der Zwölf zu paktieren.<br />

Corbenian, untersuch ihn!"<br />

Corbenian gehorchte. Er betrachtete den nackten Oberleib Sigismunds genau. Die Haut wies – abgesehen <strong>von</strong> den<br />

blutenden Wunden der Peitsche keine Verletzungen, keine Narben und auch keine Muttermale auf. „Am<br />

Oberkörper kein Mal!“ stellte er fest. Dann griff er zu seinem Messer und schnitt die Leinenhose auf beiden Seiten<br />

an. Mit einem kräftigen Ruck war die schwarze Hose Sigismunds nichts mehr als ein lumpiger Fetzen. Bis auf ein<br />

Lendentuch unbekleidet und ob des frischen Windes frierend stand Sigismund an den Mast gebunden, während der<br />

Bannstrahler nun seinen Unterleib begutachtete. Doch auch hier konnte Corbenian nichts anderes feststellen als<br />

eine ebenmäßige und reine Haut. „Keine Male, am ganzen Leib!“ verkündete Corbenian sachlich.<br />

„Na gut, vielleicht ist dann seine Seele noch nicht verloren. Höre er, Sigismund, wenn er gesteht und beichtet und<br />

die ihm auferlegte Sühne tut, dann wird seine Seele Gnade finden und Borons Hallen werden ihm nicht<br />

verschlossen sein. Er hat jetzt die Gelegenheit, sein Gewissen zu erleichtern, seiner unsterblichen Seele wegen<br />

sollte er diese Gelegenheit ergreifen. Was wollten er und seine Gefährten in Wahrheit auf <strong>Maraskan</strong>?“<br />

„Ich sagte es doch schon. Es ist die Wahrheit.“<br />

„Corbenian, einmal zu Ehren Praios!“<br />

Sigismund schrie. Er schrie so laut, dass seine Schreie das Aufschlagen der Peitsche auf seinen Rücken übertönten.<br />

Dann sackte er kraftlos in sich zusammen. Eine wohlige Bewusstlosigkeit schien sich des Streuners anzunehmen.<br />

War das der Schutz, den Praios den Wahrhaftigen zuteil werden ließ?<br />

„Wasser“ kommandierte Selbfried. Corbenian schüttete Sigismund einen Eimer Wasser in das Gesicht. Die warme<br />

Dunkelheit wich <strong>von</strong> Sigismund zurück.<br />

„Was wolltet ihr in <strong>Maraskan</strong>?“<br />

„Wir wollten die Gebeine des toten...“<br />

„Corbenian, noch zweimal zu Ehren Praios!“<br />

34


„Nein! Halt!“ flehte Sigismund.<br />

„Was wolltet ihr auf <strong>Maraskan</strong>?“<br />

Corbenian hielt in der Ausholbewegung inne.<br />

„Wir... wir wollten überlaufen. Wir wollten überlaufen!“<br />

„Aha. Sehr gut. Nein, nicht dass er überlaufen wollte. Sondern dass er sich endlich auf die Wahrheit besinnt!<br />

Warum wolltet ihr überlaufen?“<br />

„Ich weiß es nicht.“<br />

„Corbenian...!“<br />

„Halt, nein, ich glaube, lass mich nachdenken, ich bin ganz verwirrt. <strong>Das</strong> war Veneficus Idee. Er sagte, sobald die<br />

siebengehörnte Krone in Gareth weht wird er zum Fürsten <strong>Darpatien</strong>s ernannt werden, und Alrik zum Graf der<br />

Schwarzen Sichel.“<br />

„Anselm, vermerke: Der zu Befragende ist geständig in vollem Umfang. Er gibt zu, dass namhafte Vertreter des<br />

Hauses Friedwang und des Hauses Baernfarn aus machtpolitischen Erwägungen zu Verrätern am Glauben<br />

geworden sind.“<br />

Anselm schrieb wie ihm aufgetragen war.<br />

Die Pein flutete heran, ebbte dann wieder ab. Erneut eine Welle aus niederhöllischen Kopfschmerzen, die<br />

platschend an den Rand seines Bewusstseins drang, und dann wieder ins dunkle Meer zurück zu rollen. Ein leises<br />

Knarren und Ächzen. Alles drehte sich, schwankte. Würgend übergab sich Odilon, öffnete seine Augen. Er war<br />

festgekettet, an irgendeiner Holzwand. Um ihn herum Dunkel. Noch immer drehte sich alles um ihn. Nur die<br />

Ketten verhinderten, dass er umfiel. Seine Handgelenke schmerzten. Er stöhnte, wie ein verwundetes Tier.<br />

Nur langsam begriff er, dass nicht nur er allein sich bewegte, sondern dass der ganze Raum mit ihm schwankte. Ein<br />

Rauschen drang an seine Ohren, dass nicht allein das des Blutes in seinem Kopf war. Knarren und Ächzen.<br />

Kettengeklirr. Der faulige Gestank nach Schmutzwasser und Seetang. Ein Schiff...sie befanden sich an Bord eines<br />

Schiffes...Natürlich, das war das Geheimnis. Deswegen hatten die Bannstrahler es geschafft, sie zu überholen. Sie<br />

mussten in Perricum an Bord eines Seglers gegangen sein. Vermutlich waren sie jetzt gerade auf dem Rückweg.<br />

"Er ist aufgewacht" Eine Stimme neben ihm. Gunelde? Nein, es war Alvans Stimme.<br />

"Meine Tochter. Wo sind wir hier?"<br />

"An Bord eines Handelsschiffes. Keine Ahnung, wie der Kahn genau heißt. Graf <strong>von</strong> Beilunk oder so ähnlich. Ach<br />

nein, Greif <strong>von</strong> Beilunk, Vermutlich hat dieser verrückte Selbfried das Schiff wegen dem praiosgefälligen Namen<br />

gewählt. Ah, dieses verdammte Ding!"<br />

"Was.. was für ein Ding?"<br />

"Eine Praioskrause. Ganz schön schwer. Preise die Schönheit, sage ich da nur. Den Halsschmuck habe ich wohl<br />

meinen Ohren zu verdanken. Naja, Hesindian hat es schwerer erwischt. Den haben sie auch gleich noch den Mund<br />

gestopft."<br />

Wie zur Antwort erklang in der Ecke ein ersticktes Stöhnen. Erst jetzt merkte Odilon, dass er bis zu den Knien im<br />

Wasser stand. Offensichtlich war das hier die Bilge, der tiefste Raum des Schiffes.<br />

"Wo sind die anderen?"<br />

"Alrik neben mir, Gunelde ist da drüben, an deiner Seite."<br />

Ein mattes Murmeln bestätigte das Gesagte.<br />

"Und Sigismund?"<br />

"Ist oben beim Verhör. Vermutlich halten sie ihn für das schwächste Glied in der Kette. Ich habe ein paar Mal üble<br />

Schreie gehört."<br />

"Diese Schweine!"<br />

"Wie geht es dir, Vater?"<br />

"Der Kopf schmerzt furchtbar. Diese verdammten Barbaren. Kutaki !"<br />

"Reg dich nicht auf..."<br />

"Kutaki? Was ist mit ihm?“<br />

Schweigen. Dann ein hilfloses: "Ich weiß es nicht. Die Bannstrahler haben uns gleich in die Stadt gebracht, in den<br />

Hafen, in Ketten gelegt wie die Sträflinge. So habe ich mir unseren Einzug nach Zorgan ehrlich gesagt nicht<br />

vorgestellt."<br />

"Hat jemand <strong>von</strong> Euch die Hände frei?"<br />

Ein vielfaches Klirren war bereits Antwort genug.<br />

"Wie lange war ich ohne Bewusstsein?"<br />

"Wenn ich selbst wüsste, wie lange wir schon hier unten sind. Besonders weit draußen sind wir noch nicht, den<br />

Geräuschen an Deck und dem Wellengang nach zu urteilen. Vielleicht eine Stunde? Ich weiß es nicht."<br />

Von oben war ein Poltern zu hören, dann das Quietschen einer Luke. Unsteter Lichtschein, Schattenspiele. Gierig<br />

sogen die Gefangenen die "frische Luft" ein, die <strong>von</strong> oben herein strömte.<br />

35


Dann wurde Sigismund <strong>von</strong> zwei Matrosen gebracht, polternd und pflatschend wieder festgekettet. Ein<br />

unmenschliches Stöhnen.<br />

"Sigismund, was ist mit dir? Was haben sie mit dir gemacht?"<br />

"Schweig, Dämonenbuhle!" <strong>Das</strong> kam <strong>von</strong> oben, <strong>von</strong> einem der Bannstrahler. "Du bist dann als nächstes an der<br />

Reihe, Ausgeburt einer Zauberkreatur!"<br />

Alvan hielt den Atem an, aber der Drohung zum Trotz schloss sich die Luke mit einem dumpfen Dröhnen wieder.<br />

Ein schwerer Riegel wurde vorgeschoben.<br />

"Sigismund?"<br />

Ein leises Stöhnen war zu hören, das wie ein Ja klang.<br />

"Was haben sie mit dir gemacht?"<br />

"Nach... was... hört... es sich an?" Ein verzweifeltes, schmerzhaftes Auflachen. "Peitschenhiebe...und<br />

Faustschläge... die Daumenschrauben und Brandeisen kommen das nächste mal dran, haben sie gesagt. <strong>Das</strong><br />

Schlimmste war das Salzwasser. Wie das brennt..."<br />

"<strong>Das</strong> muss so sein, zur Wundreinigung. Was haben sie <strong>von</strong> dir wissen wollen?"<br />

"Lauter wirres Zeug. Ah, ihr guten Götter, diese Schmerzen! Ob ich mit den Heptarchen unter einer Decke stecke,<br />

zu den Gehörnten bete. Nach Dämonenmalen haben sie gesucht. Seit wann Hesindian übergelaufen ist. Wohin wir<br />

unterwegs seien. Ob auch Veneficus <strong>von</strong> Gallys ein Verräter ist. Fragen, nur unsinnige Fragen!" Die Stimme im<br />

Dunkeln ging in ein leises Schluchzen über.<br />

"Und, was hast du ihnen geantwortet?"<br />

Schweigen.<br />

"Was hast du gesagt?"<br />

"Was... was hätte ich ihnen denn sagen sollen? Diese verdammten Schmerzen...! Ich... ich wollte... ja... die<br />

Wahrheit sagen... aber... die wollten nur hören, dass wir schuldig sind..."<br />

Alvan fluchte innerlich auf. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihr Verehrer schon unter den ersten Schlägen<br />

eingeknickt war und alles gestanden hatte, was man ihm vorwarf.<br />

"Du hast alles zugegeben. Wegen ein paar Peitschenhieben!"<br />

"Ein paar Peitschenhiebe... den Rücken haben sie mir zerfetzt..."<br />

"Na und? Dieser Selbfried geißelt sich jeden Tag zum Vergnügen, so wie der aussieht."<br />

"Selbfried? Welcher Selbfried?" stöhnte Odilon.<br />

"Der Inquisitor. Meister Selbfried, so haben sie ihn genannt."<br />

"Nun, es bringt nichts, Sigismund Vorwürfe zu machen. Wir sollten uns lieber unser weiteres Vorgehen<br />

überlegen." <strong>Das</strong> kam aus Alriks Ecke.<br />

"Ich fürchte, unsere Lage ist eindeutig" Guneldes Stimme klang nicht einmal sarkastisch.<br />

"<strong>Das</strong> ist allerdings richtig. Selbst wenn wir aus diesem Loch hier rauskommen, da oben sind vier Praiosfanatiker,<br />

eine feindselige Mannschaft und wir mitten auf dem Perlenmeer." Alvan biss sich auf die Lippen. "Keine guten<br />

Aussichten."<br />

"Einen Moment..." ließ sich wieder Sigismund vernehmen.“ Ich...habe da etwas bei mir...Einen Nagel..."<br />

"Einen Nagel?"<br />

"Ja. Zum Auspeitschen haben sie mich an den Mast gefesselt, die Hände nach vorn. Im Mast steckte ein Nagel...<br />

den habe ich heimlich herausgezogen und in der Faust versteckt."<br />

"Ausgezeichnet. Bekommst du damit deine Handschellen auf?"<br />

"Ich glaube nicht. Wie soll ich denn das schaffen, mit einer Hand?"<br />

"Dann bringt uns auch der Nagel nichts."<br />

Von oben war plötzlich Glockengebimmel zu hören. Aufgeregte Rufe gellten, waren aber nicht genau zu verstehen.<br />

"Was ist das?" fragte Gunelde.<br />

"Hört sich fast nach Alarm an."<br />

"Alarm? So nah an Land?"<br />

"Die Gewässer hier sind ziemlich unruhig."<br />

"Na, wunderbar!" <strong>Das</strong> kam <strong>von</strong> Alrik. "Unsere Retter kommen schneller, als ich dachte."<br />

"Freut Euch nicht zu früh. Im ungünstigsten Fall frisst uns gleich eine Seeschlange oder ein Riesenkrake. Oder eine<br />

Dämonenarche schickt uns auf Grund."<br />

"Ein bisschen Seemannsgarn lockert so eine eintönige Reise durchs Perlenmeer doch gleich etwas auf" feixte der<br />

Baron.<br />

"Bestenfalls fallen wir oronischen Piraten in die Hände. Oder Helme Haffax Blutsäufern. Gefällt Euch das besser?"<br />

"Nun, anscheinend haben wir jetzt den Ruf, auf deren Seite zu stehen. <strong>Das</strong> stimmt mich durchaus optimistisch."<br />

Ein dumpfes Klatschen war zu hören, erst einmal, dann ein weiteres Mal.<br />

"Was ist das?" Alriks Optimismus war aus seiner Stimme verschwunden.<br />

"Hört sich nach Rotzenbeschuss an" Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim sah besorgt drein. "Liegen ziemlich nahe, die<br />

Brüderschwestern"<br />

36


Über ihren Köpfen rumpelten nun die eigenen Geschütze zu den Stückpforten, das aufgeregte Geschrei der<br />

Matrosen und das Krachen der Rotzen waren zu hören.<br />

Dort oben schien ein regelrechtes Seegefecht zu entbrennen.<br />

37


III. Kapitel: Die Piraten der Blutigen See<br />

Es war ein dunkler Raum, in dem Andromejia wartete. Die <strong>Maraskan</strong>erin fröstelte leicht. Den Nachmittag über<br />

hatte sie die Wärme des Tages gespürt, und nun hieß man sie in diesem feuchten und modrigen Loch zu warten.<br />

Wie konnte man einen so finsteren Bau nur als angenehm und wohnlich empfinden. Aber die neuen Herren<br />

<strong>Maraskan</strong>s waren seltsam. Auf ihre Weise noch seltsamer als die Garethjas, die sich zuvor als die Herren der Insel<br />

aufgespielt hatten. Noch war nicht offensichtlich, auf welche Weise diese neuen Herrscher zur Schönheit der Welt<br />

beitrugen. Außer, dass sie die Garethjas verjagt hatten, was zweifellos der Schönheit der Welt über alle Maßen<br />

dienlich war. Ein wenig störend daran hatte sie zunächst empfunden, dass die Schönheit der Welt zunächst eher zu<br />

sinken schien anstatt zu steigen. Aber das hatte sie nur vorübergehend so empfunden. Mittlerweile schätzte sie die<br />

Veränderungen. Vor allem natürlich deshalb, weil sie es nunmehr zu Wohlstand gebracht hatte und nicht mehr<br />

betteln mußte wie seinerzeit unter den Garethjas.<br />

Andromejia war eine kleine und unscheinbare Frau. Ihr sonnengebräuntes Gesicht und ihr kurzes schwarzes Haar<br />

unterschieden sich nicht im Geringsten vom durchschnittlichen Aussehen der Bewohner <strong>Maraskan</strong>s. Und da sie<br />

<strong>von</strong> Statur eher schlank und schwächlich wirkte stach sie niemanden sofort ins Auge. Früher hatte sie darunter<br />

gelitten, nur wenig Beachtung entgegengebracht zu bekommen. Mittlerweile wusste sie diese Gabe zu ihrem<br />

Nutzen einzusetzen. Ihre Unscheinbarkeit war gepaart mit einer exzellenten Geschicklichkeit und einer<br />

vorzüglichen Ausdauer, die man ihrem schlanken Körper gar nicht zutrauen würde. Andromejia verfügte also über<br />

die besten Voraussetzungen für eine Karriere auf der verborgenen Seite der Macht. Andromejia war schon zu<br />

Zeiten der Garethjas eine geschickte Diebin. Erst recht waren ihre Fähigkeiten sehr gewinnbringend einzusetzen,<br />

seit die neuen Herren die Macht an sich gerissen hatten.<br />

Andromejia wartete auf Andorkan. Andorkan kannte sie schon seit vielen Jahren. Andorkan war unter der<br />

Herrschaft der Garethjas wie sie ein Bettler gewesen. Ein Tagedieb, ein Schurke, wie mancher sagen mochte. Aber<br />

so wie es bei allen Handwerkern ein Gildenoberhaupt gab, so war Andorkan der König der Bettler gewesen.<br />

Andorkan hatte schon immer ein scharfes Auge und ein gutes Gehör gehabt, und vor allem einen Sinn dafür, wo es<br />

etwas zu hören gab, was niemand hätte hören sollen. Andorkan hatte gute Kontakte zu den Dieben, den Räubern<br />

und den Betrügern. Er wusste, an wen man sich wenden mußte, wenn man einen Dienst aus der Unterwelt<br />

benötigte. Und, was noch wichtiger war, er wusste, wer <strong>von</strong> den Reichen sich welche Dienste der Unterwelt zu<br />

Eigen gemacht hatte. Und so war Andorkan vom Bettler zum Informationshändler aufgestiegen. Seine steile<br />

Karriere begann aber erst, als die Herren <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong> wechselten. Denn gegen gute klingende Münze verkaufte<br />

er Informationen an die Emporkömmlinge. Wohl so manchen Garethja hatte Andorkan ans Messer geliefert, der<br />

heimlich Kontakt nach Gareth hielt und den neuen Herrschern nicht loyal gegenüber stand. Auf diese Weise war<br />

Andorkan nicht nur reich geworden, sondern er errang sich auch das Vertrauen der neuen Machthaber des Landes.<br />

Und das war sehr vorteilhaft. Auch für Andromejia. Denn Andromejia ihrerseits genoß das Vertrauen Andorkans.<br />

Sie hatte rechtzeitig die Gunst der Stunde erkannt und ihrerseits Andorkan die Informationen beschafft, die er <strong>von</strong><br />

ihr verlangte. Und so wie Andorkan schließlich im Auftrag der neuen Herrscher zum örtlichen Leiter einer Art<br />

Informationsbeschaffungsinstitut aufgestiegen war, so wurde Andromejia die rechte Hand Andorkans in dieser<br />

neuen Institution. Freilich war das Institut, wie man es schlicht nannte, in seiner Tätigkeit nicht nur auf Tujiak, das<br />

die Garethjas Tuzak nannten, begrenzt. Aber in Tuzak selbst stützte sich die Macht der neuen Herren neben den<br />

Truppen, den Söldnern vor allem auch auf das Institut, deren Mitarbeiter sich vornehm „die Samthandschuhe“<br />

nannten. Denn niemand, der den neuen Herren skeptisch gegenüber stand, wusste, wem er trauen konnte oder wer<br />

seiner Freunde das, was er soeben gesagt hatte, an das Institut weiterreichte. Es standen viele Informanten im<br />

Dienst der Samthandschuhe. Und wer einen Konkurrenten aus dem Weg räumen wollte, in dem er ein Geheimnis<br />

des Betreffenden an das Institut reichte, der tat dies.<br />

Als Andromejia an diesem Tag Andorkan aufsuchte war sie durchaus neugierig, was Andorkan <strong>von</strong> ihr wollte. Es<br />

war nicht ungewöhnlich, dass er einen Auftrag für sie hatte. Üblicherweise bestand das im Beschatten eines<br />

Bürgers, in einem Einbruch um belastendes Material zu stehlen oder ähnlichem. Aber sie spürte, dass es diesmal<br />

um mehr ging. Denn sonst hätte Andorkan ihr seinen Auftrag nicht persönlich, sondern durch einen Boten<br />

übermitteln lassen. Es mußte sich um eine heikle Mission handeln, die keinen Mitwisser duldete. Andorkan<br />

brauchte jemanden, dem er völlig vertrauen konnte. Also sie, Andromejia. Und das machte sie stolz. Sie wusste,<br />

dass sie mit einem Gelingen ihres Auftrages so viel <strong>Gold</strong> bekommen würde, dass sie sich zur Ruhe setzen könnte.<br />

Sie könnte sich zwei kräftige Sklaven kaufen, die ihr alle Arbeiten abnehmen würden. Vielleicht würde es auch<br />

noch für einen oronischen Liebessklaven reichen.<br />

Mit einem Knarren öffnete sich die Tür und Andorkan betrat die dunkle Kammer.<br />

38


***<br />

Erneut ein scharfes Surren, dann das Splittern <strong>von</strong> Holz, mehr als Zittern im Rumpf denn als Geräusch<br />

wahrnehmbar. Poltern, Dröhnen und Klatschen. Schreie.<br />

"Treffer!"<br />

Odilon sah in Gedanken bereits ihr Gefängnis mit Salzwasser überflutet.<br />

"Wir sollten machen, dass wir hier herauskommen."<br />

"Gute Idee! Und wie?" Alrik schrie fast, die jähe Angst war deutlich herauszuhören. Erneut erzitterte der "Greif<br />

<strong>von</strong> Beilunk" unter einem Einschlag, die Spanten ächzten und krachten. Die Gefangenen kamen sich vor wie im<br />

Inneren einer gewaltigen Kesselpauke, auf die <strong>von</strong> außen ein Riese eindrosch.<br />

"<strong>Das</strong> gilt der Takelage!" urteilte Alvan fachmännisch. "Die wollen das Schiff und die Ladung, und beides<br />

möglichst unbeschädigt! Also werden sie uns nicht versenken."<br />

"Dein Wort in Efferds Ohr!" keuchte Alrik. "Wir sollten rasch etwas unternehmen. Alvan, Du bist mit den Händen<br />

nicht festgekettet, also kannst Du Sigismund den Nagel aus der Hand nehmen und mir geben. Mit Phexens Hilfe<br />

bekomme ich dann meine Ketten schon auf und kann Euch befreien."<br />

Alvan ergriff den Nagel, den Sigismund ihr hinhielt, und reichte ihn an Alrik weiter. Dieser bewegte ihn mit<br />

geschickten Fingern im Schloss hin und her. Woher ein Baron das wohl gelernt haben mag, fragte sich Sigismund.<br />

Selbst er hätte sich da schwer getan, und seine Finger waren mit der Geschicklichkeit des Kartenspielers gesegnet.<br />

Es dauerte nur eine knappe Minute, bis Alrik seine Handfesseln geöffnet hatte.<br />

Von Deck her drang Lärm nach unten. Offenbar waren die ersten der Angreifer dabei, die Greif <strong>von</strong> Beilunk zu<br />

entern. Wilde Schreie, die nicht zu verstehen waren, drangen an die Ohren der Eingesperrten. Da öffnete sich die<br />

Luke der Bilge und eilige Schritte waren zu hören. Ein grelles Licht aus einer Laterne blendete die Gefährten. Alrik<br />

sprang zu Alvan und versuchte sie zu befreien.<br />

„Aahhhrg. Ihr werdet sterben, noch ehe die verfluchten Dämonenknechte euch befreien können. Und wenn es das<br />

letzte ist was ich tue, bevor ich dem Herrn Praios <strong>von</strong> Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe. Ihr seid des Todes!“<br />

Meister Selbfried war es, der in der einen Hand die Laterne trug, in der anderen sein Schwert. Er stockte einen<br />

Moment, als er erkannte, dass Alrik sich seiner Fesseln entledigt hatte. Dann holte er aus und schlug mit seiner<br />

Klinge nach dem Friedwanger. Alrik ließ sich zur Seite fallen und Selbfrieds Schwert verfehlte ihn. Selbfried<br />

stolperte nach vorne und seine Klinge schnitt tief in Alvans Oberarm. Die Halbelfe schrie. Selbfried ignorierte die<br />

Halbelfe und setzte Alrik nach. Der Streuner war nicht gefesselt und damit die einzigste Gefahr für ihn. Ihn mußte<br />

er zu erst besiegen, danach würde er die anderen seiner gerechten Strafe zuführen. Selbfried sprang mit einer<br />

erstaunlichen Schnelligkeit und Eleganz über Gunelde hinweg und stach nach Alrik. Alrik hatte Mühe, der Klinge<br />

auszuweichen.<br />

Ein zweiter Schatten stürmte die Leiter in die Bilge herab. Es war einer der Bannstrahler. Gunelde erkannte ihn<br />

wieder als denjenigen, der Kutaki sein Schwert in den Leib getrieben hatte. Mit erhobenem Schwert folgte er<br />

Selbfried um diesen im Kampf mit Alrik zu unterstützen. Doch Sigismund handelte geistesgegenwärtig und stellte<br />

dem Bannstrahler ein Bein, so dass dieser der Länge nach neben Odilon hinfiel. Odilon rappelte sich auf – er kam<br />

sich selbst ungeheuer schwerfällig vor, da er noch reichlich benommen war – und war über dem Feind bevor dieser<br />

sich erheben konnte. Odilon legte die Kette, die seine Handgelenke verband, um den Hals des Bannstrahlers und<br />

zog mit aller Kraft zu. In Odilons Augen spiegelte sich eine ungeheure Wut wieder, die Alvan noch nie zuvor an<br />

ihrem Vater gesehen hatte. Wut und Trauer über den Tod Kutakis ließen ihn instinkthaft und gnadenlos handeln. Es<br />

gab kein Entrinnen mehr für den Bannstrahler.<br />

Selbfried trieb Alrik indes weiter mit dem Schwert vor sich her, ohne <strong>von</strong> der Not seines Gefolgsmannes Notiz zu<br />

nehmen.<br />

Sigismund reagierte erneut am schnellsten. Er entwand dem röchelnden Bannstrahler das Schwert so gut es ihm<br />

eben möglich war mit seinen Verletzten Händen und beförderte es mit einem Fußtritt zu Alrik. Dieser bückte sich<br />

wieselflink und fortan war der Zweikampf der beiden ein Kampf, bei dem Waffengleichheit herrschte. Allerdings<br />

bedeutete die Waffengleichheit keineswegs eine Chancengleichheit, denn Selbfried war bei weitem der bessere<br />

Schwertkämpfer und es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis Alrik einen Fehler machte.<br />

Anselm zappelte wild und mit aller Kraft, aber er konnte den festen Griff Odilons nicht lösen. Eine panische Angst<br />

war in seinen Augen zu sehen. Er wusste, dass ihm nur noch wenig Zeit blieb, den Griff des Bärtigen zu lösen,<br />

sonst würde seine Seele in kurzer Zeit nach Alveran ziehen.<br />

Mit mächtigen Hieben trieb Selbfried Alrik vor sich her. Die niedrige Deckenhöhe schien ihn dabei kaum zu<br />

behindern. Weit weniger jedenfalls als Alrik, der sich fast nur noch darauf beschränkte, den feindlichen Hieben<br />

auszuweichen oder sie zu parieren. Gunelde, Alvan und Hesindian waren an eine Wand gekettet und konnten nicht<br />

eingreifen, zu weit entfernt <strong>von</strong> ihnen war das Gefecht. Allein Sigismund hatte zumindest die Füße frei. Es war ein<br />

Glücksfall gewesen, dass Selbfried sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihn wieder anzuketten. Er hatte den Streuner<br />

wohl für zu geschwächt gehalten.<br />

39


Selbfried deutete einen Schlag <strong>von</strong> rechts an. Alrik riß sein Schwert herum, um den Hieb abzufangen. Es war wie<br />

Selbfried es sich gedacht hatte. Eine rasche Drehung, ein kurzes zurückziehen des Schwertes und ein ebenso<br />

schneller Hieb <strong>von</strong> links überraschten Alrik, ohne dass dieser darauf reagieren konnte. Vielleicht hätte ihm dieser<br />

Schlag den Garaus gemacht, wenn ihn nicht im gleichen Moment Sigismund angesprungen hätte. Selbfried verlor<br />

das Gleichgewicht, er taumelte nach vorne und sein Hieb streifte Alrik lediglich an der Seite, was eine<br />

schmerzende, aber keinesfalls gefährliche Wunde verursachte. Alrik trat mit einem Wutschrei nach dem Inquisitor,<br />

dieser klatschte der Länge nach auf den Boden der Bilge. Sigismund warf sich auf ihn und hämmerte ihm seine<br />

eisernen Fesseln auf den Kopf. Dem Inquisitor wurde schwarz vor Augen.<br />

An Deck war es still geworden.<br />

Alrik stöhnte, hielt sich die Seite. "Verdammter Mistkerl! Eigentlich sollte ich ihn dort im Dreckwasser ertränken!"<br />

"Seid Ihr verletzt?" wollte Alvan wissen.<br />

"Lasst nur, ein Kratzer! Danke, Sigismund! Ohne Euch wäre ich jetzt tot."<br />

Der Streuner grinste, wenn auch mit schmerzverzerrtem Gesicht:<br />

"War mir ein Vergnügen! Nach all den Peitschenhieben!"<br />

Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim sah auf das Bilgenwasser, das tatsächlich größtenteils nach Backbord geflossen war.<br />

Offensichtlich hatte die "Greif <strong>von</strong> Beilunk" stark Schlagseite. Da dies kaum auf einen Leck unter der Wasserlinie<br />

zurückzuführen sein konnte, bedeutete dies wohl, dass einer der Masten umgestürzt war, nun ins Wasser hing und<br />

das Schiff deutlich zur Seite krängen ließ.<br />

"Was ist mit den anderen, den Bannstrahler? Ist er tot?"<br />

"<strong>Das</strong> will ich hoffen!" knurrte Odilon grimmig.<br />

Alvan spürte Bestürzung in sich aufsteigen: "Du hast gerade einen Praiosdiener getötet!"<br />

"Er wollte uns töten, nicht umgekehrt! Und er hat Kutaki auf dem Gewissen."<br />

"Was machen wir mit dem da?" Alrik deutete mit dem Schwert auf den Inquisitor, der gerade mit einem Stöhnen zu<br />

sich kam, und sich den Hinterkopf hielt. Im nächsten Moment spürte er außer Kopfschmerzen noch ein<br />

unangenehmes Stechen im Nacken: "Liegenbleiben, <strong>Gold</strong>fasan!"<br />

"Möge Praios Euch verfluchen!" zischte Selbfried, der nur langsam begriff, was geschehen war. "Was habt Ihr mit<br />

Anselm gemacht?"<br />

"Der hat Halsschmerzen bekommen und sich endgültig <strong>von</strong> unserem kleinen Törn hier verabschiedet. Hat wohl die<br />

raue Seeluft nicht vertragen. <strong>Das</strong> passiert Euch auch, wenn Ihr noch ein wenig herumhampelt!" antwortete Alrik.<br />

Mit einem derben Tritt beförderte er den Inquisitor zurück auf den Bauch, bevor dieser sich wieder aufrappeln<br />

konnte. Mit dem blutig geschundenen Gesicht voran landete der Selbfried in der schmutzigen Brühe. Aus den<br />

Augenwinkeln sah er eine graubraune Ratte mit zitternden Barthaaren in seine Richtung schnuppern. <strong>Das</strong> unheilige<br />

Tier des Namenlosen! Er war endgültig in die Hände der Diener des abgrundtief Bösen geraten. Nun denn, wenn es<br />

ihm so bestimmt war, dann würde er für Praios das Martyrium erleiden, wie der Heilige Gilborn in den Verliesen<br />

des verfluchten Bethaniers. Praioslob biss das Untier nicht zu, sondern huschte fiepend in die Dunkelheit da<strong>von</strong>.<br />

"Rede, Bursche! Was habt ihr mit Anselm gemacht!""<br />

"Der singt jetzt Gurvanische Choräle, und zwar auf ewig!"<br />

"Mörder! Warum bringst du mich nicht ebenfalls um, Dämonenknecht?"<br />

"Gute Frage! Ich sollte es mir wirklich überlegen." Alrik zerrte die Hände des Praioten auf den Rücken und<br />

schnürte sie mit dessen Schärpe zusammen. "Aber vielleicht ist es mir ja im Gegensatz zu Euch einfach irgendwie<br />

zuwider, Wehrlose abzuschlachten?"<br />

"Schsschttt!" Alvan legte ihren Zeigefinger auf die Lippen.<br />

"Sie kommen!" flüsterte sie.<br />

Tatsächlich huschten die ersten Füße heran, derbes Gelächter war zu hören, ab und an ein Schmerzensschrei.<br />

"Gnade, Gnade!"<br />

<strong>Das</strong> waren offenbar Matrosen, die unter Deck - oder in die umgekehrte Richtung? - getrieben wurden.<br />

Raues Gelächter erklang.<br />

Dann schob sich ein Gesicht über die Luke. Alvan erkannte ein stoppelbärtiges, narbenzerfurchtes Gesicht und ein<br />

um den Kopf geschlungenes rotes Tuch - ein Pirat, wie ihn sich Klein-Alrik vorstellte.<br />

"Beim Gierigen Feilscher, da unten sind auch noch welche! Los, raus mit Euch, aber ein bisschen plötzlich!"<br />

Gieriger Feilscher? Möglicherweise standen dieses Piraten also im Dienste Xeraans, dachte Sigismund... Als nicht<br />

sofort Antwort kam, richtete der wüste Kerl eine Armbrust nach unten und schoß. Der Bolzen durchschlug den<br />

reglos daliegenden Bannstrahler, der sich laut stöhnend aufbäumte, die Augen aufriss und dann mit glasigem Blick<br />

wieder zurücksank. Die Füße zuckten und zitterten einige Augenblicke, dann war er eindeutig tot. Odilon empfand<br />

fast schon so etwas Ähnliches wie Erleichterung, dass nicht er es gewesen war, der den Bannstrahler getötet hatte.<br />

"Raus, habe ich gesagt, oder der Nächste <strong>von</strong> Euch fährt in die Ewige Verdammnis! Los, los, los!"<br />

40


"Bei allen Niederhöllen, Zoltan, hat dir der Schnaps das Hirn rausgebrannt?" brüllte eine grobe, kalte<br />

Frauenstimme. "Mercurio will das Fleisch lebend! Der Alte reißt dir die Eingeweide raus und wickelt sie<br />

dreizehnmal um den Mast, wenn er das hier mitkriegt! Raus mit Euch, na wird´s bald!"<br />

Eine Peitsche surrte herab, traf den schreienden Sigismund.<br />

"Aufhören! Wir sind Gefangene!" jammerte der Spieler.<br />

Gelächter.<br />

"Ach, wirklich? Natürlich seid ihr Gefangene..."<br />

Der Streuner stellte sich unter die Luke, reckte seine gefesselten Hände nach oben: "Nein, nein, wir gehören zu<br />

Euch. Die Inquisition hat uns..." Eine grobe Hand packte ihn an den Haaren und schleifte ihn nach oben.<br />

"Maul halten und rauskommen! Alle! Du da, Schwert fallen lassen oder du bist des Todes! Raus! Raus! Raus!"<br />

Alrik warf die Klinge in den Schmutz und hob die Hände. Dennoch surrten Peitschenhiebe herab.<br />

Grobe Hände zerrten nach den Gefangenen, schlugen auf sie ein, stießen sie nach oben. Auch wenn Alvan fast<br />

schon froh war, aus diesem Dreckloch heraus zu kommen, hatte sie selbst die Behandlung durch die Bannstrahler<br />

als um einiges rücksichtsvoller empfunden.<br />

Kalte, graue Augen starrten sie an. Blonde, verstruppelte Haare unter einer zerfledderten Dreispitz. <strong>Das</strong> musste die<br />

Piratin sein.<br />

Ein lederner Peitschenknauf traf die Halbelfe ins Gesicht, riß ihr den Mundwinkel auf. "Glotz mich nicht so an,<br />

Schlampe!" Die Xeraanierin - so sie denn eine war - wollte erneut ausholen, entdeckte dann aber den Inquisitor.<br />

Leise pfiff sie durch die wenigen Zähne. "Wen haben wir denn da? Scheint so, als sei uns da ein besonders fetter<br />

Fisch ins Netz gegangen? Ein <strong>Gold</strong>fisch, ha ha! Heute ist unser Glückstag, Leute! Nach oben mit ihm!"<br />

Der Reihe nach stolperten die Gefangenen an Deck, ins Tageslicht. Gierig sog Alvan die frische Meeresluft ein,<br />

blinzelte. Wie sie erwartet hatte, war die Takelage des Dreimasters ziemlich lädiert. Der Fockmast hing<br />

abgeschossen über Backbord, einige Piraten waren damit beschäftigt, mit Äxten das Gewirr aus Tauen und Wanten<br />

zu durchtrennen, das den Mast noch mit dem Deck verband. Auch die übrigen Masten wiesen einige Treffer auf.<br />

Steuerbord war eine Schi<strong>von</strong>e längsseits gegangen, in deren blutroten Segeln das eine oder andere Loch klaffte, die<br />

Hauptbramrah hing angebrochen herunter, ansonsten schien das Schiff unbeschädigt zu sein. <strong>Das</strong> Schiff lag durch<br />

Enterhaken und daran befestigte, kurzgeholte Taue fest. Über dem Mastkorb wehte die siebenzackige schwarze<br />

Krone auf rotem Grund.<br />

Überall wimmelte es <strong>von</strong> buntscheckigen Gestalten, die gierig die Toten durchsuchten - die eigenen wie die<br />

gefallenen Matrosen der "Greif" - um diese dann rücksichtslos über Bord zu werfen, wo bereits einige dreieckige<br />

Flossen ihre Kreise zogen.<br />

An Backbord war noch die Küste Araniens und die Barun-Ulah-Mündung zu erahnen, mit etwas Phantasie sogar<br />

noch die Silhouette <strong>von</strong> Zorgan. Kein Zweifel, es gehörte schon einige Dreistigkeit dazu, sich hier, direkt unter den<br />

Augen der Mondsilber-Sultana und der aranischen Flotte, auf die Lauer zu legen.<br />

In den Augenwinkeln sah sie, wie einige Gefangene, darunter offenbar auch die Kapitänin und einer der<br />

Bannstrahler, an die Masten gebunden wurden. Der dritte Geißler lag mit aufgerissenem Bauch an der Reling,<br />

stöhnte und stieß dazwischen immer wieder Gebete zu Praios empor. Plötzlich steckte ein stählerner Haken in<br />

seinen Brustkorb, hievte ihn hoch und schleuderte ihn wie einen einzigen großen Fleischbrocken über Bord. Ein<br />

Pflatschen erklang, dann grässliche Schreie. Haifischfütterung....<br />

"In meiner Gegenwart wird nicht gebetet! Jedenfalls nicht zu dem da oben!" Der bluttriefende Haken wies zur<br />

Praiosscheibe, die bereits im Sinken begriffen war. Erst jetzt erkannte Alvan, dass es sich dabei um die<br />

Armprothese eines schwarzbärtigen Mannes handelte, der breitbeinig, das Entermesser am nachtschwarzen Rock<br />

und wippende Straußenfedern am Hut, auf das Achterdeck schritt.<br />

"Greif <strong>von</strong> Beilunk! <strong>Das</strong> ich nicht lache...! Ab sofort heißt das Wrack hier Gerupfter Greif! Alle mal herhören! Ein<br />

bisschen mehr Ordnung, das hier ist ein praiosgefälliger Kahn! Ein bisschen Disziplin mehr -Was sollen die<br />

Reichsschen <strong>von</strong> uns denken? <strong>Das</strong> bei uns das Chaos herrscht? Oder dass die Niederhöllen ausgebrochen sind? Ihr<br />

da hinten, lasst den Unfug. Die Weiber könnt Ihr nachher auch noch haben."<br />

Tatsächlich kehrte auf dem geenterten Schiff binnen weniger Momente so etwas wie Ordnung ein.<br />

Zwei Dutzend Augenpaare wendeten sich dem offenkundigen Kapitän zu, der gerade die Meldung über die Ladung<br />

erhielt: "Aranischer Schlauchwein und Korn? Hat hier eigentlich jeder verfluchte Pott Wein und Korn geladen?<br />

Dafür haben wir so lange gekämpft? Blutiger Dämonenschwefel! Erst schießt mir so ein verdammter Anfänger den<br />

Fockmast herunter, und jetzt das!"<br />

"Wir haben hier was, was deine Stimmung ein wenig aufbessern dürfte, Käpt´n!" Die blonde Piratin trat nach vorn,<br />

den Inquisitor im Schlepptau, den irgendeiner der Seeräuber wie einem Darpatochsen einen Strick um den Hals<br />

gelegt hatte.<br />

Mit Tritten und Knüffen wurden die Gefangenen auf das Achterdeck befördert und dort in die Knie gezwungen.<br />

Aus den Augenwinkeln heraus sah Alvan den gefesselten Hesindian neben sich. Sein Mund war immer noch<br />

verbunden. Zur Linken lag Gunelde auf dem Bauch, ebenfalls in Ketten.<br />

41


Dennoch galt die größte Aufmerksamkeit des Kapitäns Meister Selbfried, der unter groben Schlägen gezwungen<br />

wurde, sich vor ihm zu verneigen.<br />

"Bei allen Erzdämonen! <strong>Das</strong> mich die Herrin der Nachtblauen Tiefen verschlinge! Ein Praiosgeweihter! <strong>Das</strong><br />

scheint hier ja wirklich ein überaus frommes Schiff zu sein! Du da, wie ist dein Name?"<br />

Selbfried versuchte sich ein wenig im Griff der Seeräuber aufzurichten:<br />

"Meister Selbfried Rabensang, Ordentlicher Inquisitionsrat der Heiligen Kirche des Praios! Zittere, Schurke, denn<br />

Deine Seele wird bald in den Niederhöllen darben! Büße Deine Sünden oder..."<br />

Ein derber Schlag <strong>von</strong> hinten ließ ihn verstummen.<br />

Der Pirat lachte gehässig auf:<br />

"Ein Inquisitor? Da müssen wir ja jetzt wirklich alle zittern!"<br />

Vielstimmiges Gelächter antwortete.<br />

Die Augen Selbfrieds funkelten: "Noch lästerst du Praios, Verderbter! Aber deine Stunde rückt näher. Du wirst<br />

deine Worten und Taten noch bitter bereuen. IHR ALLE, die Ihr hier den Geboten der Zwölfe Hohn lacht, werdet<br />

noch den Tag bereuen, da ihr den Weg des Lichtes und der Gerechtigkeit verlassen habt!"<br />

Alvan musste zugeben, dass sie den Inquisitor für diese unerschrockenen Worte bewunderte: Seine Stimme klang<br />

kein wenig furchtsam, und für einen Moment lang sahen einige der Piraten regelrecht betreten drein.Selbst der<br />

Kapitän schien ein wenig beeindruckt. Dann fasste er sich wieder:<br />

"Was würdest du sagen, wenn ich damit dein Auge herausreißen würde, für deine freche Rede? Ich hätte gerade<br />

gute Lust dazu" Der Pirat legte seinen Haken an die Wange des Praioten.<br />

"Ich fürchte weder Tod noch Qualen, denn der Herr Praios ist allzeit mit mir."<br />

"Ach ja, so wie mit dem weißgewandeten Spaßvogel gerade eben, der noch vor Sonnenuntergang <strong>von</strong> den Haien<br />

ins Perlenmeer geschissen werden wird? Hör mal zu, Kuttenpisser: Vor dir steht Mercurio der Schwarze Mendener,<br />

auch genannt der Siebengehörnte, Schrecken des Perlenmeers und der Blutigen See <strong>von</strong> Festum bis Brabak,<br />

Kapitän der Fran-Horas, ein Schiff der unbezwingbaren Flotte des Pontifex Maximus, und du bist jetzt in meiner<br />

Hand. Also hüte deine Zunge, oder ich werde sie damit an den Mast nageln!"<br />

"Nur zu. Ich fürchte mich nicht! Praios wird Gerechtigkeit für meinen Tod walten lassen."<br />

"Ach so einer bist du? Na, wenn du unter dem Schutz dieses Praios stehst, dann muss ich mich ja richtig<br />

entschuldigen. Um Vergebung muss ich betteln, den Herrn Praios um Verzeihung bitten. Nun gut, dann werde ich<br />

ihm zur Sühne etwas <strong>von</strong> meinem <strong>Gold</strong> opfern!"<br />

Erstaunt sah der Inquisitor nach oben. Mercurio schlug seinen Rock beiseite, öffnete seinen Gürtel und nestelte sein<br />

kleines, schrumpeliges Glied hervor. Ein güldener Strahl traf das Gesicht des Inquisitors und benetzte es, und als er<br />

es angeekelt zur Seite drehte, seine Robe.<br />

<strong>Das</strong> Gelächter an Bord schwoll zu einem wahrhaft niederhöllischen Lärm an.<br />

"War das deutlich genug, Pfaffe? Aber das ist erst der Anfang. Ich frage mich, wohin ich dich verkaufen soll. Bist<br />

ja was ganz Besonderes und wirst mir einige schöne Duckern bringen, zusammen mit dem anderen Greiflein da am<br />

Mast. Für Xeraan, diesen Geizhals, ist so einer wie du fast zu schade. Mir reicht schon das ständig Gefeilsche um<br />

die Kaperbriefe. Vielleicht sollte ich dich nach Oron verschachern? Dimionas Brunstweiber würden sich bestimmt<br />

darum reißen, einem echten Inquisitionsrat an der Leine herum zu führen, und ihm dabei die Peitsche und den<br />

Stiefelabsatz spüren zu lassen. Folter und Schmerzen, das liebt Euereins doch über alles, nicht wahr?"<br />

Erneut dröhnte Gelächter.<br />

"Oder nehmen wir dich lieber mit nach Jergan, wo wir das Schiff und die Ladung auf jedem Fall zu einem guten<br />

Preis losbekommen werden? Legen wir dich also Helme Haffax noch als kleine Zugabe obendrauf? Ist ja ein<br />

besonderer Freund der Praioskirche und des Mittelreichs, unser Fürstkomtur. Wird sich nicht lumpen lassen, der<br />

hohe Herr, für ein derart ausgefallenes Opfer an den Blutsäufer. Ja, ich glaube, so machen wir es. Du an den<br />

Fürstkomtur, der Rest in die Minen und auf die Ruderbänke, ein gutes Geschäft für den Schwarzen Mendener. Nun<br />

zu denen da."<br />

Mercurio drehte sich zu Alvan um, hob ihre Haare etwas an. Die Edle spürte, wie das Blut in ihren Ohren pulsierte,<br />

als der Blick des Piraten darauf fiel: "Ist das die Möglichkeit: Ein Elflein. Und dort ein Zauberer. Ihr reist in<br />

ausgefallener Begleitung, Hochwürden. Warum liegen sie in Ketten?"<br />

Selbfried spuckte aus, was auch an dem Urin in seinem Mundwinkel lag.<br />

"Weil ihre Seelen verflucht sind wie es die deinige ist! Weil sie Verräter sind wie ihr alle hier!"<br />

"Dann sind sie also Brüdern und Schwestern im Glauben!?" Ein schmieriges Grinsen, dass Alvan nicht gefiel,<br />

umspielte die Lippen des Piraten. Noch weniger gefiel ihr der lüsterne Blick, mit der er ihre Rundungen prüfte.<br />

"Ganz recht, wir gehören zu Euch." hob Sigismund an "Wir sind auf dem Weg in die Schwarzen Lande. Dem<br />

Dämonenmeister sei Dank habt Ihr uns befreit! Wir bringen wichtige Botschaft für den Fürstkomtur, aus dem<br />

Mittelreich, wo wir für ihn spioniert haben."<br />

Der Schwarze Mendener grinste abschätzig: "Umso besser, dann wird er auch für Euch ein erkleckliches<br />

Sümmchen zahlen. Genug palavert, machen wir, dass wir wegkommen. Bringt sie und die beiden Pfaffen auf die<br />

Fran-Horas. Sie sind meine persönlichen Gefangenen, also hütet sie mir gut."<br />

42


***<br />

"Meine liebe Andromejia" begrüßte Andorkan Andromejia und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, nicht ohne sie<br />

dabei kräftig in den Arm zu nehmen, so dass er ihre zarten Brüste spürte. Für einen Moment war es wie damals in<br />

der Zeit der Garethja-Herrschaft, als Andorkan und Andromejia eine süße Zweisamkeit genossen hatten. Leider<br />

ließen die Pflichten viel zu wenig Zeit für diese schönen Seiten des Lebens. Nur einen kurzen Augenblick gestattete<br />

sie sich, die Umarmung zu genießen. Doch es war gefährlich, die Geliebte eines bedeutenden Handlangers der<br />

Mächtigen zu sein. Man wusste nie, wann sich das Schicksal gegen einen solchen wenden konnte, und wenn es<br />

passierte mußte man aufpassen, nicht ebenfalls im Strudel der dann geschehenden Ereignisse unterzugehen. Doch<br />

obwohl sie um die Gefahr wusste fühlte sie sich zu Andorkan hingezogen. Vielleicht auch gerade wegen der<br />

Gefahr.<br />

"Mein lieber Andorkan. Du riefest mich und ich kam, um Dich zu sehen und Deine Weisungen zu empfangen."<br />

Andromejia setzte ein unnahbares und lockendes Lächeln zugleich auf.<br />

"<strong>Das</strong> schätze ich so an Dir, dass Du so zielstrebig an alle Aufgaben herangehst." Andorkan entließ Andromejia aus<br />

seiner Umarmung. "Es ist richtig, ich habe fürwahr eine heikle und schwierige Aufgabe, die ich niemandem sonst<br />

stellen kann außer Dir.“<br />

<strong>Das</strong> hörte sich interessant an. Andromejia war es gewohnt, mit der Gefahr zu leben. Sie genoß den Reiz, der <strong>von</strong><br />

einem gefährlichen Leben ausging. Es war wie ein Spiel. Ein Spiel, bei dem der Einsatz das eigene Leben war. Sie<br />

hatte schon oft gefährliche Dinge in der Heimlichkeit erledigt, nun erwartete sie ein Auftrag, der alles Bisherige in<br />

den Schatten stellte. Eine ganz besondere Erregung ergriff Besitz <strong>von</strong> ihr. Ihre Finger spielten liebevoll mit dem<br />

Dolch an ihrem Gürtel. Ihr Daumen prüfte die Schärfe des Dolches. Der Dolch war selbstverständlich mit einem<br />

schnell und tödlich wirkenden Gift versehen. Würde sie sich versehentlich in den Finger schneiden wäre es vorbei<br />

mit ihr. Andromejia liebte die Gefahr. Sie lehnte sich zurück so dass ihre dünne Bluse auf ihren kleinen, aber festen<br />

Brüsten zum liegen kam. Andromejia wusste, dass Andorkan seinen Blick nicht <strong>von</strong> ihren Brüsten abwenden<br />

konnte, und das genoß sie. Andorkan ging einen Schritt auf sie zu, so dass er sie fast berührte. "Du siehst, ich<br />

vertraue Dir voll und ganz, denn sonst würde ich Dich nicht mit einem solchen Auftrag bedenken. Du bist vielleicht<br />

die einzigste Person, der ich wirklich vertrauen kann."<br />

<strong>Das</strong> meinst Du, dachte Andromejia. Ich wäre da an Deiner Stelle nicht so sicher, fügte sie in Gedanken hinzu. Aber<br />

nach außen hin zeigte Andromejia nur ein süßes Lächeln und blickte Andorkan mit einem naiv-vertrauensvollen<br />

Blick aus ihren braunen großen Rehaugen an. "Ich halte es heute wie damals als die schönste Erinnerung meines<br />

Lebens fest, unsere gemeinsame Zeit in den Gassen <strong>von</strong> Tujiak. Die Zeiten haben sich geändert. Nunmehr stehen<br />

wir beide auf der Sonnenseite des Lebens, da wir rechtzeitig erkannt haben, welcher Herr unsere Loyalität am<br />

meisten belohnt. Andorkan legte seine Hände um ihre Taille. Andromejia war schlank. So schlank, dass die<br />

kräftigen Hände Andorkans ihre Taille fast umspannen konnten. Sie spürte seinen warmen Atem, als er sich zu ihr<br />

herab beugte und sie auf den Mund küsste. Sie genoß den Kuss, erwiderte ihn aber nicht. Seine Lippen glitten<br />

tiefer, fuhren spielerisch über ihren Hals. und er biss erst sanft, dann mit leichter Kraft zu. Andorkan wusste, dass<br />

Andromejia das mochte. Andromejia war, als die neuen Herren die Macht ergriffen hatten, zunächst <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong><br />

nach Aranien geflohen und war in den Machtbereich Orons geraten. Sie hatte gefallen gefunden an dem, was sie in<br />

Oron erlebt hatte. Andorkan strich liebevoll durch Andromejias Haar.<br />

Andorkan fasste sich und ließ <strong>von</strong> Andromejia ab. Er sammelte sich kurz. Es war an der Zeit, sich mit wichtigen<br />

Dingen zu befassen. Die Zeit mit Andromejia war schön, er genoß die wenigen gemeinsamen Stunden. Aber es gab<br />

dringlichere Dinge zu erledigen. Und Andromejia war nicht zu ihrer beider Vergnügen gekommen.<br />

"Nun, wie Du wohl vermutest gibt es wichtige Dinge zu erledigen. Vielleicht weißt Du, dass die Garethjas<br />

seinerzeit <strong>Maraskan</strong> im Wesentlichen aus einem Grund um alles in der Welt besetzt halten wollten. Die Kosten für<br />

die Besatzerarmee waren hoch, höher als das, was die Steuereintreiber dem geplagten Volk abpressen konnten. Der<br />

ganze Aufwand lohnte sich für die Garethjas nur aus einem einzigen Grund." Andorkan hielt einen Moment inne,<br />

um seine Worte wirken zu lassen.<br />

"Tief im inneren des maraskanischen Dschungels liegt eine Mine. Keine gewöhnliche Mine. Eine Enduriummine.<br />

Nun war die Förderung des begehrten Metalls schon damals schwer, und seit dem der Herbann der friedlichen<br />

Schwestern den Dschungel bedroht ist es gewiss nicht leichter geworden. Aber vermutlich ist es die einzigste Mine<br />

dieser Art in ganz Aventurien. <strong>Das</strong>s natürlich der Besitz einer größeren Menge Endurium den Krieg gegen den<br />

rebellischen Süden entscheidend sein könnte liegt auf der Hand. Man denke nur an die Wirkung mit Endurium<br />

veredelter Waffen.<br />

Um so mehr war daher die Information <strong>von</strong> Interesse, die ich <strong>von</strong> einem neulich gefangenen rebellischen Priester<br />

der Zwillingsgötter erhalten habe. Der Mann war tapfer, auch unter der Folter hat er keine Informationen Preis<br />

gegeben. Zum Glück hatte ich einen Magier zur Stelle, ehe der Mann starb – er zog es vor, jede Nahrungsaufnahme<br />

zu verweigern als in Gefangenschaft zu leben. Törichter Stolz. Ich habe ja dennoch erfahren was ich wollte. Mit<br />

Hilfe des Magiers wurde der Priester – er hieß Alrech – verhört. Und ich werde Dir nun ein Geheimnis anvertrauen,<br />

43


um das wohl nur wenige Menschen wissen. Einmal jährlich wurde in früheren Zeiten eine schwer bewachte<br />

Lieferung Endurium <strong>von</strong> der Mine nach Gareth gebracht. Nicht viel, die Ausbeute dürfte kaum mehr als ein oder<br />

zwei Stein des begehrten Metalls gewesen sein. Aber dennoch ist eine solche Menge Endurium <strong>von</strong> schier<br />

unschätzbarem Wert. Nur wenige Jahre vor der Eroberung <strong>Maraskan</strong>s, so konnte der Priester berichten, ist eine<br />

gesamte Jahresausbeute der Mine in die Hände maraskanischer Rebellen gefallen. Und die Rebellen gaben ihre<br />

Beute in die Obhut der Priesterschaft der Zwillingsgötter in Tuzak. In der Phase der Eroberung flüchteten die<br />

Angehörigen des Tempels auf das Festland. Den Tempelschatz, das erbeutete Endurium, nahmen sie jedoch nicht<br />

mit. Angesichts der unüberschaubaren Lage schien es der Priesterschaft sicherer, ihren Schatz im Dschungel zu<br />

verstecken anstatt bei einer gefährlichen Flucht zu riskieren, dass er in falsche Hände fällt. Nur wo das Endurium<br />

versteckt ist wusste der Priester nicht. Eine Geweihte des Tuzaker Tempels, Mirajida mit Namen, ist mit dem<br />

Schatz in den Dschungel aufgebrochen. In Richtung Jergan, wie wir erfahren konnten. Mehr allerdings konnte der<br />

Priester nicht verraten. Mehr herauszufinden ist Deine Aufgabe.“<br />

***<br />

"Wenigstens sind wir hier etwas besser untergebracht."<br />

Alrik sah sich in dem kleinen Verschlag um, in dem man sie geworfen hatte. Offensichtlich war dieser bereits für<br />

Gefangene gedacht, den in den Wänden hatte man eiserne Ringe eingelassen, an denen sie nun, vermehrt um<br />

Meister Selbfried und den überlebenden Geißler, festgekettet waren. Der Raum war nicht gerade gemütlich, aber<br />

doch etwas erträglicher als die Bilge der "Greif <strong>von</strong> Beilunk". Von einem vergitterten Fenster in der schweren<br />

Eichenholztür fiel sogar etwas Licht herein. Draußen standen zwei der Piraten und spielten Karten.<br />

Alvan sah sich um. Odilon schien nicht ganz bei Sinnen, auch dem Inquisitor machte die Kopfwunde zu schaffen.<br />

Immerhin hatte man sie beide verbunden, wenn auch nicht aus Mitleid, sondern um in Jergan einen möglichst guten<br />

Preis zu erzielen. Auch Alriks Seitenwunde war notdürftig verarztet worden. Gunelde wirkte völlig verstört,<br />

offenbar war sie derartige Abenteuer nicht gewohnt. Den Magier quälte zunehmend der durch ein Tuch<br />

festgehaltene Stoffballen im Mund, das war ihm deutlich anzumerken, aber ihre neuen Wächter waren vorsichtig<br />

genug gewesen, ihm weder die Knebelung noch die Praioskrause abzunehmen.<br />

Die "Fran-Horas" war ein sehr schnelles und wendiges Schiff, das konnte sie selbst <strong>von</strong> hier unten aus spüren. Es<br />

würde eine kurze Reise nach <strong>Maraskan</strong> werden. Also würden sie nun doch noch auf die Käferinsel gelangen,<br />

allerdings nicht ganz so, wie geplant.<br />

Beinahe musste die Edle lachen. Vor einer Stunde waren sie noch die wehrlosen Gefangenen des Inquisitionsrats<br />

gewesen, nun wand er sich selbst einen Schritt neben ihr in den Ketten. So schnell änderte sich das <strong>von</strong> Rur den<br />

Sterblichen vorherbestimmte Schicksal. Aber letztlich war ihnen nur ein Aufschub gewährt worden. Sie waren nach<br />

wie vor Gefangene, auch wenn man sie für Brüder in ihrem Unglauben hielt. Doch was würde passieren, wenn man<br />

sie in Jergan gegen Entgeld den Gefolgsleuten des Fürstkompturs überließ? Man würde ihre Tarnung, die gut<br />

genug für Piraten war, wohl durchschauen. Es gab ja niemanden, den sie als angeblichen Auftraggeber vorweisen<br />

konnten. Wem sollten sie Bericht erstatten? Was sollten sie genau ausspioniert haben? Gab es Losungswörter oder<br />

andere Erkennungszeichen? Es würde nicht lange dauern, bis sie aufgeflogen wären. Und dann wäre die Reise<br />

vergebens gewesen, dann wäre alles verloren.<br />

Alvan warf einen Blick zu ihren Mitgefangenen. Gunelde saß sichtlich gezeichnet <strong>von</strong> den Ereignissen auf dem<br />

Boden und schien nicht ansprechbar zu sein. Odilon lehnte mit dem Rücken zur Wand und hatte die Augen<br />

geschlossen. Fast geschlossen. Alvan bemerkte, dass er seine Lider nicht ganz geschlossen hielt. Vielmehr<br />

beobachtete er durch das Gitterfenster in der Tür das Geschehen an Deck. Alvan wusste genau, was ihr Vater tat. Er<br />

versuchte, sich die Aufbauten des Schiffes so genau als möglich einzuprägen. Außerdem mochte er wohl in<br />

Gedanken die Anzahl der Piraten zu bestimmen versuchen. Alvan schätzte die Anzahl der Piraten auf etwa zwei bis<br />

drei Dutzend. Und etwa fünfzehn Seeleute waren in Gefangenschaft geraten. Sie alle eingerechnet würden auf je<br />

zwei <strong>von</strong> ihnen drei Gegner kommen. Wären sie bewaffnet und hätten die Überraschung auf ihrer Seite, so gäbe es<br />

eine kleine Chance. Aber wie sollte man die Seeleute befreien und bewaffnen? Und wie sollte man sie da<strong>von</strong><br />

überzeugen, mit ihnen gemeinsam zu kämpfen, nachdem sie ja durch das Wirken dieser Praiosfanatiker gerade als<br />

Ketzer in den Augen der Mannschaft galten?<br />

Es schien, als habe Odilon ähnliche Gedanken wie sie. Ihre Blicke kreuzten sich kurz, und Odilon deutete mit den<br />

Augen kaum merklich auf den Praioten. Richtig, der Praiospriester würde die Mannschaft der Gefangenen Seeleute<br />

befehligen können. <strong>Das</strong> wäre immerhin eine Möglichkeit.<br />

Für einen Moment meinte sie zu sehen, dass Sigismund ihr zuzwinkerte. Kaum merklich drehte er die Hand zur<br />

Seite. Richtig, der Nagel. Es war Sigismund gelungen, den Nagel vor den Piraten verborgen zu halten. Er mußte<br />

ihn, nachdem Alrik sich vorhin in der Bilge befreit hatte, wieder an sich genommen haben. Hesindian, noch immer<br />

gefesselt und geknebelt, war zu einer Regung nicht fähig, und Alrik saß schweigend in einer Ecke. Es war ihm<br />

nicht anzusehen, womit er sich in Gedanken beschäftigte.<br />

44


„Meister Selbfried? Wie geht es Euch?“ fragte die Halbelfe den geschundenen Geweihten.<br />

„Was soll die Frage, Dämonenbalg? Deine Spießgesellen mögen Macht über meinen Körper haben, aber Du wirst<br />

mich dennoch nicht jammern sehen.“<br />

„Redet leiser, oder sollen die beiden Wächter auf uns aufmerksam werden? Sie würden uns beide auspeitschen.<br />

Nun ja, Euch zumindest. Mit mir hätten sie wohl anderes widerwärtiges vor, wenn ich ihre lüsternen Blicke richtig<br />

gedeutet habe.“<br />

„Spielt doch keine Rolle. Ist doch Dein Problem, wenn das Dämonenpack sich an seinen eigenen Gefolgsleuten<br />

vergreift.“<br />

„Und für mich ist es gleichgültig, ob sie Euch ihrem blutrünstigen Blakharaz oder wem auch immer opfern oder<br />

nicht. Aber es wäre der Schönheit der Welt über alle Maßen dienlich, wenn weder das eine noch das andere<br />

passieren würde.“<br />

Der Blick des Praioten drückte Unverständnis aus.<br />

„Die Sache liegt klar auf der Hand“ mischte sich Odilon leise ein. „Wir sind alle Gefangene, die ein<br />

Unterschiedliches, aber wie auch immer unerfreuliches Schicksal erwartet. Man könnte uns daher als<br />

Schicksalsgemeinschaft bezeichnen. Wenn wir einander helfen, dann haben wir eine Chance, das hier lebend zu<br />

überstehen. Tun wir es nicht werden wir sechs es nicht leicht haben, wenn wir in <strong>Maraskan</strong> anlegen. Von Deinen<br />

Überlebenschancen will ich mal gar nicht reden.“<br />

„Was soll mir das? Wollt Ihr Verräter auch noch, dass ich mit Euch ein Bündnis eingehe? Lieber sterbe ich als<br />

Märtyrer!“<br />

„Nun hört mir mal zu. Ich respektiere Euren Glauben, aber ich bitte Dich, auch den unseren zu respektieren. Diese<br />

beiden hier“ Odilon deutete auf Sigismund und Alrik“ sind gläubige Anhänger des Herrn Phex. Der Magister ist<br />

seinem Stand gemäß ein Verehrer der Herrin des Wissens und der Künste. Und jene Dame“ er nickte in Richtung<br />

Guneldes „hat Euch nicht angelogen, als sie sagte, sie sei eine Dienerin der gütigen Peraine.“<br />

„Natürlich. Und Du, Schurke, bist dann wohl ein Rondranovize, oder?“<br />

„Nein... Die Halbelfe dort, ob ihr das nun glauben mögt oder nicht, ist eine Anhängerin des Kultes der<br />

maraskanischen Zwillingsgötter.<br />

„Natürlich, eine spitzohrige <strong>Maraskan</strong>erin. Und wer soll diesen Unfug glauben?“<br />

„Jeder, der sich vor der Wahrheit nicht verschließen will. Aber es ist jetzt nicht die Zeit für theologischen Disput.<br />

Eure Seele ist ebenso in Gefahr wie die unsere, wenn wir uns nicht aus der Gefangenschaft befreien können.“<br />

Odilon hielt inne, denn er wollte die Matrosen vor der Tür nicht auf sich aufmerksam machen. Zum Glück<br />

verstummte auch der Praiospriester für eine kurze Zeit. Zumindest was die Gefahr für seine unsterbliche Seele<br />

anbelangte hatte der Hüne recht, das mußte Selbfried in Gedanken zugeben.<br />

„Unter anderen Umständen würden wir uns gegenseitig nach dem Leben trachten“ fuhr Odilon schließlich leise<br />

fort. „Ihr würdet uns verfolgen, weil Ihr uns für Ketzer haltet. Und ich müßte Euch töten, um meine Familie vor der<br />

Verfolgung durch Euch schützen, um ihr Leben und ihre Freiheit zu bewahren. In dieser Situation aber droht Euch<br />

der Tod. Und üblicherweise dürfte das in den Schwarzen Landen ein Tod sein, der einer Geweihtenseele den<br />

Zugang zu den zwölfgöttlichen Paradiesen verwehrt. Und uns droht Sklaverei, weil unsere Tarnung als Spione des<br />

Fürstkompturs, die wir notgedrungen annehmen mussten, einer Überprüfung auf <strong>Maraskan</strong> kaum standhalten<br />

dürfte.“<br />

Selbfried sagte nichts. Zum ersten Mal seit er sich erinnern konnte war er sprachlos. Eine List, ja genau, es musste<br />

eine List sein, dachte der scharfsinnige Inquisitor. Die einzelnen Heptarchenreiche waren untereinander in Rivalität<br />

verbunden. Die Piraten waren Xeraanier, und die sechs Verräter standen in Haffax Diensten. Nun wollte dieser<br />

bärtige Hüne ihn für seine Ziele einspannen. Aber darin bot sich auch eine Chance für ihn und Corbenian. Wenn er<br />

ihnen zum Schein Glauben schenkte, dann würde er zumindest diese Ketten abwerfen können. Und alles Weitere<br />

würde man dann sehen.<br />

„Der Plan selbst im Prinzip einfach. Es dürfte uns möglich sein, diese Ketten hier abzulegen.“ Odilon versicherte<br />

sich mit einem kurzen Blick dass die beiden Wächter nach wie vor Karten spielten. Zum Glück waren die Piraten<br />

alles andere als aufmerksam, da eine Piratin zu ihnen getreten war und die Gedanken der beiden in andere Bahnen<br />

lenkte.<br />

„Aber dann wird es schwierig. Wir sind zu sechst, und darüber hinaus unbewaffnet. Wenn ich richtig gezählt habe,<br />

dann habe ich alles in allem vierunddreißig Piraten an Bord gesehen. Einige da<strong>von</strong> sind verletzt, aber in ihrer<br />

Gesamtheit dürften sie eine schlagkräftige Truppe darstellen. Allemal zu viel für uns sechs. Mit Euch und Eurem<br />

Gefolgsmann wären wir schon acht. Und es sind nicht alle Piraten an Bord dieses Schiffes. Einige haben die<br />

geenterte Greif übernommen. Es dürften auf diesem Schiff nicht mehr als zwanzig Piraten sein. Würden wir<br />

gemeinsam kämpfen wären wir acht gegen zwanzig. Mit der geeigneten List und dem Überraschungsmoment auf<br />

unserer Seite wäre das gewagt, aber möglich.“<br />

„Warum sollte ich Euch glauben? Ich habe schon so viele Geschichten gehört. Erst wollt Ihr Perainepilger sein,<br />

dann seid ihr Spione <strong>Maraskan</strong>s. Und jetzt seid ihr die ehrlichen Mittelreicher, die nur ihre Haut retten wollen. Was<br />

kann man Euch da noch glauben?“<br />

45


„Es erscheint verwirrend, da gebe ich Euch Recht. Aber ihr müsst mir zustimmen, wenn ich sage, dass darin Eure<br />

einzigste Möglichkeit besteht, das hier lebend zu überstehen. Was die Xeraanier mit Euch machen könnt Ihr Euch<br />

wohl vorstellen.“<br />

Odilon ließ seine Worte ein wenig einwirken. Selbfried mußte Odilon immerhin damit recht geben, dass nicht nur<br />

sein Leben, sondern auch seine Seele in Gefahr wäre, wenn er in der Gewalt der Piraten wäre. Aber ob es nun<br />

besser wäre, in der Gewalt der Verräter zu sein?<br />

„Ein gewagter Plan, den Er ausspricht. “<br />

„Zweifellos. Vor allem, da das nur der erste Teil unserer Aufgabe ist. Wir müssen auch noch die Matrosen der<br />

Greif auf dem anderen Schiff befreien, auch weil wir ohne deren Hilfe kein Schiff steuern könnten. <strong>Das</strong> bereitet mir<br />

noch am meisten Kopfzerbrechen. Vielleicht kann Hesindian mittels seiner arkanen Fähigkeiten die Entscheidung<br />

bringen – leider weiß ich nicht was unser Magus so alles beherrscht. Aber egal wie, ich denke wir haben nur<br />

gemeinsam eine reelle Chance gegen die Piraten.<br />

Kommen wir nun zu unserem Übereinkommen. Sollten wir gemeinsam Erfolg haben, so soll das Piratenschiff mit<br />

allem was sich darauf befindet Eurer Verfügungsgewalt unterliegen, mit den gefangenen Piraten dürft Ihr verfahren<br />

wie Ihr es für richtig erachtet. Ihr mögt sie vor Gericht stellen, wie immer Ihr wollt. Dafür müsst Ihr ebenso wie der<br />

Mann vom Bannstrahlerorden uns in Praios Namen schwören, dass niemand <strong>von</strong> unserer Reise erfährt. Keine<br />

Erzählung, kein schriftlicher Bericht, schlicht nichts darf darüber bekannt werden. Des Weiteren werdet Ihr uns an<br />

der Küste <strong>Maraskan</strong>s absetzen, bevor ihr das Schiff zurück in einen sicheren Hafen steuert.“<br />

„Was wäre, wenn ich nicht darauf eingehen würde?“<br />

„Dann würden wir alleine den Versuch unternehmen, uns zu befreien und die Piraten zu besiegen. Aber es wird<br />

ohne zwei gute Schwertkämpfer wie Euch natürlich schwerer sein. Damit wäre Euer Überleben weitaus<br />

unsicherer.“ Um genau zu sein, Du würdest mit Sicherheit sterben, fügte Odilon in Gedanken hinzu. Wenn Du<br />

diese schwachsinnigen Ermittlungen weiterführst und verbreiten würdest, die Baernfarns und Friedwangen wären<br />

Verräter und Ketzer müßte ich Dich töten, um meine Familie vor Dir zu schützen. Deine einzige Überlebenschance<br />

besteht darin, in Praios Namen Stillschweigen zu geloben.<br />

Selbfried dachte nach. Dieser bärtige Hüne verlangte nichts geringeres, als mit einem Verräter gemeinsame Sache<br />

zu machen. Und er verlangte, die Wahrheit, nämlich den Verrat der Baernfarns und Friedwangen, geheim halten zu<br />

müssen. Die meisten Menschen würden wohl sagen, ein Schwur, der in einer Zwangslage gegeben werde, sei nicht<br />

bindend. Aber er war ein Geweihter des Praios. Sein Schwur wäre auch in dieser Lage bindend. Oder etwa nicht?<br />

War ein Schwur gegenüber einem erwiesenen Verräter, der sich den Heptarchen verschrieben hatte, bindend? Der<br />

Streuner hatte das ja mit seiner Aussage bewiesen. Er würde beizeiten den Inquisitionspräfekten fragen. Aber<br />

letztlich blieb eines gewiss: Eine andere Möglichkeit, den Piraten zu entfliehen, gab es nicht. Warum sollte er sich<br />

also nicht die Rivalitäten untern den Heptarchenreichen zu Nutze machen?<br />

„Es gilt. Mein Wort als Diener des Herrn Praios darauf, unsere Abmachung soll so sein wie Ihr sie vorgeschlagen<br />

habt.<br />

Ein Belegnagel klirrte gegen das Gitterfenster in der Tür.<br />

"Schnauze halten, wenn ihr eure Zähne behalten wollt, Abschaum!"<br />

Alvan erkannte sofort die kalte, mitleidlose Stimme der Piratin, die sich schon auf der "Greif" gehört hatte. Dann<br />

wurde ein Riegel zurückgeschoben, und die Tür schwang auf. <strong>Das</strong> Schiff rollte unter raumen Wind ein wenig zur<br />

Seite, und auf geübten Seebeinen balancierte die blonde Korsarin näher. Hesindian verdrehte die Augen -<br />

offenkundig wurde ihm schlecht.<br />

"So nehmt ihm doch den Lappen ab. Wenn er sich erbrechen muss, erstickt er!" bat die Edle <strong>von</strong> Nordenheim.<br />

"Sein Problem" Ein regelrechter Eishauch schien <strong>von</strong> der Piratin auszugehen, die nun einen kleinen Schlüssel<br />

hervorzog. Die beiden Piraten an der Tür feixten.<br />

"Tot bringt er euch überhaupt nichts mehr."<br />

"Ein Magier, der mit irgend so einem faulen Zauber abhaut, auch nicht."<br />

Ein ersticktes Würgen war aus Hesindians Ecke zu hören. Auch die übrigen Gefährten schienen nun, da der Wind<br />

deutlich auffrischte, unter der Efferdsieche zu leiden. Auch Alvan tat sich schwer, angekettet die Rollbewegungen<br />

auszugleichen.<br />

"Mit den vielen Eisen am Leib kann er doch überhaupt nicht zaubern! Bitte, nimm ihn den Knebel ab. Er erstickt<br />

sonst."<br />

Graublaue Augen starrten Alvan prüfend an.<br />

"Na gut, wenn du meinst, Schätzchen!"<br />

Die Piratin ging zum Magier hinüber, knotete das Tuch auf und zog den zusammengeballten Lappen hinaus. Kaum<br />

einen Herzschlag später spie der kreidebleiche Magus eine orangefarbene Flüssigkeit heraus. Säuerlicher Gestank<br />

breitete sich aus.<br />

Hesindian sah seine Retterin fast schon dankbar an, als diese kalt grinsend ein Messer zog, und, das Tuch um ihre<br />

Finger gewickelt, mit angewidertem Gesichtsausdruck den Mund des Magiers öffnete.<br />

46


"Damit du nicht auf dumme Gedanken kommst, Zauberer!"<br />

Die Piratin zog die Zunge des Magiers heraus, dann blitzte die Klinge auf. Ein nasses Geräusch, ein erstickter<br />

Schrei, dann fiel die abgetrennte Zungenspitze zu Boden.<br />

Hesindian stöhnte viehisch, während im das Blut nur so aus dem Mund troff. Alvan schloß die Augen und stöhnte<br />

ebenfalls auf.<br />

"Was hast du denn, mein Hübscher?" lachte die Seeräuberin. "Kannst Dir die Zunge doch wieder anhexen, sobald<br />

wir in Jergan sind."<br />

Die drei Piraten lachten gehässig, dann wandte sich die blonde Teufelin wieder Alvan zu. Ein derber Fausthieb<br />

unter das Kinn ließ ihren Kopf gegen das Holz krachen, ein Hieb in die Magengrube sie sich zusammen krümmen.<br />

"<strong>Das</strong>s nur als kleine Warnung an dich, was passiert, wenn du Mätzchen machst."<br />

Halb ohnmächtig sank die Edle ihren Peinigern in die Arme, als die Ketten sie nicht mehr hielten. Sie bekam es<br />

nicht mit, dass die Piratin sie <strong>von</strong> ihren Ketten befreite und aus der Kajüte trug.<br />

"Und ihr hört auf zu tuscheln, oder ich schneid´ euch auch noch die Zunge raus!" <strong>Das</strong> blutige Messer drohend<br />

erhoben, ging die Piratin zur Tür, die sich krachend wieder schloß.<br />

Erst an Deck kam Alvan wieder zu sich. Ein Eimer Wasser, der ihr über den Kopf gegossen wurde - offenbar um<br />

sie vom Dreck der vergangenen Tage zu säubern - brachte sie zusammen mit der frischen Seeluft zur Besinnung.<br />

Die Abenddämmerung war hereingebrochen, und in einer anderen Lage wäre Alvan ob der blutrot im Golf <strong>von</strong><br />

Perricum versinkenden Sonne, dem Glitzern der Wellen, dem leisen Knarren der Spanten und Taue und die<br />

atemberaubende Schönheit der in ein zartes Rosa getauchten Wolken das Herz übergegangen. Wieder auf See. . .<br />

Einen Augenblick lang, während ihr das Salzwasser herabtroff und sie ihre nassen Haare ordnete, hatte sie<br />

Gelegenheit sich umzublicken. Die Fran-Horas war ein herrliches Schiff bethanischer Bauart, mit elegant<br />

abfallenden Vorder- und Achtertrutzen, drei Masten und je vier modernen Rotzen auf beiden Seiten. Am<br />

Hauptmast flatterte die Antwort auf ihre Frage, warum die Piraten sich so nahe an die Barun-Ulah-Mündung<br />

herangewagt hatten: eine grüne Fahne mit dem goldenen Adler des Horasreiches. Kein Aranier würde es ohne<br />

triftigen Grund wagen, eine Schi<strong>von</strong>e unter der Flagge des Bosparanischen Reiches zu kontrollieren.<br />

Alvan hatte sich aus dem Gespräch Odilons weitgehend herausgehalten, auch wenn ihr der Plan ihres Vaters wenig<br />

erfolgversprechend vorgekommen war. Die gefangenen Matrosen befanden sich ja, soweit sie das mitbekommen<br />

hatte, noch auf der Greif <strong>von</strong> Beilunk, die der Fran-Horas an Steuerbord in einigen hundert Schritt Abstand folgte.<br />

Es war eigentlich nahezu unmöglich, einen Aufstand in die Wege zu leiten, auch wenn sich auf der Schi<strong>von</strong>e selbst<br />

vielleicht nur noch anderthalb Dutzend Piraten befanden, und der Rest die Gefangenen und die Beute auf der<br />

"Greif" bewachte.<br />

Die Edle staunte. Irgendwie hatten die Piraten es fertiggebracht, den Fockmast der Prise wieder in eine aufrechte<br />

Position zu bringen. Auch wenn keine Segel gesetzt waren, mochte dies dennoch ausreichen, zusammen mit der<br />

Horasfahne, die über der "Greif" flatterte, das Mißtrauen einer Seepatrouille zu beruhigen. Der verräterische<br />

Schriftzug "<strong>von</strong> Beilunk" war, soweit sie sehen konnte, bereits übermalt.<br />

Alvan hatte gerade noch Zeit, ihre wunden Handgelenke zu reiben, wo nun das Salzwasser brannte, da bekam sie<br />

auch schon den Belegnagel in den Rücken gestoßen.<br />

"Glotz nicht wie so ein dämlicher Krakonier. Da lang!"<br />

Auf dem Weg nach achtern hatte sie noch einmal Zeit für einen kurzen Rundumblick. Irgendwie kam ihr die<br />

Schi<strong>von</strong>e bekannt vor. Sie konnte sich dunkel erinnern, einmal ein sehr ähnliches Schiff gesehen zu haben, im<br />

Hafen <strong>von</strong> Sylla musste das gewesen sein, in ihrer eigenen Piratenzeit. Die Besegelung, die Form der Hecklaterne,<br />

die Bewaffnung... Natürlich, das hier musste die "Asmodena-Horas" sein, auch wenn sie sich in einem ziemlich<br />

ungepflegten Zustand befand. <strong>Das</strong> Deck starrte vor Schmutz, überall wuselten feiste, schwarzbraune Ratten herum,<br />

zischten und fiepten. Alvan verspürte beinahe schon körperlichen Ungemach ob der Tatsache, dass die farbenfrohe,<br />

windschnittige Schi<strong>von</strong>e, die sie damals mit ihren Gefährten bewundert hatte, sich nun in der Gewalt <strong>von</strong><br />

xeraanischen Piraten befand und den Namen des verfluchten Dämonenkaisers führte.<br />

Die Piratin klopfte mit dem Belegnagel an die Kapitänskajüte. Ein herrisches "Herein!" erklang.<br />

Die Tür knarrte beim Öffnen, und Alvan wurde nach vorn gedrängt. Eine verdreckte Laterne verbreitete unstetes,<br />

flackerndes Licht, wie in einer Al´Anfaner Rauschkrauthöhle. Auf dem Tisch lagen Karten und nautisches<br />

Material, dazwischen ein braungelblicher, grinsender Totenschädel, der den Dreispitz des Käpt´n trug.<br />

Der süßliche Geruch nach Rum schwebte in der Luft. Ein Papagei saß auf einer Stange, krächzte die Halbelfe an<br />

und musterte sie. Normalerweise mochte Alvan diese bunten, possierlichen Vögel, aber der hier wirkte so hässlich<br />

und bösartig wie die gesamte Mannschaft.<br />

"U-ägga! U-ägga! Charyptoroth holt uns alle! Die Dunkle Herrin wird uns alle holen! U-ägga!" krächzte das Vieh.<br />

Ein Stiefel flog knapp an seinem Kopf vorbei an die Wand. Der Papagei fauchte in Richtung der Koje, <strong>von</strong> wo der<br />

Wurf gekommen war. Hätte man Alvan gesagt, dass der Vogel <strong>von</strong> einem Dämon besessen war, sie hätte es auf<br />

Anhieb geglaubt.<br />

47


"Halt die Fresse, Shruufschnabel. Ich hätte dir schon auf Rulat den Hals umdrehen sollen, Schandmaul!"<br />

Ächzend erhob sich Mercurio aus der Koje, der stiere Blick aus glasigen Augen, der scharfe Geruch und das<br />

aufgedunsene Gesicht verrieten den Betrunken. Schwarzes Haar kräuselte sich auf der nackten Brust des Piraten.<br />

Die Handprothese lag abgeschnallt auf dem zerwühlten Bett.<br />

Über den Boden huschten Ratten, die die heimlichen Herren dieses Schiffes zu sein schienen.<br />

Mercurio kratzte sich mit dem Armstummel die große Hakennase und starrte dann auf Alvan, besser gesagt auf ihre<br />

kleinen festen Rundungen, die sich durch das nasse Leinenhemd deutlich abzeichneten. Zum ersten Mal kam der<br />

Elfe die Möglichkeit in den Sinn, dass dieser betrunkene Unhold da, der den Bannstrahler wie beiläufig über Bord<br />

und zu den Haien geworfen hatte, über sie herfallen könnte.<br />

Plötzlich verspürte sie Angst, nackte, hilflose, verzweifelte, dumme Angst. Sie hatte lange Zeit selbst unter Piraten<br />

gelebt, ein raues, unkultiviertes Volk und nicht immer eine sonderlich angenehme Gesellschaft, aber das hier war<br />

etwas anderes. Der Eishauch der Niederhöllen war auf diesem Seelenverkäufer, durch den fette, schwarzbraune<br />

Ratten huschten, deutlich zu spüren und die blutunterlaufenen Augen des Käpt´n verrieten nicht allein die wilde<br />

Grausamkeit, wie man sie <strong>von</strong> einem Piratenhäuptling erwartete. Nein, dieser Mann war nicht nur ein gefährlicher<br />

Räuber und Mörder, er war abgrundtief schlecht.<br />

Nun stand sie also da, hilflos wie das Kaninchen vor der Schlange, starrte auf den hässlichen Armstumpf, mit dem<br />

sich Mercurio, der schwarze Mendener, über den schwarzen Schnurrbart und die verklebten, schweißigen Haare<br />

strich. In diesem Moment war sie nicht mehr Alvan Scheyhathjida <strong>von</strong> Baernfarn, die erfahrene Aventurienreisende<br />

und respektierte Grundherrin <strong>von</strong> Nordenheim, sondern nur noch ein kleines, angsterfülltes Mädchen, dass gerade<br />

überall sonst hätte sein wollen, nur nicht hier vor diesem schnaufenden, nach Schnaps und den Niederhöllen<br />

riechenden Scheusal.<br />

Nein, sie durfte sich jetzt nicht gehen lassen, gerade in einer solchen Situation nicht. Sie musste gegen die Präsenz<br />

dieses Mannes ankämpfen, der ihr förmlich seine Macht als Herr über Leben und Tod an Bord dieses Schiffes<br />

aufzuzwingen suchte. Mercurio schwieg, also beschloss sie, einen Versuchspfeil abzuschießen.<br />

"Die Asmodena-Horas ist ein gutes Schiff, nicht wahr?"<br />

Mercurio war nicht anzumerken, ob ihn die Worte beeindruckten.<br />

"Sie hat ihre Vor- und Nachteile. In der Luvposition zum Beispiel..."<br />

Alvan beugte sich gespannt vor. Der Pirat merkte, dass er gerade dabei. die taktischen Schwächen seines Schiffes<br />

auszuplaudern, und brach ab.<br />

"Jedes Schiff taugt nur so viel wie sein Kapitän. Die ´Siebengehörnt´ war besser, aber die ruht nun leider auf dem<br />

Grund des Perlenmeers. War nicht leicht, diese verdammte Schi<strong>von</strong>e hier zu erobern, nicht leicht."<br />

"Dann ist... war das hier tatsächlich einmal die Asmodena-Horas, Heimathafen Bethana?"<br />

"Nun, für ´nen Bethanier fährt sie noch immer." Ein keckerndes Lachen ertönte, dann stand der Käpt´n schwankend<br />

auf und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Die gesunde Hand krallte sich um die mit einer Dämonenfratze verzierte<br />

Lehne.<br />

"Die Niederhöllen! U-ägga" krächzte der Papagei.<br />

"Halt die Klappe, Shruufschnabel. Und du, setz dich erst mal hin."<br />

Mercurio wies Alvan den Stuhl. Zögernd ließ sich die Elfe nieder, unangenehm berührt ob der Nähe, die nun<br />

zwischen ihnen herrschte, und dankbar, dass der Pirat ihre zitternden Knien nicht mehr sehen konnte.<br />

Der Seeräuber schob eine halbleere Flasche Rum in Alvans Richtung, ebenso einen dreckigen Becher. "Trink erst<br />

mal ´nen kräftigen Schluck."<br />

Wollte er sie erst betrunken machen, bevor er sich über sie hermachen würde? Andererseits, etwas Gebranntes<br />

konnte sie jetzt schon gebrauchen.<br />

Alvan goß sich etwas Rum ein, probierte. <strong>Maraskan</strong>ischer Zuckerrum, wer sagte es denn. Zusammen mit der<br />

Wärme in ihrer Kehle kehrte auch ihre alte Selbstsicherheit zurück.<br />

"Hast du Hunger? Hier, friss!"<br />

Ein Hühnerschlegel und ein Kanten Brot wurden ihr auf einem Teller zugeschoben. Auch wenn das Essen wenig<br />

appetitlich aussah, beschloss Alvan dennoch zuzugreifen. Wer wusste schon, wann sie das nächste mal wieder<br />

etwas zu essen bekäme.<br />

"Wollt Ihr gleich über mich herfallen, oder speisen wir erst ein wenig zusammen?"<br />

Mercurio sah verblüfft drein, dann lachte er auf.<br />

"Blutiger Dämonenschwefel, nicht schlecht, Richtschützin! Emporio hatte Recht. Du bist früher einmal zu See<br />

gefahren, das merkt man dir an."<br />

Nun war es an der Edlen, verblüfft zu blicken.<br />

"Woher wisst...."<br />

"Ich vergesse nie ein Gesicht. Vor allem nicht, wenn es <strong>von</strong> spitzen Ohren verziert wird. Bei allen Gehörnten <strong>von</strong><br />

Yhol´Gurmak, du wirst dich nicht mehr an mein Gesicht erinnern können, aber ich kenne dich. Richtschützin warst<br />

48


du damals auf diesem verdammten Piratenkahn, den wir unten im Südmeer aufgebracht haben. Damals hab´ ich<br />

noch für die Al´Anfaner gekämpft..."<br />

Grinsend hob Mercurio seinen Armstumpf. "Kein schlechter Schuss, Richtschützin. Hat mir nur leider meinen<br />

Dienst bei der Schwarzen Flotte gekostet. Musste dann meinen Broterwerb wechseln.... Und nun bin ich hier. Man<br />

sieht sich halt immer zweimal im Leben."<br />

Alvan spürte erneut Unruhe in sich aufsteigen. Irgendwie sah dieser Kerl tatsächlich aus wie ein Al´Anfaner... Gut<br />

möglich, dass er damals mit auf dem Piratenjäger war, dem sie ein Jahr in der Sklaverei verdankte.<br />

"Woher wollt Ihr wissen, dass ich es war, die Euch das...zugefügt hat?"<br />

"Du hast Recht, Spitzohr. Ich weiß es nicht. Aber dein Gesicht habe ich mir gemerkt, und ich habe mir die<br />

gefangenen Richtschützen sehr genau angesehen, bevor ich auf den Tisch des Medicus gelandet bin."<br />

"Und nun wollt Ihr Euch rächen?" Alvan wunderte sich selbst, wie ruhig ihre Stimme klang.<br />

"Sehe ich etwa aus wie ein charyptorothverdammter Blakharazanhänger?" Mercurio brüllte unvermittelt los, dass<br />

einige Speicheltröpfchen in Alvans Richtung flogen. Dann beruhigte er sich wieder, nahm einen Schluck aus der<br />

Flasche und füllte dann wieder Alvans Becher.<br />

"Nicht doch, Kleines. So einer bin ich nicht. Weiß ja wie ist, im Gefecht, wenn´s darum geht, ob man die Beute<br />

heimbringt oder an den Rahen baumelt. Nein, wenn ich mir wirklich sicher wäre, dass du diejenige bist, der ich das<br />

hier zu verdanken habe, dann würdest du jetzt schon darum wimmern, dass ich dir nach deinen Ohren, deinen<br />

Titten, deinen Fingerchen und deinem Näschen auch noch die Kehle durchschneide. Wie heißt du eigentlich, mein<br />

Elfchen?"<br />

"Alvan."<br />

"Alvan. Ein hübscher Name. Ich bin Mercurio Mirhamdez, genannt der Schwarze Mendener. Ich und meine linke<br />

Hand Emporio stammen beide aus der Schwarzen Perle. Ach, was nütz all mein <strong>Gold</strong> und all meine Ehr´, wenn ich<br />

die Königin der Städte begehr." Der Pirat grinste schief. "Nein, Kleines, ich hab dein Gesicht aus anderen Gründen<br />

in so guter Erinnerung behalten." Mercurios Zeigefinger hob Alvans Kinn ein wenig an. "Es ist nämlich verdammt<br />

hübsch. Ich hätte nur nicht gedacht, es noch einmal wiederzusehen."<br />

"Da hatte Schwester Rahja wohl ein Einsehen." Alvan lächelte sarkastisch. "Und dann noch unter derartig<br />

romantischen Umständen."<br />

"Vorsicht, mein Täubchen, Vorsicht. Hüte deinen hübschen roten Mund, sonst muss ihn dir noch ein bisschen roter<br />

färben. Ich mag zwar betrunken wirken, aber ich dulde es nicht, wenn man über mich spotte. Dankbar solltest du<br />

sein, dankbar. Sie wollten dich nämlich schon über Bord werfen, meine wackeren Jungens und Mädels. Elfen an<br />

Bord bringen Unglück, haben sie gesagt." Ein gackerndes Lachen. "<strong>Das</strong> ist doch ein schlechter Witz. Mein<br />

Leutnant würde mit dem Dämonensultan Boltan spielen, wenn es ihm <strong>Gold</strong> einbrächte, und dann fürchtet der Kerl<br />

sich vor den spitzen Öhrchen einer Halbelfe. "Mercurio zog ein Stilett und bohrte es vor sich in den Tisch.<br />

"Hör zu, Alvan. Ich habe mir das alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Normalerweise jagen wir nicht so<br />

weit unten im Süden. Aber was will man machen, an der Xeraanischen Küste ist alles abgegrast, die Dörfer völlig<br />

ausgeplündert und an die bornländischen Geleitzüge kommt man nicht ran ohne Drecksarbeit. Ich habe mit dem<br />

Fürstkomtur noch nicht viele Geschäfte gemacht, ich könnte also jemanden gebrauchen, der bei ihm, sagen wir<br />

mal, für ein zholvargefälliges Geschäftsklima sorgt. Ich werde Euch also freilassen, wenn Ihr dafür sorgt, dass<br />

Helme Haffax mir einen guten Preis macht. Außerdem könnte ich eine gute Richtschützin gebrauchen. Also,<br />

warum heuerst du nich´ bei mir an, wenn du dem Fürstkomtur Bericht erstattet hast. Du und deine Gefährten. Ein<br />

Magus käme mir nämlich auch recht. Unser Bordmagier hat vor ein paar Wochen seinen Geist zu Charyptoroth<br />

gesandt so dass wir uns seiner entledigen mussten. Also, arbeiten wir doch einfach zusammen."<br />

Alvan dachte angestrengt nach. Die Sache entwickelte sich günstiger, als sie gedacht hätte. Wenn sie erst einmal in<br />

Jergan waren, waren sie frei, dorthin zu gehen, wohin sie wollten. Blieb nur das Problem, dass sie nicht wirklich<br />

Spione des Fürstkompturs waren - und dass dies in <strong>Maraskan</strong> sehr schnell offen zutage treten würde.<br />

"Nun, ich fürchte, Sigismund, mein Gefährte hat sich ein wenig missverständlich ausgedrückt. Eigentlich sind wir<br />

keine Spione, jedenfalls noch nicht. Wir hatten nur ein paar Probleme mit der Inquisition, besser gesagt unser<br />

Gefährte Hesindian, der Magier."<br />

"Wie? Ach so ist das!"<br />

Jähes Mißtrauen stieg in Mercurios Augen auf.<br />

"Und natürlich seid ihr völlig unschuldig, bei den schleimigen Tentakeln der Ersäuferin?"<br />

"Wer ist schon völlig unschuldig vor den Augen der Heiligen Inquisition?" Alvan zwinkerte kumpelhaft mit den<br />

Augen. "Jedenfalls haben wir beschlossen, dass es am gesündesten wäre, sich so schnell wie möglich nach Osten<br />

abzusetzen. Und da Helme Haffax ebenfalls ein Überläufer ist, haben wir uns gedacht, warum nicht nach<br />

<strong>Maraskan</strong>? Naja, und in Zorgan haben uns unsere Verfolger dann erwischt und an Bord der Greif verfrachtet. Den<br />

Rest der Geschichte kennt Ihr ja."<br />

Alvan atmete tief durch. "Du kannst diese Geschichte sehr leicht nachprüfen. In der Bilge der Greif liegt noch die<br />

Leiche eines Bannstrahlers, der uns erschlagen wollte, als ihr das Schiff geentert habt. An seinem Hals werdet ihr<br />

Würgemale entdecken. <strong>Das</strong> war Odilon, mein V... Gefährte."<br />

49


"Nicht nötig, das Aas haben wir schon entdeckt. Ihr und diese Praiotenbrut scheint euch nicht zu mögen, und das<br />

macht euch mir sympathisch. Aber <strong>Maraskan</strong>? Was beim vielarmigen Yonahoh wollt ihr denn auf dieser verlausten<br />

Käferinsel bei diesem irren Totschläger Haffax? Warum bleibt ihr nicht an Bord der Fran-Horas? Die<br />

maraskanische Flotte ist doch ein Witz. Jeder Hummerier ist hochseetauglicher als die Thalukken <strong>von</strong> diesem<br />

Möchtegern-Feldherrn. Du warst selbst einmal eine Freibeuterin und deine Kumpel sehen so aus, als könnte man<br />

sie auch noch irgendwie zu Piraten machen. Aber natürlich muss ich erst einmal wissen, ob ich euch wirklich<br />

vertrauen kann. Vielleicht hat Euch der Inquisitor ja erst in Ketten legen lassen, als wir längsseits gegangen sind,<br />

um euch als Gefangene auszugeben. Praios-Kultisten ist jede Hinterlist zuzutrauen."<br />

"Und der tote Bannstrahler?"<br />

"Dem hat erst Zoltan den Rest gegeben, mit der Armbrust. Kann ja auch ein Trick gewesen sein. Ich traue so einem<br />

Schwein <strong>von</strong> Inquisitor alles zu."<br />

Die Augen des Al´Anfaners, der die ganze Zeit wohlwollend, in seiner Trunkenheit fast schon ein wenig<br />

mitleiderregend gewirkt hatte, verengten sich zu Schlitzen. Nun war er wieder die kaltblütige Schlange vor dem<br />

Kaninchen.<br />

"Du gehst jetzt runter zu den Gefangenen und stichst den Bannstrahler ab. Dann lasse ich dich und deine Kumpels<br />

frei. Aber vorher wirst du mir deine Loyalität noch auf andere Weise beweisen."<br />

Mercurio grinste die Elfe lüstern an. Plötzlich hielt er das Stilett in der Hand, hielt es der angststarren Elfe unter die<br />

Nase und griff nach ihrem Hemd, um es aufzureißen...<br />

"Alaaarm!"<br />

Die Tür flog auf, und die Piratin, die vor der Tür Wache gehalten hatte, stürzte herein.<br />

"Die Aranier! Zwei Galeeren, zwei Thalukken, steuerbord voraus. In Angriffsformation!"<br />

"Dreckiger Dämonenkot! Halten sie direkt auf uns zu?"<br />

"So ist es, Käpt´n. Scheinen Lunte gerochen zu haben, wegen dem Fockmast der Greif."<br />

"Verdammt" Mercurio ließ das Hemd der Halbelfe wieder los.<br />

"Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Nun kannst du beweisen, was du wert bist. An die erste Steuerbordrotze<br />

bugwärts mit dir, aber ein bisschen zackig."<br />

Alvan stolperte ins Freie, froh, Mercurio erst einmal entkommen zu sein. Tatsächlich waren steuerbord voraus<br />

mehrere Segel zu erkennen. Der Mond war aufgegangen und tauchte die Wellen in ein helles, fast taghelles Licht.<br />

Phex schien auf der Seite der Aranier zu sein.<br />

Tatsächlich, zwei Galeeren und zwei kleinere Schiffe mit Dreiecksegeln. <strong>Das</strong> Sphingenwappen Araniens war<br />

deutlich zu erkennen. <strong>Das</strong> Führungsschiff war eine große Trireme der Perricum-Klasse, oder Zorgan-Klasse, wie<br />

die Aranier sie nannten. Auch für eine Schi<strong>von</strong>e ein tödlicher Gegner.<br />

Alvan vollführte mechanisch mit zwei weiteren Piraten die Handgriffe, die sie gewohnt war - oder besser gesagt,<br />

vor vielen Jahren einmal gewohnt gewesen war. Rotze spannen, Geschoss auflegen, auf das Ziel ausrichten.<br />

Die Zeit verstrich. Der Wind und der Wellengang ließen deutlich nach - gut für die Galeeren. Auch Efferd war<br />

nicht auf Seiten der Xeraanier.<br />

Ein Lichtsignal <strong>von</strong> der Trireme. Alvan hatte Schwierigkeiten, die Nachricht zu entziffern. Zum Glück wiederholte<br />

sie Mercurios Leutnant, Emporio oder wie er hieß, laut und für alle verständlich:<br />

"Sofort beidrehen und Enterkommando an Bord lassen."<br />

"Antworte: Signal nicht verstanden."<br />

Die Antwortzeichen gingen hinaus in die Dunkelheit.<br />

Erneut wurde die Signalkombination wiederholt.<br />

"Verdammt, die gehen ganz schön scharf ran. Wie sind die uns nur so schnell auf die Schliche gekommen?" fragte<br />

Emporio, ein rattengesichtiger Südländer mit geckenhaftem Federbarett.<br />

"Die Burschen da drüben sind eben misstrauisch. Antworte: Signal nicht verstanden. Steuermann: Kurs halten. Wir<br />

fahren mitten durch sie hindurch. Sobald wir auf gleicher Höhe sind, auf beiden Seiten geschützweise feuern.<br />

Nehmt Hylailer Feuer, heizt diesen Schweinen ordentlich ein."<br />

Tatsächlich hielten beide Schiffe, die Schi<strong>von</strong>e und ihre Prise, geradewegs auf das Geschwader zu. Zumindest die<br />

beiden Galeeren würden einige Zeit brauchen, um ihren Kurs anzupassen, und die kleinen Thalukken waren<br />

artilleristisch betrachtet keine Gegner für eine gut bestückte Schi<strong>von</strong>e. Aber viele Hunde waren nun einmal des<br />

Hasen Tod...<br />

Statt einem erneuten Signal zischte nun ein Geschoss heran und schlug vor dem Bugspriet der Fran-Horas ins<br />

Wasser. Der sprichwörtliche Schuß vor den Bug...<br />

Die Trireme versuchte nun, ein wenig spät nach Alvans Meinung (offenbar war das Mißtrauen der Aranier doch<br />

nicht ganz so groß gewesen) ihren Kurs anzupassen, um das Schiff seitlich zu rammen. Umständlich ruderte sie<br />

herum. Ein übereifriger Pirat an Bord der Fran-Horas schoss die erste Rotze ab, deren Geschoss genau in die<br />

50


flügelähnliche Riemenreihe des Araniers landete, was dort einiges Kleinholz verursachte. Immerhin hatte er damit<br />

dessen Wendemanöver für wertvolle Augenblicke durcheinander gebracht.<br />

Die Bireme auf der anderen Seite nahm sich die "Greif" vor und glitt mit einer der Begleitthalukken knapp<br />

außerhalb der Schussweite vorbei.<br />

An Bord der Fran-Horas wurde jetzt Sand ausgestreut und Waffen ausgegeben. Dann hagelte es Geschosse <strong>von</strong> der<br />

Trireme. Kleineres Takelwerk polterte herab. Alvan ging instinktiv in Deckung. Eine Wasserfontäne spritzte vor<br />

ihr hoch.<br />

"Kurs halten und Feuer erwidern, verdammt noch mal.“<br />

Als Alvan wider über das Geschütz blickte, sah sie die Trireme wie ein gewaltiges Streitroß auf die Fran-Horas<br />

zurasen. Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim justierte die Höhe des Geschützes nach und schoß. Entgegen dem Befehl hatte<br />

sie eine Steinkugel geladen, die nun in den Fockmast der Galeere krachte. Ächzend und splitternd fiel dieser wie<br />

ein gefällter Baum ins Meer.<br />

Der rammsporngeschmückte Bug wanderte ruckartig zur Seite aus. In diesem Augenblick traf ein Brandgeschoss<br />

die Vordertrutz der Trireme. Flammen schlugen hoch. Der Kiel der Fran-Horas zertrümmerte noch einige Riemen,<br />

dann sauste die Schi<strong>von</strong>e wenige Schritt am tödlichen Rammsporn vorbei.<br />

Mercurio reckte triumphierend seinen Handhaken in die Höhe.<br />

Dann sah er die Thalukke auf der anderen Seite. Eine Breitseite zerhackte die Backbordreling. Splitter surrten<br />

herum. Ein Rotzengeschoss riss einer Piratin den Kopf ab, ein weiteres schlug klirrend neben dem Kapitän ein. Im<br />

nächsten Augenblick brüllten auch schon gewaltige Stichflammen in den Nachthimmel. Schreiend wälzte sich der<br />

Pirat über den Boden und versuchte seinen brennenden Rock zu löschen. Auch die Handprothese brannte.<br />

Alvan reagierte instinktiv. Sie griff einen Eimer mit Sand und schüttete ihn über die Flammen, die aus dem Piraten<br />

schlugen. Einige Flämmchen züngelten noch, dann war das Feuer gelöscht. Weitere Sandeimer wurden über den<br />

Brandherd gekippt, der sich rasch eindämmen ließ.<br />

Fluchend versuchte der angesengte Pirat aufzustehen, aber Alvan riss ihn wieder zu Boden. Im nächsten<br />

Augenblick überschauerte ein Hagel Pfeile das Deck und durchbohrte zwei Seeräuber.<br />

Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim sprang auf und feuerte auf gut Glück eine der Rotzen ab, die <strong>von</strong> ihrer Bedienung<br />

verlassen neben ihr stand. Eine dumpfe Detonation. Der ölige Geruch <strong>von</strong> Hylailer Feuer. Auch auf der Thalukke<br />

machten sich nun Flammen breit, schrille Schreie waren zu hören.<br />

Einen Augenblick lang überlegte sich Alvan, was sie hier gerade tat. Als ein Rotzengeschoss in den Rumpf der<br />

Schi<strong>von</strong>e krachte, wusste sie es: um ihr Leben kämpfen. Nach allem, was passiert war, würde es sehr schwer<br />

werden, den Araniern ihre Rolle in diesem verworrenen Schauspiel hier zu erklären.<br />

Erneut eine Breitseite, diesmal vermutlich <strong>von</strong> der Trireme.<br />

Von oben sauste ein Block herab, krachte neben sie gegen die Reling, prallte <strong>von</strong> dort ab und traf ihren Kopf.<br />

Benommen stürzte sie zu Boden.<br />

Als sie wieder zu sich kam, lag dichter Nebelschleier vor ihren Augen. Rasch verfinsterte sich alles. Es dauerte eine<br />

Weile, bis sie begriff, dass es wirklich dunkel wurde und ihr nicht einfach die gemarterten Sinne einen Streich<br />

spielten.<br />

Kein Zweifel: Nebel kam auf, gerade zum richtigen Zeitpunkt. Der Kampflärm verebbte. Kaum konnte man die<br />

eigene Hand vor Augen sehen, so dicht hatte sich die weiße Suppe über den Golf <strong>von</strong> Tuzak gebreitet.<br />

Erst jetzt sah Alvan den Holzsplitter, der tief, sehr tief in ihrem Unterschenkel steckte. Blut sprudelte hervor. Die<br />

Piratin mit den mitleidlosen Augen sah sie an - gleichgültig, gefühllos, bewundernd? Noch bevor Alvan diese Frage<br />

beantworten konnte, schwanden ihr endgültig die Sinne.<br />

***<br />

Die Trägerin dieses Schreybens handelth in meynem Auftrage und auf meynem Befehl hin zur Glorie der<br />

Fürstkomturei <strong>Maraskan</strong>. Eyn Jeder Bürger und eine Jede Bürgerin sey angehalthen, ihr in ihrem Thun zu<br />

Behufe zu seyn und ihrer Order Folge zu leysten.<br />

Lob und Ehre Belhalhar und seinem ersten Diener, dem Fürstkomtur.<br />

Cjuk Stiij<br />

51


Im Auftrage des Komturs Rayo zu Tuzak<br />

Andromejia las das Schreiben, das ihr Andorkan ausgehändigt hatte, noch einmal. Ein kurzer Text. Mit wenigen<br />

Worten war ihr ein Freibrief ausgestellt worden, in der Komturei Tuzak alles zu tun und zu lassen, was sie beliebte.<br />

Und auch in den anderen Komtureien würde ihr dieses Schreiben Tür und Tor öffnen. Der Brief mit dem Siegel<br />

Rayos verlieh ihr eine ungeahnte Machtfülle. Niemand würde ihr irgendwelche Fragen stellen. Immerhin war Rayo<br />

neben Komturin Nedimajida <strong>von</strong> Boran wohl der mächtigste Kopf im Reich. Zugleich schauderte ihr. Ein solches<br />

Schreiben zu erhalten bedeutete nicht nur eine große Auszeichnung und Ehre für sie. Es bedeutete aber auch eine<br />

hohe Verantwortung. Und es bedeutete, dass sie unter keinen Umständen versagen durfte. Komtur Rayo würde kein<br />

Verständnis haben, wenn sie keinen Erfolg haben würde. Bei einem Misserfolg dürfte sie noch dankbar sein, wenn<br />

ihr lediglich eine armselige Existenz in Ketten auf einer Galeere blieb. Nun denn, ihr erster Weg würde sie in das<br />

Archiv führen. Dort würden sich zunächst einmal mehr Informationen über Mirajida und Alrech zusammentragen.<br />

Und dann würde sie sich im Tempel der Zwillinge umhören. Andromejia hatte sich noch immer noch nicht so recht<br />

daran gewöhnt, dass aus dem einstigen Ort des Wissens ein Handelsplatz geworden war. Aber so war es eben in<br />

<strong>Maraskan</strong>. Die Dinge änderten sich rasch, und nur der hatte Bestand, der sich den Änderungen anpassen konnte.<br />

Und seit dem die Garethjas vertrieben wurden hatten sich die einstigen Tempel – keiner vermochte so recht zu<br />

sagen warum – in Markthallen verwandelt. Und dass diese Erscheinung im Tuzaker Tempel besondere Auswüchse<br />

annahm (es wurde wirklich alles verkauft was für gutes <strong>Gold</strong> zu haben war) lag vielleicht auch an daran, dass der<br />

Komtur in Tuzak trotz seiner Zugehörigkeit zum Orden ein Zholvarit war. Sei dem wie es sei. Andromejia war das<br />

alles herzlich egal. Es würde für sie in dem lauten Getümmel umso leichter sein, unauffällig Informationen zu<br />

sammeln.<br />

***<br />

Langsam kam Alvan wieder zu sich. Waren es die Schmerzen in ihrem Unterschenkel oder mehr das schaurige<br />

"Bumm-Bumm Bumm-Bumm" in ihren Ohren, das ihren Geist zurück in die Dritte Sphäre zwang? Sie wusste es<br />

nicht.<br />

Sie lag noch immer auf dem Deck der Fran-Horas und starrte in die glasigen Augen einer Toten. Die blonde<br />

Piratin... Ein Bolzen steckte in ihrem Kopf, der bleich und aufgedunsen. in einer dicken, schwarzroten Mischung<br />

aus Hirn und Blut lag. <strong>Das</strong> Gefecht musste in der Zwischenzeit weitergegangen sein. Keuchend rollte sich Alvan<br />

weg, als sie merkte, dass ihre linke Hand mitten in dem ekligen Gesupp lag. Hektisch wischte sie die Finger an<br />

ihrer Hose sauber.<br />

Ächzend erhob sich die Edle, lehnte sich an die Bordwand. Feister, graugrüner Nebel hing in der Luft, legte sich<br />

schleimig auf Planken und Taue. Er schien <strong>von</strong> innen zu leuchten, in einem kalten, fahlen Zwielicht. Obwohl bis<br />

auf ein leise schmatzendes Gluckern kein Wellengang zu hören war, ächzte und knarrte die Fran-Horas leise.<br />

Alvan liebte das Geräusch sich sanft wiegender Schiffe, aber dieses hier klang eher wie eine Streckbank, deren<br />

Hebel und Kurbel angezogen wurden. Und sie lag mitten darauf...<br />

Mit schmerzverzerrtem Gesicht tastete sie nach dem Holzsplitter in ihrer Wade. Kurz entschlossen zog sie ihn<br />

heraus. <strong>Das</strong> Gefühl eines durch eigenes Fleisch gezogenen Holzstücks war beinahe brechreizerregender als der<br />

beißende Schmerz, der mit wenig Verzögerung folgte. Alvan hechelte, atmete den ekligen, sich immer grünlicher<br />

verfärbenden Nebel ein. Einen Augenblick lang dachte sie, sie müsse sich vor Schmerzen erbrechen, aber dann ließ<br />

die Qual doch wieder nach. Hastig riss sie den Ärmel ihres Leinenhemds entzwei, um das hochsprudelnde Blut<br />

einzudämmen. Sie würde die Wunde bei Gelegenheit mit Salzwasser ausspülen müssen. Nun reiß dich zusammen,<br />

forderte eine Stimme in ihrem Kopf. Ist ja nicht die erste Wunde im Kampf, die du überstanden hast. Wirst es auch<br />

diesmal schaffen...<br />

"Bum- Bum! Bum-Bum!"<br />

Erst jetzt drang das merkwürdige Geräusch wieder an ihre Sinne, dass sie gerade eben schon irritiert hatte. Mit<br />

schmerzverzerrtem Gesicht griff sie nach der Reling, zog sich an den Wanten nach oben. Die Schmerzen ...auf die<br />

durfte sie jetzt nicht achten.<br />

"Bum-Bum! Bum-Bum!"<br />

Ihre scharfen Elfensinne nahmen bald noch andere Geräusche im Nebel wahr. Ein leises Quietschen. Die<br />

Bewegung <strong>von</strong> Riemen in ihren Dollen. Dazu ein rhythmisches Aufklatschen ins Wasser.<br />

52


"Bum-Bum! Bum-Bum!"<br />

Nur langsam begriff sie, was sich hier abspielte. Die aranischen Galeere suchten noch immer nach ihnen, fuhren<br />

vor (neben? hinter?) ihnen durch den grünen Dunst. Jetzt, in der Flaute, waren sie eindeutig im Vorteil, während<br />

die Fran-Horas hilflos <strong>von</strong> der Strömung getrieben wurde. Vorausgesetzt, die Aranier kannten sich mit den hiesigen<br />

Strömungsverhältnissen aus – wo<strong>von</strong> auszugehen war - dann war es ihnen ein leichtes, durch geschicktes Zacken<br />

ihren Kurs zu kreuzen, zumal sie über zwei Ruderschiffe verfügten, die sich ihr Opfer sozusagen zutreiben<br />

konnten. Alvan waren all diese Triremen und Biremen schon immer unheimlich gewesen - Schiffe, die sich auch<br />

bei Flaute und gegen den stärksten Wind bewegen konnten, waren irgendwie nicht ihre Welt...<br />

"Bum-Bum! Bum-Bum!"<br />

Als Alvan Richtung blickte, merkte sie, dass die Riemengeräusche nicht <strong>von</strong> der Trireme kamen. Die Fran-Horas<br />

hatte ihr Schinakel zu Wasser gelassen. Als schwarzer Schemen zog das Beiboot das arg geschundene Schiff durch<br />

das spiegelglatte Meer. Wann immer die Aranier ihre Trommelgeräusche unterbrachen - vermutlich um<br />

Rundzuhorchen - hoben auch die Piraten die schweren, tropfenden Riemen aus dem bleigrauen Wasser und hielten<br />

inne. Sobald das Trommeln wieder einsetzte, legten sie sich wieder ins Zeug. Ein Katz- und Mausspiel...<br />

"Bum-Bum! Bum-Bum!"<br />

Nun glaubte sie auch andere Rudergeräusche wahrzunehmen, stärkere, rauschendere, wie <strong>von</strong> den Schwingen eines<br />

gewaltigen Vogels. Natürlich, der Aranier musste irgendwo da draußen sein, inmitten des gespenstischen grünen<br />

Leuchtens, und nach ihnen suchen.<br />

"BUM-Bum! BUM-Bum!"<br />

War es das Klopfen ihres Herzens, das lauter wurde, oder kam die Trireme wirklich näher?"<br />

"BUM-BUM! BUM-BUM!"<br />

Kein Zweifel, auch das Rauschen der Riemen wurde stärker. Der Aranier musste schon sehr nah sein, vielleicht<br />

weniger als hundert Schritt.<br />

"BUM-BUM! BUM-BUM!"<br />

Alvan überlegte fieberhaft. Die meisten Piraten, so sie nicht wie die (mittlerweile wirklich eiskalte) Blonde tot an<br />

Deck lagen, befanden sich offenbar im Beiboot und ruderten gegen die Strömung an. Nicht einmal die Geschütze<br />

waren besetzt, was darauf hindeutete, dass Mercurio nur noch über wenige Leute verfügte. Was sollte sie tun? Ihre<br />

Gefährten befreien? Laut rufen oder die Schiffsglocke schlagen und die Aranier damit auf die Fran-Horas<br />

aufmerksam machen? Egal, was sie unternahm, es würde gefährlich sein. Vor allem, sie müsste es schnell tun...<br />

Schnell! Bei diesen Schmerzen in ihrem Bein! Beinahe hätte Alvan aufgelacht.<br />

"Egal, was du jetzt vorhast, Spitzohr, versuch es erst gar nicht!" zischte es hinter ihr. Die Edle drehte sich<br />

unbeholfen um und starrte in ein mattglänzendes Entermesser. Eine bleiche, stoppelbärtige Visage mit<br />

Augenklappe und struppigen Haaren - Alvans erster Vergleich war der mit einem streunenden Gossenkater -<br />

starrten sie an, bräunliche Stummelzähne grinsten ein Totenschädellächeln.<br />

Der Steuermann war vom Achterdeck heruntergekommen und hielt ihr den schartigen Entersäbel unter die Nase.<br />

Nur mit einem Auge sah Alvan, dass er das Rad mit einem Belegnagel festgeklemmt hatte.<br />

Gedanken schossen der Elfe durch den Kopf. Wenn sie den Mann angreifen wollte, müsste sie es j e t z t tun. Alvan<br />

spannte ihren Körper an, bereit, nach einem Belegnagel zu greifen und die Klinge <strong>von</strong> sich weg zu schlagen. Dann<br />

sank sie wieder in sich zusammen. Bei der Schönheit der Welt, die sie doch noch ein wenig genießen wollte, das<br />

war zu waghalsig - nicht mit dem halbgelähmten, schmerzenden Bein. Als sie der Fausthieb des Piraten unter das<br />

Kinn traf, bereute sie, dass sie ihn nicht selbst niedergeschlagen hatte. Es war mehr die jähen Schmerzen in ihrer<br />

Wunde als der Kinnhaken, der ihr erneut für einige Augenblicke die Besinnung raubte.<br />

"Bum-Bum! Bum-Bum!"<br />

Die Galeere...sie entfernte sich wieder....<br />

53


Es war die Grobheit des Piraten, mit der er sie in Richtung des Achterdecks zerrte, die sie bewog, nun doch noch zu<br />

schreien.<br />

"Hiiil....."<br />

Eine schwielige, nach Schmutz und Branntwein stinkende Pranke erstickte ihren Schrei. "Kommst du mir so,<br />

Elflein? Noch ein Mucks, und ich steche dich ab." Alvan spürte die schartige Klinge mehr an ihrer Kehle, als dass<br />

sie sah. Der Pirat stieß sie zu Boden, drückte sie mit dem Knie fest und griff nach ihren Händen. Diese Schmerzen,<br />

diesen Schmerzen! Wenn sie sich nur hätte wehren können...<br />

Alvan spürte, wie ihre Hände gefesselt wurden, vermutlich mit dem Strick, den der Steuermann als Gürtel um sein<br />

buntgestreiftes Hemd trug. Im nächsten Augenblick schlang er auch schon sein schmieriges Halstuch als Knebel<br />

um ihre Mund, zog sie zum Besanmast und band sie dort mit einem Tau fest. <strong>Das</strong> ist also der Dank dafür, dass ich<br />

euren verdammten Seelenverkäufer gerettet habe, dachte sie...<br />

"Bum-Bum! Bum-Bum!"<br />

<strong>Das</strong> Trommeln wurde leiser und entfernte sich. Irgendwie hegte Alvan den schrecklichen Verdacht, dass es gerade<br />

ihr schriller, durch den Nebel verzerrter Schrei gewesen war, der den fremden Kapitän irritiert und zur<br />

Kursänderung bewogen hatte.<br />

Ein Augenblick war ihre innere Verzweiflung noch größer als der Schmerz in ihrem Unterschenkel. Nein, kein<br />

Zweifel, die Trireme entfernte sich. Die Trommelgeräusche und das Rauschen der Riemen wurden immer<br />

schwächer und hörten schließlich ganz auf. Für kurze Zeit keimte noch einmal wahnwitzige Hoffnung in Alvan auf,<br />

als sie ein schwaches "Bum-Bum" zu hören glaubte, dann war nur noch das leise Gluckern des Meeres und das<br />

gequälte Stöhnen der Fran-Horas zu hören.<br />

"Der Pestodem!" kicherte der Steuermann. Seine Augen leuchteten, als wäre er ein Fall für die Noioniten.<br />

"Charyptoroth sei Dank, der Pestodem hat sie vertrieben. Jetzt kannst du wieder schreien, soviel du willst, mein<br />

Schätzchen. Und du wirst bald schreien, Schlampe, so oder so!"<br />

Der Pirat löste das Halstuch und verknotete es wieder um seinen mit blutigen Pusteln übersäten Hals. Angewidert<br />

spuckte Alvan aus. Dann sah sie, wie die Piraten im Beiboot längsseits gingen und ihr eigenes Schiff enterten.<br />

Noch immer stand der grüne Nebel in der Nachtluft, lag wie ein alles erstickendes Leichentuch über der Fran-<br />

Horas. Emporio, der rattennasige Leutnant, stolzierte auf das Achterdeck – und schlug den Steuermann mit einem<br />

derben Fausthieb nieder. "Du Mistkerl- warum hast du nicht genau Kurs gehalten, he? Beinahe hätten uns die die<br />

verdammten Aranier erwischt! Die Gurgel rausreißen sollte ich dir, he!" Wie ein getretenes Tier krümmte sich der<br />

Einäuge <strong>von</strong> seinem Peiniger weg, deutete zischelnd zu Alvan: "Die da ist schuld! Wegen der musste ich das<br />

Steuerrad verlassen. Wollte um Hilfe schreien, die da!"<br />

"<strong>Das</strong> ist nicht wahr!" Stolz reckte Alvan das Kinn. "Ich habe erst geschrieen, als das verdammte Schwein da über<br />

mich hergefallen ist. Wegen der Schmerzen in meinem Bein..." Die Halbelfe wies mit dem Kopf auf ihren<br />

Verband, der mittlerweile triefend rot und <strong>von</strong> Blut durchnässt war. "Warum hätte ich euch erst vor den Araniern<br />

retten und dann um Hilfe rufen sollen?"<br />

Erst jetzt merkte sie, dass <strong>von</strong> dem Piratenhäuptling weit und breit nichts zu sehen war. Mercurio schien ihr<br />

gewogen zu sein, auch wenn es nur der Schnaps gewesen sein mochte, der ihn sentimental gestimmt hatte. Alvan<br />

erinnerte sich, was er über die Abneigung seines Leutnants über Elfen gesagt hatte. "Mercurio? Wo ist Mercurio?"<br />

Einige Piraten griffen die Frage der Elfe auf. "Ja, verdammt, wo ist der Alte?"<br />

"Mercurio ist schwer verletzt. Ich habe ihn in seine Kajüte gebracht. Einstweilen führe ich das Kommando!"<br />

Emporio stellte sich breitbeinig vor das Steuerrad.<br />

"Schwer verletzt? Wegen dem bisschen Feuer?" kam eine Frage <strong>von</strong> unten. Alvan musste zugeben, dass auch ihr<br />

der Käpt´n nicht all zu schwer verwundet erschienen war. Mühsam versuchte sie sich an den Ablauf der Ereignisse<br />

zu erinnern. Der Bolzen im Kopf der Piraten...die Aranier hatten mit Pfeilen geschossen, nicht mit Bolzen, und<br />

waren am Schluss eigentlich auch schon außer Schussweite gewesen, <strong>von</strong> der schlechten Sicht ganz zu schweigen.<br />

Sollte Emporio etwa...? Gelegenheit dazu hätte er gehabt. Die meisten Piraten waren vor dem Beschuss unter Deck<br />

geflohen, so dass er nicht all zu viele Zeugen hätte beseitigen müssen.<br />

"Es hat ihn ziemlich übel erwischt. Schwer zu sagen, ob er durchkommt, he?"<br />

Irgendwie stand die Falschheit dem Al´Anfaner ins Gesicht geschrieben. "Aber jetzt Schluss mit dem Gequatsche.<br />

Solange Mercurio ausgefallen ist, hört ihr auf mich. Hat jemand gesehen, was aus der Greif geworden ist? He?"<br />

Ratloses Achselzucken.<br />

"Die Aranier werden sie wohl aufgebracht haben, mit ihrem fehlenden Fockmast und dem beschissenen Wind!"<br />

"Hat das jemand gesehen?"<br />

Mehrfaches Kopfschütteln.<br />

54


"Na wunderbar. Sieht so aus, als hätten wir unsere Prise verloren! Alles nur wegen der da. He?" Wütend deutete<br />

der Leutnant auf die gefesselte Elfe.<br />

"Verdammt, ich habe die Fran-Horas und Euren Käpt´n gerettet, wenn dir das noch nicht aufgefallen ist" Alvan<br />

versuchte möglichst derb zu klingen.<br />

"Da hat sie allerdings recht" kam es <strong>von</strong> einem Piraten, einem auffallend hübschen jungen Blondschopf. Fast schon<br />

fand ihn Alvan auf Anhieb sympathisch unter diesem Rudel blutrünstiger Raubtiere.<br />

"Wäre sie nicht gewesen, hätte uns der Aranier in Grund und Boden gerammt. Ich habe noch nie eine Richtschützin<br />

gesehen, die so eiskalt gewesen wäre." Verhaltene Zustimmung erklang.<br />

"Ja, während ihr Euren Posten feige verlassen habt" knurrte Emporio.<br />

"Sie hat uns das alles erst eingebrockt."<br />

" Sie ist eine verdammte Elfe" stimmte eine hakennasige, rothaarige Piratin zu.<br />

"Der ganze Ärger hat erst angefangen, als sie ihre verfluchten Spitzohren auf dieses Schiff getragen hat."<br />

"Ich habe mich nicht darum gerissen, hier anzuheuern" konterte Alvan. Zu ihrer Erleichterung war doch der eine<br />

oder andere Lacher zu hören. Offenbar hatte sie nicht nur Feinde in dieser Meute.<br />

"Mercurio hat nur an seinen Schwanz gedacht, wie immer" zischte es zurück.<br />

"Sonst hätte er so was wie dich sofort hochkant über Bord geworfen! Den Kopf hat sie ihm verdreht, das<br />

Miststück!"<br />

"Eifersüchtig, was?" Alvan lächelte zickenhaft.<br />

Die rothaarige Piratin versuchte auf das Achterdeck zu stürmen. Emporio hielt sie zurück. "Lass das, Nele. Aber du<br />

hast Recht. Mercurio beginnt sentimental zu werden. Ich meine, eine Pechsträhne kann jedem Käpt´n Mal<br />

passieren, aber seitdem er Triefauge erschlagen hat, geht es nur noch bergab. Jetzt schleppt er uns auch noch eine<br />

Elfenfotze an Bord, he? Ich meine, nicht dass ich unserem Fischmaul nachtrauern würde, aber seit seinem Tod hat<br />

uns das Glück verlassen. Die Ersäuferin meint es nicht mehr gut mit uns. Wer weiß, was uns noch alles bevorsteht,<br />

wenn wir ihr nicht bald ein Opfer bringen. He?" Letztere Worte hatte Emporio laut zur Mannschaft gesprochen.<br />

"Was willst du damit sagen, Emporio? <strong>Das</strong> du der bessere Käpt´n wärst?" Der Blonde rammte seine Fäuste in die<br />

Seite:<br />

"Ich fahre jetzt seit zwei Dämonenläufen mit dem Schwarzen Mendener und ich habe es keinen Tag bereut. Wir<br />

alle haben es nicht bereut. Glaub mir, niemand vermisst Xeraans verdammten Spitzel. Triefauge ist am Grund der<br />

Blutigen See am besten aufgehoben. Die Fran-Horas ist voll mit Raschtullswaller und aranischem Getreide <strong>von</strong><br />

unserer anderen Prise und jetzt müssen wir mit zwanzig Orkärschen weniger teilen!" Raues Gelächter erklang.<br />

"Also quatsch uns nichts <strong>von</strong> Pechsträhne vor, Emporio. Wenn du der neue Käpt´n werden willst, dann sag es<br />

gleich, aber ich fürchte, es wird dir hier niemand folgen."<br />

"<strong>Das</strong> ist algenschleimiger Blödsinn, Gion, bei allen stinkenden und verwesten Wasserleichen zwischen hier und<br />

Festum. Ich vertrete Mercurio, das ist alles. Auch wenn jetzt noch nicht sicher ist, ob er durchkommt. Aber wir<br />

sollten langsam mal was tun, um unseren Ruf bei der Herrin der Nachtblauen Tiefen aufzubessern. Drei <strong>von</strong> uns<br />

sind in den letzen Wochen ersoffen oder <strong>von</strong> Würgewellen geholt worden - jedes mal an Deck. Jeder <strong>von</strong> euch<br />

kann der nächste sein. Die Ersäuferin sieht nicht mehr mit Wohlgefallen auf uns. Kein Zweifel, wir sind dabei ihre<br />

Gnade zu verlieren, he?"<br />

"Was soll das jetzt werden: eine Besinnungspredigt? He?"<br />

Verhaltenes Gelächter antwortete dem Blonden, der merkte, dass er den Leutnant ein wenig zu scharf anging und<br />

sich etwas in die Menge zurückzog. Nele schüttelte den Kopf: "Emporio hat recht. Mercurio beginnt, die Ersäuferin<br />

zu vernachlässigen. Hat wohl seine Zeit in Charypso noch nicht ganz vergessen. Vielleicht zieht es in ja heimlich<br />

wieder zurück in den Süden, wer weiß? Vielleicht wird es ihm ja hier oben zu heiß. Vielleicht hat er deswegen<br />

Triefauge umgebraucht. Ist ihm wohl schon ein wenig bang um sein Seelenheil..."<br />

Im nächsten Moment drängte der Blonde die Piratin an die Reling und zielte mit einem Borndorn genau auf ihr<br />

Auge. "Fängst du nun auch noch an gegen Mercurio zu stänkern? Überhaupt: Niemand spricht hier d a v o n, hast<br />

du verstanden?"<br />

"Genug jetzt, he!" brüllte der Leutnant. Die Piraten, die kurz davor waren, aufeinander los zu gehen, drehten sich<br />

wieder um.<br />

"Also, was sollen wir machen, Emporio - Käpt´n?"<br />

"Ich schlage vor, dass wir nach Rulat segeln und dort unsere Gefangenen in die bodenlose Grube werfen. Dies<br />

wird die Ersäuferin gnädig stimmen, he?"<br />

"Verdammt, das ist doch Quatsch. Für den Inquisitor kriegen wir eine Heidenkohle, wenn wir ihn an die Blutsäufer<br />

verscherbeln. <strong>Das</strong> ist doch eine elende Verschwendung, bei Zholvar!"<br />

"<strong>Das</strong> eben macht ein Opfer aus, das es wertvoll ist, ihr Schwachköpfe. Mercurio hat seine Gunst bei Xeraan und<br />

den Paktierern in letzter Zeit ziemlich überstrapaziert. Also sollten wir machen, dass wir es wieder gewinnen. Oder<br />

wollt Ihr irgendwann der Plagenbringerin begegnen, he?"<br />

"Und Mercurio?"<br />

"Keiner weiß, ob er die Nacht überhaupt überleben wird, he?"<br />

55


Emporio merkte, dass die Mannschaft <strong>von</strong> seinem Vorschlag nicht allzu begeistert war. "Verdammt, ich führe jetzt<br />

das Kommando. Also wird auch gemacht, was ich sage, he? So, zuhören. Wir müssen unsere Schäden reparieren,<br />

aber erst, wenn der verdammte Pestodem nachlässt. Wir haben Glück im Unglück gehabt. Schmeißt die<br />

verdammten Kadaver da über Bord, nein wartet. Schmeißt sie erst morgen früh über Bord. Sonst kommen sie am<br />

Ende wieder oder bringen die Aranier doch noch auf unsere Spur, he?"<br />

"Und was wird mit der da?" Nele deutete auf Alvan, die benommen vor Schmerzen zurückgesunken war. "Geht die<br />

dann auch über Bord?" "Nein. Gion hat Recht. Sie ist eine verdammt gute Richtschützin und wir können Leute<br />

gebrauchen." Murren. Emporio legte einen seiner reichberingten Finger an das spitze Kinn. "Aber der Kampf war<br />

hart und schwer und ihr habt euch ein bisschen Vergnügen verdient. Also, habt ein bisschen Euern Spaß mit ihr, bis<br />

morgen früh. Ich werde nun noch einmal nach Mercurio sehen, he?"<br />

Wie durch Bausch bekam Alvan mit, wie ihre Fesseln gelöst und sie unter Deck gezerrt wurde. Im<br />

Mannschaftslogis warf man sie grob auf eine Kiste, nestelte an ihrem Gürtel. Alvan wollte sich wehren, aber ein<br />

halbes Dutzend Armpaare hielten sie fest, griffen nach ihrer Schulter und Händen, pressten ihre sich<br />

aufbäumenden Beine nach unten. Der hübsche junge Gion drängte sich grinsend nach vorn, griff an ihr<br />

Leinenhemd und riss es auseinander. Zwei spitze feste Brüste erschienen. Der Pirat prüfte grinsend die<br />

Brustwarzen und schlug dann lustvoll mit der flachen Hand zu, mitten in Alvans Gesicht. Wenn diese ihn jemals<br />

ansprechend gefunden hatte, so schwand dieses Gefühl schnell. "He, warum schneiden wir ihr nicht die Ohren ab?"<br />

kam <strong>von</strong> hinten der Vorschlag.<br />

"Dann ist sie auch kein Spitzohr mehr, he he!"<br />

"Blödmann! Willst du es mit einem Stummelohr treiben?"<br />

"Los, macht doch ein wenig Musik dazu!“<br />

Der Klang einer Handtrommel erklang. Gion legte sich schnaufend auf sein Opfer und bewegte sich zum Takt.<br />

Alvan verspürte seltsamerweise kaum Schmerzen, mehr Schmach und Kälte. Irgendwie fühlte sich das alles sehr<br />

ähnlich an wie der Holzpflock in ihrem Bein. Irgendetwas Schleimiges tropfte ihre Schenkel herab.<br />

"So, jetzt ist sie geschmiert. Wer ist der nächste?"<br />

***<br />

Sigismund blickte zu Odilon. „Wenn es einen richtigen Zeitpunkt gibt, dann ist er jetzt gekommen.“ Odilon nickte.<br />

Während des Gefechtes hatten sie nichts unternommen, denn wenn sie ohne Ketten an Bord gewesen wären hätten<br />

sie nur schwer ihre Unschuld erklären können, zumal sich Selbfried bei einer Befreiung durch die Aranier kaum an<br />

sein Wort gebunden gefühlt hätte. Doch jetzt, nachdem der Gefechtslärm vorbei war hatten sie möglicherweise<br />

gute Chancen. Einige der Piraten waren gewiss verletzt oder hatten gar den Tod gefunden, und erschöpft waren sie<br />

allemal. Sigismund reichte den noch immer versteckten Nagel an Odilon weiter, und dieser gab ihn dem neben ihm<br />

sitzenden Alrik. Der Friedwanger hatte auch jetzt keine größere Mühe, durch geschickte Bewegungen des Nagels<br />

im Schloss seine Handfesseln aufzuschließen. Dann machte er sich an die Ketten <strong>von</strong> Odilon und Sigismund, die<br />

ihm ebenfalls keine Schwierigkeiten bereiteten. Etwas länger dauerte es bei den Ketten Guneldes, das Schloss war<br />

wohl verrostet. Aber schließlich hatte Alrik auch hier Erfolg.<br />

Ein Geräusch war <strong>von</strong> draußen zu hören. Wieselflink huschte Alrik zurück an seinen Platz und legte sich die Ketten<br />

über die Hände, so dass es in dem trüben Licht nicht auffallen würde, dass er nicht angekettet war. Keinen<br />

Augenblick zu spät, denn schon erschien das Gesicht eines der beiden wachenden Piraten hinter dem Guckloch der<br />

Tür. Phex sei dank schöpfte dieser keinen Verdacht, nachdem er sich mit einem kurzen Blick vergewissert hatte<br />

dass alles ruhig war. Aber Odilon und Alrik war klar, dass sie nun nicht mehr erst alle <strong>von</strong> ihren Ketten befreien<br />

konnten, sonst würden sie riskieren, dass die Wachen Alarm schlügen. Mit einem kurzen Blick deutete er Alrik in<br />

Richtung der Tür. Alrik nickte. Der Friedwanger hatte verstanden worauf Odilon hinaus wollte.<br />

Odilon und Alrik warteten noch ein paar Minuten, dann erhoben sie sich leise und schlichen zur Tür. Von draußen<br />

waren Stimmen zu hören. Alrik hörte nicht wirklich zu, aber er vernahm die Namen Emporio und Mercurio.<br />

Offenbar lästerten die beiden Piraten über den Käpt´n und einen anderen der Matrosen. Gut so, solange die beiden<br />

lautstark debattierten würden sie den Gefangenen keine Aufmerksamkeit schenken.<br />

Die Tür ging nach innen auf, das war gut für sie, denn so konnten sie sie öffnen ohne dass die Piraten es merkten,<br />

wenn diese gerade mit dem Rücken zu ihr standen. Vorsichtig spähte Alrik durch eine Ritze in den Balken, dann<br />

deutete er Odilon an sich neben die Tür zu stellen und nach dem Öffnen der Tür sich den linken der beiden Piraten<br />

vorzunehmen. Alrik werde sich um den rechten kümmern. Odilon nickte.<br />

Mit einer vorsichten Bewegung drückte Alrik langsam die Klinke herunter. Odilon bemerkte erstaunt, dass Alrik<br />

offenbar viel Erfahrung in solchen Dingen hatte. Es war tatsächlich nichts zu hören, nicht einmal für Odilons feines<br />

Gehör. Mit einer langsamen Bewegung zog Alrik die Türe auf. Es war Glück für Alrik und Odilon, dass draußen<br />

56


ein leichter Lufthauch wehte, so dass die Piraten, die immer noch lautstark miteinander redeten, auch nicht durch<br />

einen Lufthauch oder eine veränderte Temperatur auf das Öffnen der Tür aufmerksam wurden.<br />

Dann ging es blitzschnell. Die Tür war offen, und auf Alriks Zeichen sprang Odilon hindurch und hieb mit einem<br />

mächtigen Schlag dem linken der Piraten die metallenen Handschellen, mit denen er eben noch gefesselt war, über<br />

den Schädel. Noch ehe der zweite Pirat sich <strong>von</strong> seinem Schrecken erholen konnte hatte Alrik ihn gepackt und ihm<br />

fest die Hand vor den Mund gepresst. Mit kräftigem Zug zerrte er den überraschten Piraten ins innere der Kammer,<br />

wo er ihn gemeinsam mit Sigismund fesselte und knebelte. Odilon schleifte den zweiten Piraten ebenfalls ins<br />

Innere, wo mit ihm in gleicher Weise verfahren wurde.<br />

„Alrik, Sigismund, ihr beide zieht die Kleidung der Piraten an!“ ordnete Odilon an. Instinktiv hatte Odilon das<br />

Kommando für das weitere Vorgehen ergriffen. „die beiden haben ungefähr Eure Statur. Danach übernehmt ihr die<br />

Posten der Piraten, damit nichts auffällt. Ich werde mir das Schiff inzwischen ein wenig ansehen. Gunelde soll sich<br />

um Hesindian kümmern. Aber zuvor, Alrik, kette noch den Inquisitor und seinen Gehilfen los. Sie sollen sehen,<br />

dass wir Ihnen vertrauen.“<br />

Sigismund nestelte am Verschluss einer Lederrüstung, und Alrik befreite nacheinander Hesindian, Selbfried und<br />

Corbenian. Dann legte auch der die zerschlissene Hose und das gestreifte Hemd an, das Sigismund für ihn bereit<br />

gelegt hatte. Dann prüfte er die Axt, die der Pirat getragen hatte. Keine besonders gute Axt, aber immerhin war er<br />

nun bewaffnet. Sigismund hatte sich einen Säbel umgebunden, und Odilon hatte sich die beiden Messer der Piraten<br />

angeeignet. Er würde sie gebrauchen können, wenn er das Schiff erkundete. Er mußte Waffen für seine Kameraden<br />

finden. Und er mußte feststellen, wie viele Piraten noch an Bord waren. Vor allem aber mußte er Alvan finden. Er<br />

ließ seinen Blick über das Deck schweifen. Es war noch immer neblig, und zudem brach die Nacht herein. <strong>Das</strong> war<br />

sehr gut. Alrik und Sigismund hatten sich an die Wand neben der Tür gelehnt und hielten eifrig Wache. Wer nicht<br />

direkt in ihre Gesichter schaute, der würde den Schwindel wohl nicht durchschauen.<br />

Odilon erspähte einen Mann, der achtern stand und das Steuer bediente. Und er hörte zahlreiche Stimmen und<br />

grölende Laute unter Deck. Offenbar befand sich dort das Gros der Piraten und feierte den Sieg über die Aranier.<br />

Sollten sie. Je mehr sie trinken würden, umso besser für ihn. Odilon steuerte daher zuerst den Bugaufbau an. <strong>Das</strong><br />

Deck war bis auf den Steuermann völlig leer, ohne irgendjemandem zu begegnen erreichte Odilon sein Ziel. Odilon<br />

sah drei tote Piraten aufgebahrt, darunter die Piratin, die ihm schon einmal aufgefallen war. Sehr gut. Drei Piraten<br />

weniger, die es zu bekämpfen galt.<br />

Am Bugaufbau angekommen vernahm Odilon ein Geräusch. Es kam aus dem inneren des Aufbaus. Leise Schritte!<br />

Odilon presste instinktiv sein Ohr an die Wand und lauschte. Richtig, in der Kajüte, die der Lage nach zu urteilen<br />

einem Offizier, vielleicht gar dem Kapitän gehörte, befand sich jemand. Odilon stieg die Leiter herauf, die auf den<br />

Bugaufbau führte. Vielleicht konnte er <strong>von</strong> oben durch eine Ritze in den Planken einen Blick erhaschen.<br />

Mittlerweile war die Nacht gänzlich herein gebrochen. Es war so finster, dass man nicht einmal mehr vom Bug bis<br />

zum Heck sehen konnte. Odilon suchte den Bugaufbau ab. Zwei Rotzen und zwei Hornissen befanden sich dort,<br />

beide unbesetzt, aber eine Ritze um in den darunter liegenden Raum zu schauen suchte Odilon vergeblich.<br />

Tock Tock Tock. Leise Schritte waren zu hören. <strong>Das</strong> Geräusch kam vom Deck her, nicht aus der Kajüte unter ihm.<br />

Die Schritte wurden lauter, die Person näherte sich also. Aber ob der Unbekannte sich der Kajüte nähern wollte<br />

oder ob er den Bugaufbau erklimmen wollte konnte Odilon nicht erahnen. Vorsichtshalber stieg Odilon über die<br />

Reling und hielt sich mit einer Hand an einem Belegnagel fest. Mit den Füßen stützte er sich an der Bugwand des<br />

Schiffes ab. Hier würde ihn niemand entdecken.<br />

Und Odilon hatte gleich noch einmal Glück. Ein verglastes Fenster gewährte ihm ungehinderten Blick in die<br />

Kajüte. Einen gefahrlosen Blick hinzu, denn die Dunkelheit lies das Glas <strong>von</strong> innen wie einen Spiegel wirken,<br />

während man <strong>von</strong> außen hineinschauen konnte, ohne entdeckt zu werden.<br />

Odilon erblickte einen Mann, der schwer atmend und augenscheinlich ohne Bewusstsein auf einer Pritsche lag.<br />

War das nicht der Kapitän? Dachte Odilon. Und er sah noch eine zweite Gestalt. Ein Mann war damit beschäftigt,<br />

etwas in ein Buch zu schreiben. Vielleicht das Logbuch? Mutmaßte Odilon. Vielleicht war das der erste Offizier<br />

des Kapitäns, der etwas in das Logbuch schrieb? Möglich, dachte Odilon. Aber vermutlich dachte er viel zu<br />

militärisch. Wer vermochte schon zu sagen, wie die Mannschaft auf einem xeraanischen Piratenschiff strukturiert<br />

war. Dann stand der Mann auf, nahm ein Kissen, und drückte es dem Kapitän ins Gesicht. Wollte der Mann ihn<br />

etwa ersticken? <strong>Das</strong> mußte es sein! Der Pirat wollte seinen Kapitän dessen Verletzung nach der vergangenen<br />

Schlacht ausnutzend meucheln. Womöglich um selbst die Stelle des Kapitäns einnehmen zu können. Wie auch<br />

immer, Odilon konnte es nur recht sein, wenn die Piraten sich selbst bekämpften.<br />

Plötzlich öffnete sich die Türe. Ein Pirat, ein älterer Pirat mit blonden Haaren betrat die Kajüte und sah, wie der<br />

eine Pirat den Kapitän ersticken wollte.<br />

„Ich wusste es! Du willst selbst Kapitän werden, Emporio. Aber das wird Dir nicht gelingen!“<br />

„Du wärst besser bei den anderen geblieben, Algondo. Jetzt muss ich Dich töten!“<br />

Algondo zog seinen Säbel, und Emporio griff nach einem Schwert, das neben dem bewusstlosen Kapitän lag. Beide<br />

holten aus. Mit kräftigem Schwung prallten die beiden Klingen aufeinander, so dass die Funken stoben. Algondos<br />

Klinge zerbrach, und mit ungläubigem Blick sah der Pirat seiner zu Boden fallenden Klinge hinterher, während er<br />

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nur noch den Griff in der Hand hielt. <strong>Das</strong>s Emporio sein Schwert bis zum Heft in die Brust Algondos stieß<br />

bemerkte dieser wohl gar nicht mehr.<br />

Odilon grinste. Wieder ein Pirat weniger. Natürlich hatte Algondo keine Chance gehabt mit seinem Säbel. Eine<br />

schartige Piratenklinge konnte einem guten Schwert wie dem, das Emporio geschwungen hatte, nicht widerstehen.<br />

Odilon hatte die Waffe natürlich sofort erkannt. Es war Wandelur, sein Schwert, das in dieser Kajüte aufbewahrt<br />

wurde. Er sah auch Bavhano Bvaith und die Klingen seiner Gefährten in der Kapitänskajüte. Emporio legte das<br />

Schwert ab und zerrte den Leichnam Algondos zur Reling, um ihn über Bord zu werfen. Odilon nutzte die Gunst<br />

des Augenblicks und zog sich wieder nach oben. Mit raschen leisen Schritten betrat er die Kapitänskajüte, während<br />

man <strong>von</strong> draußen ein Platschen hörte. Emporio hatte Algondos Leichnam wohl gerade im Golf <strong>von</strong> Perricum den<br />

Fischen zum Fressen vorgeworfen. Mit einem hundertmal vollführten Handgriff spannte der Waldläufer seinen<br />

Bogen und legte einen Pfeil ein. Als Emporio wieder die Kajüte betrat merkte er noch nicht einmal, wie ihm<br />

geschah. Emporio fiel nach hinten ohne auch noch einen Schrei <strong>von</strong> sich geben zu können. Odilons Pfeil steckte in<br />

seinem Hals. Odilon schauderte kurz, ehe er Emporio in die Kajüte zerrte. Er hatte noch niemals gerne getötet, aber<br />

es war keine Wahl geblieben, wollte er die Befreiung seiner Gefährten nicht aufs Spiel setzen. Odilon lächelte<br />

siegesgewiss. Wenn es zuvor noch etwa zwanzig Piraten an Deck waren, dann dürften es jetzt nicht mehr als zwölf<br />

sein. Und die waren wohl größtenteils betrunken unter Deck. Drei lagen tot an Deck, zwei waren überwältigt bei<br />

seinen Gefährten, und zwei weitere hatten hier ihren Tod gefunden. Und der Kapitän schließlich lag in seiner<br />

Kajüte. Er hatte schon schwierigere Aufgaben zu lösen gehabt. Dann fesselte und knebelte er vorsichtshalber noch<br />

Mercurio, obwohl dieser ohnehin nicht bei Bewusstsein war, ehe er die Waffen seiner Gefährten zusammensuchte<br />

und zurück zu dem Raum im Heckaufbau ging, wo seine Gefährten auf ihn warteten.<br />

Wenige Minuten später war Odilon zurück bei seinen Gefährten und übergab ihnen ihre Waffen. Auch die<br />

Schwerter Selbfrieds und Corbenians hatte Odilon gefunden. Mit kurzen leisen Worten unterrichtete er sie über<br />

seine Erkenntnisse. Zwölf, maximal dreizehn Piraten waren wohl noch an Bord. Einer war hinten am Steuer, die<br />

anderen unter Deck, teilweise feiernd – noch immer waren laute grölende Geräusche zu hören – teils wohl auch<br />

schlafend. Jedoch waren <strong>von</strong> den Gefährten lediglich Odilon und Alrik gänzlich einsatzbereit. Gunelde war<br />

ohnehin keine gute Kämpferin, und Hesindian war noch zu sehr mitgenommen <strong>von</strong> der Verstümmelung seiner<br />

Zunge und seinen besonders engen Fesseln. Natürlich waren auch noch die beiden Praioten anwesend, die wohl<br />

auch erfahrene Kämpfer waren. Sigismund litt immer noch an den Folgen seiner Misshandlung durch den<br />

Inquisitor und war wohl nur zur Hälfte einsatzbereit. Und wo Alvan verblieb vermochte niemand zu sagen. Mit ihr<br />

wären sie wenigstens zu sechst gewesen. Aber sie hatten die Überraschung auf ihrer Seite.<br />

„Was nun, wie sollen wir weiter vorgehen?“ fragte Selbfried.<br />

„Wir können es vielleicht auf ein Gefecht ankommen lassen, wenn wir geschickt vorgehen. Ich denke aber, wie<br />

sollen zuerst noch den Steuermann ausschalten, der ist schließlich allein und kann uns dann nicht mehr in den<br />

Rücken fallen. Und da ohnehin nur ein leichter Wind weht dürfte es vorübergehend ausreichen, das Ruder mit<br />

einem Seil zu fixieren“ schlug Sigismund vor.<br />

„<strong>Das</strong> könnte klappen.“ Dann sind es aber immer noch ungefähr ein Dutzend Piraten. Und wir sind zu fünft. Und<br />

selbst wenn wir sie besiegen, wer soll dann das Schiff steuern?“ fragte Alrik. Ich bin zwar schon mal zur See<br />

gefahren, aber <strong>von</strong> der Steuerung eines Schiffes hab ich wenig Ahnung.“<br />

„<strong>Das</strong> Wissen hierzu müßte Alvan haben.“<br />

„Wenn sie überhaupt noch lebt. Wir wissen ja bislang nicht, was die Piraten mit ihr gemacht haben.“ Warf Gunelde<br />

ein. Wenn ich Pirat wäre wüsste ich, was ich mit ihr täte, dachte Sigismund. Aber wohlweislich sprach er das nicht<br />

aus, sondern sagte nur: „ich bin mir sicher, dass sie noch am Leben ist. Ihren Tod hätte ich gespürt.“<br />

„Ich kenne mich auch etwas aus mit Schiffen. Ich hab schon mal einen Segler gesteuert... Allerdings war das nur<br />

ein Fischerboot“ räumte Odilon ein.<br />

„Notfalls können wir das Schiff in den Wind drehen und mit Leuchtraketen um Hilfe rufen. Wir sind immer noch<br />

nahe der aranischen Küste“ schlug Sigismund vor.<br />

„Und dann werden wir vielleicht noch <strong>von</strong> anderen Piraten gefunden? Man weiß nie, wer hier noch so alles übers<br />

Meer kreuzt.“ Gab Gunelde zu bedenken.<br />

„Zuerst müssen wir die Piraten besiegen. Und was danach kommt, ich bin mir sicher, dass Alvan und ich das Schiff<br />

steuern können. Zumindest wenn das Wetter ruhig bleibt und kein Sturm aufkommt. Hierfür wird sich eine Lösung<br />

finden. Aber jetzt müssen wir erst die Piraten überwältigen. Alrik, kannst Du den Steuermann lautlos<br />

überwältigen?“<br />

„Ich denke schon.“<br />

Gut, dann werden Sigismund und ich sowie, wie ich hoffe, Ihre Gnaden Selbfried und Corbenian den Zugang zum<br />

Deck im Auge behalten, bis Du fertig bist.“ Alrik nickte. Auch <strong>von</strong> den beiden Praioten kam kein Widerspruch.<br />

Odilon war freudig überrascht, dass Selbfried nicht das Kommando an sich reißen wollte.<br />

Alrik bewegte sich mit ebenso flinken wie leisen Schritten zur Reling, kletterte behände mit den Händen sich an<br />

der Reling festhaltend an der Bordwand entlang und zog sich dann direkt hinter dem Steuermann nach oben. Der<br />

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Pirat ahnte nicht, wer da hinter ihn trat, er spürte nur plötzlich den Dolch an seiner Kehle und vernahm die<br />

bestimmt flüsternde Stimme „Keinen Laut!“ Der Pirat war völlig überrascht und wehrte sich nicht, als Alrik ihn<br />

fesselte und knebelte. Dann fixierte Alrik das Ruder und kehrte zurück.<br />

<strong>Maraskan</strong>ische Philosophie und die Elfische Mentalität hatten, wenn man es genau betrachtet, eigentlich viele<br />

Gemeinsamkeiten. Und das was sie nicht gemeinsam hatten, das ergänzte sich gut zu einem nahezu vollkommenen<br />

Ganzen. Es wäre eine interessante Frage, was geschehen wäre, wenn Elfen nach <strong>Maraskan</strong> gezogen wären und sich<br />

die Weltanschauung beider Völker vermischt hätten.<br />

Jedenfalls war Alvan in diesem Moment sehr froh darüber, dass sie, bevor sie damals zu ihrer großen Reise in den<br />

Süden aufgebrochen war, <strong>von</strong> ihrer Mutter vieles über die Elfen gelernt hatte. Die Elfen waren ein Volk, das seine<br />

Stärke nicht darin suchte, die Natur zu beherrschen, sondern darin, sich ihr so gut als möglich anzupassen. Die<br />

Elfen verstanden sich deshalb so gut darauf, weil sie die mehr als alle anderen Völker Aventuriens die einzigartige<br />

Fähigkeit hatten, zwischen ihrem Geist und ihrem Körper zu trennen. Die Elfen konnten es mit ihrem Verstand<br />

erfassen, was sie wirklich benötigten und mussten daher nicht, so wie viele Menschenvölker, ihren kurzfristigen<br />

körperlichen Bedürfnissen nachgeben. Nur so waren die Elfen in der Lage gewesen, seit Anbeginn der überlieferten<br />

Geschichte in Aventurien zu leben und zu überleben. Auch Äonen nach dem Untergang der elfischen Hochkultur<br />

war das Volk der Elfen als solches noch immer existent.<br />

Alvan war froh, dass sie diese Fähigkeit, sich allein auf den Geist zu konzentrieren und alles körperliche weit hinter<br />

ihrer Bewusstseinsebene zu lassen, <strong>von</strong> ihrer Mutter erlernt hatte. Jirka Athrawaneja vom Stamm der Oladin hatte<br />

nur aufgrund dieser Fähigkeit ihrerseits ihre lange Gefangenschaft überstanden, wie Alvan wusste. Und weil Alvan<br />

dies <strong>von</strong> ihrer Mutter gelernt hatte gelang es ihr, was mit ihr geschah, aus ihrem Bewusstsein auszublenden und<br />

sich mit den Gemeinsamkeiten <strong>Maraskan</strong>ischer und Elfischer Weltanschauung zu beschäftigen.<br />

Die Elfen genossen die Schönheit der Welt auf die ihnen ureigene intensive Weise. Sie strebten danach, die<br />

Schönheit der Welt zu erhalten im Gegensatz zu den Garethjas, die es im Sinne hatten, ganz Aventurien ihrem<br />

Wirken zu unterwerfen. Ein Garethisches Reich zu schaffen, das alle Regionen umfassen sollte vom tropischen<br />

Süden bis zum kalten Norden. <strong>Das</strong> gleiche hatten die Menschen im Bosparanischen Reich im Sinn. Der Schönheit<br />

der Welt war es dienlich, dass es beide gab, denn so konnte sich die Stärke beider Reiche auch gegeneinander<br />

richten, damit es zu keiner Zeit einem der beiden gelang, das Erstrebte zu erreichen. Die <strong>Maraskan</strong>er hingegen<br />

waren den Elfen nicht unähnlich. Sie hatten es längst aufgegeben, den Dschungel <strong>Maraskan</strong>s beherrschen zu<br />

wollen, denn das wäre auch schlicht unmöglich gewesen. Sie teilten sich das Land mit allen anderen Kreaturen der<br />

Insel. Sie hatten ihre vier Städte und ihre Dörfer, und gemeinsam mit allen anderen Kreaturen <strong>Maraskan</strong>s mehrten<br />

sie auf diese Weise die Schönheit der Insel.<br />

<strong>Das</strong> Schicksal eines jeden Menschen, der <strong>von</strong> sich aus nichts Böses im Schilde führte, war der Schönheit der Welt<br />

dienlich. Wer nach eigennütziger Macht strebte, der würde irgendwann fallen. Wer aber seinen Platz in der Welt<br />

wie Rur sie geformt hat suchte, dem würde der rechte Platz zugewiesen werden. So hat Rur in seiner Weisheit den<br />

Weltendiskus erschaffen. Und so hatte auch ihr Schicksal einen Sinn. Wäre sie eine <strong>Maraskan</strong>erin, so hätte sie den<br />

Sinn jedoch nur als vorhanden postulieren können. Da sie aber die Tochter einer Elfe war konnte sie diesen auch<br />

begreifen.<br />

Denn die Elfen, die ihrem Geist eine weitaus höhere Bedeutung beimaßen als ihrem Körper hatten auf diese Weise<br />

besondere Fähigkeiten entwickelt. Elfen konnten die Empfindungen anderer Elfen, denen sie nahe standen, spüren.<br />

<strong>Das</strong> reichte soweit, dass sogar ein stummer Gedankenaustausch möglich war, wenn beide Elfen sich aufeinander<br />

konzentrierten. Der Magister Veneficus zum Beispiel hatte diese Thesis des Elfen-Rufes, wie er es nannte,<br />

ebenfalls erlernt. Er konnte ihn anwenden, mit anderen Maga mit gleicher Kenntnis der Thesis kommunizieren,<br />

aber letztlich würde er ihn nie völlig verstehen. Ihr Vater Odilon hingegen war der Magie ungefähr so weit mächtig<br />

wie der leere Panzer einer <strong>Maraskan</strong>-Tarantel. Aber dennoch konnte er sich mit Jirka auf die gleiche Weise<br />

verständigen, weil er die elfische Weltanschauung doch soweit verinnerlicht hatte, und weil er seiner Gefährtin<br />

eben sehr nahe stand, ohne diese „Thesis“ erlernt zu haben. Und auch Alvan war doch recht gut in der Lage, sich in<br />

gleicher Weise mit den Gedanken ihrer Mutter oder ihrer Schwester auszutauschen, obwohl sie im Vergleich zu<br />

den genannten weitaus weniger gut dazu in der Lage war, ihren Geist mit der Natur im Einklang schwingen zu<br />

lassen. Ihrem Vater ging es vielleicht manchmal ebenso, insoweit konnte sie die Gedanken ihres Vaters mitunter<br />

erahnen, auch wenn sie dabei nicht immer richtig vermutete. Aber sie hatte, als sie vor gut einer Stunde an ihn<br />

dachte, ein deutliches Klicken vernommen. Ein Klicken als hätte man das Schloss an seinen Ketten aufgebrochen.<br />

Und daher wusste sie nun, warum ihr Schicksal der Schönheit der Welt dienlich war. Acht Piraten waren damit<br />

beschäftigt, hier ihren Sieg über die Aranier zu feiern. Wenn sie <strong>von</strong> den gesamt zwanzig Piraten an Bord dieses<br />

Schiffes die drei Toten und den gefangenen Kapitän abzog verblieben noch weitere acht Schurken an Bord des<br />

Schiffes. Die Kampfkraft der Piraten war also geteilt, und solange sie ihr Schicksal zu erleiden hatte hatten ihre<br />

Gefährten die Möglichkeit, die anderen acht Piraten einen nach dem anderen zu erledigen, ohne dass diese ihre<br />

Peiniger da<strong>von</strong> etwas mitbekamen, da deren Aufmerksamkeit ja auf sie und das hier Geschehende gerichtet war.<br />

59


Und die Gewissheit, dass wohl die meisten ihrer Peiniger bald tot sein würden erleichterte es ihr ungemein, ihr<br />

derzeitiges erniedrigendes Schicksal zu ertragen.<br />

Alvan bekam es kaum noch mit, als nach Gion sich der dritte an ihr zu schaffen machte. In Gedanken konzentrierte<br />

sie sich auf ihre Gefährten. Sie wusste, dass Odilon nicht weit <strong>von</strong> ihr entfernt war. Zwei Luken führten in den<br />

großen Laderaum unter Deck. Eine befand sich unmittelbar in der Mitte des Decks, gleich hinter den Piraten. Eine<br />

andere befand sich am Heck des Schiffes. Diese Luke war durch die Kapitänskajüte erreichbar. Sie konnte diese<br />

Luke nicht einsehen, die Piraten ebenso wenig, denn sie war hinter einigen Kisten und Segeltuchballen verborgen.<br />

Aber Alvan konnte es spüren, dass Odilon sich dort im Verborgenen aufhielt und im geeigneten Moment<br />

losschlagen würde.<br />

Zwei dumpfe Aufschläge waren zu hören. Einige der Piraten drehten sich um und erblickten die beiden Praioten,<br />

die durch die mittschiffs gelegene Luke nach unten gesprungen waren und erhobenen Schwertes auf die Piraten<br />

zustürmten. Etwas Warmes tropfte auf Alvans Bauch. Blut. Ein Pfeil ragte aus dem Hals ihres Peinigers.<br />

Selbfried hatte mit seinem Schwert einen Piraten erschlagen, noch ehe dieser zu seinem Säbel greifen konnte. Die<br />

verbleibenden Piraten – Odilon zählte ein halbes Dutzend, griffen nach ihren Säbeln, Äxten und Messern und<br />

stellten sich zum Kampf.<br />

Alrik stürmte nach vorne und schlug mit dem Schwert nach einem Piraten, der sich unter dem Schlag duckte und<br />

dem Friedwanger mit seinem Säbel attackierte. Sigismund warf seinen Dolch nach einem Piraten, jedoch verfehlte<br />

er ihn um eine Handbreit. Plötzlich war ein Pirat mit einem Knüppel heran und drosch diesen dem verdutzten<br />

Helligfarner, der gerade mal noch wegtaumeln konnte um seinen Kopf zu schützen, über die Schulter. Benommen<br />

stürzte Sigismund zu Boden. Der zweite Hieb hätte ihm wohl den Garaus gemacht, wäre Odilon nicht zur Stelle<br />

gewesen und hätte den Piraten mit einem kurzen Stich besiegt. Noch bevor der Körper des Toten zu Boden gefallen<br />

war stellte er sich einer Piratin – Alvan hätte sie als Nele erkannt – zum Kampf.<br />

Corbenian hatte weniger Glück. Seine Klinge blieb an einem herabhängenden Tau hängen und verlor an<br />

Schnelligkeit. So konnte er den Axthieb nicht parieren, und unter dem Streich der Piratin brach er zusammen. Sie<br />

widmete dem Sterbenden jedoch keine weitere Aufmerksamkeit, sondern griff Selbfried an. Auch Gion griff nach<br />

seinem Messer und wollte Selbfried, der ihm im Kampf mit der Piratin den Rücken zuwandte, attackieren. Doch<br />

Alvan sprang auf und klammerte sich <strong>von</strong> hinten um den Hals des Blondschopfs. Ob der Wucht des Aufpralls<br />

stürzten beide zu Boden. Gion kam mit dem Rücken auf Alvan zu liegen, aber ihre Arme hielten den Kopf und<br />

Hals des Piraten weiter umklammert. Alvan schrie auf, als Gion seinen Dolch in ihr bereits verletztes Bein stieß,<br />

aber dennoch hielten ihre Arme seinen Hals weiter umklammert. Gion hingegen spürte es nicht mehr, als Alvan<br />

ihm mit einem kurzen kräftigen Ruck das Genick brach.<br />

Auch Alriks Gegner war unter einem Hieb des Friedwangers verwundet zu Boden gesunken. Die anderen beiden<br />

Piraten, die soeben noch mit Odilon und Selbfried gefochten hatten, ergaben sich angesichts der nun entstandenen<br />

Übermacht. Keine zwei Minuten waren vergangen, seitdem Odilons Schuß das Zeichen zum Angriff gegeben hatte.<br />

Und keine fünf Minuten mehr dauerte es, bis alle Piraten – drei weitere hatten die Gefährten schlafend in ihren<br />

Hängematten gefunden – überwältigt und gefesselt waren.<br />

***<br />

"Nun regt Euch mal ab, Odilon!" Alrik wirkte tatsächlich beruhigend, wie er da am großen Kartentisch der<br />

Kapitänskajüte saß und an seiner Pfeife paffte, ein halbvolles Glas maraskanischen Rum vor sich. Mit einem<br />

begütigenden Lächeln schob er Odilon, der dumpf brütend auf dem Kapitänsstuhl saß, ein Schälchen zu:<br />

"Probiert da<strong>von</strong>. Bestes Bornisches Gebäck, will mir scheinen!"<br />

Der Waldläufer sah den Baron eher teilnahmslos als zornig an: "Kommt mir jetzt nicht mit bornischem Gebäck! Ich<br />

sage: wir machen kurzen Prozess und hängen die Schurken alle auf! Denn da als erstes!"<br />

Odilon deutete auf das Bett, in dem der Kapitän lag, verschnürt wie einer der tulamidischen Teppiche im<br />

Lagerraum. Noch immer hatte Mercurio das Bewusstsein nicht wieder erlangt, was seltsam war, denn seine<br />

Brandwunden waren Gunelde eher harmlos erschienen. Lediglich eine Beule am Hinterkopf hatte darauf<br />

hingewiesen, dass er <strong>von</strong> dem hinterhältigen Emporio niedergeschlagen worden war, vermutlich mit einem<br />

Belegnagel.<br />

Alrik seufzte: "Ich kann ja verstehen, dass Ihr zornig seid. Diese Schufte haben Eure Tochter miss... misshandelt<br />

und den Tod sicherlich mehr als verdient. Aber... Apropos, wie geht es Alvan eigentlich?"<br />

Die Frage galt Gunelde, die sich gerade eben noch einmal über den Schwarzen Mendener gebeugt hatte. "Sie<br />

schläft, nebenan im Bett des Leutnants. Ich habe ihre Wunde verbunden und ihr ein heilkräftiges Tränklein<br />

gegeben. Ich denke, morgen wird es ihr schon wieder besser gehen. Leider habe jetzt keine Heiltrank mehr. Die<br />

eine Hälfe für Hesindian, die andere für Alvan.“<br />

"Nun denn, die beiden hat es auch am schlimmsten erwischt. Meister Selbfried dürfte einstweilen als Kettenhund<br />

genügen, um die Gefangenen im Verschlag zu bewachen. "<br />

60


Der Friedwanger nickte selbstzufrieden. "Die Burschen sind gut verschnürt, außerdem habe ich für alle Fälle<br />

Glasscherben vor der Tür ausgestreut. <strong>Das</strong> beste Mittel gegen barfüßige Piraten..."<br />

Alrik grinste und wies auf die großen Glasfenster in seinem Rücken, an denen vorbei noch immer der grünliche<br />

Nebel wallte.<br />

"Wo war ich stehen geblieben? Ach ja . . . Noch haben wir Flaute, und die Fran-Horas. . ."<br />

Sigismund, der einer der Seekarten studierte, blickte auf: "Nennt sie nicht Fran-Horas. <strong>Das</strong> Schiff hieß einmal<br />

Asmodena-Horas, hat Alvan gesagt, und wir sollten es jetzt wieder bei seinem göttergefälligen Namen nennen."<br />

"Da habt Ihr zweifelsohne Recht. Aber noch einmal: Sobald dieser verfluchte Nebel und die Windstille nachlässt,<br />

werden wir die Hilfe zumindest einiger der Piraten brauchen, um die F... Asmodena-Horas wieder an Land zu<br />

bringen. Zumal uns die aranische Katze vorhin ganz schön gekratzt hat. Ich verstehe zwar nicht viel <strong>von</strong> der<br />

efferdgefälligen Seefahrt - und noch viel weniger <strong>von</strong> der efferdungefälligen - aber die Takelei oder wie das heißt,<br />

die Takeldingsbums sieht ganz schon lidschäftig aus, bei allem, was da so runter oder in Fetzen hängt. Außerdem<br />

haben wir einen Treffer steuerbord, oder backbord, Phex, da soll sich einer auskennen, jedenfalls ziemlich knapp<br />

über der Wasserlinie, so sagt man doch, oder? - ein Loch, das bei stärkerem Seegang mit einiger<br />

Wahrscheinlichkeit vollaufen dürfte. <strong>Das</strong> muss unbedingt abgedichtet werden. Aber dafür brauchen wir einen<br />

Schiffszimmermann oder so was. Dann die sonstigen Schäden. Kurzum: Wir haben bislang nicht einmal ein voll<br />

segeltaugliches Schiff, geschweige denn eine Mannschaft."<br />

Sigismund nickte: "Ich finde auch, wir sollten nichts überstürzen. Um so ein Schiff zu reparieren und zu steuern,<br />

braucht es mehr als zwei Leute. Versteht mich recht, Odilon, ich hätte auch gute Lust, diese Schweine<br />

niederzustrecken, für das, was sie...." Der Kavalier brach ab.<br />

"Aber Ihr habt sie vorhin wirklich schon genug verdroschen. Ich finde, das genügt für heute."<br />

Odilon schnaufte schwer und griff dann noch einmal nach der Rumflasche, um seinen Becher zu füllen: "Schon<br />

recht. Wir brauchen dringend eine geübte Mannschaft, das sehe ich genauso, sonst saufen wir beim ersten Sturm<br />

gnadenlos ab. Aber woher nehmen? Unten im Verschlag hocken neun Gefangene, einige da<strong>von</strong> verwundet. Ich<br />

würde schätzen, dass wir schon alle Gesunden brauchen, um das Schiff bei einigermaßen ruhiger See und<br />

günstigem Wind steuern zu können. Ein Sturm darf dann immer noch nicht aufkommen. Aber wir können die<br />

Dreckigen nicht einfach so frei herumlaufen zu lassen, auch ohne ihre Waffen nicht." Odilon wuschelte sich ratlos<br />

durch den löwenmähnigen Kopf. "So wie es aussieht, sind wir so oder so völlig unterbesetzt. Vergesst nicht, dass<br />

sich schon ein Teil der Mannschaft auf der `Greif´ befunden hat, dann die Verluste im Kampf, schließlich durch<br />

uns. Wie es aussieht, haben wir gerade ein ausgewachsenes Problem."<br />

Alrik lachte höhnisch auf und paffte dabei einige hektische Kringel: "<strong>Das</strong> haben wir schon seit Zorgan. Eine<br />

Begegnung mit der Heiligen Inquisition, ein Piratenüberfall und zwei Seegefechte - und ich dachte gestern früh<br />

schon, der Tag würde genauso langweilig wie all die anderen seit Rommilys!"<br />

Gunelde sah ebenfalls nach draußen, wo der Pestodem in dicken Schwaden vorüberzog. "Sollte nicht jemand <strong>von</strong><br />

uns oben am Steuerrad stehen?"<br />

"Nicht nötig. Zurzeit sind wir ohnehin nur ein Spielball für die Strömung. Ein Stück Treibgut, mehr nicht..."<br />

Sigismund sah mit der gut gespielten Miene des erfahrenen Seefahrers auf die Karte: "Laut Kompass werden wir<br />

schon seit Stunden hinaus aufs offene Meer getrieben."<br />

"Willkommen auf der Blutigen See!" Odilon lächelte müde und gähnte verhalten. "<strong>Das</strong> ist das nächste Problem.<br />

Schlafen müssen wir auch irgendwann und eher bald als spät. Ausschlafen, eine Horde Gefangene bewachen und<br />

ein Schiff durch derart unheilige Gewässer steuern, - das ist ein bisschen viel auf einmal. Ich glaube, ich gebe es<br />

auf."<br />

"Nicht Ihr auch noch!" Alrik lächelte spöttisch. "Meister Selbfried habt Ihr schon dazu gebracht, dass er gegenüber<br />

Eurer Autorität als Fischkutterkapitän das Tuch geworfen hat - das Altartuch sozusagen. Ich möchte ehrlich gesagt<br />

nicht das Kommando auf so einem Haufen fauliger Planken übernehmen müssen. Aber Ihr habt recht, ein wenig in<br />

Borons Armen ruhen wäre jetzt nicht schlecht. Jedenfalls bis Tagesanbruch!"<br />

"Boron! Boron!" krächzte es aus der Ecke. Mercurios Papagei, der die ganze Zeit gedöst hatte, war aufgewacht und<br />

flatterte missmutig herum.<br />

"Ach du liebe Güte. Der Papagei, den hätte ich beinahe schon vergessen!"<br />

"Boron! Boron!"<br />

"<strong>Das</strong> ist das erste Mal, dass er einen derart heiligen Namen in seinem hässlichen Schnabel führt!"<br />

"Boron! Boron!"<br />

"Heiliger Name?" Sigismund schlug das Praioszeichen. "Mir geht er auf die Nerven damit! Richtig unheimlich ist<br />

das. Sei endlich still, du Untier!"<br />

"Boronwein! Boronwein!" krächzte es unverdrossen zurück.<br />

"Was meint er?" Gunelde blickte auf. "Boronwein?"<br />

"Boronwein! Noch ein Schlückchen Boronwein! Trink, Mercurio! Trink! Wird dein letzter sein! Boronwein!<br />

Letzter sein!"<br />

61


"Egal, was das Mistvieh krächzt, es soll damit aufhören!" Sigismund warf ein Plätzchen auf den Papagei, der es<br />

geradezu niederhöllisch geschickt mit dem Schnabel auffing und geräuschvoll verspeiste.<br />

Die Therbûnitin schüttelte geistesabwesend den Kopf, ging zum ohnmächtigen Kapitän hinüber und schnupperte an<br />

dessen Bart. Alrik und Sigismund sahen sich lange an. Offenbar fragten sie sich gerade beide, ob die<br />

Perainedienerin noch recht bei Sinnen war. Odilon wirkte teilnahmslos. Alriks Schwester schnippte mit den<br />

Fingern.<br />

"Tatsächlich, Lakritze. Es riecht schwach nach Lakritze. <strong>Das</strong> ist also das Geheimnis."<br />

"Was für ein Geheimnis, Schwesterchen? <strong>Das</strong> Xeraanier keine Süßigkeiten vertragen, ohne aus den Latschen zu<br />

kippen?"<br />

"Unsinn, Alrik. Dieser Emporio hat dem Käpt´n Boronwein eingeflösst, um eine Art Fieber vorzutäuschen. <strong>Das</strong> ist<br />

ein starker Rauschtrunk, der aus der Milch der Vragieswurzel hergestellt wird. Riecht schwach nach Lakritze."<br />

"Sprach der Heilige Therbûn." Alrik schüttelte halb spöttisch, halb unwillig den Kopf. "Was hilft uns diese<br />

pflanzenrundlich zweifelsohne außerordentlich wertvolle Erkenntnis?"<br />

Gunelde schwieg beleidigt, also antwortete Odilon an ihrer Stelle: "Nun, das bedeutet, dass es irgendwo auf dem<br />

Schiff, vermutlich in Emporios Kajüte, ein Fläschchen mit Boronwein gibt. Vor allem bedeutet es, dass der gute<br />

Mercurio jetzt da<strong>von</strong> abhängig ist. <strong>Das</strong> heißt, wir haben ein gutes Druckmittel in der Hand, um ihn gefügig zu<br />

machen, falls er wieder zu sich kommen sollte. Immerhin, das ist wirklich eine Erkenntnis."<br />

In diesem Augenblick ging die Tür zur Großen Kajüte auf. Odilon griff reflexartig zu Wandelur, das neben ihn<br />

gegen den Kartentisch lehnte, und auch Alrik griff zu seinem Schwert.<br />

Als er den Inquisitor sah, der eine gefesselte Piratin herbeizerrte, beruhigte er sich wieder: "Ach Ihr seid es,<br />

Hochwürden? Was gibt es?"<br />

Odilon musterte die Piratin: eine bleiche, etwas pummelige Frau mit braunen Haaren und Kopftuch. Weder<br />

besonders hässlich, noch besonders hübsch. Eher unscheinbar.<br />

"<strong>Das</strong> Weib hier... Es will angeblich mit uns zusammenarbeiten. Behauptet, sie stamme <strong>von</strong> einem Festumer<br />

Handelsfahrer und..."<br />

"So ist es. Der `Rittfrau <strong>von</strong> Riwilauken´. Mein Name ist Tika, Vollmatrosin Tika..."<br />

Ein derber Hieb über den Kopf ließ die Piratin verstummen: "Du redest nur, wenn du gefragt wirst, Frevlerin!"<br />

Odilon hob beschwichtigend die Hand: "Laßt gut sein, Hochwürden. <strong>Das</strong> hier ist kein Inquisitionsverfahren!"<br />

"Vergesst nicht, dass noch immer ich der Ranghöchste hier an Bord bin!" kam es herrisch zurück.<br />

"Ich bin jetzt nach Beschluss der Mehrheit der Kapitän hier!" antwortete Odilon ruhig. "Damit nach altem Brauch<br />

der Erste nach Efferd. Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für Diskussionen."<br />

"Gewiß, Odilon Wildgrimm. Es sieht ganz so aus, als müssten wir zusammen arbeiten. Jetzt, wo auch Bruder<br />

Corbenian das Martyrium empfangen und den Weg des Heiligen Gilborn beschritten hat, bin ich Euch und Euren<br />

Freunden ohnehin ausgeliefert."<br />

"Wir bedrohen Euch nicht, denn wir sind keine Verräter. Wir sollten jetzt gegen die Xeraanier zusammen halten<br />

und alles andere hintan stellen. Also, was will sie?"<br />

"Wie gesagt, sie gibt vor, überlaufen zu wollen. Zumindest hat sie das gesagt. Die Piraten wollten sie dafür<br />

umbringen."<br />

"Ich schwöre Euch, sie haben mich gezwungen, mitzumachen" Die Piratin, die sich Tika nannte, schien den Tränen<br />

nahe. Odilon musterte sie genauer. Bösartig oder verschlagen sah sie eigentlich nicht aus, tatsächlich eher wie eine<br />

Handelsmatrosin denn eine Seeräuberin. Ihrem Dialekt nach konnte sie durchaus aus dem Bornischen stammen.<br />

Lediglich der stiere Blick gefiel dem Baernfarn nicht. Er erinnerte sie irgendwie an eine Insassin in einem<br />

Noionitenkloster, die man, weil sie als harmlose Verrückte galt, frei herumlaufen ließ. Nun, ein Wesen, das guten<br />

Herzens war, mußte an Bord eines Schiffes wie der Fran-Horas wohl tatsächlich früher oder später irrsinnig<br />

werden. Oder man musste irrsinnig sein, um hier seine Gutmütigkeit zu bewahren.<br />

"Es ist besser, den Tod zu erleiden, als dem Glauben abzuschwören und die Seele zu verlieren!" donnerte der<br />

Inquisitor. "Du bist eine Frevlerin wie die anderen!"<br />

"Was sollte ich denn tun? Ich, ich wollte einfach nicht sterben. Glaubt mir, ich habe nie jemanden etwas Böses<br />

getan. Niemals, nicht aus freien Stücken!"<br />

"Nun, Meister Selbfried, wie gesagt, das hier ist kein Inquisitionsverfahren, sondern ein echter Notstand. Wir<br />

können Verstärkung dringend gebrauchen. Ich weiß nur, dass wir sie in ihrer Hängematte angetroffen haben, wo sie<br />

keinen Widerstand geleistet hat, nicht bei... bei den anderen. <strong>Das</strong> spricht bereits ein wenig für ihre Version. Ihr<br />

solltet Euch nun wieder auf Eurem Posten begeben. Ich möchte nicht, dass die Gefangenen allzu lange mit<br />

Hesindian allein bleiben."<br />

"Vergesst nicht, ich bin Ordentlicher Inquisitionsrat der Praioskirche, nicht Euer untergebener Laufbursche!"<br />

"Deswegen bitte ich Euch ja und befehle nicht."<br />

"Schon besser. Aber ich warne Euch. Die Frevler werden langsam unruhig und versuchen, sich zu befreien. Denkt<br />

an das versteckte Messer, dass wir bei dem einen gefunden haben. Ich fürchte, es wird bald einen Aufstand geben.<br />

Es ist ohnehin eine Zumutung, dass ich dieses Pack gemeinsam mit einem... einem Magier bewachen soll."<br />

62


"Der Anblick eines Magiers wird sie eher <strong>von</strong> einem Ausbruchsversuch abhalten als der Eures Schwertes allein.<br />

Auch wenn dem unglücklichen Hesindian die Zungenspitze abgeschnitten wurde, was ganz in Eurem Sinne sein<br />

dürfte. Ihr solltet aber froh sein, wenn er im Notfall noch einen Zauber sprechen kann."<br />

"Praios bewahre, das werde ich zu verhindern wissen. Aber nun gut, SEIN Ratsschluss hat uns auf diesem Schiff<br />

zusammengeführt, also muss ich mich ihm beugen. Und vertraut dieser Abtrünnigen nicht zu sehr. Es könnte eine<br />

Falle sein!"<br />

Odilon nickte ernst. Auf diesem Seelenverkäufer musste man mit allem rechnen. Langsam brauchte er einen Plan<br />

für sein weiteres Vorgehen - einen verdammt guten Plan. Dieser Gedanke schien gerade auch dem Praioten<br />

gekommen zu sein: "Habt Ihr schon eine Idee, wie es weitergehen soll. Insgesamt, meine ich?"<br />

"Nein, nicht wirklich. Und Ihr?"<br />

"Ich habe die letzte Stunde zu Praios um Erleuchtung gebetet."<br />

"Da habt Ihr fürwahr wohl daran getan, denn zum Beten haben wir allen Grund. Zu welchem Ergebnis seid Ihr bei<br />

Eurem Nachsinnen gekommen?"<br />

"Wir könnten das Schiff mit dem Ruderboot zur Küste schleppen."<br />

"<strong>Das</strong> halten wir paar Alriks - verzeiht, Herr Baron - das halten wir in unserem Zustand nicht durch, nicht gegen die<br />

Strömung des Barun-Ulah, schon gar nicht gegen die Ebbe, die leider gerade jetzt das Wasser auf den Golf <strong>von</strong><br />

Perricum hinauszieht. Bis zum Land sind es mehrere Meilen, und wenn wir uns Richtung Süden halten, wo es<br />

etwas näher sein dürfte, könnten wir schon bald auf oronischem Gebiet stranden. Dann kämen wir vom Regen in<br />

die Traufe. Wir sollten uns lieber ausruhen und in der Zwischenzeit einen besseren Plan überlegen."<br />

"Aber wie Ihr selbst sagt werden wir mit jedem Augenblick weiter auf die Blutige See hinausgetrieben. Wer weiß,<br />

ob diese ungewöhnlich starke Strömung wirklich etwas mit den Gezeiten zu tun hat. Mein Gespür sagt mir, dass<br />

hier widernatürliche Kräfte am Werk sind. Dieses Glucksen und Schmatzen des Wassers ... und dann dieser<br />

widerliche grüne Nebel. Ein wahrer Pestodem!"<br />

"Ich sagte ja, wir haben allen Grund, in dieser Situation zusammen zu stehen, egal, was zuvor passiert ist. Ihr<br />

werdet also zusammen mit Hesindian die erste Wache halten. Nein, einer sollte sich aufs Oberdeck stellen, damit<br />

wir mitbekommen, falls der Nebel sich lichtet oder, etwas anderes passiert. Alrik und Sigismund, Ihr legt Euch<br />

unten in einer der Hängematten schlafen und löst die beiden dann in ein paar Stunden ab. Gunelde, wenn es Euch<br />

nicht allzu sehr ekelt, werdet Ihr in der Koje des Kapitäns schlafen, den Burschen binden wir hier am Stuhl fest."<br />

"Und die Abtrünnige?"<br />

"Soll sich erst mal dahin setzen. Ich entscheide noch, ob ich ihr die Fesseln löse. Fertig werde ich mit ihr allemal!"<br />

Selbfried nickte und stieß Tika auf einen der freien Stühle.<br />

"Hinsetzen!"<br />

Schweigend und eingeschüchtert nahm die Frau Platz. Entweder war sie wirklich anders als die anderen Piraten<br />

oder sie spielte ihre Rolle verdammt gut.<br />

Der Inquisitor, Alrik und Sigismund gingen hinaus, und Odilon wandte sich den Fenstern der Kapitänskajüte zu.<br />

Draußen war es finsterste Nacht, nur ab und an glaubte er das Glitzern des Wassers und eine besonders fette<br />

Nebelschwade zu erahnen. Ein paar Ratten huschten verschwörerisch auf den schmutzigen Planken zusammen und<br />

sprangen wieder auseinander, als der Gallyser sich wieder in den Raum hinein drehte.<br />

Was, bei allen Zwölfen, sollte er jetzt tun?<br />

Odilon wandte sich der gefangenen Piratin zu. "Also gut, der Reihe nach. Wie heißt du?"<br />

"<strong>Das</strong> habe ich doch schon gesagt. Tika... <strong>Das</strong> heißt, eigentlich Tjeika. Aber die anderen nennen mich Tika, sie<br />

behaupten, das wäre leichter auszusprechen. Tika Tetjen aus Festum."<br />

"Also schön, Tika Tetjen aus Festum" Der Baernfarn beugte sich gebieterisch über die Tischplatte, wies mit einem<br />

Zirkel auf die ausgerollte Karte, die den Golf <strong>von</strong> Perricum zeigte: "Wo befinden wir uns deiner Meinung nach?"<br />

Einen Augenblick lang musste Odilon der Versuchung widerstehen, die Augen niederzuschlagen. Die Frage war<br />

immerhin so etwas wie ein Offenbarungseid, dass er und seine Gefährten auf die Hilfe dieser götterverdammten<br />

Piraten angewiesen waren.<br />

"Wie weit? Etwa 10 bis 15 Meilen nordöstlich <strong>von</strong> Zorgan, würde ich schätzen, Herr. Durch das Seegefecht und die<br />

anschließende Drift ist das natürlich nicht genau zu sagen, Herr."<br />

"Natürlich." Odilon nickte mit wichtigem Gesichtsausdruck. Zehn bis fünfzehn Meilen - mit einer kräftigen und<br />

geübten Mannschaft konnte man diese Strecke durchaus auch im Ruderboot zurücklegen. <strong>Das</strong> Problem war: seine<br />

Gefährten waren zu Tode erschöpft - <strong>von</strong> Meister Selbfried einmal abgesehen, den seine Bußexerzitien abgehärtet<br />

hatten, teilweise verwundet und hatten nicht die geringste Ahnung <strong>von</strong> Rudern oder der Seefahrt (<strong>von</strong> Alvan einmal<br />

abgesehen, deren Zustand aber der schlechteste <strong>von</strong> allen war). Die ganze Nacht hindurch gegen eine starke<br />

Strömung rudern, schien ihm in diesen Gewässern als wenig ratsam. Nicht hier, nicht in der Blutigen See. Sollte<br />

"irgendetwas" über die Bordwand kommen, machte es schon einen gewichtigen Unterschied, ob es sich dabei um<br />

die Bordwand eines Ruderboots oder einer Schi<strong>von</strong>e handelte. Nein, einstweilen fühlte er sich an Bord einer<br />

63


Schi<strong>von</strong>e sicherer als mit einem Haufen todmüder, blutig geschlagener Landratten auf einem kleinen Bötchen<br />

irgendwo draußen in diesem charyptorothverfluchten Grünen Nebel.<br />

"Du behauptest also, die Piraten hätten dich gezwungen, bei ihrem götterlästerlichen Treiben mitzumachen?"<br />

"So... so ist es, Herr." Tika nickte ängstlich. "Sie... sie haben mich doch gar nicht richtig ernst genommen. Bei der<br />

ersten Gelegenheit wollen sie mich in die bodenlose Grube werfen, haben sie gesagt."<br />

"Bodenlose Grube? Was ist das?"<br />

"Ein Unheiligtum der Ch... der Tiefen Tochter auf Rulat. Ich... ich hatte doch solche Angst."<br />

"Also gut." Der Gallyser ging um den Tisch herum, packte Tika am Kragen. "Wenn du anders bist als dieses Pack<br />

da unten, warum... warum, frage ich dich, hast du dann nichts dagegen unternommen, als sie meine Tochter<br />

geschändet haben?"<br />

Die letzten Worte hatte Odilon gebrüllt, so laut, dass selbst Gunelde zusammengezuckt war, die gerade mit einem<br />

nassen Tuch die Stirn Mercurios kühlte. Tika war nun endgültig eingeschüchtert.<br />

"Was... was hätte ich denn tun sollen?" Die Festumerin senkte den Blick. "Sie haben mich doch auch ... und nicht<br />

nur einmal..." Odilon nickte grimmig, atmete tief durch und stieß die Gefesselte dann wieder auf den Stuhl. Tika<br />

rang mit den Tränen.<br />

Odilon lachte verächtlich auf: "Kein Wunder, dass so eine wie du zur See fährt" höhnte er. "So nah wie du am<br />

Wasser gebaut hast." Nun entrang sich ein verzweifeltes Schluchzen Tikas Kehle. Schließlich begann sie<br />

hemmungslos zu weinen. Einen Augenblick lang kämpfte Odilon mit seinem Mitleid und dem schlechten<br />

Gewissen. Nein, er hatte richtig gehandelt. Nun dachte er, dass er der Matrosin vertrauen konnte, denn keine echte<br />

Xeraanierin würde sich so verhalten. Wenn das wirklich alles nur gespielt und Theater war, hatte sie sich ihren<br />

Auftritt beim nächsten Gallyser Culturspectaculum redlich verdient. Er zückte sein Messer und durchschnitt die<br />

Fesseln der jungen Frau.<br />

Erstaunt und schniefend sah ihn die Matrosin an, rieb sich die wunden Hände. Odilon nahm wieder ihr gegenüber<br />

Platz und schob ihr einen Becher mit Rum zu, nicht ahnend, dass vor wenigen Stunden Mercurio sich gegenüber<br />

seiner Tochter genauso verhalten hatte: "Hier, trink erst mal, Tika" Seine Stimme hatte sich verändert, klang nun<br />

sanftmütig, ein wenig brummig vielleicht. Dankbar sah ihn die Festumerin an und nippte dann vorsichtig an dem<br />

Getränk. Eine Säuferin war sie also auch nicht, dachte Odilon zufrieden. Offenbar konnte man ihr wirklich<br />

vertrauen. Altväterlich schob der Schwarze Bär ein Taschentuch hinterher. "Und putz dir die Nase."<br />

Nachdem dies geschehen war, beugte er sich vor.<br />

"Nun gut, ich verrate dir wohl kein Geheimnis wenn ich sage, dass wir ein Problem haben. Wir brauchen<br />

jemanden, der sich mit der Seefahrt auskennt. Wen <strong>von</strong> den neun Gefangenen außer dir könnten wir noch auf<br />

unsere Seite ziehen?"<br />

"Zehn, Herr. Mit mir sind es zehn Gefangene. Mit Mercurio elf." Odilon nickte zufrieden. Tika verhielt sich<br />

wirklich kooperativ. "Nun gut, wem <strong>von</strong> den anderen könnten wir vertrauen."<br />

"Fisch, Herr. Der Schiffsjunge."<br />

Odilon runzelte die Stirn. Er hatte keinen einzigen Minderjährigen unter der Mannschaft entdeckt. "Fisch? Wo ist<br />

er? Und was ist das für ein seltsamer Name?"<br />

"Sie nennen ihn Fisch, weil er stumm ist wie ein Fisch. Wenn sie getrunken haben, haben sie ihn immer geschlagen<br />

und bis aufs Blut gequält, also hat er sich meistens versteckt. Ich weiß nicht, wo er sich jetzt befindet."<br />

"Stumm? Haben sie ihm... die Zunge abgeschnitten, so wie Hesindian?"<br />

"Nein, Herr. Ich glaube, er ist schon stumm seit der Eroberung <strong>von</strong> Mendena... er muss damals schreckliche Dinge<br />

gesehen haben."<br />

Der Gallyser sah zu Gunelde: "Sagt bitte Alrik und Sigismund bescheid, dass sie diesen Jungen suchen und hierher<br />

bringen sollen. Sie sollen ihm nichts tun. Ach ja, und geht bitte in die Kajüte und seht, ob Ihr nicht einen<br />

Schwarzen Tee kochen könntet oder irgend so etwas. Dieser Rum macht müde und ich brauche etwas, was mich<br />

noch ein wenig auf den Beinen hält."<br />

Die Therbûnitin nickte. "Mache ich. Ich wollte mir ohnehin gerade woanders eine Schlafstelle suchen."<br />

"Kann ich verstehen. In diesem Mief möchte ich eigentlich auch nicht schlafen."<br />

"Darum geht es nicht. Dieser Pirat ist schwerkrank und braucht Bettruhe zur Genesung. Man sollte ihm auch die<br />

Fesseln abnehmen. Wie auch immer, ich werde mir eine Hängematte suchen."<br />

Odilon schüttelte verwirrt den Kopf. Wusste die Perainedienerin nicht, dass dieser Mercurio ein verfluchter<br />

Dämonenanbeter war? Was sollte das Mitleid? Nun denn, sie hatten andere Sorgen.<br />

"Läuft sonst noch jemand frei herum?"<br />

"Algondo und Emporio fehlen noch..."<br />

"Keine Sorge, sie sind tot. Dieser Schiffsjunge scheint seine Seele also ebenfalls noch nicht verloren zu haben.<br />

Aber ich brauche noch mehr Leute. Denk nach, wer könnte mit uns zusammen arbeiten?"<br />

"Dusan vielleicht. Er ist ein Feigling und Kriecher und würde nie auf eigene Faust etwas unternehmen, was ihn in<br />

Gefahr bringen könnte. Nein, er wird alles tun, um seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Sauerbrot ist<br />

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ein Dummkopf, sehr kräftig aber so einfältig wie ein kleines Kind. Als die anderen ihm gesagt haben, dass Xeraan<br />

die Beute aus den Piratenüberfällen nur dazu verwendet, um den armen Tobriern zu helfen, hat er es aufs Wort<br />

geglaubt."<br />

Ein Lächeln huschte über Tikas Gesicht. "Dann gibt es noch Oske, oder Klapper, wie ihn die anderen nennen, weil<br />

er so dürr ist. Er ist ein Einzelgänger und hat sich mir gegenüber meistens anständig verhalten. Jedenfalls war er<br />

nicht so grausam wie die anderen. Ich glaube, Klapper ist nur Pirat geworden, um seine Familie in Mendena zu<br />

ernähren. Früher war er Fischer oder so etwas."<br />

Immerhin, damit hätten sie theoretisch schon einmal fünf erfahrene Seeleute hinzugewonnen: Den Fischer Oske,<br />

diesen feigen Dusan, den Schiffsjungen, Tika und den dummen Sauerbrot. Odilon war zufrieden. Er musste so oder<br />

so dafür sorgen, dass die Zahl der Gefangenen unter Deck rasch abnahm, denn wie schnell bei einem Aufstand das<br />

Schiff den Besitzer wechseln konnte, hatten sie selbst ja vor einer Stunde bewiesen. Besser also die Piraten<br />

<strong>von</strong>einander trennen - die Mindergefährlichen <strong>von</strong> den wirklich schweren Fällen. Teile und herrsche, sozusagen.<br />

"Nun, und die anderen? Auf wen müssen wir ein besonderes Auge haben? Wer ist<br />

dort unten der Wortführer?"<br />

"Die ranghöchste ist Xenia, die Bootsfrau, eine üble Schinderin, die eigentlich niemand leiden kann. Sie betet zu<br />

der Tiefen Tochter und ist...eine grausame Schlange. Ich habe selbst einmal gesehen, wie sie einem Gefangenen..."<br />

Tika schluckte. "an den Hauptmast gebunden und ihm die Augenlider abgeschnitten hat. Nach ein paar Tagen war<br />

der Unglückliche so irrsinnig, dass er sich selbst den Schädel am Mast eingerannt hat."<br />

Odilon schauerte. Er konnte sich gerade lebhaft vorstellen, was es hieß, über längere Zeit ohne Schlaf<br />

auszukommen. "Genug da<strong>von</strong>. Die anderen?"<br />

"Kobad der Steuermann ist nur auf seinen eigenen Vorteil aus und so hinterlistig wie eine Viper. Er wird Euch<br />

sicherlich bald einen faulen Handel vorschlagen und dann bei erster Gelegenheit in den Rücken fallen. Bestimmt<br />

wird er irgendetwas <strong>von</strong> verborgenen Schätzen oder dergleichen erzählen, die er mit euch teilen wird. Aber glaubt<br />

ihn um Alverans Willen kein Wort. Er ist mit dem Gierigen Feilscher im Bunde, oder der Tiefen Tochter oder<br />

beiden. Linne die Einbeinige ist ebenfalls ein schlimmes Scheusal. Sie hat ein Amulett der Unbarmherzigen<br />

Ersäuferin bei sich, mit dem sie die ganze Zeit versucht, ihre Fesseln aufzureiben. Svanja Hranngarsdottir. Sie<br />

behauptet, eine Thorwalerin zu sein, aber ich glaube ihr nicht, denn dafür ist sie viel zu feige. Sie kommt wohl eher<br />

aus der Gegend <strong>von</strong> Havena. Ihre Haare sind jedenfalls nur rot gefärbt, mit Menschenblut, wie sie sagt. Schönauge<br />

und Fedor das Frettchen, das waren die Wachen vor eurer Tür, zwei üble Halsabschneider aus Mendena oder Ilsur.<br />

Zoltan Schönauge - der mit der Augenklappe - ist besonders grausam und pervalisch, manchmal hat er mir einfach<br />

so ins Gesicht geschlagen, ohne Vorwarnung und ohne jeden Grund, oder mich mit dem Marlspieker blutig<br />

gestochen, oder Fisch mit einem Tauknoten bis zur Besinnungslosigkeit geprügelt. Oder ihm mit dem Messer seine<br />

Initialen in den Rücken geritzt. Manchmal hat er auch noch Schlimmeres mit ihm gemacht, Ihr versteht? <strong>Das</strong>, was<br />

sie mit den Sklaven in Elburum machen. Er ist ein übler Sadist und Knabenschänder..."<br />

Odilon hob die Hand. "<strong>Das</strong> reicht. Sag, Tika: Wenn Du an unserer Stelle wärst, was würdest du mit derartigem<br />

Abschaum tun?"<br />

"Ich weiß nicht. Ihnen etwas Proviant geben und sie im Boot auf dem offenen Meer aussetzen."<br />

"Einfach nur aussetzen? <strong>Das</strong> Boot und Proviant opfern, damit sie vielleicht irgendwo anders ihr schändliches<br />

Treiben fortsetzen? Nicht einfach am nächsten Mast aufknüpfen?"<br />

"Ich habe kein Recht, das zu verlangen, bei Efferd, denn ich war zwei lange Jahre mit ihnen auf diesem Schiff.<br />

Dann hätte auch ich den Strang verdient."<br />

"Vielleicht hast du das ja, wer weiß?"<br />

Innerlich nickte Odilon anerkennend. Nunmehr war er endgültig da<strong>von</strong> überzeugt, dass er Tika - oder Tjeika -<br />

tatsächlich vertrauen konnte. Hätte sie Übles im Schilde geführt, dann hätte sie eine möglichst brutale Bestrafung<br />

ihrer Kameraden gefordert, um sich bei den neuen Herren einzuschmeicheln. Andererseits bedeutete dies wohl<br />

auch, dass ihre eigene Vergangenheit nicht ganz so unblutig war, wie sie ihm glauben machen wollte. Draußen war<br />

nun Gerufe zu hören, das wie die Stimmen Sigismunds und Alriks klang. Odilon verstand nur die Worte "Fisch!"<br />

und "wir werden dir nichts tun."<br />

Die Zeit verstrich, während der er Tika noch einmal scharf musterte.<br />

"Ihr seid dennoch sehr großzügig mit Euren ehemaligen Spießgesellen!"<br />

Er legte bewusst ein wenig Mißtrauen in seine Stimme.<br />

"Ihr könntet auch ein Floß bauen und sie darauf aussetzen" schlug Tika vor. "Dann wird die Blutige See ihre<br />

Bestrafung übernehmen."<br />

"Ich werde darüber nachdenken" gab sich der Waldläufer rohalisch. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür.<br />

Sigismund trat ein, einen völlig verstörten Jungen <strong>von</strong> etwa zwölf Götterläufen vor sich her schiebend, der<br />

schwarze Lockenkopf völlig zerzaust, die Augen flatternd vor Angst. Darunter ein sommersprossiges, typisch<br />

tobrisches "Schafsgesicht". Erst der Anblick Tikas schien ihn ein wenig zu beruhigen.<br />

"<strong>Das</strong> ging schnell. Wo hat er sich versteckt?"<br />

65


"Oben auf dem Ausguck. Alrik hatte die Idee, dort hinauf zu rufen, sonst hätten wir ihn wohl nicht so rasch<br />

gefunden." Erst jetzt sah Odilon das Blaue Auge und die aufgeplatzte, blutige Lippe im Gesicht des Jungen.<br />

"Sein Gesicht... <strong>Das</strong> wart doch nicht etwa ihr?"<br />

"Praios bewahre, nein. Wir haben ihn schon so vorgefunden. Hat eine Weile gedauert, bis er vom Mast<br />

runtergekommen ist. War am Ende wohl doch ein bisschen zu klamm und kalt dort oben."<br />

„Nun gut. Ich würde Euch beide nun bitten, nach den Gefangenen zu sehen. Eine <strong>von</strong> ihnen scheint sich mit einem<br />

Metallamulett der Fesseln entledigen zu wollen, wie Tjeika berichtete. Untersucht alle noch einmal genau nach<br />

Waffen. Und nehmt ihnen alles ab, was als improvisierte Waffe oder als Werkzeug dienen kann. Gürtel,<br />

Halsketten, Schmuck, und auch die Schuhe. Sollten sie einen Aufstand wagen kämpft es sich barfuss nicht<br />

besonders gut. Und merkt Euch, wer <strong>von</strong> Ihnen Amulette der Unheiligen bei sich trägt. <strong>Das</strong> könnte unseren<br />

Inquisitor interessieren. Ich kümmere mich einstweilen um den Jungen hier.“<br />

„Ay, Käpt´n“ antwortete Sigismund. Er fand den befehlsgewohnten Ton Odilons zwar ungewohnt – der alte Recke<br />

war zwar unumstritten der Wortführer, trat aber in der Regel nicht autoritär auf. Aber er wollte, vermutete<br />

Sigismund, in Gegenwart der Matrosin wohl keinen Zweifel an den Befehlsstrukturen aufkommen lassen. Also<br />

spielte er mit. Er nickte Alrik zu, dann gingen die beiden zu den Gefangenen.<br />

„Noch etwas. Wenn die Gefangenen irgendwelche Angebote machen, hört sie Euch wohlwollend an, zeigt<br />

vorsichtiges Interesse, und sagt letztlich, dass ihr darüber nachdenken wollt. Und dann bringt ihr mir Oske und<br />

Sauerbrot zum Verhör.“<br />

Einige Stunden später gestattete sich Odilon, wenigstens vier Stunden lang zu schlafen. Oske und Sauerbrot<br />

schienen ihm soweit vertrauenswürdig. Er hatte Ihnen zugesichert, dass sie, sobald das Schiff einen Hafen anlaufe,<br />

frei <strong>von</strong> Bord gehen könnten und nicht vor ein Gericht gestellt werden würden. Natürlich hatte er diese<br />

Zusicherung erst gemacht, nachdem Der Inquisitor sie nach Dämonenmalen untersucht hatte und sie für<br />

unbedenklich befunden hatte. Zumindest waren nach seinem Dafürhalten die Seelen der beiden noch nicht verloren.<br />

Zu dumm war nur, dass Hesindian nicht auf magische Weise überprüfen konnte, ob die beiden die Wahrheit<br />

sprachen. Er war aufgrund seiner Verletzungen und seiner Erschöpfung nicht in der Lage, sich auf die Arkane<br />

Kunst zu konzentrieren, und zudem zu erschöpft. Linne hatte, als Alrik ihre Fesseln prüfte, diese schon fast<br />

durchgescheuert. Der Baron hatte gerade noch rechtzeitig nach ihr gesehen und ihr neue Fesseln angelegt.<br />

Außerdem hatten er und Sigismund allen verbliebenen Gefangenen zusätzlich die Augen verbunden und sie<br />

geknebelt. So konnten sie zumindest nicht gemeinsam beratschlagen und auch nicht die Aufmerksamkeit ihrer<br />

Bewacher überprüfen. Auch die Ausbeute an verborgenen Gegenständen war nicht schlecht gewesen. Bei Kobad,<br />

Linne und Svanja waren sie mit Amuletten und Talismanen der Verdorbenen fündig geworden. Der Inquisitor hatte<br />

die Amulette kurzerhand zur späteren Beweisführung in sein Buch protokolliert, bevor er sie über Bord warf.<br />

Derlei unheilige Gerätschaft wollte er nicht an Bord haben. Den letzten der Piraten, den Tika vorgeschlagen hatte,<br />

Dusan, wollte er sich später vornehmen. Odilon schloß die Augen.<br />

Laute Stimmen an Bord weckten Odilon. Es dauerte eine Weile, ehe Odilon die Worte verstand. Der Recke rieb<br />

sich den Schlaf aus den Augen. Aus weiter Ferne vernahm er die Stimmen Selbfrieds und Alriks.<br />

"Über das Schicksal der Gefangenen zu bestimmen hat der Bärtige mir versprochen, daran erinnert Ihr Euch wohl<br />

noch?"<br />

"Gewiß. <strong>Das</strong> sagte Odilon. Sobald wir <strong>Maraskan</strong> erreicht haben, das war ausgemacht. Noch sind wir nicht in<br />

<strong>Maraskan</strong>."<br />

"Richtig. Aber Zugleich verspricht Odilon den Piraten die Freiheit, wenn sie überlaufen."<br />

"Dem habt Ihr zugestimmt, er hat Euch explizit um Eure Zustimmung gefragt. Außerdem können wir allein das<br />

Schiff gar nicht steuern."<br />

"Auch richtig. Aber wenn wir <strong>Maraskan</strong> erreichen zählt das Versprechen, dass Schiff und Mannschaft meiner<br />

Verfügungsgewalt unterstehen, wenig, denn ohne Mannschaft kann ich weder mit dem Schiff noch mit den<br />

Gefangenen etwas anfangen.<br />

Außerdem habe ich mehr noch als eine Bestrafung des Abschaums auch die Sicherheit des Schiffes im Auge. Es<br />

sind immer noch elf Piraten gegen uns sieben. Einem gut organisierten Aufstand haben wir nichts entgegen zu<br />

setzen. Und über die Loyalität der Überläufer können wir uns nicht völlig sicher sein. Sie werden, wenn das Blatt<br />

sich wendet, sehr rasch ihre Meinung ändern. Und wenn das Wetter bleibt und wir nicht in kurzer Zeit Zorgan<br />

anlaufen können haben wir sehr schlechte Karten. Außerdem sind es letztlich Piraten und Dämonenpaktierer, wie<br />

die Amulette beweisen. Sie haben alle den Tod verdient. Sie am Leben zu lassen wäre daher grundlegend falsch."<br />

"Es ist gut, Meister Selbfried." Odilon war endgültig erwacht und war zu den Debattierenden hinzu getreten. "Ich<br />

nehme Eure Anregung zur Kenntnis und werde darüber nachdenken."<br />

"Sehr gut, dass Ihr wach seid. Ihr seid der Kapitän dieses Schiffes. Als solcher steht Ihr in der Verantwortung, für<br />

das Wohl aller an Bord die beste Entscheidung zu treffen, auch wenn sie Euch schwer fällt. Ich weiß, dass es sehr<br />

schwer ist, Verantwortung zu tragen. Aber bedenkt, dass <strong>von</strong> Eurer Entscheidung das Leben vieler Menschen<br />

66


abhängig sein kann. Könnt ihr mit Sicherheit verhindern, dass die Gefangenen einen Aufstand wagen, und dass<br />

dabei einer <strong>von</strong> uns sieben Schaden da<strong>von</strong> trägt?"<br />

"Nein, mit absoluter Sicherheit kann man das nicht verhindern, da habt ihr Recht. Es sind elf gegen sieben, soweit<br />

man die Überläufer auf der Seite der Piraten mitrechnet."<br />

"Gut, dass Ihr meine Einschätzung teilt. Ad secundum handelt es sich bei den Piraten um Verbrecher, um<br />

Halunken, die schon etliche Menschenleben auf dem Gewissen haben. Sie werden nicht davor zurückschrecken,<br />

erneut unschuldige Menschenleben zu töten, wenn sie sich einen Vorteil da<strong>von</strong> versprechen. Und wenn ein<br />

Aufstand der Schurken Erfolg haben sollte, werden sie keine Gewissensbisse haben, uns zu töten. Euch und mich.<br />

Und Eure Tochter. Und auch alle anderen. Als Kapitän dieses Schiffes ist es Eure Pflicht, alles zu tun, um die in<br />

Eurer Obhut befindlichen Leben zu schützen. Mir als Inquisitor ist es durchaus bewusst, dass die hierfür<br />

erforderliche Entscheidung hart ist."<br />

"Ihr verlangt nichts anderes <strong>von</strong> mir, als Menschen, die sich in meiner Gewalt befinden, zu töten. Ich bin kein<br />

Henker. Ich versuche stets, mein Handeln an der Gerechtigkeit zu orientieren." widersprach Odilon<br />

Selbfried lachte auf. "Wie viele Menschen sind bereits durch Eure Hand gestorben? Allein gestern waren es drei.<br />

Ihr urteilt sehr selbstgefällig. Wisst ihr denn überhaupt, was Gerechtigkeit ist, wenn Ihr so sehr für sie eintretet?<br />

Aber denkt für Euch selbst darüber nach: Wie viele Menschen verloren durch Eure Hand ihr Leben." Odilon<br />

schwieg lange, ehe er zu einer Antwort ansetzte.<br />

"Es waren gewiss einige. Ich habe in vielen Kämpfen gefochten. Aber immer tötete ich nur, um mein Leben oder<br />

das Leben anderer zu schützen." Odilon fühlte sich in die Enge getrieben<br />

"Und jetzt schützt Ihr das Leben Eurer Mitreisenden vor der Bedrohung durch die Piraten. Es ist keine konkrete<br />

Bedrohung, aber es ist eine latent vorhandene abstrakte Gefährdung. Die Gefangenen werden einen Aufstand<br />

unternehmen, wenn wir Zorgan ansteuern. Sie werden alles tun, um zu überleben. Und auch wenn wir ihren<br />

Aufstand niederschlagen können, so werden vielleicht nicht alle der Euren überleben. Ihr steht in der<br />

Verantwortung für die Euch anvertrauten Seelen."<br />

"Ich bin kein Henker, das sagte ich bereits."<br />

"Als Kapitän seid ihr aber Richter, und in allen Euren Entscheidungen den Zwölfen verantwortlich. So wie Ihr es<br />

einst als Baron zu Gallys wart. Aber auch da habt Ihr Euch nicht der Verantwortung gestellt. Ihr seid um der Liebe<br />

einer Frau willen Eurer Verantwortung entflohen. Ihr habt Euch feige gedrückt und Euch der Euch <strong>von</strong> Praios<br />

zugedachten Aufgabe nicht gestellt. Und warum? Weil Euch Praios zwar mit einem kräftigen und geschickten Leib<br />

gesegnet hat, ebenso mit einem wachen Verstand. Aber Euch fehlt die notwendige Härte, um der Gerechtigkeit zu<br />

dienen. Es ist leicht, Gutes zu tun, wenn man nur für sich alleine verantwortlich ist. Aber es ist sehr schwer, wenn<br />

man Verantwortung für viele trägt. Als Baron habt ihr versagt. Seht zu, dass ihr als Kapitän nicht den gleichen<br />

Fehler macht." Im inneren sträubte sich alles in ihm, dem Inquisitor Recht zu geben. Aber seine Argumentation<br />

war schlüssig. Er mußte Selbfried zustimmen, eine absolute Sicherheit konnte es für die seinen nicht geben, so<br />

lange die Piraten an Bord waren.<br />

"Ihr habt die beneidenswerte Gabe, hart zu Euch selbst zu sein." fuhr der Inquisitor fort. Ihr fordert Eurem Körper<br />

Leistungen ab, zu denen viele andere Männer Eures Alters und auch Jüngere nicht fähig sind. Ich weiß das, ich<br />

habe schon länger über Eure Familie Nachforschungen angestellt. Viele Menschen in Eurer Heimat bringen Euch<br />

daher Bewunderung entgegen. Und ebenso hart wie Ihr zu Euch selbst seid, so viel Leistung und Stärke fordert Ihr<br />

<strong>von</strong> Euren Getreuen. Ohne zu Zögern stecktet Ihr das Haus des Magisters Hesindian in Brand, weil Ihr der Ansicht<br />

wart, damit letztlich Gutes zu bewirken. Man könnte das als grausam bezeichnen.<br />

Aber was Euch fehlt ist die entscheidende Härte zu Euren Gegnern. Deshalb seid Ihr ein schlechter Baron gewesen,<br />

und deshalb seid Ihr in Wirklichkeit <strong>von</strong> Eurem Amt zurück getreten. Eure Liebe zu einer Elfe, hah, das redet Ihr<br />

Euch ein, dass das der Grund gewesen sei. In Wahrheit habt Ihr Euer Amt aufgegeben, weil Ihr zu weich seid. Ihr<br />

seid nicht fähig, einen Unterlegenen Feind und Verbrecher zu töten. Aber genau diese Härte zeichnet einen fähigen<br />

Regenten aus. Ein guter Landesvater zeigt die notwendige Härte seinen Feinden gegenüber, um sein Volk zu<br />

schützen. Ihr seid ein schlechter Baron gewesen! Wie oft habt ihr während Eurer Regentschaft die Todesstrafe für<br />

Verbrecher erwirkt?"<br />

"Einmal. <strong>Das</strong> war während...."<br />

"Während des Putschversuchs durch Answin <strong>von</strong> Rabenmund, ich weiß. Ich habe mich wie erwähnt gut vorbereitet<br />

auf diese Mission. Und doch ist diese Todesstrafe, die Ihr verhängtet, in sich eine Farce. Es war keine Hinrichtung.<br />

Stattdessen reichtet ihr dem Verräter an der praiosgefälligen Ordnung ein Schwert und verkündetet, dass er, da er in<br />

Eurem Lehen Verrat am Reich geübt habe, Euch Satisfaktion schuldig sei. Im Zweikampf habt Ihr ihn dann<br />

erschlagen. Ich habe Euer Handeln zuerst nicht verstanden und es als Grausamkeit gedeutet, als Blutrünstigkeit.<br />

Aber jetzt weiß ich, warum Ihr so gehandelt habt. Weil ihr nicht für den Tod eines Menschen, der sich nicht wehrt<br />

oder wehren kann, verantwortlich sein könnt. Stattdessen legt Ihr Euch eine scheinbare Moral zurecht, eine Art <strong>von</strong><br />

Kriegerehrenkodex. Was hätte es für einen Unterschied gemacht, wenn Ihr den Verräter gehängt hättet? Er war<br />

Euch unterlegen, hatte keine Chance im Kampf mit dem Schwert gegen Euch. Aber es genügte, um Euer Gewissen<br />

zu beruhigen."<br />

67


"Diese Betrachtungsweise ist..." wollte Odilon unterbrechen.<br />

"die reine Wahrheit, wenn ihr selbst ehrlich zu Euch seid. Ihr braucht mir nicht zu antworten, es reicht völlig aus,<br />

wenn Ihr Euch selbst nicht belügt. Ihr könnt einen Menschen im Kampf töten. Oder vielleicht auch aus Rache,<br />

wenn es um etwas sehr persönliches geht. Aber ihr habt Angst davor, eine notwendige Entscheidung zum Nachteil<br />

eines Dritten zu treffen."<br />

"Zum Nachteil eines Dritten? Redet man so über das Leben eines Menschen? Auch wenn er ein Pirat ist?"<br />

"Und noch eines will ich Euch erzählen. Im 17. Jahr der Regentschaft Hals fassten Eure Gardisten einen flüchtigen<br />

Raubmörder. Doch statt ihn dem Henker zu Überantworten, wie Jorgan Trimmdel, seinerzeit Richter zu Gallys,<br />

urteilte, habt ihr ihn in den Kerker gebracht, um noch einmal über das Urteil zu sinnieren. Nach einer Woche<br />

gelang dem Schurken die Flucht, und auf der Flucht stach er einen Eurer Gardisten, der das Pech hatte, Wache zu<br />

haben, nieder. Hättet Ihr Eure Pflicht getan wäre Euer Mann noch am Leben. Deswegen sage ich Euch ins Gesicht,<br />

dass ihr ein schlechter Baron gewesen seid. Ihr habt die Euch Schutzbefohlenen nicht ausreichend beschützt. Plagt<br />

Euch Euer Gewissen, dass Ihr schuld am Tod des Gardisten seid? Allein deswegen, weil Ihr damals nicht genügend<br />

Strenge besessen habt seid Ihr zurückgetreten. Ihr seid mit Eurer Verantwortung nicht zu Recht gekommen. Habt<br />

Ihr aus Euren Fehlern gelernt? Oder wollt ihr wieder Euch nahestehende Menschen verlieren, weil ihr<br />

Schwerverbrecher schonen und Euer Gewissen beruhigen wollt?“<br />

Odilon schwieg. Alles, was der Inquisitor erzählte, entsprach den Tatsachen. Selbfried war wahrlich ein fähiger<br />

Inquisitor. Es stimmte, Odilon hatte in Kämpfen zahlreiche Gegner besiegt, aber noch nie hatte er aus nüchterner<br />

Berechnung und aus Überlegung heraus leichtfertig über das Schicksal oder gar das Leben anderer Menschen<br />

entschieden. Und auch darin hatte der Inquisitor Recht. Sein Rücktritt als Baron zu Gallys war nicht nur durch die<br />

Liebe zu Jirka motiviert gewesen. Es war zu gewissen Teilen auch eine Flucht vor der Verantwortung gewesen.<br />

War es das, was einen guten Herrscher auszeichnete? Die Härte, zum Wohle der Mehrheit einen einzelnen zu<br />

strafen? Wenn es so war, dann hatte Selbfried Recht. Er war möglicherweise ein guter Jäger und Kämpfer, aber er<br />

war vermutlich kein guter Baron gewesen.<br />

"Nun gut. Ihr habt Euren Standpunkt sehr überzeugend dargelegt. Ich schlage also vor, dass wir die nachweislich<br />

mit den finsteren Mächten paktierenden Piraten, also namentlich Kobad, Linne und Svanja nebst der ranghöchsten<br />

Piratin, Xenia, Efferds Urteil überantworten. Sie werden mit dem einem der beiden Beiboote ausgesetzt mit fünf<br />

Litern Wasser pro Person und Proviant für zwei Tage. Zoltan, Fedor und Dusan sollen vor die Wahl gestellt<br />

werden, uns die Treue zu halten oder aber das Schicksal der ersten vier zu teilen." Selbfried nickte. Er wusste, dass<br />

er <strong>von</strong> Odilon kein härteres Urteil erwarten konnte. Er hätte die Piraten am liebsten tot gesehen. Mit dem Beiboot<br />

würden sie vermutlich die oronische Küste erreichen können. So würden die Schurken wohl ungestraft bleiben und<br />

vermutlich demnächst auf einem anderen Schiff das Perlenmeer durch ihre Anwesenheit besudeln. Aber immerhin<br />

waren dann die vier übelsten Schurken <strong>von</strong> Bord, und ohne die Rädelsführer dürfte es möglich sein, die<br />

verbliebenen Piraten unter Kontrolle zu halten.<br />

Und noch zu einer weiteren Überzeugung gelangte der Inquisitor. Odilon und dessen Gefährten mochten verrückt<br />

sein, eine Reise nach Schwarzmaraskan zu unternehmen. Sie waren gewiss nicht die Praiosgefälligsten in ihrem<br />

Handeln und Denken. Aber Überläufer, Verräter und mit dem Bethanier im Bunde, das waren sie in seinen Augen<br />

nicht mehr.<br />

Hätte Odilon zu diesem Zeitpunkt seinen Blick nach Westen gerichtet und gesehen, was sich da für Dunkle Wolken<br />

am Himmel ballten, vielleicht hätte er sich anders entschieden.<br />

68


IV. Kapitel: Die Todesfahrt der Fran-Horas<br />

Odilon sah sich um. Langsam, wie ein geprügelter Hund, kroch die Sonne im Osten empor - ein Schauspiel, dass<br />

sich eine Myriade Male auf Dere ereignet haben mochte. Über der Blutigen See aber wirkte es wie ein mattes<br />

Ankämpfen gegen die Mächte der Finsternis, die in ihren unergründlichen Tiefen lauerten, wie ein schaler Triumph<br />

über die Nacht, dem kaum Glanz innewohnte. Nur mühsam vertrieben Praios Strahlen die grünen Nebelfetzen, die<br />

wie ekliger, zäher Schleim auf dem bleigrauen Wasser hingen. Odilon suchte, mit der Hand die Augen beschirmt,<br />

die fernen Gestade ab. <strong>Das</strong> da drüben musste die oronische Küste sein. Offenbar waren sie weiter aus der Bucht<br />

<strong>von</strong> Zorgan heraus abgetrieben worden, als er, oder die Matrosin, es für denkbar gehalten hatten. Der Gallyser<br />

schätzte, dass es bis zum sicheren Hafen mindestens dreißig Meilen waren. Wind und Wellengang hatten in den<br />

frühen Morgenstunden wieder etwas zugenommen, ein stetiges Schwabbern und Gluckern zerrte an Odilons<br />

überreizten Sinnen wie der salzige Wind an Bart und Haaren. Es war immer ein beunruhigend-großartiges Gefühl,<br />

plötzlich auf dem offenen Meer zu sein, ein Gefühl der Freiheit und des Ausgeliefertseins zugleich, das <strong>von</strong> dem<br />

schmalen Strich Land am Horizont nur noch verstärkt wurde, zeigte es doch nur an, wie weit draußen man sich<br />

schon befand - gerade weil die Küste noch so verlockend nahe schien.<br />

Die dunkle Wolkenbank im Westen gefiel ihm nicht. Sie gefiel ihm überhaupt nicht. <strong>Das</strong> Schiff war keineswegs<br />

seeklar, und wenn sie der Sturm so dicht unter Land packte, war die Gefahr groß, gegen die Küste getrieben und<br />

zerschmettert zu werden. Und das da drüben war sehr wahrscheinlich schon Schwarzaranien, wo den Überlebenden<br />

nur ein trübes Schicksal als Schindsklave der Belkelelanhänger winken würde.<br />

Mittschiffs lagen die beiden Beiboote, ein größeres und eine kleine Nussschale, dass gerade <strong>von</strong> Alrik und<br />

Sigismund ins Wasser gelassen wurde, um seinem Beschluss gemäß die Schurken auszusetzen. Besser gesagt, die<br />

beiden ließen es ziemlich unseemännisch fallen, so dass es nach einem harten Aufprall einige Schritt weit abtrieb.<br />

Um ein Haar wäre es gekentert. "Ihr Landratten" knurrte der Kapitän und stieß Sigismund grob beiseite. Zum<br />

Glück lag ein Enterhaken griffbereit. Geschickt schwang Odilon die Drake über dem Kopf und erwischte das<br />

Bötchen gerade noch an der Reling, bevor es endgültig außer Reichweite war.<br />

"Bei Efferd, habt ihr nie gelernt wie man ein Boot ins Wasser fiert?" Sigismund und der Baron sahen ihn nur mit<br />

großen Augen an. Odilon schüttelte unwillig den Kopf. "Rein ins Boot. Da unten liegt eine Leine. Hochwerfen und<br />

an einem der Belegnägel festmachen. Und wenn ich festmachen sage, dann meine ich das auch."<br />

"Ay, Käpt´n." Sigismund grüßte spöttisch und wollte sich über Bord hangeln. Im letzten Moment erwischte ihn<br />

Odilon am Kragen. "Bei allen Zwölfen, bloß nicht springen. Willst du den Kahn Richtung Meeresgrund treten?<br />

Nimm die Efferdsleiter da. Aber mach sie vorher fest." Odilon wandte sich ab.<br />

Kopfschüttelnd ging Odilon das Achterdeck hinauf und musterte die zerschossene Takelage. Die Bramrahstange<br />

war, schon seit dem Gefecht mit der Greif, halb heruntergeschossen. Im Großsegel klafften einige ausgefranste<br />

Löcher. <strong>Das</strong> Hauptmaststag war glatt durchgeschossen - nun, da ein Sturm aufkam, machte das Fehlen dieser<br />

stützenden Querverstrebung den ohnehin lädierten Mast gefährlich instabil, und heftiger Wind mochte das<br />

durchlöcherte Großsegel gleich zu Beginn in Fetzen reißen. Schon jetzt drückte der Wind <strong>von</strong> Osten, vom Bug her,<br />

kräftig in die Segel hinein und ließ das Schiff langsam aber sicher nach Steuerbord drehen, um den Anker herum,<br />

den Odilon kurz vor dem Zubettgehen hatte werfen lassen. Der Gedanke war ihm leider viel zu spät gekommen. Er<br />

kannte sich eben doch sehr viel weniger mit der Seefahrt aus, als er gegenüber Selbfried und den anderen vorgab.<br />

Im Grunde hätte Alvan an seiner Stelle stehen müssen, aber der Inquisitor hätte niemals Befehle <strong>von</strong> einer Halbelfe<br />

entgegengenommen. Er, Odilon, sah mit seinem flatternden schwarzen Bart wenigstens aus wie ein alter erfahrener<br />

Seebär. Einen Augenblick lang musste er schmunzeln. Odilon Wildgrimm <strong>von</strong> Gallys, der schwarze Seebär. Dann<br />

rief er sich zur Ordnung. Es war keine Zeit für solche Scherze. Seine Gedanken gingen wieder zurück zu den<br />

Schäden.<br />

<strong>Das</strong> Krähennest am Fockmast war völlig zertrümmert, ebenso das Sprietsegel, das in traurigen Resten vom<br />

mächtigen Bugspriet hing und die Galionsfigur in Mitleidenschaft gezogen hatte. Nun gut, das ließ sich<br />

verschmerzen. Schlimmer war das <strong>von</strong> hier aus unsichtbare Loch im Rumpf, im Lagerraum knapp über der<br />

Wasserlinie, das Alvan, Tika und der Schiffsjunge mit lautem Gehämmer abzudichten versuchten. <strong>Das</strong> dreieckige<br />

Besansegel flatterte zur Hälfte verbrannt im Wind. Die Reling war an vielen Stellen zerhackt, Große Splitter ragten<br />

wie frischgeschlagenes Brennholz in die Höhe. Ein ekliges Gemisch aus Blut und Sand bedeckte den Boden.<br />

"Gunelde, nehmt einen Eimer Wasser und schwabbert den Dreck weg!" kommandierte der Käpt´n. Die Therbûnitin<br />

nickte. Sie hatte bereits einen Besen und einen Putzlappen in der Hand.<br />

Odilon bekam Zweifel an seinem Plan. Eigentlich sollten sie und der Inquisitor machen, dass sie in das Boot kamen<br />

und möglichst schnell zur Küste ruderten. Andererseits, wenn es dort Felsen gab, war ihr Schicksal bei einem<br />

Sturm besiegelt. Sie würden an den Klippen zerschmettert, das Boot zu Kleinholz zerhauen werden. Odilon<br />

versuchte einige male, mit dem Fernroh etwas zu erkennen. Nein, es war zu diesig, und das Land noch viele Meilen<br />

weit entfernt. Was war zu tun? Er verstand nicht all zu viel <strong>von</strong> der Hochseeschifffahrt, aber unter normalen<br />

Umständen wäre es wohl am vernünftigsten gewesen, alle Segel zu setzen und hinauf in den offenen Golf zu<br />

69


fahren, um nicht mit der Schi<strong>von</strong>e gegen irgendeinen Felsen zu krachen und mitsamt der unzähligen Ratten an<br />

Bord abzusaufen.<br />

"Seht da, Odilon." Die Schwester des Barons, die backbord einen Holzeimer an einer Leine ins Wasser gelassen<br />

hatte, deutete über die Reling nach Norden, auf die offene See. Tatsächlich, dort war im Dunst ein Schemen zu<br />

erkennen. Der Gallyser folgte mit dem Fernrohr. Ein Schiff. Der Fockmast fehlte. Es war die "Greif". Sie hielt<br />

geradewegs auf die Fran-Horas zu. Der Baernfarn fluchte wie ein echter Seemann, so dass ihn die Perainedienerin<br />

erschrocken ansah. Die übrigen Piraten! Die hatten ihm gerade noch gefehlt. "Gunelde, holt Alvan her. Schnell!"<br />

Wenige Augenblicke später stand Alvan vor ihm. Seine Tochter war bleich, wirkte aber gefasst. Nun gut, es war<br />

nicht der rechte Augenblick, das schwere Schicksal seiner Tochter zu bejammern.<br />

"Da vorne. Die anderen Piraten kommen zurück, mit der Greif. Irgendwie müssen sie den Araniern entwischt sein."<br />

"Tatsächlich." Alvan blickte durchs Fernrohr. "Backbord Piraten, und da vorne kommt schweres Wetter auf."<br />

"Ein Sturm?"<br />

Die Elfe nahm die Wolken mit dem Fernglas ins Visier.<br />

"Ich weiß nicht. <strong>Das</strong> wäre eine ziemlich plötzliche Wetteränderung. Laut meinem Wettergefühl dürfte es eigentlich<br />

keinen Sturm geben. Wir hatten die letzten Stunden Nebel und Flaute, und der Golf <strong>von</strong> Perricum ist ...war<br />

eigentlich als ein ruhiges Gewässer bekannt. Aber das kann man heute auch nicht mehr so genau sagen. Ich würde<br />

vermuten, wir haben noch eine Galgenfrist <strong>von</strong> etwa einer Stunde, ehe es wirklich ungemütlich wird."<br />

"Tja, die Greif wird dann auf jeden Fall eher hier sein. Aber vielleicht ist das sogar gut so. Da drüben sind nicht nur<br />

die übrigen Piraten, sondern auch ein Teil der Mannschaft. Unser ursprünglicher Plan war ja, die zum Aufstand zu<br />

bewegen. Mal sehen..." überlegte Odilon laut. "Was macht das Leck?"<br />

"Ist jetzt einigermaßen abgedichtet. Tika ist sehr geschickt als Zimmerfrau, jedenfalls geschickter als die Edle <strong>von</strong><br />

Nordenheim. Aber wir haben noch einen zweiten Schaden am Heck entdeckt, da, wo die Galeere entlang<br />

geschrammt ist. Einige Planken sind mächtig eingedrückt, mindestens zwei Schritt in der Breite. Ein Spant ist<br />

vermutlich außen angeknackst. Sickert einiges an Wasser rein, langsam, aber sicher. <strong>Das</strong> können wir mit<br />

Bordmitteln unmöglich ausbessern, nur ein bisschen notdürftig herumflicken. Bis Zorgan dürfte es aber gehen."<br />

"Na wunderbar. Sinken tun wir zu allem Überfluss also auch noch." Odilon grinste sarkastisch. "He, Alrik und<br />

Sigismund, lasst das Boot und geht unter Deck. Besser, die Xeraanier da drüben kriegen uns erst mal nicht zu<br />

Gesicht."<br />

"Hast du einen Plan?" fragte Alvan.<br />

"Nun, viele Piraten können da drüben nicht an Bord sein. Jemand muss rüberschwimmen und die Seeleute befreien,<br />

während die Dreckigen die Asmodena-Horas entern. Der Rest <strong>von</strong> uns versteckt sich unter Deck. Die Gefangenen<br />

sind gut verschnürt, <strong>von</strong> denen gibt keiner einen Mucks. Dann müssen wir kämpfen. Wir haben keine andere Wahl.<br />

Aber wir sind sieben Kämpfer, mit Tika sogar acht. <strong>Das</strong> sollte genügen."<br />

"Wir verwandeln uns also in ein Geisterschiff. Nicht schlecht" Alvan lächelte. "Was machen wir mit Oske und<br />

Sauerbrot?"<br />

"Fesseln, knebeln und dann zu den anderen. Wir können es uns nicht leisten, ihre Loyalität auf die Probe zu<br />

stellen."<br />

"Nun gut. Aber vergiss nicht, dass die meisten <strong>von</strong> uns verwundet und immer noch reichlich erschöpft sind."<br />

"<strong>Das</strong> weiß ich. Wenn es hart auf hart kommt, verschanzt euch in der Kapitänskajüte, mit Mercurio als Geisel.<br />

Nehmt ein paar <strong>von</strong> den Armbrüsten mit. Und vergesst nicht, dass <strong>von</strong> dort eine Luke in den Laderaum führt, die<br />

sowohl <strong>von</strong> Euch als auch gegen euch benutzt werden kann."<br />

"Deinen Worten entnehme ich, dass du schwimmen willst?"<br />

"Ja. Ich werde mich ins Beiboot legen und sobald die "Greif" längsseit geht, unter den beiden Schiffen hindurch<br />

schwimmen und die Mannschaft zu befreien versuchen. Es ist unsere einzige Chance."<br />

"Also gut. Ich sage den anderen bescheid." Alvan versuchte die Besorgnis in ihrer Stimme zu unterdrücken.<br />

"Ja, aber schärf´ ihnen ein, dass sie bloß still sein sollen. Wen <strong>von</strong> den Piraten einer Ärger macht, schlagt ihn<br />

nieder. Und verrammelt die Tür zur Großen Kajüte und die Luke. Und passt auf die Fenster auf. Ich verlass mich<br />

auf dich."<br />

"<strong>Das</strong> kannst du auch, Vater."<br />

Odilon hangelte sich die Efferdsleiter in das kleine Beiboot hinunter.<br />

Dort ließ er sich nieder. Er hatte Zeit, Zeit, die er nutzte, um sich das wenige, was er <strong>von</strong> den Gegebenheiten auf<br />

der "Greif" mitbekommen hatte, sich noch einmal in Erinnerung zu rufen und sich zu konzentrieren.<br />

Als er das Schiff heranrauschen hörte, begann er sich bis auf den Lendenschurz zu entkleiden. Trotz der südlichen<br />

Gefilde war es jetzt, am frühen Vormittag, immer noch ziemlich frisch. Aber er war <strong>von</strong> der Schwarzen Sichel her<br />

Schlimmeres gewohnt. Als Waffe musste ihm ein Dolch genügen.<br />

70


Schließlich hörte er einen Ruf, blechern und hohl, als käme er durch ein metallenes Sprechrohr. "He, Mercurio, was<br />

ist los bei euch? Warum habt ihr Anker geworfen?"<br />

Keine Antwort, natürlich nicht. Einen Augenblick lang glaubte Odilon ein dumpfes Wummern und ersticktes<br />

Stöhnen aus dem Verlies zu hören. Offenbar versuchte einer der Gefangenen, auf sich aufmerksam zu machen.<br />

Sollte er nur. Wenn er, Odilon, das Geräusch kaum zu Gehör bekam, würden die anderen Xeraanier es erst recht<br />

nicht wahrnehmen.<br />

"He, ist da jemand? Bei allen Tentakeln der Tiefen Tochter, was ist los?"<br />

Odilon hängte sich über die Reling, bereit, ins Wasser zu gleiten, sobald die Greif längsseits gehen würde. Aber<br />

genau das war nicht der Fall. Offenbar befürchteten die anderen einen Hinterhalt der Aranier.<br />

So gesehen kam es Odilon gar nicht einmal so ungelegen als ein halblautes "Hilfe!" aus dem Rumpf der<br />

Asmodena-Horas erklang. Dann ein Rumpeln und Krachen, wie <strong>von</strong> einem Handgemenge. Einen Augenblick lang<br />

wurde ihm trotz der frischen Seeluft und der Kühle vom Meer her heiß. Irgendeiner da drinnen machte Radau,<br />

vermutlich der vierschrötige Sauerbrot. Nun denn, auf der "Greif" würde diese Botschaft hoffentlich erst recht<br />

Neugierde wecken.<br />

Tatsächlich, der Köder lockte den Haifisch an. Odilon hörte Rudergeräusche, ein rhythmisches Platschen und<br />

Quietschen der Dollen.<br />

Verdammt, die schlauen Burschen gingen nicht längsseits, sondern schickten erst mal ein Enterkommando. <strong>Das</strong><br />

hatte er bei seinem Plan nicht bedacht.<br />

Immerhin, damit teilten sie ihre Kräfte, was schon einmal ein schwer wiegender taktischer Fehler war. Blieb nur<br />

noch das Problem, wie er die sicherlich mehrere Dutzend Schritt bis zur Greif zurücklegen sollte. Hastig verstaute<br />

er seine Gewänder zu einem Bündel und versenkte sie an einem Strick neben dem Boot. Dann glitt er ins Wasser.<br />

Keinen Augenblick zu früh, denn die schlauen Burschen machten sich daran, die Schi<strong>von</strong>e erst einmal aus sicherer<br />

Entfernung zu umrunden. Zum Glück hatte das Rumoren im Schiff nachgelassen. Nur das Knarren der Spannten<br />

und Taue, das Flattern der Segel und das Klatschen der Wellen waren noch zu hören - und die Geräusche vom<br />

Ruderboot. Salziges Wasser schlug Odilon bis zur Unterlippe, als er im Meer versank, Salz brannte in seinen<br />

Augen. Verdammt, die Xeraanier verhielten sich überhaupt nicht so, wie er sich das wünschte. Odilon ging hinter<br />

dem Boot in Deckung. Regen begann herabzuplätschern, erschwerte den Ruderern die Sicht.<br />

Neben Odilon schaukelte unschuldig eine verkorkte Tonflasche, offenbar leer. Efferd mochte wissen, wer sie ins<br />

Wasser geworfen hatte. Plötzlich hatte er eine Idee. Mit dem Dolch bohrte er ein fingerbreites Loch in den<br />

Flaschenboden und nahm den Hals in den Mund. Dann drückte er sich am mit Algen und Muscheln bewachsenen<br />

Schiffsrumpf der Schi<strong>von</strong>e nach unten, ins Dunkle, grüngraue Wasser, tauchte mit der Flasche in der Hand zur<br />

Ankerkette, wobei er den Daumen auf das Loch presste, hielt sich mit der Rechten an der Kette fest und hob den<br />

Flaschenhals wie ein Atemrohr an den Mund. Tatsächlich, es funktionierte, er konnte unter Wasser atmen und<br />

sogar ein wenig sehen, wenn auch nur einen grauen Schleier. Die Augen brannten niederhöllisch. <strong>Das</strong> Boot kam<br />

mit großem Lärm heran - fast hätte er meinen können - es rudere über ihn hinweg, was aber sichtlich eine<br />

Sinnestäuschung war -und ging längsseits. Nachdem er sicher war, dass die Besatzung das Schinakel verlassen<br />

hatte, tauchte Odilon vorsichtig auf. Tatsächlich, der letzte Pirat kletterte gerade über die Reling.<br />

Er schwamm um den Bug der Schi<strong>von</strong>e herum und sah zur Greif hinüber. Sie war näher, als er es <strong>von</strong> der<br />

Geräuschkulisse her erwartet hätte, höchstens zwanzig Schritt backbord. Als guter Schwimmer konnte er diese<br />

Strecke auch tauchend bewältigen.<br />

Er holte ein paar Mal ruhig und tief Luft und tauchte dann hinunter in die kalte, grüngraue Tiefe, den massigen<br />

Leib des Greifen immer vor Augen. Mit kräftigen Arm und Beinbewegungen durchschnitt er in einigen Schritt<br />

Tiefe das salzige Wasser. Schon auf der Hälfte des Weges begann sein Brustkorb zu schmerzen. Der Drang zu<br />

Atmen nahm überhand. Aber er durfte jetzt noch nicht auftauchen, oder er wäre des Todes.<br />

Mit Sternchen vor Augen schwamm er weiter, taumelte halbblind und halberstickt dem großen Schatten entgegen,<br />

hörte kaum definierbare Geräusche - Stimmen? Knarren? Wellenschlag? - <strong>von</strong> der Wasseroberfläche.<br />

Schließlich ertasteten seine Finger den glitschigen, mit Algen und Muscheln bewachsenen Rumpf des Kauffahrers.<br />

Mit einer letzten Willens- und Kraftanstrengung tauchte er nach unten, riß sich den Rücken übel an einer der<br />

Muscheln auf, packte den Kiel mit beiden Händen und schoss dann auf der anderen Seite, einen kleinen<br />

Fischschwarm auseinanderscheuchend, nach oben. Prustend und keuchend stieß er seinen Kopf aus dem Wasser,<br />

achtete nicht mehr auf Heimlichkeit. Luft, atmen, endlich wieder Luft...<br />

Zum Glück schienen die Piraten allesamt gespannt auf die Fran-Horas zu starren, die Hand vermutlich bereits am<br />

Abzug der Rotzen, als dass sie ihn bemerkt hätten. Erst jetzt merkte er, dass er zu weit unten schwamm, als dass er<br />

an Bord hätte klettern können.<br />

Nachdem er sich einige Atemzüge lang erholt hatte, schwamm er zum Heck. Über das Ruderblatt musste er<br />

irgendwie in die Kajüte gelangen können. Geschickt hangelte er sich hinauf, rutschte wieder ab, versuchte es<br />

erneut. Tatsächlich hing er irgendwann am Fenster, schnaufend, sich mit der einen Hand am Fensterbord, mit der<br />

anderen an irgendeinem Schnitzwerk festhalten. "Fensterln im Golf <strong>von</strong> Perricum, na wunderbar!" flüsterte er, nur<br />

71


für sich selbst hörbar. Er hatte Glück, eines der Fenster war offen. Als geschickter Kletterer war es ihm ein leichtes,<br />

in die Kajüte einzusteigen. Sie ähnelte ein wenig der auf der Asmodena-Horas, nur dass sie sauberer und etwas<br />

kleiner war. Odilon zog den Dolch aus der Scheide, die er sich um den Unterschenkel gebunden hatte, und huschte<br />

damit, prustend und tropfnass zur Tür. Etwas Tang fiel aus seinem Haar zu Boden. Der Abenteurer musste grimmig<br />

lächeln. Wenn jetzt ein Pirat hereinkäme, würde er ihn im ersten Moment für einen Necker halten. Vorsichtig<br />

öffnete er die Tür. Wie er erwartet hatte, standen draußen die Piraten an den beiden Backbordrotzen der Greif und<br />

starrten nervös hinüber.<br />

Genau in diesem Moment war <strong>von</strong> dort drüben ein lauter Schrei und Kampflärm zu hören. Offenbar lagen auch bei<br />

den Xeraaniern mittlerweile die Nerven so blank, dass sie ohne zu zögern auf ein Schiff schossen, dass nicht nur ihr<br />

eigenes war, sondern auf dem sich sogar mehrere ihrer Kameraden befanden.<br />

"Aufhören, ihr versenkt die Fran-Horas, ihr Idioten!" brüllte vom Achterdeck der Anführer. "Erst schießen, wenn<br />

die Aranier auch schießen. Wollen uns ´ne Falle stellen, die Brüder. Ne Falle wollen die uns stellen. Aber nicht mit<br />

mir. Nicht mit Bludor Einhand!"<br />

Dann starrte ihn ES an, ein glitschiges, feuchtglänzendes Etwas - Fischmensch, Krötenwesen, aufrechtgehender<br />

Fisch? - mit glasigen Froschaugen, dass offenbar den Schatten der Achtertrutz gesucht und direkt neben ihm<br />

gekauert hatte. Beherzt griff Odilon zu, zerrte das Untier in die Kajüte und trieb ihm die Klinge in die Kehle. Zum<br />

Glück sah das Wesen nicht nur aus wie ein Fisch, es starb auch wie ein Fisch, völlig stumm. Ein Krakonier...<br />

Angeekelt sah Odilon auf das ölige Blut an seinen Händen, dann schob er den "Piraten" hinter die Tür und nahm<br />

dessen Waffe, einen grausam gezackten Fischspieß in die Hand. Was sollte er nun tun? Draußen waren nicht viele<br />

Piraten gewesen, höchstens ein Dutzend, eine Zahl <strong>von</strong> Gegnern, mit der es dennoch höchst ungern allein<br />

aufnehmen wollte.<br />

Ausgerechnet in diesem Moment ging die Tür auf, und einer der Piraten trat herein, das Entermesser zum Angriff<br />

erhoben <strong>Das</strong> letzte, was der Pirat für lange Zeit spürte, war eine schwielige Hand, die sich um seinen Mund legte<br />

und eine weitere, die seine Stirn gegen den Deckenbalken krachte.<br />

Kurze Zeit später huschte Odilon hinaus, den Dreispitz des Piraten auf den Kopf, das schmutzige Matrosenhemd<br />

und die Pluderhosen am Leib und das Halstuch in Räubermanier vor das Gesicht gebunden, bewaffnet mit<br />

Fischspieß, Dolch und Entermesser.<br />

"He, du da! Was machst du in der Kapitänskajüte? Willst wohl die Kasse klauen, was? Oder dich vor den Araniern<br />

verstecken? Auf deinen Posten, aber ein bisschen fix!" dröhnte es <strong>von</strong> oben. "Und ihr da, behaltet gefälligst die<br />

Fran-Horas im Auge und glotzt nicht wie die Hummerier in der Gegend herum!"<br />

Odilon tat, als höre er nicht, lief die Treppe nach unten, in Richtung Bilge. Eine kräftige Hand packte ihn an der<br />

Schulter: "Wo latscht du hin, Gerrik? An die Rotze mit dir, du feiges Schwein!"<br />

Wie eine Wildkatze fuhr Odilon herum, packte das Handgelenk des einhändigen Piraten und hebelte mit dem Bein<br />

dessen Fuß weg, so dass dieser verblüfft keuchend die steile Treppe hinunter stürzte. Dort blieb der Anführer liegen<br />

und starrte mit glasigen Augen zur Decke. Sauberer Genickbruch...<br />

Odilon eilte nach unten, brach mit dem Entermesser das Vorhängeschloss auf, das die Luke zur Bilge verschloss.<br />

Kaum hatte er sie gehoben, starrten ihn die grauen, aschfahlen Gesichter der Handelsmatrosen an, die hier<br />

zusammengepfercht waren, gezeichnet <strong>von</strong> einer Nacht des Grauens in völliger Dunkelheit und Todesangst. Einige<br />

waren offensichtlich vor Luftmangel ohnmächtig geworden.<br />

"Ich bin gekommen, um Euch zu befreien. Wer <strong>von</strong> Euch ist der Kapitän?"<br />

Misstrauische Blicke trafen ihn. Natürlich, für die Matrosen war er ja immer noch der <strong>von</strong> der Inquisition<br />

gefangene und <strong>von</strong> seinen Mitfrevlern befreite Dämonenanbeter.<br />

"Ich bin die Kapitänin" Eine helle, dennoch kräftige Stimme erklang." Was willst du <strong>von</strong> uns, Verräter?"<br />

"Ich..." Odilon hörte hinter sich ein Surren. Instinktiv riss er das Entermesser hoch, gerade rechtzeitig, um den<br />

Rapierstoß einer Piratin zu parieren. Sein Fischspieß zischte vor, streifte ihren Oberschenkel. Odilon, der es nicht<br />

gewohnt war, mit derartigen Waffen zweihändig zu kämpfen, warf den Spieß mit dem Schaft voran nach unten und<br />

parierte einen zweiten Hieb. Dann fintete er auf den Kopf, schlug im letzten Moment in Richtung Bauch. Die<br />

Piratin parierte verblüffend geschickt. Odilon, der keine Zeit für Spielchen hatte, brüllte seine Gegnerin an, die<br />

eingeschüchtert zurück wich. <strong>Das</strong> Entermesser fuhr ihr in den Leib, genau, in die Stelle zwischen Schulterblatt und<br />

Hals. Ein weiterer Stoß zwischen die Rippen gab ihr den Rest. Blutspuckend und zuckend brach sie zusammen.<br />

Odilon wischte sich über das Gesicht, wo sich Schweiß und etwas Blut angesammelt hatten. Erst jetzt merkte er,<br />

dass das Rapier ihm einen leichten Schnitt am Kopf zugefügt hatte. Triumphierend drehte er sich zu den<br />

Gefangenen um.<br />

"Glaubt ihr mir jetzt, dass ich auf eurer Seite stehe?"<br />

Die Kapitänin nickte grimmig und huschte mit dem Spieß in der Hand nach oben. Zögernd taumelte die<br />

Mannschaft sicherlich zwei Dutzend Männer und Frauen hinterher, zumindest die, die noch laufen konnten. Ein<br />

junger Matrose griff sich das Rapier der toten Piratin. Odilon reichte seinen Dolch dem Nebenmann. "Macht die<br />

verdammten Dämonenanbeter fertig, bei Efferd!" kommandierte die Kapitänin.<br />

72


Ein zustimmendes Geheul erklang, dann stürmte die Meute nach oben, im Vorübergehen noch den Säbel des Toten<br />

neben der Treppe an sich reißend. Odilon stürmte voran, wie ein Wirbelwind in die Reihen der Piraten, fegte einen<br />

Richtschützen mit einem einzigen gewaltigen Hieb über Bord. Der nun folgende Kampf war kurz und heftig. Der<br />

Baernfarn musste einen wütenden Axthieb ausweichen, dann sprang ihn einer der Handelsmatrosen bei, der seiner<br />

Gegnerin mit Urgewalt eine steinerne Rotzenkugel auf den Kopf hieb.<br />

Zwei Mittelreicher fielen unter Säbelhieben, einer wurde <strong>von</strong> einem Armbrustbolzen durchbohrt. Die acht Piraten,<br />

die noch standen, wehrten sich verbissen und musste Mann für Mann, Frau für Frau niedergemacht werden, mit<br />

Belegnägeln, Tauenden, aufgelesenen Klingen. Als letztes gab Odilon seinem Gegner, einen pockennarbigen,<br />

leichenblassen Gassenstrolch, den Todesstoß.<br />

Schwer atmend wandte er sich der Kapitänin zu, die aus einer tiefen Armwunde blutete. Die sah ihn immer noch<br />

verwirrt an. "Wo kommt Ihr plötzlich her. Ich dachte, man hätte Euch auf das Piratenschiff gebracht?"<br />

"<strong>Das</strong> liegt da drüben. Ich bin herübergeschwommen um Euch zu befreien" Tatsächlich wurde die Greif gerade auf<br />

die Asmodena-Horas zu getrieben, <strong>von</strong> großen Wellen, die vom offenen Perlenmeer heranschlugen. Heftiger Regen<br />

prasselte herab. Es wurde zunehmend dunkler, windiger. Odilon war sich keineswegs sicher, ob ihnen nicht doch<br />

ein heftiger Sturm bevorstand, auch wenn dieser seinem Empfinden für einen normalen Wetterkreislauf irgendwie<br />

widersprach. Aber das hier war die Blutige See.<br />

"Ich danke Euch. Noch ein Tag in diesem Rattenloch und die ersten <strong>von</strong> uns wären gestorben."<br />

"Ich weiß sehr gut, wie man sich da unten fühlt. Und Ihr, Ihr seid nicht <strong>von</strong> den Araniern aufgebracht worden?"<br />

"Nein" Die Kapitänin, eine schwarzhaarige, ein wenig tulamidisch wirkende Frau Anfang 40, schüttelte den Kopf.<br />

"Auch wenn es knapp war. Die Schweine haben einige meiner Leute über Bord geworfen und die anderen an den<br />

Masten festgebunden, so dass die Aranier nicht gewagt haben zu schießen und damit beschäftigt waren, die im<br />

Wasser Treibenden aufzufischen. Und dann ist dieser unheimliche grüne Nebel aufgekommen und hat uns <strong>von</strong><br />

unseren Rettern getrennt. "<br />

"Verstehe. Mein Name ist Odilon Wildgrimm. Ich bin...meine Rolle ist ein wenig kompliziert. Ihr könnt mir auf<br />

jeden Fall vertrauen. Meister Selbfried, der Inquisitor ist mittlerweile auf unserer Seite. Er und meine Gefährten<br />

sind an Bord des Piratenschiffes. Wir müssen ihnen helfen. "<br />

"Ihr habt mir und meiner Mannschaft geholfen und dafür bin ich Euch zu dank verpflichtet. Kapitänin Undinai<br />

Darpfanger aus Perricum" Die Kapitänin deutete eine Verneigung an - und sah dann besorgt nach Westen: "Ich<br />

fürchte, da braut sich etwas zusammen. In spätestens einer Stunde haben wir einen fürchterlichen Orkan. Bis<br />

Zorgan werden wir es wohl nicht mehr schaffen. Wir sollten machen, dass wir <strong>von</strong> Land wegkommen."<br />

Odilon nickte und sah dann zur Schi<strong>von</strong>e hinüber. An Deck war nichts zu sehen, bis auf die Leiche eines Piraten,<br />

der offenbar <strong>von</strong> einer Rotzenkugel getroffen worden war und nun mit abgerissenem Arm über der Reling hing.<br />

Die Dreckigen hatten in ihrer Panik den eigenen Spießgesellen über den Haufen geschossen... In der Vordertrutz<br />

klaffte ein großes Loch. Sonst waren keine neuen Treffer zu erkennen.<br />

"Da sind noch Piraten drüben. Ich muss meinen Gefährten helfen."<br />

"Nun gut" antwortete Käpitänin Darpfanger. "Jarlan, du übernimmst das Steuer. Gehen wir längsseits."<br />

In diesem Augenblick war ein lautes Krachen aus dem Laderaum zu hören, erst einmal, dann noch einmal,<br />

schließlich regelmäßig.<br />

Odilon zog sein Entermesser und rannte nach unten. Wutbrüllend stand dort ein rotbärtiger Hüne, eine Klappe auf<br />

dem rechten Auge und schlug mit einer Axt gegen die Planken. Sein Zerstörungswerk war bereits fortgeschritten.<br />

Wasser sprühte hervor, erst ein kleiner Nebel, dann eine regelrechte Fontäne. Der Pirat, ein walwütiger (oder<br />

einfach nur irrsinniger) Thorwaler, wie Odilon sofort erkannte, schlug noch einmal zu.<br />

"Wenn wir die Greif nicht bekommen, bekommt sie niemand!" brüllte der Rotbart, während sein zu Zöpfen<br />

geflochtener Bart weithin abstand. "Verstehst du? U-ägga! U-ägga Charyptoroth! U-ägga Hranngar!"<br />

Dann griff der rote Riese an. Odilon wich aus, und der Hieb ging in die Bodenplanke. Der Thorwaler riß die Axt<br />

erneut heraus und versuchte Odilon den Kopf abzuschlagen. Der Gallyser duckte sich weg. Die Axt krachte erneut<br />

in die Stelle, wo bereits das Wasser eindrang. Aus der Fontäne wurde eine Flutwelle. Odilon wollte angreifen, als<br />

sich etwas um seinen Hals schlang. Ein Tentakel aus kaltem, salzigem Wasser.<br />

Der Thorwaler grinste und hob die Axt über den Kopf. <strong>Das</strong> Ungetüm <strong>von</strong> einer Waffe surrte herab. Sich selbst<br />

dabei halb erdrosselnd, sprang Odilon mit äußerster Kraftanstrengung zur Seite. Die Axt durchtrennte die<br />

Würgewelle, die sich platschend in eine salzige Lake auflöste.<br />

"Du solltest nicht derart unheilige Namen im Munde führen!" Odilon keuchte, versuchte die gewaltigen Hiebe<br />

seines Gegners zu unterlaufen. Er war es einfach nicht gewohnt, mit einem Entermesser gegen einen derartigen<br />

Riesen zu kämpfen. Dieser schlug mindestens ebenso oft gegen die Bordwand wie auf seinen zwergenhaft<br />

wirkenden Gegner ein, der um seine Füße herumwuselte. Mittlerweile stand das Wasser schon knöcheltief im<br />

Laderaum.<br />

Odilon parierte einen weiteren Hieb, dann zerbrach mit metallischem Klirren sein Entermesser. Der Waldläufer<br />

konnte gerade noch ausweichen, bevor die monströse Barbarenstreitaxt ein Fass aranischen Rotwein zertrümmerte.<br />

Odilon glitt aus, fiel zu Boden. <strong>Das</strong> brüllende Ungeheuer stand über ihm, hob die Axt - und starrte dann auf den<br />

73


gezackten Fischsspieß, der ihm aus der Brust ragte. Der Gallyser sprang auf, riss einen Dolch aus dem Gürtel des<br />

Thorwalers - oder Gjalskerländers? - und stieß ihn bis zum Heft in dessen Bauch. Schreiend und sein Blut<br />

verspritzend wich dieser zurück und hatte noch die Kraft, den Matrosen den Kopf abzuschlagen, der Odilon zu<br />

Hilfe gekommen war.<br />

"Hranngar, Herrin aus Nachtblauen Tiefen, zerstöre dieses Schiff!" Der todverwundete Pirat hob ein Amulett, das<br />

ein ekliges Gewimmel <strong>von</strong> Kraken und Seeschlangen zeigte.<br />

"Charyptoroth, vernichte dieses Schiff! Vernichte seine Mannschaft! Vernichte sie alle! U-ägga! U-ägga<br />

Charyptoroth! U-ägga Hranngar!"<br />

Ein unterseeisches Rütteln ging durch den Rumpf der Greif, ein Krachen und Splittern. Die hölzerne Haut des<br />

Schiffes platzte auf mehreren Schritt Breite regelrecht auf, und Quadern <strong>von</strong> Salzwassern strömten herein.<br />

Dutzende grünlich schimmernder Wassertentakel umschlangen den sterbenden Seeräuber - und rissen ihn durch<br />

den Schiffsrumpf hindurch in die Blutige See, die mit einem Mal zu kochen und zu toben begann.<br />

Die "Greif <strong>von</strong> Beilunk" begann Vollzulaufen wie ein Faß und wegzusacken wie ein Stein. Raus hier, nicht als<br />

raus, war Odilons letzter klarer Gedanke, bevor er nach oben zu rennen begann.<br />

Die „Greif <strong>von</strong> Beilunk sank schnell. Odilon hatte das Deck gerade erst erreicht, als sich das Heck des Schiffes<br />

schon beträchtlich neigte. Odilon schätzte, dass ihnen nicht mehr als fünf Minuten Zeit blieben, das Schiff zu<br />

verlassen. Der Paktierer hatte mit Charyptoroths Hilfe ein wahrhaft großes Leck in die heckwärts gelegene<br />

Backbordwand des Schiffes geschlagen. Drei Matrosen hatte die Panik ergriffen, sie sprangen über Bord und<br />

versuchten schwimmend die Asmodena-Horas zu erreichen.<br />

„Hortensen, Maldor und Eckbert, Ihr lasst das Beiboot zu Wasser!“ Undinais laute Stimme übertönte das<br />

entstehende Chaos an Bord. „Fredo, Du gehst in die Kapitänskajüte und holst Logbuch und Bordkasse! Alrike,<br />

Arto und Hildegunde, ihr drei holt soviel Waffen als ihr Tragen könnt aus der Bilge. Vielleicht müssen wir drüben<br />

noch kämpfen. Alle anderen bewahren Ruhe. Wir gehen in zwei Minuten <strong>von</strong> Bord, es ist genügend Raum für alle<br />

im Boot!“<br />

Letztere Behauptung stimmte nicht ganz. <strong>Das</strong> Beiboot war für zehn Mann gedacht, das zweite Beiboot war ja mit<br />

dem Vorauskommando zur Asmodena-Horas gerudert und an der Schi<strong>von</strong>e vertäut. Und auch wenn man das<br />

verbliebene Beiboot mehr als eingeplant bemannen konnte für die wenigen Schritt Entfernung zur Schi<strong>von</strong>e, so<br />

würde es nicht reichen für die knapp zwei Dutzend Seeleute. Aber immerhin brachte die autoritäre Stimme der<br />

Kapitänin Ruhe in die Reihen der Matrosen.<br />

„Frau Kapitän! Ich werde hinüberschwimmen und das Beiboot der Asmodena-Horas holen. Euer bester<br />

Schwimmer an Bord sollte die Nussschale zu erreichen versuchen, die das Piratenpack benutzt hat!“ rief Odilon<br />

Undinai zu. Undinai gab einer Matrosin einen Wink. Fast gleichzeitig mit Odilon sprang sie über Bord und kraulte<br />

auf die Asmodena-Horas zu. Es waren nur zwanzig Schritt, aber der Wind hatte aufgefrischt, und ein kräftiger<br />

Wellengang machte es den Schwimmern nicht leichter.<br />

<strong>Das</strong> Heck der Greif lag nur noch einen knappen Schritt über der Wasserlinie. Mit einem trotz des Windes hörbaren<br />

Platschen fiel das Beiboot ins Wasser. Ein Matrose befestigte rasch eine Strickleiter an der Reling. Sie reichte nicht<br />

bis zum Boot. Unglücklicherweise war das Boot weit bugwärts positioniert gewesen. Und der Bug des Schiffes hob<br />

sich im gleichen Maß wie das Heck sich senkte.<br />

“Alle rein ins Boot, aber in geordneter Reihenfolge!“ kommandierte Undinai. Aber die Matrosen beherzigten<br />

lediglich den ersten Teil ihres Befehls. So mancher zog es vor, direkt in das Meer zu springen und mit wenigen<br />

Zügen zum Boot zu schwimmen anstatt sich in ordnungsgemäßer Reihe anzustellen. In kurzer Zeit war das Boot<br />

voll. Es würde sinken, wenn sich jetzt noch mehr in das Boot drängen würden.<br />

„Zurück!“ rief Undinai. „Alle zurück. <strong>Das</strong> Boot ist voll. Fredo, wirf ihnen Logbuch und Bordkasse zu!“ Der<br />

Matrose gehorchte. Undinai und ein weiterer Matrose drängten die in Panik verfallenen Umstehenden Seeleute<br />

zurück. Nur widerwillig gehorchten sie. Die Greif neigte sich mit plötzlichem Ruck weiter nach hinten. Undinai<br />

stürzte.<br />

Noch während die Kapitänin sich wieder aufrappelte gab sie weitere Order. „Hildegunde, reich ihnen die Klingen<br />

nach unten. Die Matrosin hatte vier Säbel geholt. Sie kletterte die Strickleiter nach unten und warf dann – es fehlten<br />

gut vier Schritt – den im Boot sitzenden die Säbel zu. Arto hatte drei weitere Klingen geholt und stand bereit,<br />

Hildegunde zu folgen. Alrike war nicht zu sehen. Undinai vermochte es nicht zu sagen, ob Alrike noch in der Bilge<br />

war oder ob sie schon über Bord gesprungen war. Ein weiterer Ruck ging durch das Schiff. Die Greif sackte nicht<br />

nur nach hinten Weg, sondern drohte auch noch zur Seite zu kippen. Würde das Schiff sich noch mehr zur Seite<br />

neigen so würde es das Beiboot mit in die Tiefe ziehen.<br />

SCHRUUUUPPPS<br />

Mit einem lauten schleifenden Geräusch lösten sich zwei Wasserfässer aus ihrer Verankerung am Bug des Schiffes<br />

und rollten über das Deck der Greif. Zwei Matrosen sprangen zur Seite, Arto jedoch reagierte zu langsam. Ein Faß<br />

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überrollte ihn. Dabei ließ der Seemann die Säbel fallen. Vielleicht hätte er Phex häufiger in seine Gebete<br />

einbeziehen sollen, dann hätte er sich beim Sturz vielleicht nicht einen Säbel durch den eigenen Magen gebohrt.<br />

Die Seeleute im Boot ruderten mit allen Kräften <strong>von</strong> der Greif weg. Sie ließen ihre Gefährten im Stich, hätten ihnen<br />

aber auch kaum helfen können. Wer jetzt noch in der Nähe der Greif blieb lief Gefahr, in den Sog des sinkenden<br />

Schiffes zu geraten und in die Tiefe gerissen zu werden. Die Balken und Planken der Greif ächzten und stöhnten<br />

unter der Belastung.<br />

GJJÖÖRRRGH! KNAARRKKH<br />

Ein Ballen Segeltuch rutschte nach hinten über das Deck. Ein Stag brach unter der Belastung. Ein Segel fiel herab<br />

auf das Deck und begrub zwei Matrosen und Kapitänin Undinai unter sich. Jetzt hielt es niemand mehr an Bord.<br />

Die wenigen, die noch an Deck standen, sprangen in das kalte Wasser des Golfes <strong>von</strong> Perricum und schwammen so<br />

schnell als ihnen möglich weg in Richtung der Asmodena-Horas.<br />

RRHUMMP-RRHUMMP-RRHUMMP<br />

Mit schreckerfüllten Blicken bemerkten die Matrosen, dass die Asmodena-Horas ihre Ankerkette lichtete. In einer<br />

kleinen Nussschale dem kommenden Sturm ausgesetzt zu sein bedeutete den sicheren Tod. Die Seeleute in ihrem<br />

Beiboot ruderten mit aller noch in ihren erschöpften Körpern verbliebenen Kraft. Natürlich, es würde länger<br />

dauern, bis die angeschlagene Schi<strong>von</strong>e Fahrt aufnahm. Aber ebenso schwer würde es werden, ohne Hilfe die hohe<br />

Bordwand der Schi<strong>von</strong>e zu erklimmen, außerdem war man natürlich Schusswaffen im Beiboot wehrlos<br />

ausgeliefert.<br />

Ein Boot bewegte sich auf die sinkende Greif zu. Die Matrosin Jandrijia hatte das Boot der Piraten erreicht und<br />

ruderte zu ihren Gefährten.<br />

Der Rumpf der Greif stellte sich senkrecht auf, dabei erklang ein lautes, durchdringendes Knarren des Holzes, das<br />

sich fast wie ein Wehklagen anhörte. Für einen kurzen Moment flaute der Wind ab. Es war, als wollte Efferd dem<br />

stolzen Schiff eine letzte Ehre erweisen. Dann sank die Greif mit stetiger Bewegung. Schritt um Schritt verschlang<br />

die charyptische See die Greif, zog sie unerbittlich in die Tiefe. Nach einer halben Minute war nichts mehr <strong>von</strong><br />

dem Schiff zu sehen. Die Matrosen im Boot konnten nicht sehen, ob es allen ihren Kameraden rechtzeitig gelungen<br />

war, aus dem Sogbereich der Greif zu entfliehen. Die verbleibenden schwimmenden Seeleute versuchten, das <strong>von</strong><br />

Jandrijia gesteuerte Boot zu erreichen.<br />

„Wenn ihr näher rudert werdet ihr erschossen!“<br />

Odilon erkannte die Stimme trotz des wiederaufkommenden Windes. Es war Xenia, die Bootsfrau der Piraten.<br />

Offenbar war es dem Spähtrupp der Piraten gelungen, ihre Kumpane zu befreien. Was mochte an Bord der<br />

Schi<strong>von</strong>e geschehen sein? Wie war es seinen Gefährten ergangen? Odilon umschwamm gerade das Heck der<br />

Asmodena-Horas um das Beiboot zu erreichen. Doch nun änderte er sein Vorhaben. Er hoffte, dass es der Matrosin<br />

gelungen war, das zweite Boot zu erreichen und die Seeleute zu retten. Aber wenn er jetzt nicht an Bord gelangte<br />

und wenn die Piraten die Macht an Bord innehatten war vielleicht alles verloren. Mit einem kräftigen Schwimmzug<br />

gelangte Odilon zur Ankerkette. Mit beiden Händen griff er nach der Ankerkette um sich nach oben ziehen zu<br />

lassen. Den Zwölfen sei dank hatte er immer noch den Dolch um seine Wade geschnallt. Langsam, Schritt um<br />

Schritt, wurde Odilon nach oben gezogen. Als er auf Deckhöhe war suchten seine Hände Halt an der Bordwand.<br />

Vorsichtig hangelte er sich, mit den Fingern an Deck hängend, außen an der Bordwand entlang, zog sich dann über<br />

die Reling und versteckte sich im Schatten einer hier gelagerten Holzkiste. Vorsichtig spähte er hinter der Kiste<br />

hervor.<br />

Zwei Piraten – Dusan und ein ihm unbekannter Pirat – bedienten die Ankertrosse und holten den Anker ein.<br />

Weitere fünf, drei da<strong>von</strong> mit Armbrüsten bewaffnet, bedrohten die heranrudernden und -schwimmenden Seeleute.<br />

Odilon erkannte Linne, Oske und Sauerbrot unter den fünfen. Zwei weitere – Svanja und Kobad erkannte Odilon –<br />

bewachten die Kapitänskajüte, wo sich der Situation nach zu schließen seine Gefährten hoffentlich alle noch lebend<br />

und unverletzt verschanzt hatten. Beide waren mit Armbrüsten bewaffnet. Alle anderen Piraten waren nur mit<br />

Klingenwaffen ausgestattet. Xenia führte offenbar das Kommando. Fredor lag in einer großen Blutlache erschlagen<br />

an Deck, daneben zwei weitere Piraten, die wohl dem Voraustrupp angehört hatten. Ein Pirat fehlte: Zoltan, der<br />

letzte der einstigen Gefangenen. Wo er verblieben war vermochte Odilon nicht zu sagen. Auch wusste er nicht, ob<br />

möglicherweise ein oder zwei ihm unbekannte Piraten des Erkundungstrupps noch am Leben war und sich<br />

verborgen hielt.<br />

Odilon erkannte auch noch in der hereinbrechenden Dämmerung, dass die Seeleute der gesunkenen Greif sich an<br />

Bord der beiden Boote hatten retten können. Er schätzte ihre Zahl auf knapp Zwanzig ein, die aber schlecht<br />

bewaffnet und in schlechter strategischer Situation waren.<br />

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Odilon traute es sich zu, die beiden Piraten an der Ankertrosse zu überwältigen, aber er würde es vermutlich nicht<br />

verhindern können, dass sie noch Alarm geben könnten. Aber vielleicht würde die dann entstehende<br />

unübersichtliche Situation seinen Gefährten und den Matrosen die Möglichkeit zum Handeln geben. Verdammt,<br />

dachte Odilon. Von seiner jetzt zu treffenden Entscheidung und seinem Erfolg hing Wohl und Wehe aller ab. Er<br />

wog die Chancen eines Angriffes ab. Einen Vorteil hatte er immerhin: Um die Armbrüste nachzuladen würden die<br />

Piraten vermutlich keine Gelegenheit haben. Wenn ihre ersten Schüsse nicht trafen – und sie hatten nur fünf mit<br />

Armbrüsten bewaffnete – würden sie zum Nachladen einige Zeit brauchen. Und er hoffte darauf, dass dann seine<br />

Gefährten im Vorteil waren, denn die müßten immerhin Bavhano Bvaith und Alvans Kurzbogen haben. Und Bögen<br />

hatten eine weitaus kürzere Ladezeit als Armbrüste. Er könnte es darauf ankommen lassen und auf Rondras<br />

Beistand hoffen. Oder er könnte versuchen, sich einen auf Heimlichkeit bedachten Plan zu ersinnen. Aber er wusste<br />

natürlich nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb ehe der Sturm in voller Stärke hereinbrach und die Seeleute in ihren<br />

kleinen Booten dem sicheren Tod preisgab.<br />

Die Piraten an der Reling schossen ihre Armbrüste ab, um das Boot mit den Matrosen auf Abstand zu halten.<br />

Schreckens - vielleicht aber auch Schmerzensschreie waren zu hören. Nun taten die Seeräuber das, was Odilon<br />

eigentlich erwartet hatte, was ihn nun aber dennoch kalte Schauer über den Rücken jagte: Sie begannen eine der<br />

vier Backbordrotzen zu spannen und auszurichten. Auf diese Entfernung konnten sie ein vollbeladenes Beiboot<br />

eigentlich nicht verfehlen. Er musste etwas unternehmen - nur was?<br />

Odilon hob den Deckel der Holzkiste etwas an, um nachzusehen, was sich darin befand. Lautlos pfiff er durch die<br />

Zähne. Ein weiteres Mal hatte er Glück: es war eine Waffentruhe, schon größtenteils leergeräumt, aber immerhin<br />

lagen noch zwei Entermesser und ein Wurfbeil auf ihrem Boden.<br />

<strong>Das</strong> war schon einmal besser als sein lausiger Dolch.<br />

Sollte er kämpfen? Aber da drüben stand eine handfeste Übermacht, er selbst fühlte sich mit einem mal ziemlich<br />

erschöpft <strong>von</strong> den Strapazen der letzten Stunden: Der Hieb auf den Kopf, die Gefangenschaft, die Kämpfe, die<br />

nahezu schlaflose Nacht, das Schwimmen im kalten, stürmischen Golf forderten langsam ihren Tribut <strong>von</strong> dem<br />

alten Recken. So ähnlich hatte er sich das letzte Mal nach der Schlacht <strong>von</strong> Altzoll gefühlt. Sollte er wirklich einen<br />

Kampf wagen?<br />

Die Entscheidung wurde Odilon <strong>von</strong> dem namenlosen Piraten an der Winde abgenommen, der - vielleicht<br />

misstrauisch geworden ob des plötzlich veränderten Gewichts an der Ankerkette - nervös über die Reling gespäht<br />

hätte und nun einen Eindringling hinter der Holzkiste erspähte. Der Bursche zögerte einen Moment, irritiert <strong>von</strong><br />

dem gestreiften Hemd und der Pluderhose, die der Waldläufer trug und ihn für einen flüchtigen Blick wie ein Pirat<br />

aussehen lassen musste.<br />

"Da, da ist einer der Efferdkultisten!" brüllte er schließlich.<br />

Odilon griff zum Wurfbeil - und schleuderte es auf die Rotze. Der Wurf traf gut, mitten in eine der Verdrillungen,<br />

die der Bogensehne ihre Spannung gab. <strong>Das</strong> Ding war erst einmal unbrauchbar, auch wenn noch drei andere<br />

Geschütze daneben standen. Immerhin hatten die Matrosen auf dem Beiboot wieder wertvolle Zeit gewonnen.<br />

Der Gallyser warf sich hinter der Truhe in Deckung und hörte, wie <strong>von</strong> der Kajütentür ein Bolzen in das Holz<br />

krachte.<br />

Leider waren die Seeräuber nicht so dumm gewesen, beide Armbrüste auf einmal abzuschießen. Ein Schütze war<br />

noch übrig und huschte näher, um <strong>von</strong> oben in Odilons Deckung hinein zu schießen. Es war keine Zeit zu verlieren.<br />

Irgendwo da vorne musste der Gang in den Laderaum sein. Von dort aus konnte er sich in die Kajüte<br />

durchschlagen.<br />

Eine Bewegung <strong>von</strong> seitlich. Odilon rollte sich weg, keinen Herzschlag zu spät. Dort, wo er gerade eben noch<br />

gekauert hatte, stakte nun ein Bolzen. Hakenschlagend huschte er über Deck. Verdammt, das hier war die reinste<br />

Hasenjagd! Sein Fuß verhedderte sich in einer Taurolle, er stürzte der Länge nach hin. Die einbeinige Linne stand<br />

vor ihm, bereit zum tödlichen Schlag. Reflexartig schlug Odilon mit dem Entermesser zu und hackte das Holzbein<br />

fein säuberlich entzwei. Die Piratin stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.<br />

Der Gallyser sprang wieder auf und rannte auf die Luke zu, zwei Piraten, die sich ihm in den Weg stellen wollten,<br />

mehr oder weniger elegant ausmanövrierend. Eher weniger elegant, denn schmerzhaft spürte er, wie eine Klinge<br />

<strong>von</strong> hinten sein Schulterblatt aufriss. Er fuhr herum und ließ Oske seinen heimtückischen Schlag mit einem Stoß in<br />

den Oberschenkel büßen. Der Pirat blutete stark. Offenbar hatte Odilon die Schlagader getroffen. Umso besser,<br />

dachte Odilon, dann wäre es bald ein Pirat weniger. Ein gewaltiger Sprung, dann war er unten im Laderaum<br />

angekommen. Schreiend vor Schmerzen rollte sich Odilon ab. Na wunderbar, den Knöchel hatte er sich auch noch<br />

verstaucht.<br />

Er hatte sich gerade an einem der Weinfässer hochgehangelt, als er aus dem Laderaum einen Schatten wahrnahm.<br />

Er fuhr herum, und - schrie auf. In seiner linken, noch unverletzten Schulter steckte ein Wurfmesser. Grinsend<br />

stand dort Zoltan, der Pirat, den er vermisst hatte, vor ihm, in einigen Schritt Entfernung, und zog blank.<br />

Odilon wurde buchstäblich schmerzhaft bewusst, dass seine Gegner gerade dabei waren, ihn, den alten müden<br />

Bären, langsam aber sicher fertig zu machen. Er ließ das Entermesser fallen, so dass es sich mit der Spitze voran in<br />

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den Boden bohrte, zog mit einem halb wütenden, halb schmerzerfüllten Schrei das Messer heraus und schleuderte<br />

es auf den Angreifer. Dessen Grinsen erstarb, als er merkte, dass sein Fuß an die Bodenplanken genagelt war. Der<br />

Baernfarn riß das Entermesser wieder hoch und parierte den Spalthieb Svanjas, die über den sterbenden Oske<br />

hinweg in den Laderaum gesprungen war. Keinen Herzschlag später musste sie erfahren, dass ein waidwunder Bär<br />

am gefährlichsten ist, als ihr das Entermesser den Schädel spaltete.<br />

Odilons nächster Hieb galt der Laterne, deren unsteter Kerzenschein über die Weinfässer und Weizensäcke im<br />

Laderaum ging. Zwei Hiebe, dann hatte er sie zertrümmert. Schatten breiteten sich aus. Den Schmerz in seinem<br />

ganzen Körper einschließlich des Knöchels verbeißend, hinkte er mehr oder weniger lautlos auf seinen<br />

festgenagelten Gegner zu, der törichterweise auch noch lautstark fluchte. Der Schwarze Bär hieb solange auf sein<br />

schreiendes, unsichtbares Opfer ein, bis sein Säbel keinen Widerstand mehr spürte und ein dumpfes Poltern zu<br />

hören war.<br />

Dann hinkte er weiter und lauschte in die Dunkelheit. Die anderen hatten offenbar keine Lust mehr, dem wütenden<br />

Bären in diese finstere Höhle zu folgen.<br />

Sich an den aufgestapelten Fässern entlang hangelnd, tastete er sich nach achtern, wo er die Luke vermutete. Nach<br />

einer Weile hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, zumal <strong>von</strong> der Luke her noch immer etwas<br />

Tageslicht hereinfiel. Seine blutverkrusteten Hände tasteten über eiserne Beschläge an der Decke: <strong>Das</strong> musste die<br />

rettende Luke sein. Mit dem Entermesser klopfte er dagegen, jede Bewegung mit rasenden Schmerzen büßend.<br />

"Macht...auf...ich bin es.... Odilon!"<br />

Er war schon mehr ohnmächtig als bei Sinnen, als der Riegel schließlich beiseite geschoben wurde. Helfende<br />

Hände griffen nach ihm und zogen ihn hinauf in die Kapitänskajüte. <strong>Das</strong> Gesicht Tikas, die ihn auf einen der Stühle<br />

setzte.<br />

"Kompliment. Ihr habt in einer einzigen Nacht mehr Mitglieder meiner schwachköpfigen Mannschaft getötet als<br />

ich in vier Dämonenläufen."<br />

Erst jetzt sah Odilon das Gesicht Mercurios vor sich, der schmallippig und bleich in seinem Kapitänsstuhl saß.<br />

Odilon wollte hochfahren, nach dem Entermesser greifen, aber ein großes Messer an seiner Kehle ließ in<br />

innehalten. Erst jetzt merkte er zu seinem Entsetzen, dass die Kajüte bis auf Tika, den Kapitän und den<br />

Schiffsjungen leer war, der ihm gerade ein Messer an den Hals hielt.<br />

"Lass das, Fisch!" Mercurio winkte ab. "Der blutet schon aus genug Wunden."<br />

"Soll ich ihn fesseln, Käpt´n?"<br />

"Nicht doch. Wohin soll er denn fliehen?" Der Al´Anfaner grinste, wirkte dabei aber eher schwächlich.<br />

"Ich hätte ihr nicht vertrauen dürfen!" sagte Odilon tonlos und blickte zu Tika, die mit gezücktem Entermesser<br />

neben ihm stand. "Selbfried hat Recht, ich bin zu weichherzig."<br />

"Weichherzig? Du hast meine halbe Mannschaft umgebracht. Was sage ich da, du hast mehr als zwei Drittel meiner<br />

Jungs und Mädels in die Niederhöllen geschickt."<br />

"Da gehören sie ja auch hin. Apropos hingehören. Wo sind meine Gefährten?" Odilon versuchte ruhig und<br />

unbeteiligt zu klingen, um sich seine Bestürzung und Sorge (vor allem um Alvan) nicht anmerken zu lassen.<br />

"Sie sind jetzt dort, wo meine Leute gefangen gehalten wurden, in dem gleichen Zustand. Vielleicht noch ein wenig<br />

schärfer gefesselt. . ."<br />

Ein pervalischer Ausdruck trat in Mercurios Gesicht. "Als deine Gefährten Klapper und Sauerbrot in den Verschlag<br />

gebracht haben, waren sie so leichtsinnig, Tika und Fisch allein mit der Betschwester und dem Magier zurück zu<br />

lassen. Tja, mir hat der Schiffsjunge schon heute Morgen ein Messer zugesteckt und einen Belegnagel unter das<br />

Kopfkissen geschoben. Den Klapperstorch und den stummen Zauberer zu überwältigen war dann ein Kinderspiel."<br />

Mercurio war anzumerken, wie sehr er die Schilderung seines Sieges genoss. "Wir hatten damit zwei Geiseln und<br />

die Kajüte in unserer Gewalt. Als dann noch die Verstärkung kam, haben deine Gefährten nach einem bisschen<br />

Geplänkel die Waffen gestreckt."<br />

Insgeheim atmete Odilon auf. <strong>Das</strong> bedeutete, dass sie noch am Leben waren.<br />

"Und die Toten draußen auf dem Deck?"<br />

"Reine Ablenkung. Dank Tika weiß ich, dass du zur Greif hinüber geschwommen bist, ich konnte mir also denken,<br />

dass du auf den gleichen Weg zurückkehren würdest. Ich muss sagen, alle Achtung. Du hast es dennoch bis in die<br />

Kajüte geschafft. <strong>Das</strong> hätte ich nicht erwartet." Ehrliche Anerkennung lag in den müden Augen des Kapitäns.<br />

"Was ist mit meinem Leutnant passiert?" fragte er unvermittelt.<br />

"Die Pest holt euch alle!" krächzte der Papagei im Hintergrund.<br />

"Halt die Klappe. Also, was habt ihr mit Emporio Lamenduza gemacht?"<br />

"Fragt lieber, was er mit Euch vorhatte. Er hat Euch den Boronwein eingeflösst und wollte Euch mit einem Kissen<br />

ersticken, um selbst Kapitän der Fran-Horas zu werden. Hätte ich ihm nicht im letzten Moment einen Pfeil in den<br />

Hals gejagt, wärt Ihr jetzt tot."<br />

"Da bin ich dir ja richtig zu Dank verpflichtet. Dir und Alvan. Warum nur, frage ich, seid ihr alle darauf erpicht,<br />

mein Leben zu retten und schlachtet gleichzeitig meine Mannschaft ab, blutiger Dämonenschwefel?"<br />

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"<strong>Das</strong> frage ich mich auch." Odilon grinste sarkastisch und verzog vor Schmerzen, aber auch Mattigkeit das Gesicht.<br />

Er war gerade dabei zu verbluten.<br />

"Dennoch habt Ihr das Spiel verloren, Käpt´n. Die Mannschaft der Greif wird gleich das Schiff entern und uns<br />

befreien."<br />

" Red´ keinen feuchten Krakonierscheiß. Ein Schuß mit der Rotze genügt, um die Süßwassermatrosen da draußen<br />

ihrem abgewrackten Kahn hinter her zu schicken. Und wenn ich das Pack nicht ersäufe, dann der Sturm, der sich da<br />

draußen zusammenbraut. Sie haben gar keine andere Wahl als sich zu ergeben."<br />

"Warum sollten sie, wenn sie <strong>von</strong> Euch. doch nur den Tod zu erwarten haben?"<br />

"Den Tod, ein Leben in Sklaverei oder als Pirat auf meinem Schiff. <strong>Das</strong> sind immerhin schon einmal drei<br />

Möglichkeiten zur Auswahl."<br />

"Ich nehme an, ich und meine Gefährten haben diese Wahl nicht?"<br />

Mercurio kratzte sich mit seiner Armprothese die Hakennase.<br />

"Wenn ich Euch umbringen wollte, hätte ich es schon längst tun können. Nein, mein Gefühl sagt mir, dass Ihr ein<br />

Geheimnis habt. Eine Elfe als Richtschützin sieht man nicht alle Tage und du siehst auch nicht aus wie ein<br />

dahergelaufener Tagedieb. Außerdem seid ihr zu gute Kämpfer, um euch einfach umzubringen. Ich bin nicht<br />

nachtragend. Ein paar Leute mehr oder weniger, wen kümmert das? Wenn ihr den Zwölfgötzen abschwört, werde<br />

ich euch am Leben lassen und in meine Mannschaft aufnehmen."<br />

Mercurio zog ein goldenes Amulett hervor, das eine zwölfstrahlige Sonne zeigte und wohl dem Inquisitor oder<br />

einem der Bannstrahler gehört hatte. "Wir haben nicht viel Zeit. Es reicht, wenn du als Anführer für deine Leute<br />

abschwörst, und natürlich die beiden Pfaffen. Spuck auf dieses Amulett hier und verfluche dabei die Zwölfe, das<br />

genügt mir."<br />

Stöhnend - nicht nur, aber vor allem vor Schmerz, der sich nun, da das Schiff in den Sturmböen zu rollen begann,<br />

wieder regte, nahm Odilon das geweihte Artefakt in die Hand. Die Heiligen Zwölfe verleugnen - das konnte er<br />

nicht, mochte seine Weltsicht sonst auch noch so elfisch sein.<br />

Schmerzen. Keuchend ließ er es fallen und presste seine Hand auf die Schulterwunde, wo wieder ein Schwall Blut<br />

hervorsprudelte. Hatte er überhaupt eine Wahl, wenn er am Leben bleiben wollte? Würden ihn die Piraten nicht<br />

vorher erschlagen, musste er auf kurz oder lang verbluten. Erneut griff er nach der Sonnenscheibe, rang innerlich<br />

mit sich selbst, wog seinen Überlebensdrang mit seinen Überzeugungen ab. Dort, wo sein Daumen den <strong>Gold</strong>bezug<br />

des Amuletts berührte - in seinem Kern mochte es aus irgendeinem minderen Metall sein - blieb ein roter, perlender<br />

Blutfleck zurück. Sorgfältig verrieb er ihn.<br />

"Du hast gehört, was der Käpt´n gesagt hat" Tika berührte seinen Hals mit dem Entermesser. "Wir haben keine<br />

Zeit."<br />

"Verdammte Verräterin!" zischte Odilon. "War eigentlich alles Lüge, was du mir erzählt hast?"<br />

Höhnisches Gelächter. "Nein. Ich bin früher wirklich mit der Rittfrau <strong>von</strong> Riwilauken gefahren. Und Fisch treibt es<br />

tatsächlich mit Zoltan, allerdings für Geld. Fisch liebt Geld über alles. Vorgestern hat er Kobad die Geldkatze<br />

gestohlen, da hat der Steuermann ihn grün und blau geprügelt."<br />

Odilon seufzte. Den Lügen eines derart durchtriebenen Weibstücks war er einfach nicht gewachsen. Mit einem Mal<br />

kam er sich ziemlich tumb und einfältig vor.<br />

Ächzend beugte er sich vor. "Hört zu, Käpt´n. Ich bin nicht der Anführer bin. <strong>Das</strong> ist Alvan. Ihr gehorchen die<br />

anderen. Sie haben mich nur zum Kapitän gemacht, weil ich nach ihr am meisten seemännischen Erfahrung und sie<br />

gestern...zu erschöpft war. Lasst sie auf das Praiosamulett speien und abschwören. Ihr werden die anderen folgen."<br />

"Die Elfe?" Mercurio lächelte ungläubig. "Seit wann beten die Spitzohren denn zu Praios?"<br />

"Sie ist keine echte Elfe, auch wenn sie so aussieht. Ihr Mutter war ein Halbblut" log Odilon. "Sie ist nur eine<br />

Viertelelfe und außerdem adelig. Sie betet zu den Zwölfen ...wenngleich sie nicht sehr gläubig ist, wegen ihren<br />

elfischen Ahnen."<br />

"Um so besser. Diese Alvan scheint ein besonderes Weib zu sein. Tika, sag Linne und Sauerbrot, sie sollen die<br />

Kleine herholen. Die macht als Leutnant sowieso die bessere Figur als du, Zottelbart." Mercurio grinste lüstern. Die<br />

Matrosin eilte hinaus.<br />

Odilon überlegte, ob er einen Angriff auf den geschwächt wirkenden Käpt´n und den Schiffsjungen riskieren sollte,<br />

der mit seinem Messerchen eher gefährlich guckte als gefährlich aussah. Noch hatte er seinen Dolch an der Wade,<br />

den Tika nicht bemerkt hatte. Nein, zu gefährlich, beschied er sich dann. Die nächste Verwundung konnte ihn über<br />

das Nirgendmeer schicken.<br />

"Fisch, da drüben liegt die Tasche der Betschwester. Da müsste Verbandszeug drin sein. Verarzte ihn ein bisschen,<br />

bevor er mir die ganze Kajüte voll saut. Wie heißt du noch gleich: Odilon. Und gieß tüchtig Branntwein in die<br />

Wunden..."<br />

Der Schiffsjunge tat, wie ihm geheißen, riß das Piratenhemd auf und begann recht geschickt an den beiden<br />

Verletzungen zu hantieren. Nur mühsam konnte sich Odilon Schmerzensschreie verbeißen, als sich der Schnaps in<br />

sein Fleisch zu fressen schien...<br />

"Kann ich auch einen Schluck haben?" stöhnte er.<br />

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"Ich bin kein Unmensch. Gib ihm was zu saufen, Fisch."<br />

Odilon nahm einen tiefen Schluck, hustete wie wild und verschüttete dabei etwas <strong>von</strong> dem Schnaps auf den Tisch -<br />

scheinbar versehentlich. Zufrieden sah er, dass das Praiosamulett nun in einer tiefen Schnapslache lag.<br />

Fisch hatte seine Wundheilkünste gerade beendet, als Tika hereinkam: "<strong>Das</strong> Schwein hat auch noch Oske, Svanja<br />

und Zoltan umgelegt. Warum schmeißen wir den Dreckskerl nicht einfach ins Meer?"<br />

"Scheiß auf Oske, Svanja und Zoltan. Herbringen." Der Befehl galt Sauerbrot und einem weiteren Piraten, die<br />

Alvan herbei schleiften. Tatsächlich war diese gefesselt, der Mund und die Augen verbunden. Sauerbrot nahm die<br />

Binden ab und zog einen feuchten Stoffballen zwischen den Lippen der Halbelfe hervor, die gierig nach Luft rang.<br />

"Ihr werdet jetzt beide auf das Praiosamulett spucken und dabei den Zwölfen abschwören. Du zuerst." Mercurio<br />

deutete auf die noch immer gefesselte Alvan.<br />

"Es tut mir leid Vater...Tika hat...Es waren so viele..." In Panik irrten die Augen der jungen Edlen im Raum umher.<br />

"Schon gut, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Mach einfach, was er verlangt. Wir kämpfen jetzt auf seiner<br />

Seite." antwortete Odilon, so ruhig und selbstverständlich, dass ihn selbst seine Tochter entsetzt ansah. "Na los,<br />

spuck schon auf das verdammte Ding. Scheiß auf Praios, er hat uns ohnehin nur im Stich gelassen. Denk an den<br />

Inquisitor...und Kutaki...was ist dabei, wenn du den Zwölfen den Rücken kehrst?"<br />

Alvan nickte. So etwas wie Verstehen blitzte in ihren Augen auf.<br />

Sie sammelte etwas Speichel im Mund und spuckte dann auf das Praiosamulett. "Die Zwölfgötter sind armselige<br />

Knechte, nicht Herren." schrie sie. "Hört Ihr es, ihr da oben: Ich glaube nicht mehr an Euch! Xeraan ist ab sofort<br />

mein einziger und einzigartiger Herr!"<br />

Beinahe hätte Odilon aufgelacht. Alvan war wirklich raffiniert: Für den Rur-und-Gror-Glauben waren die<br />

Zwölfgötter ja wirklich Diener Rurs, während "einzig und einzigartig" in der streng dualistischen Weltsicht<br />

<strong>Maraskan</strong>s eine ziemlich üble Beleidigung darstellte.<br />

Mercurio schien mit der Darbietung zufrieden zu sein. "Na also, geht doch. Bindet sie los. Und jetzt du, Odilon.<br />

<strong>Das</strong> sollte dann erst mal genügen."<br />

Odilon stand zögerlich auf. Eigentlich hatte er gehofft, dass nur seine Tochter würde abschwören müssen, die<br />

ohnehin nicht den Zwölfgötterglauben des Mittelreiches teilte. Nun denn, ihm würde schon etwas einfallen.<br />

Langsam nahm er die Sonnenscheibe in die Hand. Ein dünner Firnis aus getrocknetem Blut hatte sich über das<br />

<strong>Gold</strong> gelegt,<br />

Blut, das durch den Schnaps zusätzlich verklumpt war. Odilon hoffte, dass diese Schutzschicht ausreichte, um den<br />

Zorn des Götterfürsten zu besänftigen. Er nahm noch einen Schluck aus der Flasche und spuckte dann, mehr Rum<br />

als Speichel, auf das Amulett. "Hiermit schwöre ich ebenso wie Alvan euch zwölf verfluchten Götzen ab, denen ich<br />

niemals wahrhaftig angehangen bin!" schrie er dann laut.<br />

Er hoffte inständig, dass diese Formel wage und doppeldeutig genug war, um sein Selenheil nicht zu gefährden.<br />

Die zwölf verfluchten Götzen waren für ihn die Erzdämonen, zu denen er wahrhaftig nie gebetet hatte.<br />

"Gut so!" Mercurio stand langsam auf, hob urplötzlich seinen Handhaken, packte Tika am Kragen und schmetterte<br />

sie mit Urgewalt, den Kopf voran auf den Kartentisch.<br />

"Mein erster Befehl an dich ist, Odilon, diese verdammte Verräterin hier umzubringen. Sie hat mir erst geholfen,<br />

nachdem ich meine Fesseln bereits durchgeschnitten hatte. Ich kann ihr nicht mehr trauen, sie richtet ihr Fähnchen<br />

ein bisschen zu sehr nach dem Wind. Stich sie ab!"<br />

Der Al´Anfaner reichte Odilon ein kleines Messer - offenbar dasjenige, das ihm <strong>von</strong> Fisch zugesteckt worden war.<br />

Odilon nahm die Klinge in die Hand. Was hatte Selbfried zu ihm gesagt? Er war zu weichherzig? Nun gut, dieses<br />

Weibstück hatte keine Gnade verdient. Er überlegte sich, wie er die Piratin töten sollte. Die Kehle durchschneiden?<br />

Oder ein Stoß ins Herz. Irgendwie fühlte er sich elend - gerade so, als habe er soeben wirklich den Zwölfen<br />

abgeschworen. Er setzte die Schneide an, direkt an die Halsschlagader. Tika, deren rechte Hand <strong>von</strong> Mercurio auf<br />

den Rücken gedreht worden war, begann zu wimmern. Ihre Augen weiteten sich, der saure Geruch <strong>von</strong><br />

Angstschweiß breitete sich aus.<br />

"Na los, worauf wartest du? Schlitz ihr die Gurgel auf."<br />

"Kapitän, Gnade, bitte..." stöhnte es <strong>von</strong> unten.<br />

Die Klinge schnitt ein wenig in ihren Hals, wo ein roter Strich zurückblieb.<br />

"Nun mach schon. Drei Leute hast du gerade eben erschlagen, Odilon. Ohne mit der Wimper zu zucken. Warum<br />

hast du ausgerechnet mit der da Probleme?"<br />

Der Waldläufer nickte. Im Grunde hatte dieser verdammte xeraanische Pirat sogar Recht. Aber er konnte es einfach<br />

nicht!<br />

"Sauerbrot, wenn er sie nicht gleich aufschlitzt, bringst du sie beide um, ist das klar?"<br />

Zustimmend grunzend hob der dicke Pirat seinen Säbel.<br />

"Bringt mich nicht um...Ich...ich weiß etwas... etwas, was sehr wertvoll für Euch ist..." keuchte die Piratin.“ Ein<br />

Schatz... jaja, ein verborgener Schatz...ein Schatz...ich weiß...wo er vergraben ist..."<br />

"<strong>Das</strong> fällt dir ja wirklich bald ein, Tika" höhnte der Schwarze Mendener. "Lass dir ruhig noch ein wenig Zeit,<br />

Odilon. Unser Lügenmäulchen beginnt mir Spaß zu machen."<br />

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"Ich...ich lüge nicht... ich wollte mir den Schatz selber unter den Nagel reißen... später... ich habe die Karte bei<br />

einem toten <strong>Maraskan</strong>er gefunden, in einer Schenke in Mendena... es geht um einen Schatz...einen großen Schatz<br />

im Dschungel bei Jergan...ihr müsst mir glauben... oh, ihr guten Götter..."<br />

Mercurio verdrehte theatralisch die Augen: "`Ihr guten Götter´! Ich fasse es nicht. Die einen schwören dem<br />

Zwölfgötzenquatsch gerade ab und dieser Jammerlappen hier wird kurz vor Schluss wieder gläubig."<br />

Odilon war hellhörig geworden. "Ein Schatz? Im Dschungel <strong>von</strong> Jergan ? Hört sich interessant an, Käpt´n.<br />

Vielleicht sollten wir sie erst mal ein bisschen ausquetschen, bevor..."<br />

"Ach was, die will doch nur ihren Kopf aus der Schlinge ziehen, nicht wahr, Tika? So ist es doch? HÄ?"<br />

"Nein, nein, ich habe die Karte verbrannt, aber ich habe sie mir genau eingeprägt. Ich kann euch hinführen. Wenn<br />

ihr mich leben lasst...wenn ihr mich nur leben lasst! So glaubt mir doch, ein ganzer Pott voll <strong>Gold</strong>... und<br />

Edelsteinen...und anderem wertvollen Zeug... Im Tal der Glühwürmchen ist er vergraben..."<br />

"Im Tal der Glühwürmchen?" Ohne es zu wollen, hatte Alvan diese Frage laut ausgerufen.<br />

"Ja, ja, im maraskanischen Regenwald. Südlich <strong>von</strong> Jergan."<br />

"Nun fängt sie auch noch das Phantasieren an. Obwohl...Könnte ja fast stimmen, was sie da erzählt." Mercurio<br />

wurde nachdenklich. Der Pirat ließ sie los, und auch Odilon zog das Messer zurück.<br />

Odilon hatte Feuer gefangen, als der Name des Verstecks gefallen war. "Nun raus mit der Sprache. Was weißt du<br />

<strong>von</strong> diesem Schatz?" raunzte er die noch immer sichtlich verstörte Tika an.<br />

"Es war in Mendena, vor einem Jahr... in einer Kneipe... da habe ich einen maraskanischen Söldner kennen<br />

gelernt... Weibel <strong>Das</strong>chin oder so ähnlich... Der hat das tobrische Wetter wohl nicht vertragen... hatte vermutliche<br />

die Blaue Keuche... war auf jeden Fall schwer krank und brauchte dringend Geld... für ein paar Silbertaler hat er<br />

mir die Karte verkauft... Er ist dann aber trotzdem gestorben...."<br />

"Na klar" höhnte Mercurio. "Für ein Fläschchen Hustensaft verkauft so einer eine Schatzkarte." Drohend hob er<br />

seinen Handhaken. "Du hältst uns auf. Hast ein ziemliches Talent, den Leuten die Ohren Vollzuquatschen, Tika.<br />

Aber mich wirst du nicht einlullen mit deinem Gerede."<br />

"Nein... ich habe mit diesem <strong>Das</strong>chin gesprochen...er war früher ein maraskanischer Rebell... Eine Priesterin aus<br />

Jergan hat sich kurz vor der Eroberung der Käferinsel nach einem Versteck in der Umgebung der Stadt erkundigt,<br />

wo man einen großen, schweren Topf unterbringen kann... Bei den Rebellen, die dort überall ihre Nachschubdepots<br />

und Toten Briefkästen hatten... Es gab Gerüchte, wonach in dem Topf der Tempelschatz <strong>von</strong> Jergan gewesen sein<br />

soll, abtransportiert mit einem Maultier oder Esel... Diese Priesterin, Miraschida hieß sie, oder so ähnlich, hat ihrem<br />

Geliebten einen Brief hinterlassen... auf dem Weg nach Süden... in einem Dorf namens Nuran. Sie hatte einen Esel<br />

dabei und einen riesigen Pott, den sie keinen Herzschlag aus dem Auge gelassen hat. Den Brief sollte ihr Freund,<br />

falls sie nicht mehr zurückkehren würde, in den nächsten Tempel bringen, am besten nach Jergan. In dem Wisch<br />

stand, dass sie den Zaster im Tal der Glühwürmchen verstecken wollte. Die Schwester <strong>von</strong> diesem <strong>Maraskan</strong>er war<br />

eine gute Bekannte der Kusine dieses Weibels <strong>Das</strong>chin oder so ähnlich.... Jedenfalls war dem sofort klar, welches<br />

Versteck gemeint war, als er den Namen des Tals gehört hat... ein hohler Baum, wo der Geist eines<br />

mittelreichischen Barons umgehen soll.... die Rebellen haben dort früher selbst Sachen versteckt, Waffen, Geld,<br />

Nachrichten und Vorräte und so. Für mich hat sich das glaubwürdig angehört, was dieser <strong>Das</strong>chin gesagt hat.... Er<br />

hat mir eine genaue Karte gemalt, wo dieser Baum steht... ich kann ihn finden... ihr müsst mir glauben"<br />

Alvan, die dem Redefluss der Piratin aufmerksam gelauscht hatte, musste sich ein Lächeln verkneifen. Nur im<br />

schwatzhaften <strong>Maraskan</strong> war es denkbar, dass sich das "hochgeheime Versteck" eines Tempelschatzes in<br />

Windeseile bis an die aventurische Gegenküste herumsprechen konnte. Vermutlich hatte der Kladj längst dafür<br />

gesorgt, dass sich nichts Wertvolles im Tal der Glühwürmchen mehr befand. Andererseits wusste sie als<br />

Wahlmaraskanerin nur zu gut, dass man auf der Insel der Göttlichen Geschwister ein Versteck auch dadurch<br />

sichern konnte, in dem man dafür sorgte, dass seine Lage allgemein bekannt wurde: Hier beinhaltete alles auch sein<br />

vollkommenes Gegenteil, und ein wichtiges Geheimnis, dass jeder kannte, war kein Geheimnis mehr - was<br />

zugleich bedeutete, dass gerade diejenigen, die es am wenigsten mitbekommen sollten, wie etwa die Schergen des<br />

Fürstkomturs, es tatsächlich als "Kladj" abtaten und ihm keine besondere Bedeutung beimaßen.<br />

Mercurio schien ebenfalls Bedenken zu hegen: "Bei den Tentakeln der Tiefen Tochter, wenn sich das Geheimnis<br />

schon so weit herum gesprochen hat, wer sagt dann, dass sich dieser Schatz, falls es ihn überhaupt gibt, noch in<br />

diesem Tal befindet, falls er wirklich jemals dort war?"<br />

Darauf wusste Tika keine Antwort. Hilflos zuckte sie mit den Schultern. "Ich weiß es nicht. Aber wenn ja, ist dort<br />

sehr viel <strong>Gold</strong>, <strong>Gold</strong> für uns alle..."<br />

"Nachrichten aus zweiter Hand, bestenfalls. <strong>Das</strong> ist mir alles viel zu unsicher." schnaubte Mercurio. "Sei´s drum,<br />

du hast dir mit deinem Gerede noch eine kleine Galgenfrist verdient, Tika, auch wenn du eine verdammte<br />

Verräterin bist. Jetzt haben wir erst einmal andere Sorgen. <strong>Das</strong> sollten wir uns nachher mal ausführlich anhören.<br />

Aber später. Lassen wir erst einmal die Matrosen an Bord. Komm mit, Odilon, du wirst mir helfen die Matrosen an<br />

Bord zu holen, zu entwaffnen und sie dann auf Xeraan zu vereidigen. Du auch, Fisch. Und ihr beide, Tika und<br />

Alvan, schafft die Leichen <strong>von</strong> Bord!“<br />

80


Mercurio wollte Odilon bei sich haben und stets ein Auge auf ihn werfen. Tika und Alvan, so kalkulierte er,<br />

würden sich gegenseitig so sehr hassen, dass sie sich nicht gegen ihn verbünden und sich damit selbst kontrollieren<br />

würden. Tika würde alles daran setzen, sein Vertrauen zurück zu erobern, und Alvan würde der doppelten<br />

Verräterin gewiss kein Vertrauen schenken. Und wenn sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen würden, dann war<br />

ihm das auch gleichgültig. Bei einem Streit der beiden würde Tika wohl den Kürzeren ziehen, und den Verlust der<br />

Verräterin konnte er verschmerzen. Gefolgt <strong>von</strong> Odilon ging der Kapitän zur Steuerbordreling. Seine laute Stimme<br />

übertönte den aufkommenden Sturm.<br />

„Seeleute, hört mich an in Charyptoroths Namen! Ihr habt die freie Wahl! Ihr könnt mir die Treue auf diesem<br />

Schiff halten und dem Glauben an die Zwölf abschwören. So wie Euer starker Kämpfer, der eingesehen hat, dass<br />

keine Möglichkeit besteht als mir zu gehorchen!“ er deutete auf Odilon. „Wer mein Angebot nicht wahrnehmen<br />

will, der verlasse augenblicklich das Boot und vertraue darauf, dass euer schwachsinniger Efferd ihm beisteht. Wer<br />

überleben will, der komme an Bord und schwöre mir die Treue!“<br />

Alvan blickte über Deck. Es waren doch nur zehn Piraten an Bord. Nur zehn. Mercurio, der Kapitän. Und Tika, die<br />

Verräterin. Dann noch Kobad, Xenia, Dusan und Sauerbrot. Und Linne, die aber ihr Holzbein eingebüßt hatte und<br />

nicht kampfbereit war. Und dann noch drei Piraten des Erkundungstrupps. Halt, nein, mit Fisch waren es 11. Und,<br />

beinahe hätte sie es vergessen. Da waren ja noch die beiden Piraten, die sich tot gestellt hatten, als Odilon an Deck<br />

der Asmodena-Horas gelangt war. Also dreizehn. Nur Fredor, das wusste sie, war wirklich tot. Bei dem kurzen<br />

Handgemenge zuvor mit den Piraten hatte Alrik ihn erschlagen. Also dreizehn Piraten. Eine unheilige Zahl. Aber<br />

sie waren immer noch zu siebt, und auch einige der Piraten waren verletzt. Erschöpft waren sie ebenso. Und dann<br />

natürlich die Matrosen. Natürlich würden sie um ihres Überlebens willen das Angebot Mercurios annehmen. Aber<br />

ebenso sicher würden sie auch wieder <strong>von</strong> ihm abfallen, wenn das Blatt sich wenden würde.<br />

„Pack an, Luder!“ kommandierte Alvan, als sie und Tika neben Fredors Leiche standen.<br />

„Heda, gewöhn dir gefälligst einen freundlichen Ton an, wenn Du mit mir redest!“<br />

„Schlampe, ich rede mit Dir wie ich will. Du hast wohl vergessen, dass Mercurio mir soeben das zweite Wort an<br />

Bord gegeben hat? Wenn der Käpt´n nichts anderes sagt machst Du was ich Dir anschaffe!“ Alvan bückte sich,<br />

nahm den Säbel Fredors und befestigte ihn an ihrem Gürtel. Dann zog sie noch Alriks Wurfdolch aus der Brust des<br />

Piraten. „Hab ich mich klar ausgedrückt, du falscher Horasdor?“ zur Bekräftigung ihrer Worte hielt sie Tika den<br />

Dolch an die Kehle.<br />

„Ist ja gut, ich hab verstanden. Tu bitte das Messer weg.“<br />

„Na also. Ich denke wir verstehen uns.“ Mit einer verächtlichen Handbewegung warf Alvan das Messer fort.<br />

Die Handbewegung sah zwar verächtlich aus, aber sie war es nicht. Im Gegenteil war es sogar ein sehr gezielter<br />

Wurf. <strong>Das</strong> Messer flog durch das kleine Fenster der Tür, hinter der Alrik, Sigismund, Hesindian, Gunelde und<br />

Selbfried schon einmal gefangen waren. Die Tür war in diesem Augenblick nicht bewacht. Mercurio brauchte<br />

jeden, den er noch hatte, um das Schiff klar zu machen und um die Matrosen an Bord zu holen. Alvan triumphierte<br />

innerlich. Mercurio war schwer beschäftigt. Er konnte Odilon im Blick behalten, nicht aber auch sie. Also konnte<br />

sie eigentlich tun und lassen was sie wollte, wenn sie auf einigermaßen auf Unauffälligkeit bedacht war. Es war ein<br />

Glück, dass so wenig Piraten noch am Leben waren. So war der Kapitän auf neue Gefolgsleute angewiesen. Mit<br />

dreizehn Mann ließ sich eine Schi<strong>von</strong>e vielleicht notdürftig steuern, ganz gewiss aber konnte man keinen Überfall<br />

auf andere Schiffe unternehmen. Und gerade sie als Richtschützin dürfte für ihn unentbehrlich sein. Mit dieser<br />

Situation dürfte sich wohl etwas anfangen lassen.<br />

Tika bückte sich nach dem Lederbeutelchen, das an Fredors Gürtel hing. Dabei sah sie Alvan fragend an. Diese<br />

nickte. „Du kannst es haben.“ Insgeheim war Alvan froh darüber, dass Tika den Münzbeutel haben wollte. So<br />

würde sie wohl nicht monieren, dass Alvan sich die Waffen genommen hatte. Dann packten die beiden Frauen die<br />

Leiche an den Armen und schleiften sie über das Deck. Ein Platschen, und Fredor verschwand in der aufgewühlten<br />

See. Danach gingen Alvan und Tika zur Luke, die hinab zur Bilge führte. „Du bleibst hier!“ kommandierte Alvan.<br />

Ich reiche Dir die Toten nach oben, du nimmst sie entgegen. Wenn wir beide unten sind schaffen wir das nicht, auf<br />

der Leiter ist nur Platz für einen.“ Tika nickte. Alvan war es egal, ob Tika es durchschaute, dass sie in erster Linie<br />

die Waffen der Toten, soweit vorhanden, in Sicherheit bringen wollte. So wie sie Tika einschätzte würde sie das<br />

ihrem Kapitän nicht melden. Denn dass Tika sich nach dem Mächtigen richten würde war ebenso klar, wie dass sie<br />

vor Mercurio Angst hatte. Sie würde einem Aufstand an Bord wohl nicht im Wege stehen, wenn sie dabei eine<br />

Chance zu überleben sah. Bei Mercurio konnte sie sich da nicht sicher sein. Eigentlich wollte sie sogar, dass Tika<br />

es bemerkte, dass sie sich für die Waffen der Toten interessierte. Denn dann würde sie mit Sicherheit wieder<br />

vorsichtig andeuten, dass sie natürlich nur unter Zwang Verrat begangen habe und letztlich einfach nur überleben<br />

wollte, dass sie aber im Herzen weiterhin aufrechten Glaubens sei. Solches Söldnerpack wie Tika hatte sie zu<br />

Dutzenden erlebt. Sie dienten dem, <strong>von</strong> dem sie sich am meisten versprachen. So etwas wie Ehre oder<br />

Aufrichtigkeit brauchte sie <strong>von</strong> ihr nicht erwarten. Es war möglich, dass sie sich irrte, aber es war denkbar, dass<br />

Tika ihr noch einmal nützlich war.<br />

Odilon stand neben Mercurio und half den Matrosen an Bord. Diese wussten nicht, ob sie Odilon für einen Verräter<br />

halten sollten oder nicht, aber zunächst einmal waren sie froh, dem drohenden Unwetter an Bord einer großen<br />

81


Schi<strong>von</strong>e begegnen zu können und nicht in einem Ruderboot. Odilon machte sich die Mühe und zählte die<br />

Matrosen. Immerhin einundzwanzig waren noch am Leben. Sie waren erschöpft, froren erbärmlich und waren am<br />

ganzen Leib durchnässt, aber bis auf vier <strong>von</strong> ihnen waren sie unverletzt. Einer war <strong>von</strong> einem Bolzen getroffen<br />

worden, drei hatten noch Blessuren <strong>von</strong> dem ersten Gefecht an Bord der Greif da<strong>von</strong>getragen. Sehr gut, dachte<br />

Odilon. Es hätte schlimmer sein können. Außerdem machte Odilon sich die Mühe, die Gesichter aller Piraten und<br />

Matrosen, die er sah, einzuprägen. Auch der Piraten, die dem Enterkommando angehört hatten. Er wollte in der<br />

Entscheidenden Situation ja den Feind erkennen können und nicht versehentlich einen Matrosen der Greif<br />

attackieren. Was mochte wohl Alvan machen? Er sah sie in der Bilge verschwinden. Sie würde hoffentlich wissen,<br />

was sie tat. Im entscheidenden Moment hatte er einen Dolch zur Verfügung, mit dem er vielleicht Mercurio<br />

ausschalten konnte. Außer Mercurio waren noch sechs Piraten damit beschäftigt, die Matrosen an Bord zu nehmen<br />

und sie nach Waffen zu durchsuchen. Die anderen sechs waren mit Aufgaben an Bord betraut, um das Schiff auf<br />

den Sturm vorzubereiten.<br />

Eine Windbö ließ Odilon frösteln. Im kommenden Sturm würde sich das Schicksal an Bord entscheiden. Er würde<br />

wohl bei Mercurio bleiben müssen. Im geeigneten Moment würde er ihn ausschalten. Alles hing da<strong>von</strong> ab, was<br />

Alvan tat. Ihm waren die Hände gebunden, solange er bei Mercurio bleiben mußte. Mercurio würde natürlich seine<br />

Gefährten trotz seines und Alvans vor getäuschtem Treueschwur gefesselt und gefangen lassen, bis die Matrosen<br />

den Zwölfen abgeschworen hatten. Erst dann würde er sich entscheiden, wie er mit Ihnen verfahren würde.<br />

Vielleicht würde er auch den Sturm dazu nutzen wollen, seine Gefährten einfach über Bord zu werfen – er könnte<br />

es ja anschließend als Unglücksfall hinstellen. Es war äußerste Vorsicht geboten, Odilon würde sich auch diese<br />

Nacht keine Ruhe gönnen können, obwohl er die Müdigkeit spürte. Auch seine Verletzungen waren zwar<br />

verbunden, machten sich aber bei jeder Bewegung schmerzhaft bemerkbar. Aber auch an Mercurio schien das alles<br />

nicht spurlos vorbeigegangen zu sein. Der Piratenkapitän schwankte für einen Moment. Zeigte der Boronwein noch<br />

Wirkung? Oder war Mercurio nur erschöpft? Odilon fasste neuen Mut. Er war fast am Ende seiner Kräfte<br />

angelangt, er hatte den letzten Kampf verloren. Aber noch lange nicht das Gefecht in seiner Gesamtheit.<br />

Alvan stieg in die Bilge hinab. Nach und nach schleppte sie die Toten – Oske, Zoltan und Svanja – zur Leiter.<br />

Natürlich nicht, ohne ihnen zuvor die Waffen abgenommen und hinter einigen Ballen Segeltuch verborgen zu<br />

haben. Sie achtete dabei darauf, für jede Waffe ein eigenes Versteck zu suchen. So würden vielleicht ein oder zwei<br />

Klingen gefunden, aber wohl nicht alle zwei Säbel, die vier Messer, das Beil und die Wurfaxt. Und ebenso<br />

natürlich wanderten einige Münzen dabei in Tikas Besitz. Erste schwere Tropfen fielen herab. Der Himmel hatte<br />

sich nunmehr völlig verdunkelt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das Unwetter in voller Stärke hereinbrach.<br />

Bereits jetzt war es schwer, sich auf den Beinen zu halten. Es wäre ein völlig wahnwitziges Unterfangen, bei dem<br />

Sturm ein Schiff segeln zu wollen. Auf Mercurios Kommando hin bargen Matrosen wie Piraten die Segel, holten<br />

den Anker gänzlich ein und drehten das Schiff in den Wind. Alles bewegliche Gut, das sich jetzt noch an Deck<br />

befand, wurde eilends unter Deck in Sicherheit gebracht. Matrosen wie Piraten waren bis auf die Haut durchnässt,<br />

als endlich alle Arbeit getan war.<br />

<strong>Das</strong> Schiff schwankte wild umher. Es war bei dem Seegang kaum mehr möglich, an Deck zu verweilen. Mercurio<br />

hatte alle an Bord, Piraten wie Matrosen der Greif, zu sich unter Deck gerufen. Hier würde er jeden Matrosen<br />

einzeln dem Zwölfgötterglauben abschwören lassen. Und hier würde er jeden Matrosen verhören und entscheiden,<br />

wie mit ihm zu verfahren sei. Allein Dusan und Fisch hatte er damit beauftragt, an Deck Wache zu stehen und nicht<br />

nur die Decksaufbauten, sondern auch die Gefangenen im Auge zu behalten.<br />

Mercurio schloß für einen Moment die Augen. Ihm schwindelte. Dieses verfluchte Zeug, das Emporio ihm<br />

eingeflößt hatte! Er durfte jetzt nicht schwach werden. Er mußte den Neuen zeigen, dass er der Kapitän war, und<br />

dass Widerspruch zwecklos war.<br />

„Männer, hört mich an!“ Mercurios kräftige Stimme durchdrang den Raum. „<strong>Das</strong> Schicksal hat uns hier vereint! Es<br />

ist Charyptoroths Wille, dass wir hier sind. Hier auf diesem zholvargefälligen Schiff! Willkommen an Bord der<br />

Fran-Horas. Willkommen auf der Seite der Sieger. Euch, Seeleute, bietet sich heute die einzigartige Chance, an<br />

Bord der Glorreichen Fran-Horas anzuheuern.“<br />

Mercurio gab Kobad ein Zeichen. Der Pirat holte drei Flaschen Rum hervor und ließ sie kreisen. Ein<br />

Begrüßungsschluck sozusagen. Verdammt, dachte Odilon. Der Kerl war nicht dumm. Er wusste, dass er mit einer<br />

gewissen Freizügigkeit, was Alkohol wie andere Annehmlichkeiten betraf, zumindest wankelmütige Gesellen für<br />

sich gewinnen konnte. Vielen der einfachen Männer und Frauen, die in irgendwelchen Häfen gestrandet waren, war<br />

es reichlich egal bei wem sie anheuerten wenn die Heuer und der Rum nur reichlich genug vorhanden waren.<br />

Alvan beobachte das Geschehen. Vor allem Tika hatte sie im Blick. Die Piratin heckte etwas aus, das sah sie an<br />

dem Blitzen ihrer Augen. Prüfend ließ Tika ihren Blick umher kreisen. Richtig, sie wusste, dass Alvan die<br />

erbeuteten Klingen hier irgendwo versteckt hat, aber sie wusste nicht wo. Tika bewegte sich möglichst unauffällig<br />

– außer Alvan, die sie beobachtete, bemerkte niemand ihre Suche – und gelangte schließlich zu dem Ballen<br />

82


Segeltuch, unter dem Alvan einen Säbel verborgen hatte. Tika bemerkte nicht, dass Alvan zu Mercurio ging. Ihr<br />

Ansinnen war auch zu durchschaubar, dachte Alvan. Sie beugte sich zu Mercurio und flüsterte: „Vorsicht, Kapitän.<br />

Tika hat hinter dem Segeltuch einen Säbel versteckt.“ Keine Sekunde zu spät, denn schon hatte Tika den Säbel<br />

ergriffen und ging zu Mercurio, Alvan und Odilon. „Kapitän, ich muss Euch <strong>von</strong> Verrat berichten...“<br />

„Bleib stehen, Tika! Du wirst dich nicht mit dem Säbel in der Hand dem Kapitän nähern!“ rief Alvan.<br />

Tika schreckte einen Moment zurück. „Aber... Alvan hat diese Waffen...“<br />

„Meinst Du nicht, ich hätte nicht durchschaut, dass Du die Waffen nicht so wie ich Dir befohlen habe in die<br />

Waffenkammer gebracht hast? <strong>Das</strong> Geld der Unglücklichen hast Du wohl auch eingesteckt! Woher kommen die<br />

drei Lederbeutel an deinem Gürtel?“<br />

„Kapitän, die Elfe wollte Euch töten!“<br />

Alvan lachte laut. Es hörte sich absolut überzeugend und echt an. „Tika, merkst Du nicht wie unglaubwürdig du<br />

redest? Ich stehe schon über eine Minute hier. Um den Kapitän zu töten bräuchte ich keinen Säbel dort zu<br />

verstecken. Ich bin bereits bewaffnet.“ Alvan deutete auf den Säbel an ihrer Seite. „Ich bin kein feiger Meuchler.<br />

Aber Du bist eine Verräterin, wie wir alle wissen.“<br />

„Tika“ donnerte Mercurio. „Du hast mich einmal zuviel verraten.“<br />

„Ich sage die Wahrheit, Kapitän. Du darfst diesem Spitzohr nicht glauben.“<br />

„Ruhe jetzt!“ Mercurio hielt inne. Mit einer herrischen Bewegung brachte er Tika und Alvan zum Schweigen.<br />

„Seeleute, jetzt bekommt ihr zur Begrüßung etwas zu sehen! Eine der beiden hat mich verraten. Vielleicht auch<br />

beide. Na denn, dann wollen wir Belhalhar entscheiden lassen, welche der beiden recht hat und welche nicht. Jungs<br />

und Mädels, macht Platz dort unten. Beide haben einen Säbel, sie sollen kämpfen.“ Mercurio griff nach Alvan und<br />

beförderte sie mit einem kräftigen Stoß nach vorne auf den freigemachten Platz. Alvan fiel zu Boden. Hatte sie sich<br />

vorhin noch beherrschen und den Schmerz in ihrem Bein unterdrücken können, so konnte das Bein der zusätzlichen<br />

Belastung durch den Stoß nicht mehr Stand halten. Instinktiv rollte sich Alvan zur Seite. Alvans alter<br />

Abenteurerinstinkt rettete ihr das Leben. Tika hatte keine moralischen Skrupel, Alvan wie in einem ritterlichen<br />

Zweikampf aufstehen zu lassen. Die Klinge der Piratin fuhr in die Planken neben Alvans Hals. Mit dem<br />

unverletzten Fuß trat Alvan nach dem vorangestellten Bein Tikas. Ein kurzer Aufschrei, aus dem gleichermaßen<br />

Überraschung wie Schmerz herauszuhören war, erklang. Alvan nutzte den kurzen Moment der Überraschung Tikas<br />

aus und hieb mit ihrem Säbel nach der Piratin. Verdammt, hätte sie das Geschick ihres Vaters wäre der Kampf<br />

damit vorbei gewesen. Aber der reichlich ungezielte Hieb streifte lediglich Tikas Arm. Die Piratin schrie noch mal,<br />

aber sie wich zurück außer Reichweite Alvans. Die Halbelfe wollte aufstehen, aber ihr Bein versagte den Dienst.<br />

Die Zuschauer – Seeleute wie Matrosen – johlten und applaudierten. Auch Mercurio klatschte. Odilon verfolgte das<br />

Geschehen scheinbar teilnahmslos. Er könnte eingreifen und Tika besiegen. Aber dann müßte er zuvor Mercurio<br />

ausschalten. Der Kapitän würde sonst die gesamte Mannschaft auf ihn hetzen. Andererseits war Mercurio<br />

abgelenkt, und er hatte noch immer sein Messer. Sollte er ihn ausschalten? Würden die Seeleute der Greif das dann<br />

als Signal zum Aufstand verstehen? Oder würden sie zaudern? In letzterem Fall wäre dann alles verloren.<br />

Tika, die gerade noch unritterlich gekämpft hatte, um ihr Leben zu retten, zögerte einen Moment lang, der nun<br />

offenkundig wehrlosen Alvan den Todesstoß zu geben. Odilon straffte sich, bereit einzugreifen.<br />

In diesem Augenblick krachte eine gewaltige Woge gegen die Fran-Horas, die sich mit aufstöhnenden Planken zur<br />

Seite neigte. Matrosen und Piraten purzelten wie wild durcheinander, auch der völlig verblüffte Odilon krachte<br />

unsanft gegen einen Stützbalken.<br />

Der Sturm sprang die Schi<strong>von</strong>e an wie ein einziges gewaltiges Raubtier. Ein scharfes, wütendes Zischen, dass<br />

immer weiter anschwoll betäubte Odilons Ohren. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Tika gestürzt und Alvan -<br />

schreiend vor Schmerz - aus der Reichweite ihres Säbels gerutscht war. Von oben klatschte ein Schwall eisiges<br />

Salzwasser herein. Die Fran-Horas neigte sich weiter nach Steuerbord, und für einen langen, bangen Moment lang<br />

sah Odilon das Schiff bereits kentern.<br />

Nach einer schieren Ewigkeit richtete sich das gepeinigte Schiff wieder aus, wie ein schwer angeschlagener<br />

Faustkämpfer, der sich mit blutigen Lippen gegen einen übermächtigen Gegner erhebt. Weitere Schläge trafen die<br />

Schi<strong>von</strong>e, Wasser schwappte knöchelhoch durch das Unterdeck.<br />

Alvan hangelte sie mühsam hoch, bemühte sich trotz ihres lädierten Beins den Wellengang auszubalancieren. Einen<br />

Herzschlag lang erinnerte sie sich daran, wie sie sich vor einigen Tagen noch - während des Schneesturms in der<br />

Baernfarn - an die Orkane des Perlenmeers zurück erinnert hatte. Dort unten in der Goblinhöhle hatte sie nicht<br />

damit gerechnet, dass sie derart bald wieder in diesen elementaren Naturgewalten stecken würde. Der<br />

überraschende Angriff des Sturms hatte ihr das Leben gerettet, aber nun, als das Schiff sich ein weiteres Mal bis<br />

zur Seite neigte, wurde ihr grausam bewusst, dass Wasser keine Balken hatte. Unter ihr kochten mindestens vierzig<br />

Schritt eiskaltes Wasser, bereit, die Schreie der zappelnden Sterblichen in ihrem lächerlich zerbrechlichen<br />

Holzgefährt für immer mit Salzwasser zu ersticken.<br />

Buchstäblich in Windeseile begannen die Kerzen in den Laternen zu verlöschen. Schreie, Fauchen, Heulen. Wie<br />

ein verängstigtes Mädchen verkroch sich Alvan hinter eine Seemannskiste, wartete auf das Ende.<br />

Alles lief durcheinander, ein paar Mutige, <strong>von</strong> Mercurio angetrieben, nach oben, um mit den Sturmsegeln<br />

83


irgendwie vom dräuenden Land wegzukommen. Plötzlich war ihr Vater neben ihr, hielt ihr die zitternde Hand. Der<br />

Sturm orgelte so laut, dass sie nicht verstehen konnte, was er sagte, und es war zu dunkel, um den Sinn seiner<br />

Worte einigermaßen <strong>von</strong> den Lippen ablesen zu können. Nein, an einen Aufstand durften sie unter diesen<br />

Bedingungen nicht mehr denken.<br />

Der Widerschein der Blitze war bis unter Deck zu sehen, Donner krachte. Wie ein übermütiges Füllen sprang die<br />

Fran-Horas auf und ab, kletterte Wellenberge hinauf und stürzte sich mutig in die Wellentäler. Regen prasselte auf<br />

das Deck. Immer wieder überschwemmten regelrechte Kaventsmänner das Logis, spülten ein paar zurück<br />

gebliebene Seeleute mal hier hin, mal dorthin. Alvan sah, wie ihr Vater betete.<br />

Die Zeit verging. Irgendwann schreckte Alvan auf. Sie musste vor Erschöpfung eingeschlafen sein. Der Orkan<br />

tobte und wütete mit unverminderter Kraft. Ihr Vater war verschwunden. In brennender Sorge, er könne an Deck<br />

gegangen sein, taumelte sie hinauf.<br />

Draußen war es erschreckend hell, was nicht nur an dem Geflecht aus mäandernden, purpurnen Blitzen lag, die den<br />

nachtschwarzen, mit gehetzten Wolken angefüllten Himmel durchpeitschten. Die grüngrauen Brecher, umhüllt in<br />

einen Schleier aus bleifarbener Gischt, schienen in einem fahlen Geisterlicht aus sich selbst heraus zu leuchten,<br />

wenn sie dumpf krachend über die Reling hereinbrachen und sich als weißer Schaum über das glitschige Deck<br />

verteilten. Alvan spürte, wie sie zu Boden gerissen wurde und mit vollgesogenen Hosen der zurückweichenden<br />

Welle folgte, um schmerzhaft und hart gegen die Bordwand zu krachen. Mühselig stand sie auf, nur um erneut<br />

unter einem schweren Brecher zu Boden zu gehen, der sie diesmal direkt am Kopf traf. Ein weiteres Mal stand sie<br />

auf, versuchte sich an dem dicken Tau der Hauptmastwanten festzuhalten. Dies war ein Fehler, denn die nächste<br />

Welle bekam sie nun umso leichter fassen. In einem Wirbel aus grünweißlich leuchtendem Wasser wurde die<br />

Halbelfe da<strong>von</strong> gerissen; für einen Moment glaubte sie gar zu fliegen - nicht einmal ein sonderlich unangenehmes<br />

Gefühl. Als sie wieder klar denken konnte hing sie mit den Händen an der Steuerbord-Wand. Erst als ihre Füße<br />

mitsamt dem sich neigenden Schiff ins Wasser tauchten, realisierte, dass sie sich außerhalb der Fran-Horas befand.<br />

Die Erkenntnis raubte ihr fast mehr den Atem als die gewaltigen Fluten, die über das Deck hinwegdröhnten, wie<br />

Geysire aus den Schlitzen der Speigatten fuhren oder gleich einem Hämmerwerk aus beißendem Salz und eisigem<br />

Wasser auf sie eindroschen. Sie hatte keine Kraft mehr, sich festzuhalten. <strong>Das</strong> also war das Ende.<br />

Ein Handhaken packte sie am Kragen, zog sie an Bord. Schemenhaft, hustend und wasserprustend, sah sie<br />

Mercurio vor sich, grinsend. Wir sind quitt, schien sein Grinsen sagen zu wollen. Alvan spürte, wie er sie packte,<br />

und zur Kajüte zog. Sie hatte das Dröhnen der Naturgewalten noch im Ohr, als sie <strong>von</strong> einem Wasserschwall in den<br />

kleinen Gang gespült wurde, der zu der Großen Kajüte am Ende und den beiden kleineren am Rand führte.<br />

"Ruh dich erst Mal aus, Leutnant, bevor du mir noch wegschwimmst." Mercurio öffnete die Tür zu Emporios<br />

Gemach. "Bist ja völlig fertig mit der Welt."<br />

Alvan wollte etwas sagen, musste aber Wasser erbrechen. Apathisch nickend, taumelte sie auf ihre Koje zu, wurde<br />

<strong>von</strong> einem erneuten Angriff des Windes mehr hineingeschleudert, als dass sie sich selbst hineinhangelte. Irgendwie<br />

war ihr der Gedanke, dass ausgerechnet der Schwarze Mendener ihr das Leben gerettet hatte, unangenehm. Sie<br />

hatte kaum zu Ende gedacht, da ging ihr Geist auch schon in Borons Reich der Schatten und des Traumes ein.<br />

Es waren unruhige Träume, die sie in der Blutigen See heimsuchten, Träume <strong>von</strong> Schiffen, die sich bei jedem<br />

Atemzug eines tobenden Giganten aus Wasser hoben und senkten, <strong>von</strong> einer Grünen Tiefe und Neckern, die im<br />

azurblauen Licht des Meeres ihre Kreise zogen, <strong>von</strong> den Tentakeln der Ersäuferin, die sie zu sich in das<br />

Nachtschwarze Nichts zu ziehen versuchten, vom Dröhnen und Heulen des Sturms, <strong>von</strong> gurgelndem Wasser und<br />

roh lachenden Piraten, die nach ihr griffen, um sie festzuhalten und .... Sie träumte <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong> und <strong>von</strong> <strong>Gold</strong>,<br />

<strong>von</strong> den Goblins, die sie in der Höhle tief unter der schneebedeckten Heide mit ihren rotbraunen, pelzigen<br />

Gesichtern anstarrten. Merkwürdig, jetzt im Traum kamen sie ihr überhaupt nicht mehr äffisch vor, eher würdevoll,<br />

verschmitzt und auf eigentümliche Weise schön.<br />

Oben dröhnte der Sturm, und Alvan konnte kaum noch unterscheiden, ob nun ein Schneesturm oder gigantische<br />

Wellen über den kleinen dunklen Raum hinwegfegten, in dem sie einsam und allein ausharrte. Tatsächlich, es war<br />

eiskalt, also musste es wohl der Gallysard sein, der sie hier unten heimsuchte. Die Rotpelze beugten sich über sie,<br />

lispelten, zischelten. Oder waren es glitschige, glupschäugige Krakonier, Wesen der Tiefsee, die mit schwabbeligen<br />

Schwimmhäuten betasteten und begrapschten, nach ihr griffen und sie zu sich ins Wasser zu zerren versuchten? Sie<br />

wehrte sich, schrie, schnappte nach Luft, versuchte wieder ans Licht und die Oberfläche zu gelangen.<br />

"Nun wach endlich auf, Alvan." Ein schwarzbärtiges, freundliches Gesicht, das sich über sie beugte. Kein<br />

Krakonier und kein Goblin, sondern ihr Vater, Odilon. Auch wenn der Sturm noch in ihren Ohren rauschte, merkte<br />

sie rasch, dass das Schiff - natürlich, sie befand sich auf einen Schiff im Perlenmeer, der Fran-Horas - sich in einem<br />

ruhigen, gleichmäßigen Rhythmus auf und ab bewegte. Helles Tageslicht fiel <strong>von</strong> draußen herein, so dass selbst die<br />

fette Ratte, die auf dem umgestürzten Schemel neben ihrem Bett saß und sch putzte, possierlich aussah.<br />

"Drei Tage Schlaf sind genug, findest du nicht?" brummte Odilon und verscheuchte mit einem Tritt den Nager, der<br />

ihn wütend anfauchte, sich aber kampflos trollte. Dann stellte er den Hocker auf und setzte sich.<br />

Alvan stieg aus dem Bett: "Drei Tage?" Dann, noch ungläubiger: "Habe ich wirklich drei Tage geschlafen?"<br />

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"Nun, bislang sind es nur zweieinhalb" Ihr Vater blickte nach draußen. "Aber wenn du so weitermachst...."<br />

"Der Sturm... Der Sturm ist vorbei?"<br />

"Ja, auch wenn er uns ganz schön zugesetzt hat." Odilon reichte seiner Tochter einen Apfel, Pökelfleisch und<br />

Zwieback sowie eine Flasche. "Hier, iss erst mal was. Hab sogar noch etwas Süßwasser auftreiben können."<br />

"Du verwöhnst mich. Ich nehme an, es hat keinen Aufstand gegeben?"<br />

Der ehemalige Baron schüttelte den Kopf: "Firun bewahre. Wir hatten zwei Tage lang Besseres zu tun als uns<br />

gegenseitig den Schädel einzuschlagen. Der verdammte Orkan... Zwei <strong>von</strong> den Seeleuten sind über Deck gespült<br />

worden, ansonsten hatten wir noch Glück. Ich hab´ die Waffen, die du versteckt hast, in dem ganzen Tumult nach<br />

und nach an mich genommen und ins Meer geworfen. Wenn die nach Tikas Bericht einer <strong>von</strong> den Piraten entdeckt<br />

hätte, wäre es uns dreckig gegangen."<br />

Alvan biss in den Apfel und trank mehrere große Schlucke. Sie fühlte sich ausgedorrt, als wäre sie die letzten Tage<br />

in Salzlake eingelegt gewesen, was sie im Grunde ja auch gewesen war." Was ist aus den überlebenden Seeleuten<br />

geworden?"<br />

"Hm ja, vor Götterfürchtigkeit haben die sich nicht gerade überschlagen. Ein Dutzend ist mit wehenden Fahnen<br />

übergelaufen, der Rest hockt mit der Kapitänin im Verschlag, verflucht uns und versteht die Welt nicht mehr."<br />

"Und die anderen? Sigismund und so weiter..." Die Edle zwang sich etwas, auch etwas <strong>von</strong> dem Zwieback und dem<br />

Pökelfleisch zu sich zu nehmen, auch wenn im ersten die großen Löcher auf die Würmer hinwiesen, die Odilon<br />

offenbar kurz zuvor herausgeklopft hatte, und etwas Gesalztes eigentlich das Letzte war, was sie jetzt zu sich<br />

nehmen wollte. Aber wenn es etwas Schmackhafteres gegeben hätte, Odilon hätte es sicher aufgetrieben.<br />

"Hesindian wurde zum Bordmagier befördert, Gunelde zur Heilerin, Sigismund turnt gerade draußen in den Rahen<br />

herum, als würde er schon ein Leben lang zur See fahren und Alrik fällt unter dem ganzen einäugigen und<br />

einhändigen Piraten auch nicht mehr auf. Nur unsere Waffen haben wir noch nicht zurückbekommen, die liegen<br />

alle in der Kapitänskajüte."<br />

Tatsächlich war die Scheide an Odilons Gürtel leer, wie Alvan erst jetzt bemerkte. "Na, schmeckts?"<br />

"Vorzüglich. Die Garether Hofküche ist schäbig gegen die Bewirtung auf dieser Al´Anfanischen Luxusgaleere.<br />

Und Selbfried?"<br />

Odilons Gesicht verdüsterte sich ein wenig. "Mercurio hat sich in den Kopf gesetzt, dass er unbedingt einen<br />

waschechten Inquisitor der Praioskirche vor seinen Götzen kriechen sehen möchte. Waschecht, ja, der Ausdruck<br />

passt."<br />

Alvan sah ihren Vater fragend an.<br />

"Nun, Mercurio schleppt ihn schon seit einer Stunde an ein Seil gebunden hinter der Fran-Horas her. <strong>Das</strong> soll<br />

solange weitergehen, bis auch er abschwört - oder etwas aus der Blutigen See ihn holt."<br />

"Und, wie hält er sich?"<br />

"Nun, es scheint ihm nicht zu gefallen, aber ja, noch reckt er den Kopf aus dem Wasser. Aber lange hält er das<br />

nicht mehr durch. Die Haie kommen schon näher. Zum Glück ist er nicht verwundet."<br />

Alvan lächelte sinister. "Fast gönne ich dem aufgeblasenen Kerl eine kleine Abreibung."<br />

"Nun ja, ich bin auch nicht gerade in Liebe zu ihm entbrannt. Aber er ist ein fähiger Kämpfer, und ohne ihn sind<br />

wir nur zu viert."<br />

"Zu viert?" Alvan biss in den letzten Zwieback.<br />

"Ja, Gunelde befindet sich immer dort, wo auch Mercurio ist, meistens in der Großen Kajüte. Es ist klar, dass er sie<br />

als Geisel verwenden möchte."<br />

"Und diese Tika?"<br />

"Naja, das mit dem Schatz scheint doch bei unserem Käpt´n hängen geblieben zu sein. Zumindest läuft sie frei<br />

herum."<br />

"Was hältst du <strong>von</strong> der Geschichte?"<br />

"Hmm. Dank Guneldes Traum wissen wir ja, dass da was Wahres dran ist. Aber dass sich das Versteck dieses<br />

berühmten Tonkrugs bis nach Mendena herumgesprochen haben soll, verwundert mich schon ein wenig. Wenn das<br />

wirklich derart bekannt ist - wer weiß, ob sich überhaupt noch irgendetwas in diesem hohlen Baum befindet."<br />

"Ich kenne die <strong>Maraskan</strong>er und ihren Kladj. Ein Geheimnis, dass sich überall herumspricht, kann genau so gut das<br />

Gegenteil bewirken - dass es keiner Ernst nimmt. Vielleicht hat die Priesterschaft sogar mit Absicht das Gerücht<br />

verbreitet, dass im Tal der Glühwürmchen ein Tempelschatz verborgen liegt."<br />

Odilon sah skeptisch drein, also beeilte sich Alvan hinzuzufügen:<br />

"<strong>Das</strong> mit dem Brief an Mirajidas Geliebten finde ich ziemlich unglaubwürdig. Die Rur- und Gror-Priester sind<br />

Meister darin, Nachrichten zu verschlüsseln, es soll sogar Methoden gegeben, aufgrund deren man nicht einmal<br />

erkennt, dass es sich dabei um verschlüsselte Nachrichten handelt. Unsere Schatzwächterin hätte also keinen Brief<br />

schreiben müssen, den jeder Uneingeweihte lesen kann. Nein, für mich hört sich das alles an - Bekannte der<br />

Kusine, die etwas aufgeschnappt hat und so weiter, als hätten die Priester das Gerücht bewusst verbreitet und schon<br />

<strong>von</strong> vorne herein gewusst, wo sie den Schatz verstecken wollten."<br />

"Aber warum sollten sie das tun?"<br />

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"Nun, überleg mal. Was würdest du tun, wenn dir in einer Schänke jemand sagen würde, er wisse, wo ein Schatz<br />

versteckt ist?"<br />

"Ich würde mich fragen, warum er ihn nicht selber birgt. Und dann nachschauen."<br />

"Auch wenn er mitten im Dschungel verborgen ist, im maraskanischen Dschungel wohlgemerkt? Außerdem hört<br />

sich das alles für maraskanische Ohren nicht sehr glaubwürdig an: Tal der Glühwürmchen, Tempelschatz. Die Rurund-Gror-Kirche<br />

ist nicht gerade dafür bekannt, Reichtümer zu horten. Stell dir vor, jemand würde dir mitteilen,<br />

dass die Traviakirche ihren Tempelschatz kurz vor der Eroberung <strong>von</strong> Ysilia im nahen Wald der Rotpüschel<br />

versteckt hat. <strong>Das</strong> wäre weder besonders glaubwürdig noch besonders hilfreich. Außerdem, vergiss nicht, dass<br />

Mirajida sich in Rebellenkreisen nach günstigen Verstecken erkundigt hat. Wenn der Schatz wirklich in einem<br />

Depot der Sira Jerganak oder Dajinim liegt, dann ist seine Lage zumindest schon einmal den Rebellen bekannt, die<br />

das Versteck <strong>von</strong> früher her kennen, läßt sich also gar nicht geheim halten. <strong>Das</strong> heißt, er wird wahrscheinlich auch<br />

<strong>von</strong> Rebellen bewacht. Zumindest aber dem Heerbann der Friedlichen Schwestern, die heute den maraskanischen<br />

Dschungel unsicher machen. Ich glaube, es kommt der Priesterschaft weniger auf Geheimhaltung an als auf<br />

Sicherung des Verstecks." Alvan nickte bei ihren eigenen Worten. "Ja, ich glaube, das macht Sinn. Würden die<br />

Schergen das Versteck des Schatzes durch den Kladj nicht schon bereits kennen, würden sie versuchen, den Weg<br />

Mirajidas zurück zu verfolgen, die nach dem Verlassen Jergans jeder Menge Leute aufgefallen sein wird. Ein<br />

großer Pott auf einem Esel in Begleitung einer Priesterin ist nicht gerade unauffällig. <strong>Das</strong> heißt, die Spur würde<br />

diese Häscher ohnehin früher oder später in die Nähe des Schatzes bringen, zumal sie als Dreckige auch auf<br />

magische oder dämonische Mittel zurückgreifen können. Vergiss auch nicht, dass bislang nur wir wissen, dass<br />

Mirajida tot ist. Würde sie noch leben, wäre sie unter den Bedingungen der Besatzung in ständiger Gefahr,<br />

aufgespürt und solange gefoltert zu werden, bis sie das Versteck preisgibt. Also teilt man das Geheimnis <strong>von</strong><br />

vornherein jeden mit, um den Geheimnisträger zu schützen. So ist es nur ein Gerücht unter vielen, unglaubwürdig,<br />

weil es allen möglichen Leuten bis zum Bauern und Bettler bekannt ist, und niemand wird auf bloßen Kladj hin<br />

sein Leben gegen Rebellen und die wildgewordenen Tiere des Dschungels riskieren. Man sagt den Besatzern <strong>von</strong><br />

vornherein, was sie suchen und wo sie es finden, mit dem Ergebnis, dass sie es gar nicht suchen. Eine typisch<br />

maraskanische Finte."<br />

Odilon überlegte gerade noch, ob das Gesagte für ihn plausibel klang, als vom Deck her ein scharfer Befehl zu<br />

hören war.<br />

"Alle antreten, aber ein bisschen plötzlich." <strong>Das</strong> schien Xenia, die Bootsfrau zu sein. Sogar Peitschenknalle waren<br />

zu hören.<br />

"Na, dann werden wir einmal wieder zu ihrem Käpt´n gehen." Odilon stand auf und ging hinaus, Alvan hinkte, die<br />

Wasserflasche in der Hand, hinterher. Die Wunde im Unterschenkel schmerzte nicht mehr so arg, offenbar begann<br />

sie sich bereits zu schließen. Ein Dank dem vielen Salzwasser... Als sie im Sonnenlicht ankamen, war die<br />

Mannschaft bereits angetreten. Die See war wirklich auffallend ruhig und glitzerte sanft. Steuerbord ließ sich ein<br />

schmaler Streifen Land erahnen. Die Takelage der Fran-Horas war übel zerzaust, Taue und Stage hingen wirr<br />

durcheinander, die Segel waren notdürftig geflickt. Mercurio, der ebenfalls erholt wirkte, stand breitbeinig auf dem<br />

Achterdeck und lehnte sich gegen die kunstvoll gedrechselte Balustrade.<br />

"Sieh an, mein süßer kleiner Leutnant hat sich auch wieder einmal ausgeschlafen" höhnte er, als er Alvan sah. "<strong>Das</strong><br />

kommt da<strong>von</strong>, wenn man die ganze Nacht lang mit der halben Mannschaft vögelt."<br />

Glucksendes Gelächter unter den Piraten. Alvan atmete tief durch und antwortete beherrscht: "Dafür schlafen die<br />

jetzt umso länger"<br />

Mercurio starrte sie verblüfft an und begann dann dröhnend zu lachen: "Gut pariert, meine Kleine. Ich muss sagen,<br />

der Schönheitsschlaf hat dir gut bekommen. Steck das Entermesser weg, Torben. Niemand greift hier meinen<br />

Leutnant an. Ihr seid ja selbst schuld, ihr Schwachköpfe. Lasst Euch beim Huren niedermachen. Umgebracht hätte<br />

mich diese Eiterbeule <strong>von</strong> Emporio, hätten die da mich nicht gerettet." Der Käpt´n deutete unbestimmt auf Odilon<br />

und seine Tochter. "Ich sollte Euch auch umlegen dafür, dass ihr um ein Haar auf diese charyptorothverfluchte<br />

Bilgenratte reingefallen wärt, Orkhirne, die ihr seid! Aber nun gut, die vergangenen Tage waren hart, die schweren<br />

Kämpfe und der Sturm haben unser Schiff schwer beschädigt. Ich würde also vorschlagen, dass wir morgen" eine<br />

kleine Kunstpause "am morgigen Tag Elburum anlaufen, die Schäden ausbessern und uns alle dort ein wenig<br />

erholen. Wer unbedingt möchte" Ein süffisantes Lächeln in Richtung der Handelsmatrosen "kann unser<br />

ruhmreiches Schiff dort verlassen und sein weiteres Leben im schönen Oron fristen - ein Leben voller verbotener<br />

Lust und süßer Laster. Also, Mädels und Jungs, auf nach Elburum!"<br />

Mehrstimmiges Jubelgeschrei ertönte, in das auch einige der Mittelreicher mit einstimmten. Odilon musste<br />

zugeben, dass diese Ankündigung raffiniert war. Mercurio wurde so seine gefährlichen Gefangenen los, die er<br />

zweifelsohne als Sklaven verkaufen würde, und einige der Überläufer würden in diesem Sündenselem auf<br />

scheinbar angenehme Weise der niederhöllischen Verdammnis entgegen schlittern.<br />

Alrik saß auf einer Seemannskiste im Mannschaftslogis und paffte Pfeife. Odilon und Alvan, die er gerade zur<br />

Seite genommen hatte, sahen ihn erwartungsvoll an. Der einäugige Baron zückte das Messer, das die Elfe gestern<br />

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in den Verschlag geworfen hatte, und kramte seinen Rucksack hervor. "Leergefilzt" brummte er. "Aber etwas<br />

haben die Brüder übersehen. Anfänger...". Mit der Klinge trennte er den Boden des Ledersacks auf, der tatsächlich<br />

verdächtig steif und kompakt wirkte. Odilon sah sich unruhig um, ob ihnen nicht ein Lauscher gefolgt war. "Also,<br />

um was geht´s?"<br />

"Lasst es mich kurz machen. Ich frage mich, warum wir unser Leben in einen Aufstand gegen Mercurio riskieren<br />

sollen. Eine bessere Tarnung als dieses Piratenschiff kann uns doch gar nicht passieren - abgesehen da<strong>von</strong>, dass es<br />

uns über das Meer nach <strong>Maraskan</strong> bringt." Alrik verstummte, als das Gesicht eines Piraten am Eingang erschien.<br />

"Elburum - das wird ein Spaß" sagte er laut. "Schwarzer Wein, willige Weiber und Vergnügungen, die man sich in<br />

seinen schmutzigsten Träumen nicht vorzustellen wagt. Nicht wahr?" Der Angesprochene, ein Pirat, dessen Name<br />

die Gefährten nicht kannten und der offenbar lauschen wollte, nickte, brummte etwas und verschwand nach oben.<br />

Alrik öffnete den Boden seines Rucksacks und zog einen schweren Lederbeutel, der offenbar Münzen enthielt, ein<br />

viereckiges Päckchen sowie eine Karte hervor, die er raschelnd entfaltete. Es zeigte die Umrisse <strong>Maraskan</strong>s: "Die<br />

habe ich mir in Rommilys besorgt." erklärte der Baron und deutete auf Jergan. "Also, hört zu. Wir sollten uns<br />

langsam mal Gedanken machen, was passiert, wenn wir auf der Käferinsel angekommen sind. Ich habe mir das<br />

Ganze durch den Kopf gehen lassen. Wir brauchen Mercurio, wenn wir in Jergan an Land gehen wollen. Er ist in<br />

der Fürstkomturei schon bekannt, und will dort seine Beute zu Geld machen, hat also einen guten Grund<br />

anzulegen. Wenn wir dort mit der Fran-Horas auftauchen, die ja immerhin ein ziemlich auffälliges Schiff ist,<br />

werden wir Helme Haffax schlecht klar machen können, dass wir das gute Stück irgendwo herrenlos auf halbem<br />

Wege zwischen Aranien und <strong>Maraskan</strong> gefunden haben. Warum hängen wir uns nicht einfach an Mercurio an, so<br />

erregen wir auf Jergan am wenigsten Verdacht?"<br />

Alvan rieb sich ihr schlankes Elfenkinn. "Wollen wir denn überhaupt nach Jergan? Wäre es nicht sinnvoller, weiter<br />

südlich an Land zu gehen, bei Nuran und sich <strong>von</strong> dort aus direkt auf die Suche nach dem Tal der Glühwürmchen<br />

zu machen? Ich meine, vorausgesetzt, die Fran-Horas befindet sich dann" sie senkte ihre Stimme "in unseren<br />

Händen?"<br />

Alrik schüttelte den Kopf: "Dazu müssen wir auf die Küstenstraße, und das ist gefährlich. <strong>Maraskan</strong> steht unter<br />

Besatzungsrecht, also können sich dort nicht einmal die Einheimischen frei bewegen. Als Nichtmaraskaner fallen<br />

wir dort auf wie die bunten Hunde. Es wird dort sicherlich jede Menge Festungen, Straßensperren, Spitzel und<br />

Patrouillen geben, und ein fremdes Schiff, das an der Küste liegt, muss früher oder später Aufsehen erregen. Dazu<br />

kommt, dass wir einen ziemlich großen Topf und die Überreste meines Großvaters über viele Meilen hinweg<br />

bewegen müssen, was zusätzlich auffallen wird. Erklärt mal einen blutsaufenden Templer <strong>von</strong> Jergan, was eine<br />

Halbelfe, ein Magier, ein Praiosgeweihter, eine Peraineschwester und zwei andere Fremde mit einem Haufen<br />

Knochen oder sehr viel <strong>Gold</strong> in der Fürstkomturei zu suchen haben. Die meisten <strong>von</strong> uns sprechen nicht mal<br />

<strong>Maraskan</strong>o. Nein, ich glaube, es ist sinnvoller, wenn wir mit den Piraten in Jergan an Land gehen. In diesem wilden<br />

Haufen fallen Leute wie wir nicht zwangsläufig auf. Dieser Mercurio wird sich früher oder später selbst auf die<br />

Suche nach dem Schatz machen, da bin ich überzeugt. Sobald der das Wort <strong>Gold</strong> hört, hat der doch<br />

Dukatenzeichen in den Augen. Also, mein Plan..." Alrik deutete mit dem Pfeifenstiel auf die Karte, auf den Hira,<br />

der sich die Küste entlang Richtung Jergan schlängelte. "Mir ist aufgefallen, dass die Küstenstraße und der Fluss<br />

ziemlich eng beieinander liegen, das sind nur wenige Meilen. Also müsste das Tal der Glühwürmchen auch vom<br />

Hira her zu erreichen sein, sehr wahrscheinlich ist es sogar ein Seitental des Flusstals. <strong>Das</strong> große Beiboot der Fran-<br />

Horas hat einen aufstellbaren Mast, könnte also vom Jerganer Hafen aus unbemerkt den Fluss hinaufsegeln. Der<br />

Hira dürfte nicht so stark überwacht werden wie die Küstenstraße, wenn überhaupt. Außerdem vermeiden wir dann<br />

einen langen und beschwerlichen Marsch durch Sümpfe und den Dschungel. Wir suchen also das Tal der<br />

Glühwürmchen <strong>von</strong> Osten her, packen den ganzen Plunder auf das Boot und fahren zurück nach Jergan, zur<br />

Schi<strong>von</strong>e, ohne unangenehm aufzufallen."<br />

Odilon rieb sich über den <strong>von</strong> der Meeressonne ausgebleichten Bart: "Hm ja, hört sich soweit ganz vernünftig an.<br />

Aber ich habe damit schon mal zwei Probleme. Zum einen verfügen wir über eine einigermaßen brauchbare<br />

Lagebeschreibung des Tals nur <strong>von</strong> Westen her. Die beiden markanten Felsen fehlen uns im anderen Fall schon<br />

mal als Landmarke, außerdem steht es überhaupt nicht fest, ob es vom Hira aus überhaupt einen Zugang in unser<br />

Tal gibt. Zum anderen haben wir danach immer noch die Piraten am Hals, die uns sicherlich nicht mit den Knochen<br />

Alborans und dem Talued-Wasser, oder was immer sich in diesem Topf befindet, in Perricum oder Dergelmund<br />

absetzen werden."<br />

Alrik nickte. "<strong>Das</strong> ist wahr. Aber sie sind auf jeden Fall unsere Eintrittskarte für die Fürstkomturei. Als Piraten<br />

können wir uns ohne Probleme in der Stadt bewegen. Alles Weitere müssen wir dann vor Ort sehen. Und was die<br />

Lage des Tals angeht, so läßt sie sich vom Hira aus ebenfalls herausfinden. Am Flussufer wird es doch sicher<br />

Dörfer geben."<br />

Alvan nickte: "<strong>Das</strong> könnte funktionieren. Ich würde auf <strong>Maraskan</strong> ehrlich gesagt auch lieber eine Überlandreise<br />

vermeiden. Aber..."<br />

"He, ihr da!" Die scharfe Stimme der Bootsfrau erklang. "Was gibt es da für Heimlichkeiten? Rauf an Deck, aber<br />

ein bisschen zackig."<br />

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"Nun mal langsam!" Alvan drehte sich zu Xenia um, die mit in die Seiten gestemmten Fäusten eingetreten war.<br />

"Ich bin hier der Leutnant!"<br />

"Ein Scheiß bist du!" Xenias Augen funkelten vor Zorn. "Verdammte Elfenschlampe. Glaubst wohl, weil du es mit<br />

Mercurio treibst, kannst du dir alles erlauben! Glaubst wohl, ich würde nicht merken, dass ihr was ausheckt..." Ihr<br />

Blick wanderte zu Odilon. "Du hast Svanja umgebracht. Dafür wirst du büßen, das schwöre ich dir. Dafür werdet<br />

ihr alle büßen!" Der Waldläufer antwortete nicht, sondern verschränkte düster schweigend die Arme.<br />

"Wenn ihr glaubt, ihr könntet ein doppeltes Spiel treiben, habt ihr euch getäuscht, ist das klar? Ich weiß zwar nicht,<br />

was in Mercurio gefahren ist, dass er diese Orkscheiße hier mitmacht, aber u... mich führt ihr nicht hinters Licht.<br />

Mich nicht." Der wütende, aber auch ein wenig neidische Blick auf das hübsche Elfengesicht Alvans verriet, dass<br />

Xenia sehr wohl ahnte, was der eigentliche Grund für Mercurios Wohlwollen war. Ohne ein weiteres Wort drehte<br />

sie sich um und stapfte da<strong>von</strong>.<br />

"Wir sollten wirklich machen, dass wir wieder an Deck kommen" meinte Odilon. Alrik steckte seine Pfeife wieder<br />

in den Mund und sog den Rauch ein: "Gemach, Gemach. Ich lass mich doch <strong>von</strong> so einer nicht<br />

herumkommandieren. Aber habt ihr gehört - `uns´ wollte sie zuerst sagen. `Uns´ führt ihr nicht hinters Licht. Oho.<br />

Da braut sich was zusammen." Alvan nickte. "Ja, ich glaube, einige der Piraten sind mit Mercurio als Kapitän nicht<br />

sonderlich zufrieden. Sie haben den Verdacht, dass er der Blutigen See den Rücken kehren und wieder in die<br />

Charyptik zurück will. Er scheint ja wirklich nicht ganz so... verderbt zu sein wie die anderen." Einen Moment lang<br />

sah Odilon Alvan irritiert an, hatte er doch einen Anflug <strong>von</strong> Sympathie in ihrer Stimme entdeckt. Seine Tochter,<br />

die dies bemerkte, fuhr hastig fort: "Ich habe das Gefühl, Mercurio traut seinen Leuten ebenfalls nicht, jedenfalls<br />

nicht allen. Denkt an diesen Emporio. Den Plan, Mercurio zu beseitigen, hat er doch mal nicht eben so gefasst,<br />

auch wenn die Gelegenheit während des Gefechts mit den Araniern vielleicht besonders günstig war. Der Käpt´n<br />

muss schon Feinde in den Reihen der Mannschaft gehabt haben, bevor wir an Bord gekommen sind. Nun versucht<br />

er durch uns etwaige Meuterer abzuschrecken, oder besser gesagt, die eine Partei gegen die andere auszuspielen.<br />

Anders kann ich sein Verhalten nicht erklären."<br />

Alrik nickte. "Da ist was Wahres dran. Aber uns traut er offenbar auch nicht, sonst hätte er uns längst unsere<br />

Waffen zurückgegeben. Dumm ist er nicht. Schickt alle erst mal nach Elburum, um die Gemüter etwaiger Meuterer<br />

und Aufständischer mit Wein, Weib und Gesang ein zu lullen. Wir Überläufer sollen in diesem Sünden-Elem unser<br />

Seelenheil endgültig verspielen." Der Friedwanger ließ das Messer in seinem Stiefel verschwinden. "Also wieder<br />

mal jeder gegen jeden. Sei´s drum, wir sollten diese Runde jetzt besser auflösen. Ach ja, das wollte ich dir noch<br />

zeigen, Alvan." Der Baron überreichte der Halbelfe das mit Ölpapier eingeschlagene Päckchen.<br />

"Was ist das?"<br />

"<strong>Das</strong> Tagebuch meines Großvaters, Baron Alboran. Ich habe es vor längerer Zeit auf Burg Friedstein gefunden.<br />

Eigentlich wollte ich es dir schon längst mal geben, aber bei dem ganzen Trubel... Ich dachte es ist vielleicht<br />

nützlich bei unserer Suche, vielleicht kannst du ja etwas damit anfangen."<br />

Die drei gingen nach oben. Alvan blinzelte ins helle Licht der Nachmittagssonne. Die Blutige See zeigte sich<br />

gerade <strong>von</strong> ihrer besten Seite, auch wenn das Geglitzer der Wellen die Elfe irgendwie an falsches <strong>Gold</strong>, das sanfte<br />

Murmeln der Wellen wie das Getuschel <strong>von</strong> Verschwörer anhörte, die sich nach außen freundlich gaben und<br />

insgeheim bereits den nächsten Überfall planten. Einlullen, das Wort Alriks passte. Einlullend kam ihr auch das<br />

Perlenmeer vor, auch wenn sie sich gerne der scheinbaren Ruhe und dem brüchigen Frieden hingab. Aber hatte sie<br />

nicht schon vergessen, dass bereits hinter ihr ein Mensch durch das Wasser geschleift und langsam ertränkt wurde?<br />

Tatsächlich konnte sie vom Achterdeck aus den Kopf des Inquisitors sehen, den dieser verzweifelt über die Wellen<br />

zu recken versuchte. Einige kleinere Haifischflossen umkreisten das Geschehen, wagten aber noch keinen Angriff.<br />

Es musste ein grässliches Gefühl sein, dort als lebender Köder durchs Wasser gezogen zu werden, zudem in der<br />

Gefahr, zu ertrinken, falls die Schi<strong>von</strong>e an Fahrt verlieren würde. "Was ist, Haifischfutter? Schwörst du ab, oder<br />

möchtest du noch ein wenig länger baden?" höhnte Kobad, vom Steuerrad weggedreht. Ein ersticktes Husten und<br />

Stöhnen war die einzige Antwort. "Wie? Nein? Dann sonn dich ruhig noch ein bisschen!"<br />

Der Steuermann grinste Alvan an: "Noch ne Stunde, und er betet zu Efferd statt zu seiner trüben Himmelsfunzel."<br />

Alvan antwortete nicht.<br />

"Und wenn er dann noch ne Stunde im Wasser hängt, wachsen ihm Kiemen. Hö hö." Erneutet antwortete ihm<br />

eisiges Schweigen. Kobad sah sich um. Da er Mercurio nirgends entdecken konnte, raunzte er die Halbelfe an:<br />

"Was ist, Elfchen? Du verbreitest irgendwie so ´ne miese Stimmung. Auch Lust auf ein bisschen Abkühlung?<br />

Spring ruhig rein, wir werden Mercurio dann sagen, dass du über Bord gefallen bist..."<br />

"Ach leck mich doch...Pass auf, dass du nicht eines morgens aufwachst und feststellst, dass dein schmutziger Hals<br />

durchgeschnitten ist."<br />

"Mit was willst du mich denn umbringen, Schätzchen? Mit deinen spitzen Ohren ?" Ein meckerndes Lachen.<br />

"Elfen haben da so ihre Mittel."<br />

<strong>Das</strong> saß. Kobad sah sie eingeschüchtert an und überlegte sich gerade, welche heimtückischen Zauber seine<br />

Gegenüber wohl beherrschen mochte. Sie beschloss, den Gedanken an den Inquisitor einstweilen zu verdrängen,<br />

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denn helfen konnte sie Selbfried ohnehin nicht. Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim begab sich zum Bugspriet, um dort das<br />

Tagebuch zu lesen.<br />

<strong>Das</strong> Tagebuch Alboran III. Sigismunds <strong>von</strong> Friedwang<br />

Vorsichtig, beinahe ehrfürchtig nahm Alvan den Oktavband in die Hand. Irgendein kundiger Mensch hatte ihn<br />

sorgfältig in Ölpapier eingewickelt, um das Papier vor den Auswirkungen der südländischen Hitze, vor allem aber<br />

den nagenden Kiefern <strong>Maraskan</strong>s zu schützen. Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim schnupperte sacht an dem ätherischen<br />

Zimtduft, der <strong>von</strong> der gelblichbraunen, mattglänzenden und schon reichlich vergilbten Schutzhülle aufstieg.<br />

Tatsächlich, sie war mit einem der Pflanzenöle getränkt, mit dem die <strong>Maraskan</strong>er ihre Häuser und Türme vor<br />

Ungeziefer zu schützen pflegten. Merkwürdig, dass dieser Geruch nach beinahe vier Jahrzehnten noch so deutlich<br />

wahrnehmbar war. Alvan spürte ein anrührendes Gefühl <strong>von</strong> Vertrautheit, fast schon so etwas wie „Heimweh“<br />

nach der Insel im Perlenmeer in sich aufsteigen.<br />

Die Reste eines erst aufgebrochenen und danach größtenteils abgebröckelten Siegels klebten dunkelrot auf dem<br />

Umschlag. Die Halbelfe öffnete ihn und nahm das in feines darpatisches Rindsleder eingebundene Büchlein heraus.<br />

Bis auf einige wenige Spuren <strong>von</strong> Käferfraß war es in einem hervorragenden Zustand, die schätzungsweise rund<br />

fünfzig Seiten aus bestem Honinger Büttenpapier nur leicht verfärbt.<br />

Die Aufzeichnungen setzten im Praios 12 Reto ein, also im sechsten Götterlauf vor Hal - dem Jahr der Eroberung<br />

<strong>Maraskan</strong>s. Schnell wurde Alvan klar, dass sie hier das Tagebuch eines Schmetterlingssammlers vor sich hatte.<br />

Tatsächlich, beinahe auf jeder zweiten Seite hatte der Baron ein bunte Zeichnung <strong>von</strong> einem Tagpfauenauge,<br />

Horasmantel, Bannstrahler, Prachttaumler, Rohalsjünger, Tsafalter oder Rahjalieb hinterlassen, der ihm am<br />

jeweiligen Tag ins Netz gegangen war. Der übrige Inhalt war sehr privater Natur: Auch wenn Alvan pietätvoll<br />

weiterblätterte, bekam sie doch mit, dass Alboran der Streit mit den „lieben Verwandten“ in Gießenborn schwer zu<br />

schaffen machte. Dort saß sein Sohn, der Junker Golo und dessen intrigante Gattin Ludwina, beide offenbar<br />

blutsmäßig miteinander verwandt – die Eltern des jungen Gernot – und intrigierten gegen den Baron. Tatsächlich,<br />

hier wurde Klein-Gernot auch schon erwähnt:<br />

„Insbesondere mein Enkel bereitet mir zunehmend Sorgen. Wie sehr will mein Sohn ihn noch verziehen?<br />

Wenigstens Sangive bietet mir in all dem Kummer Halt, und Tsalinde bewährt sich bei der Verwaltung <strong>von</strong><br />

Nordenheim jeden Tag aufs Neue. Es ist für mich immer eine Freude, auf Gut Belenburg, dem Ort meiner Kindheit<br />

zu weilen. Wie wohlgeordnet und sauber sich hier alles dem Auge darbietet, eine wahre Pracht. Nur der Gallyser<br />

macht hin und wieder Ärger auf der Jargelweide, aber meine Tochter hat zum Glück einen Rondra gefälligen Geist<br />

und versteht es, Weldorn seine Grenzen zu zeigen.<br />

So gibt mir wenigstens meine Tochter Anlass zur Hoffnung, auch wenn sie sich für meinen Geschmack ein wenig zu<br />

oft bei Hofe aufhält. Will sie etwa die Mätresse des Grafen werden? Sicherlich, der junge Herr Answin Garbit ist<br />

eine beeindruckende Gestalt, gutaussehend, beredsam, einflussreich und weltgewandt, ein Landesherr, wie man ihn<br />

sich eigentlich nicht besser wünschen kann und als Berater Seiner Kaiserlichen Majestät eine unverzichtbare<br />

Stütze des wieder erblühten Raulschen Reiches, zudem natürlich auch mein Lehnsherr, dem ich Treue und<br />

Gefolgschaft schulde Dennoch muss ich Sangive Recht geben, die Tsalinde diesbezüglich zu mehr Zurückhaltung<br />

rät Was ein Zuviel an Ehrgeiz anzurichten vermag, das sieht man zur Genüge in Giessenborn. Manchmal will mir<br />

scheinen, dass diesen Rabenmund das Schicksal ein wenig zu weit hinaufgetragen hat, mag auch sein großer<br />

Vorfahr Randolph Kanzler unseres Reiches gewesen sein. Es ist nur so ein Gefühl, das ich wohlweislich für mich<br />

behalte und das vermutlich gar nichts zu bedeuten hat. Ich bin eben ein alter Mann, altmodisch, eifersüchtig und<br />

überbesorgt, wie mir meine Tochter oftmals im Scherz vorwirft, und zerbreche mir vielleicht zu viel den ergrauten<br />

Kopf über Dinge, die das junge Volk jetzt besser unter sich ausmachen sollte. Wer weiß schon, was die Zukunft<br />

bringen wird? Erst gestern hat mir meine Freundin, die Senkenthalerin, das Gerücht erzählt, unser Kaiser wolle<br />

die Königsherrschaft über die Insel <strong>Maraskan</strong> einfordern, der Rechte seiner verstorbenen Gemahlin Rohaja wegen.<br />

In Wehrheim und Rommilys rede man nur noch darüber. Ich mag es nicht recht glauben. <strong>Maraskan</strong>, das liegt doch<br />

irgendwo bei den Heiden, weitab im Osten. Was soll dort schon zu holen sein Eher wird das Reich die Ländereien<br />

südlich Almada zurück erobern, die ja auch einmal Gareth zinspflichtig waren, als ein derart ab gelegenes Eiland<br />

im Perlenmeer.“<br />

Die nächsten Einträge behandeln banale Alltagserlebnisse eines typischen mittelreichischen Barons, erst im<br />

Spätsommer kommt Alboran wieder auf <strong>Maraskan</strong> zu sprechen: „Krieg um <strong>Maraskan</strong>! Am Ende kam die Nachricht<br />

doch überraschend. Ein herrlicher Sommer, die beste Ernte seit zehn Götterläufen und nun das! Die Landwehr hat<br />

ihren Marschbefehl nach Zorgan schon erhalten. Drei Banner soll Friedwang stellen. Was denken die sich da oben<br />

eigentlich? An ein Aufgebot <strong>von</strong> mehr denn hundert Bauern ist beim besten Willen nicht zu denken. Nun denn, es<br />

wird sich ein Weg finden. Befehl ist nun einmal Befehl. Ich weiß nicht recht, was ich <strong>von</strong> der ganzen Sache halten<br />

soll: <strong>Maraskan</strong>! Aber dort hat es derart viele Schmetterlingsarten, dass sich die Sache am Ende doch wieder<br />

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lohnen mag. Allein die Tulamidischen Fächer und Geflügelten Sharisads, die im maraskanischen Regenwald<br />

umherschwirren mögen! Käferinsel wird das Eiland auch nicht umsonst heißen. Welche herrlichen Aussichten für<br />

meine Sammlung! In Gallys soll Weldorn, der eitle Geck, ebenfalls schon Feuer und Flamme sein. Bei Rondra, <strong>von</strong><br />

einem Bärenfurzer lass´ ich mir bestimmt nicht den Schneid abkaufen! Genug, es gilt jetzt einiges zu regeln und<br />

nicht die Zeit mit Geschreibsel zu verplempern.“<br />

Tatsächlich setzt das Tagebuch erst einige Praiosläufe später wieder ein.<br />

„Marsch gen Baburin. Die Stimmung ist ausgezeichnet. Reichsstraße voller Soldaten – ein erhebender Anblick.<br />

Hier marschieren sicherlich Tausende, Gardisten und Landwehr aus sämtlichen Ostprovinzen des Reiches im<br />

rondragefälligen Geist vereint. Gefühl der Unbesiegbarkeit. Nun, ich will nichts beschreien. Herrliches Wetter,<br />

auch der aranische Schlauchwein versüßt uns das Kriegführen.“<br />

„An Bord der `Rose <strong>von</strong> Zorrigan´. Trotz des glanzvollen Namens nur ein dickbauchige Potte - eine schlichte<br />

Kornblume, keine lieblich duftende Rose, auch wenn die Kapitänin mit ihren Pluderhosen und dem Turban einem<br />

südländischen Märchen entsprungen sein könnte. Diese Phexlina Almansid erweist sich allerdings als keine<br />

sonderlich angenehme Gesellschaft. Jammert kleinlich über entgangene Verdienste, den geschädigten Handel mit<br />

den Nachbarn im Osten und die angebliche Arroganz unserer Quartiermeister. Scheint insgeheim sogar mit ihren<br />

tulamidischstämmigen Brüdern und Schwestern jenseits der See zu sympathisieren. Es stellt sich heraus, dass<br />

einige ihrer Matrosen gestern in eine wüste Schlägerei mit Beilunker Seesöldnern verwickelt waren. Auch sonst<br />

erste Missstimmung. Drangvolle Enge. Drei volle Banner wären hier niemals untergekommen, aber auch mein<br />

kleines friedwanger Häuflein <strong>von</strong> fünfundsiebzig Kämpen findet neben dem Vieh und all den Vorräten kaum Platz.<br />

Die Efferdsieche wütet schrecklich, auch mich hat es bereits an die Reling getrieben. Mittlerweile haben sich See<br />

und Magen etwas beruhigt. Dafür immer wieder kleinere Reibereien zwischen meinen Friedwangen und der<br />

Mannschaft. Es geht um die Verpflegung, die im Falle der Matrosen auffallend besser ist als das, was meine<br />

Bauern vorgesetzt bekommen. Diese Almansid unternimmt wenig, um ihre Leute zur Ordnung zu rufen oder den<br />

Proviant gerecht zu verteilen. <strong>Das</strong> fehlte noch, dass es ausgerechnet hier an Bord zum ersten Kampf kommt. Ich<br />

muss schon jetzt meine gesamte Autorität in die Waagschale werfen, um eine angemessene Verpflegung zu<br />

erreichen. Aber der Anblick unserer Flotte entschädigt für vieles. <strong>Das</strong> Meer ist bedeckt <strong>von</strong> den stolzgeblähten<br />

Segeln der unzähligen Segler, Galeeren und Transportschiffe, vereint unter der Fahne des Reiches. Bald, so heißt<br />

es, sollen noch Geschwader aus Llanka und Elburum hin zu stoßen. Ich glaube nicht, dass Frumolds Flotte oder<br />

irgendeine andere Streitmacht diesem gewaltigen Aufgebot widerstehen kann. Mögen die Götter uns einen<br />

schnellen Sieg schenken.“<br />

„Brütende Hitze. Drückende Enge und Langeweile an Bord. Heute morgen fliegende Fische gesehen. <strong>Das</strong> Meer<br />

hier scheint nicht sehr tief zu sein, es ist smaragdgrün und die meiste Zeit ruhig. Stimmung immer noch gereizt,<br />

aber schon etwas besser als gestern. Man gewöhnt sich aneinander, auch wenn mir die kleinkrämerische<br />

Mentalität der Aranier ebenfalls gehörig gegen den Strich geht.“<br />

„Tuzak ist genommen. Ein großer Sieg. Unten im Hafen brennen noch immer einige Schiffe der <strong>Maraskan</strong>er.<br />

Meine Friedwangen freuen sich in einem fort über das schaurig- schöne Spektakel, wie die Kinder, wenn im<br />

Frühjahr der Winterunhold verbrannt wird. Die ´Rose <strong>von</strong> Zorrigan´ war nicht beteiligt, dafür hatten wir vor der<br />

Roabmündung einen Logenplatz bei der Vernichtung der feindlichen Geschwader. <strong>Das</strong> Hylailer Feuer hat hier<br />

schnell für klare Verhältnisse gesorgt, zumal die <strong>Maraskan</strong>er völlig überrumpelt waren. Der Rest der königlichen<br />

Flotte wurde <strong>von</strong> unseren neuen Triremen buchstäblich im Hafenbecken versenkt. Ein erhebender Anblick, der<br />

jeden <strong>von</strong> uns mit Siegeszuversicht erfüllt hat. Der eigentliche Sturm auf die Stadt war dann ein Kinderspiel, zumal<br />

wir unter den letzten waren, die angelandet wurden. Die wirklich heiklen Punkte, die Treppen zur Oberstadt waren<br />

schon <strong>von</strong> der Ersten Wehrheimer Garde freigekämpft, nur in und um die Weiße Residenz wird jetzt, da ich diese<br />

Zeilen schreibe, noch hartnäckig gefochten.<br />

Dennoch viel Unruhe, Geschrei und blitzende Klingen in den verwinkelten Gassen, man wusste gar nicht, rennen<br />

da die Unsrigen oder der Feind. Wir selbst hatten den Befehl, Widerstandsnester innerhalb der Oberstadt<br />

aufzuspüren und zu beseitigen, was meine wackeren Friedwangen für eine unmissverständliche Aufforderung<br />

hielten, Wein, Rum und Lebensmittel zu plündern, Verdächtige zu verprügeln, Feuer zu legen und hübschen<br />

Tuzakerinnen an die Wäsche zu gehen. Bis ich die Disziplin leidlich wieder hergestellt hatte, wehte schon das<br />

Greifenbanner über der Residenz – in deren Kellern allerdings noch immer gekämpft werden soll. Weiß dieses Volk<br />

denn nicht, wann es besiegt ist? Die rasche Einnahme der Königsstadt macht doch Hoffnung auf baldige<br />

Heimkehr. Tuzak ist eine sehr malerische Ansiedlung mit vielen exotischen Türmen, die zum überwiegenden Teil<br />

auf einem steilen Hochplateau liegt und. . . “ Hier machte ein großer Fleck die Aufzählungen der lokalen<br />

Sehenswürdigkeiten unleserlich. Offenbar hatte der Baron hier irgendein größeres Insekt erschlagen. Tatsächlich,<br />

hier stand es:<br />

„ 25. TRAvia: Meine erste <strong>Maraskan</strong>kakerlake erlegt. Bei allen Zwölfen, was für ein Ungetüm! Kurz vor Alrurdan<br />

ein schwerer Anfall <strong>von</strong> Rurs Rache, der mich unter den höhnischen Blicken meiner Bauern ins Gebüsch trieb.<br />

Frage mich zum ersten mal seit Tuzak, was ich hier eigentlich mache, zumal Satinav einem keine Gelegenheit gibt,<br />

den Schmetterlingen und Käfern nach zu stellen. Die Pracht an Myriaden Farben und Formen bietet dennoch<br />

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genügend Entschädigung – <strong>Maraskan</strong> ist wirklich <strong>von</strong> der Jungen Göttin gesegnet. Allein dafür lobe ich den Krieg,<br />

dass er mich auf meine alten Tage noch einmal in ein solches Paradies geführt hat, auch wenn meine sechzig Lenze<br />

die Hitze und Stechmücken nur schwer ertragen. Der Marschall soll seinen Soldaten den ´alten Baron Alboran´<br />

schon als leuchtendes Beispiel für Pflichterfüllung und Zähigkeit hin gestellt haben. . . Die <strong>Maraskan</strong>er sind<br />

überall auf den Rückzug, leisten höchstens noch hinhaltenden Widerstand und greifen in ihrer Verzweiflung<br />

zunehmend zu ehrlosen, unrondrianischen Mitteln. Furcht vor nächtlichen Überfällen auf Posten und vergifteten<br />

Brunnen geht um. Gestern Scharmützel mit Heckenschützen auf einer Plantage, ein halbes Dutzend Gefangene<br />

eingebracht und sofort gehängt, da sie keine Uniformen trugen. Nichts wirklich Ruhmreiches. Es wird wohl nur<br />

noch wenige Wochen dauern, bis die Käferfresser ein für alle mal besiegt sind. Alles weist auf eine<br />

Entscheidungsschlacht bei Jergan hin, einer Stadt im Norden der Insel, der wir nun in Eilmärschen zustreben.“<br />

„26. TRAvia. Wie sehr ich Sangive vermisse! Aber der Feldzug wird bald siegreich beendet sein, dann gibt es ein<br />

Wiedersehen in der Heimat. Ob der Hitze kaum noch rondrianische Gefühle, eher das Bedürfnis aufrecht und<br />

praiosgefällig meine Pflicht zu erfüllen. Alrurdan eine ziemlich schmutzig wirkende Kleinstadt mit vielen<br />

Lehmziegeltürmen. Viel Lärm und Palaver auf den Gassen. Die Bewohner wirken feindselig. Es wird nicht leicht<br />

werden, die <strong>Maraskan</strong>er zur Loyalität gegenüber ihrem rechtmäßigen König anzuhalten. Bin im Haus eines<br />

wohlhabenden Händlers einquartiert. <strong>Das</strong> ständige Gefasel <strong>von</strong> Rur und Gror, der Schönheit <strong>von</strong> Ungeziefer oder<br />

<strong>von</strong> Schwestern, die zugleich Brüder sind, geht mir gehörig auf die Nerven, zumal das Garethi der <strong>Maraskan</strong>er so<br />

wirr und <strong>von</strong> tulamidischen Einflüssen durchdrungen ist wie ihre ganze verrückte Weltsicht. Wirklich peinlich ist,<br />

dass mich dieser Zendidschi Schlagmichtot auch noch mit dem größten Respekt behandelt, nicht nur, weil ich ein<br />

`Baruun´ bin, sondern weil ich den Namen ihrer heiligen Stadt in dem meinigen trage: Al´Boran. <strong>Das</strong> habe doch<br />

bestimmt etwas zu bedeuten. Für mich ist das nur ein durchsichtiger Versuch, mich zu seinem Unglauben zu<br />

bekehren. Mein wackerer Knappe Jargan hat diesen Zendidschi ausgelacht, er heiße fast genauso wie die letzte<br />

Zuflucht König Frumolds, das habe wohl auch etwas zu bedeuten, nämlich, dass wir sie bald in unsere Hände<br />

bekommen werden. Der Mann war nicht einmal beleidigt, sondern meinte, das könne es bedeuten, müsse es aber<br />

nicht. Letzten Endes sei es ihm gleich, wer <strong>Maraskan</strong> beherrsche, Harlidschin, Frumold oder eben wir<br />

Garethschas, im Endeffekt sei das alles Schassakabal (es hörte sich an, als wolle er „Scheißegal“ sagen), der<br />

Weltendiskus würde sich weiter drehen wie zuvor. Die <strong>Maraskan</strong>er und ihr unerschütterlicher Fatalismus! Ob ich<br />

<strong>von</strong> der Insel Honingen käme? Nein, antwortete ich verwirrt, ich sei ein Darpate, genauer gesagt, ein<br />

Schwarzsichler, oder besser, ich käme aus der Gegend zwischen der Schwarzen Sichel und den Trollzacken.<br />

Außerdem sei Honingen keine Insel, sondern eine Stadt in Albernia (ich fürchte, die <strong>Maraskan</strong>er haben mich schon<br />

mit ihrer Schwatzhaftigkeit angesteckt). Da sei ich ja ein Landsmann <strong>von</strong> ihm, strahlt Zendidschi. Als ich wissen<br />

will, wieso das, sagt er, die Beni Rurech, die Vorfahren der heutigen <strong>Maraskan</strong>er, seien ebenfalls aus den<br />

Trollzacken hierher eingewandert. Nun wundere es ihn nicht mehr, dass ich genauso hieße, wie die heilige Stadt<br />

Boran. Ob ich zufällig am 19. Rondra Geburtstag hätte – ich sagte verwirrt, dass ich am 16. Boron mein<br />

Wiegenfest feiern würde. Da war er vollends aus dem Häuschen: Der viermal vierte Tag des vierten Monats! <strong>Das</strong><br />

habe ganz sicher etwas zu bedeuten! Irgendwie kommen mir die <strong>Maraskan</strong>er alle ein bisschen verrückt vor. <strong>Das</strong><br />

Essen, das der Kaufmann uns vorsetzte, war jedenfalls widerlich, grauenhaft gewürzt! Mein Mund ist jetzt, da ich<br />

diese Zeilen schreibe, noch immer ohne Geschmack, dafür leide ich brennenden Durst. Ich kann verstehen, dass die<br />

Söldlinge im Nachbarhaus ihren Wirt niedergestochen haben, weil sie glaubten, er wollte einen ihren Kameraden<br />

vergiften. Der Bursche war so unvorsichtig, in eine maraskanische Pastete zu beißen. Gerade ist eine Kakerlake, so<br />

groß wie meine Handfläche, über den Tisch gelaufen und hat sich einen der Nachtfalter gefangen, die um meine<br />

Laterne kreisen. Praios steh uns bei!“<br />

„27. TRAvia. Die Gluthitze und der Eilmarsch sind eine größere Herausforderung als unsere Feinde, <strong>von</strong> denen<br />

sich ohnehin kaum einer blicken lässt. Elfenkönig ist völlig am Ende, ich fürchte, ich werde ihm noch vor Jergan<br />

den Gnadenstoß geben müssen. Bei einer kurzen Rast durchzuckt mich ein Schreck. Ich ziehe meine Stiefel aus, um<br />

meine Füße zu lüften, gehe einige Schritt durchs hohe Gras, da bereue ich auch schon meine Leichtsinnigkeit: Ein<br />

schmerzhafter Stich, dann ringelt sich eine grüngelbe Schlange da<strong>von</strong>. Zum Glück scheint das Tier ungiftig<br />

gewesen zu sein, auch wenn mich das blau-grünliche Aderngeflecht, das seitdem meinen Fuß ziert, beunruhigt.<br />

Fühle mich schwach, was aber auch an den Strapazen des Feldzugs liegen kann.“<br />

„29. TRAvia. Wir sind zu langsam, fallen jeden Tag mehr zurück. Aber ein noch strammeres Marschtempo kann<br />

ich meinen kriegsunerprobten Bauern nicht zumuten. Haben ja anders als die Garde nicht mal ordentliches<br />

Schuhwerk und das in dieser grausamen, <strong>von</strong> Schlangen und Ungeziefer verseuchten Umgebung. Mittlerweile hat<br />

sich die Landschaft verändert. Der Dschungel ist bis an die Straße heran gerückt, der Boden sumpfig geworden.<br />

Hier fressen uns die Mücken und Käfer beinahe auf! Was uns das Geschmeiß an Blutzoll kostet, dafür hätte es <strong>von</strong><br />

Frumold einen Orden verdient. Auf den Karren ist kaum noch Platz, die Siechen zu transportieren, obwohl in der<br />

Nacht wieder eine Handvoll Fieberkranker übers Nirgendmeer gegangen ist. Dennoch, die Landschaft ist nicht<br />

ohne Reiz, selbst der mal dichte, mal wieder zurückweichende Dschungel links und rechts der Straße zeigt eine<br />

eigentümliche Schönheit. <strong>Das</strong> heißt, wann immer man sich an <strong>Maraskan</strong> gewöhnen will, fällt wieder irgendetwas<br />

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über uns her so wie diese riesige gelb-rot gesprenkelte Spinne, die den unglücklichen Xavert tot gestochen hat, als<br />

er Holz für das Lagerfeuer holen wollte. Der schwärzlich angeschwollenen Leib des Unglücklichen war ein<br />

grässlicher Anblick: <strong>Das</strong> Untier - die Einheimischen nennen es Maraske - hat ihn <strong>von</strong> Kopf bis Fuß voller Gift<br />

gepumpt. Wir können mit Fug und Recht <strong>von</strong> uns behaupten, dass wir hier gegen ein ganzes Land kämpfen. Ich<br />

würde gerne zu Fuß marschieren, um die Strapazen mit meinen Leuten zu teilen. Aber das Aderngeflecht an<br />

meinem rechten Fuß will einfach nicht abschwellen, so dass ich beschließe, mich vorerst zu schonen.“<br />

„30. TRAvia: Heute Morgen Durchmarsch durch irgendeinen namenlosen Weiler an der Straße nach Jergan. Auf<br />

dem Dorfplatz verprügeln einige verschwitzte Armbrustschützen einen maraskanischen Priester und treten ihn in<br />

den Staub. Schon blitzt die erste Klinge. Mich überkommt ob des unrondrianischen Verhaltens Zorn: Wir kämpfen<br />

hier allein gegen den Thronräuber Frumold, nicht gegen sein Volk, schon gar nicht dessen Priester. Gegen letztere<br />

jedenfalls nicht mit roher Gewalt, die nur die einfache Bevölkerung gegen uns aufbringen muss. Ein kurzes Verhör<br />

ergibt, dass die Söldlinge den Burschen wegen einer Wurfscheibe verdächtigen, die dieser mit sich führt. Der<br />

<strong>Maraskan</strong>er behauptet in gutem Garethi, die Waffe diene allein kultischen Zwecken und der Jagd. Tatsächlich<br />

wirkt das runde Ding auf mich nicht sonderlich gefährlich, also glaube ich ihm und verscheuche die ehrlosen<br />

Mietlinge. Eine gute Gelegenheit, das Vertrauen der Einheimischen zu gewinnen, <strong>von</strong> denen einige bereits<br />

zusammen gelaufen sind und aufgeregt schnattern. Ich lasse den Blutenden für alle sichtbar durch den Feldscher<br />

verarzten und biete ihn einen Becher Rum aus meinem privaten Vorrat an. Rasch entwickelt sich ein freundliches<br />

Gespräch. Die Robe des Mannes schillert ähnlich wie die eines Tsageweihten, das flößt mir irgendwie Vertrauen<br />

ein: Ich frage Marajin, so stellt sich der Priester vor, ob es stimme, dass die <strong>Maraskan</strong>er <strong>von</strong> den Trollzackern<br />

abstammen. Er bestätigt, der wesentliche Teil der heutigen Inselbewohner sei <strong>von</strong> dort als Beni Rurech über das<br />

Meer gekommen und habe den Glauben an die Göttlichen Zwillinge nach <strong>Maraskan</strong> gebracht. <strong>Das</strong>s die Menschen<br />

der Schwarzen Sichel und die <strong>Maraskan</strong>er zumindest teilweise gleichen Blutes sein sollen, verfehlt seinen Eindruck<br />

auf mich nicht, zumal mir der Bursche, der seinem Aussehen nach tatsächlich aus Rübenscholl oder Zaberg<br />

stammen könnte, auf Anhieb sympathisch ist. Marajin <strong>von</strong> Jergan, wie er mit vollem Namen heißt, scheint sogar<br />

adeliger Abkunft zu sein. Zumindest deuten seine blonden, mittelreichisch wirkenden Haare und das ´<strong>von</strong> Jergan´<br />

darauf hin. Fast schon bin ich etwas enttäuscht, dass der Priester meinem Namen nicht dieselbe Bedeutung<br />

beimisst wie der Händler in Alrurdan. Kann sein, dass sich dahinter eine besondere Bedeutung verberge, vielleicht<br />

aber auch nicht. Niemand könne Rurs Pläne wirklich ermessen. Am Anfang jeder Weisheit stünde die sorgfältige<br />

Beobachtung, und es sei sehr gut möglich, dass die Ähnlichkeit der Worte Baruun, Alboran und Boran einen<br />

Hinweis auf eine bislang verborgene Schönheit der Welt beinhalte. Wenn das Kleine wie das Große sei, warum<br />

nicht auch der <strong>Maraskan</strong>er wie der Mensch aus der Schwarzsichel, oder wie meine Heimatberge hießen? Auch<br />

wenn derartiges Gerede für mich immer keinen rechten Sinn ergibt, habe ich mich mittlerweile daran gewöhnt. Ich<br />

erfahre, dass die <strong>Maraskan</strong>er ebenso an die Zwölfgötter glauben wie wir, dass die Weltenscheibe für sie ein<br />

Geschenk des Schöpfergottes Rur an dessen Bruder Gror ist und dass der Mensch nach dem Tod für sie dank der<br />

Gnade Tsas in neuer Gestalt wiedergeboren wird. Die Gemeinsamkeiten mit unserer Verehrung der Zwölfe<br />

scheinen trotz gewisser Absonderlichkeiten zu überwiegen. Insbesondere die Sage vom Wachenden Schlaf zweier<br />

halbgöttlicher Schwestern unter der <strong>Maraskan</strong>kette erinnert mich sofort an Sokramor, so dass es tatsächlich eine<br />

entfernte Verwandtschaft zwischen Schwarzsichlern und <strong>Maraskan</strong>ern geben mag.<br />

Marajin beschließt, uns bis Jergan begleiten, um dort die große Schlacht aus der Nähe mitzuerleben. Mal sehen,<br />

was Rur damit bezweckt, sagt er mit bemerkenswerter Gleichmut. Mir kommt die Begleitung eines Priesters<br />

überaus gelegen: Sie wird hoffentlich abschreckend auf etwaige Angreifer aus dem Hinterhalt wirken. So erfahre<br />

ich auch noch, dass Frumold keineswegs unbestrittener Herrscher des Landes ist, sondern viele Baruune und<br />

Hairane – eigentlich die meisten – ihre eigenen Wege gehen und den falschen König ebenfalls für einen<br />

anmaßenden Emporkömmling halten, der ihre angestammten Rechte beschneiden möchte. Marajin scheint uns<br />

nicht wirklich als fremde Eroberer anzusehen, eher für überraschende neue Mitspieler in einem sich schon seit<br />

Generationen hin ziehenden Machtspiel. Interessante Möglichkeiten für Diplomatie.<br />

Später. Mir zittern die Knie. Habe Marajin auf den Schlangenbiß angesprochen und ihm das Aderngeflecht gezeigt.<br />

Er sieht mich lange und sehr ernst an. Druckst herum, so dass ich ihn ermahnen muss, mir die Wahrheit zu sagen.<br />

Schließlich rückt er damit heraus: <strong>Das</strong> sei ohne jeden Zweifel der Biss einer Noralec-Otter, deren Gift das Opfer<br />

unweigerlich sterben lasse. Ein Heilmittel gebe es nicht. Ich müsse mich darauf vorbereiten, innerhalb der<br />

nächsten fünf Jahre zu Schwester Tsa zu gehen! Auch wenn mein Verstand es nicht wahrhaben will, sagt mir mein<br />

Gefühl, dass der <strong>Maraskan</strong>er die Wahrheit spricht. Ich musste damit rechnen, diesen Kriegszug nicht zu überleben.<br />

Dennoch, die Wirklichkeit ist immer grausamer als jeder Gedanke. Nur langsam kommt mir die volle, entsetzliche<br />

Tragweite des Gesagten zu Bewusstsein. Alles, nur kein jahrelanges Siechtum. Mein Entschluss: In der Schlacht<br />

den Tod <strong>von</strong> Feindeshand suchen und heldenhaft fallen, wie es einem Baron <strong>von</strong> Wehrheim geziemt! Morgen<br />

Totenfest. Wie passend zu meiner Stimmung.<br />

1. BORon: Ich fühle mich merkwürdig leicht und unbeschwert, eher wie neu geboren denn dem Tod geweiht. Am<br />

Abend ein langes Gespräch mit Marajin. Langsam beginne ich die Weltsicht der <strong>Maraskan</strong>er besser zu verstehen.<br />

Ich muss sagen, dass dem Gedanken an eine Wiedergeburt, vielleicht sogar an ein Wiedersehen mit Sangive in<br />

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einem neuen Leib etwas Verlockendes innewohnt. In Friedwang hätte ich solche Gedanken sicherlich als närrisch<br />

verlacht, aber hier, im Dschungel, unter südlichen Sternen und mit dem Gift einer Noralec-Otter im Blut, kommen<br />

sie mir beinahe schon vernünftig und naheliegend vor. Die Vorstellung, auf einer gewaltigen Scheibe durch das<br />

endlose, sternenklare Weltall zu fliegen, hat ebenfalls etwas Faszinierendes an sich. Ich beschließe, wenigstens für<br />

die heutige Nacht, da das Lagerfeuer bis in den Himmel brennt, die Glühwürmchen mich etwas <strong>von</strong> meinen trüben<br />

Gedanken ablenken und die Offenbarung der Zwillinge Herz und Seele wärmt, an die Göttlichen<br />

Brüderschwestern, den Weltendiskus sowie die Schönheit des blau-grünen Adergeflechts an meinem rechten Fuß<br />

zu glauben...“<br />

Damit endeten die Eintragungen. Der zunehmend unregelmäßig werdenden Schrift nach zu urteilen, meinte<br />

Alboran mit der „Offenbarung der Zwillinge“ den gleichnamigen Rum, aber der Baron schien auch Interesse am<br />

Rur-und-Gror-Glauben gefunden zu haben. Alvan kannte die Dienerschaft Rurs und Gror; es war ihnen ein<br />

leichtes, mit einigen beiläufigen Bemerkungen Zweifel an einer bisherigen Weltsicht zu wecken und die ihrige als<br />

die einzig wahre erscheinen zu lassen. Dieser Marajin <strong>von</strong> Jergan war diesbezüglich wohl keine Ausnahme<br />

gewesen. Alvan musste schmunzeln. Natürlich hatte der kein blaues Blut in den Adern: Viele <strong>Maraskan</strong>er<br />

benannten sich nach ihrem Herkunftsort und Blondhaarige gab es unter ihnen ebenfalls mehr, als es die Garethjas<br />

für möglich hielten. Aber der Priester, so er noch am Leben war, konnte sie vielleicht zum Grab des Barons führen<br />

– 6 vor Hal schien er jedenfalls noch ein junger Mann gewesen zu sein, wenn ihn der Baron „Bursche“ nannte.<br />

Marajin war auf der Insel zwar ein Allerweltsname, aber <strong>Maraskan</strong> im Grunde ein großes Dorf, so dass dort<br />

sicherlich irgendetwas über dessen weiteres Schicksal bekannt war. Die Wurfscheibe und seine Ansichten deuteten<br />

daraufhin, dass er zu der Sekte der Eukolizana gehörte, die in der Schlacht <strong>von</strong> Hemandu völlig aufgerieben<br />

worden war – Alvan traute einem <strong>Maraskan</strong>er durchaus die heimtückische Dreistigkeit zu, Mittelreicher in eine<br />

Schlacht zu begleiten, um dort gegen sie zu kämpfen. Aber es war sehr unwahrscheinlich, dass er noch rechtzeitig<br />

dort eingetroffen war – die Schlacht hatte ja bereits am 3. Boron statt gefunden. Umso wahrscheinlicher war es,<br />

dass er noch unter den auf dem Weltendiskus Anwesenden weilte.<br />

Odilon war mit Alrik an Deck gegangen. Mit einem kaum scheinbaren Nicken deutete er dem Streuner an, ihm zu<br />

folgen. Gemeinsam gingen die beiden Männer an die Steuerbordreling. "Der Plan ist schlicht genial, mit den<br />

Piraten nach Jergan zu segeln. Aber er hat einen Haken, der mir mehr als nur schwer im Magen liegt."<br />

"Ja gut, natürlich ist da ein Risiko vorhanden. Wir müssen die anderen Piraten scharf im Auge behalten..."<br />

"<strong>Das</strong> meine ich nicht. Morgen werden die Matrosen der Greif als Sklaven verkauft. Und wir sind dafür<br />

verantwortlich. Vor allem ich bin dafür verantwortlich. Der Inquisitor hatte Recht. Hätte ich wie er es gewollt hätte<br />

mit den Piraten kurzen Prozess gemacht hätten sie die Fran-Horas nicht zurückerobert. Und nun sind rechtschaffene<br />

Matrosen gefangen. Ich allein bin schuld daran und habe das Schicksal der Matrosen zu verantworten. Ich habe mit<br />

meiner Nachgiebigkeit gegenüber übelstem Gesindel zu verantworten, dass ein Dutzend Seeleute ihren Glauben<br />

verraten haben, und dass neun Matrosen gefangen sind und in Llanka auf dem Sklavenmarkt feilgeboten werden."<br />

"Odilon, das hat niemand vorhersehen können. Wir sind alle Menschen mit Moralvorstellungen. Niemand kann es<br />

erwarten, dass Du wehrlose Gefangene tötest."<br />

"Doch. Jetzt erst verstehe ich, was es heißt, Verantwortung zu tragen, wie der Inquisitor sie trägt. Um<br />

Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit zu verbreiten darf man sie mitunter denen nicht gewähren, die sie bedrohen.<br />

Sieh Dir doch an, was das Piratenpack für Unheil verbreitet. Ich hätte die Möglichkeit gehabt, das zu verhindern,<br />

und nun habe ich einundzwanzig Seelen auf dem Gewissen. Ich muss und werde etwas unternehmen. Ich weiß<br />

noch nicht was, vielleicht werde ich heute Nacht einem nach dem anderen auflauern und sie Mann für Mann<br />

niederkämpfen. <strong>Das</strong> schwöre ich Dir, Alrik, gegenüber solch zwölfgötterlosem Gesindel werde ich nicht mehr zu<br />

weich sein."<br />

"Vergiss es, Odilon. Sie werden damit rechnen. He, Odilon, wo bleibt Deine kreative Phase? Hat man Dich nicht<br />

einmal dafür gerühmt, dass Du gegen eine Übermacht stets eine gute List parat hast?"<br />

"Du hast schon Recht, Alrik. Aber ich werde etwas unternehmen. Wenn mir keine andere Kriegslist einfällt werde<br />

ich kämpfen. Aber bis zum Abend sind noch ein paar Stunden Zeit. Vielleicht habe ich noch eine rettende Idee."<br />

"Nein, Odilon. Laß mich nur machen. Du hast in den letzten Tagen genug gekämpft. Jetzt ist die Zeit der Magier<br />

und der Taschenspieler. Und die Zeit der Taktiker und Diplomaten. Mercurio vertraut den Piraten nicht mehr, und<br />

die Piraten ihm vertrauen auch nicht. Würde mich wundern, wenn sich daraus nicht ein Phexenstaler schlagen<br />

ließe. Ha, das wird ein Spaß... Komm mit, und spiele bei unserem folgenden Gespräch mit. Wir werden belauscht<br />

werden." Mit einer deutlich unauffälligen Kopfbewegung, die durch ihre übertrieben wirkende Heimlichkeit<br />

einfach auffallen mußte, deutete er Odilon an, ihm zu folgen. Alrik führte ihn auf den Bugaufbau.<br />

„Hier sind wir ungestört, hier können wir reden.“ begann Alrik. Natürlich waren sie nicht ungestört. Alrik war ganz<br />

bewusst genau über Emporios alte Kabine gegangen, die nunmehr leer stand. Von unten konnte man, wenn man<br />

das Fenster öffnete, genau hören, was oben gesprochen wurde. Alrik war es nicht entgangen, dass Xenia sich wie<br />

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zufällig der Kabine Emporios näherte und darin scheinbar mit einer Aufgabe betraut verschwand. Genau das hatte<br />

er mit seiner auffälligen Unauffälligkeit bezweckt.<br />

„Ich war vorhin beim Kapitän.“ sagte Alrik. „Er sagt, er kann der Mannschaft nicht vertrauen. Seit Emporios<br />

Meuterei weiß er nicht, wer ihm <strong>von</strong> seiner alten Besatzung noch loyal gegenübersteht. Er vermutet, dass sie ihn<br />

wohl früher oder später absetzen werden, möglicherweise während des Aufenthaltes in Llanka, wenn die<br />

Gefangenen <strong>von</strong> Bord sind und die neuen sich in der Stadt der Lust vergnügen.“<br />

„Ja, dass nicht alle mit Mercurio zufrieden sind habe ich auch schon bemerkt. Bedenk nur, was Xenia vorhin gesagt<br />

hat.“<br />

„Mercurio ist das alles nicht entgangen. Die alten Piraten befürchten, so meinte er, dass ihre Bedeutung an Bord<br />

abnimmt, da ja nunmehr die neuen Matrosen in der Mehrheit sind. Und damit liegen sie wohl nicht so falsch. Wir<br />

sind den alten Hasen ja an sich schon ebenbürtig, und das Verhältnis zwischen den einstigen Gefangenen, jetzt<br />

neuen Mannschaftsmitgliedern an Bord, ist durchaus gespannt. Vorher hat mich einer der neuen angesprochen. Er<br />

sagte mir, dass er natürlich nur um seine Haut zu retten übergelaufen ist, und fragte, wann wir denn losschlagen<br />

würden.“<br />

„Ist ja interessant. Dann haben die neuen also die Lage durchschaut?“<br />

„Durchaus. Die meisten zumindest. Im Gegensatz zu unserem fanatischen Praioten wollen sie in erster Linie<br />

überleben, und in zweiter Linie natürlich ihr Seelenheil nicht gefährden. Wenn wir die Gefangenen befreien und<br />

eine gut organisierte Meuterei beginnen würden, dann wären wohl die meisten auf unserer Seite. <strong>Das</strong> Dumme ist<br />

nur, dass das nicht nur wir wissen, sondern auch der Kapitän. Und vermutlich auch die anderen Piraten.“<br />

„Ja, vermutlich. <strong>Das</strong> können sie sich wohl zusammen reimen.“<br />

„Und deswegen hat sich der Kapitän vorhin mir anvertraut. Der Kapitän weiß genau, dass er <strong>von</strong> seiner alten<br />

Besatzung nicht viel zu erwarten hat. Die haben ja schon einmal gemeutert. Und er weiß, dass er auch uns nichts<br />

entgegensetzen kann. Also will jetzt der Kapitän meutern.“<br />

„Wie bitte“<br />

„Na ist doch klar. Der Kapitän läuft zu uns über. Er hat mir vorhin gesagt, dass letztlich auch er nur im Strudel der<br />

Ereignisse zum Zholvaranghänger geworden ist, weil es ihn halt nach Xeraanien verschlagen hat. Letztlich will<br />

auch er überleben und sich einen bescheidenen Luxus leisten können. Deswegen hat er unser rasches Überlaufen<br />

auch so schnell akzeptiert. Er braucht uns, denn wir sind seine Überfahrt zurück in die zwölfgöttlichen Lande.“<br />

„Wie darf ich das verstehen?“<br />

„Ganz einfach. Der Kapitän wird uns im Laufe des Tages nach und nach unsere Waffen zurückgeben, damit wir die<br />

Piraten besiegen können. In der Nacht, einen nach dem anderen. Er wird uns das Schiff übergeben, uns die<br />

Gefangenen befreien lassen. Ich hab ihm dafür versprochen, dass wir ihm seine Freiheit lassen und ihn irgendwo an<br />

der mittelreichischen Küste aussetzen. Er behält sein Leben und soviel Geld aus der Bordkasse wie er tragen kann.<br />

<strong>Das</strong> dürfte genug sein, um sich unerkannt irgendwo zur Ruhe setzen zu können, während ihn hier wohl nur ein<br />

unrühmlicher Tod erwarten würde.“<br />

„<strong>Das</strong> will der Kapitän?“<br />

„Er hat keine andere Wahl. Von seiner alten Mannschaft erwartet ihn der Tod. Früher oder später. Wenn er uns hilft<br />

bleibt er immerhin am Leben, und wird mit Sicherheit keine armselige Existenz führen. Jedenfalls werden wir<br />

heute nach Mitternacht zuschlagen. Halte Dich bereit und verhalte Dich unauffällig. Ich werde jetzt den anderen<br />

Bescheid geben.“<br />

Alrik verstummte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen ging er unter Deck. Er wollte einmal nach seinem alten<br />

Freund, dem Magister Hesindian sehen. Odilon ging wieder zur Reling beobachtete betont beschäftigt aussehend<br />

das Treiben der Matrosen. Er fragte sich, was der Baron plante. Es wäre besser gewesen, alles zu besprechen, aber<br />

das wäre vermutlich aufgefallen. Er mußte Alrik jetzt einfach vertrauen. Odilon hatte vor allem ein Auge auf<br />

Xenia. Die Bootsfrau suchte erst einmal Kobad, den Steuermann auf. Dann ging sie zu Linne, und dann unter Deck.<br />

Vermutlich würde sie dort mit Torben und Dusan reden. Gut, Alrik hetzte die Piraten sehr gezielt gegen den<br />

Kapitän auf, und war dabei auch noch sehr geschickt vorgegangen. Aber ob das nicht letztlich nach hinten losging?<br />

Einige Zeit später kehrte Alrik zurück zu Odilon. Odilon sah, wie Hesindian mit Sigismund unter Deck ging.<br />

"Was hast Du unternommen, Alrik?" wollte der Waldläufer wissen.<br />

Der Baron lächelte. "Es ist immer gut, den Bordmagier auf seiner Seite zu haben. Und es ist gut, dass Sigismund<br />

nicht nur in etwa die Statur Kobads hat, sondern dass er als auch dessen Stimme gut nachmachen kann. Ich möchte<br />

meinen, dass wir bald alle unsere Waffen zurückbekommen." Alrik grinste. "Außerdem haben wir ja noch etwas<br />

gut. Bei Tika." Alrik genoß es, den verblüfften Gesichtsausdruck des alten Gallysers zu sehen.<br />

"Was willst Du <strong>von</strong> Tika? Die ist eine Verräterin, der niemand trauen kann."<br />

"Eben. Genau deswegen wird Kobad sie mit ins Vertrauen ziehen und zur Meuterei anstiften. Schließlich muss<br />

doch jemand dem Kapitän sagen, was die bösen Jungs planen. Hast Du eigentlich bemerkt, dass Mercurio immer<br />

noch an seiner Boronweinsucht leidet?"<br />

94


„Naja, manchmal hat er klare Momente und manchmal ist er nicht in der Lage einen klaren Kopf zu behalten. So<br />

ein Umgang mit Rauschmitteln ist schon bedenklich."<br />

"Richtig, und vor allem lassen derlei Rauschmittel einen sehr leicht glauben, was einem erzählt wird. Man tut sich<br />

schwerer, zwischen Wahrheit und Täuschung zu unterscheiden. Ich denke, was man dem Kapitän halbwegs<br />

plausibel erklärt wird er ungefragt glauben."<br />

"Worauf willst Du hinaus, Alrik?"<br />

"Naja, warte es ab. Ich wette fünf Dukaten, dass Mercurio Dir in einer Stunde Dein Schwert zurückgibt."<br />

"Na denn, den Einsatz zahle ich gerne, wenn ich dafür Wandelur erhalte. Die Wette gilt."<br />

Tika war unter Deck damit beschäftigt, die durch den Sturm durcheinandergeratene Ladung aufzuräumen. Hier lag<br />

alles wild durcheinander, es sah aus als hätte hier ein Maru gewütet. Kobad war leise hinter sie getreten.<br />

"Tikaschätzchen!"<br />

Tika drehte sich um. Der Pirat musterte sie und gab sich keine Mühe, seine lüsternen Augen zu verbergen.<br />

Ungeniert starrte er auf die prallen Rundungen, die sich unter dem verschwitzen Leiberl der Piratin abzeichneten.<br />

Kobad lächelte. Tika wirkte sichtlich eingeschüchtert. Sie erinnerte sich an die Tage als sie neu zu den Piraten<br />

gekommen war. Sie hatte ähnliches durchlebt wie neulich die Halbelfe.<br />

"Was ist nun, meine süße Tika? Wem gilt jetzt nach allem deine Loyalität?"<br />

"Was meinst du damit?"<br />

"Naja, Tika, du hast doch Augen im Kopf. Dieses spitzohrige Halbblut verdreht unserem Käpt´n die Ohren. Siehst<br />

du nicht, dass er das Verderben an Bord geholt hat?"<br />

"Naja, der Schwarzbart hat ziemlich gewütet unter den unseren."<br />

"Red nicht so geschwollen wie ein Akademiker. Der Kerl ist ein Mörder. Und er wird weiter töten, Dich vermutlich<br />

zu allererst. Und der schwachsinnige Mercurio vertraut ihm auch noch. <strong>Das</strong>s er seinen Zwölfgötzen abgeschworen<br />

hat, das brauchst Du nicht glauben. Nein, der Kerl wird uns alle töten oder dem Inquisitor vorwerfen. Wir müssen<br />

den Schwarzbart und seine Schergen beseitigen. Aber zuerst müssen wir den Beseitigen, der sie schützt."<br />

"Kobad, das ist..."<br />

"Unsere Rettung. Wir oder die, und nachdem Mercurio mit denen unter einer Decke steckt müssen wir handeln.<br />

Was ist, machst du mit. Xenia wird unser neuer Kapitän, und dieses Lumpenpack geht samt Mercurio über Bord.<br />

Entscheide dich. Xenia die Treue, oder du wirst auch Haifischfutter. Wir sind alle dabei. Linne, Dusan, Sauerbrot<br />

und Torben. Nachdem Mercurio mit dem Lumpenpack unter einer Decke steckt müssen wir ihn beseitigen."<br />

"Hm, ja, ich denke du hast Recht."<br />

"Gut. Wir schlagen heute Nacht los. Besorg dir einen Säbel und sei zur achten Stunde in Emporios früherer Kajüte.<br />

Ich zähl auf deine Hilfe." Kobad umarmte die Piratin kurz und drückte ihr einen schlabberig feuchten Kuss auf den<br />

Mund. "Und nun an die Arbeit, der Käpt´n darf nichts merken. Verhalte Dich unauffällig." Kobad drehte sich um<br />

und hastete die Leiter hinauf an Deck. Keinen Augenblick zu spät, denn der Zauber Hesindians hielt nicht lange<br />

vor. Bald würde Sigismund auch wieder wie Sigismund aussehen und nicht wie der unsympathische Steuermann.<br />

Tika verhielt sich, wie Alrik es vorausgesehen hatte. Einmal Verräter, immer Verräter. Vor allem deswegen, weil<br />

der Plan, den Sigismund als Kobad ihr mitgeteilt hatte, wirklich in dieser Form kaum Aussichten auf Erfolg hatte.<br />

Würde sie mitmachen, dann hätte sie wohl endgültig ihr Leben verwirkt, denn sie konnte nicht recht daran glauben<br />

dass Kobad und Xenia eine ausreichend starke Truppe für eine Meuterei zusammenstellen konnten. Würde sie ein<br />

solches Unterfangen mitmachen hätte sie ihr Leben verwirkt. Also blieb ihr, da sie die List Alriks und Sigismunds<br />

nicht durchschaute, nur noch die Möglichkeit, die ganze Aktion beim Kapitän zu verpfeifen und sich damit auf die<br />

Seite des Kapitäns zu schlagen. Denn der hatte, so kalkulierte Tika, ja auch noch den wütenden Schwarzbart und<br />

die neuen Matrosen auf seiner Seite. Außerdem ekelte sie sich vor dem widerlichen Steuermann. Ihn als zweiten<br />

Mann an Bord zu haben, eine schreckliche Vorstellung. Sie erinnerte sich an die Tage, als es ihr ähnlich ergangen<br />

war wie Alvan vor ein paar Tagen. Auch hier hatte also der bewusst unangenehm ausgeführte Kuss des Streuners<br />

seine Wirkung getan.<br />

Keine zehn Minuten ging sie ihrer Arbeit nach, dann ging sie unter Deck zu der Luke, durch die ein paar Tage<br />

zuvor Odilon in die Kapitänskajüte eingedrungen war. Tika wollte nicht, dass jemand an Deck sie sah.<br />

Odilon blickte auf die niedergehende Sonne. "Die Stunde ist bald um, Alrik. Noch hab ich mein Schwert nicht<br />

wieder. Ich fürchte Dein Plan ist nicht so gut wie Du denkst."<br />

"Mag sein. Aber noch ist die Zeit nicht vorbei. Warte es ab und freue Dich nicht zu früh auf die fünf Duckern.<br />

Wenn der Käpt´n der Ansicht ist, dass die Piraten gegen ihn meutern wird er uns als Verbündete suchen. Wie ich<br />

meine kommen jetzt schon wichtige Neuigkeiten."<br />

Sarben, einer der übergelaufenen Matrosen, war aus der Kapitänskajüte gekommen und zu Odilon und Alrik<br />

getreten. "He, ihr zwei. Ihr sollt mal zum Käpt´n kommen!" Alrik nickte. "Danke, Kumpel. Auf, Alterchen. Den<br />

Kapitän läßt man nicht warten." Baron Alrik und Odilon betraten kurz darauf die Kapitänskajüte.<br />

95


"Gut dass ihr da seid." Begrüßte Mercurio die beiden. "Ich sag´ Euch, manchmal ist es wirklich gut, eine Verräterin<br />

am Leben zu lassen. Sie wird fortan alles daran setzen, Dein Vertrauen zurückzuerobern. Tika hat mir berichtet,<br />

dass die anderen eine Meuterei planen. Sie wollen heute Abend losschlagen, bevor die neue Mannschaft so richtig<br />

auf mich eingeschworen ist. Nun, ich weiß nicht wirklich, ob ich Tikas Erzählung glauben schenken soll, vielleicht<br />

will sie sich auch nur einschmeicheln. Ich frage mich, wem ich auf diesem Schiff noch vertrauen kann."<br />

Alrik riß den Mund auf in gut gespieltem Entsetzen. Odilon staunte nur ob dieser neuen Wendung.<br />

"Wie steht es mit Euch? Kann ich mich auf Euch verlassen?" fragte Mercurio<br />

"Was für eine seltsame Frage. Verräter wie Loyale Matrosen würden gleichermaßen mit Ja antworten." gab Alrik<br />

zurück.<br />

"Gute Antwort, die gefällt mir. Du bist sehr direkt in Deiner Aussage. Naja, nun will auch ich offen mit Euch sein.<br />

Ich weiß genau, dass Euer Überlaufen auf meine Seite nur der Not entsprungen ist. Wenn sich Euch die<br />

Gelegenheit bietet werdet ihr wieder die Seiten wechseln. Nein, sagt nichts dazu. Ich werde vielleicht alt, aber ich<br />

bin weder blind noch dumm.“<br />

„Wie könnte ich es wagen, dem Kapitän zu widersprechen.“ gab Alrik ausweichend zurück.<br />

„Wie auch immer. Ich habe mir mein Los nicht ausgesucht. Dieses Schiff habe ich seinerzeit gekapert, als ich noch<br />

unter der Al´Anfaner Flagge gefahren bin. Seitdem fuhr ich mit einem Kaperbrief der Perle des Südens auf der<br />

Asmodena-Horas. Ich war der Schrecken aller Kauffahrer am Kap <strong>von</strong> Brabak. Aber das ist lange her. Irgendwann<br />

haben wir unser Glück dann in maraskanischen Gewässern versucht. Dann ist der Krieg hier ausgebrochen, und<br />

schließlich sind wir in Xeraanien gelandet. Was blieb uns anderes übrig als unseren Kaperbrief gegen einen aus<br />

Xeraans Feder einzutauschen. So gesehen bin ich auch aus Zwang übergelaufen. Wer läßt sich schon gerne<br />

versklaven, wenn er auch eine andere Möglichkeit hat.“<br />

Odilon und Alrik hörten gespannt zu. Wie es schien hatte Alrik über Sigismund und Tika genau das erfahren<br />

lassen, was er wollte. Und Mercurio schien sich genau so zu verhalten wie Alrik das erwartet hatte. Potzblitz,<br />

Odilon staunte nicht schlecht ob der guten Menschenkenntnis und der Listigkeit seines Kameraden.<br />

„Von meiner alten Mannschaft ist keiner mehr am Leben. Sie sind nach und nach zu Thargunitoth gefahren. Oder<br />

zu Boron, wie auch immer. Die letzten beiden meiner alten Besatzung sind auf der Greif geblieben... Meine<br />

jetzigen Piraten sind allesamt hier aufgewachsen, Al´Anfaner habe ich keine mehr unter meinem Kommando.<br />

Schade eigentlich... Aber ich verrate Euch wohl nichts Neues damit, dass ich meinen Jungs und Mädels nicht so<br />

ganz trauen kann. Wenn ich Zeit hätte, die neuen, die <strong>von</strong> der Greif, auf mich einzuschwören könnte ich noch lange<br />

hier zur See fahren. Aber die Zeit habe ich wohl nicht. Wie mir scheint wollen Xenia und Kobad schon vorher<br />

losschlagen. Tika hat mir erzählt, dass Xenia eine Meuterei anführen will, noch heute Nacht. Und die neuen werden<br />

sich wohl heraushalten, wenn es hier zum Kampf kommt. Schließlich kennen sie weder mich noch meine<br />

Besatzung, daher wird es ihnen herzlich egal sein wer als Sieger hervorgeht, Hauptsache sie riskieren selbst nichts<br />

dabei. Eigentlich kann ich es ihnen nicht verübeln, ich würde wohl selbst genauso handeln.“<br />

„Niemand kann Deine Leute besser einschätzen als Du, Kapitän.“ stimmte Alrik dem zu.<br />

„Jaja, schon recht. Natürlich fragst Du Dich jetzt, warum ich das erzähle. Ich will, dass ihr mir vertrauen könnt.<br />

Letztlich müsst ihr mir das auch. Denn meine Piraten werden Euch töten, wenn sie die Gelegenheit dazu haben.<br />

Und die Matrosen der Greif, na, auf die hofft ihr mal besser nicht, die halten Euch ja auch für Verräter. Und vor<br />

allem wird Euch der Inquisitor keinen Glauben mehr schenken. Schließlich seid ihr nicht nur schon wieder<br />

übergelaufen, sondern habt auch nicht verhindert, dass ich ihm hier mal gründlich den Kopf wasche.“ Mercurio<br />

grinste. „Aber wenn ich noch meinen Verstand beisammen habe kann ich Euch vertrauen, wenn ihr mir Euer Wort<br />

gebt. Ich schlage Euch einen guten Handel vor. Ich kann die Befehlsgewalt über das Schiff wohl nicht mehr lange<br />

halten, aber ich kann immer noch bestimmen wer mein Nachfolger hier an Bord wird. Ihr oder das lumpige<br />

verräterische Gesocks, was sich zholvhargefällige Piraten schimpft. Ich werde die Matrosen der Greif, die auf mein<br />

Kommando hören, aus all dem heraushalten und verhindern, dass sie Euch in die Quere kommen. Ihr werdet dieses<br />

Gesindel auf meinem Boot erschlagen, oder auch nur gefangen nehmen, ganz wie es euch beliebt. Wer es <strong>von</strong><br />

ihnen überlebt soll <strong>von</strong> Eurem Praiosfuzzi gerichtet werden, damit der auch seinen Blutdurst löschen kann. Dafür<br />

versprecht ihr mir, dass ihr mich in irgendeiner Stadt, egal wo, <strong>von</strong> Bord lasst, in Freiheit und mit der kleinen<br />

schwarzen Truhe in meiner Kajüte samt Inhalt. Wo ist eigentlich egal, es kann meinethalb auch auf <strong>Maraskan</strong> sein,<br />

dahin wolltet ihr ja sowieso. Danach kann mir diese zwölfmalverfluchte Nussschale gleichgültig sein. Und ihr<br />

werdet dafür sorgen, dass der vermaledeite Inquisitor mich – und Tika – in Ruhe läßt. Wir können den Knilch ja<br />

auch samt dem Piratenpack den Haien zum fressen geben. Ist das ein Angebot?“<br />

Alrik nickte bedächtig. Odilon sagte nichts. Alles hörte sich gut an. Zu gut. Aber irgendwie meinte er, dass der<br />

Kapitän nicht alles gesagt hatte. Andererseits, so hätten sie auf alle Fälle eine bessere Ausgangslage. Nur eines<br />

konnte er nicht versprechen. <strong>Das</strong>s der Inquisitor Mercurio in Ruhe lassen würde. Der würde nach dem langen Bad<br />

erst Recht Mercurios Kopf fordern. Und das mit Mercurio den Haien vorwerfen würde er auch noch zu verhindern<br />

wissen. Odilon stimmte dem Vorschlag zu. Mercurio öffnete die Truhe in seiner Kajüte und überreichte Odilon<br />

Schwert und Bogen. Auch die Waffen seiner Gefährten befanden sich in der Truhe.<br />

96


"Also, nehmt Eure Waffen, und dann macht Euch bereit, die Verräter zu den Fischen zu schicken" Mercurio sah<br />

hinter der Truhe aus wie ein tulamidischer Kaufmann, der seine Waren anpreist. "Erst ihr beide. Die anderen sollen<br />

dann nach und nach hierher kommen, damit es nicht so auffällt."<br />

"Geht in Ordnung!" Odilon schob sein Schwert in die Scheide, griff nach dem Köcher und den Bogen. Auch Alrik<br />

nahm seine Klinge wieder an sich. "Ich kriege fünf Dukaten <strong>von</strong> dir" sagte der Friedwanger, triumphierend<br />

grinsend, als beide vor der Tür standen. "Erinnere mich daran, wenn wir den Schatz gehoben haben."<br />

In der abgelegenen Segellast, wo sich die Gefährten versammelt hatten, schüttelte Alvan den Kopf: "Ich weiß nicht.<br />

Ich traue dem Käpt´n nicht. Er redet mit gespaltener Zunge." Ein entschuldigender Blick zu Hesindian, der bei<br />

diesen Worten doch recht verdrießlich drein sah. "Der lügt doch wie auf maraskanisches Reispapier gedruckt. Erst<br />

Mal war sein erstes Schiff überhaupt nicht die Asmodena-Horas, wie er Euch gegenüber gesagt hat, sondern die<br />

Siebengehörnt. Schon der Name hört sich nicht gerade nach einem Pott an, dessen Kapitän nur widerwillig mit<br />

Xeraan paktiert. Dann wundert mich, dass er ausgerechnet die Ratte Tika am Leben lassen will. Ich sag´s Euch, der<br />

ist doch auf den Schatz im Urwald scharf. Und das einer wie der allein auf unser Ehrenwort vertraut, nehme ich<br />

ihm auch nicht ab."<br />

Alrik zuckte mit den Schultern: "Was soll´s? Ich hab´ jetzt jedenfalls wieder meine Klinge an der Seite, und Odilon<br />

auch. Holt ihr beide" Er blickte zu Sigismund und Alvan "euren Stahl ab, dann erledigen wir die werten Herren und<br />

Damen heute Nacht ein für alle mal."<br />

"Nun, die werten Herren und Damen halten da oben gerade Wache" sagte Sigismund, der gerade eingetreten war.<br />

"Xenia hat Linne, Dusan, Torben und Kobad zur ersten Nachtwache eingeteilt. Was für ein Zufall. . ."<br />

"<strong>Das</strong> heißt, sie hocken da oben, bereit zuzuschlagen." Die Elfe seufzte. "Na wunderbar, wenn wir unsere Waffen in<br />

der Kajüte holen wollen, müssen wir an denen vorbei. Keine schöne Aussicht."<br />

"Ich konnte in der Luke für einen Moment lauschen" fügte der Streuner hinzu. "Alles habe ich nicht verstanden,<br />

weil sie sehr leise gesprochen haben, aber ich glaube, sie wollen eher ein Beiboot klar machen."<br />

"Hmm ja. Also wollen sie sich lieber aus dem Staub machen statt zu meutern. Warum auch nicht. <strong>Das</strong> Meer ist<br />

heute nacht ruhig, die oronische Küste nicht allzu fern und hat durchaus ihre Reize" Odilon grinste sarkastisch.<br />

"Die wissen halt, dass sie hier an Bord keiner mehr mag."<br />

"Die Schnapphähne werden doch nicht <strong>von</strong> dieser Pestpotte abhauen, ohne zuvor ihre Reisekasse etwas<br />

aufzubessern" warf Alrik ein. "Bei Phex, wenn ich die wäre, würde ich vorher noch in die Kapitänskajüte<br />

einbrechen, Mercurio umlegen und mir eine gewisse kleine schwarze Truhe unter den Nagel reißen."<br />

"Durch die Tür kommen sie ohne weiteres nicht rein" meinte Alvan. "Die ist verschlossen und ziemlich robust.<br />

Beste Andergaster Steineiche, würde ich sagen. Die hält sogar Hylailer Feuer aus. "<br />

"Aber eines der großen Heckfenster wird bei dieser Schwüle doch offen stehen" warf Odilon ein. "Vom Achterdeck<br />

aus da reinzuklettern ist für einen Piraten doch ein Kinderspiel."<br />

Sigismund nickte eifrig: "Ja, ich glaube, das Wort `Fenster´ ist auch einmal kurz gefallen."<br />

"Überleg mal, über was haben sie noch gesprochen? Denk nach, es ist wichtig" drängte die Halbelfe.<br />

"Ich konnte wirklich kaum was verstehen. <strong>Das</strong> Meeresrauschen und der Wind...Über den Inquisitor haben sie sich<br />

glaube ich auch noch unterhalten."<br />

"Du liebe Güte, der wird ja immer noch Gassi geführt." Alrik sah mitleidig drein. "Wenn er nicht <strong>von</strong> unseren<br />

beißwütigen Freunden im Perlenmeer zum Abendessen verspeist worden ist."<br />

"<strong>Das</strong> glaube ich nicht" meinte Alvan. "Haie fressen normalerweise keine Menschen, wenn sie nicht im Blutrausch<br />

sind oder sie mit ihrer Beute verwechseln, etwa mit einer Robbe."<br />

"Ach ja, und was machen die possierlichen Tierchen da draußen? Einen Abendspaziergang im Schein der<br />

Hecklaterne?"<br />

"So ähnlich. Haie sind nicht so dumm, wie sie hingestellt werden. Nein, sie gehören auf ihre Weise auch zur<br />

Schönheit der Welt. Die wissen halt, dass zu bestimmten Zeiten ein Happen für sie über Bord fällt."<br />

"Zum Beispiel ein Inquisitor?"<br />

"Unsinn. Sauerbrot, der Smutje, hat vorhin die Abfälle vom Abendessen über Bord gekippt."<br />

"Ach. Ich dachte eigentlich, die hätten wir zu essen bekommen." witzelte Alrik.<br />

"Genug jetzt“ unterbrach Odilon. "Wir haben andere Sorgen. Bis jetzt sind nur zwei <strong>von</strong> uns bewaffnet. Sigismund,<br />

hatten die da oben schon Waffen?"<br />

"Ja, die waren gerade beschäftigt, eine Kiste mit Entermessern, Beilen und dergleichen leer zu räumen. Die<br />

einbeinige Linne hat eine Armbrust gespannt."<br />

"Also kommt da oben keiner <strong>von</strong> uns mehr vorbei, ohne angegriffen zu werden. Nun gut, sie wollen offenbar in die<br />

Kapitänskajüte. Dort wird es einen Kampf mit Mercurio geben, denn der Käpt´n ist auf jeden Fall noch wach."<br />

Odilon strich sich über den Bart. "Eigentlich würde ich das Pack gerne laufen lassen. Einem fliehenden Feind soll<br />

man goldene Brücken bauen." Alrik sah erstaunt drein. Offenbar hatte der Gallyser schon wieder vergessen, was er<br />

über seine übertriebene Nachsicht mit den Piraten gesagt hatte. Dann schüttelte der schwarzbärtige Hüne den Kopf:<br />

"Nein, wir können nicht zulassen, dass sie Selbfried mitnehmen und in die oronische Sklaverei verkaufen."<br />

97


"Sonst zieht er für den Rest seines Lebens Prunkkutschen durch Elburum" grinste der Friedwanger. "Mit einer<br />

Straußenfeder im Arsch." Ein leises Rumpeln, Scharren und Platschen war vom Schiffsrumpf her zu hören. "Sie<br />

lassen jetzt das Beiboot zu Wasser" meinte Alvan. "Aber ziemlich laut..." Tatsächlich nahmen die Geräusche eher<br />

zu, statt dass sie leiser wurden. Schließlich brachen sie abrupt ab. „Wo ist eigentlich Fisch?“<br />

"Der ist vorhin unter Deck gegangen. Spürt wohl was hier heraufzieht und bringt sich in Sicherheit. Wir sollten uns<br />

beeilen" drängte Odilon. "Erst Mal brauchen wir alle Waffen" Alvan sah sich in der Segellast um, wo große Ballen<br />

mit Segeltuch, Rahen, Tauwerk, Blöcke und andere Ersatzteile aufgestapelt waren. "Hier, Sigismund, diese<br />

Spillspake wäre doch was für dich" meinte sie nach einigem Suchen und zog eine große Holzstange hervor, wie sie<br />

als Hebel in die Ankerwinde gesteckt wurde. Der Streuner wog die improvisierte Waffe in der Hand. "Mit dieser<br />

Dachlatte möchte ich eigentlich nicht gegen einen Säbel kämpfen müssen." meinte er dann und deute auf eine<br />

große Eisenstange, deren Ende in einem merkwürdig geformten Ende auslief. "Was ist das?"<br />

"Ein Schlüssel zum Spannen <strong>von</strong> Rotzenterdrillungen. Braucht man, um Geschütze zusammen zu bauen."<br />

"Wunderbar, wie geschaffen für einen Piratenschädel."<br />

Alvan schob sich selbst einen Belegnagel in den Gürtel und fragte Alrik nach dem Messer in dessen Stiefel, der es<br />

ihr gab. "Vier halbwegs Bewaffnete und ein Magier gegen fünf Piraten, das sollte hinhauen." Alvan zuckte<br />

zusammen, als sie <strong>von</strong> Deck her ein Poltern hörte. "Nun denn, gehen wir rauf." Die sechs schlichen nach oben. Die<br />

Hecklaterne tauchte die Kuhl in ein fahles, kaltes Zweilicht und hüllte alles außerhalb ihres Scheins in ein<br />

undurchdringliches Schwarz. Alvan schauderte, was nicht nur an der schwülwarmen Seeluft lag, die vom leise<br />

murmelnden, silbrig glitzernden Meer her heranwehte. In diesem Moment glaubte sie die alten<br />

Seefahrergeschichten, wonach in der Hecklaterne die Seelen ertrunkener Seeleute leuchteten. Odilon, der neben<br />

seiner Tochter auf der obersten Treppenstufe stand, hob Bavhano Bvaith, um den erstbesten Piraten mit einem Pfeil<br />

in die Kehle auszuschalten. Zu seinem Erstaunen war <strong>von</strong> diesen auf den ersten Blick keiner zu sehen. Auch das<br />

Steuerrad war leer, mit einem Strick an der Halterung festgebunden. Waren ihre fünf Gegner bereits ins Beiboot<br />

gestiegen? Der Waldläufer huschte zum Schanzkleid. Erst jetzt sah er, dass davor ein Körper lag, regungslos und<br />

klatschnass in einer großen Pfütze aus Salzwasser. Odilon zog ihn einen halben Schritt näher in den Schein der<br />

großen Laterne. Angstgeweitete Augen starrten ihn inmitten eines schneeweißen Gesichts an, bläuliche Lippen<br />

hatten sich zu einem stummen Ausdruck der Qual geöffnet. Odilon wich zurück. Er hatte schon genug Tote in<br />

seinem Leben gesehen, aber ihr Anblick erschütterte ihn jedes Mal. Es war Dusan, der Feigling, der da als nasses<br />

Bündel vor ihm lag und entsetzt in Richtung Ewigkeit blickte.<br />

Niemand an Bord bemerkte, wie Fisch unten im Laderaum eine lange und sehr langsam brennende Lunte mit den<br />

Fässern Hylailer Feuer verband, die in überreichlicher Zahl den Piraten bei der Erbeutung der Greif <strong>von</strong> Beilunk in<br />

die Hände gefallen war, und anzündete.<br />

Alles in Odilon schrie und warnte vor einer nahen Gefahr. Auch seiner Tochter, die kaltblütig genug war, Dusans<br />

Entermesser aus dem Gürtel zu ziehen und an sich zu nehmen, stand die Unruhe ins Gesicht geschrieben. Was<br />

immer den Piraten getötet hatte, es hatte dazu weniger Zeit gebraucht, als er, um nach seiner Waffe zu greifen. Die<br />

übrigen Gefährten waren heran, hielten erschrocken in ihrer Bewegung inne, als sie die Leiche sahen. Odilon<br />

blickte über die Reling. Vom Boot war an dieser Bordwand nichts zu sehen. Kein Wunder bei der selemischen<br />

Finsternis hier. Dann wandte er sich wieder Dusan zu, den Alvan gerade zur Seite drehte, um ihn eingehender zu<br />

untersuchen. Verwirrt sah die Elfe auf die rötlichen Male an dessen Hals.<br />

"Wurde er erwürgt?" fragte Sigismund.<br />

"Nein." Alvan wies auf die kleine, rötlich-graubraune Mischung aus Blut und Wasser, die aus dem Mund des Toten<br />

floß. "Er ist ertrunken."<br />

"Ertrunken? Wie kann ein Mensch an Bord eines Schiffes ertrinken?" Sigismund war völlig verwirrt.<br />

Eine kalte, herrische und nur zu bekannte Stimme antwortete, bevor Alvan es vermochte: "Aber natürlich ist er<br />

ertrunken. Mit Salzwasser in den Lungen ertrinkt man doch, nicht wahr?"<br />

Sechs Augenpaare starrten zur Kajütentür, <strong>von</strong> wo aus diese Worte gesprochen worden waren. Mercurio, der<br />

Schwarze Mendener, stand im Türrahmen, den Inquisitor im Griff, der, völlig durchnässt, schlaff und leichenblass,<br />

Dusan ziemlich ähnlich sah. Lediglich die halb ängstlichen, halb zu Tode erschöpften Augen, die auf den<br />

stählernen Handhaken deuteten, und die leicht angehobenen, gefesselten Hände verrieten, dass er sich gerade noch<br />

auf der derischen Seite des Nirgendmeers befand, auch wenn es vor allem die Faust des Piratenkapitäns und<br />

weniger seine immer wieder einknickenden Beine waren, die ihn in einer einigermaßen aufrechten Position hielten.<br />

"Ertrrrinken! Ertrrrinken!" krächzte der hässliche Papagei auf Mercurios Schulter.<br />

"Halt die Klappe, Shruufschnabel!"<br />

"Mercurio? Was hat das zu bedeuten?" Odilon überlegte bei diesen Worten, ob er einen Schuß mit seinem Bogen<br />

wagen könnte, ohne das Leben des Inquisitors als das lebende Schutzschild des Käpt´n nicht zu gefährden. Unter<br />

anderen Umständen hätte er diese Frage mit Ja beantwortet - die Entfernung zum Piraten und seiner Geisel<br />

98


etrugen nur wenige Schritt - aber seine noch immer schmerzende Schulterverletzung machte es riskant, die Waffe<br />

schnell hochzureißen. Einen Fehlschuss konnte er sich nicht leisten.<br />

"Was das zu bedeuten hat? Ganz einfach. Ihr habt mir nicht den Gefallen getan, euch gegenseitig zu erschlagen.<br />

Diese Bilgenratten wollten türmen, das konnte ich nicht zulassen."<br />

"Errrschlagen! Errschlagen!" echote Shruufschnabel.<br />

"Halt die Klappe!" Mercurio grinste. "Meine Mannschaft hat mich wirklich enttäuscht. Ich dachte wirklich, dass sie<br />

zumindest eine Meuterei versuchen würden. Aber ihre Furcht vor dem Schwarzen Mendener war größer. Tausend<br />

gurgelnde Mahlströme, ich nehme das jetzt einfach mal als Kompliment. Aber jetzt muss ich euch auch noch<br />

irgendwie loswerden."<br />

"Und unsere Abmachung?"<br />

Mercurio verdrehte theatralisch die Augen: "Liebe Güte, das hier ist die Fran-Horas, ein xeraanischer Kaperfahrer,<br />

nicht irgendein Spielzeugschiff in eurem Badezuber. Was habt ihr denn für merkwürdige Vorstellungen <strong>von</strong> der<br />

Welt? "<br />

"Fu´mini´tus Donne´keil - tri´ un´tö´e wie ein Pfei´!" lallte Hesindian und reckte die rechte Faust vor. Ein sanftes<br />

rötliches Glühen hüllte Mercurio - und teilweise auch den Inquisitor - kugelförmig ein, dann war der Zauber auch<br />

schon verpufft.<br />

"Lerne erst einmal richtig sprechen, bevor du dich mit Mercurio Mirhamdez anlegst. Ignifaxius Flammenstrahl!"<br />

dröhnte es zur Antwort. Eine Flammenlanze schoß auf den Magier zu, der schreiend und mit brennender Robe über<br />

Bord sprang. Einen Augenblicklang waren die verbliebenen Gefährten völlig verstört.<br />

"Ach ja, Elfchen, das habe ich dir ganz vergessen mitzuteilen. Ich war der Bordmagier auf dem Sklavenjäger, der<br />

damals euer Schiff aufgebracht hat." Mercurio grinste hämisch. "Magister Mercurio Mirhamdez <strong>von</strong> der Akademie<br />

der Vier Türme zu Mirham, zu Euren Diensten. Deswegen auch der Künstlername. Der Dämonenkaiser ist mein<br />

persönliches Vorbild, noch vor Arachnor <strong>von</strong> Shoy´Rina- der Name sagt euch etwas? - ich hielt es deshalb passend,<br />

mein Schiff nach ihm zu benennen, nach Fran-Horas meine ich. Dämonologie ist ja auch mein großes<br />

Steckenpferd. Schon lange ist mir aufgefallen, wie ähnlich die Namen Charypso und Charyptik doch dem einer<br />

gewissen Entität sind, der ich nun die Ehre habe zu dienen. Die Verwundung hier" er hob seinen angewinkelten<br />

Armstumpf etwas "hat mir dann endgültig die Augen geöffnet, dass ich nicht mein ganzes Leben als kleiner Wind-<br />

und Flottenzauberer herumkrebsen wollte. Als Magier der Linken Hand - auch wenn sie mittlerweile aus Stahl ist,<br />

haha ! - hat man die besten Voraussetzungen, um als Piratenkapitän in der Blutigen See zu bestehen. Die Angst vor<br />

der Kraft hält die verruchteste und undankbarste Mannschaft im Zaum. Zumindest müssen sich die Stinktiere schon<br />

etwas einfallen lassen, wenn sie einen loswerden wollen, wie diese Ratte Emporio. Aber mittlerweile bin ich es,<br />

dem seine Mannschaft auf die Nerven geht. Also habe ich Tika ein wenig auf den Zahn gefühlt - magisch versteht<br />

sich. Diesen Schatz in <strong>Maraskan</strong> gibt es offenbar wirklich, und er gehört mir, mir allein. Den Zaster werde ich mir<br />

jetzt holen, wenn ihr gestattet. Gehabt euch wohl. Vor allem du, meine kleine süße Alvan." Der Schwarzmagier<br />

warf der Elfe einen imaginären Kuss zu. "Ich hätte an dir gerne einmal der Herrin Belkelels gehuldigt. Wirklich<br />

schade! Nun denn, mit dieser illustren Opfergabe hier kann ich mich in Zhinbabil schadlos halten. Vielleicht sieht<br />

man sich ja einmal in den Niederhöllen wieder. Schnapp sie dir, mein vielarmiger Freund! Und ihr, meine<br />

verräterischen Gefährten, seid mir wenigstens im Tode treu!" Mit diesen Worten machte Mercurio einen Schritt<br />

nach hinten, in den Gang hinein, wobei er den halbohnmächtigen Praioten hinter sich her zerrte. Odilon wollte<br />

hinterher setzen, da schlug die Kajütentür auch schon wie <strong>von</strong> Geisterhand bewegt zu. Dann merkte er, was der<br />

Magier-Kapitän mit seinen letzten Worten gemeint hatte. Pflatschend ringelten sich mehrere gewaltige Tentakel<br />

über die Bordwand, eine da<strong>von</strong> hielt den zappelnden und schreienden Magier umschlungen. Zwei blutunterlaufene,<br />

kleine Äuglein starrten die Gefährten böse an, ein furchterregender Vogelschnabel fauchte. Kein Zweifel, es war<br />

ein ausgewachsener Riesenkrake, der sich gerade über die Reling zu hangeln versuchte. Beinahe gleichzeitig ging<br />

ein unnatürliches Zucken durch den nassen Leib des toten Dusan, der sich zu winden begann und umständlich<br />

aufstand. Von der Back her war weitere Bewegung her auszumachen.<br />

"Sie kommen zurück!" schrie Gunelde und wurde mit einem Stöhnen ohnmächtig. Alvan wich dem wütenden<br />

Peitschenhieb eines der Tentakel aus und sah sich zum Vorderschiff um. Jetzt verstand sie, was die Perainedienerin<br />

meinte. Stöhnend, knurrend krochen und taumelten vier schneeweiße Gestalten auf die Treppe zu. Kobad, der<br />

Steuermann, schritt vorneweg, die einbeinige Linne kroch hinterher, neben ihr torkelten Xenia und Torben. <strong>Das</strong><br />

Wasser, das aus ihren algenbedeckten Haaren, nassglänzenden, schwer herabhängenden Kleidern und Mündern<br />

rieselte, ließ keinen Zweifel daran, dass auch diese Kämpfer untot waren.<br />

"Zurück zum Achterdeck" kommandierte Odilon. "Sigismund, du nimmst Gunelde mit. Zurück!"<br />

"Und Hesindian?" schrie Alvan mit Blick auf den mittlerweile ebenfalls ohnmächtigen Magier, den gerade der Biss<br />

des Meeresungeheuers die Schulter zerfleischt hatte.<br />

"Um den kümmere ich mich! Zurück mit euch!"<br />

Odilon hob Bavhano Bvaith und schoss der Krake, die sich gerade wütbrüllend auf ihn stürzen wollte, einen Pfeil<br />

ins Auge. Geschickt wich er dem fleischigroten Tentakel aus, der <strong>von</strong> unten seine Beine zu umschlingen versuchte.<br />

99


Dann starrte er Dusan direkt in die glasigen Augen, der, beide bleiche Hände erhoben, als wolle er Haschen spielen,<br />

auf ihn zuwankte. Odilon versuchte ausweichen, aber sein bandagierter Knöchel gab nach, und mit einem<br />

Schmerzensruf sank er vor dem Untoten in die Knie. Eine ungestüme Handbewegung fegte ihm den Bogen aus der<br />

Hand, der klappernd gegen die gegenüberliegende Bordwand prallte. Odilon griff nach Wandelur, gerade<br />

rechtzeitig, um einen weiteren Hieb zu parieren, den die Leiche gegen ihn führte. Sauber durchtrennte er die Hand.<br />

Mit einem blutsprudelnden Stumpf wankte Dusan weiter auf Odilon zu, der zum Schanzkleid zurückwich. Im Tod<br />

war dieser verdammte Pirat mutiger, als er es im Leben jemals gewesen war. Schaudern spürte er, wie die<br />

verbliebene Rechte Dusans durch seinen Bart fuhr. Einen Moment lang berührten die nassen, kalten, toten Finger<br />

seine Wange, rissen die Fingernägel sie auf. Vor Grauen schreiend, hieb Odilon zu und trennte mit einem einzigen<br />

gewaltigen Hieb den Kopf vom Rumpf. Die Leiche sank in sich zusammen, wie eine Mirhamionette, der man die<br />

Fäden durchgeschnitten hatte. Odilon musste grimmig lächelnd. Mirhamionette, der Name passte...<br />

Gerade wollte er sich nach seinem Bogen umsehen, als sich der Riesenkrake mit einem wütenden Hieb auf seinen<br />

Kopf ins Gedächtnis zurückrief. Im letzten Augenblick tauchte er darunter weg. Der glitschige Krakenarm, mit<br />

unzähligen gelbweißlichen Saugnäpfen bedeckt, verhakte sich für einen Moment in einem Spalt in der Bordwand,<br />

die ein Rotzengeschoss dort hinterlassen hatte. Odilon nutzte seine Gelegenheit und hieb zu. Mit einem Schlag<br />

Wandelurs hatte er den gewaltigen Tentakel halb durchtrennt. Öliges Fischblut sprudelte über das Deck. Ein<br />

weiterer Hieb auf den Schlingarm, der Hesindian hielt, dann musste das Ungeheuer den regungslosen Magier fallen<br />

lassen. Mit der linken packte er ihn am Kragen, mit der Rechten und Wandelurs sichernd, zog er sich in Richtung<br />

der Treppe zum Achterdeck zurück und den Besinnungslosen hinter sich her. Dort nahm ihn Sigismund den<br />

schlaffen Körper aus der Hand. Dann war der vor Schmerzen rasende Krake auch schon heran. Ein Tentakel ruckte<br />

vor, stieß gegen Stahl, schlang sich um Odilons Stiefel. Ein beherzter Sprung zurück, die Treppe hinauf, brachte<br />

den Waldläufer erst mal in Sicherheit. Der hoch erhobene Achtertrutz trug ihren Namen nicht zu unrecht. Der<br />

gewaltige Krake, der seinen massigen Körper bereits halb in die Kuhl gezogen hatte, ließ sich wieder ins Wasser<br />

gleiten, um seinen Angriff weitern achtern zu erneuern. Von der Vordertrutz wankten und krochen die vier<br />

grauweißlichen Gestalten der übrigen Piraten heran, stöhnend, die leeren, leblosen Augen auf das fahle Licht der<br />

Hecklaterne gerichtet, dass sie anzuziehen schien wie die Motten. Odilon ging zum Heck und sah hinaus aufs<br />

nächtliche Meer. Dort erblickte er Tika und Mercurio, die sich mit dem Schinakel vom Heckspiegel entfernten, und<br />

Selbfried, der gefesselt am Bug kauerte. Höhnisch winkte der Schwarze Mendener ihnen zu, während sich Tika in<br />

die Riemen legte. Obwohl es finsterste Nacht war, konnte der Baernfarn auf diese Entfernung und im Licht der<br />

Hecklaterne das vor Anstrengung gerötete Gesicht der Verräterin sehen. "Ist das nicht ein herrliches Geschöpf der<br />

Tiefen Tochter, das ich gerufen habe, eigens zu eurer Vernichtung? Fahrt in die Niederhöllen, ihr vermaledeiten<br />

Höllenhunde!" lachte Mercurio. Hätte Odilon in diesem Augenblick seinen Bogen in der Hand gehabt, hätte er den<br />

Schwarzen Mendener für seinen Ausruf büßen lassen. So aber gewann das Schinakel rasch an Fahrt und war<br />

schließlich in der nebligen Dunkelheit verschwunden. Rötliche Fangarme schlangen sich um die Webleinen,<br />

Wanten und das andere stehende Gut des Besanmastes, krochen über die Reling der Achtertrutz und bewegten sich<br />

auf die Gefährten zu. Die Fran-Horas begann sich bedenklich nach Backbord zu neigen, <strong>von</strong> wo sich die<br />

Fleischmassen der Krake auf sie legten und sich hinaufzuziehen versuchten. Aus den Augenwinkeln sah<br />

Sigismund, wie <strong>von</strong> der Kuhl her bleiche Hände nach dem Treppengeländer griffen. Der wütende Schlag eines<br />

Tentakels, der Alvans Kopf um Haaresbreite verfehlte, zertrümmerte die Hecklaterne und löschte das Licht. Nun<br />

war es dunkel. Nun mussten sie kämpfen.<br />

Odilon stand an der Achtertrutz und stellte sich mit seinem Schwert dem Untier entgegen. "Sigismund, bring<br />

Gunelde und den Magier in Sicherheit! Und dann hol die Matrosen aus ihrem Verließ! Allein haben wir keine<br />

Chance!" rief Alvan dem Helligfarner zu. Sigismund warf sich den Bewusstlosen über die Schulter und zerrte<br />

Gunelde an der Hand hinterher. "Da rein!" rief er und deutete auf die Kajüte des Kapitäns. Er drückte der<br />

überraschten Geweihten den Magus in die Arme und verschwand unter Deck. Gunelde hätte den armen Hesindian<br />

beinahe fallen gelassen. Sigismund öffnete die Luke und sprang in die Tiefe. "Was ist los da oben" fragte Argon,<br />

ein übergelaufener Matrose der Greif.<br />

"Da fragst Du noch? Ein Riesenkrake greift das Schiff an, und der verderbte Käpt´n sie auf uns gehetzt. Hol die<br />

anderen, greif Dir ´nen Säbel und verteidige das Schiff, verdammt noch mal! ... Na wird´s bald? Wir sind alle in<br />

Lebensgefahr. Also komm auf in die Pötte!" Sigismund stieß den noch völlig verdatterten Matrosen förmlich in die<br />

Richtung des Mannschaftsquartiers. Dann hastete er die Leiter nach unten zur Bilge, wo die Gefangenen<br />

eingesperrt waren. Verdammt, auch das noch! Ein Vorhängeschloss! Hätte es ein Riegel nicht auch getan an der<br />

Falltür. Sigismund würde hier wertvolle Zeit verlieren. Hastig kramte er in einer seiner Gürteltaschen. Ebenso wie<br />

auch Alrik war er Streuner genug, um Erfahrung im Umgang mit verschlossenen Türen zu haben. Irgendwie,<br />

vielleicht aus Reflex, vielleicht aus Sentimentalität, hatte er den Nagel behalten, mit dem sie sich bereits zweimal<br />

befreit hatten. <strong>Das</strong> Schloss war einfach konstruiert, Schwierigkeiten würde er nicht haben. Aber natürlich verging<br />

wertvolle Zeit, ehe Sigismund es geknackt hatte. Endlich nahm er das Schloss ab, öffnete die Falltür, und ein wenig<br />

Licht der Laterne fiel nach unten herab. Frierende und <strong>von</strong> der Enge und Nässe der Bilge gezeichnete Gestalten<br />

waren dort zu sehen. "Raus mit Euch, Matrosen! Die Meuterei gegen die Dämonenknechte ist im Gange!"<br />

100


Sigismund wählte bewusst diese Worte. Wie sonst sollte er auf die Schnelle erklären, wieso sich eine Riesenkrake<br />

und untote Piraten an Bord befänden. "Wir haben die meisten Piraten besiegt, und der Käpt´n Mercurio ist mit dem<br />

Beiboot geflohen. Aber der Dämonenknecht hat uns eine Kreatur der Verderbten auf das Schiff gehetzt."<br />

Überraschung war auf den Gesichtern der Matrosen zu sehen, aber dennoch kletterten einer nach dem anderen die<br />

Leiter herauf. Egal, was sonst vor sich ging, erst einmal raus aus dem Verlies.<br />

"Was hat das alles zu bedeuten? Du und Deine Gefährten, ihr dient doch dem Kapitän! Selbfried hatte recht..."<br />

bohrte Kapitänin Undinai nach.<br />

"Ach Mumpitz! Ein Riesenkrak greift das Schiff an, wir haben jetzt andere Sorgen. Erklärungen folgen später. Dort<br />

drüben ist die Waffenkammer, folgt mir!"<br />

Ohne eine Antwort abzuwarten hastete Sigismund die Leiter hinauf, ein paar der Matrosen folgten ihm. Sigismund<br />

führte sie in den Laderaum zu einigen Kisten. Hier wurden, wie er wusste, die Waffen der Piraten aufbewahrt.<br />

Sigismund öffnete die Kisten, und die Matrosen bedienten sich.<br />

"Nun macht schon!" trieb Sigismund sie zur Eile an. "Sobald der Krak besiegt ist kann Undinai wieder das<br />

Kommando übernehmen!" Nach und nach folgten auch die restlichen Matrosen.<br />

Odilon und Alrik schwangen ihre Schwerter gegen die Untoten Matrosen, zugleich näherte sich das Untier in ihrem<br />

Rücken. Die Untoten waren dabei Odilons geringste Sorge. Wie er wusste waren Untote aufgrund ihrer<br />

Langsamkeit für einen geübten Kämpfer keine wirkliche Bedrohung, so lange sie nicht in deutlicher Überzahl<br />

waren. Und das waren sie nicht, denn in Kürze würden hier die Matrosen auftauchen. Allein das Untier aus der<br />

Meerestiefe war ein schier unüberwindlicher Gegner. Odilon wich mit tänzerisch anmutender Bewegung der<br />

humpelnden Linne aus und hieb mit einem mächtigen Streich das gesunde Bein der unroten Piratin auf dieselbe<br />

Länge wie das abgebrochene Holzbein. Alrik setzte Xenia mit geschickten und schnellen Hieben zu. "Zur Seite,<br />

Vater!" rief Alvan. "Gib mir freie Schussbahn!"<br />

Die Halbelfe hatte sich <strong>von</strong> dem unmittelbaren Kampfgetümmel entfernt und hatte sich der hinteren<br />

Steuerbordhornisse angenommen. <strong>Das</strong> Gerät war dasselbe, wie sie es doch <strong>von</strong> ihrer Zeit als Richtschützin zur See<br />

kannte, Rur und Gror sei es gedankt. Mit wenigen raschen Handbewegungen machte sie das Geschütz klar und hieb<br />

mit dem Entermesser mit vier wuchtigen Hieben den Sicherungsbolzen ab - wie jede gängige Hornisse war das<br />

Geschütz auf diese Weise dagegen gesichert, im Enterungsfall gegen die das Schiff verteidigende Mannschaft<br />

eingesetzt zu werden. Keine wirkungsvolle Sicherung, wenn man den Mechanismus kannte. "Aus dem Weg!" rief<br />

Alvan noch einmal. Odilon hechtete zur Seite. Alvan begann zu kurbeln. Im raschen Rhythmus schoß sie die<br />

Bolzen ab. <strong>Das</strong> große Meeresungetüm war auf diese Weise nicht zu verfehlen. Alvan zielte auf den Leib der Krake,<br />

den Tentakeln würden die Geschosse, sofern sie überhaupt treffen würden, nicht viel Schaden zufügen. Aber eine<br />

große Anzahl Bolzen im Leib des Ungetüms sollte seine Wirkung tun. Alvan kurbelte weiter. Bolzen um Bolzen<br />

stakten im Körper des Ungetüms, das da<strong>von</strong> jedoch nicht beeindruckt erschien, sondern sich weiter daran machte,<br />

seinen schweren Leib gänzlich an Deck zu ziehen. Erst nach und nach wurde die wahre Größe des Ungetüms<br />

offenbar. Allein der Leib durchmaß gut und gerne anderthalb Schritt, und die Tentakel der Riesenkrake waren wohl<br />

vier bis fünf Schritt lang!<br />

Odilon und Alrik zogen sich weiter nach Backbord zurück, wo sie sich den Piraten widmeten. Alrik war in einen<br />

waren Kampfrausch verfallen. Es schien, als sei der Friedwanger es ein für alle mal Leid, sich mit Piraten, egal ob<br />

lebend oder unrot, herumzuärgern. Mit wütenden heftigen Hieben bedrängte er Xenia, wich deren Hieb aus und<br />

schlug ihr mit einem einzigen wohlgezielten Schlag den Kopf <strong>von</strong> den Schultern.<br />

Alrik hörte das Geräusch gar nicht, mit dem der Kopf über Bord rollte und ins Wasser fiel. Ohne inne zu halten<br />

setzte er Kobad nach, der gerade Odilon angriff, und stach ihm <strong>von</strong> hinten das Schwert in den Leib. Dann stellte er<br />

sich Torben zum Kampf, während Odilon der mehr kriechenden als kämpfenden Linne den endgültigen Garaus<br />

machte, ehe er sich mit Sauerbrot befasste.<br />

Ein letztes Mal gab Alvan einen Schuß auf die Krake ab. <strong>Das</strong> Magazin war leer. Einen guten Treffer hatte Alvan<br />

gelandet, auch das zweite Auge des Ungetüms war durch ein Geschoss erblindet. Aber die verwundete Krake hatte<br />

sich an Deck gezogen und schlug wild mit allen Tentakeln um sich.<br />

Den Zwölfen dank kamen mittlerweile die ersten der <strong>von</strong> Sigismund alarmierten Matrosen an Deck, wenig später<br />

folgten auch die befreiten Matrosen. Torben und Sauerbrot waren unter den Hieben <strong>von</strong> Alrik und Odilon gefallen,<br />

jedoch wütete das Seeungeheuer weiter ungehindert an Deck. Zwar war es ein leichtes, außer Reichweite der<br />

Tentakel zu bleiben, doch mit der Zeit würde das wütende Ungeheuer die Fran-Horas zerlegen, würde man es nicht<br />

aufhalten. <strong>Das</strong> Segeltuch wies bereits einige Risse auf, die die Tentakel geschlagen hatten, und es war nur eine<br />

Frage der Zeit, bis auch der Mast und die anderen Deckaufbauten in Mitleidenschaft gezogen wurden.<br />

Alvan hastete mittschiffs. Gefährlich nahe stand sie nun an dem wütenden Ungeheuer, doch hier befand sich der<br />

Aal, jenes Torsionsschleudergerät, mit dem man schwere lanzenartige Geschosse auf feindliche Schiffe schießen<br />

konnte um deren Segel und Takelage zu beschädigen. Aber Mercurio hatte das Geschütz wohl eher zur Hai- und<br />

Waljagd eingesetzt, denn neben dem Aal befanden sich drei Harpunen mit Widerhaken und mit einer<br />

Seilsicherung.<br />

101


Der Aal war zwar relativ klein und leicht gebaut, aber dennoch darauf ausgelegt, <strong>von</strong> drei Schiffsschützen bedient<br />

zu werden. Die Untoten Matrosen waren besiegt, aber der Riesenkrake wütete nach wie vor. Zwar konnte das<br />

Untier das Geschehen an Bord nicht sehen, aber es schlug mit den Tentakeln wild um sich, und wehe dem, der dem<br />

schleimigen mit Saugnäpfen versehenen Armen nicht ausweichen konnte. Panik und Entsetzen war in den<br />

Gesichtern der Seeleute abzulesen. Zwar hatten sie alle Säbel in der Hand, jedoch wagte es kaum einer, sich in die<br />

Nähe der Tentakel zu begeben. Eine kleine Gruppe mutiger Seeleute wagte den Angriff, aber als die Tentakel mit<br />

Macht auf sie eindroschen, einen glatt über Bord warf und zwei weitere verletzte hielten sie respektvollen Abstand.<br />

Alvan legte eine Harpune in die Holzführung ein, jedoch würde sie allein den Aal kaum spannen können.<br />

"Du dort!" rief Alvan zu einem Matrosen. „Komm her und hilf mir!" Doch in dem Getöse reagierte der<br />

Angesprochene nicht.<br />

Vermochten Kraken zu hören? Die Tierkundler unter den Gelehrten würden diese Frage mit nein beantworten.<br />

Aber das Untier schien sich an diese Regel nicht zu halten. Oder war es schlicht Zufall? Ein mächtiger<br />

Tentakelhieb holte Alvan <strong>von</strong> den Beinen und ließ sie über das Deck schlittern. Hätte Alrik nicht sein Schwert dem<br />

zweiten Hieb des Tentakels entgegen gehalten wäre es vielleicht um die Halbelfe geschehen gewesen. So aber<br />

rappelte Alvan sich auf und eilte wieder zum Geschütz zurück.<br />

Odilon und Alrik teilten mit ihren Schwertern mächtige Streiche aus, allein, sie standen auf Verlorenem Posten.<br />

Wenn die Matrosen nicht in den Kampf eingreifen würden war es nur eine Frage der Zeit, wie lange die beiden das<br />

Untier in Schach zu halten vermochten. "So holt doch Armbrüste!" herrschte Sigismund die Seeleute an. Aber auch<br />

er war zu ängstlich um den Gefährten direkt beizustehen. Immerhin kam insoweit Leben in die angststarren<br />

Seeleute, als dass zwei <strong>von</strong> ihnen sich zu den Bughornissen begaben und diese, wie zuvor Alvan, entsicherten und<br />

gegen das Untier richteten. Die Bolzen rissen tiefe blutende Wunden in den Leib des Untiers, jedoch schien dieses<br />

keinen Schmerz zu spüren.<br />

"Sigismund!" rief Odilon, sich eines Tentakels erwehrend. "Hilf Alvan, allein kann sie das Geschütz nicht<br />

spannen!"<br />

Jetzt endlich erkannte Sigismund, woran es Alvan fehlte. Er hastete, ängstlich nach den Tentakeln schielend, zu<br />

Alvan. Endlich begannen Alvan und Sigismund Umdrehung für Umdrehung den Aal zu spannen. <strong>Das</strong> Spannen<br />

schien eine unendlich lange Zeitspanne zu dauern. Alvan und Sigismund mussten das Äußerste der ihnen<br />

innewohnenden Kräfte aufwenden, das Geschütz war ja auch für die Bedienung durch drei Seeleute gebaut. Alvan<br />

drehte das Geschütz in Richtung des Seeungeheuers. Um das Geschütz in dieser ungewöhnlichen Stellung<br />

abschießen zu können mußte Alvan sich halb über die Reling hängen, der Auslösehebel befand sich ja nunmehr, da<br />

das Geschütz nach innen zeigte, fast außer Reichweite der zierlichen Habelfe. Die Harpune sirrte durch die Luft.<br />

Der Schuss traf genau. Auf die kurze Entfernung war es ohnehin kaum möglich, das Biest nicht zu treffen. Ein<br />

Schwall tiefroten Blutes ergoss sich aus dem Leib des Untiers. Es sackte zusammen. Seine Bewegungen wurden<br />

langsamer. Aber noch immer wagte es keiner der Matrosen, sich der Krake zu nähern. Die Tentakel schlugen nach<br />

wie vor wahllos um sich. Jedoch verstrickten sie sich auch mit jedem Hieb mehr in dem Seil der Harpune.<br />

Erst jetzt, nachdem das Untier viel Kraft verloren hatte und durch das Seil viel in seinem Bewegungsradius<br />

eingebüßt hatte wagten es die Matrosen, sich dem Kampfgeschehen zu nähern. Dann aber fielen sie mit vereinter<br />

Schlagkraft mit dutzenden Säbeln, Entermessern und anderen Klingen über es her. Dem Ansturm der Matrosen<br />

konnte das verwundete Geschöpf Charyptoroths nichts entgegen setzen.<br />

Mittlerweile war es stockfinstere Nacht geworden. Nur ganz schwach konnte man die nahe oronische Küste<br />

erahnen. Ein übler Gestank, ausgehend vom Blut der erschlagenen Riesenkrake, erfüllte die Luft. Alvan entfernte<br />

sich auf den Vordertrutz, da sie den Geruch nicht ertragen wollte. Odilon entdeckte Undinai inmitten einer Gruppe<br />

Matrosen, die mit ihr in der Bilge gefangen gewesen waren. "Nachdem das Meeresungetüm nunmehr besiegt ist<br />

freue ich mich, dass ihr gesund und wohlbehalten seid und dass ich Euch das Kommando an Bord wieder<br />

übergeben kann." Odilon hatte bewusst sehr laut gesprochen, damit alle Matrosen seine Worte hörten. Die<br />

Kapitänin wusste zuerst nicht so recht, was sie sagen sollte. Also fuhr Odilon fort. "Ich schlage vor, dass Ihr allen,<br />

die aus Angst um ihr Leben scheinbar übergelaufen sind, Gnade gewährt und wieder in Eure Mannschaft aufnehmt,<br />

sofern sie erneut die Treue versprechen und bei der Heimkehr in einen zwölfgöttlichen Hafen die Beichteablegen."<br />

Auch das hatte Odilon bewusst laut gesprochen. Er wusste, dass sein Wort nach dem Kampf gegen das Seeungetüm<br />

Gewicht hatte, und dass die untreuen Matrosen nur zu gerne wieder das Vertrauen der Kapitänin zurückerlangen<br />

würden. Zugleich befürchtete er, dass die Matrosen zu einer Verzweiflungstat getrieben wären, wenn ihnen<br />

aufgrund ihres Fehlverhaltens der Tod, den sie nach dem Kriegsrecht wohl verdient hätten, drohte. Und noch einen<br />

Kampf konnten sie sich wahrlich nicht leisten, hier in feindlichen Gewässern so nahe vor der Oronischen Küste.<br />

Undinai verstand wohl Odilons Absicht.<br />

"Nun, ich werde Milde walten lassen für jeden, der hier und jetzt den ketzerischen Götzen abschwört und um<br />

erneute Aufnahme in meine Mannschaft bittet." Auch Undinai hatte laut gesprochen. Die Kapitänin stieg auf eine<br />

Kiste. "Hört mich an, Seeleute! Mir ist die Lage bewusst, in der manche <strong>von</strong> Euch ihr Seelenheil gefährdet haben<br />

und übergelaufen sind. Deshalb werdet ihr, wenn ihr fortan wieder loyale Mitglieder meiner Mannschaft seid, mit<br />

102


Milde beurteilt werden. Keiner <strong>von</strong> Euch soll mit dem Tod oder mit Haft bestraft werden, so wie es Euch eigentlich<br />

gebührt. Folgt ihr Euch daher wieder meinem Kommando und kehrt zurück in den Schoß der zwölfgöttlichen<br />

Ordnung?" Allgemeine Zustimmung erklang.<br />

"Gut, dann sei es wieder so. Um Schaden für Euer Seelenheil abzuwenden mögt Ihr jedoch wie bereits<br />

vorgeschlagen wurde im nächsten Tempel die Beichte ablegen und zwei Monatsheuern dem Herrn Efferd<br />

spenden."<br />

Zwei Monatsheuern waren viel Geld, aber dennoch murrte niemand der Matrosen. Sie wussten, dass sie mit einer<br />

weitaus schwereren Strafe rechnen mussten, hätte sich der Bärtige nicht für sie verwendet oder wenn die Situation<br />

einfacher und überschaubarer gewesen wäre. Es kam den Überläufern zugute, dass sie schlicht gebraucht wurden.<br />

Undinai wusste genau, dass sie in ihrem Strafmaß nicht zu hart sein durfte, denn schließlich waren es mehr<br />

Überläufer gewesen als loyale Matrosen, und außerdem befanden sich immer noch vier Piraten des<br />

Enterkommandos an Bord. Gegen das Seeungeheuer hatten sie gemeinsam gekämpft, aber nun standen die vier<br />

Piraten alleine da. Durch das milde Urteil und die rasche Aufnahme der Matrosen in ihre alte Mannschaft war<br />

zumindest verhindert, dass diese vier die übergelaufenen Matrosen auf ihre Seite ziehen konnten.<br />

"Nun zu Euch." Undinai wandte sich an genau diese vier Piraten. "Ihr legt jetzt Eure Waffen nieder. Ich garantiere<br />

Euch einen fairen Prozess vor einem Gericht in Perricum. Ich werde Euch nicht standrechtlich hinrichten, wie ich<br />

das nach Kriegsrecht dürfte." Die vier blickten sich an. Einer <strong>von</strong> ihnen war verletzt; ein Tentakel der Krake hatte<br />

ihm die Schulter ausgekugelt. Dann sahen sie Odilon und Alvan, die mit ihren Bögen auf die Piraten anlegten und<br />

der Forderung der Kapitänin Nachdruck verliehen. Mit einem scheppernden Geräusch waren die vier ihre Säbel<br />

und Entermesser auf die Decksplanken. Auf einen Wink Undinais wurden den Vieren Fesseln angelegt. "Gut, das<br />

hätten wir. Volkmar, Du übernimmst das Steuer. Eigor und Berta, ihr bringt die Gefangenen in die Bilge und<br />

bewacht sie, ich werde mir später Gedanken darüber machen, wo wir sie genau lassen. Herta, Maline und Fredo, ihr<br />

drei hackt das Ungetüm in handliche Stücke und werft es über Bord. Es wird Zeit, dass der Kadaver hier<br />

verschwindet. Bootsmann Harduk, Du überwachst das Treiben an Deck. Angele, Du wirst das Schiff genau<br />

inspizieren und den Schaden feststellen. Schiffszimmermann, da ist immer noch die schadhafte Stelle an der<br />

Außenwand, die durch den Sturm noch zusätzlichen Schaden genommen hat. Nimm Dir vier Matrosen und behebe<br />

den Schaden so gut als möglich. Und Ihr" Undinai wandte sich an Odilon und Alrik "kommt mit mir, ich habe mit<br />

Euch zu reden."<br />

Undinai deutete den beiden an, in der Offiziersmesse Platz zu nehmen, dann begann sie ohne Umschweife. "Nun<br />

seid Ihr mir einige Erklärungen schuldig. Zunächst werdet ihr als verhaftete Ketzer an Bord meines Schiffes<br />

gebracht, dann befreit ihr uns, um gleich darauf mit den Piraten erneut gemeinsame Sache zu machen. Als das<br />

Monstrum das Schiff angreift braucht ihr uns und lasst uns frei, und anschließend lauft ihr erneut über. Wer soll da<br />

noch wissen, wem Eure Loyalität gilt?"<br />

"Ich gebe zu, die Sachlage ist kompliziert. Vielleicht sollte ich uns erst einmal vorstellen." Begann Alrik. "Ich bin<br />

Alrik Tsalind, Baron zu Friedwang. Diese Reise, die wir unternommen haben war zunächst eine Idee meiner<br />

Schwester Gunelde. Gunelde ist eine Dienerin der Peraine. Unser Großvater ist vor etwa vierzig Jahren auf Kaiser<br />

Retos <strong>Maraskan</strong>feldzug gefallen. Da wir nicht wollen, dass sein Leichnam in Unheiliger Erde liegt wollen wir ihn<br />

bergen. Unter unseren Begleitern ist die Halbelfe Alvan <strong>von</strong> Nordenheim, meine Lehensfrau. Sie ist mir<br />

Gefolgschaft schuldig, und da sie schon einmal in <strong>Maraskan</strong> war dient sie uns als Orts- und Sprachkundige<br />

Führerin. Mein bärtiger Freund hier ist Alvans Vater, wie ihr gesehen habt ein vorzüglicher Schwertkämpfer und<br />

begnadeter Bogenschütze. Er und der Magister Hesindian sind unerlässlich für das Gelingen unseres Unterfangens.<br />

Zuletzt begleitet uns noch Sigismund <strong>von</strong> Baernfarn-Helligfarn, der als Kavalier Alvans diese natürlich nicht allein<br />

auf eine solche Reise gehen lassen kann."<br />

"Naja, verzeiht wenn ich das so sage. Aber wie Adelige des Raulschen Reiches seht ihr mir nicht gerade aus..."<br />

"Freilich nicht. Wir wollen schließlich nicht in den Schwarzen Landen gefangen genommen werden und unsere<br />

Familien in der Heimat erpressbar machen. Hätten wir uns denn dem Fürstkomtur als Barone und Edle <strong>Darpatien</strong>s<br />

vorstellen sollen? Der hätte uns doch gleich gefangen gesetzt."<br />

"Auch richtig. Aber aus welchem Grund hat dann der Inquisitor Euch für Verräter gehalten?"<br />

"Naja, wir reisen in die Schwarzen Lande in einer waghalsigen Mission. <strong>Das</strong> allein reichte leider schon, um sein<br />

Mißtrauen zu wecken."<br />

"Wohl wahr. Letztlich weiß ich jetzt auch nicht, ob ich Euch Glauben schenken darf oder nicht. Ich weiß nur, dass<br />

ihr, sei es aus Berechnung oder aus Überzeugung, mich zweimal aus der Gefangenschaft <strong>von</strong> Piraten gerettet habt.<br />

Zumindest das macht Eure Geschichte glaubhaft. Was habt ihr weiter vor?"<br />

"Wir wollen nach wie vor nach <strong>Maraskan</strong>. Aber ich denke, zuerst müssen wir nach Oron, um dort den Inquisitor zu<br />

befreien. Und dann werden wir sehen, wie wir auf die Käferinsel kommen."<br />

"Gut. Möglich dass der Inquisitor mir das vorwerfen würde, aber ich vertraue Euch. Ich werde Euch an die<br />

oronische Küste rudern lassen. Die Zwölf mit Euch!"<br />

103


Die See war ruhig, nur ein leichtes Plätschern war zu hören, wenn die Wellen gegen das Ruderboot schlugen.<br />

Undinai hatte an Bord eine Lampe anzünden lassen. <strong>Das</strong> war auch notwendig, damit die beiden Matrosen, die die<br />

sechs Darpatier an Land ruderten, auch wieder zurück fanden. Mit einem knirschenden Geräusch setzte das Boot<br />

auf Sand auf. Odilon sprang als erster in das knietiefe Wasser und watete ans Ufer. Dann folgten die anderen. Die<br />

tödliche Fahrt über die Blutige See hatten sie überstanden. Aber wer mochte sagen, welche Gefahren ihnen noch<br />

drohten? Keiner <strong>von</strong> ihnen vermochte abzuschätzen, was in Belkelels Reich auf sie zukam. Aber alle waren froh,<br />

wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.<br />

104


V. Kapitel: In Schwarzen Landen<br />

Angele war auf ihrem Inspektionsgang mehr als angespannt. Der riesige Krake - der Sturm mochte ihn überhaupt<br />

erst in Küstennähe getrieben haben - hatte mit seinen Tentakeln einige Schäden angerichtet. Einige der Spanten und<br />

Planken waren in ihrer Umklammerung wie Rippen gebrochen, das Schiff nahm ordentlich Wasser. Nun, mit Hilfe<br />

der Lenzpumpen wurden sie es hoffentlich bis Zorgan schaffen. Wenn nur das Wetter mitspielte.<br />

Auch im Laderaum blieb sie kurz mit hocherhobener Laterne stehen. Außer nach Rotwein und Getreide roch es<br />

hier auch noch nach schwerem, süßlichen Rum und würzigem Pfeifentabak - offensichtlich hatte auch ein Schiff<br />

aus dem maraskanischen Sinoda zu den letzten Prisen der Fran-Horas gehört (andererseits, sie hätte es einem<br />

xeraanischen Kaperfahrer durchaus auch zugetraut, ein Schiff aus der Fürstkomturei zu kapern).<br />

Angele wollte schon wieder nach oben gehen und Meldung machen, als sie etwas innehalten und stutzen ließ.<br />

Tatsächlich, da war doch etwas. Ein leises Zischeln.<br />

Die Vollmatrosin rieb sich nervös über ihr gestreiftes Hemd und suchte nach der Quelle des Geräuschs. Sie musste<br />

nicht lange suchen. Auf einem Stapel Rumfässer stand eine eisenbeschlagene Kiste, die merkwürdig fehl am Platze<br />

wirkte. Der Deckel war leicht angehoben; Angele hatte keine Mühe ihn zu entfernen. Voller Unschuld, wie ein<br />

Nest dicker, brauner Küken, lagen darin mehrere Tonkugeln, sicherlich ein gutes Dutzend und reckten ihre Lunten<br />

in die Höhe. Hylailer Feuer! Angele war sich beinahe sicher, dass die Brandgeschosse <strong>von</strong> der "Greif" stammten -<br />

in Zeiten wie diesen war es immer ratsam, ein Mittel gegen überderische Geschöpfe an Bord zu haben. Erst jetzt<br />

fiel ihr das merkwürdige Zischen wieder ein.<br />

Erst jetzt sah sie, dass an eine der Schnüre eine längere angeknotet war, schwarz, wie verbrannt. Ein zartes, sanft<br />

zischelndes Flämmchen fraß sich langsam, unendlich langsam den letzten Fingerbreit zur Tonkugel herab, und<br />

verglimmte in einem brenzlig riechenden Rauchwölkchen.<br />

"Efferd sei Dank" dachte Angele und wollte noch hinzufügen: "Die Zündschnur hätte keinen Herzschlag später<br />

verlöschen dürfen", als sie verschiedene Dinge <strong>von</strong> ihrem Gedanken ablenkten.<br />

<strong>Das</strong> eine war der Umstand, dass ihre Gewänder und ihre Haare mit einem mal in hellen Flammen standen. <strong>Das</strong><br />

andere das Gefühl, <strong>von</strong> einer gewaltigen Feuerblase <strong>von</strong> den Füßen gehoben und mit titanischer Urgewalt durch<br />

den Laderaum geschleudert zu werden. Einen Augenblick lang verspürte sie noch einen niederhöllischen Schmerz -<br />

eher wie ein Schreck, der einem durch den ganzen Körper fährt - dann detonierten auch schon die dickbäuchigen<br />

Rumfässer und machten ihrem jungen Leben ein jähes Ende.<br />

Wie gebannt starrte Odilon auf die Fran-Horas, aus deren Rumpf eine einzige, gewaltige Stichflamme in den<br />

nächtlichen Himmel fuhr und die Takelage wie ausgetrocknetes Buschwerk in Brand setzte. Der dumpfe Knall, mit<br />

dem das Feuerwerk einherging, rollte erst mit einiger Verspätung an den Sandstrand.<br />

Odilon hätte es nie im Leben für möglich gehalten, dass ein Schiff einfach so auseinander bersten könnte, aber<br />

genau das war es, was er im Widerschein des Feuers sah. Wie Hesindians brennende Hütte fiel die Fran-Horas<br />

einfach in sich zusammen, ganz so, als wäre die Explosion in ihrem Leib mehr, als sie nach Seegefechten, Sturm<br />

und Meeresungeheuern noch ertragen könnte. Brennende Trümmerstücke der Fran-Horas fielen wie Schweifsterne<br />

vom Himmel, klatschten rauchend ins Wasser. Ein heißes Zischen und Brodeln drang an seine Ohren, dann deckte<br />

sich gnädiger Dampf über das Schauspiel. <strong>Das</strong> letzte, was die Gefährten <strong>von</strong> der einstmals stolzen Schi<strong>von</strong>e sahen,<br />

war ihr Großmast, der wie eine einzige gewaltige Fackel in den Fluten verschwand.<br />

"Wir... wir müssen sie retten!" keuchte einer der Matrosen und sprang in das große Beiboot. Odilon schüttelte den<br />

Kopf und fasste ihn an die Schulter. "Da gibt es nichts mehr zu retten. Hörst du nicht?"<br />

Tatsächlich war die Nacht bis auf das Zischen der Flammen auf dem Perlenmeer und dem höhnischen Rollen der<br />

Brandung still - totenstill.<br />

"Aber es ist doch nicht möglich, dass niemand überlebt hat" stöhnte der andere Matrose und fasste sich<br />

schluchzend an den Kopf.<br />

Tika muss durch die Luke in der Kapitänskajüte in den Laderaum geschlichen sein, dachte Alvan. Deswegen der<br />

letzte, prahlerische Auftritt Mercurios vor dem Achterdeck - alles nur Ablenkung. Sie musste eine besonders<br />

langsam abbrennende Zündschnur genommen haben - die waren kaum zu hören. So was nannte man wohl "auf<br />

Nummer sicher gehen". Die Wucht der Explosion verwunderte sie kaum. Brennende Rumfässer explodierten wie<br />

Hylailer Feuer, und <strong>von</strong> letzterem Dämonenzeug hatte sich vielleicht auch noch einiges im Laderaum befunden.<br />

Die Halbelfe schauderte. Hätte Tika eine kürzere Lunte gewählt, würden sie nun ebenfalls als verkohlte Leichen<br />

auf dem Grund des Perlenmeers liegen.<br />

"Dieses verdammte Miststück!" schrie sie in die Nacht heraus (irgendwie hörte sie sich ein wenig hysterisch an).<br />

Odilon schüttelte den Kopf. "<strong>Das</strong> war nicht Tika. <strong>Das</strong> muss Fisch gewesen sein - er war weder im Beiboot noch bei<br />

den übrig gebliebenen Piraten." Voll ohnmächtiger Wut ballte der Schwarze Bär die gewaltigen Pranken:<br />

"Verdammt, ich habe schon wieder nicht auf diese kleine Ratte geachtet. Es ist meine Schuld."<br />

105


"Nun, er wird sich doch nicht selbst mit in die Luft gesprengt haben" meinte Sigismund. "Mach dir doch keine<br />

Vorwürfe deswegen!"<br />

Nun war es Odilon, der hysterisch klang, als er lauthals lachend hervorstieß: "Ein Fisch, so ein Fisch kann doch<br />

schwimmen."<br />

Dann beruhigte er sich wieder: "Bis zum Land ist es nicht weit. Für einen geübten Schwimmer kein Problem. Ihr<br />

guten Götter, noch nicht mal Flaum am Kinn und schon zwei Dutzend Menschenleben auf dem Gewissen!" Der<br />

Waldläufer schüttelte den Kopf, als erwache er aus einem schweren Traum: "Wir müssen hier weg. <strong>Das</strong> Feuerwerk<br />

war sicherlich meilenweit zu sehen."<br />

Gunelde, die sich über den halbohnmächtigen Magier gebeugt hatte, um seine Verbände zu kontrollieren, fuhr hoch<br />

und schüttelte den Kopf: "Ausgeschlossen. Hesindian ist nicht im Mindesten transportfähig. Er muss sich<br />

zumindest diese Nacht noch ausruhen, bis die Kräuter zu wirken anfangen."<br />

Die beiden Matrosen starrten die Gefährten entgeistert an, eher verstört als empört über die Sorgen, die diese<br />

hatten.<br />

Odilon beachtete sie nicht, sondern musterte den Magier, der, das verbrannte Gesicht dick bandagiert und einen<br />

Streckverband um die Schultern aussah wie der letzte Überlebende der Fran-Horas. Der Edle <strong>von</strong> Orweiler stöhnte<br />

leise, und Alvan reichte ihm wortlos eine Buddel Rum, die sie aus einer Kiste an Bord des Beibootes gezogen hatte.<br />

"Hier, gegen die Schmerzen."<br />

Hesindian hob abwehrend die Hand und lallte irgendetwas, das sich wie "Nur keine Umstände wegen mir" anhörte.<br />

Dann schlug er die Hände vors Gesicht und murmelte ein Gebet - zumindest hörte es sich so an.<br />

Der Gallyser mahlte mit den Zähnen. Er fühlte sich verantwortlich für das Schicksal des Magus, der sie nur wegen<br />

ihm auf dieser Höllenfahrt befand. Irgendwie kam er sich vor wie ein glückloser Feldherr, der soeben fast seine<br />

gesamten Untergebenen in einem sinnlosen Gefecht verheizt hatte. Odilon lachte grimmig in sich hinein: Verheizt,<br />

ja der Begriff passte.<br />

Er ließ sich in den weichen, noch immer warmen, grauweißen Sand fallen und starrte zum Meer, wo noch immer<br />

einige Flammen züngelten. Offenbar Reste des Hylailer Feuers. Nach und nach wurde Treibgut an Land gespült:<br />

Ein Block mit einem Knäuel Tauwerk daran, ein Fass, der bleiche Tentakel des Riesenkrake, eine Gräting und<br />

schließlich die erste Leiche, ein völlig verbrannter Matrose, der zum Glück mit dem Gesicht nach unten<br />

herabdümpelte, als ziehe ihn der Lichtstrahl der Laterne an. Die beiden letzten Überlebenden der Mannschaft liefen<br />

in die Dünung, stocherten mit einem Riemen an der Leiche herum. "<strong>Das</strong> ist Harduk, glaube ich" murmelte der eine,<br />

erstaunlich gefasst - anscheinend war auch dieser Bootsmann bei seiner Mannschaft nicht sonderlich beliebt<br />

gewesen. Odilon rechnete nicht damit, dass sonderlich viele Tote angetrieben werden würden - die meisten<br />

Matrosen hatten sich zum Zeitpunkt der Explosion unter Deck befunden, wo sie durch die Detonation regelrecht<br />

eingeäschert worden sein mussten. Umso besser, dachte er kühl, dann werden sie wenigstens nicht als Untote die<br />

Küste unsicher machen. Ein weiterer Körper rollte mit einer Brandungswelle heran, der mit belegter Stimme als<br />

Volkmar identifiziert wurde. Der Steuermann war wohl etwas beliebter gewesen.<br />

Der Baernfarn sah wieder zu Hesindian, der seine merkwürdige Meditation, die Hände vor dem Gesicht,<br />

unterbrach. Erst jetzt merkte er, dass der Magier wohl schlicht einen Heilzauber gesprochen hatte, denn sein<br />

vormals völlig verwüstetes Gesicht sah mit einem mal wieder einigermaßen frisch und unverbrannt aus, ebenso die<br />

Hände.<br />

Als Odilon knirschende Schritte auf dem <strong>von</strong> der letzten Flut noch immer feuchten Sand hörte, sprang er auf und<br />

griff zu Wandelur. Dann erkannte er, dass es Alrik war, der geradewegs auf sie zuhielt - er hatte die Abwesenheit<br />

des Fuchses nicht einmal bemerkt.<br />

"Keine Spur <strong>von</strong> unseren heißgeliebten Ausreißern" knurrte der Friedwanger. "Zumindest da oben nicht und in der<br />

Ecke müssten sie eigentlich an Land gegangen sein. Kein Boot, gar nichts. Aber nun gut, es ist Nacht, gut möglich,<br />

dass ich was übersehen habe trotz der Festtagsbeleuchtung hier." Er deutete auf die brennenden Trümmerteile, die<br />

draußen auf dem Meer auseinander getrieben wurden."<br />

"Wer sagt, dass sie überhaupt angelandet sind?" warf Alvan ein, die sich selber erst einmal einen Schluck Rum<br />

genehmigt hatte, und mit sarkastisch-betroffenem Lächeln zusah, wie die beiden Matrosen nach einander drei<br />

weitere Leichen - Maline und zwei heillos verstümmelte Unbekannte - an Land zogen. "Der Dreckskerl wollte<br />

doch nach Zhinbabil, um Meister Selbfried zu verscherbeln. <strong>Das</strong> ist die Ecke <strong>von</strong> Elburum, wo es am sündigsten<br />

zugeht. Mit dem Boot ist er doch am schnellsten dort, vor allem, wenn er noch eine Kiste <strong>Gold</strong> mit sich<br />

rumschleppen und einen Gefangenen bewachen muss." Die Edle lachte freudlos in sich hinein: "Ich glaube nicht,<br />

dass unser Inquisitor nach seinem kleinen Badeausflug schon wieder ins Meer springen möchte. Wenn er überhaupt<br />

schwimmen kann..."<br />

"Da ist was dran" nickte Alrik und betrachtete versonnen ein großes, rußverschmiertes Segel, dass wie ein<br />

schwarzgetüpfelter Silberrochen in Richtung Strand geschwommen kam. "Ich hätte zwar nichts dagegen, endlich<br />

wieder einmal festen Boden unter den Füßen zu haben. Aber zur See wären wir auch schneller dort, in Elburum<br />

meine ich. Jetzt, wo wir das andere Boot zur freien Verfügung haben..."<br />

106


"<strong>Das</strong> wird er büßen" murmelte Odilon. Dann wandte er sich den Gefährten zu: "Keine schlechte Idee, das mit dem<br />

Boot. Mercurio wird gar nichts anderes übrigbleiben, als nach Elburum zu gehen. Mit dem Schinakel wird er<br />

schlecht nach Jergan übersetzen können, und für was Größeres braucht er <strong>Gold</strong>. <strong>Das</strong> hat er vermutlich in seiner<br />

Kiste. Also, fahren wir also nach Süden."<br />

Mit knappen Worten teilte er den beiden Matrosen ihren Entschluss mit. Die beiden schienen erst jetzt richtig zu<br />

realisieren, dass sie sich ohne ihre Mannschaft an einer unbekannten Küste der schwarzen Lande befanden.<br />

"Nach Elburum?" keuchte der eine, ein unscheinbares Allerweltsgesicht, dem allein sein rotbrauner Kaiser-Reto-<br />

Bart so etwas wie eine persönliche Note gab. "Sollten wir nicht machen, dass wir uns nach Zorgan durchschlagen?“<br />

"Und was ist mit den Toten" schluchzte sein Kamerad, ein schlaksiger schwarzhaariger junger Bursche mit<br />

Pferdeschwanz und Ring im Ohr, der ein wenig zartbesaitet wirkte: "Wir können sie doch nicht einfach so liegen<br />

lassen."<br />

"<strong>Das</strong> ist richtig" meinte Odilon. "Nur fürchte ich, dass wir für eine borongefällige Bestattung keine Zeit haben.<br />

Zumal sie in dieser Weltgegend vermutlich ohnehin sinnlos wäre." Die beiden sahen entsetzt drein. Odilon hätte<br />

ihnen gerne erklärt, dass dort, wo sie jetzt standen, die Zwölfe so gut wie keine Macht mehr hatten, aber er wollte<br />

sie nicht zusätzlich verunsichern.<br />

"Weiter oben am Strand liegt allerhand Treibgut" Alrik wies in Richtung Binnenland. "Vermutlich vom letzten<br />

Sturm da rauf geknallt. <strong>Das</strong> Zeug ist trocken und brennt vermutlich wie Zunder. Ich würde vorschlagen, verbrennen<br />

wir die Kalten Al..." - er hüstelte erschrocken - "verbrennen wir die Toten einfach."<br />

"Gute Idee" Unruhig sah Odilon in die Finsternis, die den weißen Sandstrand zum Meer hin abschloss, die dort<br />

lauerte wie ein gewaltiger schwarzer Panther, der jederzeit seine mitleidlosen Katzenaugen öffnen und ihnen einen<br />

überraschenden Tod bereiten konnte. Schwarze Lande - die schier undurchdringliche Dunkelheit passte exakt zu<br />

dem, was sie vor ihren Augen verbarg. "Aber wir sollten uns beeilen. Die Küstenstraße ist nicht weit <strong>von</strong> hier und<br />

die Explosion auf dem Schiff war ziemlich heftig. Könnte sein, dass wir bald Besuch bekommen."<br />

Odilon nickte "Hört zu. Wir wollen nach Elburum, ihr nach Zorgan. Bis nach Elburum sind es nur noch wenige<br />

Meilen, nach Zorgan entschieden länger und hierzulande ist, wie wir wissen, jede Meile Seeweg gefährlich. Wir<br />

sollten also besser zusammen bleiben, nur dann haben wir eine Chance."<br />

Die beiden Matrosen drucksten ein wenig herum, gaben aber schließlich nach. Sie standen noch derart unter<br />

Schock, dass sie in diesem Moment Odilon vermutlich bis ins Riesland gefolgt wären.<br />

Rasch waren aus dem tatsächlich reichlich vorhandenen Treibgut sowie einigen vertrockneten Strandbüschen und<br />

Unterholz ein großer Scheiterhaufen aufgeschichtet und die angetriebenen Toten <strong>von</strong> der Fran-Horas aufgebettet,<br />

der Zahl sich mittlerweile auf sechs erhöht hatte. Odilon goss etwas Lampenöl auf die schwarzverbrannten Leiber<br />

und warf dann eine Fackel herein. In einer schwachen Parodie auf das Ende der Fran-Horas fauchte eine<br />

Stichflamme hoch und bald hüllten kleine, knisternde Flammen den Holzstapel ein.<br />

Keine wirkliche Einäscherung, aber das Feuer würde die Leiber zumindest soweit zerfressen, dass sie kein untotes<br />

Nachleben mehr führen konnten. Dankbar registrierte Odilon, dass der Seewind den Gestank nach verbranntem<br />

Menschenfleisch ins Landesinnere blies.<br />

Seine Gefährten hatten den Kutter inzwischen schon in die Brandung geschoben, auch der Mast war bereits<br />

aufgerichtet. Es dauerte eine Weile, bis sie das Boot ins freie Wasser geschoben hatten, aber dann ging alles<br />

reibungslos und sie glitten, <strong>von</strong> einigen Ruderschlägen und einem raumen Wind im Segel angetrieben, auf den<br />

<strong>Maraskan</strong>sund hinaus durch die Nacht Richtung Süden.<br />

Von der Fran-Horas war kaum noch etwas zu sehen, nur ab und an prallte ein längeres, verkohltes Holzstück -<br />

zumindest hoffte Odilon, dass die schwärzlich glänzenden Klumpen nur aus Holz bestanden - gegen den Bug.<br />

Alvan war die erste, die den Leib sah. Im ersten Augenblick befürchtete sie, es könne eine jener Algendämonen<br />

sein, <strong>von</strong> denen sie schon einige Schauergeschichten gehört hatte, dann sah sie die Tentakel. Ihre Hand glitt zum<br />

Entermesser. Nein, Blödsinn, das musste der Kadaver der Riesenkrake sein, der halb zerhackt im Wasser trieb und<br />

zu schwer war, um schnell an Land getrieben zu werden. Statt zur Klinge griff sie also zu einem großen<br />

Bootshaken, um den Kutter <strong>von</strong> dem Dekapus wegzutreiben. Wollen doch nicht hoffen, dass der auch noch untot<br />

herumspukt, dachte sie. Dann sah sie die Frau, die, blass und mit blutender Stirn, in den verbliebenen Tentakeln<br />

des Kraken hing. Ihre Seeuniform wies die Regungslose sofort als Kapitänin Darpfanger aus. Es war ein<br />

merkwürdiges Bild, das hier irgendein launiger Gott geschaffen hatte, um die Sterblichen zu verblüffen: Die<br />

Kapitänin der "Greif" in den Armen eines Riesenkraken, umringt <strong>von</strong> einem Schwarm kleiner Haien, die mit<br />

schnappenden, zahngespickten Mäulern Fleischbrocken aus dem Ungetüm rissen. Alvan erkannte einige<br />

Hammerhaie darunter, deren eigentümlich geformten, namensgebenden Schnauzen die Seltsamkeit der Szenerie<br />

nur noch unterstrichen. Eilends gab sie Order, das Segel back zu brassen und mit den Rudern zu wenden, was auch<br />

geschah.<br />

Mit einigen Mühen und Zerren wurde die Frau mit ihren halblangen, schwarzen, leicht gewellten und natürlich<br />

patschnassen Haaren- erst jetzt merkte Odilon, dass sie für ihr Alter eigentlich verdammt gut aussah, ins Beiboot<br />

gezerrt. Für einen Moment öffnete sie die Augen: "Wo bin ich?"<br />

107


"In Sicherheit" brummte Odilon und sah sich nach einer Decke um, die völlig durchnässte Frau, die ihrer Kleider<br />

entledigt werden musste, darin einzuhüllen. Die Frau seufzte etwas, was "Dann ist es gut" oder einfach nur einen<br />

hilflosen Laut bedeuten konnte, dann sank sie wieder in Borons Arme zurück. Während Odilon ihre mit Seewasser<br />

und Krakenblut getränkte Uniform öffnete, versuchte er zu rekonstruieren, was mit Undinai geschehen war, schon<br />

um bei ihrem Anblick auf nicht allzu rahjagefällige Gedanken zu kommen. Soweit er sich entsann, war sie zuletzt<br />

am Schanzkleid gestanden und hatte in Richtung des Beiboots und der Küste geblickt. Im Augenblick der<br />

Explosion musste sie sich vor der Hitzewelle unwillkürlich nach vorne gekrümmt und das Gleichgewicht verloren<br />

haben, mit dem Kopf voran auf den Vogelschnabel der Krake gefallen und dort besinnungslos liegen geblieben<br />

sein. Bis auf eine leichte Platzwunde auf der Stirn konnte er jedenfalls keine weitere Verletzung auf ihrem Körper<br />

entdecken.<br />

Ein letztes Mal sah Alvan zur Riesenkrake hinüber. Merkwürdig, erst jetzt hatte sie Gelegenheit, das Geschöpf der<br />

Tiefe ausgiebig zu betrachten. Es sah eigentlich nicht aus, wie sich Klein-Alrik eine Riesenkrake vorstellte: der<br />

Rumpf und der Kopf des Wesens sah eher aus wie ein langgezogener Pilz oder die Spitze eines Armbrustbolzens,<br />

außerdem hatte es nur zwei suppentellergroße Augen (die jetzt allerdings durch Pfeile zerstört waren) statt dem<br />

üblichen Kranz aus zehn sowie die Farbe eines gekochten Hummers. Ursprünglich hatte das Wesen einmal zehn<br />

Fangarme gehabt, die bis auf vier nun größtenteils abgehackt oder zumindest halbiert waren. Zwei dieser Tentakel<br />

ähnelten eher langen Fäden und endeten in einer Art Pfeilspitze. Ein Riesenkalmar - das Wort schoss Alvana durch<br />

den Kopf. Eigentlich ein schönes Tier - oder lag dieses Empfinden wieder einmal an ihrer maraskanischen<br />

Einstellung? Lediglich der scharfe, beißende Geruch, der <strong>von</strong> der Krake ausging und sie irgendwie an einen<br />

gigantischen Pisseimer erinnerte, störte das erhabene Bild ein wenig.<br />

Mit einem Seufzen stieß die Edle <strong>von</strong> Nordenheim das Tier ab, das nun weiter schwerfällig Richtung Brandung<br />

rollte, Sigismund, Alrik und die beiden Matrosen legten sich in die Riemen. Bald konnten sie wieder mit dem Segel<br />

Fahrt aufnehmen.<br />

Die Nacht verlief - bis auf den Weinkrampf Undinais, als sie vom Ende ihrer Mannschaft erfuhr - erstaunlich ruhig,<br />

und der grandiose Sonnenaufgang entschädigte für einiges. Blutrot und in einer Geschwindigkeit, die an eine <strong>von</strong><br />

Kinderhand hochgeworfene Schweinsblase erinnerte, stieg die Sonnenscheibe aus dem <strong>Maraskan</strong>sund. Alvan, die<br />

kurz zuvor aus einem unruhigen Schlaf erwacht war, ging das Herz über. <strong>Das</strong> Glitzern, die Sonne – kein Zweifel,<br />

das hier waren südliche Gewässer, wie sie sie schätzte. Zum ersten Mal seit langen empfand sie wieder Vergnügen<br />

an dieser Reise. Hätte sie geahnt, dass diese Lust schon die erste unmerkliche Versuchung der Belkelel war, die sie<br />

in ihrem Reich erwartete, ihre Stimmung wäre vermutlich gedämpfter gewesen.<br />

Steuerbord glitt die oronische Küste vorbei. Der Kutter machte gute Fahrt, die Stimmung besserte sich <strong>von</strong> Stunde<br />

zu Stunde. Bis zum Mittag beschränkte sich der einzige ernste Zwischenfall auf einen leichten Sonnenbrand, der<br />

Sigismunds Gesicht krebsrot färbte.<br />

Schließlich tauchte vor ihnen die Umrisse einer Hafenstadt auf, genauer gesagt, eine kleine, dicht bebaute Insel, die<br />

der eigentlichen Stadt vorgelagert war. "<strong>Das</strong> muss Elburial sein," teilte Alvan den übrigen mit. "<strong>Das</strong> Hafenviertel."<br />

Mit jedem Knoten Fahrt tauchten weitere Einzelheiten auf - Türme, Kuppeln, Flachdächer, auf dem ersten Blick<br />

eine ganz normale südaventurische Stadt. Ein paar fliegende Fische schwirrten über die glitzernde See und<br />

verschwanden wieder. Spielten die Sinne ihr einen Streich oder drang bereits ein süßer, schwerer, lieblicher Duft<br />

nach wildem Rausch, zartem Laster und hemmungsloser Hingabe in ihrer Nase? Sie musste wohl für einen<br />

Moment verzückt die Augen geschlossen haben, die Hand um eines der Taue verkrampft, den ihr Vater knuffte sie<br />

mit leichter Verärgerung (oder Sorge?) in die Seite: "Wir sollten uns langsam mal überlegen, wie wir uns in<br />

Elburum verhalten. Einfach so an Land gehen wäre wohl zu gefährlich, oder was meinst du?"<br />

„Ganz gewiss. Als Einheimische können wir uns nicht ausgeben.“ begann Sigismund. „Mein Schwesterlein hat mir<br />

<strong>von</strong> diesem Land und <strong>von</strong> seinen Gebräuchen erzählt. Auf alle Fälle sind uns allen die Gepflogenheiten im Land<br />

der Anhänger der Verderbten Lust viel zu wenig bekannt, als dass wir nicht auffallen würden.“<br />

„Moment Mal, was hast Du für eine Schwester, die sich in diesem Land auskennt?“ fragte Eckbert, der bärtige<br />

Matrose der Greif.<br />

„Nihiliane <strong>von</strong> Baernfarn-Helligfarn ist eine Predigerin der Hesinde des Garether Tempels, sie hat auf ihrer Reise<br />

nach Zorgan natürlich auch Berichte gesammelt über die jüngsten Ereignisse in diesem Teil Araniens. Man muss<br />

den Feind kennen, hat sie immer gesagt. Ist aber letztlich gleichgültig für uns, da wir nicht viel Wissen über Oron.<br />

Ich hab mal gehört, dass die Herrscherin Dimiona heißt und dass sie allen ihren Sklaven die Haare abrasiert.“<br />

„Und dass soll dann luststeigernd sein. Die haben wohl noch nie einem hübschen Mann übers Haar gestreichelt.“<br />

rief Alvan aus. Sigismund lachte, auch einige der anderen konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Undinais<br />

Augen funkelten freudig, als könne sie es kaum erwarten, die Stadt der Versuchung zu sehen.<br />

„Wir müssen Elburial erst noch südlich umrunden“ meinte Alvan. „ Dann laufen wir in das Hafenbecken ein. Dort<br />

müssen wir vor allem ein Auge darauf haben, ob irgendwo Mercurios Schinakel vertäut ist. Wir sollten uns<br />

jedenfalls nicht gleich daneben einen Anlegeplatz suchen. Dann können wir uns eine Herberge suchen. Und wir<br />

108


sind das wofür man uns ohnehin halten wird: Vergnügungssüchtige Söldner der anderen Heptarchenreiche, die hier<br />

ihren Sold und ihre Beute verprassen.“<br />

„Ja, den Sold verprassen, das hört sich gut an“ ergänzte Undinai. „<strong>Das</strong> wird man uns glauben.“<br />

„Welchen Sold eigentlich?“ fragte Alrike, die Matrosin. „Ich habe nur Reichstaler, damit dürfte man hier vielleicht<br />

auffallen.“<br />

„Glaub ich nicht, meine Hübsche.“ Sigismund lächelte der Matrosin zu. „hier sind genügend <strong>von</strong> Piraten erbeutete<br />

Taler im Umlauf.“<br />

Alvan luvte das Boot an und änderte den Kurs <strong>von</strong> Süd auf Südwest. Alrike und Eckbert nahmen das Segel straff.<br />

Noch eine Wende, und dann würde das Boot gemächlich <strong>von</strong> der schwachen Westbrise in das Hafenbecken<br />

getrieben. Odilon spähte umher. Mercurios Nussschale war am Ufer <strong>von</strong> Zhinbabil vertäut, erkannte er. Also<br />

steuerte Alvan das Boot zu den Liegeplätzen auf der Insel Elburial.<br />

Eine Herberge wie die „Bezaubernde Djina“ hätte Baronin Valyria wohl <strong>von</strong> der Stadtgarde schließen lassen,<br />

würde sie in Gallys stehen. Im Erdgeschoß war eine üble Spelunke untergebracht, wo Alkohol und andere<br />

berauschende Getränke und Speisen feilgeboten wurden, und wo man auch für jedes andere Laster fündig wurde.<br />

Bloß zum Leidwesen der Neun gab es in ganz Elburial keine „normalen“ Herbergen, sondern lediglich Bordelle<br />

und Spelunken, die halt auch Zimmer vermieteten. Insofern war Odilon für das Quartier nicht undankbar. Hier in<br />

dem wilden Treiben zahlreicher Seeleute und Söldner würden sie nicht auffallen, und die Wirtin stellte keine<br />

Fragen nach dem Woher und Wohin. Außerdem war die Herberge auch recht günstig, den bedeutenderen Umsatz<br />

machte die Wirtin wohl mit Rauschkraut und mietbaren Liebessklaven. Und im Obergeschoss standen noch<br />

Zimmer frei. Schon <strong>von</strong> außen hatte man der Kaschemme seine wahre Seele angesehen. Als „Kneipenschild befand<br />

sich neben der Tür unter dem Schriftzug „Bezaubernde Djina“ ein Bildnis einer schwarzgelockten, großbrüstigen<br />

Schönheit, die gerade wie ein Dschinn in den Märchen aus einer Flasche entwich. Auf dem nackt abgebildeten Leib<br />

der Frau war deutlich Intimschmuck zu erkennen gewesen. Beim Anblick des Bildes rümpfte Gunelde die Nase,<br />

und Alvan verzog beim Anblick der Ringe, die auf dem Bild in einem sehr empfindlichen Bereich gestochen<br />

waren, schmerzverzerrt das Gesicht. Sigismund sah das Bild genüsslich an, ehe er Alvans Blick bemerkte und<br />

sofort wieder einen ernsten Gesichtsausdruck annahm.<br />

Die Wirtin, Gina mit Namen, sah dem Mädchen auf dem Bild ähnlich. Sogar der Intimschmuck zeichneten sich<br />

unter ihrer engen Hose ab. Alvan hielt sich dezent zurück und überließ Alrik das verhandeln wegen der Zimmer.<br />

Odilons einziger Gedanke beim Anblick der Wirtin war, dass er jetzt verstünde, was die Männer in den übelsten<br />

Kaschemmen ausdrücken wollten, wenn sie sagten „Es fischelt“. Der einzige Unterschied zwischen der Frau auf<br />

dem Gemälde und der Wirtin bestand lediglich darin, dass das reale Exemplar weitaus älter und dicker aussah.<br />

Zwanzig Jahre Prostitution gehen nicht spurlos an einem vorüber, dachte Alvan, und war froh, als Alrik sich<br />

endlich über den Preis geeinigt hatte und Gina ihnen die Zimmer zeigte. Odilon bezog mit seiner Tochter ein<br />

Doppelzimmer (Alvanas erste Handlung bestand darin, das Fenster weit zu öffnen um den Geruch <strong>von</strong> Schweiß<br />

und anderen Körperflüssigkeiten entweichen zu lassen. Alrik und seine Schwester Gunelde bekamen ein zweites<br />

Doppelzimmer. Für Undinai gab es ein Einzelzimmer zu mieten, die verbliebenen vier kamen lediglich im<br />

Schlafsaal mit einigen anderen Vergnügungssüchtigen unter.<br />

Von draußen hörte man den Lärm einer südlichen Stadt: <strong>Das</strong> Feilschen der Basare drang nach oben, gelegentlich<br />

etwas Musik, ein vielschichtiges Stimmengewirr. Und doch war es anders als gewohnt. Denn die gewöhnten<br />

Geräusche waren hier allezeit durchsetzt mit Geräuschen, wie man sie sich letztlich wohl nur in Elburum vorstellen<br />

kann. Wollüstiges Stöhnen war fast ständig irgendwo zu vernehmen, gelegentlich auch Schreie, bei denen man nur<br />

selten unterscheiden konnte, ob sie Lust oder Schmerz ausdrücken sollten – oder beides. Und der Geräuschpegel<br />

änderte sich auch nicht egal welche Tages- oder Nachtzeit es gerade war.<br />

Blutrot senkte sich die Sonne im Osten über das Meer hernieder. Es war ein langer und anstrengender Tag<br />

gewesen. Auf der Fahrt nach Elburum waren sie die ganze Nacht hindurch gesegelt. Auch wenn sie abwechselnd<br />

schlafen konnten hatten alle nur wenigen und kaum erholsamen Schlaf gefunden. Also verkrochen sich die<br />

Gefährten in ihre Betten. Wenn Praios wieder am Himmel stand würde es sich zeigen, wie es weitergehen würde.<br />

Ein Sonnenstrahl, der ihr direkt durch das offene Fenster ins Gesicht schien, weckte Alvan. Es war noch früher<br />

morgen, Alvan dachte, sie wäre die erste, die erwacht sei. Doch als sie sich umdrehte merkte sie, dass Odilon nicht<br />

mehr im Bett war. Auch im Zimmer war er nicht, und nicht auf dem Balkon. Wo mochte er sein? Alvan machte<br />

sich keine Sorgen, ihr Vater würde schon wissen was er tat. Aber es überraschte sie doch, dass er ohne etwas zu<br />

sagen allein durch die Gassen <strong>von</strong> Elburial lief. Jetzt am frühen Morgen war es zwar etwas ruhiger als am Abend,<br />

wohl schliefen viele der Besucher der Bordelle und Spelunken erst einmal ihren Rausch aus oder erholten sich <strong>von</strong><br />

einer Orgie, aber still war es dennoch nicht. Auch um diese Stunde waren vereinzelt Gäste an den Tresen, und auch<br />

die belkelelgefälligen Klänge wilder Orgien waren vereinzelt noch zu hören.<br />

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Alvan hörte Schritte die Treppe heraufkommen. Die Schritte kannte sie, kein Zweifel, Odilon war das. Sehr<br />

zuvorkommend, dachte Alvan. Ihr Vater hatte einige Fladenbrote nebst Wurst und einigen Südfrüchten besorgt. So<br />

ließ sich der Tag auch in einem unheiligen Land gut anfangen.<br />

Alvan zog den kleinen Tisch unter der Schlafstatt hervor. Die Zimmer der bezaubernden Djina waren südländischorientalisch<br />

eingerichtet. Worauf sie diese Nacht geschlafen hatten war eher ein Diwan gewesen, eine Art mit<br />

Holzplanken versehenes Bettgestell <strong>von</strong> zwei auf zwei Schritt, mit einem Teppich belegt. Tagsüber rollte man<br />

einfach die Decken zur Seite und stellte den kleinen Tisch darauf, um den man sich im Schneidersitz gesellte.<br />

Eigentlich hatte diese Art zu wohnen ihren Ursprung in der sandigen Khom, wo man gerade in den Zelten der<br />

Nomaden darauf bedacht war, nicht direkt im Sand zu wohnen. Aber im Lauf der Zeit war diese Lebensart auch in<br />

Aranien heimisch geworden.<br />

Odilon warf Alvan seine Einkäufe zu. „Schön dass Du wach bist, guten Morgen. Dann werde ich mal den Rest<br />

unserer verschlafenen Truppe wachrütteln.“<br />

„Rur segne diesen Tag, Vater. Aber ich fürchte, die anderen werden gerne noch ein wenig Bruder Boron opfern.“<br />

„Mag sein. Aber dies ist kein Praiostagsausflug. Herrje, die Macht der Gewohnheit. Wir sind zwar jetzt allein, aber<br />

auch wenn in Oron der Zwölfgötterglaube nicht <strong>von</strong> Rechts wegen verboten ist sollten wir doch nicht zu sehr als<br />

Andersgläubige auffallen. Aber die Zeit des Schlafens ist allemal vorbei, wir hatten volle zwölf Stunden Ruhe<br />

gehabt, das muss jetzt reichen. Morgenstund´ hat <strong>Gold</strong> im Mund sagt man doch in der Schwarzen Sichel, und die<br />

lasterhafte Tagdieberei lasse ich gleich gar nicht einreißen!“ Sprachs und ging auf den Flur. Alvana richtete das<br />

Frühstück her, <strong>von</strong> draußen hörte sie ein lautes Klopfen an den benachbarten Zimmertüren. Alvana grinste. Die<br />

Reaktion Sigismunds konnte sie sich jedenfalls vorstellen. Und da hörte sie auch schon das klatschende Geräusch<br />

des Schuhs, den der Helligfarn nach dem ungebetenen Gast warf, an der Wand. Ein „Ich tauch Dich kopfüber ins<br />

Hafenbecken wenn Du nicht sofort aufstehst!“ war die Antwort Odilons. Eine halbe Stunde später waren jedoch<br />

alle erwacht und angekleidet und hatten die Möglichkeit gehabt, sich zumindest spärlich zu waschen.<br />

„So eilig wäre es nun wirklich nicht gewesen, Odilon!“ grüßte Alrik den bärtigen Gallyser.<br />

„Wir haben viel zu tun, aber zuallererst müssen wir uns beratschlagen, wie wir vorgehen. Setz Dich zu den<br />

anderen, aber mach vorher bitte die Tür zu.“ Alrik war nicht gerade erbaut über den Ton des Gallysers, aber er<br />

widersprach nicht. Erst einmal wollte er wissen, was Odilon zu sagen hatte.“<br />

„Zuerst einmal zu Euch, Undinai, und zu Alrike und Eckbert. Bevor wir beratschlagen müssen wir wissen was ihr<br />

drei plant. Ihr könnt mit dem Boot nach Zorgan fahren, oder aber in südlicher Richtung nach Khunchom. Erstere<br />

Route dürfte wohl vier Tage benötigen, da ihr gegen den Westwind aufkreuzen müsst. Die Südroute nach<br />

Khunchom ist zwar länger, aber aufgrund der vorherrschenden Windverhältnisse wäre diese Route in drei Tagen zu<br />

bewältigen. Oder ihr könnt Euch zu Fuß nach Westen aufmachen. Die Entfernung bis Zorgan ist kein Problem, in<br />

zwei Tagesmärschen, maximal drei, seid ihr dort. Aber alle drei Wege haben Gefahren, aber die Gefahren einer<br />

Seereise mit unserer kleinen Nussschale brauche ich Euch wohl nicht erklären. Einfacher wäre es vielleicht, wenn<br />

ihr eine Überfahrt nach Khunchom bucht – Ich habe Al´Anfanische Handelsschiffe im Hafen gesehen, gegen gutes<br />

<strong>Gold</strong>, würden sie bestimmt Passagiere an Bord nehmen.“<br />

„Gutes <strong>Gold</strong>, das wir nicht haben.“ warf Undinai ein.<br />

„Noch nicht, aber wir können das Boot verkaufen. Wenn ihr damit nicht weitersegeln wollt benötigen wir es nicht<br />

mehr. <strong>Das</strong> wäre in meinen Augen auch die beste Lösung. Ihr könntet dann zurück in ein sicheres Land, denn <strong>von</strong><br />

Khunchom aus zurück nach Zorgan dürfte Euch keine Schwierigkeiten bereiten. Und wir können uns mit dem Rest<br />

des Erlöses eine Überfahrt nach Tuzak oder Jergan bezahlen.“<br />

„In einem stimme ich Euch zu. Mit der kleinen Jolle kommen wir weder nach Zorgan noch nach Khunchom, und<br />

über den Sund nach <strong>Maraskan</strong> erst Recht nicht. Verkaufen dürfte die beste Lösung sein. Mit etwas Handelsgeschick<br />

können wir dabei weit mehr herausschlagen als wir für die Überfahrt benötigen.“<br />

„Gut, dann machen wir das so. Wir verkaufen das Boot und teilen den Erlös auf. Ich schlage vor, dass sich Alrik<br />

und Eckbert dieser Aufgabe annehmen. Eckbert hat das seemännische Fachwissen und Alrik das Talent eines<br />

Händlers.“<br />

„In Ordnung, Odilon“ stimmte Alrik zu und nahm sich noch ein Stück Fladenbrot. „Was machen wir wegen<br />

Selbfried?“<br />

„Wir müssen herausfinden, wo er sich befindet, und dann sehen wir weiter. Sigismund und Alrike, darum kümmert<br />

ihr Euch beide. Findet heraus, wohin Mercurio und Tika gegangen sind, und ob möglicherweise Fisch bei Ihnen ist.<br />

Sigismund, ich schicke deswegen Alrike mit Dir mit, weil Mercurio unsere Gesichter wohl gut genug kennt.<br />

Alrikes möglicherweise nicht, er hat sie ja nur kurz als eine <strong>von</strong> vielen Matrosen gesehen. Sie kann daher vielleicht<br />

mancherorts nützlich sein.“ Sigismund nickte. Eigentlich war er ganz froh darüber. Alvan hatte ihn trotz seines<br />

charmanten Werbens ja ohnehin nicht erhört, und die Matrosin war recht hübsch. Er würde also genug Zeit haben,<br />

Alrike näher kennen zu lernen und zu umgarnen.<br />

„Und bestimmt kann man auch in Erfahrung bringen, wo hier Sklaven verkauft werden. Hesindian, bist Du wieder<br />

gesund genug um Nachforschungen anzustellen?“ Der Magier nickte.<br />

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„Sehr gut. Dann wirst Du Dich danach erkundigen. Vielleicht können wir den Inquisitor ja auch einfach kaufen.<br />

Undinai und ich werden uns im Hafen nach geeigneten Schiffen für unsere Weiterfahrt erkundigen. Und Du,<br />

Gunelde, kannst Dich auf dem Markt umsehen nach dem einen oder anderen, was wir gebrauchen können. Ich<br />

nehme an, dass Dein Vorrat an hilfreichen Kräutern ziemlich erschöpft sein dürfte.“<br />

„Ja, um genau zu sein, ich habe überhaupt nichts mehr an heilkräftigen Tinkturen. Ich glaube allerdings auch nicht,<br />

dass ich mit meiner Barschaft da sehr viel Brauchbares erwerben kann. Aber ich will mal sehen, was sich da<br />

machen läßt. Was soll Alvan machen?“<br />

„Ich werde mich ebenfalls nach Möglichkeiten zur Weiterreise erkunden. Allerdings nicht im Hafen. Ich werde<br />

mich mal umhören.“ antwortete die Halbelfe ausweichend. Sie wusste, dass es in früheren Zeiten <strong>Maraskan</strong>er in<br />

Elburum gegeben hatte. Vielleicht gelang es ihr, Kontakte zum maraskanischen Widerstand zu knüpfen. Odilon<br />

nickte.<br />

Alrike, Sigismund, Gunelde und Hesindian gingen gemeinsam zu der Brücke, die das kleine Inselchen mit dem<br />

Festland verband. Der Streuner überlegte sich, ob es wirklich ratsam war, als Gruppe aufzutreten, andererseits<br />

fühlte er sich in vertrauter Gesellschaft sicherer. Elburial war eine schäbige Ansammlung windschiefer Schänken,<br />

Lagerhäuser und Bordelle, ein Schandfleck auf Sumus Leib, das einem Orkendorfer die Schamröte ins Gesicht<br />

getrieben hätte.<br />

Die südliche Sonne, die auf den Abfall, den Kot, das Erbrochene und die unvermeidlichen Pestratten in den<br />

Gassen brannte, verstärkte den Ekels und die Verfallsstimmung noch, ebenso der süßliche Parfümgeruch, der wie<br />

dünner Nebel <strong>von</strong> Zhinbabil heranwehte - eine Kakophonie <strong>von</strong> Gerüchen. Auch die schlecht gepflegten, irgendwie<br />

verrottet wirkenden Seelenverkäufer an den Kais hatten die Aura <strong>von</strong> Geisterschiffen, Sigismund hätte es nicht<br />

wirklich gewundert, wenn einer der Kähne eine Horde Wasserleichen ausgespieen hätte. Selbst die<br />

schmutziggrauen Möwen, die kreischend und sich um irgendwelchen Unrat zankend umherflogen, wirkten wie<br />

Gespensterkrähen. Dort also wollte Odilon eine Überfahrt nach Jergan buchen - na wunderbar!<br />

"He Onkel, willst du mit mir ficken?" krähte ihn ein kleines, blondes Mädchen <strong>von</strong> der Seite an, grell geschminkt<br />

wie eine Hafendirne und sicherlich nicht älter als sieben Jahre.<br />

"Frag´ mich in zehn Jahren wieder, Kleines!" Sigismund lachte hohl auf und beschleunigte seine Schritte.<br />

"Bist wohl schwul oder was?" keifte das kleine Mistding mit kaum noch zu erahnendem tobrischen Dialekt und<br />

machte eine obszöne Geste. Noch mehr Strandgut des großen Krieges . . .<br />

Der Streuner antwortete nicht - irgendwie hatte er das Gefühl, dass er sich gerade verdammt auffällig benahm - und<br />

lenkte seine Schritte auf die Brücke zu, die diesen Müllhaufen hier mit dem Festland verband.<br />

Nach all der glitschigen Hafenatmosphäre haftete dem schmucken Zhinbabil etwas verlockend Luxuriöses an, es<br />

erinnerte mit seinen Minaretten, Kuppeln, Flachdächern und Palmenalleen an einen aus Zucker gegossener<br />

Rauschtraum.<br />

Am anderen Ende der Brücke wartete wieder ein Rudel Kinder und Halbwüchsiger, die teils Lustknaben und -<br />

mädchen, teils armselige Geschöpfe der Gosse sein mochten.<br />

Gunelde stöhnte leise auf ob soviel Sünde und Dekadenz, die buchstäblich allenthalben in der Luft lag. Erst jetzt<br />

merkte Sigismund, dass sie noch immer das grüne Ordensgewand der Therbûniten trug. Na wunderbar, damit fiel<br />

sie mitten in Elburum natürlich auf wie ein weißer Elefant.<br />

Dem Empfangskomitee schien dies indes egal zu sein, vielmehr versuchte es ihnen lärmend hässliche schwarze<br />

Blumen zu verkaufen - Rosen mit blutfarbener Äderung und Dornen, die wie messerscharfe Raubtierklauen in alle<br />

Richtungen abstanden. Weder Gunelde noch Sigismund und der Matrose verstanden das <strong>von</strong> wenigen Brocken<br />

Garethi durchsetzte Tulamidya der "Blumenkinder", auch Hesindian hatte Mühe zu übersetzten, was nicht nur an<br />

seiner fehlenden Zungenspitze lag. Langsam wurde klar, dass ein jeder <strong>von</strong> ihnen eine solche Blutrose benötigte,<br />

wenn er in der Stadt nicht als Unfrei angesehen werden wollte. Auf Guneldes Frage, was in letzteren Fall mit ihnen<br />

geschehen würde, antwortete ihnen ein glockenhelles, etwas verlegenes, vor allem aber kindlich grausames Lachen.<br />

Die Gefährten fragten nicht weiter, sondern kauften die vier Rosen - mit der Folge, dass sie bereits so gut wie pleite<br />

waren, als sie Zhinbabil endlich betraten.<br />

"Diese kleinen Ratten!" zischte Alrike. "<strong>Das</strong> ist doch Wucher! <strong>Das</strong> letzte Geld haben sie uns aus der Tasche<br />

gezogen für..." Sie schrie auf, als ihr der Dorn der Rose in die Hand schnitt, und steckte die stark blutende Wunde<br />

in den Mund.<br />

"<strong>Das</strong> ist keine perainegefällige Pflanze, sondern eine Waffe!" murmelte Gunelde mit Blick auf ihre Blume. "Wenn<br />

nicht noch etwas Schlimmeres." Verzweifelt sah sie auf ihren Dukatenbeutel, der reichlich schlaff an ihrem Gürtel<br />

hing. "<strong>Das</strong> mit den Kräutern kann ich jetzt vergessen."<br />

"Wenn es in diesem Sündenpfuhl hier überhaupt göttergefällige Kräuter gibt" seufzte Sigismund. Dann sah er<br />

erschrocken zu den Wachen am Beginn einer prunkvollen, mit Palmen und Bassins aufgelockerten Prachtstraße,<br />

die in rote Mäntel gehüllt, angetan in tulamidische Kettenpanzer und Baburiner Hüte auf den Kopf herumstanden,<br />

die Hände bereits auf gewaltige, am Ende monströs gezackte Khunchomer gelegt. Als sich einer der schwarzen<br />

Augen des Oroniers in Sigismunds Augen bohrte, hatte der Streuner das Gefühl, als laufe er gerade mit einem<br />

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Schild "Komme aus dem zwölfgöttergläubigen Mittelreich!" herum.<br />

Kaum hatte er dies gedacht, setzte sich der Rotmantel auch schon klirrend in Bewegung, gefolgt <strong>von</strong> seinen beiden<br />

Spießgesellen, die ganz froh über etwas Abwechslung in ihrer Langeweile zu sein schienen.<br />

"Muwallah!? Hamachwallhawachem!?" erklang ein röchelndes Tulamidya, das sich anhörte, als befände sich der<br />

Krieger in höchstem Zorn - aber vielleicht hörten sich Tulamiden immer so an.<br />

"Verzeiht mir, ich verstehe Euch nicht" Sigismund lächelte die Drei freundlich an, die sich gerade breitbeinig vor<br />

ihnen aufbauten. "Wir sind Matrosen und Söldner aus dem schönen ...äh, Xeraanien, auf Landgang und wollen uns<br />

ein bisschen die Beine vertreten in eurem prachtvollen Oron."<br />

Der Schwarzbart vor ihm schien zu verstehen und wechselte in ein holpriges Garethi, das so südländisch gefärbt<br />

war wie seine bronzefarbene Haut.<br />

"Von welch´chäm Schiff seid ihrrr? Wie ist derrr Name?"<br />

"Vom Fliegenden Thorwaler" antwortete Alrike (der Schiffsname war ihr im Vorübergehen ins Auge gefallen).<br />

"Aus Port Rulat" erfand sie dreist.<br />

"Welcherrr Kapitän?"<br />

"Menzel Ilsurer"<br />

Offenbar klang das überzeugend, denn der Mann nickte (Sigismund bewunderte die hübsche Matrosin, wie leicht<br />

ihr die Lüge <strong>von</strong> der Lippe gegangen war). Dann musterte er misstrauisch die grüne Robe der Heilerin.<br />

"Was ist mit derrr da?"<br />

"<strong>Das</strong> ist unsere Gefangene" antwortete Sigismund schnell. "So eine Betschwester. Ham wer vor ner Woche bei<br />

Zorgan gefangen, ne prima Heilkundige. Wo geht es hier zum Sklavenmarkt?"<br />

Bevor der Gardist misstrauisch auf die Umhängetasche, die Rose und den Dukatenbeutel der "Sklavin" blicken<br />

konnte, gab ihr Alrike geistesgegenwärtig einen Stoß, so dass sie stöhnend in die Knie sank.<br />

"Wir sollten sie jetzt besser fesseln, hier an Land." Sprachs und schlang ihren Gürtel um die Hände der<br />

Therbûnitin.<br />

"Muss man für so eine eigentlich auch eine Rose kaufen?" Die Matrosin lächelte unschuldig.<br />

Der Oronier antwortete nicht, sondern sah sie nur mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck an. "Ist dieses<br />

Weibstück aber dumm" schien er damit sagen zu wollen - und "Der sollte ich es mal so richtig besorgen".<br />

Die Wachen kniffen die Augen zusammen. Die Perainedienerin sah wirklich derart zerschunden und verstört aus,<br />

als befände sie sich in Gefangenschaft, und der stumme, weißhaarige Magier wirkte irgendwie unheimlich. Mit<br />

dem legte man sich besser nicht an.<br />

Irgendwie schien der Anführer zu dem Entschluss zu kommen, dass sich Spione wohl nicht derart plump anstellen<br />

würden und wies hinter sich:<br />

"Verrrkauft sie im Suq, dort." Verächtlich spuckte er aus: "Ist nicht viel dran. Wer <strong>von</strong> den Belim soll die<br />

besteigen? Ach, mirrr egal, bei Levthan..."<br />

Mit herrischer Geste winkte er die vier durch und wandte sich dann zwei völlig betrunkenen Matrosen zu, <strong>von</strong><br />

denen einer gerade in hohem Bogen über die Rosenbrücke spie (offensichtlich hatte er zuviel aus dem Weineimer<br />

gesoffen, den Sigismund vorhin in Elburial gesehen hatte - ein halbes Dutzend Männlein und Weiblein auf Knien,<br />

die mit Strohhalmen den belkelelischen Trunk ausgeschlürft hatten, wie Schweine um einen Trog.).<br />

"Puh, ha, danke" Sigismund wandte sich nach einigen Schritt der Matrosin zu. "Wo hast du nur so eiskalt lügen<br />

gelernt?"<br />

"<strong>Das</strong> macht die nackte Angst."<br />

"Wir sollten uns beei´en" stammelte Hesindian. "Wenn die u´ere Ge´ichte nachp´üfen..." Er sah besorgt drein.<br />

Alrike starrte auf die beiden Rosen in ihrer Hand: "Die sieht auch schon ziemlich welk aus. Ich glaube, spätestens<br />

morgen ist sie verblüht."<br />

Gunelde sah sich zu den beiden Wachen um, die langsam aus ihrem Blickfeld verschwanden. "Nun bindet mich<br />

erst Mal los."<br />

Sigismund löste ihre Fessel und sah sich misstrauisch um: "Was machen wir nun? Ihr solltet Euch unauffälligere<br />

Gewandung besorgen, Gunelde."<br />

Die Heilerin nickte, schnupperte angewidert die Luft, die nach Schweiß, Schmutz, Fisch, Parfüm, Bratendunst und<br />

anderem heißem Fleisch roch.<br />

Die Vier gingen im Schatten der Palmen die breite Prachtstraße entlang und beobachteten die Szenerie.<br />

Prunkkutschen und Sänften beherrschten das Bild, gezogen <strong>von</strong> spärlich oder gar nicht bekleideten Sklaven, die<br />

tatsächlich kahlgeschoren waren - einschließlich der Augenbrauen, wie Gunelde erschrocken merkte, als einer der<br />

Unglücklichen, ein Moha oder Halbmoha, bis auf wenige Schritt an ihr vorüberhetzte.<br />

Dafür waren die Besitzer und die übrigen Flaneure um so prachtvoller, in Samt und Seide gewandet - die meisten<br />

hatten einen rötlichen Schleier vor dem Gesicht, was, wie die Gefährten immer dringlicher merkten, auch ratsam<br />

war. <strong>Das</strong> atemberaubende Durcheinander der berauschenden Düfte und üblen Gerüche in der hitzeflirrenden Luft<br />

war kaum auszuhalten. Alrikes Augen waren bereits ein wenig glasig, als sie zu einem der mit tulamidischen<br />

Ornamenten verzierten Balkone hinaufstarrte: War es ein Trugbild oder sah sie dort wirklich eine namenlose<br />

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Schönheit, splitterfasernackt und wie irre lachend einen Becher Wein leerend, offenbar schon jetzt am Vormittag<br />

sinnlos betrunken oder gar <strong>von</strong> irgendeinem Brunstdämon besessen? Nein, es war keine Illusion. Die Tulamidin<br />

kratzte sich ausgiebig das Gekräusel zwischen ihren Beinen und ging dann mit einem großen, glatthaarigen Hund<br />

zur Tür, wo sie sich <strong>von</strong> ihm ausgiebig die Genitalien und Brüste ablecken ließ.<br />

Nach einer sanften Biegung steuerte die Hauptstraße auf einen prunkvollen Palast zu, <strong>von</strong> wo aus sich erneut ein<br />

Trupp Bewaffneter näherte. Sigismund zog seine Gefährten in eine Seitengasse, die schon nicht mehr ganz so<br />

prächtig wie die Prunkallee wirkte.<br />

"Wir sollten uns ein bisschen abseits halten" murmelte er. "Und zusammenbleiben."<br />

Hier schien das Basarviertel zu beginnen, der Suq - Schenken, Auslagen, Buden, Handwerksläden und schmutzige<br />

Wohnhäuser reihten sich aneinander. Angewidert sah Sigismund, wie ein Schmuckstecher irgendeinem vulgär<br />

aussehenden Weibstück einen edelsteinbesetzten Ring in die Zunge bohrte.<br />

An der Ecke schlug ein bleicher Edelmann mit grell geschminkten Augen leise lachend auf einen kahlen Sklaven<br />

ein, mit einem Büschel Dornenrosen in der blassen, schlanken Hand, zog dann wie beiläufig einen Krummdolch,<br />

schnitt dem Unglücklichen die Kehle durch und ging leicht torkelnd seines Weges. Eine Horde Straßenkinder<br />

huschte rattengleich aus dunklen Ecken hervor, griff sich die Leiche und zerrte sie in den Schatten, ohne dass dies<br />

oder der vorangegangene Mord besonderes Interesse bei den Umstehenden gefunden hätte. Sigismund wollte gar<br />

nicht wissen, was die Vagabunden mit dem so gut wie nackten Toten vorhatten. Nachdenklich sah er auf einen<br />

Fleischverkäufer, der irgendwelche halbverkohlten Brocken mit Fladenbrot anpries. Ein paar Hunde hechelten<br />

herbei und leckten, umschwärmt <strong>von</strong> Schmeißfliegen, das Blut <strong>von</strong> der Straße auf.<br />

<strong>Das</strong> also war Elburum. An einer Ecke des Suq erwarb Gunelde <strong>von</strong> ihrem letzten Geld einen schlichten, erdfarben<br />

Burnus. Die vier Gefährten begannen mit ihren Nachforschungen, fragten hier einen Straßenhändler, dort einen<br />

turbantragenden Passanten nach einem schwarzbärtigen Piraten mit Handhaken, einer Matrosin, einen Jungen und<br />

einen vielleicht gefesselten Mann mit einer auffallenden Robe. Nach einigem Hin und Her ergab sich eine Spur.<br />

Besagter Piratenkapitän aus Xeraanien - ein gewisser Mercurio, kein Unbekannter in Zhinbabil- hatte vor einigen<br />

Stunden große Aufmerksamkeit erregt, weil er oben im Palast einen leibhaftigen Inquisitor der Praioskirche<br />

verkauft hatte, wie es hieß, sollte die Moghuli Dimiona einen stattlichen Preis für den exotischen Fang gezahlt<br />

haben. Man könne sich denken, was sie mit ihrer Beute vorhabe, Gerüchte sprächen schon <strong>von</strong> einer öffentlichen<br />

Lebend-Sezierung durch "diesen irren Elfen", als Volksbelustigung zu Ehren der Herrin Belkelel und als<br />

allgemeiner Beweis ihrer unvergleichlichen Macht.<br />

Am späten Nachmittag hatten die Vier sogar die Absteige des Kapitäns - in dessen Begleitung sich tatsächlich Tika<br />

und Fisch befanden - ermittelt: "Zum Brünstigen Kamel", eine Herberge unweit der Rosenbrücke, im alten Hafen<br />

<strong>von</strong> Elburum.<br />

"Gehen wir gleich hin?" fragte Alrike.<br />

Sigismund sah zur Praiosscheibe, die rot - schamrot? - über der Sündigen Stadt zu versinken schien. "Ich würde<br />

lieber erst mal Odilon Bericht erstatten."<br />

Tatsächlich saß man am frühen Abend wieder zusammen. Alrik und Eckbert war es gelungen, das Beiboot für eine<br />

stattliche Anzahl goldglänzender Dublonen einem Al´Anfaner Kauffahrer aufzuschwatzen, bei dem Undinai<br />

zugleich eine Passage für sich und ihre Gefährten nach Khunchom gebucht hatte. Odilon hatte eine Zedrakke<br />

aufgetrieben - die "Harnischträger" -, die übermorgen mit elburischen Getreide (und vermutlich auch einigem<br />

Schmuggelgut) in Richtung Jergan in See stechen würde. Sowohl er als auch die Kapitänin hatten ernste Zweifel,<br />

ob sie am Ende ihrer Reise nicht eher auf einem Sklavenmarkt landen würden, aber diese Gefahr drohte ihnen in<br />

Elburum ebenfalls.<br />

"Wir müssen uns was ausdenken, um den Inquisitor zu befreien" meinte Odilon. "Hat jemand eine Idee, wie wir in<br />

den Palast gelangen können?"<br />

Alrik zuckte mit der Schulter: "Also, dass ich reinkommen würde, weiß ich, aber ob auch wieder raus - und dann<br />

noch mit Meister Selbfried im Schlepptau?"<br />

"So wie sich das anhört, soll die Opferung öffentlich stattfinden. Vielleicht können wir da ja irgendwie eingreifen."<br />

"Sollten wir uns nicht erst mal Mercurio vorknöpfen?" meinte Sigismund. "Wir wissen ja nun, wo er abgestiegen<br />

ist."<br />

"Auch nicht so einfach. Immerhin befinden wir uns hier in einer feindlichen Stadt und er ist hier offenbar gut<br />

gelitten. Wir sind es jedenfalls nicht. Außerdem kann er durchaus ungemütlich werden, wie sich das letzte Mal<br />

gezeigt hat."<br />

Der Gallyser überlegte: "Ich hoffe nur nicht, dass er ebenfalls auf die Idee kommt, eine Passage nach Jergan zu<br />

buchen. Die Harnischträger ist das Schiff, das als nächstes dorthin ausläuft, da würden sich unsere Wege<br />

zwangsläufig kreuzen. Weißt du, wie viel <strong>Gold</strong> er zur Verfügung hat?"<br />

Sigismund, der gerade seine Hand auf Alrikes Oberschenkel legen wollte, zuckte zurück:<br />

"Äh, was? Ach so, ja eine ganze Stange... Latte... jedenfalls ziemlich viel. Angeblich hat die Moghuli Dimiona eine<br />

Schatulle mit Zaster zum Brünstigen Kamel tragen lassen. Mit dem Geld aus der Kajüte und dem Erlös für<br />

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Selbfried kann der es sich bestimmt leisten, ein Schiff zu kaufen und eine Mannschaft anzuheuern - wenn er es<br />

überhaupt noch nötig hat, auf Schatzsuche zu gehen."<br />

"Nun ja, ein neues Schiff und neue Halsabschneider braucht er allemal. Letztere wird er hierzulande in Hülle und<br />

Fülle finden."<br />

Sigismund war inzwischen aufgestanden und ging unruhig im Zimmer auf und ab:<br />

"Wo ist eigentlich Alvan abgeblieben?"<br />

"Sie wollte sich nach ihren maraskanischen Freunden erkundigen. Angeblich soll die Unterwelt hier auf der Insel<br />

einem Adeligen aus <strong>Maraskan</strong> unterstehen."<br />

Der Streuner ging zum Fenster und biss sich unruhig in den Handrücken. Draußen wurde es dunkel.<br />

"Elburial ist gefährlich."<br />

Wie zur Bestätigung drang <strong>von</strong> irgendwoher der Lärm einer Messerstecherei her, dann das Wimmern einer<br />

Hafenhure, die <strong>von</strong> ihrem Freier, ein Kerl wie ein Schrank, unterhalb der "Bezaubernden Djina"<br />

zusammengeschlagen wurde.<br />

"He, du da, lass sie gefälligst in Ruhe!" rief Sigismund. "Oder ich verpass dir einen Armbrustbolzen!"<br />

Die Drohung wirkte. Der Bursche stapfte mit einer drohenden Handbewegung da<strong>von</strong>; auch die Frau verkroch sich.<br />

"Gemütliche Gegend ist das hier" murmelte Sigismund.<br />

"Wir sollten nicht so viel Aufmerksamkeit erregen" meinte Odilon. "Also, wie gehen wir weiter vor?"<br />

„Wir müssen in den Palast rein, anders kommen wir nicht ran an Selbfried. Während der öffentlichen Hinrichtung<br />

etwas zu unternehmen dürfte zu spektakulär sein. Und wenn hier unsere Gesichter auf den Steckbriefen zu sehen<br />

sind kommen wir hier nie wieder weg. Und Selbfried erst recht nicht. Selbst wenn wir ihn befreien können, so wird<br />

ihn der Al´Anfaner Händler wohl kaum mitnehmen, und die Getreidebarke auch nicht“ meinte Odilon.<br />

„Wohl war. Aber wie wir Selbfried zur Flucht außer Landes verhelfen ist eine andere Frage, erst einmal müssen wir<br />

in den Palast reinkommen“ ergänzte Sigismund.<br />

„Wie gesagt, das reinkommen traue ich mir zu. Aber, Sigismund, da hat Odilon recht. Selbst der beste Plan zur<br />

Befreiung Selbfrieds hilft uns nicht, wenn wir nicht aus Elburum rauskommen. Und sobald die Flucht des<br />

Inquisitors bekannt wird werden die hier die ganze Stadt auf den Kopf stellen. Kein Herrscher dieser Welt sieht<br />

tatenlos zu, wenn man in seinen Palast einbricht. Danach wird garantiert kein einziges Schiff auslaufen, ohne dass<br />

man vorher jede Planke und jeden Fetzen Segeltuch durchsucht hätte.“ widersprach Alrik.<br />

„Gut, aber planen wir eines nach dem anderen. Wie willst Du da rein, und wer <strong>von</strong> uns soll Dich begleiten?“ fragte<br />

Sigismund.<br />

„Ich werde heute Nacht den Palast <strong>von</strong> außen ausspähen und mir den Rhythmus der Wachen einprägen. Morgen<br />

Abend beginnen wir den Zugriff, bis dahin werde ich noch ein paar, ähm, Vorbereitungen treffen. Begleiten werden<br />

mich Odilon und Hesindian, keinesfalls mehr, da wir sonst zu auffällig sind. Alle anderen bleiben hier.“<br />

„Hesindian, siehst Du eine Möglichkeit, den Inquisitor zu tarnen für den Fall der Flucht und einer Durchsuchung<br />

des Schiffes?“ wollte Gunelde wissen.<br />

„Ja, wenn sie kei´ Magier beg´eitet.“<br />

Ein Poltern war vom Flur zu hören. Jemand kam die Treppe heraufgestiegen. Nein, zählte Odilon, das waren zwei<br />

Personen. Und sie stolperten mehr als sie gingen. Schon öffnete sich die Tür der Kammer. Alvan ging mit<br />

schlurfenden Schritten auf die Gefährten zu, kicherte und grüßte. „Schon alle da, bei der Schönheit der Welt, ihr<br />

seid aber schnell. Darf ich Euch eine gute Freundin vorstellen? <strong>Das</strong> hier ist Ruramid.“ Alvan deutete auf ihre<br />

Begleiterin, eine auf die vierzig zugehende schwarzhaarige Frau. „Wir haben euch etwas mitgebracht“ Alvan<br />

kicherte noch einmal und stellte zwei Flaschen mit einer klaren Flüssigkeit auf den Tisch. „Edelster maraskanischer<br />

Reiswein, ein wahrer Wundertropfen.“<br />

„Alvana!“ Odilon hatte seine Stimme streng erhoben. „Was soll das? Besaufen kannst Du Dich ein andermal. Jetzt<br />

reiß Dich zusammen!“ Odilon griff nach der Flasche, bevor Sigismund oder Hesindian das tun konnten und stellte<br />

sie außer Reichweite. Sigismund warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, sagte aber nichts. Alvans Begleiterin ließ<br />

sich neben Alrik nieder.<br />

„So Alvan, jetzt erzähl. Aber bitte in geordneter Reihenfolge. Aber vorher nimm Dir noch einen <strong>von</strong> diesen<br />

Minzdrops. Du riechst wie eine Hafenkneipe.“ Alvan gehorchte widerwillig. Wie konnte ihr Vater nur so prüde<br />

sein!<br />

„Gut, was soll ich groß erzählen. Hier in Elburum gibt es schließlich einen Tempel der Zwillinge...“<br />

„Gibt?“ rief Gunelde aus. „Wurde der nicht geschlossen? Ich dachte der Tempel steht leer.“<br />

„Ja, tut er auch. Aber nur für die Augen der Uneingeweihten. Es gibt viele Wege, die Schönheit der Welt zu<br />

mehren.“ Alvan mußte kichern und blickte leicht rot anlaufend zu ihrem Vater. „Tschuldigung. Aber jedenfalls hab<br />

ich dort einen jungen Mann getroffen, der mich aufforderte, mit ihm zu kommen. <strong>Das</strong> hab ich dann gemacht,<br />

schließlich hat er mir angesehen, dass wir den Glauben an Rur und Gror gemeinsam haben. Naja, und zu Gast bei<br />

ihm habe ich dann auch Ruramid getroffen, wir kennen uns noch aus unserer gemeinsamen Zeit, als die Insel noch<br />

<strong>von</strong> den Garethjas geknech... na ja, regiert wurde.“<br />

„Möchte mal wissen, woran sich die Zwillingskultisten erkennen“ dachte Alrik laut. Alvan kicherte wieder.<br />

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„<strong>Das</strong> ist nicht schwer. Wie Du wohl weißt gibt es auf <strong>Maraskan</strong> keine Elfen. Wenn Du eine spitzohrige Frau in<br />

einem Tempel der Zwillinge siehst kannst Du sie daher auch gleich als Bruderschwester Scheyhathjiida<br />

ansprechen“ erläuterte Ruramid und kicherte ebenfalls.<br />

„Scheyhathjiida?“ Alrik stutzte.<br />

„Mein maraskanischer Name“ erklärte Alvan. „Ich habe ihn <strong>von</strong> der Priesterschaft der Zwillinge bekommen, als<br />

ich zum Glauben der Zwillinge konvertiert bin.“<br />

„Und ich kenne Scheyhathjida seit einigen Jahren. Wir sind uns auf meinem Schiff begegnet, Alvana befand sich<br />

darauf, als sie vom Festland nach Tuzak fuhr. Nun ja, Scheyhathjiida hat mir erzählt, dass ihr eine Überfahrt nach<br />

Jergan sucht. Ich kann Euch da weiterhelfen. In zwei oder drei Tagen legt ein Schiff in der Nähe <strong>von</strong> Elburum an.<br />

Der Kapitän ist ein Freund <strong>von</strong> mir, wenn ich ihm versichere, dass es die Schönheit der Welt mehrt, Euch<br />

mitzunehmen, wird er es wohl tun. Er wird auch gewiss nicht zu viel dafür verlangen, gewiss weniger als diese<br />

Getreidebarke in Haffax Diensten.“<br />

„Gut, wenn Alvan diese Passage zur Überfahrt vorschlägt bin auch ich dafür. Ich denke, wir können dem auf alle<br />

Fälle mehr Vertrauen entgegen bringen als dem Handelsschiff, das einem Nebengeschäft mit Sklaven nicht ganz<br />

abgeneigt zu sein scheint. Wir werden noch unter uns darüber beratschlagen, Alvan wird Dir morgen unseren<br />

Entschluss mitteilen.“<br />

Der letzte helle Schein war hinter dem Horizont verschwunden. Alvan war mit Ruramid ´noch eben auf ein Bier´<br />

nach draußen gegangen. Sei´s drum, dachte Odilon. Er konnte das nicht gutheißen, gerade in einer Stadt wie<br />

Elburum, wo man nicht wusste, an wen man gerät. Aber letztlich dachte er, seine Tochter habe sich diese Auszeit<br />

verdient, schließlich hatte sie <strong>von</strong> allen am meisten Strapazen durchgemacht auf der Seereise. Er hatte ihr lediglich<br />

eingeschärft, dass sie in der Bezaubernden Djina bleiben solle. Aber er hatte weiß Gott andere Sorgen. Irgendetwas<br />

stimmte nicht. Es lag etwas in der Luft. Alrik verabschiedete sich um das Umfeld des Moghulipalastes zu<br />

erkunden. Sigismund und Alrike waren auch noch um die Gassen gezogen. Im Gegensatz zu Alvan hatte er<br />

Sigismund einfach ziehen lassen. Er wusste nicht nur, dass der Helligfarn weitaus trinkfester war als seine Tochter<br />

und er wusste auch genau, was Sigismund tun würde in dieser Nacht. Er hatte schließlich Augen im Kopf. Und was<br />

er gemerkt hatte war ihm sehr recht. Denn erstens würde er nicht, wie er es bei Alvan befürchtete, in seinem<br />

Alkoholgenuss etwas verraten, was an die falschen Ohren gelangen könnte. Odilon wusste genau, dass Sigismund,<br />

wenn er etwas getrunken hatte, ausschließlich an Frauen dachte und gar nichts anderes im Sinn hatte das man ihm<br />

entlocken könnte. Und zweitens, und das war ihm noch wichtiger, würde dieser Herumtreiber, der mit seinen<br />

Eskapaden nicht erst einmal den Ruf der Baernfarns geschädigt hatte, dann vielleicht endlich damit aufhören,<br />

seiner Tochter Avancen zu machen. Und wenn Sigismund sich schon ausleben musste, dann doch besser mit der<br />

Matrosin als mit einer dieser Belkelel anbetenden Hafenhuren.<br />

Odilon sah sich um. Der Magus war zu Bett gegangen, und Eckbert unterhielt sich noch mit Undinai. Sehr gut. Er<br />

war den ganzen Abend stets darum bemüht gewesen, der Kapitänin aus dem Weg zu gehen und war ihren Blicken<br />

ganz gezielt ausgewichen. Mit einem leichten Nicken deutete er Gunelde an, ihr zu folgen.<br />

Odilon ging mit Gunelde in das Gemach, dass die Predigerin sich mit ihrem Bruder teilte. „Dir liegt etwas auf dem<br />

Herzen, Odilon, das ist mir nicht entgangen“ begann die Geweihte.<br />

„Ja. Ich war wie Du weißt mit Undinai im Hafen. Undinai hat mich dabei, sagen wir mal so, die ganze Zeit<br />

interessiert gemustert. Sie konnte ihre Augen kaum abwenden <strong>von</strong> mir.“<br />

„Ist doch schön, Odilon. Du solltest Dich darüber freuen. Die Kapitänin ist nicht mehr die jüngste aber nichts desto<br />

trotz sehr attraktiv. Sie hat einen sehr reizvollen Blick.“<br />

„Ich weiß. Ich meine auch nicht, dass es etwas besonderes wäre, dass sich mal eine Frau für einen Mann interessiert<br />

und ihr Interesse kund tut. <strong>Das</strong> macht mir keine Sorgen, deswegen bräuchte ich nicht mit Dir zu reden. Es ist etwas<br />

anderes, das mich beunruhigt. Du als zwölfgöttergeweihte Frau weißt mir vielleicht einen Rat.“<br />

„Na gut, was ist denn dann beunruhigend, dass Undinai Dir den Hof macht. Ich meine, Du wirst auch langsam<br />

älter, auch wenn Du noch keine grauen Haare hast. Genieße das Leben doch einfach.“<br />

„Gunelde, ich lebe zusammen mit Jirka. In den nunmehr in etwa drei Jahrzehnten, die wir uns kennen, habe ich nie<br />

etwas mit einer anderen Frau angefangen, und ich werde das auch jetzt nicht tun. Ich meine, ich habe das nicht aus<br />

Traviafrömmigkeit so gehalten. Ich habe tatsächlich niemals, zu keiner Zeit, etwas in meinem Leben mit Jirka<br />

vermisst, also warum sollte ich mich nach anderen Frauen umsehen. Keine menschliche Frau kann so gut zu mir<br />

sein wie Jirka. Aber darum geht es doch gar nicht. Es war etwas anderes. Etwas in ihrem Blick. Es war nicht<br />

einfach Zuneigung, es war ein... ein tierhaftes Verlangen, dass ich in ihren Augen gesehen habe.“<br />

„Ja, Odilon. Ich hätte auch nicht geglaubt, dass Undinai wirklich Gefühle für Dich entwickelt. Aber sieh es doch<br />

einmal so. Undinai muss sich als Kapitän immer eine gewisse Distanziertheit zu ihrer Mannschaft bewahren.<br />

Deswegen wird sie es an Bord oft erleben, dass ihre Seeleute sich vergnügen. Sie selbst darf daran nicht teilhaben,<br />

wenn sie nicht den Respekt, den die Leute vor ihr haben, aufs Spiel setzen will. Aber natürlich vermisst sie das.<br />

Jeder Mensch würde Zärtlichkeiten vermissen. Du bist ihr, da Du als Anführer unserer Gruppe auftrittst, an Rang in<br />

etwa ebenbürtig. Mit Dir darf sie etwas beginnen, auch wenn noch zwei ihrer Matrosen in der Umgebung sind.“<br />

115


„Mag sein. Ich würde es Undinai auch nicht vorwerfen, wenn dem so wäre. Es ist mehr. Es ist... verstehst Du, mich<br />

überkam ebenfalls ein plötzliches Verlangen. Ich meine, ich habe so etwas noch nie erlebt, weil ich mich außer<br />

nach Jirka nie nach einer anderen Frau gesehnt habe. In all den dreißig Jahren nicht. Und jetzt... Ich habe mir ganz<br />

fest Jirkas Gesicht vor meinem geistigen Auge vorstellen müssen, sonst wären wir in irgendeinem Schuppen<br />

übereinander hergefallen. Weißt Du wie sehr mich das beunruhigt? Ich hätte mich beinahe nicht unter Kontrolle<br />

gehabt.<br />

Weißt Du, Gunelde, was ich befürchte? Ich habe Angst, dass die Versuchung der Verderbten nach uns greift. Auf<br />

der Blutigen See, weißt Du, nach all den Gefechten hatte ich einen so unbändigen und an mir nie gekannten Hass<br />

entwickelt auf die Piraten, dass ich sie ohne Gnade getötet hätte, und vermutlich hätte ich dabei auch noch Freude<br />

empfunden. An sich nichts Bedenkliches, auf den ersten Blick. Ich habe in vielen Gefechten schon viele Menschen<br />

getötet, das bringt eine gewisse Härte mit sich. Aber ich habe noch nie zuvor einen solchen Hass gespürt.“<br />

„Nach dem was sie Deiner Tochter angetan haben ist das aber verständlich. Du brauchst Dir deshalb keine<br />

Vorwürfe machen.“<br />

„Gunelde, ich mache mir keine Vorwürfe. Ich mache mir Sorgen. Sieh Dir Alvan an. Ich weiß dass sie gerne feiert,<br />

singt und tanzt, und auch schon mal eine Affäre hat. Aber ich habe sie noch nie so betrunken gesehen wie heute.“<br />

„Alvan hat eine alte Freundin wieder getroffen, das feiert sie eben besonders ausgelassen.“<br />

„Ja, diese Erklärung drängt sich mir auch auf. Aber auch das ist es nicht allein. Denk an Sigismund. Der Kerl ist ein<br />

Schürzenjäger, eigentlich auch nichts Ungewöhnliches, dass er Alrike umgarnt. Die Matrosin ist hübsch, etwas naiv<br />

und wird ihm sicher bald verfallen sein, ich hab ja gesehen mit welcher Bewunderung sie meinen weltgewandt<br />

auftretenden Verwandten anschaut. Trotzdem, er weiß, dass wir hier aufpassen müssen, wir sind in einem<br />

feindlichen Land! Nein, ich will auch Sigismund keinen Vorwurf machen, eigentlich verhält er sich wirklich<br />

normal. Weitaus normaler als zuvor, als er nur Augen für meine Tochter hatte. Und ich bin froh, dass er sich nun<br />

auf Alrike einlässt anstatt sich mit einer oronischen Frau zu vergnügen. Aber, Gunelde, das ist meine eigentliche<br />

Befürchtung. Denkst Du, dass die unheiligen Präsenzen, die dieses Land beherrschen, unseren Verstand<br />

beeinflussen? Meine Gefühlskälte und mein Hass in der charyptischen See, nunmehr das Verlangen nach Rausch<br />

und Ekstase, die wir hier deutlich verspüren – hast Du den Blick bemerkt, mit dem Dein Bruder Dich vorhin<br />

angeschaut hat? Fast möchte ich meinen, dass er Dich begehrt. Dies ist das Zentrum des Belkelelkultes, ist es nicht<br />

wahrscheinlich, dass diese böse dämonische Präsenz ihre Wirkung auf uns zeigt?“<br />

Gunelde schwieg. Dann nickte sie. „Es wäre möglich. Es gibt hierüber keine gesicherten Erkenntnisse, zumindest<br />

sind mir keine bekannt. Aber es ist denkbar. Jede der erzdämonischen Wesenheiten beeinflusst ihr Umfeld. An den<br />

Pflanzen und Tieren ist das deutlich zu erkennen, denk nur was jetzt auf <strong>Maraskan</strong> wachsen soll, und was für Tiere<br />

die Blutige See bevölkern. Ja, es ist denkbar, dass auch unser Verstand da<strong>von</strong> beeinflusst wird. Aber das ist eine<br />

Hypothese ohne Beweis.“<br />

„Auf alle Fälle müssen wir vorsichtig sein. Vielleicht fällt es uns leichter, jetzt, wo wir um die Gefahr wissen. Aber<br />

wir müssen ein Auge auf die anderen haben. Wir müssen sie warnen. Und wir müssen aufpassen, dass der Magus<br />

nicht wieder zur Flasche greift, ich bin froh, dass er halbwegs entwöhnt ist.“<br />

Alvan starrte auf die Zedrakke, die auf dem Bug den Namen "Harnischgürtler" trug, nicht "Harnischträger" wie<br />

Odilon irrtümlich gemeint hatte - ersteres war der Name einer maraskanischen Echse mit einer Art<br />

Schildkrötenpanzer, die Jahrhunderte alt werden konnte, letzteres die Bezeichnung für einen mittelreichischen<br />

Käfer - da hatte ihr Vater wohl beim Gedanken an die Käferinsel einfach etwas durcheinandergeworfen.<br />

Beschwingt vom vielen Schnaps und Bier, lächelte die Halbelfe hochmütig über ihren Vater und seine Ansichten,<br />

die ihr irgendwie altbacken und provinziell vorkamen. Sein tadelnder, ja beinahe schon spießbürgerlicher Blick, als<br />

sie mit Ruramid die Treppe hinaufgetorkelt kam... Als ob sie, die sicherlich mindestens ebenso viel <strong>von</strong> der Welt<br />

gesehen hatte als er in ihrem Alter, noch immer ein kleines dummes Mädchen wäre, die ständig beschützt werden<br />

musste. Stiller Ärger kam in ihr hoch, ebenso wie ein Rülpser <strong>von</strong> ihrem mit Bier gefüllten Magen.<br />

Leicht schwankend sah sie zu Sigismund, der in hohem Bogen sein Wasser in das Hafenbecken abschlug. "Ja, also,<br />

wir beide machen uns dann mal vom Acker" verkündete der Streuner und hängte seinen Arm um Alrike, die<br />

betrunken (oder lüstern?) grinsend, neben ihm hing. Mit einem mal musste Alvan mit der Eifersucht kämpfen, vor<br />

allem, als sie sah, wie der "Kavalier" seine Beute einfach in die nächste Ecke drängte und sich mit eindeutiger<br />

Absicht an ihr zu schaffen machte wie ein Straßenköter, der ein williges Weibchen gefunden hatte.<br />

"Komm mit, Alvana" Ruramid, die dies alles nicht mitbekommen hatte oder mitbekommen wollte, zog ihre<br />

Gefährtin am Ärmel. "Wir sollten hier nicht versauern. Gehn wir noch mal rüber aufs Festland, dieses Elburial ist<br />

kein guter Ort, um fröhlich zu sein."<br />

Alvan wollte antworten, dass Elburum an sich überhaupt kein guter Ort sei, um zu feiern, stolperte stattdessen aber<br />

klaglos einige Schritte hinter ihrer Bruderschwester hinterher. "Jetz´ noch nach Schi´babil? Is´das nich ein bisschen<br />

gefäh´lich? Ausse´dem ham wir keine Blutrosen mehr. Sin alle verwelkt." Um ein Haar hätte sie bei diesem<br />

Gedanken lauthals losgeweint. Die schönen, schwarzen Rosen, einfach verwelkt!!!<br />

116


"Bei der Schönheit der Welt, in Elburial ist es um diese Zeit noch sehr viel gefährlicher - und vor allem freudloser."<br />

Grinsend zog Ruramid zwei Blutrosen unter ihrer Jacke hervor. "Hier, das sollte genügen."<br />

"Wo has´u die de´ her?"<br />

"Die? Die halten ewig. Sind ja auch aus Papier. So was braucht man schon, wenn man sich an einen derart<br />

einzigartigen Ort bewegen will, ohne sein ganzes <strong>Gold</strong> den bruderlosen Dienern des Äthrajin in den Rachen zu<br />

werfen. Außerdem mag ich die echten nicht, die stechen mir zu sehr. Nachts reicht dieser Trick völlig aus, um die<br />

Oronier zum Narren zu halten. Dann ist ja eh´ kaum noch einer nüchtern."<br />

Die beiden gingen zur Esplanade der Genüsse hinüber, wo es jetzt, kurz vor Mitternacht, lauter und<br />

feuchtfröhlicher zuging als am hellen Tag. Eine schwüle Hitze lag in der Luft, die die Haut prickeln ließ;<br />

schmierige Rauschkrauthändler und die aufdringlichen Anwerber verschiedener Etablissements huschten umher,<br />

um Kunden zu locken. Mehr als einmal musste Ruramid einen besonders dreisten Kerl mit barschen Worten<br />

verscheuchen. Alvan hielt mit der misstrauischen Unsicherheit der Betrunkenen ihren Dukatenbeutel fest, denn das<br />

lärmende Gewimmel um sie herum war buchstäblich atemberaubend. Wenn sie nur Ruramid nicht aus den Augen<br />

verlor.<br />

Alvan gehörte zu den Menschen, die besonders klar dachten und empfanden, wenn sie etwas getrunken hatten -<br />

oder sich dies zumindest gerne einbildeten. <strong>Das</strong> eigentlich Beängstigende an der Szenerie, das spürte sie wohl, war<br />

nicht ihre schrille, mehr an das ferne Güldenland denn aventurische Verhältnisse gemahnende Dekadenz, die grell<br />

geschminkten Gesichter der Männer und Frauen, der erstickende Geruch nach Parfüm, Dreck, Schweiß und<br />

anderen Körperflüssigkeiten, sondern die Aura völliger Normalität, die trotz allem über dem Ganzen lag. <strong>Das</strong> hier<br />

war Alltag - oder besser gesagt All-Nacht - in Elburum. Mehr als einmal spürte sie die gierigen, lüsternen Blicke<br />

eines Mannes (oder war es gar eine Frau, die sie unter dem Schleier hervor musterte?), der über ihren<br />

wohlgeformten Körper und das hübsche Elfengesicht glitt.<br />

Mit einem mal kam alles wieder hoch, die Szene im Mannschaftslogis der Fran-Horas, die groben Arme, der<br />

schlechte Atem der Piraten, die sie festhielten und auf eine Kiste zwangen, das Nesteln an ihrem Gürtel, die<br />

beunruhigende Kühle des Lufthauchs auf ihren entblößten Oberschenkeln, als ihr die Hose heruntergezogen wurde,<br />

die obszön angeschwollenen, aufragenden und schmutzigen Glieder, die ihre angstschwitzenden Beine auseinander<br />

zwangen, die lächerlich plumpen, schmerzhaft reibenden Stöße, mit der sich ihre Peiniger zu befriedigen suchten,<br />

die klatschende Ohrfeige Gions und sein feixendes, glänzendes Gesicht, der sie mit pervalischer Zufriedenheit<br />

musterte.<br />

<strong>Das</strong> eigentlich Entsetzliche an den auf sie einströmenden Gedankenbildern aber war, dass sie das Erlebte jetzt gar<br />

nicht mehr nur als schmutzig und erniedrigend, sondern auch - als lustvoll empfand. Hatte sie in dem Moment, als<br />

der Pirat auf ihr <strong>von</strong> Odilons Pfeil durchbohrt worden und sein Blut über sie gespritzt war und er sich noch im<br />

Todeskampf in ihren Leib ergossen hatte - nicht einen heftigen Herzschlag lang so etwas wie höchste Ekstase<br />

gespürt, ein Gefühl wie Glück darüber, dass dieses Schwein es nun war, das leiden musste?<br />

Körper prallen gegen Alvan, Hände griffen nach ihr, gierige Blicke starrten sie an. Sie schwamm in der<br />

Menschenmenge, wurde <strong>von</strong> ihr getragen. Inständig hoffte sie, dass sie ihr die Kleider vom leib reißen würden,<br />

dass sie zu Boden gestoßen und dass man sich an ihr vergreifen würde - als erstes <strong>von</strong> diesem kräftigen jungen<br />

Krieger mit der levtahnsgefällig behaarten Brust dort -, hier auf der Straße, vor aller Augen, schmerzhaft und<br />

grausam, verschwitzt und schmutzig wie sie war. Alvan stöhnte allein bei dem Gedanken vor Lust und tastete nach<br />

dem Messer in ihrem Gürtel. Im Augenblick der höchsten Erregung würde sie dem Mann dann den Dolch in die<br />

Kehle stoßen und sein warmes, süßes Blut über sie fließen lassen, es mit der fordernden, vibrierenden Zunge<br />

aufflecken und lachend ihre Zähne in seinen Hals graben, um...<br />

Ruramid packte sie an der Schulter, zerrte sie aus der Menge heraus. Alvan war sich nicht ganz klar, ob die Meute<br />

wirklich kurz davor gestanden hatte, über sie herzufallen oder ob dies alles nur Einbildung gewesen war. Langsam<br />

kam sie wieder zu sich, lehnte sich gegen eine Palme, schöpfte Atem. Was war nur in sie gefahren, was für<br />

abscheuliche Gedanken kreisten in ihrem Kopf? Verschämt schlug sie ihre Hände über das Gesicht. Ihr Herz raste<br />

noch immer, nur langsam beruhigte sie sich wieder.<br />

Die Hitze hatte zumindest dafür gesorgt, dass der meiste Alkohol aus ihrem Körper verdunstet war, so dass sie nun<br />

wieder einigermaßen klar denken konnte. Mit gesenktem Blick folgte sie Ruramid in eine Schänke, in der es, dem<br />

Lärmen und Becherklirren nach zu urteilen, besonders hoch her ging.<br />

Alrik umrundete noch immer die Palastanlage, die <strong>von</strong> einer hohen Mauer und schwer bewaffneten Wachen<br />

gesichert war. Ihm schien es, als würde er <strong>von</strong> den Mauerzinnen herab gemustert und beschleunigte seine Schritte<br />

etwas. Die Verbotene Festung - wenn der Anblick vor ihm ein Gemälde gewesen wäre, hätte er es so genannt.<br />

Nein, hier war es mit einem geworfenen Enterhaken und Kletterkünsten nicht getan.<br />

Als geborener Südländer wusste er, dass es unter tulamidischen Städten meistens ein Gewirr alter Gänge gab - wie<br />

nannte man sie in Aranien? Feggagir? - die als geheime Verbindungs- und Fluchtwege, Wasserleitungen oder auch<br />

Kanalisation benutzt wurden. Alrik nahm an, dass zumindest die Festung über derartige Tonröhren verfügte - in<br />

117


Elburum ging man ja recht verschwenderisch mit Wasserspielen und Brunnen um. Zumindest am Meer musste es<br />

doch so etwas wie eine Abwasserleitung geben.<br />

Im alten Hafen lieh sich Alrik ein kleines Boot aus und ruderte zu den Felsen, auf dem der Palast stand. <strong>Das</strong> Meer<br />

war ruhig, die Abendflut gerade hereingekommen. Schaumgekrönte Wellen rollten sanft an Land. Nach dem<br />

süßlichen Gestank des Sündenpfuhls war die Luft hier draußen erfrischend frisch und Alrik atmete sie bei jedem<br />

Riemenzug tief ein.<br />

Mit scharfen Fuchsaugen suchte er das Ufer nach einer auffälligen Öffnung ab, dem verräterischen Glänzen eines<br />

Gitters oder einer eigentümlich gebrochenen Welle. Er versuchte sich möglichst dicht unter Land zu halten - ein<br />

paar Mal schrammte er bedenklich gegen einen Felsen - um der Aufmerksamkeit der Wachen zu entgehen. Der<br />

Nachteil war, dass man hier im Schatten der Felsen weniger sehen konnte als weiter draußen im Mondlicht (Phex<br />

sei Dank, die silberne Himmelsscheibe stand wenigstens voll und rund am Firmament, ganz so, als wolle ihm der<br />

Heimliche den Weg leuchten).<br />

Auch diesmal verließen ihn das Glück und sein Gespür nicht. Als eine besonders heftige Welle <strong>von</strong> etwa einem<br />

Schritt Höhe das Boot erfasste und gegen die Felsen drückte, erklang statt dem Geräusch <strong>von</strong> Holz, das gegen einen<br />

Felsen schlägt, der Klang <strong>von</strong> Holz, das über Metall schrammt. Tatsächlich, hier war ein Gitter in die Felswand<br />

eingelassen, wenn auch der Gang dahinter größtenteils überflutet war. Kein Wunder, dass er es nicht gesehen hatte,<br />

ein regelrechter Vorhang aus Algen und Seetang verbarg es vor neugierigen Blicken. Alrik band das Boot an einem<br />

der schlüpfrigen, stark angerosteten Stäbe fest und überprüfte mit dem Bootshaken, wie tief das Gitter hinabreichte.<br />

Schließlich war er sich seiner Sache einigermaßen sicher. Oben befanden sich gerade wenige Fingerbreit Luft -<br />

wann immer eine Welle hereinkam, war der Gang im Nu <strong>von</strong> einem gurgelnden Wasserschwall überflutet, die<br />

Öffnung selbst mochte insgesamt wenig mehr als anderthalb Schritt Durchmesser aufweisen. Alrik wusste nicht<br />

recht, wie er den Efferdhub einschätzen sollte, aber er ging einmal da<strong>von</strong>, dass das Gitter bei Ebbe nahezu<br />

vollständig frei liegen würde.<br />

Der Mondschatten zückte die Feile, die er in seinem Geheimversteck im Rucksack mit sich geführt hatte und<br />

machte sich ans Werk. Rasch hatte er einen der rostigen Gitterstäbe am oberen Ende durchgefeilt. <strong>Das</strong> andere Ende<br />

musste bei Ebbe folgen. Dann konnte sich ein schlanker Mann wohl hineinzwängen.<br />

Alrik machte sich auf den Rückweg zum Hafenbecken und legte an. Ein Boot würden sie morgen auch noch<br />

benötigen, denn natürlich konnte er diesen Kahn hier nicht jedes Mal aufs Neue ausleihen. Er wollte gerade die<br />

Treppe zum Kai hinaufgehen, als ihn zwei grinsende Rotmäntel erwarteten, <strong>von</strong> denen einer mit einer Armbrust,<br />

der andere mit einem Sklaventod auf ihn zielte. Die Situation ist wohl gerade ein wenig verfänglich, dachte er.<br />

<strong>Das</strong>s er kein Fischer auf nächtlichem Beutezug war, durfte offensichtlich sein.<br />

"Schau mal, da hinten steht Belkelel persönlich und zieht sich gerade aus" lächelte er den Schützen an und wies<br />

über dessen Schulter. Der Aranier, der das Gesagte vielleicht nicht einmal verstand, folgte unwillkürlich der<br />

Bewegung.<br />

Als er wieder auf den merkwürdigen Eindringling starrte, hielt der grinsend einen Armbrustbolzen in der Hand,<br />

brach ihn entzwei und warf die Einzelteile hinter sich ins Hafenbecken. Verblüfft über soviel Dreistigkeit wich der<br />

Oronier erst mal zurück.<br />

"Lasst Ihr mich nun vorbei? Nein? Auch nicht, wenn ich `Bitte´ sage?"<br />

Statt einer Antwort griffen die beiden mit einem Wutschrei an.<br />

Im nächsten Augenblick bemerkte der eine auf den kleinen Wurfstern in seinem Hals - und sank stöhnend in sich<br />

zusammen. Der Khunchomer des Armbrustschützen zuckte herab - ins Leere, denn Alrik war wieselflink zur Seite<br />

gehuscht. Klirrend prallte die Klinge <strong>von</strong> einem Poller ab. Im nächsten Herzschlag warf Alrik <strong>von</strong> hinten eine<br />

Drahtschlinge um den Hals des Wächters und schnürte ihn zu.<br />

Er wartete geduldig, bis der Oronier seinen letzten, röchelnden Atemzug getan hatte - was eine ganze Weile<br />

dauerte. Dann hörte er das Trappeln <strong>von</strong> Schuhen auf der Straße.<br />

Alrik fuhr herum, sah einen Schatten da<strong>von</strong>eilen. Ein zufälliger Zeuge. Der zweite, verbliebene Wurfstern wirbelte<br />

durch die Luft, traf den Fliehenden an der Schulter. Er taumelte schreiend noch einige Schritt, dann zeigte das<br />

Schlafgift Wirkung. Ächzend brach der Mann zusammen.<br />

Alrik schnitt auch dem zweiten Rotmantel die Kehle durch. Der Mann stöhnte bestialisch und riss die Augen auf,<br />

Blut sprudelte aus seinem Mund, so dass der Geweihte seine behandschuhte Hand auf diesen pressen musste.<br />

Mit der Routine des erfahrenen Einbrechers schleifte er seine drei Opfer zu einem alten Lagerhaus - das Schloss an<br />

der Tür war ein besserer Witz - und entkleidete dort den Erdrosselten. Schließlich schnitt er mit dessen Waqquif<br />

auch ihm die Kehle durch.<br />

Wenig später stand er in voller Rüstung eines oronischen Gardisten in der Halle, wo, wie seine Nase ihm früh<br />

verraten hatte, Pech, Werg und Teer für die Ausbesserung <strong>von</strong> Schiffen lagerte. Also genau das, was er brauchte.<br />

Er drückte dem toten Matrosen - dem Aussehen nach hätte er durchaus ein Al´Anfaner sein können (um so besser)<br />

- dessen Messer in die Hand, platzierte ihn neben den beiden Oroniern - nur für den Fall, dass sich hernach jemand<br />

für Spuren interessieren würde -, kippte ein großes Fass um und entzündete ein Stückchen Zunder.<br />

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"Tja, Jungs, Pech gehabt!" lachte er kalt und warf das kleine Flämmchen in die ölige Masse, die sich um den<br />

Armbrustschützen ausbreitete (gerade bei ihm war es wichtig, dass möglichst wenig übrig blieb, bevor sich jemand<br />

nach dem Verbleib einer fehlenden Rüstung erkundigen konnte). Flammen brüllten hoch und Alrik beeilte sich, das<br />

Lagerhaus zu verlassen.<br />

Draußen stieß er beinahe mit einem schwankenden Seemann zusammen, dem ein Geruch wie aus der kaiserlichen<br />

Hofdestille Valpos entströmte.<br />

"Wasch is´n hier los?" lallte der Mann.<br />

"Willst du es wirklich wissen?" lachte Alrik und verpasste dem völlig Verdutzten einen Hieb unter das Kinn. Dies<br />

reichte aus, um den heillos Betrunkenen vollends außer Gefecht zu setzen. Bevor er zusammensinken konnte, hatte<br />

ihn Alrik aufgefangen und ihn in Richtung des Glutofens geschleudert, der sich hinter ihm durch den Luftzug<br />

mächtig anheizte.<br />

Alrik wunderte sich selbst über seine Gefühlskälte, als er die Tür hinter sich schloss. Nein, eigentlich war es gar<br />

keine Gefühlskalte, es hatte ihm sogar ungeheuren Spaß gemacht, die beiden Wachen und die lästigen Zeugen nach<br />

einander zu überwältigen und anschließend alle Spuren zu beseitigen. Es waren doch ohnehin nur verdammte<br />

Schwarzländer - es war das reinste Vergnügen, diesen Abschaum zu töten.<br />

Seine eigenen Kleider im Rucksack, machte er sich fröhlich pfeifend auf den Weg zur Esplanade der Genüsse,<br />

während hinter ihm die ersten Flammen aus der Lagerhalle schlugen.<br />

Versonnen lächelnd sah Alvan auf den kahlgeschorenen Mann, der, die Augen <strong>von</strong> einer Art Scheuklappen<br />

verschlossen und eine regelrechte Kandare im Mund, <strong>von</strong> seiner heillos betrunkenen (oder anderweitig<br />

berauschten) Besitzerin durch den Schankraum geritten wurde - solange, bis er stöhnend und mit aus dem<br />

Mundwinkeln tropfenden Blut zusammensank. <strong>Das</strong> pralle Weibstück, das aussah, wie sich Klein-Alrik die<br />

verruchte Kaiserin Cella vorstellte, schlug noch ein wenig mit ihrer Reitpeitsche auf den Unglücklichen ein - die<br />

Narben auf seinen Rücken verrieten, dass dies nichts Ungewöhnliches war - und ging dann wieder zu einem der<br />

Spieltische zurück, wo um horrende Einsätze gespielt wurde, wie kalt glitzernde <strong>Gold</strong>häuflein neben den<br />

Inrahkarten verrieten.<br />

Nach einigen Bechern Rotwein fühlte sich die junge Halbelfe wieder angenehm betrunken. Immer wieder sah sie<br />

zur Treppe hinauf, wo Ruramid schon vor geraumer Zeit mit einem hübschen jungen Lustknaben verschwunden<br />

war (sie hoffte doch sehr, dass sie sich dort nach Art der Schwester Rahja mit ihm vergnügen und sowohl<br />

"nehmen" als auch "geben" würde).<br />

Verdammt, sie hatte wirklich einen zuviel geladen, und die allgegenwärtigen Rauschkrautdämpfe machten die<br />

Sache nicht erträglicher.<br />

Ihr stierer Blick ging zum Nachbartisch, wo ein fetter, kahlschädeliger Mann einem mädchenhaft aussehenden,<br />

nackten Jüngling unter den obszönsten Flüchen eine Bosparanjerfläschlein den After zu schieben versuchte. Der<br />

Wirt trat an den Tisch: "Mal ein bisschen langsam, mein Freund. Ich will keine Sauereien in meinem Haus, so wie<br />

Flaschen im Arsch abbrechen und ähnlichen Schweinkram. Also, schieb entweder deinen kleinen Belkelelstolz rein<br />

oder lass es ganz bleiben. Mein hübscher Nasul is´ nämlich kein Unfreier." Er wies auf eine völlig verwelkte, sich<br />

in schwarze Krümel auflösende Blutrose auf dem Tisch: "Is´das deine?"<br />

Der Fettsack nickte grunzend - offenbar war auch er nicht mehr vollständig Herr seiner Sinne.<br />

"Solltest dir langsam mal eine neue besorgen, sonst landest du noch vor Sonnenaufgang am Sklavenpfahl. Die<br />

richtige Frisur dazu hast du ja schon. Ich mein nur, is´ bloß eine Empfehlung. Möchte halt, dass mir meine Kunden<br />

erhalten bleiben. Noch einen Schank Schwarzer Wein?"<br />

Der Dicke schnaufte etwas, was wohl als Zustimmung gemeint war.<br />

Alvan nahm erneut einen Schluck Rotwein, der irgendwie bitter schmeckte. Nein, das hier bereitete ihr alles kein<br />

Vergnügen. Es war so - seelenlos. Sie fühlte sich müde, berauscht und wollte nur noch in ihr Zimmer, um sich<br />

auszuschlafen.<br />

Jähe Übelkeit stieg in ihr hoch. Hastig torkelte sie zur Latrine, stieß die Tür auf und spie in hohen Bogen in das<br />

Sitzloch. Danach fühlte sie sich einigermaßen erleichtert, so dass sie wieder zu ihrem Sitzplatz zurückkehren<br />

konnte.<br />

Sie kam gerade rechtzeitig, um den Fettwanst dabei zu erwischen, wie er nach ihrer falschen Blutrose grapschte,<br />

die sie leichtsinnigerweise auf dem Tisch liegen gelassen hatte"<br />

"He, bei der Schönheit der Welt, lass das" zischte sie. "<strong>Das</strong> is´ meine! Kauf dir gefälligst selbst eine, Fettwanst!"<br />

Tatsächlich war gerade ein mohisch aussehender Rosenverkäufer damit beschäftigt, <strong>von</strong> Tisch zu Tisch zu gehen<br />

und seine Ware anzupreisen.<br />

Der Dicke grunzte etwas, was wie eine Verwünschung klang, griff mit geschmacklos beringten Fingern zu seinem<br />

prallen Geldbeutel und drückte sie dem Rosenhändler im Tausch für eine Rose in die Hand.<br />

Dann warf er einen höhnischen Blick auf die durchschnittenen Lederriemen an Alvans Gürtel und rief<br />

überraschend laut und vernehmlich durch den Schankraum: "He, hört mal alle her. <strong>Das</strong> verkotzte Spitzöhrchen<br />

lästert der Herrin der Schwarzfaulen Lust. Der ihre Blutrose ist aus Papier, könnt Ihr euch das vorstellen? So ein<br />

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Betrug - wir zahlen gutes <strong>Gold</strong> und so eine mogelt sich einfach durch."<br />

Mit der ohnmächtigen Teilnahmslosigkeit der Betrunkenen sah Alvan auf die zwei Dutzend Augenpaare, die sie<br />

mit einem mal anstarrten - wie bösartige Raubtiere, die gerade zu ihrer eigenen Überraschung ein leichtes Opfer<br />

erspäht hatten.<br />

"Also gut, Leute, dann kauf ich mir eben eine richtige" lallte sie und griff zu ihrem Dukatenbeutel. Ihre Hand ging<br />

ins Leere. Verdammt, das konnte doch nicht wahr sein? Gestohlen. Noch ehe sie selbst richtig begriffen hatte, was<br />

geschehen war, wurde sie auch schon <strong>von</strong> den beiden Rausschmeißern des Wirts gepackt und mit dem Gesicht<br />

voran auf den Tisch geknallt: "<strong>Das</strong> heißt, das du deine Zeche auch nicht zahlen kannst, Kleine!" zischte dieser<br />

wütend. "Also bist du jetzt die Bezahlung. Nasul, das Rasiermesser."<br />

Als wäre es gar nicht sie selbst, der dies alles geschah, erlebte Alvan, wie ihre Haare abgeschnitten wurden - derart<br />

grob, dass ihr das Blut über den Schädel rann -, ebenso die Augenbrauen. Sie wollte schreien, erst vor Schmerz,<br />

dann nach Ruramid - die würde sie schon auslösen -, aber man hielt ihr einfach den Mund zu, entnervt ob soviel<br />

Aufsässigkeit. Der Gedanke, dass dies im Grunde genau das Gleiche war wie eine Vergewaltigung, wenn nicht<br />

noch schlimmer, lähmte sie wie der Biss einer Spinne. Apathisch ließ sie alles mit sich geschehen.<br />

Die Türsteher zerrten sie nach draußen auf die Straße, begleitet vom Hohngelächter der übrigen Gäste, nicht ohne<br />

dass man ihr dabei noch die Kleider vom Leib riss. Irgendwann stand sie mit zwei anderen Unglücklichen - einer<br />

der beiden jammerte ständig etwas <strong>von</strong> einer Pechsträhne und schlechten Karten - an einem schlichten Holzpfahl,<br />

die Hände über dem kahlen, blutig geschnittenen Schädel festgekettet, so dass ihre zitternden Brüste weithin zu<br />

sehen waren. Gaffende Blicke, Spott und auch einige Speichelspritzer trafen sie.<br />

Eine in schwarzes Leder gekleidete, verschleierte Frau trat in hochschäftigen, glänzenden Stiefeln auf sie zu und<br />

hob ihr Kinn mit einem Peitschenstiel an. Sie fragte den Händler, was er für diese Sklavin verlange, aber<br />

offensichtlich war ihr der Preis zu hoch. Die Belkelel-Priesterin schob zum Abschied ihre schleimige, harte Zunge<br />

in Alvans Mund, lächelte sie echsenhaft an (diese kalten Augen! Wie konnte ein sterblicher Mensch nur so kalte,<br />

herzlose Augen haben?) und ging schulterzuckend ihres Weges.<br />

Schließlich lenkte ein heller Feuerschein über der Esplanade die Gaffer etwas ab, die sich nun nach dieser neuen<br />

Sensation umblickten.<br />

"Geheimpolizei!" schnarrte plötzlich eine Stimme neben ihr. "Die Unfreie dort ist auf Befehl der Moghuli<br />

beschlagnahmt."<br />

Ein Gardist mit blutrotem Mantel war neben den Sklavenhändler getreten - Alvan konnte <strong>von</strong> seinem Gesicht unter<br />

dem Baburiner Hut nur erkennen, dass er eine Augenklappe trug - und deutete mit behandschuhter Hand auf sie.<br />

"Aber..."<br />

"Nichts aber, Freundchen! Oder wollen wir nachher in einem netten lauschigen Keller weiterdiskutieren, zum<br />

Beispiel über deine Obrigkeitstreue?"<br />

"Nnnnnein, bei Belkelel! Ganz bestimmt nicht. Ich höre und gehorche, Effendi"<br />

"<strong>Das</strong> will ich dir auch geraten haben, wenn du morgen nicht selbst mit einem hübschen glatten Kürbisschädel<br />

aufwachen möchtest!"<br />

Der Mann katzbuckelte und beeilte sich, Alvans Ketten zu lösen.<br />

Erst als Alrik sie schon einige Schritt an ihren Ketten durch das Gewühl geführt hatte, erkannte sie ihren Gefährten.<br />

"Alrik, du...wo kommst du her? Un´ wie schausch du denn aus?"<br />

"Halt die Schnauze, Sklavin!" brüllte er laut auf Tulamidya. Leise fügte er hinzu: "Sag jetzt nichts und komm<br />

einfach mit. Du hast Glück - wäre ich nicht zufällig vorbeigekommen, wärst du jetzt schon sonst wo."<br />

Die splitterfasernackte Alvan blieb bockig stehen und sah sich um: "Aber...aber wir müschen auf Ruramid warten."<br />

"Natürlich, und die liebe Dimiona nehmen wir gleich auch noch mit. Komm schon."<br />

"Dimower?" lallte Alvan. "Wer isch das?"<br />

Als Alrik nicht antwortete, fragte sie mit zunehmender Verzweiflung: "Wer isch das? He, sag, wer isch diese<br />

Dimona? Kenn isch die? He, Alrik, warum sprischt du nich mit mir?"<br />

Alrik lachte gequält auf und schüttelte in einem fort den Kopf.<br />

Odilon zuckte hoch, als er erneut Poltern auf der Treppe hörte. Er hatte unruhig geschlafen, was nicht zuletzt an<br />

dem grellen Feuerschein und dem Lärm <strong>von</strong> der Stadt her lag. Es war einiges los da draußen und er hoffte<br />

inständig, dass dies nichts mit seinen Gefährten zu tun hatte.<br />

<strong>Das</strong> Gepolter vor der Tür musste Alvan sein, die <strong>von</strong> ihrer kleinen Zechtour zurückkam. Ärger stieg in ihm hoch.<br />

Sie befanden sich hier in höchster Gefahr, einschließlich ihres Seelenheiles, und seine Tochter führte sich auf wie<br />

ein heranwachsendes, verwöhntes und unreifes Grandentöchterchen.<br />

<strong>Das</strong> erste, was er sah, als die Tür aufging, war ein Sklaventod und ein roter Mantel. Erwischt, schoss es ihm durch<br />

den Kopf. Die Wachen waren auf ihre Spur gekommen. <strong>Das</strong> musste ja alles schief gehen.<br />

Instinktiv griff er zu Wandelur. Er hatte die Klinge gerade halb gezogen, als er im hellen Mondschein das<br />

glückselige, wenn auch aschfahle Gesicht Alvans unter dem oronischen Helm sah. War dies wirklich Alvan? Wo<br />

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war ihr herrliches, wallendes Haar geblieben? Die hübsch geschwungenen Augenbrauen fehlten ebenfalls,<br />

stattdessen klebte dort getrocknetes Blut. Nein, kein Zweifel, seine Tochter hätte er unter tausenden Menschen<br />

wieder erkannt, dafür sorgten schon die spitzen Ohren. Hinter ihr trat nun der abgespannt wirkende Alrik ein und<br />

schloss die Tür.<br />

"Die süße kleine Geheimpolizistin habe ich in Zhinbabil kennen gelernt. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass wir<br />

uns hier ein wenig amüsieren? Ich hätte sie auch nackt hier rein führen können, aber das fand ich dann doch ein<br />

wenig unangemessen."<br />

"Alvan, was soll das? Wie siehst du denn aus?"<br />

"Dimona, isch glaube, die Polischischin heissch´ Dimona" lallte sie. "Isch bin müde, isch will schlaf´n!"<br />

"Leg sie auf mein Bett" kommandierte Odilon. "Und dann erwarte ich einen Bericht."<br />

Eigentlich hätte sich Odilon die Mühe sparen können, mit dem ersten Sonnenstrahl aufzustehen. Alvan schlief noch<br />

tief und fest, und auch aus den anderen Kammern vernahm er nur gleichmäßige ruhige Atemzüge. Dennoch<br />

unternahm er im ersten Morgenlicht einen Spaziergang durch Elburial, erstand bei einem Bäcker frische Pidas und<br />

kaufte auch noch Obst ein und zuletzt noch einen Burnus für Alvan, bevor er dann zur Herberge zurückkehrte. Er<br />

freute sich, zumindest Gunelde und Hesindian wach zu sehen. Alrik schlief noch. Gut, dem gestand er es zu,<br />

schließlich hatte er gestern nicht nur einen Zugang zur Burg ausfindig gemacht, sondern auch noch seine närrische<br />

Tochter gerettet. Sigismund und Alrike lagen noch zusammen im Bett, und auch <strong>von</strong> Eckbert und Undinai hatte er<br />

noch nichts gesehen. Und mit Alvan würde er ohnehin noch ein Wörtchen reden müssen. Odilon bedachte die<br />

schlafende Halbelfe mit einem zornigen Blick.<br />

Aber Odilon wollte so früh aufstehen. Es war die Lebensweise aller Naturvölker, ihren Tagesrhythmus nach der<br />

Sonne auszurichten. Und Odilon hatte diesen Rhythmus <strong>von</strong> den Nivesen und <strong>von</strong> den Elfen, bei denen er eine Zeit<br />

seines Lebens verbracht hatte, übernommen. Und jetzt hatte er sich vorgenommen, sich sehr streng daran zu halten.<br />

Denn so würde er gar nicht erst in Versuchung geraten, dieses lasterhafte Treiben Orons auf sich wirken zu lassen.<br />

Es ging schon auf die Mittagsstunde zu, als endlich Leben in die Schläfer kam. Undinai und Eckbert betraten den<br />

Raum. „Heute Nachmittag läuft die „Schwarze Meerbraut“ mit der Flut nach Al´Anfa aus, und wir werden dann<br />

wie vereinbart an Bord gehen. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr. Aber ich möchte mich dennoch bedanken für unsere<br />

Rettung und für die Hilfe. Und Euch natürlich viel Glück auf der Weiterreise wünschen.“ Odilons und Undinais<br />

Blicke trafen sich kurz, wichen einander aber aus. Nach dem gestrigen Ereignis und der letztendlichen<br />

Zurückweisung der Kapitänin begegneten beide einander sehr förmlich.<br />

„Ja gut, dann werde ich jetzt mal die anderen aus den Betten holen, damit sie nicht den Abschied verschlafen.“<br />

Odilon wandte sich zur Tür. Man konnte deutlich vernehmen, wie der Waldläufer an die Türen der benachbarten<br />

Zimmer pochte.<br />

Gunelde rüttelte Alvan wach. Die Halbelfe erwachte mit einem verwirrten und teilnahmslosen Gesichtsausdruck<br />

und sah Gunelde fragend an. Es dauerte einige Minuten, bis Alvan einen klaren Gedanken fassen konnte.<br />

Sigismund und Alrike – beide sahen übermüdet aus, wiesen aber einen sehr glückseligen Gesichtsausdruck auf –<br />

betraten zeitgleich mit Alrik das Zimmer. Alvan war noch immer reichlich benommen.<br />

„Was ist?“<br />

„Steh auf, Alvan, es ist schon spät“ sagte Gunelde. Gleichzeitig bekam Alvan etwas Weiches ins Gesicht.<br />

„Hier, Alvan, zieh Dich an. Wir müssen uns beratschlagen, und Du hast jetzt lang genug gepennt!“ Odilon war<br />

sichtlich ungehalten. Seine Tochter gehorchte und zog sich mit linkischen Bewegungen den Burnus über, ihren<br />

Bewegungen und ihrem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass sie noch völlig verwirrt war und gar nicht so recht<br />

wusste, was man denn <strong>von</strong> ihr wollte.<br />

„Nun, zuerst werden heute die drei Matrosen <strong>von</strong> uns gehen. <strong>Das</strong> Schiff nach Khunchom läuft in einigen Stunden<br />

aus, die drei müssen ihre Sachen packen und an Bord gehen. Und dann werden wir uns überlegen, wie wir<br />

Selbfried da rausholen. Alrik und ich werden heute Nacht in die Burg gehen. Und Hesindian wohl auch. Und Du,<br />

Sigismund, wirst Dich mit Alvan um unsere Weiterreise kümmern. Alvan muss noch erfragen, wann Ruramids<br />

Schiff ablegt, und wo wir aufgenommen werden können. Ich würde einer Seereise an Bord eines maraskanischen<br />

Schmugglers jedenfalls allemal den Vorzug geben vor einer Getreidekaravelle, die vermutlich genau kontrolliert<br />

wird beim Auslaufen. Vor allem wenn wir den Inquisitor bei uns haben sollten. Naja, ich würde das normalerweise<br />

Alvan alleine machen lassen. Aber mit ihrer derzeitigen Haarpracht geht das nicht. Also musst Du sie als Deine<br />

Sklavin ausgeben, Sigismund, denn allein ohne Herrn kann man sie ja wohl kaum durch die Stadt laufen lassen.“<br />

Alvan fasste sich an den Kopf. Wo waren ihre Haare? Sie wollte fragen, entschied sich dann aber doch dagegen<br />

und schwieg. Es schien ein großer Stein auf ihrer Stirn zu liegen, der einfach nicht herunter fallen wollte. Und dort,<br />

wo die Erinnerung an gestern Abend sein sollte klaffte nur ein großes schwarzes Loch. <strong>Das</strong>s sich die drei Matrosen<br />

<strong>von</strong> den Darpatiern verabschiedeten bekam sie kaum mit, auch nicht den hingebungsvollen Abschiedskuss, mit<br />

dem Alrike Sigismund bedachte.<br />

Odilon atmete sichtlich auf, als die Seeleute der Greif <strong>von</strong> Beilunk endlich gegangen waren. Er war froh, jetzt auf<br />

drei Personen weniger aufpassen zu müssen, und er war insbesondere froh, dass Undinai nicht mehr da war. Er<br />

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schämte sich vor sich selber für das Begehren, dass die Kapitänin für ihn gezeigte hatte und das er beinahe erwidert<br />

hätte. Und er war froh, dass Sigismund jetzt nicht mehr abgelenkt war. Jetzt endlich fand er die Ruhe und die Zeit,<br />

die anderen über seinen Befürchtungen, was dämonische Präsenzen und deren Einfluss auf ihr Verhalten betraf, zu<br />

informieren.<br />

Heute würde noch ein anstrengender und vor allem langer Tag werden. Alvan und Sigismund würden sich um die<br />

Kontakte zu den <strong>Maraskan</strong>ern kümmern. Alvan würde mit Ruramid alles weitere vereinbaren und den Preis für die<br />

Überfahrt aushandeln. Alvan sollte dann dort am Treffpunkt ausharren und sich versteckt halten, während<br />

Sigismund zurückkehren und die Gefährten informieren sollte.<br />

Alrik würde mit Odilon und Hesindian das Wagnis unternehmen, Selbfried zu befreien. Dafür würden sie zuerst<br />

noch ein Boot ausleihen und ein paar Kleinigkeiten besorgen müssen. <strong>Das</strong> Kommandounternehmen selbst sollte<br />

kurz nach Einbruch der Dunkelheit beginnen, solange das Wasser noch nicht so hoch stand – die Ebbe erreichte<br />

ihren tiefsten Stand zur achten Stunde, hier im südlichen Oron war es um diese Zeit schon finster. Die drei würden<br />

in den Gang eindringen und dann sehen, was sich machen ließe.<br />

Gunelde würde in der Bezaubernden Djina bleiben und dort auf die wenigen Habseligkeiten acht geben und als<br />

Kontakt für beide Gruppen zur Verfügung stehen.<br />

Wenn es gelang, Selbfried zu befreien, dann würden sie alle umgehend die Stadt verlassen. Per Boot verstand sich,<br />

da die Stadttore zur Nachtzeit geschlossen waren. Odilon würde die Gefährten am Ufer unweit der Stadt aussetzen<br />

und dann selbst das Boot zurückfahren, schließlich durfte ein fehlendes Boot nicht einen möglichen Fluchtweg<br />

verraten. Odilon konnte sich lebhaft vorstellen, was in der Stadt passieren wird, wenn man <strong>von</strong> Selbfrieds Flucht<br />

erfuhr. Bevor es dazu kam müßten sie Elburum bereits verlassen haben. Odilon selbst würde dann zu den Gefährten<br />

schwimmen – <strong>von</strong> Elburials Südspitze waren es nur etwa zweihundert Schritt zum Ufer, und dann würde sie<br />

Sigismund zu Alvan führen, wo morgen das Schmugglerschiff anlegen würde.<br />

Am Nachmittag legten sich Alrik und Hesindian noch eine Weile hin, um am Abend richtig ausgeschlafen zu sein.<br />

Odilon nutzte die Zeit, um schon einmal ein geeignetes Ruderboot ausfindig zu machen. Im Norden Elburials<br />

hatten einige Fischer ihre Bootshäuser stehen. Diese ließen sich leicht aufbrechen, wie Odilon erleichtert feststellte.<br />

Und Ruderboote gab es dort genug. Wenn sie sich in der Nacht ein Boot borgen würden, so hätten sie wohl bis zur<br />

vierten Morgenstunde Zeit, ehe es dem Besitzer auffiel. Odilon merkte sich die Positionen der Boote. Danach<br />

lenkte er seine Schritte zum Hafen. Er wusste nicht so Recht was ihn dorthin zog, aber letztlich hatte er ohnehin bis<br />

zum Abend nichts zu tun, und er konnte jetzt ohnehin nicht schlafen wie seine Gefährten. Er kam gerade rechtzeitig<br />

im Hafen an, um den Al´Anfanischen Kauffahrer ablegen zu sehen. Die Matrosen an Deck hatten viel zu tun, es<br />

war ein herrlicher Anblick zu sehen, wie die Segel gesetzt wurden und die großen schwarzen Tücher sich füllten.<br />

Odilon erspähte Undinai an Deck, den Blick in die Ferne gerichtet, und auch Eckbert sah er an der Reling stehen.<br />

Alrike konnte er nicht erkennen, aber er konnte ja auch nicht <strong>von</strong> seinem Standpunkt aus das ganze Deck einsehen.<br />

Am Pier vertäut lag noch die Harnischgürtler. Odilon sah, wie schwere Säcke mit Korn auf das Schiff verladen<br />

wurden. Odilon lächelte. Vielleicht war es doch wahr, was Alvan ihm erzählt hatte über den Nahrungsmangel im<br />

besetzten <strong>Maraskan</strong>. Alvan hatte einmal erwähnt, dass die neuen Herren <strong>Maraskan</strong>s es noch weniger als zuvor die<br />

Garethjas verstanden, im Dschungel Felder anzulegen und Getreide anzubauen, daher war die Fürstkomturei <strong>von</strong><br />

Lieferungen aus Oron abhängig, die sie teuer erkaufen mussten. Wenn er ein garethischer Feldherr wäre, er würde<br />

es sich überlegen, ob man anstatt über die Schwarze Sichel und die Trollzacken Schwarztobrien zu befreien besser<br />

gemeinsam mit Aranien Oron als militärisch schwächstes, aber Wirtschaftlich bedeutendes Land der<br />

Heptarchenreiche angreifen sollte. Eine Befreiung Orons hätte eine demoralisierende Wirkung auf die Söldnerheere<br />

des Feindes, verstärkt durch eine beginnende Nahrungsmittelknappheit wäre das vielleicht ein entscheidender<br />

Schlag gegen die Erben des Bethaniers.<br />

Etwas hatte Odilon herausgerissen aus seinen Gedanken. Irgendetwas war da, was er nur aus den Augenwinkeln<br />

gesehen hatte. Odilon drehte sich zur Seite. Dort sah er nur die Harnischgürtler, daran war nichts Auffälliges. Die<br />

Heckaufbauten, vermutlich Offiziersmesse und Kapitänskajüte. Durch das Fenster sah er Gestalten darin, die aber<br />

zu weit weg waren, um sie wirklich sehen zu können. Da, die Tür ging auf und die Gestalten kamen heraus und<br />

schüttelten sich die Hand. Mercurio! Einer der beiden war Mercurio. Odilon näherte sich wie schlendernd den<br />

Verkaufsständen der Fischer. Wenn Mercurio <strong>von</strong> Bord ging wollte er sich in der Masse der Menschen hier<br />

verbergen und beobachten. Mercurio an Bord der Harnischgürtler! <strong>Das</strong> konnte nur bedeuten, dass der Pirat sich<br />

nach einer Überfahrt nach Jergan erkundigt hatte! Im Stillen beglückwünschte sich Odilon zu seiner Entscheidung,<br />

dass es besser sei mit maraskanischen Schmugglern überzusetzen.<br />

Mercurio ging <strong>von</strong> Bord und wandte sich zielstrebig den Gassen Zhinbabils zu. Offenbar wollte er zum Brünstigen<br />

Kamel. Odilon hatte genug gesehen. Er beschloß, zurück zu gehen, noch ein wenig Proviant zu besorgen, und dann<br />

wäre es ohnehin schon fast Zeit für den nächtlichen Plan. Als Odilon endlich die Bezaubernde Djina erreichte<br />

dämmerte es schon. Alvan und Sigismund waren schon gegangen um ihren Teil der Aufgabe zu erledigen. Odilon<br />

weckte Alrik und Hesindian.<br />

122


Alvan und Sigismund gingen zum Rur- und Gror-Tempel hinüber, der offiziell leer stand und mit Brettern<br />

vernagelt war. Aber dennoch trieben sich in seiner Nähe immer ein paar komische Gestalten in papageienbunter<br />

Kleidung und mit merkwürdig bizarrer Haarpracht herum, deren Geschnatter sie als versprengte Exil-<strong>Maraskan</strong>er<br />

aufwies, die in der Nähe ihres alten Heiligtums den Kladj pflegten.<br />

Bald hatten sie Ruramid gefunden, in einer Fischerhütte am Nordende <strong>von</strong> Elburial - zumindest sah die<br />

unscheinbare Kate mit ihren vor der Haustür aufgespannten Netzen wie eine Fischerhütte aus (dass die<br />

Trockengestelle einen ausgezeichneten Sichtschutz darstellten, fiel Alvan erst beim Eintreten auf). Die<br />

<strong>Maraskan</strong>erin war zunächst erschrocken, als sie Alvan kahlgeschoren vor sich stehen sah, aber dann heilfroh, dass<br />

dennoch alles glimpflich ausgegangen war - sie hatte sich bereits schwere Selbstvorwürfe gemacht und in der<br />

halben Stadt Erkundigungen nach Alvan eingeholt. Rasch hatte der alte Fischer einige echt maraskanische<br />

Spezialitäten aufgetischt - Sigismund brach beim ersten Bissen röchelnd zusammen und griff unter dem höhnischen<br />

Blicken der Anwesenden nach dem Wasserkrug auf dem Tisch, um seinen Inhalt in einem Zug herunter zu stürzen<br />

- und es wurde - zumindest <strong>von</strong> den Handvoll <strong>Maraskan</strong>ern im Raum - zwanglos zu Mittag gegessen. Die,<br />

ungemein "belebenden" Gewürze - zumindest hätte sie ein <strong>Maraskan</strong>er so empfunden (Sigismunds Kopf hatte sich<br />

mittlerweile krebsrot gefärbt) - in den farbenfrohen Pastetchen und Fladen verjagten Alvans niederhöllischen<br />

Werwolf rasch. In knappen Worten berichtete die Halbelfe ihrer Freundin aus alten Tagen, was vorgefallen war.<br />

"Hast Glück gehabt, Bruderschwester" Ruramid musterte ihre Gegenüber. "Normalerweise brennen sie den Sklaven<br />

als erstes ein Zeichen ihres Standes ins Gesicht, in deinem Fall wohl eine Hand. Scheinen die Bruderlosen in der<br />

Eile ganz vergessen zu haben. Nun ja, tröste dich, dein Haar wächst wieder nach<br />

wie der Dschungel alle gerodeten Stellen binnen Jahr und Tag wieder überwuchert."<br />

Alvan erfuhr, dass das Schmugglerschiff - es trug den hübschen Namen "Nachtwind" - morgen Abend in einer<br />

kleinen Bucht drei Meilen nördlich Elburum anlegen würde. Wenn Alvans Gefährten mit dem Boot einfach die<br />

Küste entlang fahren würden, konnten sie den Treffpunkt schwerlich verfehlen. Ein Boot bräuchten sie auch noch?<br />

Kein Problem - ein Blick zum "Hauswirt", der begütigend nickte und grinste zum keuchenden Sigismund starrte -<br />

Mulziber könne ein entbehrliches Bötchen auftreiben. Sie sollten einfach nur Netze mitnehmen und eine Laterne<br />

entzünden, dann würde sie jeder für Fischer auf nächtlichem Fischzug halten.<br />

Ruramid hatte bei ihrem Streifzug durch das vormittägliche Elburum einige interessante Neuigkeiten<br />

herausgefunden. Zum einen, dass die Geheimpolizei in heller Aufregung war wegen des Verschwindens zweier<br />

ihrer Mitglieder, deren Leichen neben einer weiteren in der abgebrannten Lagerhalle vermutet wurden. Neben der<br />

rauchenden Ruine sei ein seelenruhig schlafender Matrose gefunden wurden, leicht angeschmort und<br />

rußverschmiert zwar, aber ansonsten unverletzt, der offenbar so betrunken gewesen war, dass er sich an rein gar<br />

nichts erinnern konnte (Alvan lächelte schamvoll- offenbar hatte dieser ihr nur zu gut bekannte Zustand auch einige<br />

Vorteile). Vorsichtshalber habe man den Mann verhaftet und ihn zum Verhör in den Palast gebracht. Hartnäckig<br />

halte sich das Gerücht, dass mehrere Infiltratoren aus Rest-Aranien in die Stadt eingedrungen sein sollten, darunter<br />

eine Perainedienerin. Erst vor einer Stunde seien mehrere der Gardisten an Bord eines xeraanischen Piratenschiffes<br />

namens "Fliegender Thorwaler" gesehen worden.<br />

"Du siehst, es wird für Euch tatsächlich langsam Zeit, zu verschwinden. Ich würde sagen, noch zwei bis drei Tage,<br />

dann haben die Rotmäntel euch im Netz, wenn ihr euch weiterhin auffallend benehmt, entsprechend kürzer. Spitzel<br />

hat es hier jedenfalls wie Sand am Meer. Die Häscher dieses verfluchten Farviriol sind nicht dumm, die verstehen<br />

ihr Handwerk, auch wenn sie mittlerweile, wie soll ich sagen, ein wenig selbstgefällig geworden sind und hier oder<br />

da schon mal ein kleines Fischchen durch die Maschen schlüpfen lassen. Kleine Fischlein wie wir paar<br />

maraskanische Quertreiber eben, die nicht wirklich mitmachen bei all dem Abscheulichen hier, ohne deswegen<br />

gleich Widerstand zu leisten. Aber das Großfeuer gestern und die beiden toten Geheimpolizisten, das alles riecht<br />

ein bisschen zu sehr nach Aufruhr, die Sache ist ihnen zu heiß, im wahrsten Sinne des Wortes. Noch Tee? Echte<br />

Sinoda-Ernte."<br />

"Danke, sehr gern" Alvan schnupperte an dem Schälchen und merkte, wie schon der würzige Duft etwas <strong>von</strong> ihrem<br />

Dumpfschädel vertrieb. "Wer ist dieser Favi...Farviriol?"<br />

"Farviriol Krähenschwinge. <strong>Das</strong> Oberhaupt der Geheimpolizei. Ein verrückter Elf, ein Folterer und Henker ganz<br />

nach dem Geschmack der Einen und Einzigen." Ruramid betonte den landesüblichen Beinamen der Erzdämonin<br />

mit einem höhnischen Lächeln, wohl wissend, dass er nach maraskanischer Weltsicht eine schwere Beleidigung<br />

darstellte. "Da du selbst spitze Ohren trägst, würdest du ihn vermutlich - wie hast du Elburum gestern genannt? -<br />

badosch nennen."<br />

"Badoc?"<br />

"Ja, badoc."<br />

"Wer oder was ist hier eigentlich nicht badoc? Ach ja, hast du etwas <strong>von</strong> diesem Mercurio gehört?"<br />

"Angeblich soll ihm die Satrapa Merisa nahegelegt haben, möglichst schnell aus Elburum zu verschwinden. Keine<br />

Stadt sieht gerne fremde Piraten in ihrem Hafen herumspazieren."<br />

123


"Ich dachte, er würde das Vertrauen der Moghuli Dimiona genießen?" Einen Augenblick stutzte Alvan. Dimiona -<br />

irgendetwas Besonderes verband sie mit diesem Namen, etwas, was im feuchtfröhlichen Trubel des gestrigen<br />

Abends untergegangen war. "Hat sie ihn nicht mit <strong>Gold</strong> überschüttet für den Inquisitor?"<br />

Ruramid schüttelte den Kopf. "Dimiona? Nein, unsere geliebte Moghuli hält sich nur sehr selten in ihrer Hauptstadt<br />

auf. Die meiste Zeit residiert sie in Keshal Taref, einem Kloster in den Bergen östlich der Stadt, wo ziemlich<br />

einzigartige Dinge geschehen sollen, um es einmal so auszudrücken." Die <strong>Maraskan</strong>erin schlürfte ihren Tee. "Ich<br />

will eure Pläne nicht durcheinanderbringen, Schwester, aber ich halte es für gut möglich, dass Merisa einen derart<br />

hochrangigen Gefangenen ihrer Herrin als Geschenk überreichen möchte. Einen leibhaftigen Inquisitor der<br />

Praioskirche fängt man nicht alle Tage. <strong>Das</strong> heißt, dass sich dieser Selbfriedjin vielleicht schon in Keshal Taref<br />

oder bald auf dem Weg dorthin befindet."<br />

"Was ist das für ein merkwürdiges Kloster? Kommt man da irgendwie rein?"<br />

Ruramid blickte entsetzt. "Denk gar nicht erst daran. Dieser Ort ist der Einen und Einzigen geweiht, ich meine, <strong>von</strong><br />

Grund auf geweiht" Diesmal klang der Name nicht mehr ironisch, sondern schreckerfüllt. "Nach allem, was man so<br />

hört, wimmelt es dort nur <strong>von</strong> Wesenheiten aus dem Äthrajin. Wirklich Unaussprechliches ereignet sich in Keshal<br />

Taref. Dinge, die unsere Macht und unseren Verstand übertreffen. Nein, niemand, der noch einigermaßen klar<br />

denkt, geht freiwillig dort hin." Ruramid geriet ins Stocken und brach ab.<br />

"<strong>Das</strong> heißt, wir müssen uns wirklich beeilen" antwortete Alvan trocken.<br />

"Was ist eigentlich euer genauer Plan?"<br />

Alvan sah irritiert in die Runde, wo ein halbes Dutzend Ohrenpaare mit hörte und ein halbes Dutzend Augenpaare<br />

in alle möglichen Richtungen starrte.<br />

"Keine Sorge, du kannst uns vertrauen. Wir alle hier hassen die Bruderlosen, die unsere alten Heimat knechten und<br />

die Schönheit der Welt mit ihrem Treiben beleidigen."<br />

"Nun, Alrik hat am Meer einen Tunnel entdeckt, durch den wollen wir heute Nacht in die Festung eindringen."<br />

"Mehr nicht? <strong>Das</strong> ist euer ganzer Plan?"<br />

"Nun ja, das ist immerhin schon einmal etwas, oder?" Alvan war fast ein wenig beleidigt ob der Zurückweisung,<br />

die in Ruramids Worten lag.<br />

Der Fischer mischte sich ein und sprach mit kehliger Stimme auf Tulamidya: "Verzeih, aber ich kenne diesen<br />

Tunnel, schon aus der Zeit bevor die Schwarzroten die Macht übernommen haben. Er ist die meiste Zeit überflutet,<br />

auch bei Ebbe steht das Wasser ziemlich hoch. Wir bekommen frischen Ostwind. Heute Nacht werden die Wellen<br />

also ziemlich hoch schlagen. Ihr werdet Mühe haben, hinein zu kommen, und wenn ihr es bis zur nächsten Flut<br />

nicht zurück schafft, seid ihr verloren."<br />

"Was ist das für ein Tunnel?"<br />

"Ein alter Abwasserkanal. Jetzt fließt dort auch sehr viel Blut heraus und lockt Haie an. Außerdem ist <strong>von</strong> der<br />

Palastmauer aus sehr gut einsehbar, was vor seinem Eingang passiert."<br />

"Nun, Shorioth ist nicht ganz so hermetisch abgeriegelt, wie es den Anschein hat" mischte sich wieder Ruramid<br />

ein. "Ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der oben im Palast der Satrapa ein und ausgeht. Gib mir bis heute<br />

Abend Zeit, dann kann ich dir vielleicht sagen, ob der Inquisitor sich überhaupt noch in Elburum befindet."<br />

Alvan überlegte. <strong>Das</strong> alles klang vernünftig. Sie wussten ja überhaupt nicht, auf was sie sich mit ihrem Plan<br />

einließen - sie hatten bis vor kurzem nicht einmal gewusst, dass Dimiona überhaupt nicht in der Stadt weilte. Und<br />

sie hatten keine Ahnung, wohin dieser ominöse Gang überhaupt führte - während auf der anderen Seite jeder sofort<br />

erkennen würde, woher die durchnässten und übelriechenden Fremden kamen.<br />

"Ich danke Dir. Wie kann das alles nur wieder gut machen?"<br />

"O, du hast für unsere Sache schon genug geleistet, glaub mir - sehr wertvolle Dienste." Ruramid zwinkerte<br />

verschwörerisch. "Man sieht sich vielleicht irgendwann mal wieder und dann... Komm heute Abend kurz vor<br />

Sonnenuntergang wieder, dann weiß ich mehr."<br />

Es war etwa zweite Hesindestunde, als Alvan mit Sigismund zurückkehrte. Sie war ein wenig früh dran, und<br />

tatsächlich befand sich Ruramid noch nicht vor Ort. Die beiden vertraten sich ein wenig die Beine und sahen den<br />

schmutzigen Möwen hinterher, die kreischend über dem Perlenmeer schaukelten.<br />

Schließlich eilte Ruramid herbei und winkte die Gefährten ohne ein weiteres Wort ins Haus. Dort nickte sie eifrig.<br />

"Ja, es war gut, dass ich Nachforschungen angestellt habe."<br />

"Befindet sich der Inquisitor noch in Elburum?"<br />

Ruramid nickte. "Sie haben in den letzten beiden Tagen seine `Rittigkeit´ ein wenig verbessert, wie man<br />

hierzulande sagt. <strong>Das</strong> heißt, gefoltert, um seinen Widerstand zu brechen. Und ja, er soll der Moghuli Dimiona zum<br />

Geschenk gemacht und nach Keshal Taref gebracht werden. Zurzeit befindet er sich offenbar in der `Schule der<br />

Schmerzen´, wo man ihn wieder transportfähig macht."<br />

Alvan hatte den Namen der oronischen Magierakademie schon mal irgendwo gehört.<br />

"Wo liegt die?"<br />

124


"Auch oben in Shorioth. Fast noch unzugänglicher als der Palast der Satrapa, würde ich sagen. Zumindest halten<br />

dort Magier die Wacht."<br />

"Und wer war dein Informant? Ich meine, der aus Shorioth?"<br />

"Ein Diener, keiner <strong>von</strong> der Speichelleckern der Satrapa. Genauer gesagt ein Stallknecht. Er hat aufgeschnappt, das<br />

heute Abend, bei Einbruch der Dunkelheit, ein Kutschentransport abgehen soll begleitet <strong>von</strong> sechs Rotmänteln.<br />

Jedenfalls sollen so viele <strong>von</strong> ihren Reitpferden gesattelt werden. Außerdem wurde befohlen, eine Kutsche für den<br />

Gefangenentransport anzuspannen und nur solche Pferde zu nehmen, die an Wesen aus dem Äthrajin gewöhnt sind.<br />

Vermutlich werden also auch einige ihrer verfluchten Hunde und ein Magier mit dabei sein. <strong>Das</strong> alles deutet darauf<br />

hin, dass der Inquisitor in nächster Zeit nach Keshal Taref verlegt werden soll."<br />

"Was meinst du mit verfluchten Hunden?"<br />

"Scheußliche, kläffende, schwarzglänzende Viecher... mit Riesendingern... du weißt schon... die ihre Opfer<br />

bespringen und dadurch Schrecken verbreiten. Ich glaube nicht, dass Rur sie gemacht hat. Sie kommen gewiss <strong>von</strong><br />

anderswo her."<br />

"Gewiss."<br />

Alvan sah durch das kleine Fensterchen nach draußen. Der Himmel hatte sich bereits rötlich gefärbt, bis Einbruch<br />

der Dunkelheit war es bestenfalls noch eine Stunde hin.<br />

Ruramid beugte sich vor. "Eigentlich sollte der Transport erst morgen abgehen, aber oben im Palast ist man<br />

beunruhigt, weil man das Eindringen fremder Spione befürchtet. Eine der Wachen will gestern Nacht gesehen<br />

haben, wie ein verdächtiges Boot vor dem Palast auf und ab gefahren ist. Sie schärfen der Dienerschaft ein, auf<br />

uniformierte Unbekannte zu achten und sie sofort weiterzumelden, weil die Spione sehr wahrscheinlich über die<br />

gestohlene Rüstung eines Rotmantels verfügen würden. Ohne diese Warnung hätte der Bursche die ganze<br />

Aufregung gar nicht mitbekommen. Um ganz sicher zu gehen, bringt man den Inquisitor jetzt schon fort.<br />

Zumindest ist das meine Deutung."<br />

Alvan dachte scharf nach. Die Geheimpolizei hatte bislang gute Arbeit geleistet. Sogar das Fehlen einer Rüstung<br />

hatte sie ermittelt. Irgendwie konnte sie heißen Atem der Verfolger schon in ihrem Nacken spüren. Was war zu<br />

tun? Den Oroniern war der Verlauf des Tunnels sicherlich bekannt und wenn sie sich wegen eines unbekannten<br />

Bootes vor der Küste beunruhigten, mussten sie damit rechnen, dass ihre Gegner diesen Zugang in die Burg<br />

überbewachen würden. Hatten die Rotmäntel am Ende vielleicht sogar schon ihren Stützpunkt in Elburial<br />

ausfindig gemacht? Nicht sehr wahrscheinlich, dachte die Baernfarn. Wenn sie den Inquisitor frühzeitig<br />

wegbringen, heißt das wohl, dass ihre Nachforschungen noch nicht allzu weit gediehen sein konnten. Elburial war<br />

bei aller lärmenden Schäbigkeit zumindest ein sehr guter Ort, um unter zu tauchen. Jeder der farbenfrohen<br />

Schlagetots und waffenklirrenden Glücksritter draußen in den Gassen konnte der Handlanger einer ausländischen<br />

Macht sein.<br />

"Was meinst du, wenn sie den Inquisitor wegbringen, welchen Ausgang werden sie nehmen?"<br />

"Die Pforte der Erleuchtung, denke ich. Den Haupteingang."<br />

"Wäre ein Hinterhalt möglich?" Du hast doch Erfahrung in so was, fügten Alvans Augen der unverblümten Frage<br />

hinzu.<br />

"In Zhinbabil würde ich das eher lassen, dort hat es auch außerhalb des Palastes sehr viele Bewaffnete, und die<br />

Gassen sind für ortfremde Flüchtlinge eine einzige Mausefalle."<br />

"Also sollten wir doch eher außerhalb der Stadt zuschlagen" dachte die Halbelfe laut nach. Wenn es ihnen gelang,<br />

die Kutsche in ihre Gewalt zu bringen, konnten sie damit auch ohne Boot die Bucht mit der Nachtwind erreichen.<br />

Da die Wachen ohnehin auf dem Weg nach Keshal Taref gewesen wären, würde ihr Verschwinden so schnell<br />

niemand auffallen - Zeit genug, auf die "Nachtwind" zu warten.<br />

Die beiden Darpaten kamen gerade rechtzeitig ins Gasthaus zurück, um dort noch Alrik, Hesindian und Odilon<br />

anzutreffen, die sich für ihren nächtlichen Ausflug fertig machten. Die Sonne senkte sich bereits bedenklich gegen<br />

die Wellen des Perlenmeeres, die tatsächlich etwas höher schlugen als sonst.<br />

Der Friedwang, der Alvan seit ihren nächtlichen Eskapaden ohnehin nicht mehr sonderlich ernst zu nehmen schien,<br />

war alles andere als begeistert, dass "sein" Tunnel plötzlich nicht mehr gewünscht sein sollte. "Was soll das<br />

heißen? Schon wieder eine Planänderung?" schnaubte er. "<strong>Das</strong> geht mir hier alles in letzter Zeit ein wenig drunter<br />

und drüber."<br />

"Alvan hat recht" meinte hingegen Odilon nach kurzem Nachdenken. "Der Weg durch den Tunnel ist bei dem<br />

Wellengang viel zu gefährlich, und das Unternehmen wäre zwecklos, wenn sie Selbfried schon heute Nacht<br />

wegschaffen werden. Wir sollten uns zum westlichen Stadttor begeben, solange es noch offen hat, und uns einen<br />

Plan für einen Überfall überlegen. Mindestens sechs Kämpfer, wahrscheinlich auch ein Magier und Hundedämonen<br />

- nicht eben wenig für unsere Verhältnisse."<br />

„<strong>Das</strong> ist wahrlich nicht zu knapp an Gegnern“ meinte Sigismund. „Ich würde fast sagen, es ist ein<br />

Alveranskommando, die schwer bewachte Kutsche angreifen zu wollen.“<br />

„<strong>Das</strong> ist richtig“ stimmte Odilon zu. „Wir kennen keinen geeigneten Ort für einen Hinterhalt, aber den brauchen<br />

wir, schon weil wir keine Pferde haben. Wir müßten die Kutsche zum Anhalten bringen. Dazu benötigen wir eine<br />

125


Stelle mit viel natürlicher Deckung, vorzugsweise ein Wald. Es müßte weit genug weg <strong>von</strong> der Stadt sein, damit<br />

nicht die Rotmäntel nicht <strong>von</strong> irgendwoher Unterstützung beziehen können. Ich möchte mal sagen, auf den ersten<br />

Blick erscheint mir die Sache ziemlich aussichtslos. Ohne eine gute List sind wir mit Sicherheit chancenlos. Schon<br />

sechs Gardisten dürften zu viel für uns sein. <strong>Das</strong> sind keine lausigen Piraten, das sind Elitekrieger. Sie haben<br />

magische Unterstützung, und wir haben noch nicht einmal die Zeit, einen Hinterhalt vorzubereiten. Aber jetzt zählt<br />

erst einmal eines: Wir müssen hier raus aus der Stadt, bevor uns die Geheimpolizei auf die Spur kommt. Und wir<br />

müssen morgen Abend in der Bucht sein, wo die Nachtwind anlegt. Also brechen wir auf. Solange es noch<br />

einigermaßen hell ist finden wir vielleicht noch einen geeigneten Platz für einen Hinterhalt. Wenn wir nicht die<br />

Hälfte der Rotmäntel ausschalten können, bevor sie auch nur merken was vor sich geht, brauchen wir gar nicht erst<br />

angreifen. <strong>Das</strong> dürfte unsere einzigste Chance sein. Wenn wir damit keinen Erfolg haben, dann können wir<br />

vermutlich nichts mehr tun für den Inquisitor. Also dann, brechen wir auf.“<br />

Odilon brauchte nur in die Gesichter der Kameraden zu sehen, dass niemand so recht begeistert war. Wie denn<br />

auch. Er konnte ihnen noch nicht einmal einen aussichtsreichen Plan anbieten. Er konnte es ihnen nicht verdenken,<br />

dass keiner sein Leben im Kampf gegen einen übermächtigen Gegner Opfern wollte wegen eines Inquisitors.<br />

Sigismund sprach als erster Zweifel aus.<br />

„Nein. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich keine Möglichkeit sehe, Selbfried zu befreien. Also sollten wir die<br />

Stadt still und heimlich verlassen, uns auf das Schiff nach <strong>Maraskan</strong> begeben und verschwinden. Für den Fanatikus<br />

werde ich mein Leben nicht aufs Spiel setzen.“<br />

„Wir können ihn nicht dem Feind überlassen. Wir müssen ihm helfen.“ Widersprach Odilon.<br />

„Wir haben aber leider nicht die Möglichkeit dazu“ erwiderte Sigismund. „Wir müssen hier raus, das ist richtig.<br />

Wir können hier nicht bleiben, wir wissen nicht wie gut die Häscher Dimionas über uns informiert sind. Sie suchen<br />

ja schon nach einer Perainegeweihten. <strong>Das</strong> heißt sie haben vermutlich auch eine Beschreibung <strong>von</strong> mir und Alvan,<br />

da ich annehme, dass unsere Begegnung mit den Gardisten an der Brücke dafür verantwortlich ist, dass ihnen<br />

Gunelde aufgefallen ist. Vermutlich haben sich die Gardisten bei Menzel Ilsurer nach uns erkundigt und unser<br />

Ammenmärchen aufgedeckt. Und sobald sie erfahren, dass gestern zwei Rotgewandete in die Bezaubernde Djina<br />

gegangen sind dürften sie hier nach uns suchen.“<br />

„Ja, das ist gut möglich“ stimmte Alrik zu. „Egal, ob wir den Praioten befreien können oder nicht, wir müssen<br />

Elburum verlassen. Wenn uns auf dem Weg noch ein Geistesblitz kommt, dann können wir ja versuchen, Selbfried<br />

da raus zu holen. Aber, da stimme ich Sigismund zu, wir sollten nur etwas unternehmen wenn eine gute Aussicht<br />

auf Erfolg besteht. Doch wir sollten nicht verzweifeln, schließlich haben wir auch einen Magier bei uns – und auch<br />

sonst noch ein paar Asse im Ärmel.“ Alrik grinste.<br />

„Na gut, dann sind wir uns zumindest über den ersten Schritt einig. Wir packen zusammen und verschwinden aus<br />

der Stadt.“ Odilon wollte noch etwas sagen, aber er sah ein, dass seine Kameraden Recht hatten. Er mochte es sich<br />

nicht eingestehen, aber tatsächlich konnten sie froh sein, wenn sie unbehelligt die Stadt verlassen konnten. An<br />

einen Befreiungsversuch des Inquisitors war gar nicht zu denken. Wortlos schnallte er sich Wandelur um,<br />

verpackte Bavhano Bvaith und packte seine wenigen Habseligkeiten.<br />

Der Weg durch Elburum war rasch bewältigt. Im Geheimen dankte Alrik dem Herrn Phex, dass kurz vor<br />

Sonnenuntergang noch rege Betriebsamkeit herrschte in den Straßen <strong>von</strong> Elburum. So vielen sie gar nicht auf, und<br />

auch am Tor, durch dass man <strong>von</strong> Zhinbabil nach Fellakhand gelangte, nahm man keine Notiz <strong>von</strong> ihnen. Offenbar<br />

war es nicht ungewöhnlich, dass betuchtere Seeleute oder Piraten sich ein Quartier in Fellakhand suchten anstatt in<br />

den billigen Kaschemmen der Hafengegend abzusteigen. <strong>Das</strong> erste Hindernis war also überwunden.<br />

Odilon blickte zum Himmel. In einer knappen Stunde würde die Sonne untergehen, und danach würde es rasch<br />

dunkel werden. Aber dämmrig war es ohnehin schon, weil sich schon seit dem Nachmittag dicke Wolken am<br />

Himmel zusammengezogen hatten. Es würde heute Nacht noch regnen. Eine ungemütliche Nacht stand ihnen<br />

bevor, die sie wahrscheinlich unter freiem Himmel verbringen würden. Aber immerhin würde der Regen auch alle<br />

ihre Spuren verwischen, sofern sie abseits der Straße welche hinterlassen würden. Und außerdem würde die<br />

Kutsche, wenn der Regen die Straße in eine Matsch- und Schlammpiste verwandelte, nicht so schnell vorwärts<br />

kommen. Und falls die Rotmäntel sich vor dem Regen in schützende Umhänge mit wasserfesten Kapuzen werfen<br />

würden wäre das auch ein Vorteil: Kapuzen schränkten das Sichtfeld ein und auch Geräusche drangen nicht so<br />

leicht an ihr Ohr. Außerdem minderte ein Mantel die Beweglichkeit eines Kämpfers. Natürlich bei weitem nicht so<br />

sehr wie eine Rüstung, aber durchaus so sehr, dass ein geübter Kämpfer aus dem Vorsprung an Schnelligkeit einen<br />

Vorteil ziehen mochte. Odilon versuchte, alle den möglicherweise unvermeidlichen Kampf mit den Rotmänteln<br />

beeinflussenden Details zu erkennen und abzuwägen. Er hoffte immer noch, dass sie einen geeigneten Platz finden<br />

würden für einen Hinterhalt, und dass er auch noch einen erfolgversprechenden Plan entwickeln konnte. Er wollte<br />

sich nicht mit dem Gedanken abfinden, eine rechtgläubige Seele der Verdammnis anheim fallen zu lassen.<br />

Außerdem würde ein geretteter Inquisitor endgültig seine Familie aus dem Kreuzfeuer der Kritik führen, das so<br />

mancher politische Gegner und Speichellecker der Mächtigen – allen voran der Oppsteiner – zum Schaden der<br />

126


Baernfarns für eigennützige Ziele in Umlauf brachte. Nicht zum ersten Mal hatten intrigante Adelige versucht,<br />

seiner Familie die in <strong>Darpatien</strong> ungewöhnliche Treue der Baernfarns zum Kaiserhaus in Gareth als Verrat am<br />

Fürstenhaus umzumünzen. <strong>Das</strong> Wort eines Inquisitors, der zunächst gegen seine Familie ermittelte, dann aber sein<br />

Leben und seine Freiheit eben diesen Baernfarns und Friedwangen verdankte, würde den Neidern und Intriganten<br />

der Rommilyser Hofschranzen den Wind aus den Segeln nehmen. Zielstrebig führte Odilon die Gruppe zum<br />

Westtor.<br />

„Haltet ein, Fremde. Ihr seid keine Elburumier, Euch kenne ich nicht. Nennt mir Eure Namen und Euer Ziel“<br />

forderte ein Gardist am Westtor mit höflicher, aber bestimmter Stimme in tulamidischer Sprache. Na gut, mit einer<br />

Kontrolle am Stadttor hatten sie rechnen müssen. Odilon verschränkte die Arme und lächelte, als würde er<br />

tulamidisch nicht verstehen. Zugleich musterte er die beiden Gardisten. Es waren nur zwei, im Ernstfall wären sie<br />

schnell überwältigt. Aber natürlich keinesfalls schnell genug um zu verhindern, dass Großalarm ausgelöst wurde.<br />

Weitere Gardisten waren schließlich in Reichweite.<br />

Alrik antwortete dem Gardisten mit radebrechendem Tulamidisch. „Wir sind Matrosen der Rajestan, Heimathafen<br />

Mendena unter dem Kommando des Kapitän Ulfrich Tobimarek.“ Odilon fragte sich, ob der Gefährte bluffte oder<br />

ob er sich darüber informiert hatte, welche Schiffe mit welchen Kapitänen im Hafen vor Anker lagen. „Wir wollen<br />

dies Sklavin hier“ Alrik deutete auf Alvan, die <strong>von</strong> Sigismund an einem Seil gehalten wurde „einem Freibauern<br />

bringen, der sie heute <strong>von</strong> uns erstanden hat. Er war der Ansicht, dass Elfenluder besonders ausdauernde Arbeiter<br />

sind, und auch sonst ganz gut zu gebrauchen seien.“ Alrik lächelte mit einem wissenden Gesichtsausdruck.<br />

„Welcher Bauer, welcher Hof?“<br />

„Der Hof Al`Ahmedi, vier Meilen westlich.“ Woher nahm Alrik nur das Wissen um Einheimische Bauernhöfe,<br />

fragte sich Odilon. Hatte der Streuner sich auf seinem nächtlichen Ausflug neulich auch über mögliche Fluchtwege<br />

erkundigt? Oder hatten sie einfach das Glück, dass der Gardist sich nicht besonders auskannte in der Gegend. Er<br />

nahm sich vor, Alrik später danach zu fragen. Jedenfalls erstaunte ihn der Streuner immer mehr. Der Gardist<br />

musterte alle mit einem genauen Blick, dann aber winkte er sie mit einer lässigen Handbewegung durch. Odilon<br />

konnte sich gerade noch beherrschen, nicht laut aufzuatmen.<br />

Es hatte zu regnen begonnen. Und das nicht zu knapp. Binnen Minuten waren die Gefährten durchnässt bis auf die<br />

Haut. Mit raschen Schritten, um nicht zu frieren, marschierten die Gefährten westwärts. Noch einmal schienen sie<br />

Glück zu haben, denn nur zwei Meilen westlich der Stadt befand sich tatsächlich ein Waldstück. Nicht groß, aber<br />

weit genug entfernt <strong>von</strong> der Stadt, um weder Blicke noch Geräusche an die Ohren der Stadtbewohner kommen zu<br />

lassen. Odilon führte die Gruppe in den Wald, wo der Weg sich entlang einiger sanfter Hügel durch das Gehölz<br />

schlängelte. Der Weg war schmal. Sehr gut, also würde die Kutsche nicht mit schnellstmöglichster<br />

Geschwindigkeit fahren können. Odilons scharfes Auge suchte die Hügel am Wegesrand nach geeigneten Plätzen<br />

ab, um einen Hinterhalt zu bieten. Er hieß seine Gefährten zu warten, dann hastete er kurz, um sich mit allen<br />

Örtlichkeiten vertraut zu machen, durch die nähere Umgebung.<br />

„Also gut“, sagte Odilon, als er zurückgekehrt war und deutete auf eine Wegbiegung, die sich in dreihundert Schritt<br />

Entfernung abzeichnete. „Dort hinten ist <strong>von</strong> allein der beste Ort, um einen Hinterhalt zu legen. Die Straße macht<br />

eine Kurve, wer dahinter lauert ist erst sehr kurzfristig zu sehen, und umliegende Felsen, Gestrüpp und Hügel<br />

geben uns reichlich Deckung und ein freies Schussfeld, da die Straße selbst durch eine Lichtung führt. Deshalb<br />

werden wir dort nicht zuschlagen.“<br />

Odilon blickte in die fragenden Gesichter. „Die Gardisten sind geschult, und sie kennen die Umgebung. Wenn sie<br />

einen Hinterhalt erwarten, dann werden sie dort damit rechnen. Wenn dort alles ruhig bleibt werden sie innerlich<br />

aufatmen, ihre Konzentration wird vielleicht nachlassen, und sie werden ihren Hauptmann verfluchen, der sie bei<br />

diesem Sauwetter durch die Wildnis schickt, was man in den Augen der dienstleistenden Büttel wohl auch noch<br />

einen Tag später hätte machen können.“<br />

Odilon hielt kurz inne. „Nun folgt, mir, wir haben nicht viel Zeit. Nach der Biegung verläuft der Weg geradeaus. Es<br />

ist schlicht unmöglich, eine Kutsche ohne weiteres hier zum anhalten zu bringen, deshalb ist das für einen<br />

Hinterhalt ein denkbar ungeeigneter Ort, wenn man nicht über Pferde verfügt. Würde man die Straße mit einem<br />

gefällten Baum blockieren, so würde man das <strong>von</strong> weitem sehen. Also kann man dort keinen Hinterhalt legen, wie<br />

die meisten wohl sagen würden. Und deswegen werden wir genau dort zuschlagen.“<br />

„Wenn wir uns dazu entschließen sollten, den Inquisitor zu befreien“ murrte Sigismund. „Bislang hören wir uns<br />

lediglich einen Vorschlag an.“<br />

„Korrekt. Also, ich habe folgenden Plan. Alvan wird sich in einer <strong>von</strong> mir ausgesuchten Eiche versteckt halten und<br />

<strong>von</strong> Süden aus die Rotmäntel unter Beschuss mit ihrem Kurzbogen nehmen. Alvan hat dort bestes Schussfeld, kann<br />

<strong>von</strong> dort aber auch mit einem einzigen Sprung in Deckung hinter dichtes Gebüsch gelangen und erforderlichenfalls<br />

rasch die Stellung wechseln. Ich werde mich auf einem Hügel im Norden des Weges verstecken. Von dort aus kann<br />

ich gewiss zwei Gardisten erledigen, und mich dann zügig in den Nahkampf begeben. Hesindian ist in meiner<br />

127


Nähe, <strong>von</strong> wo aus er das Geschehen gut überblicken kann. Er wird sich sofort, wenn wir den Feind mit Pfeilen<br />

eindecken, den oder die feindlichen Magier vorknöpfen. Hesindian, traust Du Dir das zu?“<br />

„Ich denke ´chon. Wenn e´ nur ein Magier i´t reicht der Überraschung´momen´ woh´ aus, um ihn ´u be´iegen. Aber<br />

bei zwei oder ´rei Fein´en kann es ´chwer werden.“<br />

„Ich habe hier noch etwas Besonderes. Schlafgift.“ Ergänzte Alrik. „ein Tropfen da<strong>von</strong> auf die Pfeilspitze, und der<br />

Gardist schlummert binnen Sekunden, auch wenn man ihm nur einen Kratzer zufügt.“ Alrik grinste.<br />

„Sehr gut. Damit dürften Alvan und ich je zwei Gegner ausschalten können, noch bevor der Feind etwas merkt <strong>von</strong><br />

dem, was vor sich geht. Vielleicht auch mehr. Alrik, in meinem Plan wirst Du etwas weiter vorne postiert werden,<br />

in einer Mulde hinter einem Gebüsch, das Dir Sichtschutz bietet. Ich weiß, dass Du ein geschickter Messerwerfer<br />

bist. Wie ich annehme wird die Kutsche keine dreißig Schritt <strong>von</strong> Dir entfernt zum stehen kommen. Du kannst<br />

dann diejenigen angreifen, die sich in der Nähe der Kutsche befinden. Ich hoffe, dass die Gardisten ihrerseits<br />

versuchen werden, entweder uns Bogenschützen ausfindig zu machen, oder aber dass sie versuchen, einen Boten<br />

zurück zur Stadt zu schicken um Hilfe zu holen und Meldung zu machen. Vermutlich werden sie dann einen Reiter<br />

nördlich der Straße zurückschicken. Dort verläuft ein schmaler Pfad, gerade breit genug für einen ortskundigen<br />

Reiter. Der Pfad verläuft zwanzig Schritt hinter meinem Posten vorbei. Sollte ein Reiter ihn nehmen fällt das in<br />

meinen Aufgabenbereich.“<br />

„Der Plan ist Mumpitz“ moserte Sigismund. Die Kutsche wird einfach weiterfahren, auch wenn ein paar Gardisten<br />

sterben. Sie haben vermutlich den Auftrag, den Praioten mit höchster Dringlichkeit abzuliefern und werden daher<br />

wohl kaum anhalten, um ein paar Heckenschützen in einem finsteren Wald aufzuspüren. Ich würde meinen Leuten<br />

jedenfalls einen solchen Befehl geben. Insofern ist Dein Plan völlig unnütz.“<br />

„Genau damit rechne ich, dass sie sich so verhalten und nicht anhalten, wenn Alvan und ich das Feuer eröffnen. Sie<br />

werden weiterfahren und natürlich nicht mitten im Schussfeld stehen bleiben, so ganz ohne Deckung. Allenfalls<br />

werden einige berittene Begleiter das Gelände absuchen, aber die Kutsche wird natürlich weiterfahren. Deswegen<br />

wirst Du sie anhalten.“<br />

„Ich?“<br />

„Genau. Du nimmst diesen Wurfanker, den Alrik vorzüglicherweise in seinem Gepäck hat, Man kann ihn nicht nur<br />

auf eine Mauer werfen und dann an einem Seil daran hochklettern. In diesem Fall wirst Du das Seil an einer Pinie<br />

hinter Alriks Deckung festbinden, und wenn die Kutsche vorbeirast wirst Du den Anker in das Hinterrad werfen.<br />

Es müßte brechen, wenn das Seil sich strafft. Schließlich ist das ein gutes Seil, das auch einem starken Ruck<br />

standhalten müßte. Dann versteckst Du Dich im Gestrüpp- Zugleich wird Alrik die Verteidiger der Kutsche<br />

angreifen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dann wird er sich zurückziehen in unsere Richtung,<br />

hoffentlich verfolgt vom Rest der Kutsche. Alrik wird die Männer zu uns locken, wo wir sie erledigen werden. Und<br />

wenn noch einer oder zwei an der Kutsche bleiben sollen, dann machst Du dasselbe. Du greifst sie an, und wenn sie<br />

Deiner habhaft werden wollen ziehst Du Dich zurück.<br />

Gunelde wird sich versteckt halten – ich habe ein gutes Versteck für sie gefunden in der Nähe der Kutsche, nur<br />

etwa fünfzig Schritt entfernt. Wenn sie sicher ist, dass sich niemand mehr an der Kutsche befindet, der diese<br />

verteidigen kann, wird sie den Inquisitor befreien. Wenn die Kutsche bewacht bleibt, dann bleibt sie versteckt, bis<br />

wir die Gardisten erledigt haben.“<br />

„Alles klar. <strong>Das</strong> scheint zumindest mal ein Plan zu sein, der eine Chance auf Erfolg in sich birgt. Allerdings ein<br />

Plan, der noch einige Unwägbarkeiten enthält. Wir wissen nicht, wie viele Männer die Kutsche verteidigen.“<br />

analysierte Alrik.<br />

„Richtig. Ich gehe <strong>von</strong> sechs Berittenen aus. Mit dem Schlafgift sollten wir ohne Schwierigkeiten vier da<strong>von</strong> im<br />

Überraschungsmoment erledigen. Bleiben noch zwei, hinzu der Kutscher und ein weiterer Bewaffneter auf dem<br />

Kutschbock, möglicherweise ein Magier. In der Kutsche selbst dürften sich außer Selbfried nicht mehr als zwei<br />

Kämpfer befinden. Möglicherweise auch noch einer auf dem Dach der Kutsche. Mehr dürften es nicht sein, da die<br />

Kutsche sonst zu schwer und zu langsam wäre.“<br />

„Also gut. Wir haben Deinen Vorschlag gehört, Odilon. Ich schlage vor, dass wir jetzt abstimmen, ob wir das<br />

Wagnis eingehen wollen. Eine einfache Mehrheit entscheidet. Bei Stimmengleichheit werfen wir eine Münze. Ich<br />

bin dagegen, wegen eines Praiosfanatikers unser Leben aufs Spiel zu setzen.<br />

„Ich bin dafür.“ erwiderte Odilon und sah seine Tochter fordernd an.<br />

„Tut mir leid, Vater, ich muss Sigismund Recht geben. Es ist ein Wagnis, das wir vielleicht nicht lebend überstehen<br />

werden. Ich hab auch nicht vergessen, was die Praioten uns <strong>Maraskan</strong>ern ebenso wie vielen anderen Menschen<br />

angetan haben. Ich werde kämpfen, wenn es beschlossen wird, aber ich halte das Unternehmen für ein<br />

überflüssiges Wagnis.“<br />

Odilon sah seine Tochter enttäuscht an.<br />

„Ich meine wir können eine zwölfgöttergefällige Seele nicht einem so grausamen Schicksal überlassen. Wir haben<br />

eine Chance, und wir sollten es probieren“ stimmte Gunelde ab.<br />

„Du ha´t gu´ reden, du mu´t nich´ kämpfen. Da´ i´t reiner Wahn´inn. Ich bin dagegen.“ Tat Hesindian kund.<br />

128


„Nein, Gunelde hat Recht. Wir müssen den Priester befreien. Wir würden eine große Schuld auf uns laden, würden<br />

wir es nicht einmal versuchen. Dafür.“ sprach Alrik.<br />

„Gut, also drei gegen drei Stimmen. Dann muss die Münze entscheiden.“ Sigismund holte einen Kaiser-Reto-Taler<br />

aus seiner Börse. „Kopf ist Angriff und Wappen ist Rückzug.“ Sigismund warf die Münze hoch. Odilon griff sie<br />

mit einer flinken Bewegung aus der Luft.<br />

„Nein, Gunelde soll den Taler werfen. Sie als Dienerin Peraines soll unser Schicksal entscheiden. Von Dir weiß,<br />

ich, dass Du eine Münze werfen kannst.“ Odilon reichte Gunelde den Taler. Sigismund sah Odilon mit böse<br />

funkelnden Augen an.<br />

Gunelde warf die Münze (mit einem stummen Gebet, so schien es zumindest) in die Luft und trat dann einen<br />

Schritt zurück.<br />

Bei dem Regen und der Abenddämmerung war zunächst nicht auszumachen, was das matt im Regen glänzende<br />

Silberstück zeigte.<br />

Schließlich sahen sie es: Ein gekröntes Haupt mit dem markanten Kaiser Reto-Bart blickte über den Münzenrand<br />

hinaus in die nun hereinbrechende oronische Nacht.<br />

"Kopf!" stellte Odilon trocken fest und atmete innerlich auf.<br />

Sigismund jaulte leise auf wie ein junger Hund, den ein derber Tritt seines Herrn getroffen hatte, und auch Alvan<br />

sah finster drein. Selbst Alrik schien es gerade zu bereuen, Partei für den Inquisitor ergriffen zu haben. Der Magier<br />

wirkte schicksalsergeben.<br />

"<strong>Das</strong> ist doch Wahnsinn!" schimpfte der Streuner und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. "Dieser Sauhund<br />

wollte uns noch vor ein paar Tagen auf den Scheiterhaufen stellen und jetzt sollen wir uns für ihn abschlachten<br />

lassen. Ich hätte euch für vernünftiger gehalten. Euch alle!"<br />

Herausfordernd musterte er die drei, die für Selbfried Partei ergriffen hatten.<br />

"Keine Widerrede" meinte Odilon streng. "Die Münze hat entschieden und damit wird mein Plan ausgeführt, wie<br />

wir ihn besprochen haben."<br />

"Die Münze... diese verdammte Münze!" Wütend trat Sigismund das Silberstück <strong>von</strong> der Straße. "Ich lass´ mich<br />

doch nicht wegen einem Stück Metall umbringen. Nein, ich mach da nicht mit."<br />

"Aussteigen gilt nicht" Odilon versuchte ruhig zu klingen. "Du selbst hast uns doch das mit der Münze<br />

vorgeschlagen...“<br />

"Ach ja?" Sigismund begann zu schreien. "Der große Herr Odilon Wildgrimm hat uns das alles doch erst<br />

aufgeschwatzt. <strong>Das</strong>s wir den Inquisitor befreien müssen! So ein Unsinn! Der große Herr Odilon Wildgrimm führt<br />

überhaupt immer das große Wort! Aber ich mache nicht mehr mit. Ich will nicht sterben... nicht hier... nicht wegen<br />

dem Inquisitor... Sie werden uns alle umbringen... ich spür´s... ich spür´s einfach! Hört ihr? Abschlachten werden<br />

sie uns!"<br />

Der Baernfarn atmete tief durch. Es war nichts ungewöhnliches, dass Männer auf einer gefahrvollen Queste die<br />

Nerven verloren - aber musste es immer zum völlig falschen Zeitpunkt sein? Oder lag es auch hier am<br />

verderblichen Einfluss der Einen und Einzigen, dass Sigismund ausgerechnet in diesem Moment durchdrehte ?<br />

"Genug jetzt, Sigismund. Wo bleibt deine Ehre als Spieler? Du hast deinen Einsatz gebracht und verloren. Also,<br />

geh auf deinen Posten."<br />

Der Streuner wollte noch etwas sagen, schüttelte dann aber den Kopf und ging einige Schritte zur Seite. Odilon hob<br />

den Taler wieder auf, säuberte ihn und steckte ihn sich in den Dukatenbeutel. Alrik ließ das Fläschchen mit<br />

Schlafgift umhergehen, in das die beiden Schützen ihre Pfeile tauchten, nicht ohne sie zum Schutz gegen den<br />

strömenden Regen mit den Blättern eines Strauchs zu umwickeln, dessen Name der Waldläufer nicht kannte, der<br />

aber einladend am Wegesrand stand.<br />

Die sechs Gefährten verteilten sich. Odilon stellte sich mit Bavhano Bvaith auf den kleinen Hügel und versuchte<br />

eine einigermaßen trockene und sichtgeschützte Stelle zu finden. Eine nasse und schlaffe Sehne konnte er jetzt am<br />

allerwenigsten gebrauchen. Hier, das dichte, beinahe mannshohe und <strong>von</strong> Felsen durchzogene Buschwerk zwischen<br />

einer Gruppe Pinien sah doch schon einmal ganz vielversprechend aus. Hesindian kauerte sich neben ihn. Alvan<br />

kletterte geschickt in die Steineiche und gab ihrem Vater ein Zeichen. Sie hatte doch hoffentlich nicht die Absicht,<br />

tollkühn aufs Kutschendach zu springen - allein um ihren Vater eine kleine Lektion zu erteilen? Odilon wusste,<br />

dass seine Tochter, wenn sie mit irgendetwas nicht vollkommen einverstanden war, sehr eigensinnig werden konnte<br />

- wie Jirka. Vielleicht glaubte sie sich auch etwas beweisen zu müssen, wegen der peinlichen Szene <strong>von</strong> gestern.<br />

Odilon schluckte die jäh in ihm aufsteigende Wut hinunter. Nein, im Grunde war er selbst an allem schuld. Er<br />

hätte auf seine Tochter aufpassen müssen und all diese Nostriaden niemals zulassen dürfen. Um ein Haar hätten sie<br />

seiner Tochter ein Zeichen ins Gesicht gebrannt - er hatte es ja bei den anderen Sklaven in den Gassen <strong>von</strong><br />

Elburum gesehen. Alvan auf ewig verstümmelt - und er wäre dafür verantwortlich gewesen. Odilon fragte sich nur,<br />

warum die verfluchten Oronier ausgerechnet bei ihr auf diese Prozedur verzichtet hatten.<br />

Die Zeit verrann mit dem lauwarmen Regen, der <strong>von</strong> oben herab prasselte. Die härteste Prüfung für den Jäger -<br />

geduldig warten. Hatten die Rotmäntel den Transport am Ende verschoben? Waren sie schon längst<br />

129


durchgekommen? Oder traf die Handvoll Informationen, über die Odilon und seine Gefährten verfügten, gar nicht<br />

zu? War sein Plan wirklich bis ins letzte durchdacht? Verdammt, er hatte wirklich genug Zeit um zu grübeln, und<br />

nass war es dabei obendrein auch noch.<br />

Es war mehr ein Instinkt als das leichte Druckgefühl gegen seinen linken Stiefel, der Odilon nach unten blicken<br />

ließ. Eine kleine erdfarbene Schlange ringelte sich über das abgewetzte Leder und verschwand nach einigen bangen<br />

Herzschlägen hinter einem Kaktus. Odilons Herz schlug heftiger. Firun mochte wissen, wie giftig das Tier gerade<br />

gewesen war. Sei´s drum, es war vermutlich nur der Regen, der es aus ihrem Versteck aufgescheucht hatte.<br />

Giftschlangen bissen nicht so schnell zu, die sparten sich ihre Alchimie für wirklich gefährliche Gegner auf.<br />

Langsam wurde es wirklich dunkel. Der Regen ließ ein wenig nach, ging in feines, nebelähnliches Nieseln über. In<br />

der Ferne grollte ein Gewitter, dessen Ausläufer offenbar gerade über sie hinweg zog.<br />

Odilons Gedanken kehrten zu Alvan zurück. Warum bei allen Zwölfen war sie nicht mit dem Brandmal<br />

gekennzeichnet worden? <strong>Das</strong> war doch das erste, was die Belkelelanhänger mit ihren Opfern machten. Odilon<br />

beschlich leise Unruhe, wie immer, wenn ihn etwas an einer Fährte irritierte. Warum kannte sich Alrik plötzlich so<br />

gut mit Höfen in der Umgebung <strong>von</strong> Elburum aus? War er überhaupt noch der richtige Alrik? Dem Gallyser fiel<br />

ein, wie sie die Piraten auf der Fran-Horas in die Irre geführt hatten, mit einem Zauberspruch, der Sigismunds<br />

Aussehen verändert hatte. Was, wenn das alles nur eine einzige große Falle war, mit dem Ziel, sie alle auf einem<br />

Schlag gefangen zu nehmen?<br />

Oder hatte er wirklich einfach zuviel Zeit zum Nachdenken hier draußen in dem kleinen Wäldchen unweit <strong>von</strong><br />

Elburum?<br />

Schließlich, eine Bewegung auf der Straße. Verdammt, das war Sigismund.<br />

Der formte vor dem Mund seine Hände zu einem Trichter und rief laut: "Odilon, wo bist du?"<br />

Immerhin, gut versteckt hatte er sich schon mal.<br />

"Hier oben! Was gibt es?"<br />

"Verdammt, die Brüder kommen heute nicht mehr. Lass uns <strong>von</strong> hier verschwinden. Ich hab´ ein ganz blödes<br />

Gefühl..."<br />

Ja, und das nennt sich Angst, dachte der ehemalige Baron <strong>von</strong> Gallys.<br />

Odilon musste der Versuchung wiederstehen, seinen Bogen zu spannen und dem Streuner einen Pfeil über den<br />

Kopf hinweg zu schießen. Oder sollte er ein wenig tiefer zielen? Dieser Idiot würde noch alles vermasseln.<br />

In diesem Augenblick war vom Weg her das Rumpeln einer Kutsche, das pflatschende Geräusch <strong>von</strong> Hufen auf<br />

Schlamm sowie Schnauben zu hören. Der Waldläufer war heilfroh, dass er den Hinterhalt nicht in der Kurve<br />

platziert hätte - ihre Gegner hätten den sorglos herumlaufenden Streuner längst entdeckt.<br />

"Mach, das du in dein Versteck kommst!" meinte Odilon mehr zu sich selbst als zu Sigismund, der bereits <strong>von</strong> sich<br />

aus wieder verschwand. Der Gallyser lauschte hinaus in die Nacht. Ein halbes Dutzend Geleitreiter? Von der<br />

Geräuschkulisse her konnte das ungefähr hinkommen. Aber war da nicht auch ein Bellen zu hören, hart, metallisch,<br />

hallend? Odilon spürte, wie sich Kälte in seinem Nacken ausbreitete, wo sich nun auch die Haare aufstellten. Kein<br />

Zweifel, das Hecheln und Belfern, dass um die Wegbiegung herum an seine Ohren drang, bildete er sich nicht nur<br />

ein. Also doch Hunde - dämonische Hunde.<br />

Da kamen sie auch schon um die Ecke. Odilon hatte bereits einige Dämonen in seinem Leben gesehen, darunter<br />

hundeähnliche - wenn er nur an diesen "Hund vom Schratenwald" dachte - aber er würde sich wohl nie an ihren<br />

Anblick gewöhnen. Und es war nicht nur der Anblick, der ihn beinahe körperlich traf. Wie eine Lawine eine<br />

Druckwelle, so schoben diese Entitäten eine Aura <strong>von</strong> - grässlicher Unwirklichkeit und frevlerischer<br />

Übernatürlichkeit vor sich her, der ihm jedes Mal die Kehle zuschnürte, so auch jetzt.<br />

Es waren zwei schwarzglänzende, grazile Tierwesen, die auf fast schon widerwärtige Weise schön waren. Ihre<br />

armdicken Glieder und die prallen Hoden, die zwischen den Hinterläufen deutlich zu sehen waren, weckten bei<br />

Odilon den verstörenden Wunsch, ihre Liebesdienste einmal am eigenen Leib zu spüren. Ging seine Phantasie<br />

endgültig mit ihm durch oder machte er auf ihren Rücken rotgezackte Kämme aus, ähnlich wie gewisse Echsen sie<br />

trugen?<br />

Er war sich überhaupt nicht mehr sicher, wie wirklich das war, was er hier sah und fühlte. Mit einem Mal kamen<br />

ihm die Hunde völlig "falsch" vor, wie nachträglich <strong>von</strong> frevlerischer Hand in ein altehrwürdiges Gemälde<br />

eingefügt und dennoch nur auf dem zweiten Blick als Fälschung erkennbar.<br />

Nein, er hatte sich schon lange genug <strong>von</strong> ihren bloßen Anblick in den Bann ziehen lassen. Mit einem Gebet zum<br />

Weißen Jäger zog Odilon die gewachste Sehne auf seinen Elfenbogen. Einer der Ungetüme auf der Straße blieb aus<br />

vollen Lauf heraus stehen - auch diese ruckartige Bewegung wirkte unnatürlich, als wolle sie den natürlichen Fluss<br />

<strong>von</strong> Satinavs Element verspotten - starrte den Hügel hinauf und witterte. Nein, nichts an diesem Wesen wollte<br />

wirklich zur Umgebung passen, das sanfte rötliche Glänzen des Fells nicht zu dem darauf fallenden matten<br />

130


Zwielicht, das eher frivol als bedrohlich wirkende Glühen der Augen nicht zu einem derischen Lebewesen. Selbst<br />

der Nieselregen schien das seidige Fell kaum zu berühren (Odilon musste allen Ernstes der Versuchung<br />

widerstehen, nicht einfach den Hügel herunter zu laufen und den Hund zu streicheln und zu liebkosen. Was für<br />

bizarre Gefühle er doch in ihm auslöste! ).<br />

Die Kreatur schien ihn genau in diesem Augenblick entdeckt zu haben, denn sie stieß nun ein Geräusch aus, dass<br />

wie das freudig-lüsterne Jaulen eines Rüden klang, der eine läufige Hündin erschnuppert hatte - wobei dieses<br />

Jaulen allerdings aufs gräulichste verzerrt <strong>von</strong> den umliegenden Felsen wieder hallte. Der zweite Hund, soviel<br />

konnte Odilon aus den Augenwinkeln sehen, lief mit eigentümlich ruckenden Bewegungen weiter die Straße<br />

entlang - offenbar hatte er das Versteck <strong>von</strong> Sigismund, Alrik und Gunelde gewittert.<br />

Der Dämon unterhalb des Hügels scharrte winselnd mit den Pfoten, leckte sich mit einer glibberigen, feuerroten,<br />

viel zu großen Zunge über das Maul, reckte sein monströses Glied und spritzte vor freudiger Erregung etwas<br />

dämonischen Samen auf den Boden, der dort zischend zu verdampfen schien. Dann sprang er den mit Steinen,<br />

Buschwerk und einzelnen Baumgrüppchen bestandenen Abhang hinauf, überderisch schnell und mit völlig<br />

unwahrscheinlichen Sprüngen, die eher an die Bewegung einer beutesuchenden Echse denn eines Hundes erinnerte.<br />

Odilon hatte mit allem gerechnet, selbst mit einem Höllenhund, der ihn zerreißen wollte - nicht aber mit einem<br />

derart perversen Etwas auf vier Pfoten, die ihn ohne Zweifel bespringen, die Gewänder herunterreißen und dann<br />

seinen obszönen Phallus in den After drängen würde... Brüllend vor Ekel riss Odilon einen Pfeil aus dem Köcher<br />

und schoß ihn dem Untier genau in die Flanke.<br />

Der Dämon schüttelte den heranzischenden Pfeil ab wie ein lästig umherschwirrendes Insekt. Dann sah er den<br />

Magier, der den Hügel hinab gelaufen war, seine Faust reckte und eine Formel brüllte. Erneut Jaulend - diesmal<br />

schmerzerfüllt, aber auch ein wenig lustvoll - zuckte der Hund zusammen. Schließlich änderte er - wiederum völlig<br />

abrupt- die Richtung und sprang den Magier an, der im letzten Moment den Zauberstab zwischen sich und den<br />

niederhöllischen Angreifer brachte.<br />

Odilon überlegte kurz, wie er Hesindian helfen konnte, dann hörte er Schreie und Bellen <strong>von</strong> dem Pinienhain her,<br />

wo die übrigen Gefährten sich versteckt hielten. Sodann Hufgetrappel <strong>von</strong> der Straße her.<br />

Drei Reiter preschten heran, zwei da<strong>von</strong> in den markanten roten Ledermänteln der oronischen Geheimpolizei. Die<br />

dritte Gestalt war eindeutig ein Magus (oder eine Maga) wie der Zauberstab in ihrer Rechten verriet, auch wenn das<br />

Gesicht ob des Regens <strong>von</strong> einem Kapuzenmantel verborgen war.<br />

Einen Augenblick später hatten die Vorreiter (das es nur ein Vortrupp war, bezweifelte Odilon nicht) ihn entdeckt<br />

und parierten ihre Pferde scharf. Einige aufgeregte Rufe auf Tulamidya, dann zischte ein Pfeil durch die Nacht und<br />

traf einen der Wachen an der Schulter. Alvan.... Der Gardist hatte gerade noch Zeit, seinen Khunchomer zu ziehen,<br />

dann kippte er auch schon aus dem Sattel.<br />

Der feindliche Magier warf seinen Stab zu Boden, schlug mit der Faust in die flache Hand und schrie etwas in<br />

Richtung der Eiche. Von dort stürzte nun eine merkwürdig starre Gestalt zu Boden. Alvan !!!<br />

Entsetzt riss Odilon einen der Giftpfeile aus dem Köcher, zog die Blattumwicklung <strong>von</strong> der Spitze und legte das<br />

Geschoss auf die Sehne.<br />

Wie <strong>von</strong> Geisterhand bewegt, flog der Stab wieder in die linke Hand des Magiers zurück. Der Mann trieb sein<br />

Pferd unbarmherzig den Hügel hinauf, die rechte Faust drohend ausgestreckt. Jetzt glaubte Odilon ein<br />

schwarzbärtiges, bleiches Gesicht unter der Kapuze ausmachen zu können.<br />

Gedanken rasten dem Waldläufer durch den Kopf. Magier, die derart tollkühn vorstürmten, waren meist durch<br />

einen Zauber geschützt, wie ihn auch dieser Mercurio auf der Fran-Horas angewandt hatte. Also musste er ihn<br />

möglichst nahe herankommen lassen, um seinem Geschoss die größtmögliche Wucht zu geben. Von Jirka wusste<br />

er, dass die meisten Kampfzauber nur auf kurze Entfernung wirkten, also konnte er sich - hoffentlich! - noch einige<br />

Augenblicke gedulden.<br />

Der Gegner trieb sein schwarzes Ross, dem Blut und Speichel aus den Maul troffen (irgendwie erinnerte es Odilon<br />

an einen oronischen Sklaven) an dem immer noch mit dem Dämonenhund kämpfenden Hesindian vorbei und hielt<br />

auf den Gallyser zu. Unbarmherzig gab er dem unglücklichen Pferd die Sporen, dessen Flanken ebenfalls mit Blut<br />

überströmt waren. Als der Mund des Schwarzberobten sich öffnete, riss Odilon den Bogen hoch und schoss den<br />

Pfeil ab.<br />

Jeden anderen Gegner hätte das Geschoss sofort getötet, aber in diesem Fall konnte der Gallyser förmlich sehen,<br />

wie es noch in der Luft abgebremst wurde und nur sehr schwach gegen den Brustkorb des Oroniers prallte. Dieser<br />

riss höhnisch lachend den Pfeil heraus - offenbar hatte er wirklich nur einen Kratzer abbekommen - und reckte<br />

erneut die Faust in Richtung Odilon.<br />

"Ignifaxius...."<br />

Dann wirkte das Gift. Wie vom Schlagfluss getroffen, verdrehte der Schwarzmagier die Augen und fiel kraftlos<br />

vom Pferd.<br />

Odilon wollte schon Wandelur ziehen und dem Reglosen endgültig den Garaus machen (ja doch, er hatte dazu<br />

gelernt), als er sah, wie unten auf der Straße der verbliebene Rotmantel aus dem Sattel sprang und sich mit<br />

erhobenem Khunchomer der unter der Eiche liegenden Alvan näherte. Einen Herzschlag lang zögerte der Mann, als<br />

131


er den kahlen Schädel der Ohnmächtigen sah, die noch immer ihren Bogen in der Hand hielt. Offenbar konnte der<br />

Oronier es nicht fassen, dass eine einfache Sklavin es gewagt hatte, ihn und seine Begleiter anzugreifen.<br />

Hastig legte Odilon den zweiten Pfeil mit Schlafgift auf die Sehne und schoss ihn ohne groß zu zielen in die<br />

Richtung des Mannes, in der Hoffnung, dass die Kraft des Geschosses ausreichen würde, dessen Rüstung zu<br />

durchschlagen.<br />

Dieser hatte gerade sein Schwert zum Spalthieb gegen die reglos am Boden liegende Halbelfe gehoben, als ihm der<br />

Pfeil knapp unter der Achsel in die Seite fuhr. Brüllend vor Schmerz und Zorn fuhr er herum, knickte ein, als wolle<br />

er beten, fiel vornüber und rührte sich nicht mehr.<br />

Erst jetzt merkte Odilon, wie schnell der ganze Kampf seit dem Auftauchen der Hunde eigentlich <strong>von</strong>statten<br />

gegangen war. Denn nun rumpelte auch schon eine Kutsche um die Kurve, umringt <strong>von</strong> den vier verbliebenen<br />

Rotmänteln. Auf dem Kutschbock saßen zwei weitere Gardisten. Die Hufe der Pferde und die Kutschenräder<br />

zermalmten den Rotmantel, den das Schlafgift als erstes in Borons Reich der Träume geschickt hatte. Einen<br />

wahnwitzigen Augenblick lang hoffte Odilon, dass der Kutscher wenigstens ob der anderen beiden Gestalten, die in<br />

einigen Schritt Entfernung auf der Straße lagen, anhalten würde, aber der Mann gab dem Pferden erst recht die<br />

Peitsche. Erbarmungslos trampelten erst die Pferde und ruckelte dann das nachtschwarze Gefährt über die Körper<br />

hinweg, wobei die Hinterräder in die Luft sprangen.<br />

Odilon glaubte vor Grauen ohnmächtig zu werden. Alvan - seine Tochter! Sie hatten sie einfach überrollt. Kein<br />

Mensch konnte das überleben!<br />

Alrik überprüfte gerade zum hundersten mal das Seil des Wurfankers, dass er um den Stamm einer besonders<br />

kräftigen Pinie gelegt und vertäut hatte (was für eine hervorragende Idee, den Anker <strong>von</strong> der Fran-Horas<br />

mitzunehmen), als er Sigismund hinter seinem Felsblock hervorspringen und auf die Straße rennen sah. Bei Phex,<br />

dass das Wort "Hinterhalt" "sich hinten halten" bedeutete, hatte dieser famose Streuner wohl nicht begriffen. Nun<br />

denn, er hatte andere Sorgen, die er mindestens schon eine halbe Stunde lang wälzte.<br />

Er sollte den Wurfanker also in das Hinterrad der Kutsche werfen. Hm ja, irgendwie gefiel ihm das nicht. Zum<br />

einen würde der Kutscher gerade hier, hinter der Biegung, wieder Fahrt aufnehmen und es alles andere als einfach<br />

sein, den Anker in die Speichen einer dahinrasenden Kutsche zu werfen. Zum anderen wusste er nicht genau, wie<br />

der Wagen auf die plötzliche Blockade eines seiner Räder reagieren würde. Wenn in ihm wirklich der gefesselte<br />

Inquisitor saß oder gar lag, konnte der sehr leicht selbst Schaden nehmen.<br />

Nein, das Beste wäre, wenn die Kutsche für kurze Zeit anhalten oder zumindest die Geschwindigkeit deutlich<br />

verringern würde. Dann konnte er sie mit dem Wurfanker bequem an die Leine legen, ohne dass die Kutsche dabei<br />

völlig zertrümmert werden würde (das gute Teil konnten sie selbst ganz gut gebrauchen, außerdem war es im Wald<br />

schwerer zu verstecken als ein paar Leichen).<br />

Wenn eh schon alle auf die Straße rannten, warum nicht auch er? Er nahm einen kräftigen Ast, rammte ihn einige<br />

Schritt <strong>von</strong> seinem Versteck entfernt in die Straße und lehnte dort die einzelnen Rüstungsteile, die er dem toten<br />

Rotmantel abgenommen hatte dagegen. Nachdem er den ledernen Rotmantel darüber gehängt und die mit einem<br />

Skorpion verzierte Brosche geschlossen hatte, stülpte er auch noch den Baburiner Hut mit dem prächtigen<br />

Rossschweif über das Ganze. So, das sah ungewöhnlich genug aus, um einen Kutscher zu irritieren - zumindest<br />

aber die Gäule. Alrik kannte Pferde gut genug, um zu wissen, dass sie vor allem möglichen scheuten, bevorzugt vor<br />

wehenden Mänteln und Rossschweifen sowie schemenhaften Gestalten, die nur ein <strong>von</strong> Hesinde nicht eben<br />

gesegneter Pferdeverstand als bedrohlich empfinden konnte. Kaum hatte er sein kleines Kunstwerk beendet, hörte<br />

er auch schon die Kutsche - und ein merkwürdig hohles, hallendes Bellen. Hastig schlug er sich in die Büsche, eilte<br />

in Richtung Versteck und traf dort mit Sigismund zusammen.<br />

"Ich sag´s dir, Odilon bringt uns alle um" keuchte der und sah sich hastig um - eher nach einem Fluchtweg denn<br />

nach dem Gegner, so wollte es dem Baron <strong>von</strong> Friedwang wenigstens scheinen.<br />

"Wenn, dann bringen uns die Oronier um" knurrte Alrik. "Nix da, mitgefangen, mitgehangen. Wo ist eigentlich<br />

mein geliebtes Schwesterherz?"<br />

"Da drüben." Sigismund wies auf einen großen Kaktus, hinter dem tatsächlich Guneldes Burnus zu erahnen war.<br />

"Wahrscheinlich grübelt sie schon die ganze Zeit darüber nach, wie dieses einzigartige Geschöpf Peraines<br />

wissenschaftlich korrekt heißt" kicherte Alrik. "Da fällt mir ein..." Der Friedwanger beugte sich nach einem<br />

weiteren, kleineren Kaktus, zog seine Handschuhe über, hackte ihn mit dem Dolch in Stücke und warf diese auf die<br />

Straße. "Für die Hufe der Pferde!" lächelte er pervalisch.<br />

Dann war der Hund auch schon da, lautlos, wie aus dem Nichts. Mit hasserfülltem Bellen sprang er auf Alrik los,<br />

der reflexartig den letzten seiner Wurfsterne hinter dem Gürtel hervorzog und warf. Dort, wo die silberglänzende<br />

Waffe das schwarze Fell des Hundes traf, begann dieses förmlich zu dampfen, zu wabern und sich auf<br />

widernatürliche Weise zu verziehen. <strong>Das</strong> Tier jaulte auf - es klang wie das Heulen der Verdammten in der<br />

Seelenmühle- wich zur Seite aus und zog den Schwanz ein.<br />

"Weiche <strong>von</strong> mir, Kreatur der Niederhöllen! Ich befehle es dir im Namen der Zwölfe!" Alrik zeigte dem Dämon -<br />

dass es ein Dämon war, konnte er förmlich spüren - sein Phexamulett. Die Bestie knurrte und heulte - er fühlte<br />

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ihren eigentümlich süßlich riechenden Atem in seinem Gesicht- scharrte mit seinen Pfoten über den Waldboden<br />

und reckte sein angeschwollenes Glied. Offenbar wollte der Abgesandte der Niederhöllen ihn gar nicht<br />

zerfleischen, sondern penetrieren. Alrik war sich nicht sicher, ob er diese Aussicht wirklich als beruhigender<br />

empfand. Er sprach eine weitere Bannformel.<br />

Dies schien dem Ungeheuer erst mal zu reichen. Er machte wie ein geprügelter Hund einen Bogen um den<br />

Friedwanger und hechelte stattdessen auf den Kaktus zu, hinter dem Gunelde saß.<br />

Sigismund griff zu seinem Rapier, aber Alrik fiel ihm in den Arm:<br />

"Lass es. Hier helfen nur geweihte Waffen!"<br />

"Aber du hast doch eben auch..."<br />

Alrik machte eine unwirsche Handbewegung. Er konnte sich ohnehin grün und blau ärgern, dass er in der<br />

Aufregung die beiden anderen geweihten Wurfsterne bei seinen Opfern in Elburum zurück gelassen hatte.<br />

Verdammter Anfängerfehler...<br />

Von Odilon und Alvan her waren nun Schreie und Pferdegewieher zu hören, außerdem das Jaulen und Bellen eines<br />

weiteren Hundes. Offenbar wurde dort schon gekämpft.<br />

Alrik überlegte, ob er Gunelde zur Hilfe kommen sollte. Nein, die Kutsche anzuhalten hatte Vorrang. <strong>Das</strong> Leben<br />

seiner "Schwester" war nicht unmittelbar in Gefahr - soviel spürte er - außerdem besaß sie ein geweihtes Messer.<br />

Sie durften sich jetzt bei ihrem Plan nicht beirren lassen, sonst wäre alles umsonst.<br />

In diesem Augenblick hetzte ein durchgehendes Pferd an ihm vorbei, scheute vor der improvisierten<br />

Vogelscheuche auf der Straße, rannte zurück, trat in einen Stück Kaktus und lief nun völlig panisch in den Wald,<br />

leider auf der anderen Seite der Straße.<br />

Sigismund konnte wieder mal nicht an sich halten und lief mit gezücktem Rapier zu Gunelde, die mit panischem<br />

Aufschrei ihr Messer gezückt hatte, nach hinten stolperte und mit dem Kopf gegen einen Stein prallte. <strong>Das</strong><br />

gesegnete Erntemesser der Perainepriesterin glitt ihr aus der kraftlosen Hand. Der Dämon schien in dem gleichen<br />

Augenblick, da sein Opfer das Bewusstsein verlor, das Interesse an ihm zu verlieren - und sprang stattdessen<br />

sabbernd und hechelnd Sigismund an, der nun ebenfalls einen Schritt zurück wich.<br />

"Nimm das Messer!" rief ihm Alrik zu. Dann wurde seine Aufmerksamkeit durch die Kutsche abgelenkt, die sich<br />

deutlich hörbar näherte. Begleitet <strong>von</strong> vier Rotmänteln mit Lanzen, die auf Wimpeln das Zeichen Orons - die<br />

schwarze Dornrose auf rotem Grund - zeigten, raste sie in buchstäblich niederhöllischer Geschwindigkeit auf das<br />

Versteck zu. Waren es die Kaktusstücke auf der Straße, war es die "Vogelscheuche" - in jedem Fall begannen die<br />

Kutschpferde tatsächlich zu scheuen, zu bocken und zur Seite auszuweichen. Der Schwung der Kutsche drängte die<br />

Tiere halb <strong>von</strong> der Straße, das Gefährt stellte sich quer und auch die Begleitreiter hatten alle Mühe, ihre eigenen<br />

Pferde auf dem rutschigen Schlamm der Straße unter Kontrolle zu bringen.<br />

Den Wurfanker in der Linken, sprang Alrik aus seinem Versteck, auf den hinteren linken Geleitreiter zu - sein<br />

Vordermann sprengte gerade mit gefällter Dschadra auf die Rüstung zu, offenbar in der Meinung, einen weiteren<br />

Gegner vor sich zu haben - und griff in das Zaumzeug dessen Pferdes. Mit einem bestimmten Griff, den er in der<br />

Al´Anfaner Arena gelernt hatte (Boron sei Dank hatte es dort immer wieder Kämpfe gegeben, die Gladiatoren zu<br />

Fuß gegen als Novadis verkleidete Gegner ausfechten mussten), brachte er das Pferd zu Fall. Ein Schwall Schlamm<br />

hüllte ihn <strong>von</strong> oben bis unten ein - nun denn, das sollte seine geringste Sorge sein.<br />

Der schwergerüstete Reiter rollte sich umständlich ab, um nicht unter den massigen, zappelnden Pferdeleib zu<br />

geraten. Alrik stöhnte schmerzerfüllt auf, als ihn eines der Hufe im Unterleib traf.<br />

Die Kutsche begann bereits wieder anzufahren, also achtete Alrik nicht auf den gestürzten Gardisten, sondern hakte<br />

den Wurfanker in die Speichen des hintersten Rades ein.<br />

Erneut brach das Gefährt zur Seite hin aus, stieß das gerade wieder im Aufspringen begriffene Pferd zur Seite und<br />

wälzte es auf seinen Reiter.<br />

Alrik selbst sprang erst im letzten Augenblick zur Seite, glitt auf dem Schlamm aus und stürzte der Länge nach hin.<br />

Keinen Augenblick zu spät, den der Gardist auf dem Kutschbock hatte ihn entdeckt und mit der Armbrust über das<br />

Kutschendach hinweg auf ihn geschossen. Alriks Federhut flog <strong>von</strong> einem Bolzen durchbohrt in den Wald.<br />

So geschickt, wie es sein lahmes Bein zuließ, sprang er wieder auf. Erst jetzt begriff er, dass er allein sechs<br />

Gegnern gegenüberstand.<br />

Er hob die zu Boden gefallene Reiterlanze auf und stieß sie dem unter seinem Pferd eingeklemmten Rotmantel -<br />

eine Frau, wie er erst jetzt sah - knapp über der Skorpionsbrosche in die Kehle. Nun waren es nur noch fünf.<br />

Für Odilon schien der Zeitfluss irgendwie anders zu verlaufen, langsamer, quälend langsamer. Seine Tochter tot?<br />

<strong>Das</strong> konnte, das durfte nicht wahr sein!<br />

Wie in Trance sah er, wie Hesindian sich ein, zwei Schritt <strong>von</strong> seinem dämonischen Gegner löste und dann mit<br />

dem Zeigefinger auf ihn deutete.<br />

133


Ein Flammenstrahl raste auf die Kreatur zu und hüllte sie ein. Mit einem dumpfen Knall löste sie sich auf.<br />

Lediglich ein Geruch nach verbannter Luft und Schwefel blieb zurück.<br />

Als wäre mit dem Verschwinden des Dämons zumindest dieser Alpdruck <strong>von</strong> Odilons Seele gewichen, sah er mit<br />

einem mal wieder klarer. Er griff nach dem Zügel des Rappen, der neben ihn zum Stehen gekommen war - es war<br />

ein prächtiger Shadifhengst und eine Sünde, ihn derart zu malträtieren, wie der Magier es getan hatte - und<br />

schwang sich nach einigem guten Zureden in den Sattel. <strong>Das</strong> Tier war derart verängstigt, dass es ohne weiteres<br />

zuließ, dass es <strong>von</strong> einem fremden Reiter in halsbrecherischem Tempo den Abhang hinunter auf die Straße gejagt<br />

wurde.<br />

Bei Alvan angekommen, sprang Odilon aus dem Sattel. Er achtete gar nicht auf die grotesk verrenkte, blutige und<br />

zerschundene Puppe neben ihr, die einmal ein Oronier gewesen war, sondern beugte sich über Alvan, die<br />

merkwürdig verrenkt und mit glasigen Augen daneben lag. Einen Moment des Grauens lang glaubte er, die<br />

Totenstarre habe aus irgendeinem Grund schon früher eingesetzt, in einer derart merkwürdigen Haltung lag sie da.<br />

Erst dann merkte er, dass dies kein natürlicher Zustand sein konnte. Alvan war wirklich wie in der Bewegung<br />

erstarrt, die linke hatte sie über die Schulter gehoben, vermutlich, um einen weiteren Pfeil aus ihrem Köcher zu<br />

ziehen. Der Bogen in ihrer Rechten war zerbrochen, aber außer viel Schmutz auf ihrer Kleidung war an ihr nicht<br />

der geringste Kratzer auszumachen. Langsam kam Odilon die Erkenntnis, dass dieser Zustand nicht auf Borons<br />

Wirken, eher auf einen Spruch des Schwarzmagiers zurück zu führen war. Erleichtert ließ sich Odilon in den<br />

Schmutz fallen, vergaß für einen Augenblick den Kampf und den Toten neben sich und genoss den Regen in<br />

seinem Gesicht.<br />

"Ei´ Pa´alü Pa´alein, neue´dings au´ als Pa´alysis be´ann´" Hesindian näherte sich <strong>von</strong> hinten, das Pferd des<br />

Gardisten am Zügel.<br />

Odilon nickte. Er kannte den Zauber, der <strong>von</strong> vorübergehender Dauer war. Firun sein Dank hatte der Magier<br />

zumindest einen Gefangenen machen wollen.<br />

Erst jetzt besann er sich, was sie hier eigentlich vorhatten. Vor sich sah er, dass die Kutsche zum Stillstand<br />

gekommen war. Einer der Rotmäntel war gestürzt, eine Lanze ragte aus seiner Kehle in den Nachthimmel. Alrik<br />

hatte sich auf dessen Pferd geworfen und galoppierte nun im gestreckten Galopp auf Odilon zu, verfolgt <strong>von</strong> zwei<br />

berittenen Rotmänteln, die ihre Lanzen auf dessen Rücken gerichtet hielten - vielleicht noch einen Spann da<strong>von</strong><br />

entfernt.<br />

Odilon suchte unter Alvans Pfeilen, die neben ihrem Köcher verstreut lagen, einen mit einem Blatt um der Spitze<br />

heraus, riss den Schutz herab und legte das Geschoss auf die Sehne. Alrik war nun nur noch wenige Schritt <strong>von</strong> ihm<br />

entfernt. Der Baron löste die Fibel, die seinen dunkelgrauen Mantel zusammenhielt, der nun wie ein Nachtgespenst<br />

durch die Luft flog - einem der Verfolger mitten ins Gesicht. Sofort fiel der Gardist zurück. Auch der andere war<br />

irritiert, entdeckte er doch nun zwei weitere Gegner auf der Straße. Der Abstand zwischen seiner Dschadra und<br />

Alriks Rücken verlängerte sich etwas.<br />

Keinen halben Schritt neben Odilon sprang das Pferd des Friedwangers über die stocksteife Alvan hinweg. In<br />

diesem Augenblick hielt sein Reiter sich an dem knorrigen Ast der Eiche fest, <strong>von</strong> der die Halbelfe gerade eben<br />

herunter gefallen war - und wurde aus dem Sattel gehoben. Geschickt hangelte Alrik sich in die Krone der Eiche,<br />

während das Pferd weiterrannte.<br />

Sein Verfolger ritt unter dem Ast hindurch, zügelte sein Pferd scharf und versuchte etwas verwirrt sich die neue<br />

Situation zu erfassen.<br />

Odilon riss Bavhano´Braith hoch und schoss den Pfeil auf den Gardisten.<br />

Dieser hob erstaunlich geschickt einen kleinen runden Metallschild und wehrte - Pling! - das Geschoss ab.<br />

Ein Warnruf Hesindians ließ Odilon sich dem zweiten Lanzenreiter zuwenden, der mit gefällter Dschadra auf ihn<br />

zupreschte<br />

"Blitz dich find, werde blind!" schrie Hesindian. Tatsächlich, der Rotmantel griff sich schreiend an den Kopf, ließ<br />

die Lanze fallen und hatte sichtlich Mühe, sein über den glatten Boden schlitternden Shadif noch einigermaßen<br />

unter Kontrolle zu halten. Immerhin, er stürzte nicht aus dem Sattel, was auf bemerkenswerte Reitkünste<br />

hindeutete.<br />

Alrik sprang wieder <strong>von</strong> seinem Baum, zog sein Schwert und hieb damit die Zügel des Gardisten entzwei. Ein<br />

Schwerthieb gegen seinen Schild - immerhin, er hatte es geschafft, ihn blind zu parieren - ließ ihn endgültig in<br />

Richtung Schlamm stürzen.<br />

Odilon musste sich nun wieder seinem ursprünglichen Gegner zuwenden - sie entpuppte sich als Gardistin, sogar<br />

eine recht hübsche, den glutvollen Augen unter dem Baburiner Hut nach zu urteilen- die ihrem Pferd einige Schritt<br />

Anlauf gegeben hatte und nun mit eingelegter Lanze auf ihn zu galoppierte. Der Waldläufer ahnte, dass er keine<br />

Zeit mehr haben würde, einen weiteren Pfeil einzulegen, ließ Bavhano´Braith fallen und versuchte der Lanze<br />

auszuweichen. Sein linker Fuß glitt auf dem rutschigen Boden aus. Schmerzhaft schrammte das Eisen an seinem<br />

134


echten Arm vorbei. Odilon konnte die brennende Wunde klaffen spüren. Ausgerechnet der rechte, der<br />

Schwertarm.... Dennoch, besser gestriffen als durchbohrt!<br />

Mit zusammen gebissenen Zähnen zog er Wandelur und sprang auf "sein" Shadif, das nervös neben ihm herum<br />

tänzelte. Kaum war er im Sattel, griff seine Gegnerin erneut an, einen wilden Fluch auf den Lippen. Odilon lenkte<br />

das Pferd geschickt zur Seite und hieb der Oronierin das Schwert über den Helm. Erneut konnte sie mit ihrem<br />

Schild parieren - verdammt, die Kleine focht wirklich gut. Eine wüste Rangelei aus Mensch und Pferd setzte ein,<br />

die erst endete, als die Gardistin wie unter einem unsichtbaren Hieb aufstöhnte. <strong>Das</strong> musste ein Zauber <strong>von</strong><br />

Hesindian gewesen sein. Allerdings wirkte sie da<strong>von</strong> kaum beeindruckt. Sie schleuderte ihre Lanze in Odilons<br />

Richtung - der sich hastig unter dem Wurf wegduckte - und griff zum Khunchomer. Odilon lächelte grimmig. Von<br />

gleich zu gleich - das gefiel ihm doch schon viel besser.<br />

Alrik schlug mit seinem Schwert auf den gestürzten Gegner ein, der sich allerdings wieselflink zur Seite rollte.<br />

Schlamm spritzte auf, und der Friedwanger hatte Mühe, selbst auf den Beinen zu bleiben. Aus den Augenwinkeln<br />

sah er, wie ein dritter Lanzenreiter herbei eilte, während an der Kutsche selbst der Armbrustschütze damit<br />

beschäftigt war, das Seil des Wurfankers durchzuhacken.<br />

Verdammt, es war vielleicht doch keine gute Idee gewesen, das Kutschenrad nicht zu zerstören.<br />

"Hesindian, kümmere du dich um ihn!" rief Alrik und deutete mit dem Schwert auf den Gardisten, der gerade<br />

umständlich aufstand und seinen Khunchomer hob.<br />

Der Friedwanger fing dessen Pferd ein, steckte die Klinge in die Scheide und schwang sich in den Sattel. Der<br />

Lanzenreiter war nun buchstäblich zum Greifen nah. Alrik schüttelte sein Wurfmesser aus dem Ärmel und<br />

schleuderte es dem Angreifer ins Gesicht. Er konnte nicht sehen, welche Wirkung es dort verursachte, aber<br />

zumindest hob der Mann nun seine Lanze und zügelte sein Pferd. Dessen Flanke prallte gegen den Hals <strong>von</strong> Alriks<br />

Shadif und drängte es ein wenig zur Seite.<br />

Kurzentschlossen hieb Alrik mit Rabenfraß, seiner treuen Kusliker Klinge, auf den Helm des Mannes ein. Auch<br />

dieser wehrte den Schlag geschickt mit dem Schild ab. Funken sprühten. Der Oronier musste seine Lanze fallen<br />

lassen und zum Khunchomer greifen.<br />

Erneut stieß Alrik zu - in den Hals des gegnerischen Shadif. <strong>Das</strong> war zweifelsohne unehrenhaft, aber lieber wollte<br />

er zuerst zuschlagen, bevor sein Gegenüber auf die gleiche Idee kam. <strong>Das</strong> Tier brach zusammen und der Rotmantel<br />

sprang aus dem Sattel, bevor er unter dem Pferd begraben werden konnte.<br />

Alrik sah, wie die Kutsche genau in diesem Moment wieder anfuhr und gab seinem Ross die Sporen.<br />

Odilon focht unterdessen mit der hübschen Gardistin, deren Kampfstil etwas <strong>von</strong> der einer Wildkatze an sich hatte.<br />

Selbst er, der erfahrene Veteran, konnte einige Hiebe und Finten nur mit äußerster Mühe abwehren. Vor allem der<br />

Schild machte die Gardistin zu einer schwer zu knackenden Gegnerin, auch wenn sie ihr Pferd nur noch mit<br />

Schenkeldruck lenkte und er seine Linke am Zügel hatte. Am Rande bekam er mit, wie Hesindian unter einem<br />

schweren Treffer an der Schulter aufschrie und ein weiterer Gardist sich zu Fuß näherte. Nein, er durfte hier keine<br />

Zeit vertändeln. Mit seiner "Spezialität", der Bärentatze, deckte er die Reiterin ein, die sich eingeschüchtert unter<br />

ihrem Schild versteckte. Dann stieß er in die darunter entstandene Lücke hinein - Rondra sei Dank hatte Wandelur<br />

diesen Vorteil gegenüber einem plumpen Khunchomer. Die Frau schrie auf und senkte ihren Schild instinktiv<br />

etwas, um diese Schwachstelle zu schützen. Ein weiteres Mal pfiff das Schwert des Baernfarners durch die Luft.<br />

Der Khunchomer zuckte hoch, um zu parieren. Odilon lachte in sich hinein. Er hatte diesen Spalthieb bereits einige<br />

male ausgeführt, um seiner Gegnerin weiß zu machen, dass dies seine bevorzugte Angriffsmethode sei. Erneut<br />

änderte er die Schlagrichtung und bohrte die Spitze Wandelurs in die Kehle seiner Gegnerin. Erstaunt sah diese den<br />

Stahl an, über den nun ihr dunkles Blut sprudelte. Dann rutschte sie leblos aus dem Sattel.<br />

Odilon riss das Shadif herum, ritt auf Hesindians Gegner zu und fällte ihn mit einem einzigen, gewaltigen Hieb.<br />

Der andere Gardist griff sich ein herumtänzelndes herrenloses Shadif und schwang sich auf dessen Rücken. Nach<br />

einigen Herzschlägen hatte er den Pfad nach Norden erspäht und galoppierte in diese Richtung.<br />

"Hesindian, mein Bogen!"<br />

Der Magus reichte ihm die Waffe. Odilon sprengte dem Flüchtenden hinterher, riss einen Pfeil aus dem Köcher,<br />

legte an und schoss. Der Rotmantel schrie auf, als ihn der Pfeil im Rücken traf, blieb aber im Sattel. Erst das zweite<br />

Geschoss warf ihn herunter. Der Baernfarn preschte mit seinem Pferd über den Gestürzten hinweg.<br />

Alrik flog auf dem Rücken seines Shadif die Straße entlang. <strong>Das</strong> Wäldchen hatte er längst hinter sich gelassen und<br />

selbst der Regen hörte auf. Die Wolken verzogen sich und mattes Mondlicht erhellte die selemische Finsternis um<br />

ihn herum. Phex ließ ihn eben nicht im Stich.<br />

Vor sich konnte er nun wieder die Kutsche erspähen, die er einen Augenblick lang aus den Augen verloren hatte.<br />

Immerhin, zu Pferd war er eindeutig schneller als dieser klobige Kasten - ein solider Gefängniswagen, wie er ihn<br />

nur zu gut kannte, mit vergitterten Fenstern an den Seiten und einer eisenbeschlagenen Tür auf der Rückseite, die er<br />

bereits im fahlen Mondlicht leuchten sehen konnte.<br />

135


Links und rechts erstreckten sich nun Weizenfelder, die den Mondschein noch verstärkten. Vor sich sah er den<br />

Gardisten mit der Armbrust aufs Dach klettern, sich auf den Bauch legen und zielen.<br />

Alrik riss das Pferd herum und lenkte das Pferd ins Weizenfeld. Körner und Halme wirbelten um ihn herum durch<br />

die Luft. Dadurch verlor er zwar an Geschwindigkeit, bot aber ein deutlich schlechteres Ziel. Der Rotmantel auf<br />

dem Dach konnte der Versuchung nicht widerstehen und schoss dennoch. Alrik sah den Bolzen nicht einmal, der<br />

an ihn vorbei in die Nacht sauste.<br />

Mit verhängten Zügeln kehrte er auf die Straße zurück. Erneut hatte er Glück. Die Straße machte eine leichte<br />

Biegung, und die Kutsche, die bereits einen deutlichen Vorsprung herausgefahren hatte, musste ihre<br />

Geschwindigkeit verlangsamen. Als die Straße wieder geradeaus ging, hatte sich Alrik bereits wieder auf wenige<br />

Schritt heran gearbeitet.<br />

Sein Gegner auf dem Dach war dennoch nicht faul. Er löste eine auf dem Dach festgeschnallte Kiste und<br />

schleuderte sie als Wurfgeschoss auf seinen Verfolger. Erneut wich Alrik ins Kornfeld aus.<br />

Dichtes, dorniges Buschwerk versperrte ihm dort nach wenigen Dutzend Schritt den Weg. Alrik fluchte und kehrte<br />

auf die Straße zurück. Er konnte spüren, wie die Kraft aus dem Shadif schwand. Nun denn, auch die Kutsche würde<br />

dieses irrsinnige Tempo nicht auf ewig halten können, zumal die Schlaglöcher in der Straße ihr weitaus mehr zu<br />

schaffen machten als einen einzelnen Reiter.<br />

Erneut hatte Alrik Glück. Ein Dornbusch war auf die Straße gerollt und der Kutscher musste nun seinerseits sein<br />

Gefährt ins Weizenfeld lenken, um die Hufe der Pferde nicht zu gefährden. Einen Sinn hatte diese wilde<br />

Verfolgungsjagd also schon mal - sie schränkte die Versorgung der Heptarchien mit Weizen deutlich ein...<br />

Alrik ließ das Shadif über den Dornbusch springen und sah zur Kutsche, die auf ihrem Querfeldeinweg bedenklich<br />

schwankte und wenige Schritt vor ihm wieder auf die Straße kam. Der Baron holte alles aus seinem Reittier heraus<br />

und tatsächlich kam er nun bis auf einen Armbreit an die Karosse heran.<br />

Seine behandschuhte Linke berührte das Gitterfenster der Wagentür. Er nestelte seine Stiefel aus den Steigbügeln,<br />

schloss die Finger um einen der Stäbe, ließ den Zügel los und griff auch mit der Rechten nach einem Gitterstab.<br />

Alrik wurde mehr aus dem Sattel gezogen, als dass er selbst sprang.<br />

Schließlich hing er an dem kleinen Türchen - und schleifte mit den Stiefeln und Unterschenkeln über die Straße,<br />

die zum Glück aus weichem Schlamm bestand. Also pflügte er mit den Füßen durch den Matsch, eine ganze<br />

Fontäne aus Schlamm hinter sich hochwirbelnd.<br />

Mit äußerster Kraftanstrengung zog er sich hoch und kam schließlich auf dem schmalen Trittbrett der Tür zum<br />

Stehen. Der Armbrustschütze, der unterdessen gemerkt hatte, dass ein Mitfahrer hin zu gekommen war, versuchte<br />

ihm die Armbrust ins Gesicht zu stoßen. Alrik wich aus, packte den Stahlbogen der Waffe und riss sie dem<br />

Rotmantel aus der Hand. Nutzlos fiel die Armbrust in die Tiefe.<br />

Alrik hatte einen Augenblick Luft, um durch das Gitterfenster zu blicken. Tatsächlich konnte er das Ornat des<br />

Inquisitors erahnen, der an die Wand gekettet war.<br />

Nun musste er sich wieder dem Gardisten zuwenden, der seinen Sklaventod gezückt hatte und ihm damit eine<br />

Rasur zu verpassen suchte. Alrik griff nun ebenfalls zu seiner Klinge und wehrte die ungelenken Hiebe vom<br />

Kutschendach ab - wenn auch selbst ob der Umstände nicht sonderlich geschickt. Ein Schlagloch kam ihm zu<br />

Hilfe. Der Gardist wurde in die Höhe geschleudert und hatte Mühe, den Sklaventod in der Hand zu behalten. Alriks<br />

Klinge verhakte sich mehr zufällig als absichtlich in einer der monströsen Zacken der Waffe. Ein Ruck, dann hatte<br />

er sie dem Rotmantel entwunden. Auch sie fiel auf die Straße. Wütend trat dieser nach Alrik, traf aber nur das<br />

Schwert, das nun Alrik aus der Hand glitt.<br />

Also zückte er seinen Dolch, den er sich in Piratenmanier zwischen die Zähne klemmte, um dann das<br />

Kutschendach zu entern. Sein Gegner versuchte ihn mit dem Stiefel nach unten zu treten, wäre aber selbst beinahe<br />

ausgeglitten. Hastig hielt er sich an einem der Lederbänder fest, die gerade noch die Truhe gehalten hatte, kroch<br />

vorsichtshalber in Richtung Kutschbock zurück und zog seinerseits einen Krummdolch. Geduckt huschte er wieder<br />

vor.<br />

Eine wüste Messerstecherei auf dem schwankenden, wankenden Dach der Kutsche entbrannte. Mit hässlichem,<br />

kaltem Zischen fuhren die Klingen durch die Luft. Alrik spürte, wie der Waqquif über seinen Handrücken glitt.<br />

Blut tropfte zu Boden. Dann stieß er selbst zu. Sein Gegner wich geschickt aus, griff erneut an. Die Klinge bohrte<br />

sich in Alriks Seite. Mit einem Schmerzenschrei ließ er die Klinge fallen, die sich ins Holz des Kutschendaches<br />

bohrte. Ein Ruck der Kutsche, und er wurde unsanft auf den Rücken geworfen. <strong>Das</strong> Haumesser zuckte herab. Im<br />

letzten Augenblick umklammerte Alrik mit der Rechten das Handgelenk seines Gegners, der über ihn fiel und die<br />

Linke um seine Kehle schloss.<br />

"Lass es einfach zu" knurrte der Oronier in kältestem Tulamidya. "Der Schmerz, die Angst...es ist der Einen und<br />

Einzigen gefällig. Gleich wirst du bei ihr sein - auf ewig!"<br />

136


Fingerbreit für Fingerbreit ruckte die Spitze des Dolchs nach unten, immer näher auf Alriks gesundes Auge zu.<br />

Speichel tropfte aus dem Mund des Oroniers, dessen Gesicht wie bei einem Ferkina völlig vernarbt und verbrannt<br />

war. Er schien die Situation zu genießen.<br />

Alriks Linke tastete nach dem Hals des Gegners, fand die Brosche mit dem Skorpion, die dessen Mantel<br />

zusammenhielt.<br />

Die Spitze des Waqquif wies nun genau auf die Iris <strong>von</strong> Alriks gesundem Auge. Der Gardist grinste und sabberte<br />

dabei erneut. "<strong>Das</strong> Schönste ist - das ist ein Krummdolch! Damit werde ich dein Auge nicht ausstechen, sondern,<br />

haha, ausschaben!" Ein krankes Lachen schallte durch die Nacht.<br />

Alriks Finger drückten gegen die Nadel, die die Skorpionsbrosche mit dem Mantel zusammenhielt. Im nächsten<br />

Augenblick hatten seine Finger die Halsschlagader des Rotmantel ertastet. Mit einem Gebet zu Phex stieß Alrik die<br />

spitze Nadel hinein.<br />

Der Gardist schrie auf, tastete nach seiner Kehle, während dunkles Blut aus der Wunde sprudelte. Der Waqquif<br />

klirrte auf das Kutschendach. Alrik packte seinen Gegner am Kragen und stieß in die Finsternis, wo er krachend<br />

aufschlug. Dann langte er sich selbst unter das Kinn.<br />

"Man sollte eben keinen Skorpion am Hals tragen" zischte er. Nun musste er sich festhalten, denn der Kutscher<br />

zügelte scharf die völlig erschöpften, schweißüberströmten Pferde. Nachdem die Kutsche zum Stehen gekommen<br />

war, griff der letzte Gardist ebenfalls zum Krummsäbel.<br />

Alrik hob den Krummdolch auf und sah den Rotmantel herausfordernd an.<br />

"Na, Rotmäntelchen - willst du dir deine Kutte auch noch ein bisschen nachfärben lassen, so wie deine Kumpels<br />

gerade eben?"<br />

Ein tulamidischer Fluch erklang, denn Alrik nicht verstand.<br />

Der Khunchomer sauste herab. Alrik parierte mit dem Krummdolch.<br />

"Schau an, Dummerchen. Da hast du doch glatt übersehen, dass ich noch ein Messer habe."<br />

Der Gardist riss die Augen auf und schielte in Richtung der Klinge, die in seinem Nacken steckte. Alrik schüttelte<br />

den Kopf und riss den bluttriefenden Dolch wieder heraus, den er im Gürtel hinter seinem Rücken versteckt hatte.<br />

Der Mann fiel aufs Gesicht, zuckte noch ein wenig und war tot.<br />

"<strong>Das</strong> war´s schon? Kein Wunder, dass sie dich nur zum Kutscher gemacht haben."<br />

Alrik nahm dem Toten den Schlüsselbund ab, der an dessen Gürtel hing, und suchte den Schlüssel für die Tür<br />

heraus.<br />

Im Inneren der Karosse fand er tatsächlich den Inquisitor, wie zum Hohn im vollen Ornat des Hochgeweihten, auf<br />

einer Klappbank sitzend, Hände und Füße mit schweren Eisenketten gefesselt. Sein Gesicht war bleich und<br />

ausdruckslos - aber es war ohne Zweifel Meister Selbfried, der dort saß. Sogar die Haare hatten sie ihm gelassen.<br />

"Na, wie gefallen Euch die oronischen Fesselspiele? Da kann Euereins wohl selbst noch was dabei lernen"<br />

Selbfrieds Gesichtsausdruck verriet, dass ihm nicht zum Scherzen zumute war.<br />

Odilon lenkte sein Pferd zu der Steineiche zurück, wo seine Tochter noch immer versonnen ins Nichts starrte.<br />

Hesindian war ebenfalls auf ein Pferd der Wachen gestiegen. Gemeinsam ritten sie zu der Stelle, wo die tote<br />

Gardistin in einer Pfütze aus Wasser und Blut lag. Alrik hatte sich offenbar an die Verfolgung der Kutsche<br />

gemacht, aber wo um alles in der Welt waren Gunelde und Sigismund abgeblieben?<br />

Ein leises Wimmern und Schluchzen, immer wieder unterbrochen <strong>von</strong> einem merkwürdigen Stöhnen, wies ihnen<br />

den Weg. Sigismund lag einige wenige Schritt entfernt im Wald, sein Gewand war völlig zerfetzt, der Rücken <strong>von</strong><br />

Krallenspuren gezeichnet. Sein verzweifelter, irgendwie aber auch genießerischer Gesichtsausdruck war eindeutig.<br />

Genauer gesagt, schien er gerade zwischen der Erinnerung an etwas unsäglich Lustvolles und äußerstem Selbstekel<br />

hin und her gerissen zu werden. Der dämonische Hund war verschwunden. Die Perainedienerin kauerte neben<br />

einem Kaktus, offenbar <strong>von</strong> einem Hieb auf den Kopf benommen.<br />

Der Magus wirkte einen Heilzauber auf seine Schulterwunde. Odilon ging schweigend daran, die vom Schlafgift<br />

Betäubten mit Wandelurs Hilfe endgültig in die Verdammnis zu befördern.<br />

Er hatte gelernt, und was sonst sollte er mit den Rotmänteln anstellen?<br />

Nach einer Weile hörten sie, wie die Kutsche zurückkehrte. Alrik saß auf dem Kutschbock, neben ihm der<br />

totenbleiche Inquisitor.<br />

"Hier, dieses Gefährt habe ich für uns aufgetrieben."<br />

"Wo sind die anderen Gardisten?" fragte Odilon.<br />

"Liegen hinten im Wagen. Ich denke, sie haben als gute Oronier ihr Ableben genossen."<br />

"Gut. Ach ja, und Alvan müssen wir auch noch in die Kutsche heben, sie ist verzaubert."<br />

„Wie sollen wir eigentlich den toten Gaul wegschaffen?“ merkte Sigismund an und deutete auf das Pferd, das Alrik<br />

erschlagen hatte.<br />

„Verdammt.“ rief Odilon erschrocken. „Die Pferde!!! Es waren sieben Reiter und vier Pferde vor der Kutsche. Ich<br />

sehe hier nur neun Pferde, und das tote eben. Wo ist das letzte Pferd?“ fragte Odilon in die Runde.<br />

„Ist doch egal, wir haben schließlich genug Reittiere. Hilft mir mal jemand mit dem toten Gaul?“<br />

137


Odilon hörte nicht auf den Streuner. „Wenn diese Pferde auch nur halbwegs vernünftig zugeritten sind, dann wird<br />

sich ein herrenloses Tier zurück in seinen Stall begeben. Und dann haben wir ein Problem. <strong>Das</strong> muss das Pferd des<br />

Gardisten sein, den ich auf der Flucht erledigt habe. Der Rotmantel ist aus dem Sattel gefallen, aber der Gaul ist<br />

weiter galoppiert. Ich habe mich nicht weiter um das Tier gekümmert, weil ich ja nach der Kutsche sehen wollte.<br />

Verdammt, das war nachlässig <strong>von</strong> mir!“<br />

Erschrocken sahen die anderen Odilon an.<br />

“Wenn das Tier herrenlos am Stadttor ankommt, dann gnade uns Boron. Sie werden natürlich einen Suchtrupp<br />

losschicken. Wir müssen schnellstmöglichst hier weg, bevor weitere Gardisten hier auftauchen. Los, schleifen wir<br />

den Gaul <strong>von</strong> der Straße. Na auf geht’s, packt mit an!“<br />

Odilon warf einen Blick auf den matschigen Boden. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Es war unmöglich die<br />

Spuren des Kampfes zu verwischen. Wer hier vorbeikam und nicht völlig blind war würde sehen, dass hier etwas<br />

stattgefunden hatte. Gut, die Gardisten waren keine Waldläufer, es war dunkel und der Regen verwischte einiges.<br />

Aber dennoch war der matschige Untergrund völlig zerwühlt. Es war auch für einen kompletten Laien der<br />

Spurensuche nicht zu übersehen, dass sich hier eine größere Anzahl Personen bewegt hatten, und er hatte nicht die<br />

Zeit, die Spuren zu verwischen, bis hier vermutlich weitere Gardisten aufkreuzen würden. Und dann hatten sie<br />

noch das Problem mit dem toten Pferd. Auch wenn sie es <strong>von</strong> der Straße schleifen würden, so wäre die Schleifspur<br />

überdeutlich vorhanden, der Gaul war einfach zu schwer und zu groß, um ihn einfach so wegheben und verstecken<br />

zu können. Dazu der umgehackte Kaktus und der <strong>von</strong> der stürzenden Alvan mitgerissene Ast der Eiche ließen sich<br />

nicht mehr in den ursprünglichen Zustand bringen. Ein Anfänger des Fährtensuchergewerbes würde erkennen, dass<br />

hier gekämpft worden war.<br />

Aber ein Anfänger der Spurenkunde würde nicht mehr erkennen. Und Odilon rechnete damit, dass, sobald das<br />

fehlende Pferd aufgefunden wurde, ihnen Gardisten, Söldner und Soldaten hinterhergeschickt wurden. Vielleicht<br />

auch ein Magier. Aber doch wohl kein Waldläufer. Der Krieg im Süden war ein Krieg der Söldnerheere. Nur im<br />

Norden wurde ein Krieg mit Jägern und Waldläufern geführt. Ein geübter Waldläufer würde sofort erkennen, dass<br />

ein Schütze auf der Eiche und ein anderer auf dem Hügel postiert waren. Aber er hatte es mit Soldaten zu tun. Mit<br />

Menschen, die wohl gut zu kämpfen verstanden, nicht aber Firuns Sprache beherrschten. Odilon lächelte wieder.<br />

„Halt, nein. <strong>Das</strong> Pferd lassen wir liegen“ rief er Alrik zu, der sich mit Sigismund vergeblich mühte, den schweren<br />

Pferdeleib <strong>von</strong> der Stelle zu ziehen. „Und der überrollte Gardist bleibt auch dort, wo er ist. Da liegt er gut. Und die<br />

anderen Leichen auch.“<br />

„Wie... aber du hast Doch gesagt, dass...“ fragte Sigismund.<br />

„Hab ich. Ich hab mich eben anders entschieden.“<br />

„Nun erklär aber mal was das soll.“ begann Alrik. „Den toten Gaul, die ganzen Leichen, das sieht doch ein Blinder,<br />

die können wir doch nicht hier liegen lassen.“<br />

„Doch. Sie sollen ihn sehen. Er wäre auch nicht unauffälliger als die durch den schweren Pferdeleib entstehende<br />

Schleifspur, der kleingehackte Kaktus dort hinten und die gut sieben Schank Pferdeblut, die hier die Erde tränken.<br />

Nebst dem ganzen aufgewühlten Matsch und den Fußabdrücken, die wir in der Eile nicht verwischen können. Es<br />

läßt sich in der Kürze der Zeit nicht verbergen, dass hier gekämpft wurde. Aber so gehen sie wenigstens da<strong>von</strong> aus,<br />

dass wir es schlicht nicht nötig haben Spuren zu verwischen weil wir ohnehin keine Angst vor ihnen haben.“<br />

Alrik und Sigismund sahen Odilon fragend an. Dieser nahm spitzbübisch lächelnd sein Messer und ritzte ein<br />

Praiossymbol in den toten Pferdelaib. <strong>Das</strong>selbe Symbol ritzte er auf die Stirn des Überrollten.<br />

„Wenn Du eine Spur nicht verwischen kannst, dann lege eine andere auffälligere Spur. Alte Jägerweisheit der<br />

Nivesen“ sprach Odilon. Noch immer verstand niemand der Gefährten seinen Plan, wie der Jäger den Ausdrücken<br />

der Gesichter seiner Gefährten entnahm. Gut, dachte Odilon, wenn denen keiner draufkommt, dann werden die<br />

Büttel das auch nicht durchschauen. „Ist doch logisch. Hier sind so viele Spuren, dass selbst die grünsten Gardisten<br />

ohne jede Wildniserfahrung feststellen, dass hier gekämpft wurde, und wir haben nicht die Zeit, alle Spuren zu<br />

beseitigen. Vermutlich wimmelt es hier in zwei Stunden nur so vor Soldaten. Also geben wir ihnen etwas anderes<br />

zu finden, schon damit sie uns nicht finden. Sie werden glauben, wir haben vor, nach Westen durchzubrechen; ins<br />

rettende Aranien sind es keine hundert Meilen. <strong>Das</strong> wäre für ein Befreiungskommando zugunsten des Inquisitors<br />

das Naheliegendste, und <strong>von</strong> unseren <strong>Maraskan</strong>plänen wissen sie ja nichts. Also bestärken wir sie in diesem<br />

Glauben. Wenn wir jedoch Spuren unvollständig verwischen würden sie glauben, wir halten uns hier irgendwo<br />

versteckt. Sigismund, du führst die Gruppe zum geplanten Treffpunkt mit den <strong>Maraskan</strong>ern, bis Alvan wieder...<br />

genesen... ist, dann wird sie als Wildniserfahrenste übernehmen. Ich lege eine Spur, die nach Westen führt, damit<br />

die Büttel auch was zu verfolgen haben. Auf der matschigen Straße hinterlassen die Räder der Kutsche eine Spur,<br />

die der dümmste verfolgen kann. Sie werden, da sie uns zur Strecke bringen und den Inquisitor wieder haben<br />

wollen meine Spur verfolgen. Dort wo die Kutsche ist, da sind auch wir, das werden sie glauben. Daher werden sie<br />

es nicht bemerken, dass ihr bereits schon lange auf einem anderen Weg seid. Ihr reitet zurück bis zur Kurve. Von<br />

dort aus sieht man den Kampfplatz bereits, er wird ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dort schlagt ihr Euch<br />

nach Norden, möglichst ohne Spuren zu hinterlassen. Reitet den schmalen Bachlauf entlang, da hinterlassen die<br />

Hufe keine Spuren. Jedenfalls keine, die ein oronischer Büttel aufzufinden vermag. Wenn ihr den Wald hinter Euch<br />

138


gelassen habt, dann reitet rasch nordwärts zum Treffpunkt, ihr solltet noch im Schutz der Dunkelheit dort<br />

ankommen, und Euch den folgenden Tag versteckt halten.“<br />

„Was machen wir mit Alvan?“ wollte Sigismund wissen.<br />

„Hesinde sei Dank wirkt so ein Versteinerungszauber nur eine begrenzte Zeit“ erläuterte Hesindian. „Die Gute wird<br />

<strong>von</strong> selbst wieder zu sich kommen... in ein paar Stunden.“<br />

„Und was soll die Kritzelei auf dem Gaul. <strong>Das</strong> ergibt doch keinen Sinn!“ wunderte sich Gunelde.<br />

„Eben. Sie ergibt keinen Sinn, und genau darin liegt der Sinn.“ Odilon genoß den Blick in die verdutzten Gesichter<br />

der Gefährten, ehe er fortfuhr. „Alles, was auf den ersten Blick unverständlich erscheint, aber nicht völlig wirr<br />

wirkt, regt die Phantasie an. Sie werden ergründen wollen, ob nun irgendwelche Praiosfanatiker ihren<br />

Ordensbruder befreit haben oder so in der Art. Gerade weil die Kritzelei sinnlos und völlig überflüssig ist, aber auf<br />

alle Fälle auffallend, werden sie sich fragen, was damit bezweckt wird. Daher werden sie meine Spur umso ernster<br />

nehmen. Die anderen Toten werde ich auch so zeichnen. Sollen die Verfolger doch ein Ritual dahinter vermuten<br />

oder so etwas, ist doch egal. Aber es wird ihre Aufmerksamkeit auf die falsche Spur locken. Sie sollen etwas zum<br />

Grübeln haben, Hauptsache sie merken nicht, dass die Kutsche bis hierher <strong>von</strong> Spuren <strong>von</strong> elf Pferden begleitet<br />

wird und ab jetzt nur noch <strong>von</strong> vieren. Und jetzt los, jede Minute ist kostbar.“<br />

„Was ist mit Dir?“ fragte Alrik.<br />

„Ich fahre mit der Kutsche nach Westen. Schön auffällig versteht sich. Dann werde ich sie irgendwo entsorgen, und<br />

mit den vier Pferden einen Bogen nach Norden schlagen und zu Euch stoßen. Allerdings erst morgen Nachmittag,<br />

die Büttel wollen ja beschäftigt sein bis das Schiff nach <strong>Maraskan</strong> ablegt... Sollte ich morgen Abend nicht dort sein,<br />

dann fahrt ihr ohne mich!“<br />

„Aber...“<br />

„Keine Widerrede! Aber ein bisschen <strong>von</strong> dem Schlafgift für meine Pfeile könnte ich schon noch gebrauchen. Man<br />

weiß ja nie, was einen hier noch alles erwartet.“<br />

Alrik reichte Odilon ein Tiegelchen mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit. „<strong>Das</strong> dürfte wohl für zwanzig Pfeile<br />

genügen. Vielleicht hilft es Dir, einmal feindliche Linien zu durchbrechen, nur gegen eine ganze Armee ist es<br />

natürlich zu wenig. Aber ich nehme an Du weißt, was Du tust. Viel Glück und Phex mit Dir.“ Alrik hob die noch<br />

immer versteinerte Alvan auf sein Pferd und stieg dahinter in den Sattel. Mit einem Wink brachte er die Gefährten<br />

dazu, es ihm gleich zu tun. Sigismund half Selbfried beim Aufsteigen und nahm die Zügel <strong>von</strong> dessen Pferd – der<br />

Inquisitor war zu erschöpft und <strong>von</strong> der Folter gezeichnet, als das er selbständig reiten konnte. Auch Gunelde und<br />

Hesindian stiegen auf die Pferde. Alrik führte die Schar an, die sich auf einem Bachlauf durch den Wald nordwärts<br />

hielt.<br />

139


VI. Kapitel: Unter Schmugglern und Freischärlern<br />

"Was glaubst du, befindet sich in den Krügen?" Alrik hatte eine Fackel entzündet - sein Rucksack scheint<br />

unerschöpflich zu sein, dachte Alvan - und leuchtete über die Amphoren hinweg, die wie die Terrakotta-Armee<br />

eines mumifizierten Echsenherrschers oder alttulamidische Kanopenkrüge in Reih und Glied in der kleinen<br />

Sandsteinhöhle standen.<br />

"Aranischer Rotweinwein, Duftöl, Parfüm und ein wenig Rauschkraut, würde ich sagen. Alles, was man als<br />

Söldner in Jergan ebenso braucht." Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim strich sich über ihren verschorften Schädel, wo<br />

mittlerweile wieder die ersten Stoppeln zu sprießen begannen. Aber noch immer schmerzte der eine oder andere<br />

Schnitt, der tiefer gegangen war.<br />

"Ihr habt eine feine Nase." Der Baron löschte die Fackel wieder, in dem er sie über den nassen Flugsand verteilte,<br />

den der Ostwind über den Höhlenboden verteilt hatte. "Ich rieche kaum mehr als Salz und Algen."<br />

"Meine Mutter ist eine Elfe. Von der habe ich das Näschen." Alvan musterte den Friedwanger. Er hatte in den<br />

letzen Tagen etwas abgenommen - kein Wunder bei den Strapazen. Der Dreitagebart gab ihm ebenso wie seinen<br />

schwarzen, schulterlangen Haaren und der Augenklappe etwas Verwegenes.<br />

"Sehr hübsch - die Nase." Alrik sah die Halbelfe durchdringen an. Alvan spürte, wie sie ein leichter Schauer<br />

durchlief. Dann straffte sie sich wieder.<br />

"Aber auch nur die." Erneut strich sie sich über ihren kahlen Schädel.<br />

"Nun komm schon." Der Baron lächelte aufmunternd. "Die Haare wachsen wieder nach." Die Edle schüttelte fahrig<br />

den Kopf. Ja, die Haare würden wieder nachwachsen. Aber die anderen Verletzungen würden bleiben. Alvan spürte<br />

wie Alriks Blick über ihre Brüste glitt. Verfluchtes Oron!<br />

"Wir sollten besser zu den anderen zurück kehren" Sie ging nach draußen und blinzelte in die warme<br />

Vormittagssonne, die den weißen Strand in ein helles Licht tauchte. <strong>Das</strong> geheimnisvoll glitzernde Perlenmeer<br />

rauschte gegen den Sand, knisterte und schäumte. Möwen schaukelten kreischend im Ostwind, der weiße<br />

Sandkörnchen über das Strandgras stäubte. Gunelde, Hesindian und Meister Selbfried schliefen noch immer<br />

unterhalb der Böschung, im Schatten einer felsigen Steilwand. Sigismund lag draußen in der Brandung und ließ<br />

sich <strong>von</strong> den Wellen umspülen.<br />

"Er sollte nicht so lange da draußen herum plantschen." Alrik war neben die Halbelfe getreten. "Im Perlenmeer gab<br />

es schon früher Tierchen, die es gar nicht mögen, wenn man ihnen auf den Kopf tritt." Obwohl die Sonne warm<br />

und hell vom Himmel schien, schlang Alvan ihren Umhang fester um ihre Schulter. "Er fühlt sich eben schmutzig",<br />

murmelte sie. "Kann ich verstehen..."<br />

Alrik sah zu der kleinen Landzunge hinüber, hinter der Elburum lag. "Trotzdem, wir sind hier nicht zur<br />

Sommerfrische. Auch wenn der Ort hier wirklich lauschig ist."<br />

Alvan nickte und ließ sich dann im Sand nieder, wo Alrik seinen Mantel ausgebreitet hatte. Der Baron tat es ihr<br />

gleich. Die Edle nahm den tulamidischen Reiterbogen an sich, den sie einem der toten Gardisten abgenommen<br />

hatte, als Ersatz für ihren zerbrochenen Kurzbogen. Zum Glück war ihr Gegner nicht mehr dazu gekommen, die<br />

Waffe zu spannen, denn es handelte sich bei ihr wirklich um beste aranische Bognerarbeit. Sie nahm einen Pfeil aus<br />

dem bunt bestickten Köcher und zielte zur Probe auf den kleinen Pfad zwischen den Felsen, den sie vor ein paar<br />

Stunden herunter gekommen waren. Ihre Pferde kauten an ein paar Büscheln Gras, die dort zwischen den Dünen<br />

und den Felsen wuchsen.<br />

Nach einigen Stunden Herumirren auf Feldwegen, zwischen Äckern mit Winterweizen und einsamen Gehöften,<br />

hatten sie schließlich die Straße nach Llanka erreicht und waren <strong>von</strong> dort querfeldein zur Küste geritten. Die<br />

Bucht, wo heute Nacht die maraskanischen Schmuggler landen sollten, zu finden, war nicht sonderlich schwer<br />

gewesen. Die Küste war hier ziemlich gerade, die kleine Ausbuchtung hier die einzige geschützte Stelle, wo man<br />

unbehelligt <strong>von</strong> Blicken und schwerer See anlanden konnte. Gerade eben hatten sie die Höhle mit dem<br />

Schmugglergut gefunden, die ihnen zeigte, dass sie sich tatsächlich am richtigen Ort befanden.<br />

Alvan erinnerte sich daran, was ihr Ruramid über den Kapitän der Nachtwind gesagt hatte. Vegsziber<br />

Sturmfeschijn war ein ziemlich übler Bursche, nicht unbedingt das Idealbild des maraskanischen<br />

Freiheitskämpfers, sondern ein skrupelloser Geschäftsmann, der vor allem auf das schnelle Geld aus war.<br />

Immerhin, mit seinem Schmuggel schadete er der Fürstkomturei, mehr noch, untergrub sein florierender Export<br />

<strong>von</strong> Rauschgurken nach Oron auch die Moral der dortigen Kämpfer. Alvan musste lächeln. Zumindest auf die<br />

Kampfmoral der kaiserlichen Soldaten vor Boran hatten diese wahrlich berauschenden Früchte eine verheerende<br />

Wirkung gezeigt. Ob dieser Sturmfeschijn mit dem mittelreichischen Adelshaus Sturmfels verwandt war? <strong>Das</strong> hatte<br />

ja überall seine Ableger. Andererseits hatte sie schon die merkwürdigsten maraskanischen Namen gehört.<br />

Vegsziber würde sicherlich nicht begeistert sein, in seinem Versteck Fremde vorzufinden. Immerhin, Ruramid hatte<br />

ihr ein geheimes Zeichen verraten, das sein Misstrauen hoffentlich besänftigen würde. Leise pfiff sie das Jerganer<br />

Rebellenliedchen, das die Erkennungsmelodie der Schmuggler war. Sie hätte gerne gewusst, inwieweit auch<br />

Ruramid in die Sache verstrickt war. Der Fischer, bei dem sie sich gestern getroffen hatten, auf jeden Fall. Alvan<br />

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war sich fast sicher, dass es die maraskanischen Fischer waren, durch die das Schmugglergut nach Elburum<br />

gebracht wurde, denn eine Straße gab es oberhalb der Bucht nicht.<br />

Alrik hatte ein Fladenbrot aus seinem Rucksack gezogen und bot der Edlen eine Hälfte zusammen mit einer<br />

Blutoronge der Edlen an. Diese nickte dankbar.<br />

"Müde?"<br />

"Es geht so. <strong>Das</strong> herrliche Wetter hält mich noch auf den Beinen." Alvan schälte die Frucht, bevor sie sie mit den<br />

Fingern in einzelne Stücke brach.<br />

"Schmeckt bitter" stellte sie fest, nachdem sie ein Stückchen probiert hatte. "Alles, was aus Oron kommt, schmeckt<br />

bitter."<br />

Alrik nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. Dann machte auch er sich über eine der hellroten Früchte her.<br />

"Glaubst du, diese Früchte sind auch verflucht?"<br />

"Nein, die gab es schon früher. Ich kann mich erinnern, mal in Brabak welche auf dem Markt gekl...gekauft zu<br />

haben."<br />

"In Brabak?"<br />

"Nein, in Al´Anfa. In der Sklaverei..."<br />

"Hat man als Sklave denn Geld, um teure Früchte zu kaufen?"<br />

"Ich sollte sie für meine Herrschaft besorgen." Alrik blickte erneut um sich. "Heute Nacht steht Mada im Helm.<br />

Beste Zeit zum Schmuggeln - nicht zu dunkel, aber auch nicht zu hell."<br />

"<strong>Das</strong> klingt fast so, als hättest du Erfahrung in diesem Metier?"<br />

"Nun, in Friedwang wird auch genügend geschmuggelt. Gerade deine Nordenheimer sind da recht fleißig:<br />

Warunker Knaster, Wein, Schnaps, Spielkarten - wir haben jetzt eine Papiermühle in Gießenborn, statt einem<br />

Hammerwerk -, Ilmenblatt. . . Alles, was die Soldaten in Gallys so brauchen. Im Grunde genau das gleiche wie<br />

hier, nur etwas kleiner aufgezogen."<br />

"Ist mir noch gar nicht aufgefallen."<br />

"Nun, die Grenze zur Grafschaft Zweimühlen ist bei uns ziemlich löchrig, im wahrsten Sinne des Wortes. Die<br />

ganze Baernfarn ist ja praktisch mit Höhlen und Drôlinen untertunnelt. Im Schratenwald, oder Schwarzen Wald,<br />

wie es bei euch ja schon heißt, bekommt da keine gräfliche Streife was mit, die man ohnehin nur alle paar Wochen<br />

sieht." Alvan gähnte, legte sich auf die Seite und kaute an ihrem Stück Brot. "Ich glaube, langsam werde ich doch<br />

müde."<br />

"Leg dich ruhig schlafen. Ich halte Wache." Alrik sah wieder zum splitterfasernackten Sigismund, der sich mit<br />

Anlauf in eine der Wellen warf, an den Strand treiben ließ und sich dort im Sand herum wälzte.<br />

"Wo Odilon nur bleibt?" Unruhig sah Alvan zum Pfad. "Hoffentlich findet er überhaupt den Weg hierher."<br />

"Wenn wir die Bucht mitten in der Nacht gefunden haben, wird er sie doch wohl bei Tageslicht finden. Wie geht es<br />

dir eigentlich? Hast du den Zauber gut überstanden?"<br />

Alvan schauderte. Den Paralü - den hatte sie die letzten Stunden fast vergessen. Ein grässliches Gefühl, keinen<br />

Finger regen und nicht sprechen zu können und doch zumindest mit den Augen alles mitzubekommen. So musste<br />

sich eine Scheintote auf dem Weg zu ihrer eigenen Beerdigung fühlen: ein Gefühl der Beklemmung, des<br />

Eingesperrtseins in sich selbst. Grässlichste Raumangst und Atemnot...<br />

Merkwürdigerweise hatte sie es kaum gespürt, als die Kutsche über sie hinweggerollt war - sie hatte wirklich gar<br />

nichts gespürt und nur ein paar schemenhafte Bewegungen sowie wirbelnde Pferdehufe wahrgenommen.<br />

Unverwundbar zu sein: das war das Angenehme an der Sache. "Danke, es geht schon, auch wenn mir der Schreck<br />

immer noch in den Gliedern sitzt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Langsam kann ich den Inquisitionsrat verstehen:<br />

Magie ist manchmal wirklich etwas Abscheuliches."<br />

"Ja, vor allem wenn sie einen selbst trifft", lachte Alrik. Alvan gähnte herzhaft: "Ich glaube, ich werde jetzt<br />

wirklich ein wenig schlafen."<br />

Als Alvan wieder erwachte, war die Nacht bereits herein gebrochen, die letzten rosarot gefärbten Wolkenschlieren<br />

standen am Himmel. <strong>Das</strong> Meer hatte sich ein wenig zurückgezogen, und murmelte leise Worte in einer äonenalten<br />

Sprache, die wohl nur ein Geschöpf Efferds - oder die abscheulichen Kreaturen der Tiefen Tochter - wirklich<br />

verstand.<br />

Die anderen Gefährten hatten irgendwo Holz gesammelt, so dass nun ein kleines Lagerfeuer knisterte. Sigismund<br />

hatte sich wie eine Katze in seinen Mantel gerollt und schlief nun ebenfalls. Der Inquisitionsrat ging am Strand auf<br />

und ab: Offenbar wollte er allein sein. Kein Wunder, bei den - körperlichen und seelischen - Strapazen, die er die<br />

letzten Tage durchgemacht hatte. Hesindian und Gunelde hingegen aßen zu Abend - Fladenbrot und Schinken -<br />

während Alrik Tee köchelte. Tatsächlich hing an einem Dreibein ein kleiner Kessel über dem Feuer (sein Rucksack<br />

musste wirklich magisch sein).<br />

"Na, aufgewacht? Trink erst einmal einen Schluck Tee."<br />

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"Ah, ich fühle mich wie neugeboren." Alvan streckte sich und befreite sich aus ihrem Umhang - seltsam, wer sie<br />

darin wohl eingewickelt hatte?<br />

"Ich dachte immer, so fühlen sich alle <strong>Maraskan</strong>er" spöttelte Alrik, schöpfte aus dem Kessel etwas Tee in einen<br />

Becher und reichte ihn Alvan. "Auch etwas Schinken und noch etwas <strong>von</strong> dem köstlichen Fladenbrot? Rührei und<br />

Speck gibt es gleich, wenn der Kessel vom Feuer weg ist."<br />

Die Edle bekam große Augen: "Du hasst wohl halb Elburum leergekauft?"<br />

"Hmm ja. Man muss seinen Feind schädigen, wo man kann."<br />

"Sind die Eier überhaupt noch gut nach der Hitze?"<br />

"Die lagen die ganze Zeit oben in der Höhle." Alrik nahm die Pfanne an sich, die an seinem Rucksack hing und<br />

rieb über die Bodenfläche. "Kleines Andenken an die Fran-Horas. Aus der Kombüse. . ."<br />

"Ist was passiert, während ich geschlafen habe? Wo ist mein Vater?"<br />

"Odilon lässt sich wieder mal Zeit" Leichte Besorgnis schwang in Alriks Stimme mit, auch wenn er wieder mal<br />

versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. "Vor einer Stunde haben wir querab ein Fischerboot gesehen, und kurz<br />

davor eine Bireme, vermutlich eine oronische. Jedenfalls ziemlich weit weg. Hat uns nicht gesehen, hoffe ich<br />

zumindest."<br />

"Und die <strong>Maraskan</strong>er?"<br />

"Von denen fehlt auch noch jede Spur. Unpünktlich wie immer, deine Landsleute und<br />

Glaubensbrüderschwestern..."<br />

Alvan sah besorgt zum Meer, wo sich gerade die letzten roten Sonnenstrahlen wiederspiegelten. Nachtschwarz und<br />

blutrot - der Elfe fröstelte. Nein, selbst ihre scharfen Augen konnten da draußen kein Segel ausmachen. Im besten<br />

Fall würde die "Nachtwind" erst tief in der Nacht hier auftauchen. Sie fragte sich, ob sie das nun für gut oder<br />

schlecht halten sollte. <strong>Das</strong> hier war keine Postkutschenwechselstation Verzögerungen konnte es immer geben.<br />

Vielleicht war es sogar besser so, denn schließlich fehlte noch immer ihr Vater. Würde Vegsziber wirklich schon<br />

vor Odilon auftauchen, es dürfte schwer werden, ihn da<strong>von</strong> zu überzeugen, noch zu warten, bis ein weiterer<br />

Passagier einträfe. Nun ja, das Löschen der Ladung und die Aufnahme der neuen Schmuggelware würden<br />

mindestens ein oder zwei Stunden in Anspruch nehmen.<br />

"Wo Odilon nur bleibt?" Alvan schloss die Finger um ihren Becher und merkte vor Besorgnis gar nicht, wie heiß<br />

der war.<br />

"Er ist ein Waldläufer, er wird schon durchkommen. Wenn die falsche Fährte glaubwürdig sein soll, muss er sich<br />

schon ein wenig Zeit lassen."<br />

"Trotzdem, so viele Stunden..." Auch Hesindian und Gunelde sahen besorgt drein.<br />

"Was ist, wenn er es nicht rechtzeitig schafft? Wenn die Schmuggler eher eintreffen." Die Perainedienerin sah aufs<br />

offene Meer hinaus.<br />

"Nun mal den Namenlosen mal nicht an die Wand." schnaubte Alrik. "Dann warten wir eben solange."<br />

Alvan blickte zu den Felsen hinauf. "Jemand <strong>von</strong> uns sollte da oben Wache halten. Dort sieht er doch am ersten,<br />

sobald jemand auftaucht: die <strong>Maraskan</strong>er, oder mein Vater..." Oder die Oronier, wie sie in Gedanken hin zu fügte.<br />

"<strong>Das</strong> müsstest du dann allerdings übernehmen. Langsam hab´ ich auch die richtige Bettschwere" Alrik schlug die<br />

Eier in die Pfanne. "Die Zeiten sind lange her, dass ich ein paar Nächte hintereinander durchmachen konnte und<br />

mich danach gefühlt habe, als könnte ich Trolle verprügeln." Alvan nickte und griff nach ihrem neuen Bogen: "Ich<br />

übernehme das schon. Ich kann ohnehin ein wenig Bewegung gebrauchen."<br />

Der Morgen war bereits nicht mehr fern, als Alvan, die auf ihrer Anhöhe Wache hielt, draußen auf dem<br />

Perlenmeer zwei Drachenflügel über dem glitzernden Wasser aufragen sah. Ein warmer Regen prasselte herab.<br />

Kein Zweifel, das war eine kleine Zedrakke, und sie war schon ziemlich nah. Die Edle wunderte sich, dass sie das<br />

Schiff nicht schon früher gesehen hatte - immerhin stand sie hier ziemlich weit oben. Dann erspähte sie den Grund:<br />

Die Segel der Zedrakke waren schwarz gefärbt, wie die Flügel eines Nachtwinds, ebenso der Rumpf. Der Name des<br />

Schmugglerschiffs passte. Noch einmal, wie so oft in den vergangenen Stunden, sah Alvan nach hinten, über die<br />

hinweg ins Hinterland, über die vereinzelten Baumreihen und Büsche hinweg zu den Weizenfeldern, die hier schon<br />

recht nah an der Küste begannen. Wo ihr Vater nur blieb? Langsam machte sie sich ernsthaft Sorgen - er war jetzt<br />

einen Tag und eine Nacht lang unterwegs und mehr als überfällig. Sie hatte die Pferde zu einer kleinen<br />

Baumgruppe - Wäldchen wäre schon übertrieben gewesen - geführt, wo sie frisches Gras fressen , <strong>von</strong> Land her<br />

zugleich aber nicht auf den ersten Blick gesehen werden konnten. Sogar eine Quelle sprudelte dort zwischen den<br />

Felsen empor, wo die Edle und ihre Gefährten die Wasserschläuche hatten auffüllen und die Tiere tränken können.<br />

Ein kleiner Bach rann <strong>von</strong> dort aus ins Perlenmeer.<br />

Odilons Shadif, so hoffte Alvan, würde die übrigen Tiere riechen und ihren Vater somit auf die kleine Bucht<br />

aufmerksam machen, die gar nicht so leicht zu entdecken war. Wenn er nur rechtzeitig käme. Sicher, die<br />

Schmuggler würden eine Zeit brauchen, bis sie die Ladung ausgetauscht und vielleicht noch ihre<br />

Trinkwasservorräte aufgefüllt hätten, aber sicher wollten sie bei Tagesanbruch wieder das offene Meer ansteuern.<br />

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Alvan nahm ihren Bogen und huschte den kleinen Trampelpfad, den sie gestern selbst angelegt hatten, die felsige<br />

Böschung hinunter zu ihren Gefährten, die am rauchenden Überrest des Lagerfeuers schliefen.<br />

Hastig weckte sie Arik, der, seinen durchlöcherten Federhut ins Gesicht geschoben, in den Dünen schlummerte.<br />

Der Baron schreckte hoch, während seine Rechte zum Schwert zuckte. "Was....?"<br />

"Sie kommen!"<br />

Angestrengt und verschlafen sah der Friedwanger hinaus in die Dunkelheit, die nur hin und wieder <strong>von</strong> einer<br />

schneeweißen Woge unterbrochen wurde, die rauschend auf den Strand schlug. "Ich sehe nichts!"<br />

"Sie haben ihr Segel schwarz gefärbt. <strong>Das</strong> kann nur die Nachtwind sein."<br />

"Und Odilon?"<br />

Alvan zuckte hilflos mit den Schultern. "Bis jetzt keine Spur!"<br />

"Verdammt! Langsam könnte er nun wirklich mal auftauchen"<br />

Der Regen wurde stärker und weckte die übrigen, die ob der Unterhaltung Alvans und Alriks sich bereits unruhig<br />

im Schlaf bewegt hatten. Der Baron trat die rotglimmende Glut des Feuers aus.<br />

Die Halbelfe teilte Gunelde, Hesindian und dem Inquisitor mit, was geschehen war.<br />

"Was machen wir nun?" wollte die Schwester des Barons wissen. "Erwarten wir sie hier am Strand oder gehen wir<br />

zur Höhle?"<br />

"Ich glaube, wir sollten ihnen besser offen entgegentreten" meinte Alvan.<br />

"Nun, sollten sie auf die Idee kommen, uns anzugreifen, wäre die Höhle leichter zu verteidigen" Alrik gürtete sich<br />

sein Schwert um.<br />

"Warum sollten sie uns angreifen?"<br />

"Was haben sie mit uns zu schaffen? Bis jetzt sind wir in ihren Augen ganz gewöhnliche Oronier, also Feinde.<br />

Außerdem lästige Mitwisser, die ihr geheimes Versteck ausfindig gemacht haben."<br />

Auch Hesindian sah besorgt drein, starrte versonnen in die selemische Finsternis, in die nun langsam, <strong>von</strong> Osten<br />

her, sich ein erstes zaghaftes rot mengte. Schon der Name des Schmugglerschiffes gefiel ihm nicht: "Nachtwind".<br />

Der Vogel, der sich dahinter verbarg, war während der Magierkriege unter einen Fluch gefallen und griff seitdem<br />

Zauberkundige mit unbändigem Hass an. Der Edle <strong>von</strong> Orweiler schauderte und raffte seine Robe enger<br />

zusammen. Sand rieselte aus den Falten des Gewands.<br />

"Keine Sorge, Ruramid hat mir das geheime Erkennungszeichen mitgeteilt. Die Schmuggler sind unsere Freunde."<br />

"Bei Praios, es sind dennoch Schmuggler, und zudem <strong>Maraskan</strong>er - ungläubige Heiden." Die Stimme Meister<br />

Selbfrieds klang matt, aber bestimmt. Alvan sah den blassen Inquisitionsrat erstaunt an. Es war das erste Mal seit<br />

seiner Entführung, dass sie wieder ein Wort <strong>von</strong> ihm vernahm. "Aus Schwarzmaraskan, zu allem Übel. Wir dürfen<br />

ihnen nicht trauen."<br />

Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim ärgerte das Misstrauen des Praioten gegen ihre<br />

Glaubensbrüderschwestern. "Heiden? Sie beten zu den Zwölfen wie Ihr, nur anders. Sie mögen Verbrecher sein,<br />

aber es ist in der Fürstkomturei heute ein Verdienst, gegen das Gesetz zu stehen, das, wie Ihr wohl wisst, nicht das<br />

des Praios, sondern der Niederhöllen ist."<br />

Der Inquisitionsrat straffte sich, so dass an seiner Schärpe die drei Sphärenkugeln mit metallischem Klirren<br />

gegeneinander schlugen.<br />

"Bei der Gnade des heiligen Gurvan: Einen Dieb zu bestehlen macht einen Mann noch nicht zu einem Ehrenmann."<br />

"Nun, Hochwürden, wir haben gestern Nacht der Moghuli Dimiona eine sehr wertvolle Beute geraubt und ich hatte<br />

nicht den Eindruck, als hättet Ihr sonderlich viele Bedenken dagegen gehegt" entgegnete Alvan spitz.<br />

"Ich war bereit, das heilige Martyrium für meinen Glauben auf mich zu nehmen" Selbfried sah Alvan streng an, als<br />

sei er es, dem damit etwas gestohlen worden war. "Nun führt Ihr mich in Versuchung, indem Ihr mich dazu zwingt,<br />

aus dem Land der Götterlosen da<strong>von</strong> zu schleichen wie ein gemeiner Dieb. Noch dazu, um tiefer in die Finsternis<br />

zu reisen, statt ins Heilige Reich Rauls des Großen zurück zu kehren."<br />

"Vielleicht findet sich ja dort für Euch eine Gelegenheit zum Märtyrertod. Entschuldigt tausendmal, dass wir Euch<br />

aus den Klauen dieser lüsternen Dämonenanbeter befreit haben. Euer Ableben in Keshal Talef wäre bestimmt sehr<br />

erhebend geworden, vor allem so lustvoll."<br />

"Du wagst es, spitzohrige Heidin!" donnerte Selbfried und griff zu seinem Sonnenszepter - das in seiner Schärpe<br />

allerdings fehlte. "Vergiss nicht, dass ich Inquisitionsrat der Praioskirche bin. Ich bitte mir Respekt aus."<br />

Alvan verdrehte die Augen und ging einige Schritt zur Seite: "Ihr seid schon sehr beeindruckend. Vor allem Eure<br />

Ehrengarde gestern nacht - wahrlich eines Inquisitors würdig. Wie Ihr vielleicht schon aus Eurer alveranshohen<br />

Position heraus gemerkt habt, sind einige <strong>von</strong> uns beim Versuch, Euch zu befreien, verwundet worden." Äußerlich<br />

und innerlich, wie sie in Gedanken hinzufügte, als sie in Sigismunds aschfahles, <strong>von</strong> Selbstekel gepeinigtes<br />

Gesicht sah.<br />

"Es wäre also schön gewesen, hättet Ihr uns vorher mitgeteilt, dass Ihr keine Befreiung wünscht. Dann hätte hier<br />

niemand <strong>von</strong> uns sein Leben und Seelenheil riskiert."<br />

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"Ihr habt vergessen, dass ich es bin, der wegen Euch und Eurer Vergehen hier ist." Die Augen Selbfrieds verengten<br />

sich zu Schlitzen. "Ich habe Euren Worten schon einmal vertraut - mit der Folge, dass Ihr erneut die Seiten<br />

gewechselt, ja, sogar den Göttern abgeschworen habt. Überhaupt, ich finde es bemerkenswert, wie mühelos Ihr<br />

Euch in den Schwarzen Landen bewegt, und wie leicht Ihr Euch hier zurechtfindet."<br />

"Natürlich, ich stehe darauf, die Haare abrasiert zu bekommen." Alvan rieb sich über den Kopf. "Eure Dankbarkeit<br />

für unsere Entbehrungen rührt mich zu Herzen, bei der Schönheit der Welt."<br />

"Habt ihr beide euch dann ausgesprochen, ja?" meldete sich Alrik zu Wort, der dabei hinaus auf die Brandung sah.<br />

"Vielleicht interessiert es euch, dass sich uns gerade ein Beiboot nähert. Natürlich können wir uns hier auch<br />

gegenseitig abschlachten, das dürfte die <strong>Maraskan</strong>er endgültig da<strong>von</strong> überzeugen, dass sie <strong>von</strong> uns nichts zu<br />

befürchten haben."<br />

Tatsächlich waren draußen auf dem Wasser die schemenhaften Umrisse eines Ruderboots und einige Köpfe zu<br />

erahnen. <strong>Das</strong> leise, rhythmische Klatschen <strong>von</strong> Riemenblättern auf dem Wasser war zu hören, sonst quietschte<br />

keine Dolle. Scheinen gut geölt zu sein, dachte Alvan.<br />

"Haben sie uns schon gesehen?", wollte Gunelde wissen, während der Magus wie abwehrend seinen Stab hob.<br />

"Kommt nur nicht auf den Gedanken, praiosfrevlerische Magie zu wirken" grollte der Inquisitor.<br />

"Wir haben andere Sorgen", meinte Alrik und sah den Inquisitionsrat nun ebenfalls missbilligend an. Selbfried<br />

hatte sich erstaunlich schnell erholt. Vor Dankbarkeit zerfloss er wahrlich nicht...<br />

"Zurück zur Höhle können wir nicht mehr. Die haben uns längst gesehen."<br />

Mit klarer, heller Stimme begann Alvan ein maraskanisches Lied zu singen. Meister Selbfried verstand nicht viel,<br />

aber er ahnte rasch, dass es sich hier um ein Lied der maraskanischen Rebellen handelte - ein Lied, in dem die<br />

sengenden, mordenden und brennenden "Garethjas" gar nicht gut wegkamen. Der Inquisitor fühlte sich erneut<br />

verspottet.<br />

"Ihr wollte eine Edle des Reiches sein!" knurrte er. "Eine elende Verräterin seid Ihr. Hört sofort auf zu singen."<br />

Alvan sang unbeeindruckt einige Strophen weiter, bevor sie abbrach. Nun antwortete eine Männerstimme im Boot<br />

und nahm die Melodie wieder auf.<br />

<strong>Das</strong> halbe Dutzend Matrosen, das mit im Boot saß und bereits zu Khunchomern, Bögen und Tuzakmessern<br />

gegriffen hatte, ließ die Waffen wieder sinken.<br />

Alvan bedeutete den anderen, zurück zu bleiben, und ging einige Schritt auf die Schmuggler zu, soweit, bis die<br />

Wellen bereits ihre Stiefelspitzen berührten. Im fahlen Licht der anbrechenden Dämmerung sah sie in<br />

wettergegerbte, schwarzhaarige maraskanische Gesichter. Die Männer und Frauen trugen schlichte, dunkle<br />

tulamidische Kleidung, die eine oder andere Gestalt hatte sich eine Lederrüstung oder einen Hartholzharnisch<br />

umgeschnallt.<br />

Drei Kämpfer mit Kurzbögen sprangen aus dem mit Krügen vollbeladenen Boot und musterten misstrauisch den<br />

Strand. Zwei weitere <strong>Maraskan</strong>er schoben den schweren, mattglänzenden Rumpf weiter den Strand hinauf,<br />

während ein hagerer, ziegenbärtiger Glatzkopf, dessen Gewandung auffallend buntscheckig gehalten war, die Hand<br />

am Griff des Tuzakmesser in seiner Linken, auf Alvan zugeschritten kam. Ein großer goldener Ohrring glitzerte<br />

unter dem schwarzen Haarkranz des hakennasigen <strong>Maraskan</strong>ers. Besonders vertrauenserweckend sah er nicht aus,<br />

und Alvan ertappte sich dabei, dass ihre Finger zu ihrer eigenen Klinge glitten.<br />

"Chazuul!" rotzte der Schmuggler. "Wer seid ihr, zum Bruderlosen? Wo kommt ihr her?" In seinem Gesicht<br />

wechselte sich Misstrauen mit Verwirrung ab, vor allem, als er dem Inquisitionsrat mit vollem Ornat angesichtig<br />

wurde.<br />

"Preise die Schönheit!" Alvan lächelte beschwichtigend. "Wir sind Freunde des freien <strong>Maraskan</strong>. Ruramid schickt<br />

uns."<br />

Ein Schwall derber Flüche und Beschimpfungen auf <strong>Maraskan</strong>o folgte, die vermutlich Ruramid galten. Die Edle<br />

fühlte sich zunehmend unwohl. Irgendwie sah die ganze Meute nicht viel vertrauenserweckender aus, als die<br />

Piraten der Fran-Horas.<br />

"Mein Name ist Alvan. Ihr seid Vegsziber Sturmfeschijn?"<br />

"Sturmfeschij! Sturmfeschij!" berichtigte der <strong>Maraskan</strong>er ungehalten.<br />

"Was wollt ihr <strong>von</strong> uns? Seid ihr allein?" Erneut schloss sich seine Faust um den Khunchomer. Es klang beinahe<br />

nach "Wie viele <strong>von</strong> euch müssen wir zum schweigen bringen?"<br />

"Nicht ganz" antwortete Alvan wahrheitsgetreu. "Wir müssen nach Schwarzmaraskan. Nach Jergan. Ruramid hat<br />

uns gesagt, dass ihr uns vielleicht weiterhelfen könntet."<br />

"Ruramid, ah, schazzakbal, was bildet sich diese Rebellin eigentlich ein? <strong>Das</strong> sie mich ständig in ihre<br />

Heimlichkeiten mit hineinziehen kann? Was wollt ihr um alles auf der Weltenscheibe denn in Jergan?"<br />

"Ein geheimer Sonderauftrag im Dienst des.." Alvan wollte erst "des Reiches" sagen, besann sich dann aber eines<br />

besseren. "...des Kampfes gegen den bruderlosen Schinder des maraskanischen Volkes, Helme Haffax."<br />

Vegsziber schnaubte verächtlich. "Wie viel zahlt ihr?"<br />

"Den üblichen Preis für eine Passage <strong>von</strong> Elburum nach Jergan."<br />

"Hundert Dukaten."<br />

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"Für alle?"<br />

"Ja."<br />

"Zu teuer. Fünfzig."<br />

Ein verächtliches Lachen. "Fünfundsiebzig. Mein letztes Angebot. Ein Freundschaftspreis - für Ruramid."<br />

Alvan ahnte, dass es dem Schmuggler ernst war. Sie wusste nicht, ob sie überhaupt soviel <strong>Gold</strong> besaßen, vor allem,<br />

wie viel Odilon noch bei sich hatte.<br />

"Da gibt es noch ein kleines Problem. Ein Freund <strong>von</strong> uns ist noch unterwegs. Er hat das Geld bei sich, muss aber<br />

jeden Augenblick hier eintreffen."<br />

Erneut sah sich Vegsziber misstrauisch um. "Was? Wo ist der? Hoffentlich lockt der uns nicht die Oronier hierher."<br />

"Eine lange Geschichte."<br />

"Wir haben keine Zeit für lange Geschichten." Der Kapitän drehte sich zu seinen Leuten um, die der Unterhaltung<br />

aufmerksam, die Hände an Bogensehnen und Schwertgriffen, gelauscht hatten und dabei die übrigen Gefährten<br />

nicht aus dem Auge gelassen hatte. "Los, bringt den Plunder zur Höhle und das Zeug dort her."<br />

Vegsziber wandte sich wieder Alvan zu: "Aber erst sollen uns deine Leute ihre Waffen aushändigen. Ich mag keine<br />

Überraschungen."<br />

Die Edle sah ihr Gegenüber scharf an. Vermutlich überlegt er sich gerade, ob es sich lohnen würde, sie in Jergan an<br />

Helme Haffax zu verkaufen. Wie kann Ruramid nur mit so einem Burschen zusammen arbeiten? Nun denn, es war<br />

nicht die Zeit, wählerisch zu sein.<br />

"Ruramid bürgt für uns. Genügt das nicht? Meine Freunde geben ungern ihre Waffen ab."<br />

Vegsziber überlegte kurz. "Nun gut. Dann gibst nur du deinen Bogen und dein Schwert her. Reojin und Karhimsab<br />

werden hier auf dich aufpassen und dich sofort töten, falls es Ärger gibt. Außerdem werden uns deine Freunde<br />

beim Tragen helfen."<br />

Alvan nickte und überreicht einem der <strong>Maraskan</strong>er ihren Bogen und ihren Schwertgurt. Mit knappen Worten teilte<br />

sie ihren Gefährten mit, was soeben auf <strong>Maraskan</strong>o besprochen worden war.<br />

"Was? Ich werde hier kein Schmuggelgut den Strand hinaufschleppen!" empörte sich der Inquisitor.<br />

"Dann lasst es bleiben" fauchte Alvan. "Stellt euch hierher zu mir." Mit verschränkten Armen blieb Meister<br />

Selbfried stehen, wo er war.<br />

"Was ist das für einer? Ihr reist mit Praiospfaffen?" Vegsziber sah den Geweihten verächtlich an.<br />

"Sagen wir, er reist mit uns. Wir sind eher zufällig aufeinander gestoßen."<br />

Die Schmuggler luden mit geübten Griffen einige Krüge und Fässchen auf den Strand. Achselzuckend machte sich<br />

Alrik daran, die Ware zur Höhle zu tragen. Gunelde und Hesindian taten es ihm gleich.<br />

Der Morgen graute bereits, als das Umladen abgeschlossen war. Vegsziber wurde unruhig, sah immer wieder zur<br />

Böschung und dann zum Perlenmeer, über dessen Wogen sich die Wolken langsam rot färbten.<br />

"Verdammt, so spät waren wir nie dran. Wo bleibt euer Freund denn?"<br />

<strong>Das</strong> frage ich mich auch, dachte Alvan. Die Beklemmung in ihrer Brust wuchs. Sie hatte Angst um ihren Vater.<br />

"Er muss jeden Augenblick auftauchen." sagte sie mit hohler Stimme.<br />

"Nein, wir haben keine Zeit mehr. Es wird langsam hell, wir müssen machen, dass wir hier wegkommen. Da<br />

draußen treiben sich mehrere oronische Galeeren herum. Entweder ihr kommt mit oder wir stechen ohne euch in<br />

See."<br />

"150 Dukaten, wenn ihr auf Odilon wartet." Alvan hatte keine Ahnung, ob sie überhaupt über diese Summe<br />

verfügten.<br />

Geldgier leuchtete in den Augen des Kapitäns. "Habt ihr überhaupt soviel Geld? Zeigt mal her..."<br />

"Odilon hat unsere Reisekasse bei sich. Deswegen würden wir nur äußerst ungern ohne ihn in See stechen."<br />

"Seid Ihr sicher, dass er nicht einfach damit durchgebrannt ist? Wenn ihr nicht zahlen könnt verkaufe ich Euch in<br />

die Sklaverei... oder ich lasse Euch kielholen, ganz wie ich gerade Lust habe." Vegsziber war anzusehen, dass er<br />

sich vermutlich so verhalten würde.<br />

"Ganz sicher. Er muss aufgehalten worden sein. Aber er wird bald hier auftauchen. Da bin ich überzeugt."<br />

"Dein Wort im Ohr <strong>von</strong> Bruder Phex. Nun gut, hundertfünfzig Dukaten sind eine Menge <strong>Gold</strong>. Ich mache dir ein<br />

Angebot. Wir bringen das Zeug zum Schiff. Dann füllen wir unsere Wasserfässer auf und bringen auch das zum<br />

Schiff. Dann nehmen wir euch mit - oder auch nicht. <strong>Das</strong> liegt bei euch. Wenn ihr lieber auf euren Freund warten<br />

wollt..."<br />

Alvan nickte. Immerhin, ein wenig Zeit hatten sie noch gut.<br />

Der Mann namens Reojin warf ihr den Bogen und das Schwert wieder zu. Immerhin schienen sie ihnen nun nicht<br />

mehr zu misstrauen.<br />

Die <strong>Maraskan</strong>er ruderten die Krüge zur Zedrakke, deren Konturen nun langsam im fahlen Morgenlicht sichtbar<br />

wurden. Die "Nachtwind" war tatsächlich pechschwarz - <strong>von</strong> den beiden drachenflügelähnlichen Zedrakkensegeln<br />

bis zur Beplankung des Rumpfes. Selbst jetzt, wo es langsam hell wurde und vom Land her die ersten<br />

Vogelstimmen erklangen, schien sie mit der Dunkelheit auf dem Wasser förmlich zu verschmelzen.<br />

Nach einiger Zeit kamen die Schmuggler zurück und füllten mehrere Fässer mit frischem Quellwasser. Als sie<br />

145


erneut an der Nachtwind festmachten, hob sich mit atemberaubender Geschwindigkeit der Sonnenball aus dem<br />

Wasser.<br />

Mit zunehmender Panik in den Augen sah Alvan die Böschung hinauf, versuchte Odilon mit ihren Augen förmlich<br />

herbeizuzwingen. Nichts.<br />

Sie eilte den Trampelpfad nach oben, sah sich um. Keine Spur <strong>von</strong> Odilon. In der Ferne sah sie eine Schar Bauern,<br />

die zur Feldarbeit ging. Hastig duckte sie sich hinter einem Strauch und ballte die Faust. Ist das dein Plan, Rur? Wir<br />

haben diesen eingebildeten Inquisitionsrat aus Oron gerettet und lassen meinen Vater hier? Voller ohnmächtiger<br />

Wut und Verzweiflung ballte sie die Faust und starrte sich die Augen aus dem Leib. Nichts. Langsam wurde es hell<br />

und warm.<br />

Schließlich trat Alrik <strong>von</strong> hinten neben ihr. "Wir haben keine Zeit mehr. Wir sollen sofort ins Boot, oder sie<br />

stechen ohne uns in See."<br />

"Aber... mein Vater..." Alvan kämpfte mit den Tränen. "Wir können ihn doch nicht hier...zurücklassen..."<br />

"Dein Vater wird sich schon irgendwie ins freie Aranien durchschlagen. Er ist ein erfahrener Waldläufer und hat<br />

schon ganz andere Sachen überlebt."<br />

"Aber..."<br />

"Nun, er hat gewusst, was auf dem Spiel steht. Eigentlich kann er schon nicht mehr damit rechnen, uns hier<br />

vorzufinden. Vermutlich hat er längst den Weg nach Norden genommen." Alrik war anzumerken, dass er seinen<br />

Worten selbst nicht unbedingt Glauben schenkte. Alvan wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann ging<br />

sie wie betäubt zum Pfad zurück, nicht ohne sich noch einmal umzudrehen. Keine Spur <strong>von</strong> Odilon.<br />

Sie sah in die Bucht hinunter, wo ihre Gefährten bereits im Boot saßen und auf die <strong>Maraskan</strong>er einredeten, die ihr<br />

Boot schon einige Schritt aufs offene Meer hinausgesteuert hatten. Der Friedwanger hatte Recht. Odilon hatte<br />

gewusst, worauf er sich einließ. Er hätte nicht gewollt, dass sie sich wegen ihm selbst in Gefahr begaben.<br />

Alvan folgte dem Baron zum Strand, watete durch das Wasser und stieg in das Boot, wie ein Delinquent in den<br />

Karren, der ihn zur Hinrichtung brachte. Sie achtete nicht auf die wüsten Beschimpfungen, die einer der<br />

<strong>Maraskan</strong>er über die Nachzüglerin ausstieß. "Mein Vater..." sagte sie tonlos zu Alrik, der sich neben ihr auf eine<br />

Ruderbank setzte.<br />

"Wir müssen froh sein, dass sie uns überhaupt mitnehmen" meinte der Baron. "Keine Ahnung, woher wir nachher<br />

das Geld für die Überfahrt nehmen sollen." Die Männer und Frauen <strong>von</strong> der "Nachtwind" legten sich in die<br />

Riemen. Langsam entfernte sich das Beiboot vom Strand, <strong>von</strong> der Küste Orons und damit Odilon, den sie irgendwo<br />

dahinter zurück gelassen hatten. Alvan begann zu weinen.<br />

Mit tränenverschleierten Augen sah Alvan zum Strand. Sie fühlte sich so elend wie noch nie zuvor in ihrem Leben.<br />

Wie sollte sie ihrer Mutter beibringen, was sie hier getan hatte - den eigenen Vater in den Schwarzen Landen<br />

zurücklassen. Auch Sigismund, Hesindian, Alrik und Gunelde sahen betroffen drein, lediglich der Inquisitionsrat<br />

sah unbeteiligt zur Praiosscheibe, sprach vielleicht ein Gebet zu seinem mitleidlosen Sonnengut, der wie zum Hohn<br />

über den leeren Strand leuchtete.<br />

"Was ist das?" Sigismund ruckte hoch. "Dort, die Staubwolke."<br />

Alvan, die gerade ihre brennenden Augenlider geschlossen hatte, riss sie wieder auf. Tatsächlich, weit hinter den<br />

Felsen wirbelte Staub auf. Eine Windhose?<br />

Die Hoffnung kehrte in der gleichen Zeit zu Alvan zurück, die sie brauchte, um zu erkennen, dass dies ein Reiter<br />

sein musste, der sich der Bucht näherte. Ihr Vater... Wilde Zuversicht riss sie <strong>von</strong> der Ruderbank, so dass das<br />

Beiboot bedenklich zu schwanken begann. Die Schmuggler fluchten und zerrten sie wieder nach unten.<br />

"<strong>Das</strong>, das ist Odilon!" jubelte nun auch Sigismund. "<strong>Das</strong> muss ...das ist Odilon!"<br />

Alrik runzelte die Stirn. "Ich weiß nicht. <strong>Das</strong> gefällt mir nicht. <strong>Das</strong> scheinen mehrere Reiter zu sein."<br />

Alvan, die ebenfalls kurz davor gewesen war, vor Freude laut aufzuschreien, sah sich die gelbe Wolke genauer an.<br />

Tatsächlich, für einen einzelnen Reiter wurde hier viel Staub aufgewirbelt.<br />

"Wir müssen zurück zum Strand" sagte sie mit sich vor Aufregung überschlagender Stimme, zu der Matrosin an<br />

der Ruderpinne. "<strong>Das</strong> ist unser Gefährte. Er hat das Geld."<br />

"Vergiss es, Schwester. Wer auch immer sich da nähert, er ist nicht allein." Empört sah die Frau über ihre Schulter.<br />

"Wenn ihr die Oronier zu unserem Versteck gelockt habt, dann wird euch Vegsziber dafür <strong>von</strong> der Weltenscheibe<br />

schleudern. Nichts als Ärger haben wir wegen euch. . ."<br />

"Wir müssen zurück."<br />

"Nein. Wir müssen hier weg, Kleines. Du kannst froh sein, dass der Alte überhaupt solange gewartet hat. <strong>Das</strong> habt<br />

ihr allein Ruramid zu verdanken."<br />

Mit schnellen Ruderschlägen näherte sich das Beiboot der "Nachtwind", deren Aufbauten immer größer und größer<br />

über dem Bug auftauchten. Mehrere Matrosen standen an der Reling und sahen zur Küste.<br />

Ein Mann machte eine Hornisse am Bug der Zedrakke klar. Alvan fragte sich, was das für einen Sinn machte -<br />

Angreifer <strong>von</strong> Land würde er damit ebenso wenig erreichen können wie diese ihn, aber nun ja.<br />

Erneut sah sie zur Küste. Ein Reiter tauchte unvermittelt am Felsrand auf und warf sein Pferd herum. <strong>Das</strong> war<br />

Odilons Shadif...ja, das war Odilon.<br />

146


Nun konnte Alvan nicht mehr an sich halten und jubelte laut auf. "Zurück zum Strand, schnell. <strong>Das</strong> ist er."<br />

"Nichts da. Er soll schwimmen" entgegnete die <strong>Maraskan</strong>erin kühl.<br />

Alvan wollte etwas erwidern, beschloss dann aber lieber, zu ihrem Vater zu sehen. Dieser hatte nun den Pfad zur<br />

Bucht entdeckt und ritt ihn im halsbrecherischen Tempo hinab. Im nächsten Augenblick sah Alvan warum.<br />

Mehrere Reiter auf Ponys erschienen am Felsen und jagten ihrem Vater hinterher. Es waren viele, verdammt<br />

viele...<br />

Odilon ritt nun über den Strand, auf die Wellen zu. Seine Verfolger, braunhäutige, schwarzzottelige, schrill<br />

schreiende Gestalten mit buntscheckiger Lederkleidung und Fellumhängen quollen über den Pfad. Einige rissen<br />

Bögen hoch und schossen dem Waldläufer Pfeile nach.<br />

"<strong>Das</strong> sind Ferkinas" rief Alrik aus. Kaum hatte er den Satz beendet, bäumte sich Odilons Shadif auf und stürzte in<br />

den Sand.<br />

Odilon wand sich aus dem Sattel, lief auf das Wasser zu. Er hatte keinen Schritt zurückgelegt, da warf ihn ein Pfeil<br />

im Bein zu Boden.<br />

"Sie wollen ihn anscheinend lebend haben, sonst wäre er jetzt schon tot" meinte der Friedwanger.<br />

Tatsächlich war Odilon nun zur Hälfte <strong>von</strong> gut zwei Dutzend Barbaren umringt. Der Waldläufer riss<br />

Bavhano´Braith hoch, schoss einen der Angreifer aus dem Sattel und ging hinter seinem sterbenden Pferd in<br />

Deckung.<br />

"Zurück zum Strand!" schrie Alvan die Steuerfrau an. „Ich..."<br />

Im nächsten Augenblick hatte die Frau das Schwert der Halbelfe an der Kehle. Einer der Matrosen ließ den Riemen<br />

los und griff zu seinem Khunchomer, da spürte er auch schon Alriks Schwert im Nacken.<br />

"Nun, nun, wollen wir doch nicht gleich aus dem Takt kommen."<br />

Tatsächlich brach zwischen den Rojern Verwirrung aus. Einige schlugen platschend Krebse und das Boot verlor an<br />

Fahrt.<br />

"Vegsziber wird euch töten" keifte die <strong>Maraskan</strong>erin, deren Haare zu vielen kleinen Zöpfchen hochgesteckt oder in<br />

merkwürdigen Formen verdreht waren.<br />

"Der soll sich mal schön hinten anstellen, nämlich hinter die zwei Dutzend Ferkinas da drüben" antwortete Alrik<br />

auf Tulamidya. "So und jetzt zurück zur Bucht, und zwar im Beilunker-Reiter-Tempo!"<br />

Achselzuckend warf die Frau das Ruder herum, und das Boot fuhr auf den Strand zu. Alvan hörte <strong>von</strong> der<br />

Nachtwind her aufgeregte Rufe, achtete aber nicht darauf.<br />

"Schneller, schneller!"<br />

"<strong>Das</strong> ist kein fliegender Teppich", höhnte die Matrosin. "Was soll das? Sollen wir alle sterben? Wegen einem?"<br />

Alvan antwortete nicht und sah stattdessen wieder zum Strand. Odilon hatte einen weiteren Ferkina aus dem Sattel<br />

geholt. Neben ihm und im Leib des nun regungslosen Shadif steckten mehrere Pfeile. Immerhin, er war gut<br />

verschanzt und sorgte mit scharfen Schüssen dafür, dass die Angreifer den Kreis um ihn nicht zu schließen<br />

vermochten. Wiehernd brach ein Pony mitsamt Reiter zusammen und überschlug sich.<br />

Die Barbaren änderten ihre Taktik. Während die eine Hälfte sich etwas zurückzog und den Pferdekadaver mit<br />

Pfeilen überschüttete, um Odilon am Boden zu halten, ritt die andere Hälfte wieder die Böschung hinauf, um ihr<br />

Opfer <strong>von</strong> dort oben aus unter Beschuss zu nehmen. Würde diese Falle zuschnappen, gäbe es für Odilon kein<br />

Entkommen mehr, denn gegen Schüsse <strong>von</strong> oben war er wehrlos. Anscheinend hatten die Ferkinas ihre Absichten<br />

geändert und versuchten ihn nun doch zu erschießen.<br />

"Schneller, verdammt noch mal!"<br />

"Chazuul! Chazuul! Ihr seid ja alle irrsinnig. Die sind vom Orden des Gehörnten Gottes. <strong>Das</strong> schlimmste, was Oron<br />

zu bieten hat."<br />

"Schneller rudern, sag ich!"<br />

Schließlich tauchte der Strand vor ihnen auf. Die Krieger am Strand bemerkten erst jetzt, dass sich ihnen ein<br />

Beiboot näherte. Die ersten Pfeile surrten heran. Ein rotgefiedertes Geschoss traf die Steuerfrau ins Auge,<br />

durchschlug ihren Kopf und ließ sie tot zur Seite sinken. Ein Pfeil blieb zitternd in der Ruderbank stecken. Zwei,<br />

drei weitere prallten dröhnend gegen den Rumpf, ein weiterer klatschte ins Wasser.<br />

"Runter!" brüllte Alrik, einen Augenblick zu spät.<br />

Mit einem Fluch stieß Alvan die Leiche der <strong>Maraskan</strong>erin ins Wasser und übernahm selbst die Ruderpinne.<br />

Wütend sprang einer der Matrosen hoch, griff zum Khunchomer - sei es, um ihn gegen Alvan, sei es um ihn gegen<br />

die Ferkinas zu schwingen - dann steckten auch schon drei Pfeile in seinem Rücken. Der junge Mann verdrehte die<br />

Augen und kippte seitlich ins Meer.<br />

Weitere Pfeile surrten heran. Der Kiel schrammte auf Sand, Alvan verlor ihr Gleichgewicht und stürzte nach vorne.<br />

Gerade rechtzeitig, denn nun surrte ein weiterer Pfeil über sie hinweg. Sigismund schrie auf, als ihn eines der<br />

Geschosse die Hand durchbohrte. Ein weiterer Pfeil schlug im Dollbord, der nächste auf der Außenseite des Bootes<br />

ein.<br />

Kaum lag das Boot still, riss Alvan ihren Bogen hoch, legte einen Pfeil ein und spähte geduckt zum Strand. Auf<br />

breiter Front ritten nun sechs, nein sieben, nein acht der Barbaren mit schwarzen Bärten und narbenverstümmelten<br />

147


Gesichtern auf sie zu. Einer schrie auf, als ihn ein Pfeil Odilons im Rücken traf, ritt aber weiter und riss seinerseits<br />

einen Bogen hoch. Alvan spürte instinktiv, dass er auf sie zielte.<br />

Sie schoss zuerst, traf den Mann mitten im Bauch. Brüllend kippte der aus dem Sattel, fiel in die Brandung, die sich<br />

bereits blutrot gefärbt hatte.<br />

Weitere Pfeile surrten um das Boot wie ein wütender Hornissenschwarm. Ein Matrose schrie getroffen auf.<br />

"Geht hinter das Boot in Deckung!" brüllte Alvan, lud nach und hechtete mit gespanntem Bogen über Bord.<br />

Die Ferkinas waren am Strand weitergeritten und warfen ihre Pferde erneut herum, um ihre Gegner mit einer<br />

weiteren Salve zu treffen. Hesindian sprang auf den Strand, formte seine Hände zu einer Schale.<br />

"IGNISPHAERO FEUERBALL!"<br />

Eine gleißende Feuerkugel stieg aus dem Nichts auf und surrte auf die Reiter zu. Alvan hob schützend die Hände<br />

vor die Augen, als die Flammenkugel zwischen den Pferden zerbarst. Wilde Schreie und der Geruch nach<br />

verbranntem Fleisch erfüllte die Luft.<br />

Als der Feuerschein verzogen war, wälzten sich zwei der Krieger mit brennenden Mänteln in der Brandung, ein<br />

weiterer lag brennend im Sand und rührte sich nicht mehr. Zwei der struppigen Ponys waren ebenfalls tot.<br />

Nun surrten <strong>von</strong> den Felsen her Pfeile heran, <strong>von</strong> denen die meisten im Strand stecken blieb. Ein Geschoss traf<br />

Hesindian an der Schulter.<br />

"In Deckung, verdammt." Alvan sprang neben den Magier, sah nach dem feindlichen Schützen und antwortete mit<br />

einem Pfeilschuss. Schreiend stürzte der Ferkina den Felsen hinab, <strong>von</strong> der Baernfarn mit einem sauberen<br />

Blattschuss durchbohrt.<br />

"Uaaaahhhhhaaaa!" Mit gezogener Streitaxt stürmte ein baumlanger Hüne, der sein Pferd verloren hatte, auf die<br />

beiden zu. Alvan schoss ihm einen Pfeil in die Brust, dennoch taumelte der Krieger weiter. Am Rande ihres<br />

Bewusstseins nahm die Edle obszöne, grellbunte Schmierereien auf seinem Lederwams wahr, sowie ein Amulett,<br />

das einen Widderkopf zeigte. Auch das Gesicht dieses Mannes war <strong>von</strong> Narben entstellt, auf dem Kopf trug er<br />

einen tulamidischen Helm, grotesk mit Hörnern verziert.<br />

Der nächste Schuss warf ihn zu Boden, kaum zwei Schritt <strong>von</strong> Alvan und dem Magier entfernt.<br />

"In Deckung!" schrie die Halbelfe erneut.<br />

Erst jetzt merkte sie, dass es gar keine Deckung mehr gab. Die überlebenden Matrosen hatten den verletzten<br />

Sigismund niedergeschlagen und Gunelde überwältigt und ruderten hastig zur Nachtwind zurück. Die Leichen ihrer<br />

beiden getöteten Gefährten dümpelten kopfüber im Wasser, das sich rot vom Blut färbte.<br />

"Verdammt. Die Feiglinge hauen ab!"<br />

"Wa´ ma´en wi´ je´z´?" Schwer atmend sah der Magier auf den Pfeil, der in seiner Schulter steckte.<br />

Hastig sah sich Alvan um. Alrik war ebenfalls aus dem Boot gesprungen, lief ihm nun durch das hüfthohe Wasser<br />

hinterher und versuchte es aufzuhalten.<br />

Die Ferkinas waren verwirrt - ob der unerwartet aufgetauchten neuen Gegner, vor allem aber aufgrund des<br />

Feuerballs - und versuchten ihre wild scheuenden Pferde wieder unter Kontrolle zu bringen.<br />

"Aus dem Schussfeld. Zu Odilon."<br />

Geduckt und hakenschlagend rannte Alvan auf ihren Vater zu. Aus den Augenwinkeln sah sie einen Ferkina auf sie<br />

zureiten. Ein Pfeil zischte, dann fiel er aus dem Sattel. Zwei Pfeile schlugen links und rechts neben ihr in den Sand.<br />

Schließlich war sie bei ihrem Vater angekommen, warf sich neben ihm hinter den noch immer warmen Leib des<br />

Shadif.<br />

"Du kommst spät, Vater."<br />

Odilon lächelte gequält. Erst jetzt sah Alvan, dass er verletzt war. Odilon war am Rücken durch eine Pfeilwunde<br />

verletzt.<br />

"Halte mir den Rücken frei, Tochter!"<br />

Der Waldläufer legte einen weiteren Pfeil auf die Sehne. Alvan schoss nach oben, zu den Felsen, verfehlte aber den<br />

Barbaren, der gerade über die Kante lugte. Immerhin, der traute sich nun nicht mehr, seinen eigenen Bogen zu<br />

heben. Hinter sich hörte sie das Trampeln <strong>von</strong> Pferdehufen, als mehrere Gegner auf Odilon zupreschten.<br />

"FULMINICTUS DONNERKEIL!" schrie der Magier.<br />

Odilon schoss deutlich hörbar einen weiteren Barbaren aus dem Sattel.<br />

Alvan tötete einen Ferkina, der einen Felsbrocken umfasst hatte, um ihn auf sie und ihren Vater zu werfen.<br />

Hesindian warf sich neben ihnen in Deckung. Alvan tat es ihm gleich. Im nächsten Moment surrten erneut Pfeile<br />

durch die Luft. Die Edle blinzelte. <strong>Das</strong> Pferd war mittlerweile gespickt wie ein riesiger Igel. Der Sand hatte sich zu<br />

einer blutroten, zähen Masse verfärbt.<br />

"Ge´en wi´ zur Hö´e?" keuchte Hesindian.<br />

Alvan spähte zum Beiboot, das sich nun wieder dem Strand nähert - dank Alrik, der dort mit gezücktem Schwert<br />

das Kommando übernommen hatte.<br />

"Nein, wir müssen zum Boot. Keine Ahnung, wie lange Alrik die verdammten Schmuggler noch unter Kontrolle<br />

halten kann.<br />

148


Alvan schoss in rascher Folge mehrere Pfeile zur Böschung hinauf, ungezielt, einfach, um die Ferkinas<br />

einzuschüchtern, die dort oben noch immer herumschlichen und ritten.<br />

"Wo kommen diese verdammten Burschen überhaupt her?" fragte sie ihren Vater, ohne die Böschung aus den<br />

Augen zu lassen.<br />

"Weiß nicht. Aus Elburum, nehme ich an. Ich habe seit gestern versucht sie abzuschütteln und eigentlich geglaubt,<br />

dass es mir gelungen wäre. Aber es sind verdammt gute Fährtenleser. Die haben einfach jeden meiner Tricks und<br />

Kniffe durchschaut... Ich habe versagt" fügte Odilon nach einem Moment betroffenen Schweigens hinzu.<br />

"Unsinn, Vater. Hättest du unsere Verfolger nicht in die Irre geführt, sie wären schon gestern über uns hergefallen."<br />

Odilon lachte bitter auf.<br />

"Nun fallen sie heute über uns her."<br />

"Jetzt haben wir ein Schiff. Was machen die Ferkinas auf deiner Seite?"<br />

"Die meisten sind abgestiegen und halten sich außer Schussweite. Einer schmiert irgendetwas auf seine Pfeile.<br />

Verdammt, ich glaube das ist Gift."<br />

"Hesindian, wo ist das Boot?"<br />

"Is ´ge´andet."<br />

"Dann sollten wir schleunigst dorthin. Kannst du laufen, Odilon?"<br />

"<strong>Das</strong> Bein schmerzt niederhöllisch und lässt sich kaum bewegen."<br />

"Ich werde dich tragen."<br />

"Verdammt, dann hätten wir erst recht keine Chance. Hesindian, was hast du so in der magischen Trickkiste?"<br />

"Ei´en Schu´zau´er. Ge´en Pfei´e."<br />

"Genau das, was wir jetzt brauchen. Wir sollten uns langsam beeilen, die da drüben machen sich offenbar zum<br />

entscheidenden Angriff bereit. Diese Schufte vergiften jetzt alle der Reihe nach ihre Pfeile - und ich glaube nicht,<br />

dass das nur Schlafgift ist."<br />

Hesindian legte seine Hand auf Odilon, strich über dessen Leib und murmelte etwas, was wie "Armatrutz" klang.<br />

Dann wiederholte er die Prozedur bei Alvan.<br />

Kaum hatte der Magier seinen Spruch beendet, schrie er auf. Ein Pfeil steckte in seinem Arm. Zwei weitere Pfeile<br />

surrten über Alvans Kopf hinweg, ein vierter prallte <strong>von</strong> ihrer Schulter ab. Erneut erwiderte die Halbelfe den<br />

Angriff mit einem Gegenpfeil, der allerdings sein Ziel verfehlte.<br />

"Ist er vergiftet?" Entsetzt sah Alvan auf das Geschoss, dass Hesindians Robenärmel blutig färbte.<br />

Statt zu antworten wies der Magier über den Pferdeleib hinweg. Fünf Barbaren stürmten zu Fuß heran, angeführt<br />

<strong>von</strong> einem zotteligen Riesen, auf dessen Schultern ein gewaltiger Widderkopf saß. In seinen behaarten Pranken<br />

hielt er eine gewaltige, eisenbeschlagene Keule - mehr ein Baumstamm als eine Waffe. Ein Mannwidder...<br />

Dann fiel Alvans Blick auf das Dutzend Ferkinas, das wie ein Erschießungskommando auf den Felsen Aufstellung<br />

genommen hatte, die Bögen gespannt.<br />

Ein Regen aus Holz und Eisen prallte auf sie herab. Zwei weitere Pfeile trafen Hesindian, einige weitere prallten<br />

<strong>von</strong> Odilon ab, einer bohrte sich durch Alvans Mantel. Sie warf erst den Bogen, dann Odilon über ihre Schulter und<br />

lief los. Ein Pfeil surrte vor ihr in den Sand, einer prallte <strong>von</strong> ihrem Bein ab - was nicht schmerzhafter war, als ob<br />

ein Kieselstein dagegen geschleudert worden wäre.<br />

Keuchend ob der Last ihres Vaters auf der Schulter, brach sie kurz vor dem Beiboot zusammen. Ein Matrose nahm<br />

ihr gemeinsam mit Alrik Odilon aus den Armen.<br />

Ihr Blick suchte Hesindian, der neben dem toten Pferd <strong>von</strong> den Barbaren eingekreist wurde.<br />

"Wir müssen ihn da raushauen!" schrie Alrik und hob sein Schwert.<br />

"Vorsicht, die Pfeile sind jetzt vergiftet!" warnte die Edle.<br />

Alvan schoss auf einen Ferkina, der <strong>von</strong> hinten seine Axt in den Rücken des Magus treiben wollte. Eine<br />

Flammenlanze riss den Wilden vor Hesindian <strong>von</strong> den Beinen. Dann musste der Magus den gewaltigen Keulenhieb<br />

des Mannwidders parieren.<br />

Ein weiterer Pfeil der Halbelfe traf einen der Barbaren ins Knie und ließ ihn schreiend zusammensinken. Ein<br />

weiterer erstarrte mitten in der Bewegung, das Breitschwert weit über den vermummten Kopf erhoben. Ein Paralü.<br />

Alvan fragte sich, woher der Magus noch die Kraft für seine Zauber nahm.<br />

Nun stand der Mannwidder allein gegen den totenbleichen Magier, der zwergenhaft gegen dessen baumhohen Leib<br />

wirkte.<br />

Hesindian sah die Gelegenheit und lief auf das Boot zu. Auf halbem Weg brach er <strong>von</strong> Krämpfen geschüttelt<br />

zusammen. Stöhnend kroch er zum Ufer, verfolgt vom Mannwidder.<br />

Der Strand erbebte unter den Tritten des bepelzten Unholds, dessen obszön mächtiges Glied wie eine Waffe unter<br />

seinem Lendenschurz emporragte. Hesindian reckte seine Hand zu Alvan, lächelte oder verzog sein Gesicht vor<br />

Schmerzen - genau konnte das die Halbelfe nicht sehen.<br />

"Flieht, ih´ Na´en!"<br />

Schreiend vor Entsetzen sandte die Baernfarn einen Pfeil auf das Ungetüm, der ihn dessen Fell verschwand, ohne<br />

größeren Schaden anzurichten. Hesindian brach zusammen.<br />

149


Aus den Augenwinkeln sah Alvan, wie das Boot wieder Fahrt aufnahm. Dann wälzten sich die gehörnten<br />

Fleischmassen auf sie zu. Ein gewaltiger Schatten zuckte auf sie herab, zerbrach die Keule, ihren Arm, glitt <strong>von</strong><br />

dort ab und traf ihre Schläfe. Benommen sank sie in das Wasser, spürte einen weiteren Hieb gegen ihren Rücken.<br />

<strong>Das</strong> Wasser brachte sie nach einigen Augenblicken wieder zu Bewusstsein. Sie sah, wie Alrik auf den<br />

Levthansjünger eindrang, ihm gar eine klaffende Wunde am Bein zufügte, ohne dass dies das Monstrum sonderlich<br />

beeindruckt hätte. Flockiger Geifer und ein urtümliches Brüllen drang aus dem gefletschten Maul des Widderkopfs.<br />

Wie ein gefällter Baum sauste die Keule herab und zerbrach Alriks Schwert, als wäre es aus Glas.<br />

Alrik wich den nächsten, mörderischen Hieb auf, der die Bordwand des Beibootes zertrümmerte und einer<br />

Matrosin den Riemen aus der Hand fegte. Der Baron <strong>von</strong> Friedwang nahm das Stück Holz in die Hand und schlug<br />

damit auf das monströse Gemächt des Mannwidders ein. Brüllend hielt die dämonische Kreatur inne und wankte,<br />

während Blut über sein Glied troff.<br />

Der Friedwanger packte Alvan, warf sie ins Boot, und sprang hinterher. Ein weiterer Hieb zertrümmerte das Ruder,<br />

das <strong>von</strong> Sigismund einhändig gehalten wurde, dann waren sie außer Reichweite.<br />

<strong>Das</strong> letzte, was Alvan hörte, bevor sie die Besinnung verlor, war das orgelnde Brüllen des Gehörnten, das dumpf<br />

<strong>von</strong> den Felsen der kleinen Bucht wiederhallte.<br />

Wie hatten sie nur so naiv sein können, sich in die Gewalt der Schmuggler zu begeben. <strong>Das</strong> waren raue Burschen,<br />

die nur ihren eigenen Vorteil im Auge hatten. Ihre Moral reichte mal gerade soweit, dass sie nicht direkt<br />

gemeinsame Sache mit den Verderbten machten. Aber wahrscheinlich lohnte sich der Schmuggel für die<br />

maraskanischen Freischärler weit mehr als ein Leben in den Diensten eines Helme Haffax. <strong>Das</strong> war wohl der<br />

einzigste Grund, für die Rebellen zu fahren. Ansonsten durfte man Schurken wie den Schmugglern nicht weiter<br />

trauen als ein Schwertarm reichte. Wie hatten sie allesamt nur so gutgläubig sein können, sich diesen Gesellen<br />

freiwillig auszuliefern. Natürlich würde man sie letztendlich auf dem Sklavenmarkt verkaufen. <strong>Das</strong> war Alvan<br />

spätestens klar geworden, als man sie aus dem beschädigten Boot an Bord gezogen hat, unter vorgehaltenen<br />

Armbrüsten, ihnen die Waffen abgenommen hatte und sie mit derben Hieben Stößen unter Deck verbracht hatte.<br />

Alvan stolperte, als sie einen Stoß in den Rücken bekam. Sie schrie auf, als die Planken ihr in ihr Gesicht sprangen<br />

Eine derbe Hand griff nach ihr, sie spürte die große warme schweißfeuchte Hand auf ihrer Kopfhaut. Die Hand<br />

fand keinen Halt ohne Haare auf ihrem Kopf, also griff sie nach ihrem Hals und zog sie nach oben. Alvan sah auf<br />

und blickte in das Gesicht des Schmugglers. Ein hübsches Gesicht mit blonden Haaren.<br />

Alvan schrie erneut, als sie den Schmuggler erkannte. Niemals würde sie dieses Gesicht vergessen. Gion!. Wusste<br />

der Bruderlose, wie er an Bord der Zedrakke gekommen war.<br />

„Um die kümmere ich mich! Schafft den Rest unter Deck!“ kommandierte Gion. Die große starke unnachgiebige<br />

Hand des Piraten schloß sich um Alvans Hals. Der Pirat zog sie hinter sich her in eine Kajüte. Alvan stolperte mehr<br />

als sie lief. Sie hatte kaum mehr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, geschweige sich in irgendeiner Form zu<br />

wehren.<br />

Gion zog Alvan hoch und stieß sie auf einen Tisch, auf den sie rücklings fiel. Der Pirat band mit Seilen ihre Arme<br />

und Beine an den Tischbeinen fest – Alvan blieb nicht einmal die Zeit, sich darüber zu wundern, wieso vier Stricke<br />

hier schon bereit lagen. Dann zog Gion ein Messer hervor, grinste sie lüstern an, und begann ganz langsam, Alvans<br />

Bluse aufzuschlitzen. Angsterfüllt und schweißglänzend hob und senkte sich Alvans Brust, und Gions Messer glitt<br />

langsam tiefer. Ein Fingerbreit um Fingerbreit schlitzte der Pirat ihre Kleidung auf. Als Gion fertig war warf er das<br />

Messer weg und fasste sich an seine Hose, unter der sich eine verdächtig große Beule regte. Langsam und lüstern<br />

lächelnd knöpfte der Pirat seine Hose auf. Alvans Augen weiteten sich vor entsetzen, als sie das bizarr große Glied<br />

des Piraten erblickte. Es war so lang und dick, dass Alvan sich fragte, wie es zuvor in der Hose Platz gefunden<br />

hatte. Alvan wollte schreien, aber kein Laut drang vor Entsetzen aus ihrer Kehle. Bei allen Göttern und Dämonen,<br />

wie sollte so ein gewaltiges Glied in ihrem zierlichen Körper Platz finden. Es würde ihr in die Eingeweide<br />

eindringen und die Lunge durchbohren. Bei Belkelel, der Pirat würde sie im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode<br />

vögeln.<br />

Doch Gion hatte anderes im Sinn. Anstatt in ihren Schoß eindringen zu wollen näherte er sich ihrem Gesicht. „Na<br />

los, Elfchen, ich will es Horasisch!“ Kräftige Hände zwangen ihre Kiefer, sich zu öffnen, und Gion schob sein<br />

Glied in ihren Mund. Es fühlte sich an, als stopfe man ihr ein feuchtes schmutziges Handtuch in den Mund. Alvan<br />

mußte würgen.<br />

Alvan wollte zubeißen. Wenn das schon ihr Ende war, dann würde sie Gion mit in den Tod nehmen. Zubeißen,<br />

festzubeißen. Diesen Befehl sandte Alvans Verstand an ihren Kiefer. Doch ihr Kiefer gehorchte ihr nicht, statt zu<br />

beißen fuhren ihre Lippen, als gehorchten sie einem fremden Willen, lüstern über das harte Glied. Was für ein<br />

Zauber schützte Gion?<br />

Plötzlich biss Gion ihr in den Oberschenkel. „Gion“ schrie Alvan und erwachte.<br />

Gunelde hatte sich über sie gebeugt. Mit einem kurzen Ruck hatte sie den Pfeil herausgezogen, der in Alvans<br />

Oberschenkel gesteckt hatte. Ein Ferkinakrieger mußte ihr den Pfeil hinterhergeschossen haben, und nicht einmal<br />

150


Hesindians Zauber hatte sie davor schützen können. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ein Stück Holz zwischen die<br />

Zähne gesteckt bekommen hatte. Gunelde hatte es ihr in den Mund gesteckt, damit sie sich nicht in einem Reflex<br />

die Zunge abbeißen konnte. Die Therbunitin nahm ihr den Stock aus dem Mund. Obwohl das Holz durch den<br />

Einfluß des Salzwassers steinhart geworden war zeichnete sich ein deutlicher tiefer Gebissabdruck darin ab.<br />

Alvan sah ihre Gefährten an. Odilon hatte sein durch nichts zu erschütterndes fröhliches Gesicht aufgesetzt, aber<br />

Alvan kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, was in ihm vorging. Er hatte gewiss Mühe, den Schmerz zu<br />

unterdrücken, den seine Wunden verursachten. <strong>Das</strong> Bein war verbunden, der Verband mit Blut durchtränkt, und<br />

auch um die Brust war ihr Vater bandagiert.<br />

Sigismund stöhnte und wimmerte leise. Der Pfeil hatte seine Hand glatt durchschossen. Gunelde hatte sich auch um<br />

diese Wunde schon gekümmert. Alrik war unverletzt, aber er sah ausdruckslos an die Wand. Von allen ging ihm<br />

wohl der Tod Hesindians am nächsten. Alvan hatte den Verlust des Gefährten noch nicht wirklich realisiert. Sie<br />

hatte immer noch genug damit zu tun, das Bild Gions vor ihrem geistigen Auge zu verdrängen. Einzig Selbfrieds<br />

Gesicht zeigte keinerlei Reaktion.<br />

Vegsziber kam in Begleitung einiger Matrosen in die Kajüte. Auf einen Wink des Schmugglerkapitäns hin nahmen<br />

zwei Matrosen die Waffen der Gefährten an sich. Nicht einmal Alrik protestierte dagegen. Er sah ein, dass jeder<br />

Protest sinnlos war.<br />

„Hätte nicht Ruramid Euch geschickt, dann würde ich Euch jetzt sofort kielholen lassen. Ihr seid so ziemlich die<br />

dümmsten Garethjas, die mir je untergekommen sind. Was fällt Euch ein, die Schergen der Sultanija an unseren<br />

Landeplatz zu führen. Jetzt dürfen wir uns eine neue Stelle suchen! Außerdem habt ihr zwei meiner Leute auf dem<br />

Gewissen. <strong>Das</strong> waren gute Matrosen, fromme <strong>Maraskan</strong>ijas, die für Euren sinnlosen Kampf ihr Leben ließen.“ Der<br />

maraskanische Akzent des Kapitäns war unüberhörbar.<br />

Vegsziber sah die Gefährten vorwurfsvoll an. „Ich habe meinen Zweifel, dass das, was Ihr verursacht habt, wirklich<br />

der Schönheit der Welt förderlich ist. Schließlich seid Ihr ja Garethjas und reist gar mit einem Praioten. Einem<br />

Mann, dessen Kirche über Jahre hinweg dazu beigetragen hat, unser Volk zu knechten und zu unterdrücken.“<br />

„Heda, Heidenrebell, wage er es nicht, so lästerlich <strong>von</strong> der Heiligen Kirche des Praios zu reden...“<br />

„Schweig still!“ unterbrach Vegsziber den Inquisitor. „Ich werde Euch für Euer Verbrechen töten.“ Vegsziber sah<br />

fragend einen der Seefahrer an, der neben ihm stand. „Aber da wir <strong>Maraskan</strong>ijas uns nicht so barbarisch verhalten<br />

wie Ihr Garethjas werden wir Euch nicht einfach so niedermetzeln, obwohl ihr das verdient hättet. Ihr werde vor ein<br />

Gericht gestellt werden.“<br />

Vegsziber hielt kurz inne und schöpfte Atem, ehe er fortfuhr. „Die Gesetze des Freien <strong>Maraskan</strong> – und diese galten<br />

einst in Boran ebenso wie jetzt in Sinoda, und damit auch an Bord dieses Schiffes, sehen mich als Kapitän dieses<br />

Schiffes als Richter vor, soweit keine Hafenstadt mit einem ordentlichen maraskanischem Gericht erreichbar ist. Da<br />

ihr in Jergan wieder <strong>von</strong> Bord gehen wollt fällt es also mir zu, über Euch Gericht zu sitzen.“ Erst jetzt bemerkten<br />

Alrik und Alvan, dass einer der Seefahrer – der Kleidung nach offenbar einer der Offiziere an Bord, zwei alte<br />

Bücher in der Hand hielt. Lejia Punija eta Reojin <strong>Maraskan</strong>ijim stand auf dem einen, <strong>Maraskan</strong>iji Lejia Oceanos<br />

entzifferte Alvan. Strafrecht des Königreiches <strong>Maraskan</strong> und <strong>Maraskan</strong>isches Seefahrtsrecht übersetzte die<br />

Halbelfe. Die Gesetzbücher waren also mindestens vierzig Jahre alt, da sie vor dem Sieg Retos bei Jergan gedruckt<br />

worden waren. Vermutlich waren das einige der ersten Werke, die im Tuzaker Buchdruckverfahren gedruckt<br />

worden waren.<br />

„Durch Euer Verhalten haben zwei <strong>Maraskan</strong>ijas den Tod gefunden. Daher klage ich Euch an wegen Unbewusster<br />

Mordung.“<br />

„Fahrlässige Tötung heißt das.“ unterbrach Selbfried. „Als Lehensleute <strong>von</strong> Stand des Raulschen Reiches haben<br />

diese fünf hier Anspruch darauf, einzig nach kaiserlichem Gesetz vor einem kaiserlichen Gericht beurteilt zu<br />

werden. Als Geweihtem des Herrn Praios darf ich selbstredend nur vor ein kirchliches Gericht gestellt werden.“<br />

„Irrtum, Praiot. <strong>Maraskan</strong>isches Recht wurde vom König <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong> erlassen und kann auch nur <strong>von</strong> diesem<br />

außer Kraft gesetzt werden.“ mischte sich der Offizier mit den Büchern ein. Offenkundig war er in rechtlicher<br />

Materie vertraut. „An Bord eines Schiffes eines jeden Reiches gilt das Recht des Reiches, unter dessen Flagge das<br />

Schiff fährt. So festgelegt in der Übereinkunft des Nautischen Kongresses zu Havena im Jahr 788 nach dem Fall<br />

Bosparans zwischen Emissären des Garethischen und des Vinsalter Reiches. Diese Übereinkunft wurde <strong>von</strong> allen<br />

seefahrenden Staaten anerkannt, ebenso <strong>von</strong> Königin Umradjida <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong>. Somit erübrigt sich jeder Disput<br />

über die geltende Rechtslage.“<br />

„Der zweite Anklagepunkt lautet auf Bedrohung und Piraterie, und des weiteren Verrat und Kooperation mit<br />

Feinden des Freien Königreiches <strong>Maraskan</strong>.“<br />

„Niemals werde ich die Zuständigkeit eines...“<br />

„Euer Gnaden, würdet ihr gütigerweise mir als mit maraskanischer Kultur vertrauten Person gestatten, die<br />

Verhandlung weiter fortzusetzen?“ unterbrach Alvan den Inquisitor.<br />

151


„Wie Ihr wollt, Elfe. Redet Ihr doch mit diesen Heiden.“ ließ Selbfried verlauten, der sich fast geschmeichelt fühlte<br />

durch die überaus höflichen Worte der Elfe. Alvan ihrerseits war froh, ihre Gedanken wieder auf etwas<br />

konzentrieren zu können. Sie verbannte Gions Gesicht fürs Erste aus ihrem Gedächtnis.<br />

„Wir anerkennen die Zuständigkeit maraskanischer Gerichtsbarkeit.“ sagte Alvan, wieder zu Vegsziber gewandt.<br />

„Es steht geschrieben, dass einem jeden Delinquenten, so er dies wünscht, gestattet sei, eine Person mit fundierten<br />

Rechtskenntnissen als Beistand vor Gericht zu erwählen.“<br />

„Steht das wirklich geschrieben in unseren Gesetzen, Meldorjin?“<br />

Der rechtsgelehrte Offizier nickte.<br />

„Gut“, fuhr Alvan fort. „Ich erwähle den Gelehrten Alabor aus Tuzak zu unserem Rechtsbeistand.“<br />

Vegsziber blickte überrascht auf. Meldorjin schüttelte den Kopf. „<strong>Das</strong> zuständige Gericht kann die Wahl eines<br />

Advocati ablehnen, wenn es dafür triftige Gründe gibt. Eure Wahl dient offensichtlich lediglich zur Verschleppung<br />

der Verhandlung. Es steht Euch frei, eine an Bord befindliche Person zu wählen. Ausgenommen des Kapitäns, der<br />

als Richter bereits eine Aufgabe in diesem Prozess übernommen hat, und meiner Person, der ich hier als Anwalt<br />

königlicher Gerichtsbarkeit die Anklage vertrete.“<br />

Alvan unterdrückte einen Anflug <strong>von</strong> Ärger. So leicht würde sie es nicht haben. Zwar kannte sie sich zumindest<br />

einigermaßen mit den maraskanischen Gesetzen aus, aber mit dem offensichtlich rechtsgelehrten Meldorjin konnte<br />

sie nicht mithalten.<br />

„Gibt es noch eine Person mit Rechtskenntnissen an Bord?“<br />

„Allenfalls Estibora. Sie war früher das Oberhaupt der Krämergilde in Boraan. Etwas Grundwissen wird sie wohl<br />

haben.“<br />

„Nagut. Dann eben die. Aber ich bitte darum, Estibora und mir Einsicht in Eure gesetzeskundlichen Bücher zu<br />

gewähren.“<br />

„Gewährt.“<br />

„Danke. <strong>Das</strong> Gesetz sieht es des weiteren vor, dass einem offensichtlich aufgrund Krankheit oder Verletzung<br />

unpässlicher Delinquent die Zeit gegeben werden muss, sich zu ausreichend zu erholen um sich vor Gericht<br />

verteidigen zu können.“<br />

Vegsziber sah missbilligend auf Odilons Verletzungen. Die auszukurieren würde Tage, wenn nicht Wochen,<br />

dauern. „Stimmt das, Meldorjin?“<br />

„Ja, da hat sie Recht:“ antwortete dieser.<br />

„Ich hab Dir gleich gesagt wir sollen sie ohne viel Federlesens töten. Aber du musstest ja wieder Deine Prinzipien<br />

durchsetzen. Meinetwegen. Schick ihnen den Medicus in die Kajüte. Und der Magus soll auch kommen, ich will,<br />

dass die Sippschaft morgen verurteilt werden kann.“<br />

Alrik musste sich beherrschen, um nicht zu grinsen. Die Rechtskenntnis seiner Lehensfrau hatte ihnen, wenn auch<br />

keinen zeitlichen Aufschub, so doch immerhin schon mal die Behandlung ihrer Wunden eingebracht.<br />

„Ist sonst noch irgendetwas, was vor der Verhandlung erledigt werden muss?“ fragte Vegsziber.<br />

„Äh, nein...“ antwortete Alvan.<br />

“Sehr gut. Morgen zur zwölften Stunde findet die Verhandlung statt. Bis dahin hast Du Zeit, Dich mit Estibora zu<br />

besprechen und <strong>von</strong> ihr beraten zu lassen. Und noch etwas. Ich bekomme Einhundertfünfzig Dukaten <strong>von</strong> Euch.<br />

Und zwar jetzt gleich!“<br />

Alvan sah zu Odilon hinüber, der mit schmerzverzerrten Gesicht auf den blutverschmierten Lederwams starrte vor<br />

seinen Füßen starrte, den Gunelde ihn ausgezogen hatte. Dort, wo die beiden Pfeile in die Rüstung eingedrungen<br />

waren, prangten nun zwei dunkelumrandete Löcher.<br />

Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim hatte keine Ahnung, ob sie über die geforderte Summe verfügten. Zwar hatte der<br />

Verkauf des Beibootes einiges <strong>Gold</strong> eingebracht, aber sie konnte nirgendwo prall gefüllte Dukatenbeutel<br />

entdecken.<br />

"<strong>Das</strong> Geld befindet sich in meinem Rucksack, und der Rucksack liegt neben meinem Pferd am Strand" ächzte<br />

Odilon auf <strong>Maraskan</strong>i. Alvan bewunderte ihren Vater, dass er in seinem Zustand überhaupt noch ein Gespräch<br />

führen konnte. Aber vielleicht stand selbst er nach einem derartigen Kampf und ob seiner zahlreichen Wunden<br />

unter Schock. Sie selbst jedenfalls spürte wenig <strong>von</strong> ihrem gebrochenen Arm, der kunstvoll geschient auf ihren<br />

Knien lag, nur ein dumpfes, dröhnendes Pochen, das sich <strong>von</strong> dort aus über die Schulter in den Kopf hin ausdehnte.<br />

Schmerzhafter war da schon die klaffende Wunde im Oberschenkel. Sie hatte erneut Glück gehabt. Ein, zwei<br />

Fingerbreit nach links, und die Steinspitze hätte die Schlagader glatt durchschlagen. Vergiftet war das Geschoss<br />

auch nicht gewesen.<br />

Vegsziber sah den Waldläufer mit großen Augen an, mehr verblüfft ob dessen Gelassenheit als wirklich erzürnt:<br />

"Chazuul! Zahlen könnt ihr also auch nicht?"<br />

Odilon sah seinen Gegenüber an, deutlich geschwächt vom Blutverlust: "Wollt Ihr uns auch noch als Blinde<br />

Passagiere anklagen?"<br />

152


Die Antwort des Kapitäns bestand in einem einzigen wüsten Schimpfen und Fluchen, dass Alvan die Schamesröte<br />

ins Gesicht trieb. "Ihr könnt ja zur Bucht zurückfahren und das Geld holen" meinte Odilon, wobei klar war, dass er<br />

selbst nicht viel auf seine Worte gab. Dies war eine Situation, die auch ihn ratlos dastehen oder besser dasitzen ließ.<br />

"Ein wirklich einzigartiger Vorschlag. Dummsteres habe ich noch nie gehört, Garethja. Nein, Freund´ka, ich weiß<br />

etwas viel besseres, bei Rurs Daumenabdruck. Ich werde Euch in Jergan auf dem Sklavenmarkt verkaufen, da habe<br />

ich wenigstens meine Unkosten wieder drin."<br />

"Wie schön!" knurrte Odilon. "Gerade eben wolltet Ihr uns noch töten."<br />

Der Offizier namens Meldorjin mischte sich ein: "Ich fürchte, der Garethja hat recht. Im freien <strong>Maraskan</strong> gibt es<br />

keine Sklaverei, außerdem stehen diese Personen unter Anklage der Unbewussten Mordung, Bedrohung und der<br />

Piraterie."<br />

"Meldorjin, musst du eigentlich alles verkomplizieren? <strong>Das</strong> hier ist ein Schmugglerschiff - mein Schmugglerschiff,<br />

nebenbei bemerkt -, kein schwimmendes Rechtsseminar."<br />

"Nun Kapitän, die Haffaxijas sind als Diener des Äthrajin bekanntlich rechtsunfähig. Man kann gegenüber diesem<br />

bruderlosen Abschaum kein Recht brechen. Gegenüber Heiden aus dem Mittelreich ist dies etwas völlig anderes."<br />

"Nenn mich noch einmal Heide!" donnerte der Inquisitor los. Alvan bedeutete ihm zu schweigen.<br />

Vegsziber ging kopfschüttelnd in der kleinen Kabine auf und ab. "Verstehe ich das richtig? Wegen euch darf ich<br />

nicht nur zwei meiner Leute aus dem Buch der Anwesenden streichen lassen, nein. Ihr habt auch noch die Schergen<br />

der Sultanija zu unserem Versteck geführt. Ich habe deswegen eine Ladung bester Rauschgurken, Sinoda-Tabak<br />

und Rum verloren und nun erzählst du mir auch noch, dass ihr den vereinbarten Preis für die Passage nicht zahlen<br />

könnt?"<br />

"Ja, so könnte man es ausdrücken."<br />

Der Kapitän strich sich versonnen über sein Ziegenbärtchen. "Ich frage mich, Meldorjin, warum ich nicht einfach<br />

auf das verdammte maraskanische Recht scheiße und diese Schazzak´kuul" - Alvan überlegte, was das<br />

Schimpfwort bedeutete, sie kam aber gerade nicht darauf "doch an Helme Haffax verscherbeln soll. Die Bergwerke<br />

in der <strong>Maraskan</strong>kette und die Bäuche seiner Galeeren sind tief und hungrig."<br />

"Die Garethjas könnte plaudern, was die Geschäfte eines gewissen Vegsziber Sturmfeschij angeht, besser bekannt<br />

als Vegsziber <strong>von</strong> Gipflak."<br />

"Man kann ihnen die Zunge herausschneiden."<br />

"Auch für Leibesstrafen braucht es ein Gerichtsurteil."<br />

"Ach scheiß doch auf deine verdammte Rechtsverdreherei."<br />

"Nun, Vegsziber, ich finde, wir sollten uns schon ein wenig <strong>von</strong> Anhängern des Bruderlosen abheben, findest du<br />

nicht?" Meldorjin sah den Schmugglerkapitän vorwurfsvoll an. "Ich glaube nicht, dass deine Einstellung die<br />

Schönheit der Welt zu mehren in der Lage ist."<br />

"Es vermehrt auch nicht die Schönheit meines Geldbeutels, wenn diese Deppjas mein Geschäft vermasseln."<br />

"Da ist noch etwas, Kapitanjin." Der Offizier zwirbelte mit dem Finger durch eines der blauschwarzen Zöpfchen,<br />

das auf seine Schultern herabhing. "Heute Abend werden unsere Freunde aus Elburum in der Bucht eintreffen. Was<br />

ist, wenn die Ferkinas so schlau sind, ihnen eine Falle zu stellen. Die Höhle werden sie auf jeden Fall finden, bei<br />

den Spuren die wir hinterlassen haben? Wenn sie auch nur einen der Fischer gefangen nehmen, können die Oronier<br />

unser ganzes Schmugglernetz in der Stadt hochgehen lassen." Dieser Meldorjin scheint ein penibler Mann zu sein,<br />

dachte Alvan. "Verdammt, du hast recht. Daran habe ich noch gedacht." Einen Augenblick lang sah der erste<br />

Offizier recht hochmütig drein. Warum bin ich eigentlich nur der zweite Mann auf diesem Schiff, schien sein Blick<br />

fragen zu wollen.<br />

"Was schlägst du vor Meldorjin, der du alles zu wissen scheinst wie der Urvater aller Harnischgürtler, und mit dem<br />

zu unterhalten mindestens ebenso schwierig und ermüdend ist?" Vegsziber war der Gesichtsausdruck seines<br />

Offiziers wohl ebenfalls aufgefallen.<br />

"Wir könnten eine Art Strafbanner bilden. Aus den Garethjas hier. Wenn sie die Ferkinas töten und die Ladung in<br />

der Höhle zurückerobern, ließe sich das als mildernde Umstände werten - bei der morgigen Gerichtsverhandlung.<br />

Die Ladung und den Rucksack mit dem <strong>Gold</strong> . . . "<br />

"<strong>Das</strong> wäre ein Alveransfahrtskommando" schimpfte Alvan. "<strong>Das</strong> würde uns alle töten..."<br />

"Ein neuer Leib, ein neues Leben. Was kommt es darauf an?" fragte Vegsziber gleichmütig. "Ihr könnt in eurer<br />

nächsten Existenz eigentlich nur gewinnen. Selbst wenn ihr als <strong>Maraskan</strong>kakerlaken wiedergeboren werdet."<br />

"Meine Freunde glauben nicht an die Wiedergeburt."<br />

"Tja, das ist dann wohl ihr Problem."<br />

Vegsziber kraulte sich erneut den Bart: "Der Wind steht gerade günstig nach Jergan. Wir haben schon zuviel Zeit<br />

verloren."<br />

"Bedenke, Vegsziber, was auf dem Spiel steht. Unsere ganzen Geschäftskontakte nach Elburum."<br />

"Hm, vielleicht hast du Recht. Aber sechs Garethjas gegen eine dreifache Übermacht Barbaren, das kann nicht gut<br />

gehen. Die Mannschaft des Bootes soll sie begleiten. Selber schuld, wenn sie sich übertölpeln lassen."<br />

153


In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und der Bordmagus – ein rothaariger <strong>Maraskan</strong>er unbestreitbar<br />

mittelreichischer Abkunft - trat ein. "Stell das Wohlbefinden unserer Gefangenen soweit her, dass sie zum Strand<br />

zurückkehren können. Ich will meine Rauschgurken, den Tabak und den Rum wieder haben. Und lasst möglichst<br />

keinen Ferkina am Leben. Ich kann keine Zeugen gebrauchen."<br />

Eine halbe Stunde später saß Alvan wieder im Beiboot, einen neuen Bogen in den Händen. Sie konnte es kaum<br />

glauben, dass sie ihren linken Arm wieder frei bewegen konnte, der bis vor kurzem noch <strong>von</strong> dumpfem Schmerz<br />

durchzuckt gewesen war. Aber der Bruch schien vollständig verheilt zu sein. Sie hatte schon mehr als einmal<br />

Heilmagie erlebt, aber es erstaunte sie immer wieder, welche Macht der Balsamsalabunde besaß. Auch Odilons<br />

Wunden waren soweit geschwunden, dass er sich in einen maraskanischen Hartholzharnisch hatte zwängen<br />

können. Alrik hatte sein zerbrochenes Schwert mit einem Jerganmesser vertauscht. Sigismund, dessen<br />

Handverletzung vom Magus als zu geringfügig angesehen worden war, um mit einem heilenden Sprüchlein<br />

bedacht zu werden - vielleicht hatte der Zauberer aber auch einfach keine Kraft mehr - machte sich am Ruder<br />

nützlich. Der Inquisitor hatte sich ein Entermesser geben lassen, eine etwas merkwürdige Waffe für einen<br />

Praiosgeweihten. Nun ja, das Zuschlagen war Meister Selbfried gewohnt. Lediglich Gunelde befand sich noch an<br />

Bord der Nachtwind - offenbar als Sicherheit für das künftige Wohlverhalten ihrer Gefährten. Die Handvoll<br />

Matrosen im Boot sah grimmig drein - was wohl eher ihnen als den Barbaren am Strand galt.<br />

Alrik hatte den Plan für diesen erneuten Vorstoß ausgeheckt. Sie wollten nördlich der eigentlich Bucht, außerhalb<br />

der Sichtweite der Ferkinas landen, die Felsen hinauf klettern und ihre Gegner - vorrausgesetzt, diese befanden sich<br />

noch vor Ort - <strong>von</strong> hinten angreifen und ihnen den Weg nach oben abschneiden. Sie hatten genügend Bögen dabei,<br />

um sie mit Pfeilen zu überschütten, außerdem noch mehrere Wurfscheiben und Lederschilde. Mit den <strong>Maraskan</strong>ern<br />

zusammen waren sie zehn Kämpfer - immerhin eine Streitmacht, mit der man etwas anfangen konnte. Alvan war<br />

sich sicher, dass die Barbaren noch in der Bucht waren. Im Mindesten brauchten ihre Reittiere Erholung, aus denen<br />

sie noch vor einer halben Stunde das letzte herausgeholt hatten. Aber auch <strong>von</strong> ihren Reitern war der eine oder<br />

andere verwundet. Außerdem würden sie die Höhle plündern oder sich dort zumindest auf die Lauer legen wollen.<br />

<strong>Das</strong> Beiboot, das noch immer mit abgebrochenen Pfeilen gespickt war, näherte sich dem Land - ein schmaler, mit<br />

Geröll übersäter Küstenstreifen, der durch einige mit Büschen und Bäumen bestandene Felsen <strong>von</strong> der<br />

Schmugglerbucht aus nicht einzusehen war. Dieser Strand war nicht ganz so günstig gelegen wie der andere: Die<br />

Wellen krachten hier mit größerer Wucht herein, die Felsen waren steiler und bei schwerem Seegang konnte hier<br />

sicherlich kein Boot mehr anlegen. Jetzt, am späten Vormittag, war das Perlenmeer allerdings ruhig, der Wind<br />

wehte zudem <strong>von</strong> Land her, so dass die Kraft des Wassers schon gebrochen war, ehe es sich zwischen den Steinen<br />

verlief.<br />

Wenig später schrammte das Beiboot an Land. Alvan warf einen Blick auf die Zedrakke, die draußen auf dem<br />

offenen Meer kreuzte. Anker zu werfen hatte Vegsziber aus Furcht vor den oronischen Schiffen nicht gewagt. Am<br />

Hauptmast flatterte jetzt die blutrote Fahne mit der schwarzen Blutrose – eine raffinierte Camouflage, wie sie auch<br />

schon die Piraten der Fran-Horas angewandt hatten.<br />

Odilon sprang aus dem Boot und versuchte auf den glitschigen, <strong>von</strong> Algen überquollenen Steinen Halt zu finden.<br />

Möwengekreische erfüllte die Luft. "Also, der Plan ist klar. Wir fünf hier" - der Gallyser wies auf sich und seine<br />

Begleiter - "werden den Felsen hinaufklettern und den Strand <strong>von</strong> oben her angreifen." Der Schwarze Bär<br />

schulterte Bavhano´Braith. Alrik schnappte sich eine Armbrust und glitt ebenfalls <strong>von</strong> der Bordwand ins<br />

hochsprühende Wasser. "Alvan, hast du das Seil, den Enterhaken und die Efferdsleiter?"<br />

"Hier Vater."<br />

"Gut. Der Felsen ist ziemlich steil. Keine Sorge, ich schaff das schon Ich werde hinaufklettern und dann die<br />

Strickleiter für euch herunterlassen. Ihr anderen fahrt mit dem Boot um die kleine Landspitze dort und versucht die<br />

Barbaren abzulenken. Aber haltet euch möglichst außer Schussweite. Ihr wisst ja, ihre Pfeile sind zum Teil<br />

vergiftet. Wir schleichen uns in der Zwischenzeit <strong>von</strong> oben heran und greifen <strong>von</strong> dort an. Vermutlich werden sie<br />

sich auf kurz oder lang in die Höhle zurückziehen. Versucht, in einem toten Winkel zu landen, damit sie euch <strong>von</strong><br />

dort nicht unter Beschuss nehmen können. Dann sehen wir weiter. <strong>Das</strong> wäre alles."<br />

Alvan sah nach oben, wo sich schwere Regenwolken ballten. Es würde bald wieder Regen geben. Ihr Vater warf<br />

den Enterhaken nach oben, wo dieser zwischen den Felsen liegen blieb. Als Odilon das Seil anzog, fiel die Drake<br />

wieder nach unten. Offenbar fanden ihre Haken keinen Halt.<br />

"Dann werde ich eben so klettern."<br />

"Sei vorsichtig, Vater."<br />

"Keine Angst, Alvan. In der Schwarzen Sichel bin ich schon über schwierigere Felswände geklettert, im Winter bei<br />

Eis und Schnee. Nur der Harnisch ist ein wenig ungewohnt."<br />

Während die Matrosen auf die offene See hinaus ruderten, hangelte sich Odilon die Felsen hinauf, geschickt wie<br />

eine Bergziege jeden Vorsprung und jeden Sims ausnutzend. In Windeseile war er oben, befestigte das Seil an<br />

einem Felsen, verband es mit der Strickleiter und ließ diese herab. Nach und nach hangelten sich seine Gefährten<br />

nach oben.<br />

154


Als letztes kam Sigismund oben an, mit schmerzverzerrten Gesicht und bleich: Es war für ihn nicht einfach<br />

gewesen, mit nur einer gesunden Hand zu klettern. Der Bordmagus der Nachtwind hatte es nicht für nötig<br />

befunden, auch ihn zu heilen. Offenbar hielt man seine Handverletzung für nicht hinderlich für die anstehende<br />

Gerichtsverhandlung.<br />

Alrik reichte ihm einen Lederschild. "Kämpfen wirst du mit der kaputten Hand eh´ nicht können. Versuch Alvan<br />

damit zu decken, die hat die schwächste Rüstung." Sigismund grinste: "Aber gerne werde ich dich decken, meine<br />

liebe kleine Alvan."<br />

Die Baernfarn sah ihn böse an, und der schmutzige Galgenhumor des Streuners verflog so schnell, wie er<br />

gekommen war. Sie überprüfte, ob ihr Lederkurbul richtig saß, dann legte sie einen Pfeil auf die Sehne. Auch der<br />

Inquisitionsrat hielt einen ledernen Schild in den Händen. Odilon stellte sich neben ihn. Auch er hatte<br />

Bavhano´Braith <strong>von</strong> den Schultern genommen. "Nun denn, die Zwölfe befohlen" sagte der Waldläufer mit<br />

Nachdruck und blickte zum Inquisitor.<br />

"Praios befohlen!" Meister Selbfried nickte anerkennend. Ein wenig schien er zu merken, dass sein bisheriges<br />

Verhalten töricht gewesen war. "Ich wollte Euch noch danken, dass Ihr..."<br />

"Ja, schon gut." Odilons Stimme klang gereizter, als er beabsichtigt hatte. "Reden wir nachher darüber."<br />

Die fünf huschten an dichtem Buschwerk vorbei die Felskante entlang zur Bucht hinüber. Der Weg war nicht<br />

einfach, Dornenranken und Steinblöcke machten immer wieder Ausweichmanöver nötig. Die Grasmatten zu ihren<br />

Füßen waren rutschig - es bestand die Gefahr auszugleiten und zwanzig Schritt in die Tiefe hinabzustürzen.<br />

Irgendeine Kriechechse, die sich gesonnt hatte, verschwand im Unterholz. Immerhin, gute Deckung hatten sie hier<br />

oben. Nun versperrte nur noch eine Ansammlung Dornenbüsche den Blick auf die Felsen oberhalb "ihrer" Bucht.<br />

"Ich werde nachsehen, ob auf der anderen Seite noch Ferkinas stehen" flüsterte Odilon. "Keinen Laut jetzt mehr.<br />

Alvan, du gibst mir Deckung mit dem Bogen. Der Rest macht sich möglichst unsichtbar."<br />

Geschickt wand sich der Waldläufer durch die Dornen - Alvan bildete sich ein, auch ein paar wilde Rosen<br />

zwischen den mit dicken, spitzen Stacheln bewehrten Ranken zu entdecken. Dann ging sie hinter einem<br />

Baumstumpf in Deckung.<br />

Tatsächlich, da drüben stand ein Barbar - ein hässlicher Kerl in schwarzem, nietenbesetzten Leder, der sich<br />

irgendein braungelbes Fell, vielleicht <strong>von</strong> einer Ziege, über die Schultern geworfen hatte. Die schmutzigbraunen,<br />

zu Zöpfen verdrehten Haare und vor allem der Hörnerhelm ließen ihn eher wie ein Thorwaler als ein Tulamide<br />

aussehen. In den der Linken hielt er einen tulamidischen Reiterbogen, ähnlich dem, den Alvan dem toten<br />

Rotmantel abgenommen hatte, in der Rechten eine Dschadra, eine Reiterlanze. Im Gürtel steckte eine Streitaxt, die<br />

ebenfalls eher an eine Skraja denn an eine Ferkinawaffe erinnerte. Trotz allem, der Kerl sah doch irgendwie<br />

tulamidisch aus. Vermutlich hatte er die Waffe irgendeinem Nordmann der "Drachen <strong>von</strong> Llanka" abgenommen.<br />

Odilon schlich sich <strong>von</strong> hinten her an, den Dolch gezückt. Dem Ferkina die Hand auf den Mund zu legen und die<br />

Waffe über die Kehle zu ziehen war fast eine Bewegung. Wie ein gefällter Baum sank der Bursche zu Boden. Mit<br />

blutiger Klinge winkte Odilon Alvan, näher zu kommen<br />

Alvan huschte, den Pfeil auf die Sehne gelegt, näher. Schließlich warf sich neben ihren Vater - und den toten<br />

Barbaren - auf die Felskante, wo sie nach unten spähte. Die Barbaren hatten die Höhle mit dem Rum und den<br />

Rauschgurken entdeckt, ließen sich den Schnaps in die Kehle rinnen und bissen in die berauschenden Früchte, als<br />

wären es Wassermelonen. Ihre Toten – nicht gar so viele, wie Alvan erwartet hatte, offenbar waren nicht alle Pfeile<br />

tödlich gewesen – lagen noch immer dort, wo sie in den Sand gefallen waren.<br />

Am Strand war der Körper des unglücklichen Magiers zu sehen. Einer der Ferkinas hatte sich dessen spitzen,<br />

bluttriefenden Hut auf den Kopf gesetzt und torkelte, eine Flasche maraskanischen Rum in den Pranken, den Strand<br />

auf und ab. Ihr zottelbärtiger Anführer - der Mannwidder, der nun, da der Kampf zu Ende war, fast wieder wie ein<br />

Mensch aussah - versuchte brüllend Ordnung in dem Haufen zu schaffen, und schlug dazu mit seiner Keule auf die<br />

Berauschten ein.<br />

"Sie sind betrunken. Sehr gut, bei Firun!"<br />

"Ja, aber nicht alle!" Alvan wies auf eine Handvoll Barbaren, die einige Krüge auf ihre Pferde schnallten.<br />

"Die scheinen die Beute abtransportieren zu wollen. Und die dort lecken ihre Wunden. Beim Hängenden Gletscher<br />

des Firun, es sind immer noch viel zu viele. Ich dachte, wir hätten mehr getötet."<br />

"Ja, und die da essen zu Mittag." Angewidert sah Odilon auf ein Grüppchen, das große Fleischbrocken aus seinem<br />

toten Shadif schnitt und über dem wieder entzündeten Lagerfeuer briet - nein, kurz über die züngelnden Flammen<br />

hielt, um sich dann das halbgebratene Mahl in die Mäuler zu stopfen. In diesem Moment kam Bewegung in den<br />

Haufen. Der Kerl mit dem Magierhut auf seinem zottelhaarigen Schädel hatte das Beiboot entdeckt, das draußen<br />

auf dem Meer vorbeifuhr. Rasch eilten einige Bogenschützen herbei - oder besser gesagt, kamen herangetorkelt -<br />

und schossen Pfeile aufs Meer, die einige gute Schritt <strong>von</strong> ihrem Ziel entfernt ins Meer klatschten.<br />

"Ja, verschießt nur alle eure Pfeile! Sehr gut!" murmelte Odilon. In diesem Augenblick war ein dumpfes Gurgeln<br />

zu hören. Der Ferkina neben Alvan grub seine Hand in deren Nacken, nestelte nach seiner Axt und zerrte diesen<br />

aus dem Gürtel hervor. Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim schrie auf und versuchte sich aus dem Griff des Barbaren zu<br />

entwinden. Mit einem wütenden Schrei trieb Odilon seinen Dolch in den Brustkorb des Barbaren, erst einmal, dann<br />

155


zweimal, bis Blut aus dessen Mund troff. Die Axt entglitt seinen kraftlosen Händen, seine Beine zuckten, dann lag<br />

er starr.<br />

"Verdammt zäh die Burschen! Ich hätte schwören können, dass er tot ist!"<br />

Dann surrten <strong>von</strong> unten auch schon die ersten Pfeile heran. Die Baernfarn warf sich wieder auf den Bauch, und die<br />

Geschosse gingen über sie hinweg. Irgendwie schienen sie schlechter gezielt zu sein als beim ersten Kampf - die<br />

Ferkinas waren offenbar wirklich berauscht.<br />

Odilon kniete sich an den Felsrand, hob Bavhano Bvaith und schoss zurück. Einer der Schützen brach mit einem<br />

Pfeil im Oberschenkel zusammen. Auch Alvan sprang auf und schoss aufs Geradewohl in die Menge. Fluchend<br />

nahm sie zur Kenntnis, dass ihr Pfeil fehlgegangen war.<br />

"Verdammt, wo bleiben die anderen. Wir brauchen Schilde!" Odilon winkte zum Gebüsch. Ein Pfeil prallte vor<br />

ihm ab und überschlug sich in der Luft. Ein weiterer strich Alvan durch die Haare. Sie griff zur altbewährten<br />

Methode und schoss in kürzester Zeit so viele Pfeile wie möglich hinein ab. Keiner traf, aber die Schützen sprangen<br />

auseinander. Alvan merkte, dass ihr Vorrat an Geschossen zur Neige ging, also zog sie den Köcher des toten<br />

Wächters heran. Immerhin, der war noch halb gefüllt. Erneut surrte ein Pfeil durch die Luft. Die Edle <strong>von</strong><br />

Nordenheim duckte sich unwillkürlich und zog sich einige Schritt <strong>von</strong> der Felskante zurück. Odilon tat es ihr<br />

gleich. In seinem eigenen Köcher steckten <strong>von</strong> außen zwei Pfeile, ein weiterer zierte seinen Hartholzharnisch.<br />

"Bist du verletzt?" fragte Alvan erschrocken, als sie eine dunkle Flüssigkeit neben dem Pfeilschaft glänzen sah.<br />

"Klopf auf Holz, nein!"<br />

Der würzige Geruch ätherischer Öle drang an Alvans Nase. Natürlich, die <strong>Maraskan</strong>er tränkten ihre Rüstungen mit<br />

bestimmten Ölen, um sie vor Käferfraß zu schützen.<br />

"Hier hinten sind wir erst mal sicher!" meinte Alvan mit Blick auf die Pfeile, die weit über ihre Köpfe hinweg ins<br />

Nirgendwo fliegen.<br />

"Nun, sie versuchen uns hier niederzuhalten, während ihre Gefährten sicherlich bald den Pfad hinaufreiten werden"<br />

Odilon sah zu der kleinen Baumgruppe hinüber, wo noch immer ihre Pferde standen. "Wir werden sie zu Pferde<br />

angreifen. Aber erst müssen wir den Pfad sperren. Dazu brauchen wir Schilde."<br />

In diesem Moment kamen Alrik, der Inquisitor und Sigismund angelaufen. "Zum Pfad, schnell!"<br />

Sie eilten zu der Stelle, wo die Böschung am gangbarsten war, und wo die Hufe ihrer eigenen Pferde und die der<br />

Ferkinas so etwas wie einen Trampelpfad geschaffen hatten. Keinen Augenblick zu früh: Im gestreckten Galopp<br />

arbeiteten sich bereits fünf Ferkinas nach oben, Dschadras, Klingen und Beile in den Fäusten. Odilon schoss dem<br />

ersten das Pony unter den Füßen weg, das sich nun als eine zuckende, wiehernde Wegsperre vor die Hufe der<br />

übrigen legte. Alvan erledigte den Reiter dahinter mit einem sauberen Schuss durch den Hals. Alriks Armbrust<br />

krachte. Der dritte Reiter schrie auf und hielt sich den Arm, in dem ein Bolzen steckte. Die beiden anderen<br />

sprangen aus dem Sattel und griffen zu Fuß an. Odilon warf Bavhano Bvaith zur Seite und zog blank. Mit einem<br />

jauchzenden Geräusch, als sei die Klinge glücklich, gezogen zu werden, schnitt Wandelur durch die Luft. Mühsam<br />

parierte der Barbar den Hieb mit seinem Beil. Zwei blutunterlaufene Raubtieraugen funkelten den Gallyser aus<br />

einem narbenübersäten Gesicht heraus an. Im nächsten Herzschlag musste der Waldläufer einen wütenden Konter<br />

parieren.<br />

Die beiden anderen Ferkinas drängten heran, die Gesichter mit blutroten Tüchern vermummt. Alvan sprang ein<br />

paar Schritte zurück, schoss einem der Angreifer einen Pfeil in den Brustkorb. Dieser kämpfte sich unbeeindruckt<br />

weiter den Abhang hinauf und wurde an dessen Ende durch einen wütenden Hieb <strong>von</strong> Alrik empfangen, der ihn mit<br />

seinem Tuzakmesser glatt den Schädel spaltete. Der Inquisitionsrat parierte den wütenden Hieb seines Gegners, der<br />

katzengleich nach oben gesprungen war, und den Praioten mit einem Khunchomer zu zerhacken versuchte.<br />

Odilon parierte einen weiteren Hieb, fintete und schlug seinem Gegner in die Seite. Ein weiterer, pfeifender Streich<br />

ließ diesen zusammenbrechen. Dann fegte Wandelur den Ferkina beiseite, der dem Inquisitor mittlerweile eine<br />

kleine Schramme an der Stirn beigebracht hatte. Alrik war halb die Böschung hinuntergelaufen, hatte den<br />

verwundeten Oronier aus dem Sattel gezerrt und den Kopf <strong>von</strong> den Schultern getrennt.<br />

Erneut surrten Pfeile. Sigismund hob instinktiv den Schild, gerade rechtzeitig, um zwei Geschosse abzufangen. Der<br />

Inquisitionsrat starrte auf das Geschoss in seiner Schulter, begann zu beten. Odilon lief zu den Pferden.<br />

Alvan schoss zurück. Schemenhaft sah sie, wie am Lagerfeuer ein Bogenschütze zusammenbrach. Die Zahl der<br />

Ferkinas war deutlich zusammengeschmolzen. Vom Beiboot her surrten weitere Pfeile heran. Ein weiterer der<br />

Schützen brach zusammen. Höchstens ein Dutzend der Barbaren war noch auf den Beinen und versuchte die<br />

scheuenden Ponys einzufangen.<br />

Dann sah Alvan den Mannwidder, der sich wie eine einzige Masse brüllenden Fleisches auf sie zu bewegte. Sie<br />

schoss einen Pfeil auf ihn ab, den dieser abschüttelte wie ein lästiges Insekt. Sein monströses Glied war wie eine<br />

Lanze auf sie gerichtet, und einen Augenblick lang glaubte sie absurderweise Gions Gesichtszüge in diesem geilen<br />

Bocksgesicht wieder zu erkennen. Unfähig, sich zu regen, starrte sie die Keule an, die gleich dem Beil eines<br />

Scharfrichters über ihr schwebte. Gelbe Tieraugen starrten sie an, ein lüstern geöffnetes Maul hauchte ihr süßlichen<br />

Gestank nach Geilheit entgegen.<br />

156


Wie ein Wirbelwind brach Odilon zu Pferd über das Untier herein. Wandelur parierte den fürchterlichen Hieb, bog<br />

sich unter dessen Wucht, aber brach nicht. Der Gallyser ließ sein Shadif steigen. Von zwei Hufen an der Brust<br />

getroffen, wich der Mannwidder zurück. <strong>Das</strong> Schwert sauste herab wie ein Blitz, schlug durch eines der<br />

gekrümmten Hörner und trennte es knapp über dem wuchtigen Schädel ab. Schwarzrotes Blut sprudelte hervor.<br />

<strong>Das</strong> Tierwesen blökte, und zum erstenmal klang es auch nach Schmerz und nicht allein nach Zorn.<br />

Odilon lenkte sein Pferd an dem Mannwidder vorbei, rammte ihn im Vorbeireiten die Klinge in den wuchtigen<br />

Leib: "Für Hesindian!" Im nächsten Augenblick wurde ihm das Pferd unter dem Leib weggerissen. Der<br />

Mannwidder hatte zurückgeschlagen.<br />

Fluchend wand sich Odilon aus dem Sattel, wälzte sich zur Seite. Dröhnend und einen ganzen Sandsturm<br />

aufwirbelnd krachte die Keule aus Steineichenholz auf Sumus Leib herab. Erneut biss Wandelur zu. Der<br />

Mannwidder wankte, stürzte. Noch im Fallen schien er zu schrumpfen, das Fell zu schwinden. Schließlich lag dort<br />

ein schwarzbärtiger Ferkina, aus zahllosen Wunden blutend, den Kopf knapp über dem Ohr zerschrammt. Odilon<br />

hob seine Klinge zum Todesstoß. Alvan fiel ihm in den Arm: "Nein Vater. Bedenke, diese Kreatur ist Levthan<br />

heilig, und der Widdergehörnte ist trotz allem ein Sohn der Rahja. In Sokramors Namen, verschone ihn."<br />

"Er hat Hesindian niedergeschlagen!" grollte Odilon.<br />

"Wir haben genug der ihren getötet. Schau dich um, das hier ist ein einziges Schlachtfeld."<br />

Die überlebenden Ferkinas donnerten heran, ihre Bögen, Lanzen, Klingen und Beile drohend erhoben. Es waren<br />

ihrer noch immer viele - Alvan zählte elf oder zwölf, auch wenn einige Pfeilwunden aufwiesen. Der Gallyser hielt<br />

dem Anführer die Klinge an die Kehle. "Sag deinen Leuten, sie sollen sich zurückziehen, oder du bist des Todes."<br />

"Niemals!" gurgelte es auf urtümlichen Tulamidya zurück.<br />

"Wir Schwarzsichler haben keinen Streit mit Euch Ferkinas, und wir kämpfen nicht gegen die Anhänger des<br />

Gehörnten Gottes. Ich bin Odilon Wildgrimm der Schwarze Bär aus dem Hause Baernfarn, das selbst <strong>von</strong><br />

Ferkinageblüt ist. Es ist keine Schmach, vom Schwarzen Bär besiegt zu werden."<br />

"Du bist der Schwarze Bär?" Der Ferkina sah sein Gegenüber aus schwarzen, unergründlichen Augen an.<br />

"So ist es."<br />

"Dann ist es wahrlich keine Schande, dass du mich besiegt hast. Der Schwarze Bär ist ein großer Krieger, dessen<br />

Name auch in unseren Bergen mit Ehrfurcht genannt wird. Du trägst das Schwert Wand el-Urr."<br />

"Wie ist dein Name?"<br />

"Khurkaschim Pascha."<br />

"Hör zu, Khurkaschim Pascha. Ich habe dich im Zweikampf besiegt, aber du hast es vermocht, der Fährte des<br />

Schwarzen Bären zu folgen, obwohl ich alle meine Künste angewandt habe, meine Wege vor Euren Augen zu<br />

verbergen. Also hast auch du mich besiegt. Ich mache dir ein Angebot. Wir begraben den Kriegsbogen hier und<br />

jetzt. Du lässt uns ziehen und wir lassen Euch ziehen - vorausgesetzt, ihr verlasst Oron noch heute und kämpft nicht<br />

länger auf der Seite der Dämonenbrut. Dafür überlasse ich euch die Hälfte der Beute, die sich in der Höhle befindet<br />

und außerdem die Shadifs, die dort oben zwischen den Bäumen stehen. Außerdem wirst du mir schwören, dass du<br />

niemandem etwas <strong>von</strong> dem Versteck der Schmuggler berichtest."<br />

Odilon hatte kaum zu Ende gesprochen, als ein warmer Regen herab prasselte. Auf die Ferkinas, die gerade noch<br />

Anstalten zu einem Angriff gemacht hatte, schien der Efferdsgruß beruhigend zu wirken, sie umringten die<br />

Gefährten zwar im Halbkreis, senkten ihre Waffen aber etwas. Der Häuptling der Ferkinas nickte, soweit das<br />

Schwert unter seinem blutverklebten Bart es zuließ.<br />

"Es ist wahrlich keine Schande, vom Schwarzen Bären besiegt zu werden" wiederholte Khurkaschim Pascha. "Ich<br />

stimme deinen Bedingungen zu."<br />

"Schwöre bei Levthan, dass du und deine Leute in Frieden abziehen, Oron noch heute verlassen und Stillschweigen<br />

über das Versteck bewahren werden."<br />

"Ich schwöre es bei Levthan."<br />

"Gut!" Odilon trat einen Schritt zurück. Sofort hoben die Söldner ihre Waffen wieder, aber ein scharfer Befehl<br />

ihres Anführers rief sie zur Ordnung. Einige der Ferkinas eilten zur Höhle, um sich ihre Beute einzuverleiben.<br />

Andere machten sich daran, ihre Toten auf die Ponys zu binden.<br />

"Ihr wollt diese Ungläubigen doch nicht einfach ziehen lassen!" Der Inquisitor sah erbost drein.<br />

"Ihr könnt sie gerne im Alleingang niedermachen!" Odilon wischte Wandelur im nassen Sand sauber. "Glaubt mir,<br />

wir sind bei diesem Handel noch gut da<strong>von</strong>gekommen."<br />

"Diese Wilden haben Hesindian erschlagen" ereiferte sich nun auch Alrik. "<strong>Das</strong> muss gesühnt werden."<br />

"Wir haben bestimmt ein Dutzend <strong>von</strong> ihnen getötet!" Sigismund wies auf die herumliegenden Leichen." <strong>Das</strong> ist<br />

doch Blutgeld genug. Es müssen doch nicht noch mehr über das Nirgendmeer gehen."<br />

Der Baron <strong>von</strong> Friedwang ging schweigend auf das Meer zu, wo sich nun die Matrosen der Nachtwind näherten,<br />

die bislang respektvoll Abstand gehalten hatten. Dort, wo der Magier im Sand lag, blieb Alrik stehen und kniete<br />

nieder. Fliegen surrten umher. Eine weißliche, breiige Masse war auf dem Kopf des Magiers zu sehen.<br />

Halb angewidert, halb niedergedrückt trat Alvan neben ihm. Ein süßlicher, nein, eher säuerlicher Geruch stieg ihr<br />

in die Nase. War Hesindian wirklich tot? Begann die Leiche in der heißen Mittagssonne bereits zu verwesen?<br />

157


Ein leises Schmatzen war zu hören. Irritiert sah Alvan aufs Meer. Waren das die Wellen? Aber das Perlenmeer lag<br />

jetzt völlig still da, nur der Regen prasselte herab, wurde stärker und stärker. Sie sah wieder zu Hesindian. <strong>Das</strong><br />

Wasser wusch die fleischige Masse weg – und langsam kam wieder das bleiche Gesicht des Magus zum Vorschein.<br />

Dieser leckte sich die Lippen, wo sich besonders viel <strong>von</strong> der roten Masse, in die sein Gesicht getaucht war,<br />

festgesetzt hatte.<br />

Dann schlug der Edle <strong>von</strong> Orweiler die Augen auf. "Hesindian, du lebst?"<br />

"<strong>Das</strong> rosarote Einhorn... wie unendlich ... schön es ist... sicherlich seit mehreren tausend Äonen..." brabbelte der<br />

Magus.<br />

Alrik und Alvan sahen sich aus großen Augen an. "Die Blütenfeen, wo kommen nur die vielen Blütenfeen her...<br />

sicherlich ganz außerordentlich blümerant, Herr Magister... Nein, ich habe nicht geschwätzt... Verzeiht, ich werde<br />

den Krakenmolch gleich aufräumen..."<br />

Der Baron tauchte seine Finger in die breiige, dunkelrotglänzende Masse, die den Kopf Hesindians umgab, und<br />

leckte vorsichtig daran: "Rauschgurke!" stellte er schließlich fachmännisch fest. "Ich fürchte, der Magus weilt<br />

zurzeit tatsächlich in Borons Reich, aber anders als wir uns das vorgestellt haben. Er muss eine der Rauschgurken<br />

unter seinem Hut versteckt haben, als wir das Zeug heute Morgen in die Höhle gebracht haben. Der Mannwidder<br />

hat das Ding dann zu Brei geschlagen und der Saft ist dem armen Hesindian in den Mund gelaufen. Naja, besser<br />

unter Drogen als unter der Erde."<br />

"Und der Giftpfeil?"<br />

"Vermutlich Gonede. Ich möchte nicht wissen, wie das Gift das Gelbschwanzskorpions in Verbindung mit<br />

Rauschgurkensaft wirkt. Nun ja, erbrochen hat er sich auch, wie ich gerade rieche - und schmecke." Alrik spuckte<br />

aus.<br />

Die <strong>Maraskan</strong>er kamen an Land, die Bögen ängstlich auf die Ferkinas gerichtet.<br />

"Sieh an, die Kavallerie, gerade zur richtigen Zeit" höhnte Alrik. Dennoch, die Erleichterung über den Ausgang des<br />

Geschehens war ihm deutlich anzumerken. Odilon, der seinen Rucksack an sich genommen hatte, erklärte den<br />

Matrosen in knappen Worten, was geschehen war. "Ihr habt den Wilden die Hälfte <strong>von</strong> der Ware überlassen?" Eine<br />

Matrosin sah die Gefährten entgeistert an. "Die Hälfte <strong>von</strong> dem, was sie nicht eh´ schon weggesoffen und gefressen<br />

haben?"<br />

"Oh, bitte, ihr könnt mit ihnen gern ein anderes Geschäft abschließen."<br />

"Aber... das gehört euch doch alles gar nicht."<br />

"Ach wisst ihr, die hundertfünfzig Dukaten sind auch weg, wie ich gerade sehe."<br />

Odilon fingerte in seinem aufgeschlitzten Rucksack herum, den die Ferkinas restlos geplündert haben. "Mein<br />

Leben ist mir das Geld wert. Aber ich fürchte, wir können unsere Überfahrt immer noch nicht bezahlen."<br />

"Dann bleibt ihr eben hier."<br />

"O ja, die Oronier wird es sicher interessieren, zu erfahren, was in Elburum so für Geschäfte getätigt werden und<br />

<strong>von</strong> wem. Ich für meinen Teil kann nicht garantieren, dass ich auf der Folter stillhalten kann."<br />

"Dann kommt ruhig mit. Vegsziber wird euch töten."<br />

"<strong>Das</strong> hat er schon seit längerem vor. Außerdem bitte ich zu bedenken, dass durch meine Verhandlungen mit den<br />

Ferkinas die Möglichkeit besteht, dass das Versteck geheim bleibt. Zumal der Regen gerade die Spuren, die hierher<br />

führen, zu löschen beginnt. Nun, wir würden jetzt gerne zur Nachtwind zurückkehren. Wir haben zwei<br />

Verwundete, die versorgt werden müssen."<br />

Die Matrosin zuckte mit der Schulter. "Also gut. Soll Vegsziber entscheiden, was er mit euch anstellt."<br />

Vegsziber stieg die Zornesröte ins Gesicht, als ihm die Ereignisse am Strand geschildert wurden. Meldorjin konnte<br />

ihm kaum folgen, als er im Sturmschritt zu der Kajüte eilte, die er den Garethjas zugewiesen hatte. Ein lautes<br />

Knallen ertönte, als Vegsziber die Tür aufstieß.<br />

„Ihr seid doch die dreistesten garethischen Barbaren, die mir jemals begegnet sind. Was fällt Euch ein, mein Hab<br />

und Gut, mein Eigentum, an dieses Räuberpack zu verschenken? Ich habe Euch befohlen, diese Bande<br />

auszuräuchern, und nicht euch mit ihnen zu verbrüdern! Ich werde Euch, ich werde... Euch jetzt auch noch für<br />

diesen Diebstahl verantwortlich machen!“ sagte er mit einem Seitenblick auf den hinzu getretenen Meldorjin.<br />

Bootsmann, füg den Diebstahl der Klageliste hinzu.“<br />

„Ich fürchte das geht nicht.“<br />

„Was soll das heißen.“<br />

„Ganz einfach. Die Garethjas haben ja nichts gestohlen, sondern lediglich nicht verhindert, dass die Räuber sich an<br />

unserer Ware bereichert haben. <strong>Das</strong> ist kein Diebstahl nach den Worten unserer Gesetze.“<br />

„Du <strong>von</strong> den Zwillingen verlassener Rechtsverdreher, was sehen die Gesetze denn dann vor für diese Schurkerei?“<br />

„<strong>Das</strong> ist ein Fall der Leija Civilias. Du kannst eine Forderung nach Schadensersatz beantragen, wenn es erwiesen<br />

wird, dass der Garethja mit dem Vollbart zu unrecht über das Schmuggelgut verfügt hat.“<br />

„Nagut, dann kriege ich also den Gegenwert der Schmuggelware in Höhe <strong>von</strong> Zwölfhundertfünfzig Dukaten <strong>von</strong><br />

diesem Bärtigen...“<br />

158


„Wenn ein Gericht das so feststellt.“<br />

„<strong>Das</strong> tut es. Ich bin der Richter hier an Bord. Wir schließen die Verhandlung darüber gleich an den morgigen<br />

Prozess an. Und damit basta! ... Ach ja, und dieser Schmuddelmagus muss sich natürlich auch gleichermaßen wie<br />

die anderen vor Gericht verantworten.“ Immer noch vor Zorn bebend drehte Vegsziber sich auf dem Absatz um<br />

und verließ die Kajüte, ohne dass die Gefährten irgendetwas zu ihm sagen konnten. Wenige Minuten später kamen<br />

zwei Matrosen und sammelten die Waffen ein. Nach der Gerichtsverhandlung würden sie sie wiederbekommen. Im<br />

Falle eines Freispruches, wie ein Matrose ergänzte. Aber da<strong>von</strong> sei ja nicht auszugehen. Außerdem ließ der Kapitän<br />

mitteilen, dass es ihnen nicht gestattet sei, die Kajüte zu verlassen. Außer natürlich Alvan, die sich ja mit Estibora<br />

besprechen müsse.<br />

„Nun“ äußerte sich der Inquisitionsrat, als die Matrosen und auch Alvan die Kajüte verlassen hatten „muss ich<br />

mich noch bedanken, dass ihr mich befreit habt... zumindest fürs Erste, denn was uns auf diesem verfluchten<br />

götterlosen <strong>Maraskan</strong> erwartet läßt sich ja noch nicht absehen.“ Dem Inquisitor war erst so nach und nach klar<br />

geworden, welches Risiko die Gefährten auf sich genommen hatten um ihn zu retten. Und es fiel ihm gewiss nicht<br />

leicht dies so auszusprechen.<br />

„Wir wollten keine rechtgläubige Seele diesen Dämonenanbetern überlassen.“ antwortete Alrik.<br />

„Ich werde das in meinem Ermittlungsbericht vermerken. Ich denke, dass damit jeder Zweifel, den die Inquisition<br />

über Eure Familien hegte, ausgeräumt wurde... aber ich habe da dennoch einige Fragen. Warum zum Bespiel<br />

kannte der Barbarenhäuptling Euer Schwert Wandelur. Warum kannte er den Namen Schwarzer Bär? Ich habe<br />

mich schließlich mit Eurem Leben beschäftigt, Baernfarn, und wie ich erfuhr habt Ihr die meiste Zeit Eures Lebens,<br />

so ihr nicht in Gallys weiltet, in der Steppe der Nivesen oder den Wäldern der Elfen verbracht. In Aranischen<br />

Gefilden wart Ihr nur einmal, und dass ist über fünfundzwanzig Jahre her. Von Großtaten, die einen<br />

Ferkinahäuptling beeindrucken könnten habe ich nichts erfahren.“<br />

„<strong>Das</strong> freut mich, dass auch der Inquisition nicht alle Details über mein Leben bekannt sind. <strong>Das</strong> war nicht mein<br />

einzigster Aufenthalt in Aranien.“ antwortete Odilon. „Obwohl es mich wirklich überrascht zu hören, dass die<br />

Inquisition überhaupt da<strong>von</strong> Kenntnis hat. Ich war damals wohl noch keine zwanzig Jahre alt und entstammte noch<br />

nicht einmal dem damals in Gallys residierenden Zweig der Baernfarns ab. Ich war letztlich nicht mehr als ein<br />

reisender Handwerksbursch aus Donnerbach. Wieso kümmert sich die Heilige Inquisition um das Leben eines<br />

Zimmermannsgesellen?“<br />

„Ihr habt an der Zorganer Turnei teilgenommen, als Fürstin Sybia die Hand ihres Sohnes als Siegespreis versprach.<br />

Darüber wurden Aufzeichnungen gemacht. Dachtet Ihr, die Inquisition bestünde aus Amateuren. Beim<br />

Schwertkampf belegtet Ihr den vorletzten Rang. Ihr habt übrigens nicht unter Eurem echten Namen teilgenommen,<br />

sondern nanntet Euch damals Kastor Canadae. Warum eigentlich?“<br />

Jetzt war es an Odilon, erstaunt zu sein.<br />

„Wenn Ihr das nicht selbst herausgefunden habt, dann versteht doch bitte, dass ich nicht alles über meine Person<br />

preisgeben möchte.“<br />

„Habt Ihr etwas zu verbergen?“<br />

„Nein, keineswegs. Nagut, wenn Ihr es denn wissen wollt. Ich war ein Jahr zuvor aus Donnerbach, meiner<br />

Geburtsstadt, geflohen, nachdem meine Eltern einem Meuchelmord zum Opfer fielen. Ich dachte, wer meine Eltern<br />

getötet hatte wäre auch hinter mir her. Ein Irrtum, Firun sei es gedankt.“<br />

„Wie auch immer. Woher kannte der Ferkina Euch?“<br />

„Er kannte mich gar nicht. Er kannte nur den Namen.“<br />

„Erklärt das genauer.“<br />

„Nun, wie ihr wisst führt das Haus Baernfarn seine Entstehung auf Heilige Artema zurück, die im vor mehr als<br />

zwölfhundert Jahren Gallys gründete.“<br />

„Jaja, dieser Mythos ist mir bekannt. Nicht jedes Adelshaus postuliert eine Heilige als Ahnherrin der Familie.“<br />

„Als Gallys <strong>von</strong> den Siedlern gegründet wurde lebte in der Region bereits ein Stamm wilder Barbaren. Um beide<br />

Völker in Frieden zu verbinden freite der Barbarenhäuptling Kratosz Artema. In Anlehnung an diesen Krieger<br />

wählte ich übrigens auch den Tarnnamen Kastor aus. Aber das nur nebenbei bemerkt. Dieser Barbarenstamm war<br />

schon einige Jahrzehnte, vielleicht auch Jahrhunderte zuvor in die Region am Rand des Sichelgebirges<br />

eingewandert. Die Ahnen- und Geschichtsforschung, die mein Neffe Veneficus betreibt, hat ergeben, dass diese<br />

Barbaren Ferkinas aus dem Raschtulswall waren. Bei den Ferkinas ist übrigens heute noch die Legende bekannt,<br />

dass nach einer Auseinandersetzung zweier Clans der Unterlegene Stamm die Flucht ergriffen hat und in den kalten<br />

unwirtlichen Norden gezogen ist. <strong>Das</strong> waren die Barnfa-Negri. Der Clan des Schwarzen Bären, wie man es<br />

übersetzen könnte.<br />

Der Schwarze Bär ist nicht lediglich die Bezeichnung eines Einzelnen Mannes, auch nicht in erster Linie mein<br />

Beiname. Vielmehr ist der Schwarze Bär das Totemtier dieses Stammes gewesen, und damit ganz automatisch der<br />

Beiname aller Häuptlinge dieses Stammes seit dem Exodus des Stammes bis zu dem legendären Kratosz. Und als<br />

ich Wandelur erhielt wurde der Schwarze Bär auch mein Beiname. Und wenn dieser Khurkaschim Pascha mir als<br />

159


Schwarzem Bären Respekt zollt, dann tut er dies nicht, weil er mich als Person kennt, sondern weil er in mir den<br />

Häuptling eines verwandten Stammes sieht, der sich im Kampf als ebenbürtiger Gegner erwiesen hat.<br />

Ihr müsst wissen, in der Zeit, als das Horasische Reich den Dunklen Zeiten entgegensteuerte sind einige<br />

Ferkinastämme nach Norden gezogen. Die allermeisten <strong>von</strong> ihnen sind im Dunkel der Geschichte verschwunden,<br />

sie wurden <strong>von</strong> Orks besiegt oder <strong>von</strong> Bosparanischen Siedlern verdrängt, oder vermischten sich schlicht mit ihnen.<br />

Die Barnfa-Negri, die sich nach ihrem Exodus Barnfani nannten, machten <strong>von</strong> diesem Schicksal keine Ausnahme.<br />

Aber immerhin gaben sie meiner Familie, und auch dem Landstrich am Südrand der Schwarzen Sichel, ihren<br />

Namen. Und so ist bei den Ferkinas im Süden noch heute die Mär bekannt <strong>von</strong> Stämmen tapferer Krieger, die weit<br />

weg im fernen Norden leben, darunter auch der Clan des Schwarzen Bären.<br />

Habt ihr euch schon einmal gefragt, warum im Wappen meiner Familie ein Schwarzer Bär abgebildet ist? In der<br />

ganzen Region der Schwarzen Sichel gibt es keine einzige Bärenart mit schwarzem Fell. Es gibt Braunbären, Bären<br />

mit rotem oder gräulichem Fell, aber keine Schwarzbären. Aber es gibt Schwarzbären an den Hängen des<br />

Raschtulswalles. In der Schwarzen Sichel gibt es Schwarzbären nur als Wappentier meiner Familie.“<br />

„Gut, das erklärt schon mal etwas. Ich denke, ich kann noch ein paar interessante Details übe die Geschichte Eurer<br />

Familie hinzufügen zu Eurem Dossier in unseren Akten. Die Herkunft dürfte so manche Eigenart des Hauses<br />

Baernfarn erklären. Und woher kennt dieser Pascha Euer Schwert?“<br />

„Wandelur hat eine eigene Geschichte, die ebenfalls sehr eng mit der des Hauses Baernfarn verbunden ist.<br />

Wandelur war das Hochzeitsgeschenk Artemas an Kratosz, wie die Überlieferung erzählt. Es heißt, Artema habe<br />

eigens hierfür einen Zwergenschmied nach Gallys kommen lassen, um ihren Gatten dieses Schwert schenken zu<br />

können. Über Jahrhunderte hinweg befand sich Wandelur im Besitz der Barone <strong>von</strong> Gallys. Es wurde samt Titel<br />

weitervererbt. Bis es der Familie vor fast siebenhundert Jahren abhanden kam. Baron Wibhard Artema widersetzte<br />

sich den... na ja, er schloß sich dem Widerstand gegen Kaiser Gurvan I. an.“<br />

Selbfried runzelte die Stirn. „Aha.“<br />

„Deswegen wurde er auch zum Tode verurteilt, und das Schwert gelangte dabei als Trophäe nach Gareth. Dort<br />

blieb es viele Jahrhunderte in der Kaiserlichen Waffensammlung. Schließlich schenkte Kaiser Reto es einem treuen<br />

Vasallen, dem Grafen <strong>von</strong> Winhall. <strong>Das</strong> war übrigens damals der Vater oder Großvater des legendären<br />

Schwertkönig Raidri Conchobair.<br />

Ich nehme an, ihr wisst, dass Winhall in einer Würfelpartie an den Fürsten <strong>von</strong> Albernia verloren wurde. Erst Jahre<br />

später erhielt der Schwertkönig sein Erblehen zurück. Ich bin ihm einmal begegnet. Damals war ich fünfzehn oder<br />

sechzehn, das war lange bevor Raidri das Erbe seiner Ahnen antreten konnte. Ich war auf einer Reise nach Havena.<br />

Ich konnte es damals kaum fassen, dass dieser Held, der vielbesungene Schwertkönig, mir ein Schwert schenkte,<br />

als er meinen Namen erfuhr. Aber er sagte zu mir, dass er mir nur das zurückgebe, was meine Ahnen mir zugedacht<br />

hätten, so wie auch er eines Tages das Erbe seiner Familie antreten würde. Der Schwertkönig hatte Recht behalten.<br />

Jedenfalls ist Wandelur seitdem wieder im Besitz der Erben Artemas.<br />

<strong>Das</strong>s Khurkaschim Pascha den Namen Wandelur kennt habe ich wohl meinen Ahnen zu verdanken. Schließlich<br />

haben viele Barone <strong>von</strong> Gallys mit Wandelur so manches Gefecht ausgetragen, so dass der Name Wandelur mit<br />

dem Namen des Schwarzen Bären in den Erzählungen der Ferkina verbunden zu sein scheint.“<br />

Selbfried nickte. Die Erzählung Odilons hatte ihn nachdenklich gemacht. Konnte es sein, dass der Inquisition so<br />

viele Details verborgen geblieben waren? <strong>Das</strong>s die Inquisition sich nicht um alte Mythen scherte leuchtete ihm<br />

noch ein. Aber dass er noch nichts <strong>von</strong> einem Schwert Namens Wandelur gehört hatte war ein Zeugnis grober<br />

Nachlässigkeit. Er würde das später beanstanden müssen.<br />

***<br />

Die gesamte Mannschaft hatte sich am nächsten Mittag zur Verhandlung an Deck eingefunden. Damit alles den<br />

Schein einer korrekten Gerichtsbarkeit wahrte war der Tisch aus der Offiziersmesse auf das Deck gestellt worden.<br />

Dort befanden sich die Stühle auf denen Vegsziber in der Mitte zwischen Meldorjin und Estibora Platz genommen<br />

hatte. Gegenüber, in gebührendem Abstand zum „Richterstuhl“, hatte man zwei große Kisten als Anklagebank<br />

bereitgestellt.<br />

Alrik hatte lange darüber gegrübelt, warum man einen derartigen Prozess veranstaltete. Wahrscheinlich wollte man<br />

den Garethjas beweisen, dass die <strong>Maraskan</strong>er weitaus zivilisierter waren als die einstigen Eroberer aus dem<br />

Mittelreich. Zudem schien Meldorjin <strong>von</strong> adeliger Abkunft zu sein. Er hatte vernommen, dass er der Sohn eines<br />

Baruun aus Südmaraskan sein soll. Vegsziber stand wohl in irgendeiner Form in der Schuld des Baruuns, daher galt<br />

Meldorjins Wort viel an Bord. Mehr hatte er jedoch nicht erfahren können, er bedauerte es sehr, die Zunge der<br />

<strong>Maraskan</strong>er nicht zu verstehen. Und Alvan hatte er auch nicht fragen können. Die Halbelfe war ja genug damit<br />

beschäftigt, sich mit Estibora zu beratschlagen. Alrik hoffte nur, dass Alvan und Estibora wussten, was sie taten.<br />

Immerhin hatte er den Eindruck, dass Estibora das Schicksal der Garethjas nicht völlig gleichgültig war, wie er das<br />

zunächst befürchtet hatte. Estibora wollte, so Alriks Eindruck, diese Chance nutzen, um sich als kundige und<br />

160


gewitzte Frau zu profilieren, und würde sich daher wenigstens anstrengen und ihr bestes tun, um ihnen in der<br />

Verhandlung zu helfen.<br />

Vegsziber erhob sich, und auf seinen Wink hin verstummten die Umstehenden Seeleute. „Preiset die Schönheit,<br />

Bruderschwestern. Der Weltendiskus ist ins Schlingern geraten auf seiner Bahn, auf die Rur ihn warf. Der<br />

Schönheit der Welt abträgliches Verhalten ist bekannt geworden. Es ist die Aufgabe dieses Gerichtes, den Flug der<br />

Scheibe zu korrigieren und die verantwortlichen für die Minderung der Schönheit der Welt zu maßregeln. Die<br />

Rechte des Königs <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong> wahrend erteile ich das Wort Meldorjin zur Verkündung der Klage.“<br />

Meldorjin erhob sich. „Preiset die Schönheit. Die Schönheit der Welt wurde gemindert.“ Meldorjin sprach die<br />

traditionellen Worte aus, mit denen während der Unabhängigkeit Klagen vor Gericht vorgetragen wurden. „Ich<br />

erhebe Anklage gegen die hier anwesenden Personen Alvan, Alrik, Sigismund, Gunelde, Odilon, Hesindian und<br />

Selbfried.<br />

Die Genannten haben durch Waffengewalt ein Boot in ihre Gewalt gebracht und die an Bord befindlichen Matrosen<br />

mit scharfen Klingen bedroht zu haben. Die Genannten haben daraufhin in einem Akt der Piraterie das Kommando<br />

übernommen und gegen den Befehl des Kapitän Vegsziber das Ufer angesteuert zu haben. Damit ist der Tatbestand<br />

der Bedrohung wie auch der Piraterie laut den Statuten des Strafgesetzes erfüllt.<br />

Des Weiteren wurden im Verlauf des Gefechtes am Strand zwei Matrosen durch Pfeile der Angreifer getötet. Die<br />

Genannten waren sich der Gefahr bewusst, in die sie sich und die Matrosen brachten. Sie tragen daher<br />

Verantwortung und Mitschuld am Tod zweier Menschen. Ich klage sie daher an wegen unbewussten Mordens.<br />

Und ich erhebe Klage wegen Kollaboration mit dem Feind und Verrat maraskanischer Geheimnisse. Der bärtige<br />

Recke mit Namen Odilon hat die oronischen Schergen zu unserem Lager geführt. Damit fielen die dort gelagerten<br />

Wertsachen in die Hände der Feinde <strong>Maraskan</strong>s. Außerdem wurde dieser Schmuggelplatz bekannt und ist fürderhin<br />

nicht mehr verwendbar.<br />

Zum Beweis können die hier anwesenden Seeleute als Zeugen befragt werden. Auf die geschilderten Tatbestände<br />

stehen schwere Strafen bis hin zum Tod.“<br />

Estibora lauschte aufmerksam den Worten Meldorjins. Dann erhob sie sich ruhig und einem selbstsicheren<br />

Lächeln. „Die Anklage ist, wie unschwer zu erkennen ist, äußerst unsachlich vorgetragen. Zunächst zum<br />

Anklagepunkt der Piraterie und der Bedrohung. Es wird der Vorwurf erhoben, diese sechs Personen hätten freie<br />

Seeleute <strong>Maraskan</strong>s bedroht und dazu gezwungen, entgegen dem Befehl Kapitän Vegszibers die Küste<br />

anzusteuern.<br />

Als Beweis werden Zeugen genannt. Ich frage den Ankläger: Gibt es Zeugen, die behaupten, dass andere Personen<br />

als diese beiden hier“ Estibora deutete auf Alvan und Alrik „irgendeinen Matrosen bedroht hätten oder sich aktiv<br />

an Piraterie beteiligt haben?“<br />

Estibora sah auffordernd die umstehenden Matrosen an. Dann sah sie zu Meldorjin. „Offenbar ist dies nicht der<br />

Fall. Ich fordere daher auf, den Anklagepunkt der Piraterie und der Bedrohung für Sigismund, Gunelde, Selbfried,<br />

Hesindian und Odilon fallen zu lassen. Lediglich gegen Alvan und Alrik liegt ein Verdachtsmoment vor.“<br />

Vegsziber sah Meldorjin fragend an. Dieser erhob sich. „Die im Beiboot befindlichen Matrosen mögen vortreten.<br />

Alrech, <strong>Gold</strong>ajin und Marusa. Wer hat Euch bedroht?“<br />

„Zunächst die Elfe. Sie hat Madrejia ihr Schwert an die Kehle gehalten und sie aufgefordert das Boot zu wenden.<br />

Und dann hat der andere“ Marusa deutete auf Alrik „<strong>Gold</strong>ajin mit seiner Klinge bedroht.“<br />

„Ja, so war es. Als der Magier und die Elfe am Strand waren hat Alrech dann den Knilch mit dem Rüschenhemd<br />

eins über die Rübe gezogen und, ich habe die Frau überwältigt. Wir wollten dann wie vom Kapitän angeordnet zur<br />

Nachtwind.“<br />

„Hat der Praiot sich an der Auseinandersetzung beteiligt?“<br />

„Nein, der saß still da und kümmerte sich um nichts. Wirkte irgendwie apathisch, der Priester.“<br />

„Und der Magus?“<br />

„Nein, auch nicht.“<br />

„Und hat Sigismund, der mit dem Rüschenhemd, sich gewehrt?“<br />

„Dieses Milchgesicht? Der doch nicht, der hat doch bloß rumgezetert wie ein aranisches Blesshuhn, nachdem ihm<br />

jemand die Hand durchschossen hat. Hab noch nie so einen Waschlappen <strong>von</strong> Garethja gesehen...“ Die Matrosen<br />

lachten.<br />

„Und dann, warum ist das Boot dann doch wieder zum Strand gefahren?“ wollte Meldorjin wissen.<br />

„Der Einäugige hat sein Schwert gezogen und Marusa bedroht“ antwortete Alrech.<br />

Meldorjin dachte kurz nach.<br />

„Gut, einverstanden. Die Anklage beschränkt den Vorwurf der Piraterie und der Bedrohung auf Alvan und Alrik.“<br />

„Kommen wir nun zum Vorwurf des unbewussten Mordens. Nachdem, wie bereits dargelegt wurde, lediglich<br />

Alvan und Alrik für die Piraterie und die Bedrohung in Betracht kommen gilt das Gleich natürlich auch für diesen<br />

Vorwurf.“<br />

Vegsziber schaute mit teils säuerlicher, teils anerkennender Miene zu Estibora. Meldorjin nickte bedächtig. „Auch<br />

in diesem Punkt muss ich Dir Recht geben, Estibora. Aber das macht die Tat nicht ungeschehen.“<br />

161


„Gut. Zuletzt möchte ich noch anmerken, dass für den Tatvorwurf des Verrats und der Kollaboration mit dem<br />

Feind lediglich Odilon in Betracht kommt, da die Angreifer ihm und niemand sonst gefolgt sind.“<br />

„Auch korrekt.“ Meldorjin gab klein bei. „Die Anklage präzisiert ihren Tatvorwurf. Bezüglich des Verrats und der<br />

Kollaboration wird lediglich Odilon beschuldigt. Bedrohung, Piraterie und Mordens betreffend wird nur gegen<br />

Alvan und Alrik Klage erhoben. Gegen Gunelde, Sigismund, Hesindian und Selbfried wird kein Vorwurf erhoben.“<br />

Ein Raunen ging durch die Matrosen. Damit hatte zunächst keiner gerechnet. Aber Meldorjin war ein Mann der<br />

Gerechtigkeit, und die Argumentation Estiboras war schlüssig und folgerichtig. So hatte alles seine Ordnung. <strong>Das</strong>s<br />

Vegsziber <strong>von</strong> der Wendung der Dinge nicht begeistert schien störte Meldorjin wenig. Auch wenn er der Kapitän<br />

war musste er sich dem Gesetz beugen, und Meldorjin wusste, dass er das tun würde. Schließlich war er zwar<br />

Kapitän eines Schmugglerschiffes, aber dennoch dem <strong>Maraskan</strong>ischen Widerstand angehörig und daher einer<br />

gewissen Moral verpflichtet.<br />

Und nicht zuletzt hatte Meldorjin das Gefühl, Alvan schon einmal gesehen zu haben. Er war sich nicht sicher, aber<br />

er glaubte nicht, dass es noch eine zweite Halbelfe gab, die zu Rur und Gror betete. Gut möglich, dass Vegsziber<br />

ihm noch dankbar sein würde, dass er auf diesem Prozess bestanden hatte.<br />

Sigismund und Gunelde atmeten hörbar auf. Sigismund hatte die ganze letzte Nacht Todesängste gelitten und hatte<br />

nicht verstehen können, dass Alvan so ruhig geblieben war. Selbfried ließ sich keine Reaktion anmerken. Aber<br />

innerlich musste er anerkennen, dass diese Ketzer, wofür er sie hielt, zu einer ausgesprochen korrekten<br />

Gerichtsbarkeit in der Lage waren. Natürlich war es gewiss, dass kein ordentliches Gericht der Welt ihm etwas<br />

vorwerfen konnte. Aber hier unter maraskanischen Rebellen ein ordentliches Gericht zu erleben, damit hätte er<br />

nicht gerechnet.<br />

Alvan war anfangs noch ein wenig unsicher gewesen, aber die Verhandlung verlief genau so wie sie es sich<br />

gewünscht hatte, und worauf sie und Estibora spekuliert hatten. Es war wohl ein Glück, dass Estibora Meldorjin gut<br />

kannte. Sie wusste, dass er logischen Argumenten und einer genauen Auslegung der Gesetze zugänglich war. Und<br />

sie wusste, dass Vegsziber Meldorjins Strafempfehlung folgen würde. Vegsziber war schließlich ein Seefahrer und<br />

je nach Ansicht ein Kaufmann oder ein Schmuggler, auf seinen eigenen Vorteil bedacht, aber gewiss kein<br />

gesetzloser Schurke. Also kam es darauf an, Meldorjin zu überzeugen. Und sie tat dies, indem sie zugleich ein<br />

Zugeständnis machte und eine Forderung stellte. Zuerst hatte sie also eingeräumt, dass vorgefallen ist was<br />

zweifellos so geschehen ist, um damit zugleich drei der Garethjas frei zu bekommen. Nun wollte sie mal sehen, ob<br />

sie damit noch ein zweites Mal Erfolg haben würde.<br />

„Wie unschwer zu erkennen ist, ist den drei Beklagten kein bewusstes Handeln vorzuwerfen. Weder hatten Alrik<br />

und Alvan im Sinn, dass Berjina und Egilfrijan Schaden zustößt, noch wollte Odilon seinen Verfolgern absichtlich<br />

unser Versteck zeigen.“<br />

„Unsere Kameraden sind tot! Was hilfts da dass sie es nicht gewollt haben!“ vernahm man den Zwischenruf eines<br />

Matrosen.<br />

„Sehr richtig. Mir ist das bewusst, und ich trauere ebenso wie ihr alle um unsere Kameraden.“ erwiderte Estibora<br />

auf die Unterbrechung. In unserem Gesetz steht daher genau geschrieben, dass ein Mord oder eine Tötung eines<br />

Menschen, auch wenn er fahrlässig geschah, bestraft wird. Genau für diesen Fall wurde der entsprechende Halbsatz<br />

...dies gilt auch, wenn ein Mensch vom Leben zum Tode befördert wird, ohne dass dies mit Willen des Handelnden<br />

geschah, soweit dieser sich der Gefahr seines Handelns bewusst war“<br />

„Recht so!“ „Kielholen!“ vernahm man Rufe aus den Reihen der Matrosen.<br />

„Es ist zugegeben nicht in Zweifel zu ziehen, dass Alvan, als sie das Boot zur Umkehr zwang, nicht nur sich und<br />

ihre Gefährten, sondern auch die im Boot befindlichen Matrosen in Gefahr gebracht hat. Aber in unserem Gesetz<br />

steht ebenso geschrieben, und hier zitiere ich die entsprechende Vorschrift: Wer Geheimnisse verrät, die für das<br />

Wohl des Königreiches <strong>Maraskan</strong> bedeutend sind, wer mit den Feinden des Königreiches zu dessen Nachteil<br />

kooperiert oder wer Interessen einer verfeindeten Macht vertritt wird Kerkerhaft oder mit dem Tode bestraft.“<br />

„Richtig, Hängt ihn.“ rief ein Matrose.<br />

„Ruhe, beim Bruderlosen noch mal!“ donnerte Vegsziber. „Dies ist ein ordentliches Gericht des Königreiches<br />

<strong>Maraskan</strong>! Wer hier noch einmal die Verhandlung stört bekommt drei Tage lang keinen Schnaps zugeteilt!“<br />

Estibora wartete einen Atemzug, ehe sie weitersprach. „Beide Vorschriften entstammen dem gleichen Gesetzbuch,<br />

dem Strafrecht des Königreiches <strong>Maraskan</strong>. Bezüglich des Tötens hat unser geschätzter König – Bruder Boron sei<br />

seine Seele anempfohlen – ausdrücklich festgelegt, dass dies auch für nicht willentliches Handeln gilt. Bezüglich<br />

Verrats ist dies nicht so geschrieben. Warum, frage ich. Doch wohl einzig und allein darum, weil es der Wille des<br />

Königs war, Verrat nur dann zu bestrafen, wenn er willentlich und wissentlich begangen wird.<br />

Im vorliegenden Fall aber bedingte Odilons handeln einzig den Zweck, seinen Verfolgern zu entrinnen und Hilfe<br />

<strong>von</strong> seinen Gefährten zu finden. Daher sage ich, dass nach meinem Dafürhalten kein Verrat gegeben ist. Von den<br />

erhobenen Vorwürfen ist es daher lediglich der Vorwurf gegen Alvan und Alrik wert, vor einem Gericht verhandelt<br />

zu werden. Meldorjin, wenn Du mir zustimmst können wir nun die beiden ins Verhör nehmen.“<br />

Meldorjin dachte nach. Verdammt, er hatte Estibora unterschätzt. Unter diesem Blickwinkel hatte er die beiden<br />

Stellen im Gesetzestext noch nie verglichen. War dem wirklich so, wie Estibora es sagte? Meldorjin blätterte in<br />

162


seinen Büchern. Ja, Estibora hatte Recht. Sie hatte die einschlägigen Vorschriften genau zitiert. Und an ihrer<br />

Interpretation konnte er keinen logischen Fehler erkennen.<br />

„Meldorjin, was soll das?“ fragte Vegsziber. „Was steht im Gesetz, welche List verfolgen die Garethjas“<br />

„<strong>Das</strong> Gesetz wurde völlig korrekt zitiert, kein Zweifel.“ antwortete Meldorjin.<br />

„Gut, wenn Du mir also zustimmst rufe ich Alrik auf. Er soll sich selbst zu dem Vorwurf äußern“ Meldorjin war<br />

nicht unbedingt einverstanden, aber er war froh, Vegsziber keine weitere Antwort geben zu müssen. Es war jetzt<br />

wohl erst einmal das Klügere, Alrik und Alvan zu verhören. <strong>Das</strong> würde wohl leichter sein, bevor Estibora noch auf<br />

den Gedanken kam, zu hinterfragen, ob das Gesetzbuch auf nichtmaraskanischem Festland gelte. Er würde Zeit<br />

gewinnen, und vielleicht käme ihm noch ein passender Gedanke.<br />

„Alrik, Dir wird zur Last gelegt, dass Du zweimal einen Matrosen der Nachtwind mit dem Schwert bedroht hast,<br />

um damit gemeinsam mit Alvan das Beiboot zur Kursänderung zu zwingen. Dein und Alvans Handeln hat zwei<br />

Matrosen das Leben gekostet. Bestreitest Du Diesen Vorwurf?“<br />

Alvan hielt den Atem an. Sie hoffte nur, dass er genau so aussagen würde, wie sie es ihm eingeschärft hatte.<br />

„Nein, das bestreite ich nicht. Ich tat dies, um Odilons Leben zu retten, nachdem Alvan sich für diese<br />

Vorgehensweise entschieden hatte.“<br />

„Was heißt das jetzt? Hat Alvan angeordnet, dass Du ihr bei ihrem Vorhaben behilflich bist?“<br />

„Nein, das hat sie nicht. Alvan hat nichts zu ihm gesagt im Boot, er hat selbständig gehandelt!“ rief Alrech.<br />

„Ruhe!“ Vegsziber brachte den Zwischenrufer zum Schweigen.<br />

„Es war eigentlich klar, was Alvan erwartete. Sie hatte die Initiative ergriffen. Und da sie als einzigste <strong>von</strong> uns<br />

<strong>Maraskan</strong>i spricht und unsere Reise nach Schwarzmaraskan letztlich <strong>von</strong> ihr geführt wird führte sie, wenn man so<br />

will, letztlich das Kommando. Es bedurfte daher keiner weiteren Worte <strong>von</strong> ihr, um zu erkennen, was sie <strong>von</strong> mir<br />

erwartete.“<br />

„Ihr seid, wenn man das so sagen kann, auf einer Mission nach Jergan unterwegs, die gegen den Bruderlosen<br />

Herrscher Helme Haffax gerichtet ist?“<br />

„Ja.“<br />

„<strong>Das</strong> ist eine Unternehmung, die <strong>von</strong> Alvan geleitet wird. Da Euer Ziel in feindlichem Gebiet liegt ist das also<br />

zweifellos eine kriegerische Unternehmung?“<br />

„Ja.“<br />

„Alvan, kannst Du die Aussage Deines Gefährten so bestätigen?“<br />

„Ja, das kann ich.“<br />

„Es ist also richtig, dass Alrik letztlich auf Dein Geheiß handelte. Ich mache Dich darauf aufmerksam, dass in<br />

diesem Fall, soweit Alrik verurteilt wird, Du die Strafe an seiner Stelle erleiden wirst?“<br />

„Ja, das ist mir bekannt. Es war meine Entscheidung, das Kommando auf dem Beiboot zu übernehmen. Alrik<br />

handelte, indem er mir half, letztlich auf mein Geheiß und nach meinem Willen.“<br />

Alrik wusste nicht so recht, was er da<strong>von</strong> halten sollte. Gut, letztlich liefe es wohl darauf hinaus, dass statt zwei<br />

Todesurteilen nur eines, verhängt würde. Man würde also, so wie das jetzt aussah, nur Alvan hinrichten und nicht<br />

auch noch ihn. Dafür log Alvan, dass sie das Kommando führte, was ja so letztlich nicht ganz stimmte. Alrik hoffte<br />

nur, dass Alvan wusste, was sie da tat. Aber schließlich hatte Estibora ja auch schon die anderen vier frei<br />

bekommen.<br />

„Meldorjin, sind die Darlegungen Estiboras richtig?“ fragte Vegsziber.<br />

„Ja, das sind sie. Die Übertragung der Strafe auf den Befehlshaber einer militärischen Aktion ergibt sich aus dem<br />

königlichen Wehrstatut, das in diesem Fall analog anzuwenden ist.<br />

Zornig knirschte Vegsziber mit den Zähnen. „Nagut. <strong>Das</strong> war’s dann wohl. Werden noch Beweiserhebungsanträge<br />

gestellt? Nein, na sehr gut. Dann überleg ich mir mal das Urteil. Die Verhandlung ist geschlossen.“ Vegsziber<br />

haute mit der Faust auf den Tisch. „Karhamsibab, bring mir mal einen Schnaps.“<br />

Vegsziber trank einen Schnaps. Dann sorgte er wieder für Ruhe.<br />

Nachdem Vegsziber noch ein Stamperl Schnaps geleert hatte sorgte er mit einer Handbewegung für Ruhe. „So,<br />

jetzt also hab ich mir das Prozedere lang genug angehört. Mir raucht schon der Kopf <strong>von</strong> diesen Gesetzen. Also,<br />

Estibora und Meldorjin sind sich einig, dass gegen Selbfried, Sigismund und Gunelde keine Anklage erhoben wird,<br />

und dass Odilon keinen Verrat begangen hat. Die vier sind also frei. Alrik und Alvan sind der Bedrohung, der<br />

Piraterie und des Mordens schuldig befunden. Daher lautet für beide die Strafe Tod durch Kielholen. Da aber Alrik<br />

auf Alvans Weisung gehandelt hat soll Alvan zweimal gekielholt werden. Und damit basta. Preiset die Schönheit!<br />

Hat die Verurteilte noch etwas zu sagen, bevor das Urteil vollstreckt wird?“ triumphierend blickte Vegsziber Alvan<br />

an.<br />

Odilon blieb schier der Atem weg, als ihm bewusst wurde, dass er seine Tochter verlieren würde.<br />

„Oh ja, gewiss doch“ gab Alvan zurück. Sie wirkte, als hätte sie mit diesem Urteil gerechnet, und lächelte. Estibora<br />

schien ebenso zufrieden.<br />

„Dann sprich, aber fass Dich kurz. Ich will das jetzt hinter mich kriegen.“<br />

163


„Es ist in <strong>Maraskan</strong> überliefertes Recht, dass ein Urteil, das ein weltliches Gericht über eine Priesterin der<br />

Zwillinge spricht, vor der Vollstreckung <strong>von</strong> der Priesterschaft bestätigt wird. Ich bin auf meiner zweiten Reise<br />

nach <strong>Maraskan</strong> nicht nur im Glauben konvertiert, sondern habe auch lange Zeit in einem Kloster der Zwillinge<br />

gelebt und bin in den Lehren der Priesterschaft Rurs und Grors unterwiesen worden. Meine Weihe erhielt ich im<br />

Tempel <strong>von</strong> Tujiak.“<br />

„Sie blufft!“ hätte Sigismund beinahe ausgerufen, gerade noch rechtzeitig blieben ihm die Worte im Hals stecken,<br />

und auch auf Odilons Gesicht schien ein Anflug <strong>von</strong> Überraschung erkennbar. Alriks Blick traf den Inquisitor. Es<br />

schien, als habe der Praiot für einen kurzen Moment die Beherrschung über seine Mimik verloren. In der Tat schien<br />

er so überrascht als hätte man ihm gerade bewiesen, dass Praios in Wahrheit nichts als ein riesiger feuriger<br />

Gasballon wäre. Er hatte bei seiner Arbeit als Inquisitor schon vieles erlebt, aber <strong>von</strong> einer elfische Priesterin des<br />

maraskanischen Glaubens hatte er noch nie etwas vernommen.<br />

„Ruramid war dabei zugegen, sowohl im Kloster wie auch bei meiner Weihe und kann das bestätigen. Ebenso<br />

natürlich die Priesterschaft der Zwillinge.“ sagte Alvan, den ungläubigen Gesichtsausdruck Vegszibers richtig<br />

deutend.<br />

Vegsziber sah Meldorjin fragend an. Dieser antwortete „Ja, das ist korrekt. Es ist seit jeher Brauch, dass im Falle<br />

einer Verurteilung einer Priesterin das Urteil schriftlich niedergelegt wird und nebst Anklageschrift und<br />

Gerichtsprotokoll der Priesterschaft übergeben wird, die dann über die Vollstreckung des Urteils entscheiden.“<br />

„Jaja, ich weiß. Aber das kann doch nicht sein. Wir haben doch keine elfischen Priesterinnen auf <strong>Maraskan</strong>.“<br />

„Vegsziber, ich lebte eine Weile in Tujiak, wie Du weißt. Es ist wahr, dort wurde vor noch nicht einmal zehn<br />

Jahren eine Halbelfe zur Priesterin geweiht. Wie es heißt sogar auf Fürsprache Milhibethjidas hin. Es wurde ihr<br />

allerdings keine feste Aufgabe in einem Tempel übertragen. Sie ist eine Wanderpredigerin und überwiegend<br />

außerhalb <strong>Maraskan</strong>s unterwegs, wie man hört. Ihr Weihename lautet Scheyhathjida Barnfanij.“<br />

Es war unschwer zu übersehen, dass Vegsziber ebenso wie einige der Matrosen dem entgangenen Spektakel einer<br />

Hinrichtung nachtrauerten, aber es war unzweifelhaft nicht möglich, eine Priesterin der Zwillinge hier und jetzt<br />

kielholen zu lassen. Wütend schlug Vegsziber mit der Faust auf den Tisch. Einen Moment befürchtete Alvan, der<br />

Kapitän könnte das überlieferte maraskanische Recht schlicht ignorieren. Es dauerte eine Weile, bis Vegsziber sich<br />

wieder fasste.<br />

“So, und jetzt sind da noch zwei Dinge offen. Erstens können diese Halunken und Tagediebe <strong>von</strong> Garethjas die<br />

vereinbarte Summe nicht zahlen. Eigentlich sollte sie dafür gleich <strong>von</strong> Bord jagen. Geht aber nicht, weil ich ja noch<br />

Tausendzweihundertfünfzig Dukaten bekomme für die verlorene Ladung. Macht zusammen, ähh,<br />

Tausendvierhundert. Habt ihr irgendeinen Vorschlag, wie ihr dieses Geld aufbringen könnt?“<br />

Alvan überlegte fieberhaft. Diese Summe würden sie natürlich niemals aufbringen können. Andererseits waren sie<br />

auf der Suche nach einem Schatz - einem Schatz, <strong>von</strong> der sie nicht wusste, inwieweit er wirklich existierte (<strong>von</strong><br />

dem Wasser des Talued einmal abgesehen, aber sie würde weder das eine noch das andere mit den Schmugglern<br />

teilen).<br />

"Mal angenommen, wir hätten das <strong>Gold</strong> nicht, Kapitanjin. Was würde dann geschehen?"<br />

"Dann müsste ich eine Verhandlung wegen Schulden eröffnen, Schwester Priesterin. Nicht gegen dich, aber gegen<br />

deine Gefährten." Vegsziber sah zu Meldorjin hinüber, der nicht ohne eine Spur <strong>von</strong> Begeisterung wieder sein<br />

Gesetzeswerk an sich nahm und im Geiste vermutlich schon unter "Schulden" nachblätterte.<br />

"Als Zeichen des Entgegenkommens würde ich dann allerdings mittelreichisches Recht anwenden. Genauer das<br />

Besatzungsrecht, das die Garethjas jahrelang gegen unsere Brüder und Schwestern angewandt haben, die die<br />

horrenden Abgaben des Tyrannen <strong>von</strong> Gareth nicht aufzubringen vermochten. <strong>Das</strong> heißt lebenslange<br />

Sträflingsarbeit auf Plantagen, Galeeren oder Minen. In Sinoda wird sich schon ein Plätzchen für euch finden."<br />

"Nun gut" Alvan verschränkte die Arme. "Wir haben das Geld nicht, aber wir sind auf dem Weg, es zu<br />

bekommen."<br />

Der Glatzkopf sah die Halbelfe erstaunt an. "Bekommen? Im besetzten <strong>Maraskan</strong>? Habt wohl noch eine Rechnung<br />

mit Helme Haffax offen?"<br />

"So ungefähr. Wir sind auf dem Weg, um einen Schatz zu bergen."<br />

"Einen Schatz. Hört, hört." Vegsziber sah sich zu seiner Mannschaft um. Ein Raunen ging durch deren Reihen.<br />

Verstohlen rieb er sich am krausen Ziegenbart. "Ein Schatz", wiederholte er langsam. "ich hoffe doch sehr, ein<br />

Schatz <strong>von</strong> mindestens tausendvierhundert Dukaten Wert."<br />

"Mindestens" antwortete die Baernfarn geheimnisvoll und registrierte zufrieden, wie sich das Raunen um sie herum<br />

verstärkte. Ein wenig kam sich Alvan vor wie Tika auf dem Kapitänstisch der Fran-Horas, als sie Mercurio -<br />

Mercurio, dieses Aas! - mit dem Handhaken bedroht hatte.<br />

"Mindestens." Vegsziber schüttelte ungläubig den Kopf und sah zur Sonne. "Und wo befinden sich diese<br />

ungeheuren Reichtümer, wenn ich einmal fragen darf?" fragte er, während er eine Wolkenbank besonders<br />

ausgiebig musterte, als wäre dort die Antwort versteckt.<br />

164


"Im Tal der Glühwürmchen. Der Tempelschatz <strong>von</strong> Jergan, kurz vor der Eroberung der Stadt durch die bruderlosen<br />

Dämonenanbeter dorthin gebracht durch eine Priesterin des Rur und Gror."<br />

Der Kapitän stutzte und prustete los. "Der Schatz im Tal der Glühwürmchen. Der Tempelschatz <strong>von</strong> Jergan."<br />

Auf der "Nachtwind" brach allgemeine Heiterkeit aus. Vegsziber hielt sich seinen dicken Bauch vor Lachen,<br />

während ihm die Tränen <strong>von</strong> den Wangen liefen und selbst der sonst so korrekte Meldorjin konnte sich ein breites<br />

Grinsen nicht verkneifen."<br />

Nur langsam beruhigte sich der Schmugglerkapitän wieder. "Bei der Schönheit der Welt" gluckste er "Du wirst mir,<br />

haha, doch nicht erzählen wollen, dass du dieses Ammenmärchen glaubst. Dieses Gerede habe ich schon gehört, als<br />

ich ein kleiner Junge war."<br />

Nun war es an Alvan, erstaunt zu blicken.<br />

Mit einer Handbewegung bedeutete Vegsziber seiner Mannschaft, Ruhe zu geben. "Ich muss sagen, deine<br />

Verteidigungsstrategie eben hat mich amüsiert. Nicht ungeschickt, fürwahr. Aber nun beleidigst du meinen<br />

Verstand, bei der Gabe <strong>von</strong> Schwester Hesinde. Jeder weiß, dass es diesen Tempelschatz <strong>von</strong> Jergan nicht gibt und<br />

nie gegeben hat. <strong>Das</strong> ist eine alte Geschichte, die schon in den Basaren <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong> kursiert ist, als die meisten<br />

hier noch gar nicht geboren waren."<br />

Die Baernfarn musterte ihren Gegenüber, der sich nun, in der Hitze des Tages, einen Strohhut auf den glatten<br />

Schädel gesetzt hatte. Vegszibers Gesicht war wettergegerbt, das nun verdeckte Haupt kahl und sein Bart<br />

schwarzgefärbt, sicherlich nicht ohne Grund. Der Kapitän zählte zweifelsohne an die vierzig Götterläufe. Wenn er<br />

die Geschichte vom Schatz schon als Junge gehört hatte, konnte hier etwas nicht stimmen.<br />

"Der Tempelschatz wurde erst vor wenigen Jahren vergraben, beim Auszug der Priesterschaft aus den Tempeln. Ich<br />

glaube nicht, dass sie schon vor fünfzig Jahren bekannt war." Alvan hatte mit Bedacht eine möglichst hohe Zahl an<br />

Götterläufen gewählt, um den eitlen Kapitän zu reizen.<br />

"So alt bin ich nun auch wieder nicht" schnaubte der prompt zurück. "Diese Mirajida <strong>von</strong> Jergan, diese berühmte<br />

Priesterin mit Esel und einem Krug voll <strong>Gold</strong>, soll ins Tal der Glühwürmchen aufgebrochen sein, als die Truppen<br />

Retos in <strong>Maraskan</strong> gelandet sind. Seitdem hat man keinen lausigen Kreuzer <strong>von</strong> diesem angeblichen Schatz<br />

gefunden, obwohl der eine oder andere Narr danach gesucht hat. Meistens hat man nie wieder etwas <strong>von</strong> ihm<br />

gehört. <strong>Das</strong> ist eine alte Kamelle, an der soviel wahres dran ist wie ich noch Haare auf dem Kopf habe."<br />

Der <strong>Maraskan</strong>er winkte ab. "Schon möglich, dass man sich nach der zweiten Eroberung Jergans durch die<br />

Einzigartigen ähnliches erzählt. Es macht derartige Gerüchte nicht wahrer, dass sie irgendwann Blüten treiben wie<br />

der Rauschgurkenbaum im Frühling. Es kommen nichts als berauschende Gurken dabei heraus..." Vegsziber lehnte<br />

sich in seinem Sessel zurück. "Tja nun Ich stelle fest, ihr habt kein <strong>Gold</strong> und auch keine Aussicht, welches zu<br />

bekommen. Schlecht für euch und schlecht für mich. Ihr bereitet mir wirklich nur Scherereien."<br />

Alvan begann zu grübeln. Schon bei der Eroberung <strong>Maraskan</strong>s durch Reto sollte eine Priesterin den Schatz in<br />

Sicherheit gebracht haben - kein Wunder, dass der Kladj über das Tal der Glühwürmchen derart kursierte.<br />

Andererseits war Alriks Großvater zu dieser Zeit noch gar nicht begraben - und die Priesterin aus Guneldes Traum<br />

hatte ihren Krug eindeutig in einem Baum neben dessen Grab versteckt.<br />

"In den Geschichten aus Eurer Jugend, Kapitanjin - über den Schatz im Tal der Glühwürmchen. Kam da zufällig<br />

ein Trommelbaum vor?"<br />

Vegsziber nickte gelangweilt. "Ja doch. Diese Mirajida soll den Schatz mitten im Dschungel vergraben und dann<br />

Baumsamen über die Stelle gestreut haben. Den Samen eines Trommelbaums - der, sobald er ausgewachsen ist,<br />

komische Geräusche <strong>von</strong> sich gibt. Damit sie den Schatz wiederfindet - und der Geist, der in solchen Bäumen<br />

haust, den Schatz bewacht. Göttliche Geschwister, habe ich mich damals gefürchtet, als kleiner Shatakhopser. Ein<br />

Schauermärchen halt..."<br />

Letztere Worte hatte Vegsziber mehr zu sich selbst gesprochen. Erst jetzt merkte er, dass er, der furchtlose<br />

Schmugglerkapitän, sich damit kein gutes Zeugnis bei seiner Mannschaft ausstellte, <strong>von</strong> der schon einige das<br />

feixen begannen. Sofort straffte er sich in seinem Richterstuhl und schlug mit den Fingerknöcheln der rechten Hand<br />

auf die Tischplatte.<br />

"Jetzt ist aber genug mit der Märchenstunde. Ich will mein <strong>Gold</strong>, und wenn Ihr Eure Schulden bis zum Tag an Bord<br />

dieses Schiffes abarbeitet, da Gror das Geschenk seines Bruders in Händen hält."<br />

Alvan hörte nur mit halbem Ohr zu. Konnte es zwei Mirajidas geben? Eine, die im Jahre 6 vor Hal einen Schatz<br />

vergraben und den Trommelbaum gepflanzt hatte und eine weitere, die im Frühling 27 Hal in dessen Inneren einen<br />

Krug mit heiligem Wasser versteckt hatte? Oder waren im Laufe der Zeit beide Geschichten miteinander<br />

verschmolzen? Hatte es ursprünglich nur eine Mirajida gegeben, aber wurden nun beide Priesterinnen so genannt?<br />

Konnte es sein, dass "Mirajida II." ihren Schatz nur deswegen ins Tal der Glühwürmchen gebracht hatte, weil sie<br />

den Ort aus der Überlieferung ihres Tempels kannte?<br />

"Warum seid Ihr euch eigentlich so sicher, dass es sich bei dieser Geschichte nur um ein Märchen handelt,<br />

Kapitän? Wart Ihr bereits im Tal der Glühwürmchen und habt nachgesehen?"<br />

165


"Niemand vergräbt <strong>Gold</strong> im Dschungel und pflanzt dann einen Baum darüber. Hast du schon einmal versucht,<br />

einen Baum nicht nur zu fällen, sondern mit Stumpf und Stiel wieder auszugraben? Mit all seinen Wurzeln ? Mitten<br />

im Dschungel? Und dann noch ein Ungetüm wie einen Trommelbaum?"<br />

"Vielleicht hat diese Mirajida gehofft, den Schatz wieder ausgraben zu können, bevor der Trommelbaum<br />

ausgewachsen ist."<br />

"Nun, laut der Überlieferung - dem Märchen - hat sie eigens diesen Baum gewählt, weil er derart laute, überallhin<br />

hörbare Geräusche verursacht, wenn er zur vollen Größe ausgewachsen ist."<br />

"Wenn der Baum seine Wurzeln über das <strong>Gold</strong> geschlagen hat, ist es wenigstens vor unbefugten Zugriff sicher.<br />

Kein einfacher <strong>Maraskan</strong>er wagt es, einen Geisterbaum zu fällen, <strong>von</strong> den Mühen, denen er sich dabei unterziehen<br />

müsste, ganz zu schweigen."<br />

"Vielleicht. Fragt sich nur, woher das viele <strong>Gold</strong> stammen soll. Als Priesterin weißt du ja, dass ihr Diener der<br />

Göttlichen Zwillinge keine Reichtümer hortet."<br />

"Nun, wer sagt, dass es das <strong>Gold</strong> des Tempels war, das sie versteckt hat? Eine Priesterin ist eine Vertrauensperson,<br />

möglicherweise haben einige reiche Jerganer Mirajida ihr Geld anvertraut."<br />

"Um es dann im Dschungel unter einem Baum vermodern zu lassen? <strong>Das</strong> glaubst du selbst nicht."<br />

"Vielleicht sind die Besitzer im Krieg umgekommen - in der Katastrophe <strong>von</strong> Hemandu etwa oder bei der<br />

Einnahme der Stadt. Entweder haben sie die Garethjas aus der Liste der Anwesenden gestrichen oder sie sind mit<br />

Frumold ins Exil. Wenn es reiche Baruune waren, sogar sehr wahrscheinlich. Man nennt Jergan nicht umsonst die<br />

Tränenreiche."<br />

"Vielleicht, vielleicht! <strong>Das</strong> sind doch alles Spekulationen."<br />

"Spekulationen, die Euch mit ein wenig Wagemut ein Vermögen einbringen könnten. Bringt uns ins Tal der<br />

Glühwürmchen. Dann bergen wir gemeinsam den Schatz unter dem Baum und teilen ihn uns."<br />

"<strong>Das</strong> Tal der Glühwürmchen. <strong>Das</strong> ist tief im Landesinneren. Weiß der Bruderlose, wo genau es sich befindet.<br />

Helme Haffax Leute werden uns abschlachten. Nein, ihr habt uns schon genug Ärger bereitet. Ich sollte euch<br />

ertränken wie die Käfer, statt die Zeit mit einem solchen Geschwätz zu verschwenden. Sollen wegen euch auch<br />

noch meine übrigen Leute Schwester Tsa und Bruder Boron begegnen?"<br />

"Ich sagte ja, ein wenig Wagemut gehört schon dazu."<br />

"Wagemut, der sich nicht auszahlt. Genauso gut könnten wir die Schlafenden Schwestern in den Bergen suchen.<br />

Jeder in Sinoda würde mich auslachen, wenn er erfährt, das Vegsziber Sturmfeschij <strong>von</strong> Gipflak sich auf die Suche<br />

nach dem legendären Schatz im Tal der Glühwürmchen begeben hat. Die Leute würden sich fragen, ob ich zuviel<br />

<strong>von</strong> meinen eingelegten Rauschgurken genascht habe. Und das zu recht. . ."<br />

Meldorjin meldete sich mit einem Räuspern zu Wort: "Nun, etwas Wahres scheint an Alvans Rede schon dran zu<br />

sein. Du weißt, dass mein Vater Baruun ist... war. Er hat bei Jergan mit unserem geliebten König Frumold<br />

gekämpft. Ich habe <strong>von</strong> ihm eine ähnliche Geschichte gehört, in der es auch um einen Schatz ging. Nur soll es die<br />

Kriegskasse Frumolds gewesen sein, die <strong>von</strong> einer Offizierin der königlichen Wache und einem Mitglied des<br />

Eukolizana-Ordens vom Schlachtfeld <strong>von</strong> Hemandu geborgen und irgendwo in der Nähe vergraben worden ist."<br />

Der Schmugglerkapitän verdrehte die Augen: "Noch so eine Geschichte. Gütige Geschwister, es gibt Tausende<br />

da<strong>von</strong>. <strong>Das</strong> wird ja immer konfuser." Mit halbem Triumph wandte er sich Alvan zu, die gerade ihren Vater<br />

beruhigte, der wissen wollte, über was sie sich die ganze Zeit auf Marascano unterhielten. "Da hast du es. Ein<br />

Märchen widerspricht dem anderen. Auf diesen Kladj kann kein vernünftiger Mensch was geben. Latrinenkladj,<br />

nichts als Latrinenkladj."<br />

"Marajin, so soll der Mönch geheißen haben, und seine Begleiterin Mirajida. Er hat Frumolds Kriegskasse<br />

irgendwo im Regenwald vergraben und die ehemalige Kriegerin später geheiratet. Sie hatten einen Sohn namens<br />

Rurmanjinn und eine Tochter, die ebenfalls Mirajida hieß, und später Priesterin im Tempel <strong>von</strong> Jergan wurde.<br />

Marajins Schwägerin Xenjida war eine gute Freundin der Kusine meines Vaters, Sadidja, die hat ihm die ganze<br />

Geschichte erzählt. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich mir sicher, dass es in ihr um den Schatz im<br />

Tal der Glühwürmchen geht."<br />

"Marajin war der Name des Priesters? Doch nicht etwa Marajin <strong>von</strong> Tuzak?" Alvan war klar, dass dies ein<br />

Allerweltsname darstellte wie Alrik <strong>von</strong> Sturmfels. Dennoch, wenn irgendjemand etwas damit anfangen konnte,<br />

dann ein <strong>Maraskan</strong>er.<br />

"Ja, das könnte hinkommen", nickte Meldorjin. "Marajin stammte aus Tujiak. Kanntest du ihn etwa, Scheyhathjida<br />

Barnfanij?" Der Offizier sprach Alvans Priesternamen mit deutlicher Ehrfurcht aus.<br />

"Nicht persönlich" entgegnete diese ausweichend. Marajin <strong>von</strong> Tuzak, das war der Name des Priesters, dem Baron<br />

Alboran Sigismund <strong>von</strong> Friedwang-Glimmerdieck auf dem Weg nach Jergan begegnet war. Langsam begann der<br />

Kreis sich zu schließen. Marajin hatte offenbar den Schatz - die maraskanische Kriegskasse - zur letzten Ruhestätte<br />

des Barons gebracht, dort vergraben und darüber einen Trommelbaum gepflanzt. <strong>Das</strong> <strong>Gold</strong> gehörte dem<br />

maraskanischen König und Marajin musste klar gewesen sein, dass mit dessen baldiger Rückkehr nicht zu rechnen<br />

war. Die Wurzeln des Trommelbaums, der zum Gedeihen sehr viel Wasser benötigte, reichten tief, ein einziges<br />

unterirdisches Gewirr aus hartem, hölzernen Rankenwerk, das den Schatz neben dem gespenstischen Seufzen des<br />

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Baumes vor jedem Zugriff schützte. Als Vater der Priesterin Mirajida musste er dieser die Lage des Baumes<br />

mitgeteilt haben, in dem sie dann drei Jahrzehnte später den Krug mit dem heiligen Talued-Wasser verbarg. Wie es<br />

schien, hatten sich die Geschichten um Mirajida, ihre gleichnamige Mutter und Marajin in den letzten Jahren<br />

vertauscht oder zumindest miteinander vermengt.<br />

"Weißt du, was aus diesem Marajin <strong>von</strong> Tujiak geworden ist, Meldorjin?"<br />

"Er soll schon vor vielen Jahren zu den Rebellen gegangen sein, zu den Sira Jerganak, glaube ich. Oder zu den<br />

Dajinim. Angeblich, um bis zur Rückkehr des Königs den Schatz im Wald zu bewachen. Wenn er noch lebt, ist er<br />

jetzt uralt wie eine Maraske. Sein Sohn Rurmanjin ist jedenfalls ein bekannter Rebellenführer in der Gegend um<br />

Jergan."<br />

"Wie auch immer." Alvan wandte sich wieder Vegsziber zu. "Es scheint so, als befände sich im Tal der<br />

Glühwürmchen die Kriegskasse der königlich maraskanischen Armee, oder zumindest ein Teil da<strong>von</strong>. Mehr als nur<br />

ein paar Pinaji, als ein paar Erdnüsse, will mir scheinen."<br />

"<strong>Gold</strong>, dass allerdings den König <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong> gehört" Meldorjin hob beschwörend seine Gesetzessammlung.<br />

"Den es so nicht gibt. Sagen wir also, es gehört dem Freien <strong>Maraskan</strong>" entgegnete Alvan. "Ein wenig Finderlohn<br />

wird uns" Sie deutete auf sich und ihre Gefährten "aber doch hoffentlich zustehen."<br />

"Sagen wir eintausendvierhundert Dukaten" grinste Vegsziber, während seine Augen gierig zu funkeln begannen.<br />

"Sei´s drum, ihr habt mich neugierig gemacht. Kennt ihr den Weg zu diesem Tal der Glühwürmchen?"<br />

"Sagen wir, ich verfüge über eine grobe Wegbeschreibung. Es ist nicht allzu weit <strong>von</strong> der Küste entfernt, vielleicht<br />

sogar in einer Nacht zu erreichen."<br />

"Gut, gut." Vegsziber legte die Fingerspitzen aneinander. Dann drehte er sich zu der Mannschaft um, die, Schnitter,<br />

Bögen und Khunchomer in den Händen, die Gefährten nicht aus dem Auge gelassen hatte. "Die Versammlung ist<br />

beendet. Geht wieder an eure Arbeit."<br />

"Erhalten wir wieder unsere Waffen zurück?"<br />

"Erst wenn wir in <strong>Maraskan</strong> gelandet sind. Ich habe sie euch schon einmal zu früh ausgehändigt, den Fehler begehe<br />

ich noch einmal." Vegsziber erhob sich, beide Hände auf den Tisch abgestützt. "Ich werde über das Gesagte<br />

nachdenken. Einstweilen könnt ihr euch frei bewegen. Habt ihr Erfahrung mit der Seefahrt?"<br />

Alvan lächelte gequält, während sie auf die fliegenden Fische sah, die einen Bogenschuss entfernt über die Wellen<br />

sprangen: "Ich ja. Meine Gefährten... ein wenig."<br />

"Dann macht euch wenigstens für den Rest der Reise nützlich. Ich möchte, dass das Deck blitzblank geschruppt<br />

ist, wenn ich wieder an Deck komme. Hier liegt ja überall oronischer Sand und anderer Dreck herum. Außerdem<br />

gehört die Reling neu gestrichen, die schwarze Farbe blättert schon ab, hier und hier. Wir halten weiterhin Kurs<br />

Nordost. Ich erwarte Meldung, falls wir die Küste sichten. Ich werde mich ein wenig zu Ruhe begeben. Meldorjin,<br />

du übernimmst hier das Kommando. Und pass auf, dass die Garethjas - und die Priesterin - nicht noch mehr<br />

Dummheiten machen. Ich möchte auf dieser <strong>von</strong> Phex verfluchten Reise keine weitere Überraschung erleben."<br />

Vegsziber stapfte unter Deck.<br />

Die Gefährten gesellten sich an die Backbordseite und sahen die aranische Küste vorbeiziehen. Keiner <strong>von</strong> ihnen<br />

sprach ein Wort.<br />

Selbfried war überaus schweigsam. Der sonst so beredte und selbstsichere Inquisitor hatte offenbar viel darüber<br />

nachzudenken, dass er nicht nur den <strong>von</strong> ihm verfolgten Schwarzsichlern gerettet wurde, sondern auch damit, dass<br />

er sein Leben unter anderen auch noch einer heidnischen spitzohrigen Priesterin verdankte. Bei Praios, er wurde<br />

hier auf eine schwere Probe gestellt.<br />

Auch Alvan wirkte nachdenklich. Ihrerseits wälzte sie die Frage, warum Rur gerade sie mit der Aufgabe betraut<br />

hatte den Jerganer Tempelschatz zu bergen. Rur gefiel es, sie in einem Schneesturm einer Therbunitin begegnen zu<br />

lassen, nur um sie nach <strong>Maraskan</strong> heim zu führen. Und es gefiel ihm, ihr nach und nach mitzuteilen, worin ihre<br />

Aufgabe auf <strong>Maraskan</strong> bestünde. Und doch konnte das noch nicht alles sein. Die Armeekasse, die Mirajida und<br />

Marajin versteckt hatten. Die würde, wenn sie überhaupt existierte, vermutlich weniger als auch nur<br />

Tausendvierhundert Dukaten enthalten. Und wenn sie das Geld Vegsziber geben mussten, worin bestand dann der<br />

Gewinn für <strong>Maraskan</strong>. Konnte Vegsziber mit diesem Geld sein Schiff mit neuen Geschützen ausrüsten und damit<br />

die entscheidende Schlacht gegen die Haffaxijas gewinnen? War das Rurs Wille? Nein, das glaubte sie nicht.<br />

Da war noch die Leiche <strong>von</strong> Alriks und Guneldes Großvater. Richtig. Aber das war nur das ursprüngliche Ziel ihrer<br />

Mission. <strong>Das</strong> war nicht die Aufgabe, für die Rur sie auf diese Reise geschickt hatte.<br />

Und da war das Talued-Wasser. Sie kannte die Wirkungsweise des heiligen Wassers nur aus Erzählungen. Talued-<br />

Wasser unterschied sich nicht nur in der ihm nachgesagten Heilkraft <strong>von</strong> den Tränken, die die Alchimisten auf den<br />

Basaren feilboten. Talued-Wasser vermochte es, abgeschlagene Glieder neu wachsen zu lassen. Es war in der Lage,<br />

Alrik sein blindes Auge neue Sehkraft zu verleihen. Dennoch, es war nur ein Krug Talued-Wasser. Gewiß, es war<br />

ein Vermögen wert. Aber die Priester der Zwillinge hatten Fässer voll Talued-Wasser an verborgenen Orten<br />

versteckt. Auch die Tempel im Shikanydad <strong>von</strong> Sinoda hatten noch Vorräte. <strong>Das</strong> Talued-Wasser allein konnte also<br />

auch nicht das Ziel ihrer Aufgabe sein. Gut, vielleicht würden sie mit dem Wasser gerade im richtigen Moment an<br />

167


einem Ort sein, um damit dem späteren Retter <strong>Maraskan</strong>s beizustehen. Möglich wäre es. Oder verbarg der Schatz<br />

im Tal der Glühwürmchen noch andere Dinge?<br />

Warum war Odilon gerade noch rechtzeitig zur Küste gekommen. Die Ferkina des Khurkaschim Pascha hatten ihn<br />

erspäht und verfolgt. Gerade noch rechtzeitig hatten die Ferkinas ihn zum Strand gejagt. Wäre er langsamer geritten<br />

wäre es zu spät gewesen. Wären die Ferkina nicht gewesen, dann wäre er nicht rechtzeitig zum Anlegeplatz<br />

gekommen. Es schien ihr, als trugen sogar die zeitweise unter oronischem Einfluss stehenden Barbaren auf ihre<br />

Weise zur Schönheit der Welt bei.<br />

Die Ferkinas hatten in dem Gefecht einige ihrer Kämpfer verloren. Warum? Warum wollten die Zwillinge ihren<br />

Tod? War die Aufgabe, die Rur ihnen zugedacht hatte, wichtiger als das Leben dieser Menschen? Was würde sie in<br />

<strong>Maraskan</strong> erwarten?<br />

Auch Sigismund war schweigsam. Was ihm zu schaffen machte war in erster Linie seine Hand. Der Pfeil, den diese<br />

phexverfluchten Barbaren abgeschossen hatten, hatte seine rechte Hand glatt durchbohrt. Er konnte die Finger<br />

kaum bewegen. Wie sollte er jemals wieder Spielkarten in der Hand halten können, geschweige denn Karten<br />

phexgefällig mischen?<br />

Odilon passte sich gut in die Reihen der Schweigsamen ein. Er konnte es noch immer nicht fassen, was er da gehört<br />

hatte. Wieso, beim grimmen Firun, hatte ihm seine Tochter in all den Jahren nicht erzählt, dass sie die Weihe zur<br />

Priesterin empfangen hatte? <strong>Das</strong>s sie dem Pantheon der Zwölf den Rücken zugekehrt hatte wusste er, auch dass sie<br />

sich dem maraskanischen Glauben zugewandt hatte. Er hatte seiner Tochter auch nie Vorschriften gemacht,<br />

welchem Glauben sie anhängen sollte. In all den Jahren mit Jirka hatte er es gelernt, Religion nicht mit so<br />

verbissenem Eifer zu sehen, wie das bei den Menschen üblich war. Er hatte ja auch keine Schwierigkeit damit, eine<br />

Priesterin zur Tochter zu haben. Aber warum hatte sie zu niemandem da<strong>von</strong> gesprochen? Odilon hatte immer<br />

gedacht, dass seine Töchter, Alvan ebenso wie Kordaella, ihm vertrauen würden. Odilon hatte seinerseits auch<br />

keine Geheimnisse vor seiner Tochter. Er verstand Alvans Handeln nicht.<br />

Gunelde ihrerseits hatte auch damit zu tun, über das Erlebte nachzudenken. Mit ihrem Bruder, der sich ja Phex<br />

verschrieben hatte, und Alvan, waren sie nun vier Priester oder Laienprediger unter ihnen sieben. Sie hatte Alvan<br />

vor wenigen Wochen kennen gelernt, und ihren Bruder hatte sie auch zuvor viele Jahre nicht gesehen. Beide hatten<br />

sie mehrmals völlig überrascht.<br />

Hesindian war erschöpft. Noch immer kämpfte er mit den Nachwirkungen des Rauschgurkensaftes.<br />

Alrik schüttelte den Kopf. Selten hatte er seine Gefährten so schweigsam gesehen. Völlig untypisches Verhalten für<br />

die Kladjliebenden <strong>Maraskan</strong>er, wozu er die Halbelfe wohl zählen durfte, und vor allem für den sonst ständig<br />

quasselnden Sigismund.<br />

Die Nachtwind glitt durch das Abendrot, das sich in den glitzernden Wellen widerspiegelte und in die sich schnell<br />

ausbreitende Dämmerung hinein. Vegsziber sah zu dem Schatten am Horizont hinüber. Eine Bireme, die Kurs auf<br />

die Zedrakke der <strong>Maraskan</strong>er hielt. Alrik, der neben der Deckhütte stand und Pfeife rauchte, runzelte die Stirn. Wie<br />

ein Raubvogel sah die fremde Galeere mit ihren Riemenreihen aus, wie ein Seeadler, der knapp über die<br />

Wasseroberfläche hinweg strich. Ein Seeadler, der einen Nachtwind jagte.<br />

"Könnte ein Oronier sein. Oder eines <strong>von</strong> Haffax Schiffen." meinte der Baron <strong>von</strong> Friedwang scheinbar<br />

teilnahmslos und hielt sich an einem Stag fest. Die Galeere hatte schlanke Linien und glitt schnell dahin - er wollte<br />

sich lieber nicht die Schinderei im Laderaum vorstellen - aber die hohen Wellen hier draußen auf dem<br />

<strong>Maraskan</strong>sund machten ihr doch zu schaffen. Da hatte es die Nachtwind doch leichter.<br />

Vegsziber warf Alrik einen kurzen, finsteren Blick zu. Die Finsternis lag nicht nur an der sich rasch ausbreitenden<br />

Dämmerung. Auf diese Möglichkeit wäre ich jetzt nicht gekommen, höhnten seine schwarzen Tulamidenaugen<br />

voller Geringschätzung.<br />

Der Kapitanjin schien etwas sagen zu wollen, öffnete auch schon seinen Mund. Dann wandte er sich mit knappem<br />

Ruck des kahlschädeligen Kopfes dem Steuermann zu: " Recht so, wie´s läuft. Kurs halten!"<br />

Der Matrose nickte und umklammerte das Steuerrad, als versuchte er sich daran festzuhalten. Vegsziber nahm<br />

einen kritischen Blick auf den Südweiser, der in einem kleinen Häuschen vor dem Rudergänger stand. Der erste<br />

Offizier, der neben ihm stand, wusste, was der Schmuggler dachte: "Wir kommen ziemlich weit <strong>von</strong> unserem<br />

ursprünglichen Kurs ab..."<br />

"Kein Wunder bei dem Verkehr hier draußen!" Die Rechte des Kapitäns schloss sich um die Webleine. "<strong>Das</strong> ist<br />

schon der zweite seit einer Stunde. Alle beide auf den Weg nach Nordwesten, in Richtung freies Aranien. Scheint<br />

so, die suchen dort jemanden. Ich kann mir auch schon denken, wen."<br />

"Einholen wird er uns jedenfalls nicht mehr" meinte Meldorjin. "Nicht in dieser Dunkelheit." Der <strong>Maraskan</strong>er sah<br />

hinaus in die Nacht, die sich <strong>von</strong> Westen, <strong>von</strong> Oron her rasch ausbreitete.<br />

"Wir sind viel zu weit nördlich" knurrte Vegsziber. "Gefährliche Gewässer hier. Von Bruder Efferd verflucht. Und<br />

durch die ständigen Ausweichmanöver haben wir mindestens einen Tag verloren." Der Kapitän sah zu Alrik, als<br />

trüge der die Schuld an der Verzögerung.<br />

168


"M´sarrar! Ihr bringt mir Unglück. Würde mich nicht wundern, wenn bald noch eine Seeschlange auftauchen<br />

würde."<br />

Der Rudergänger begann zu frösteln und hüllte sich enger in seinen Mantel. Auch Meldorjin sah verdrießlich drein.<br />

Alrik tat, als habe er gar nicht richtig zugehört. Stattdessen nutzte er das verbliebene Licht, um die "Nachtwind"<br />

ausgiebig zu mustern. Wären nicht die beiden großen, schwarzen Drachenflügelsegel gewesen, man hätte <strong>von</strong> der<br />

Bauweise des Rumpfes her leicht glauben können, sich auf einem mittelreichischen Frachtsegler zu befinden. Der<br />

garethische Einfluss war nicht zu übersehen, angefangen <strong>von</strong> den Bullaugen in der Hütte über die Schiffsglocke<br />

und das Beiboot bis hin zur Galionsfigur, die den schwarzen Kopf eines Raubvogels zeigte. Der Rumpf<br />

mittelreichisch, die Takelage tulamidisch - kein Zweifel, die "Nachtwind" war ein Kind der Besatzungszeit und<br />

mindestens zehn, wenn nicht zwanzig Götterlaufe alt. <strong>Das</strong> einzige, was hier neu wirkte, war die zu Tarnzwecken<br />

aufgetragene schwarze Farbe.<br />

"Wunderbar, jetzt lässt auch noch der Wind nach" brummte Vegsziber mit Blick auf den kleinen Wimpel am<br />

Hauptmast, der tatsächlich nicht mehr gar so munter in der Abendbrise flatterte wie noch wenige Minuten zuvor.<br />

Alrik sah sich nach der Bireme um. Tatsächlich, sie hatte ein gutes Stück aufgeholt. Die See schlief nach und nach<br />

ein.<br />

"Keine Sorge, Kapitanjin. Die holen uns bestimmt nicht mehr ein!" beteuerte Meldorjin.<br />

Schließlich kam Nebel auf, erst dünne Fetzen, dann ganze Schwaden. Vegsziber und die anderen beiden<br />

<strong>Maraskan</strong>er verwandelten sich in dumpf murmelnde Schattenwesen. Von der Deckswache war schlagartig nichts<br />

mehr zu sehen.<br />

Alrik zog seinen Mantel enger über die Schultern. Irgendwie kam ihm das Meer hier und die Situation bekannt vor<br />

- unangenehm bekannt. Mit einem Tippen an den Hut verabschiedete er sich unter Deck, das durch hölzerne<br />

Trennwände in mehrere Einzelräume mit Ladung unterteilt war. Zielstrebig steuerte er die Kajüte an, wo er und<br />

seine Gefährten untergebracht waren. Die beiden <strong>Maraskan</strong>er, die sich immer in der Nähe der Tür aufhielten,<br />

zeigten, dass man sie immer noch als so etwas Ähnliches wie Gefangene betrachtete.<br />

Gunelde sah sich gerade noch einmal die Verbände Odilons an. Selbfried hatte selbstverständlich die einzige Koje<br />

im Raum in Beschlag genommen. Die übrigen hatten es sich auf dem Boden bequem gemacht, auf nichtgespannten<br />

Hängematten, mit Decken und Umhängen ausgepolstert. Hesindian saß bleich in der Ecke, Alvan starrte zur Decke,<br />

Sigismund wetzte, die Hand dick bandagiert, mit stierem Gesichtsausdruck seinen Rapier. Obwohl ihm<br />

anzumerken war, dass die Bewegung ihm Schmerzen verursachte, hielt er damit keinen Moment inne, ganz so, als<br />

wolle er sich selbst quälen.<br />

"Du hast mehr Glück gehabt als Verstand!" sagte Gunelde gerade. Obwohl sie dabei auf den Wundverband auf dem<br />

Oberschenkel des ehemaligen Gallyser Barons starrte, meinte sie offenbar den Magier.<br />

"Wer? Hesindian? Wer für den Galgen geboren ist, ersäuft nicht" lachte Alrik und machte sich dadurch erst<br />

bemerkbar, denn die Tür war wegen der südländischen Hitze unter Deck weit geöffnet. Erst jetzt, mit Anbruch der<br />

Dunkelheit, breitete sich eine angenehme Kühle im Raum aus.<br />

"In deinem Fall mehr für den Scheiterhaufen" setzte er süffisant und mit Blick auf den Inquisitor hinzu, der in<br />

seiner Koje lag, wo er sich Notizen machte. Vermutlich Aufzeichnungen über den bisherigen Verlauf der Fahrt...<br />

"Wir alle haben Glück gehabt" sagte Odilon schnell, bevor ein Streitgespräch zwischen den beiden entstehen<br />

konnte. "Wie sieht es an Deck aus? Ist die Bireme immer noch in Sicht?"<br />

Alrik nickte. "Sie ist sogar näher gekommen. Aber die Nacht kommt uns zu Hilfe. Wir haben Nebel und ich denke,<br />

die Oronier oder <strong>Maraskan</strong>er oder wer auch immer uns verfolgt, dürfte uns längst aus den Augen verloren haben."<br />

Bei dem Wort Nebel sah Alvan hoch. Offenbar weckte die Lage auch bei ihr schlechte Erinnerungen. "Drei Tage<br />

sind wir jetzt schon auf dem <strong>Maraskan</strong>sund unterwegs. Dabei hätte uns der Westwind geradewegs nach Jergan<br />

blasen müssen."<br />

Alrik machte es sich auf seinem Schlafplatz gemütlich und stopfte sich seine Pfeife neu. "Bei dem Zickzackkurs,<br />

den Vegsziber fährt, kein Wunder. Fährt einen weiten Bogen um jedes Segel, das am Horizont auch nur zu erahnen<br />

ist. Aber da draußen herrscht auch einiger Rummel. Die halbe oronische Flotte kurvt zwischen <strong>Maraskan</strong> und<br />

Elburum herum."<br />

"Gut möglich, dass die Oronier jetzt per Schiff nach uns suchen." meinte Odilon. "Nun, die Nachtwind ist schnell,<br />

wendig und zumindest bei Nacht unauffällig. Vegsziber weiß sicher, was er tut. Lieber ein paar Tage mehr auf dem<br />

<strong>Maraskan</strong>sund, als für immer in einem oronischen oder schwarzmaraskanischen Kerker."<br />

"Welchen Tag haben wir heute eigentlich?" wollte Alrik wissen. "Es kommt mir vor, als wären wir schon eine<br />

Ewigkeit unterwegs - seit Friedwang meine ich."<br />

"Mal überlegen" grübelte die Edle <strong>von</strong> Nordenheim. "Aufgebrochen sind wir im Boron. Jetzt dürfte Ende Hesinde<br />

sein."<br />

"Heute ist der 26. Hesinde 32 Hal" ließ sich der Inquisitionsrat vernehmen.<br />

"Ach, und woher wisst Ihr das, Euer Hochwürden?"<br />

"Ordnung gehört zum Leben. Es ist Praios Wille, dass wir die Zeit messen, die er uns durch die Bewegung der<br />

Gestirne vorgibt." Selbfried blickte streng.<br />

169


"Wie? Wir sind schon einen ganzen Monat unterwegs? <strong>Das</strong> kann ich nicht glauben."<br />

In diesem Augenblick trat Vegsziber ein. "Ah, die Herrschaften machen es sich gemütlich, wie?"<br />

"Danke der Nachfrage, es geht so." Alrik streckte seine Beine demonstrativ aus.<br />

"Sehr witzig. Zwei <strong>von</strong> euch nach oben, aber ein bisschen plötzlich. Die Deckwache kann noch ein wenig<br />

Verstärkung gebrauchen bei dieser Honinger Dunkelheit da draußen. Es sind keine guten Gewässer, die wir jetzt<br />

befahren - zum Glück haben auch die verdammten Oronier davor Angst, sonst würden sie uns mit mehr Eifer<br />

jagen."<br />

"Honinger Dunkelheit?" fragte Selbfried, der bei dem vertrauten Namen kurz aus seiner Beschäftigung aufblickte.<br />

"Ja. Man sieht die eigene Hand vor Augen nicht mehr vor lauter Nebel und Finsternis. Du, und du, nach oben"<br />

Vegsziber wies beiläufig auf Alvan und Sigismund.<br />

Die beiden trotteten gehorsam hinterher und kletterten nach oben.<br />

Mit Schaudern sah Alvan, dass der Nebel auf dem leise schmatzenden, glucksenden Perlenmeer sich graugrünlich<br />

zu färben begann. Es roch nach Krankheit, Fäulnis und Tod. "Der Pestodem..." murmelte sie.<br />

"Ihr habt ihn angelockt" fauchte Vegsziber. "Schazak´Garethjas. Seid wirklich Unglücksvögel, bei der Schönheit<br />

der Welt, die ihr für mich in den letzten Tagen nur gemindert habt. Haltet wenigstens die Augen offen, bevor..."<br />

Der Kapitän wollte selbst nicht wissen, was hier draußen in der Blutigen See noch alles geschehen konnte.<br />

Die Stunden vergingen. Von der Bireme war weit und breit nichts zu sehen, geschweige denn zu hören.<br />

Ein Glockenschlag zeigte das Ende der ersten Nachtwache an. Alvan und Sigismund gingen nach unten, um sich<br />

schlafen zu legen. Alrik und Odilon gingen an ihrer Stelle nach oben.<br />

Glucksen, Schmatzen. Alvan schreckte hoch. Sie hatte schlecht geträumt, wie so oft in den letzten Nächten.<br />

Irgendein wirrer, furchtbarer Alpdruck, in der aufgedunsene Wasserleichen und über ihren Kopf wuchernder<br />

Seetang die Hauptrolle gespielt hatten. Seetang, der sie unter Wasser drückte, immer tiefer, wo er bereits auf sie<br />

wartete, er, Gion, mit <strong>von</strong> Fischen ausgefressenen Augen, der mit kalten, weißen Händen nach ihr patschte, sie<br />

nach unten zog, mit seinen Krallenhänden Haut und Hemd vom Leib riß, um sich gemeinsam mit der fauligen<br />

Salzbrühe in ihren nach Atem ringenden Mund zu ergießen.<br />

Ein greller Schrei ließ sie endgültig in die Wirklichkeit zurückkehren. <strong>Das</strong> kam <strong>von</strong> oben, vom Deck. Ein weiterer,<br />

viehischer, unmenschlicher Schrei. Odilon! Allein der Gedanke, dass es ihr Vater war, der tapfere, unerschrockene<br />

Recke Odilon, der derart angsterfüllt schrie, versetzte sie selbst in Panik. Sie sprang auf, raffte Bogen und Köcher<br />

an sich, ebenso ihr Schwert und huschte barfüßig nach oben. Draußen sah sie ihren Vater, die Hände in die Reling<br />

gekrallt, in den Nebel hinausstarren. Aber nicht er hatte geschrieen, wie sie nun merkte, auch nicht Alrik, sondern<br />

einer der <strong>Maraskan</strong>er, der wimmernd auf dem Boden kauerte.<br />

Odilon fuhr herum, die Hand am Schwertgriff, als er Alvan herantreten hörte. Als er ihr Gesicht sah, hielt er in der<br />

Bewegung inne.<br />

"Etwas hat den Rudergänger geholt" sagte er. Irgendwie kam es Alvan so vor, als träume sie noch, als sei das alles<br />

hier nicht real. Ihr Blick ging zum Achterdeck, wo sich das Ruder tatsächlich hin und her drehte.<br />

"Etwas?"<br />

"Keine Ahnung, was es war!" mischte sich nun Alrik ein. "Wir standen gerade auf dem Vordeck, im dicksten Nebel<br />

und haben Ausschau gehalten, weil Odilon ein merkwürdiges Leuchten gesehen haben will, da fängt er hier" der<br />

Friedwanger deutete auf den wimmernden, zitternden <strong>Maraskan</strong>er "plötzlich das Krakeelen an. Wir hören noch ein<br />

Platschen, schauen uns um, schließlich merken wir, dass der Steuermann weg ist. Einfach weg."<br />

"Wie weg? Was ist passiert?" Letztere Frage galt dem Matrosen, der irgendetwas in breitestem <strong>Maraskan</strong>i<br />

brabbelte, was Alvan nicht verstand.<br />

"Vergiss ihn, mit dem kann man nicht reden."<br />

Alvan legte einen Pfeil an und ging zum Steuerrad, das sich unentschlossen mal ein wenig nach links, mal nach<br />

rechts drehte. Nur das Knarren der Takelage und der Planken auf dem kiellosen Rumpf war zu hören.<br />

Ein paar kleine Wasserlachen schimmerten an Deck, eine undeutliche Spur, die in Richtung Reling zu führen<br />

schien. Alvan ging zu Schanzkleid und sah ins Wasser. Nichts.<br />

"Sieht fast so aus, als hätte auch den hier etwas aus dem Wasser geholt." murmelte sie.<br />

Ein Leuchten, ein grünliches Leuchten, wie das des Nebels, nur intensiver - und geformter. Ein Umriss, ein<br />

leuchtender Schemen.<br />

Alvan glaubte, ihr Herz müsse stehen bleiben, als sie sah, was sich da auf sie zu bewegte. Ein Schiff, das trotz der<br />

Windstille wie <strong>von</strong> Geisterhand bewegt auf sie zuglitt. Eine Schi<strong>von</strong>e Liebfelder Bauart mit blutroten Segeln, die<br />

verbrannt und in Fetzen <strong>von</strong> den Masten hingen. Brandgeruch drang in Alvans Nase. Wie eine Pforte zu den<br />

Niederhöllen klaffte mittschiffs ein gewaltiges Loch, als habe dort eine gewaltige Explosion das Schiff aufgerissen.<br />

Es durfte nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit gar nicht mehr über das Meer fahren, und dennoch tat es<br />

gerade eben dies. Irgendeine obszöne Macht hatte das Schiff, auf dessen Bug der Name prangte, wieder zu etwas<br />

ähnlichem wie ein Wrack zusammenwuchern lassen. Es war die Fran-Horas - eine groteske Ansammlung fauligem,<br />

verbranntem, zersplittertem, verquollenem, <strong>von</strong> Algen überwucherten und - so schien es - zusammengehaltenen<br />

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Holzes. Verbrannte Wasserleichen - allein, den Anblick in einen derartig widersinnigen Gedanken fassen zu<br />

müssen, flößte Alvan ein namenloses Grauen ein - standen auf Deck Spalier und winkten; grinsende Schädel, über<br />

die sich rußglänzende Haut- und Fleischreste spannten, Stumpen, aus Armen ragende Knochen, verstümmelte<br />

Hände winkten ihr zu, ihr und den Matrosen, die nun auf Deck zusammen eilten. Noch etwas anderes stand dort<br />

drüben - etwas...es waren mehrere... widerwärtige, glitschige, abscheuliche, mannshohe und doch völlig<br />

menschenunähnliche, wimmernde, pflatschende, schwammige, weiche, sabbernde Abscheulichkeiten, die Alvan<br />

nur erahnte, ein Augenblick reinen, unverfälschten Grauens lang, der die blitzartig herabfahrende, kristallklare<br />

Erkenntnis brachte, dass jedes längere Hinsehen Irrsinn auf ewig bedeuten musste. Schreiend wandte sich Alvan<br />

ab, während die Niederhöllen zwischen ihren Schläfen heulten.<br />

Erst jetzt, als Alvan das Gesicht abwandte, wurde ihr bewusst, dass die schräglinks aus dem Pestodem<br />

heranrauschende Fran-Horas geradewegs Kurs auf die Mitte der Zedrakke hielt, um sie in Grund und Boden zu<br />

rammen. Alvan packte das Ruder und warf es mit einem Stoßgebet - schon einen Herzschlag später hätte sie nicht<br />

mehr sagen können an wen - herum.<br />

Eine Ewigkeit verging, in der sich das Rad drehte und drehte, wie der Weltendiskus, den Rur seinem Bruder Gror<br />

zugeworfen hatte.<br />

Ein eisiger, faulig stinkender Hauch wehte Alvan an, als die Fran-Horas in monströser Größe über der kleinen<br />

Nachtwind aufragte. <strong>Das</strong> also war das Ende. <strong>Das</strong> Rad ließ sich nicht weiter drehen und die Nachtwind bewegte<br />

sich nicht.<br />

Doch, sie bewegte sich, aber unendlich langsam, quälend langsam. Die Fratze des Dämonenkaisers grinste Alvan<br />

an, als sich der Bug des Geisterschiffs in den wulstigen Rumpf der Zedrakke bohrte. Krachen, Ächzen,<br />

Schrammen. Wer an Deck stand, wurde zu Boden gefegt.<br />

Dann waren die Niederhöllen vorbei und verschwanden in der Finsternis und dem Pestodem, aus dem sie sich<br />

manifestiert hatten. Langsam kehrte das Leben an Bord zurück.<br />

Die Nachtwind schwamm noch. Tatsächlich waren die Schäden gering, und durch die besondere Bauweise des<br />

Rumpfes hatte die Zedrakke kaum Wasser genommen.<br />

"Scheint so, als hättest du wieder einmal ein Schiff gerettet." Odilon nickte anerkennend, aber das Grauen stand<br />

auch ihm ins Gesicht geschrieben. Zu seinen Wunden war eine kleine Schramme an der Stirn hinzugekommen.<br />

"Mir zittern die Knie" keuchte er und hielt sich an der Reling fest. Noch immer stank die Luft nach verbranntem<br />

Fleisch und verrotteten Planken.<br />

Als sich der Morgenstern über dem Perlenmeer aufging - es würde noch gut anderthalb Stunden dauern, bis der<br />

Morgen dämmerte, bemerkten sie, dass Gunelde fehlte. So sehr sie das Schiff absuchten, die Perainedienerin blieb<br />

verschwunden, ebenso der Steuermann. Hatte ES auch sie geholt? Oder war sie durch den Rammstoß der Fran-<br />

Horas über Bord geschleudert worden? So sehr ihre Gefährten auf das Meer starrten, es wollte ihnen keine Antwort<br />

auf diese Frage geben.<br />

"Wie... ich meine, was war das eigentlich?" fragte Sigismund. "Wir haben doch selbst gesehen, wie die FranHoras<br />

gesunken ist. Wie kann sie uns da beinahe gerammt haben?"<br />

"Ist doch schazzak´kabal, was Deine Landrattenaugen gesehen haben!" erwiderte Vegsziber unwirsch. "Fakt ist<br />

dass mein Schiff beinahe gesunken wäre wegen Euch und Euren Hirngespinsten. Und einen guten Matrosen hab<br />

ich auch noch verloren. Daran seid nur ihr schuld!"<br />

"Gemach, Kapitanjin, Gemach" schlichtete Meldorjin. "Ihr seid mir zu voreilig mit Euren Schlussfolgerungen.<br />

Kann hier denn überhaupt jemand erklären, was vorgefallen ist? Wie konnte das Schiffswrack, das ja gesunken sein<br />

soll, so plötzlich wieder auftauchen?"<br />

"Die Seelen der Sterblichen an Bord fanden keine Gnade vor Efferd, er hat ihnen den Efferdtod verwehrt."<br />

Erläuterte Selbfried. "Weder Efferd noch Boron ließen den Xeraaniern ihre Gnade zuteil werden, daher wurden ihre<br />

Seelen, wie das gesamte Schiff, zurückgewiesen. <strong>Das</strong> Verräterpack ist nunmehr gezwungen, verzweifelt und<br />

seelenlos umherzuirren, bis ihrer jämmerlichen Existenz ein Ende bereitet wird."<br />

"So kann man es ausdrücken" meinte Hesindian. "Boron hat ihre Seelen zurückgewiesen, und Efferd ihre<br />

sterblichen Hüllen. <strong>Das</strong> zwingt sie dazu, eine ruhelose Existenz zu führen. Sie führen eine untote Existenz, bis sie<br />

Gnade finden oder endgültig vernichtet werden."<br />

"Wie man sagt gibt es zahlreiche dieser Geisterschiffe in der Blutigen See." Ergänzte Vegsziber. "Was mich<br />

anbelangt interessiert mich aber viel mehr, wo mein Matrose ist. Die See war nicht so rau, als dass er über Bord<br />

hätte fallen können. Wer oder was hat Gilborjian geholt."<br />

"Der selbe, der auch Gunelde geholt hat" erläuterte Hesindian. "Die Ruhelosen können nur dann Ruhe finden, wenn<br />

sie eine gute Seele finden und fangen können. Damit können sie Einlass in Borons hallen finden, in dem sie eine<br />

gutherzige Seele vorweisen können. Deswegen jagen sie die Lebenden. Und deswegen haben sie Gunelde und<br />

Gilborjian gefangen. Wir müssen sie finden, bevor es zu spät ist, sonst sind die Seelen beider verloren."<br />

171


"Was soll mir dass schon wieder?" fauchte Vegsziber. "Soll ich jetzt noch mehr meiner Leute verlieren? Ich darf es<br />

nicht zulassen, meine Matrosen in Gefahr zu bringen! Ich habe schon drei Leute durch Euch verloren, und jetzt soll<br />

ich schon wieder ein unnützes Risiko eingehen?"<br />

"Ja, das werdet Ihr wohl müssen" echauffierte sich Selbfried. "Es steht das Seelenheil zweier Menschen auf dem<br />

Spiel. Ihr dürft nicht tatenlos zusehen, wie ihre Seelen der Verdammnis anheimfallen."<br />

"Und dabei werden allenfalls noch mehr Seelen geopfert werden. Nein, das mache ich nicht mit. Außerdem weiß<br />

ich noch nicht einmal, wo ich nach dem Verfluchten Kahn suchen soll."<br />

"<strong>Das</strong> ist das geringste Problem. Ihr braucht Euer Schiff nur nach Norden in die Blutige See zu lenken. <strong>Das</strong><br />

Geisterschiff wird uns finden" erläuterte der Inquisitor. "Ich sehe auch als solches kein größeres Risiko darin.<br />

Zumindest kein Risiko <strong>von</strong> den Untoten selbst. Ich habe diesen Leuten hier beim Kämpfen zugesehen. Untote sind<br />

in ihren Bewegungen zu langsam, um geübten Kämpfern gefährlich werden zu können. Da könnt Ihr Odilon,<br />

Alvan, Alrik und mir vertrauen. Die einzigste Gefahr liegt darin, dass ich nicht weiß, wer oder was Gunelde und<br />

Gilborjian geholt hat. Aber wir werden es auf dem Geisterschiff herausfinden und auch Euren Matrosen finden."<br />

"Wir werden dieses Geisterschiff nicht verfolgen. Wir werden auch nicht noch tiefer in die Blutige See segeln. Und<br />

damit wäre alles gesagt. Ich weigere mich schlicht, noch mehr meiner Männer zu riskieren... Harald, Du<br />

übernimmst ab sofort das Steuer!" rief Vegsziber über das Deck. "Du hältst östlichen Kurs, Richtung <strong>Maraskan</strong>."<br />

Ein hünenhafter blonder Matrose folgte dem Befehl. Vegsziber ließ die Gefährten einfach stehen. Er war hier der<br />

Kapitän, und er würde sich nicht <strong>von</strong> einer spitzohrigen Priesterin und erst recht nicht <strong>von</strong> einem garethischen<br />

Praiosfutzi Vorschriften machen lassen. Odilon war überrascht, wie eindeutig der Inquisitor für sie Partei ergriffen<br />

hatte. Aber andererseits war der Kampf gegen zwölfgötterwidrige Existenzen war ja seine ureigenste Aufgabe, also<br />

deckten sich seine Interessen mit der Hoffnung der Gefährten, Gunelde wieder zu finden. Alvan beugte sich über<br />

die Reling und würgte und spuckte. Ein Kloß saß in ihrem Hals, sie fühlte sich erst ein wenig besser, als sie dem<br />

Abendessen hinterher sah. Der Schiffszwieback war auch wahrhaft keine Köstlichkeit gewesen.<br />

"Seekrank?" fragte Sigismund. „Gerade Du, die als einzigste <strong>von</strong> uns schon zur See gefahren ist? Oder liegt Dir der<br />

modrige Geruch dieses unheilvollen Gewässers im Magen?"<br />

"..im Magen, ja" antwortete Alvan geistesabwesend. Alvan fühlte sich speiübel. Sie war nicht seekrank, das wusste<br />

sie. Gerade jetzt, als annähernd Flaute vorherrschte, konnte sie das ausschließen. Aber dieser süßliche modrige<br />

Geruch <strong>von</strong> Tod und Sterben machte dem elfischen Erbe ihrer Nase wohl zu schaffen. Mit einem Ruck richtete sie<br />

sich auf.<br />

"Ist letztlich schazzakabal, wohin dieser Kapitän seinen Kurs ausrichtet. Bei dem lauen Lüftchen kommen wir<br />

ohnehin nicht weit. Ich werde den Horizont im Auge behalten. Wir sind noch viel zu nahe an der verderbten See,<br />

und wenn die FranHoras, oder was da<strong>von</strong> übrig ist, auf Menschenjagd ist, dann werden sie uns auch hier finden.<br />

Wir werden gar nicht danach suchen müssen. Wenn wir vor Sonnenaufgang nicht wieder auf dem Sund sind,<br />

können wir uns schon mal auf einen Kampf einstellen. Ihr solltet schlafen gehen, die letzte Nacht war anstrengend<br />

und die nächste wird gewiss nicht erholsamer." Alvan ging, noch immer <strong>von</strong> einem seltsam flauen Gefühl geplagt,<br />

zum Bug und blickte ausdruckslos in die Ferne. Sigismund und Alrik gingen unter Deck und legten sich zum<br />

Schlafen.<br />

Ein kalter Hauch ließ Sigismund hochfahren. Dem Helligfarn schwindelte. Irgendwie verschwammen die Konturen<br />

vor seinen Augen. Wie konnte das sein? Er war doch gerade aufgewacht, eigentlich müssten doch seine Kameraden<br />

hier sein, er müsste das Schaukeln der Nachtwind spüren. Er war doch gerade aufgewacht, oder? Oder schlief er<br />

etwa noch und träumte er sei erwacht? Der Gedanke hatte etwas für sich, denn Sigismund war völlig<br />

orientierungslos. Warum war es so kalt? Nein, es war nicht wirklich kalt auf der Blutigen See, aber dennoch<br />

fröstelte ihn. Warum schwitzte er dann so? Schwitzt man, wenn einem kalt war? Warum schlug sein Herz wie<br />

wild? Oder bildete er sich das alles nur ein?<br />

Sigismund!<br />

Der so angesprochene wollte sich umdrehen und nach dem sehen, der ihn gerufen hatte. Doch er erblickte<br />

niemanden.<br />

Sigismund! wiederholte die Stimme. Erst jetzt bemerkte er, dass die Stimme nicht <strong>von</strong> außen kam, sondern dass sie<br />

in ihm selbst, in seinem Kopf, widerhallte.<br />

Du Wurm, meinst Du mit Deinen Augen kannst Du mich sehen wie diese jämmerlichen Gestalten auf diesem Schiff?<br />

Was denkst Du, wer Dir hier die Ehre erweist, mit Dir zu sprechen? Doch nicht diese zerlumpten Menschenwürmer<br />

hier?<br />

Wer dann? Wollte Sigismund fragen, aber die Worte blieben in seiner trockenen Kehle stecken.<br />

Frag nicht so dämlich. Der Herr der Rache gibt sich die Ehre<br />

Belha... Sigismunds Gedanken stockten.<br />

Schön, dass Du meinen Namen kennst. Sprich ihn ruhig aus.<br />

172


Nein. Niemals. Praios steh´ mir bei. Sigismund meinte ein lautes Lachen zu hören, das ihm durch Mark und Bein<br />

ging. Dann merkte er, dass auch das Lachen nur in seinem Kopf zu hören war. Wachte er oder schlief er? Konnte<br />

das ein Alptraum sein oder war das Realität.<br />

Die Würmer <strong>von</strong> Alveran können Dir hier nicht helfen. Du bis in meinem Reich, dem Reich der Rache. Und Du<br />

hoffst vergeblich dass dies nur ein Alptraum ist. Nein, Sigismund, es ist Zeit für Dich, zu frohlocken. Es ist Deine<br />

Zeit, die jetzt kommt.<br />

Sigismund verstand nicht.<br />

Haben die Würmer <strong>von</strong> Alveran jemals gewürdigt, dass Du sie verehrst? Haben sie sich jemals erkenntlich gezeigt<br />

für Deine Opfer? Haben sie jemals Deine Gebete erhört? Nein, natürlich nicht. Ihre irdischen Diener haben Dich<br />

sogar gefoltert! Und Du, Du furchtsamer Hase in Menschengestalt, verzeihst diesem Gesindel sogar und reist<br />

gemeinsam mit dem, der Dich auf den Scheiterhaufen bringen wollte.<br />

Die Worte trafen tief in das Herz Sigismunds. Die Schmerzen, die der Inquisitor ihm zugefügt hatte, waren nicht<br />

vergessen. Doch hatten sie nicht bislang allen Gefahren widerstanden? Waren sie nicht doch auch in diesem Land<br />

irgendwie unter dem Schutz der Zwölf?<br />

Die Stimme lachte, sie lachte so laut und durchdringend dass Sigismunds Ohren schmerzten, obwohl die Stimme<br />

gar nicht real war.<br />

Du glaubst nicht wirklich, dass die dekadenten Würmer Alverans über dieser Reise wachen? Nein, dass Ihr noch<br />

lebt verdankt ihr allein mir! Ich war es, der Euch am Leben ließ. Meinst Du es war Zufall, dass die Fran-Horas<br />

gerade noch rechtzeitig die Greif <strong>von</strong> Beilunk aufbrachte? Ich habe dies für Euch getan. Ich habe Mercurios Schiff<br />

vom Wind in die Bucht vor Zorgan tragen lassen. Mir allein habt ihr es zu verdanken, dass Ihr aus den Klauen der<br />

Inquisitoren befreit wurdet.<br />

Nein, das ist nicht wahr. Sigismund widersetzte sich mit all seiner Willenskraft, diese dämonischen<br />

Einflüsterungen zu glauben. Die Piraten hatten sie ja nicht befreit, sondern gefangen genommen. Und sie hatten<br />

Alvan geschändet.<br />

Natürlich. Wie hätten sie Euch denn sonst befreien sollen wenn nicht das Schiff der verruchten Praioten zu kapern?<br />

Aber habe ich nicht Odilons Schwert geführt und seinen Bogen? Meinst Du wirklich, ein Mann allein kann so viele<br />

Männer besiegen ohne meine Hilfe? Sigismund, Du bist wahrlich ein Kind. Hast Du nicht gemerkt, dass Odilon<br />

schon lange nicht mehr zu dem Gewürm betet? Hat er nicht schon vor Jahren den Alveraniaren den Rücken<br />

zugewandt? Auch wenn er es noch nicht offen ausspricht, so ist er im Inneren seiner Gefühle längst auf unserer<br />

Seite. Was meinst Du wieso Euer wagemutiger Überfall auf die Gefangenenkutsche gelang? Weil ICH Euch<br />

beschützt habe. Nicht das Gewürm. ICH war es, der Euch für wertvolle Gefolgsleute hält. ICH wollte Euch daher<br />

Euer Leben bewahren. ICH habe Eure Pfeile und Eure Klingen geführt und Euch alle beschützt.<br />

Wenn Du uns beschützt hast, wieso haben diese Schweine dann Alvan geschändet? Wieso hat mich dann dieser<br />

Verfluchte Hund angefallen?<br />

Ihr wart in BELkelels Reich. Vor der Küste Orons und erst recht im Wald bei Elburum. Es war die Forderung, die<br />

BELkelel stellte, um Euch ziehen zu lassen. BELkelel wollte Euch gefangen nehmen lassen und als Opfer für ihre<br />

Riten haben. Auf meine Bitte hin ließ sie mich gewähren Euch zu retten. Diese Forderung, die sie stellte, konnte ich<br />

ihr nicht abschlagen. Aber es ist ein geringes Opfer gewesen, verglichen mit dem, was Euch ohne meine Hilfe<br />

zugestoßen wäre.<br />

Du lügst. Odilon mag kein Anhänger der Zwölf sein, aber er ist auch kein Paktierer.<br />

Er sagt das natürlich nicht offen und versteckt sich hinter Floskeln wie elfische Philosophie. Aber er hat mir auf<br />

dieser Reise schon so viele Seelen überantwortet, mehr als manche bekennenden Gläubigen des Herrn der Rache.<br />

O ja, Odilon hat mir einen großen Dienst erwiesen als er die jämmerlichen Matrosen der Fran-Horas<br />

niedermetzelte. Er gesteht es sich selbst nicht ein, er mag es vielleicht selbst noch nicht einmal wissen, aber er ist<br />

schon lange mein Diener.<br />

Sigismund erschrak. Er hatte Odilon niemals wirklich gemocht, zu oft hatte ihn dieser herablassend oder mit<br />

Nichtachtung behandelt. Aber ein Paktierer? Ein Anhänger Belhalhars? <strong>Das</strong> hatte er zu keiner Zeit für möglich<br />

gehalten.<br />

Sigismund, bislang habe ich Dich und die Deinen beschützt aus Sympathie, aus Sinn für Gerechtigkeit und aus<br />

gutem Willen. Aber es wird Zeit dass Du Dich erkenntlich zeigst. Ich verlange, dass Du mir den Respekt<br />

entgegenbringst, den Du bislang dem alveranischen Gezücht erwiesen hast. Doch im Gegensatz zu dem Gewürm<br />

werde ich mich für Deine Verehrung erkenntlich zeigen. Ich werde Dich nicht im Stich lassen, wenn Du Hilfe<br />

benötigst, solange Du mir treu ergeben bist. Sigismund, es wird Zeit für Dich. Du musst Dich entscheiden, ob Du<br />

weiter das Natterngezücht verehren und sterben willst oder ob Du auf der Seite der Siegreichen stehen willst. Es ist<br />

nicht schwer, die richtige Entscheidung zu treffen, aber tun musst Du es selbst.<br />

Hör auf. Ich werde niemals Verrat begehen! Eher sterbe ich!<br />

Wenn das Dein Wunsch ist. Die Stimme in Sigismunds Kopf klang eiskalt. Ich will aber großzügig mit Dir sein und<br />

Dir noch Schutz angedeihen lassen bis Du die Küste <strong>Maraskan</strong>s erreicht hast. Ich weiß, dass Dir eine solche<br />

Entscheidung nicht leicht fällt, weil Du erst verstehen musst, dass diese scheinbare Wahrheit, die Dir die Paktierer<br />

173


der Zwölfe <strong>von</strong> Kindesbeinen an eingetrichtert haben, eine verdrehte, eine pervertierte Wahrheit ist. Aber Du sollst<br />

Zeit und Gelegenheit haben, die richtige Entscheidung zu treffen. Ich werde Dich und die Deinen sicher nach<br />

<strong>Maraskan</strong> geleiten. Und ich werde, um Dich <strong>von</strong> meiner Großzügigkeit und Güte zu überzeugen, Sorge tragen dass<br />

Alvan Dein Werben erhören wird. Bis zu diesem Tage, an dem Alvan den Wunsch äußert, die Deine zu werden,<br />

wird Dir nichts geschehen. Dann aber entscheide Dich. Greife zum Messer, ritze Dir in den Finger, opfere einen<br />

Tropfen Deines Blutes und sprich meinen Namen aus, und ich werde für eine sichere Heimkehr für Dich und Alvan<br />

Sorge tragen. Greif abermals zum Messer und töte diesen selbstherrlichen Inquisitor, und ich werde auch den Rest<br />

Deiner Gefährten beschützen und Euch auch den Weg zum Tal der Schmetterlinge zeigen.<br />

Woher weiß ich, dass das alles nicht einfach nur ein Alptraum ist? wollte Sigismund wissen.<br />

Sieh dich um, forderte die wispernde Stimme in seinem Kopf.<br />

Der Streuner blickte nach links, aber dort lagen nur seine Gefährten, arglos und leise atmend.<br />

Er blickte nach rechts und dort huschte eine fette, graubraune Ratte über die Bohlen.<br />

Ein kaltes, metallisches Fauchen ließ ihm das Blut gefrieren. Ein schwarzes Etwas sprang aus dem Nichts auf das<br />

ängstlich quiekende Tier und riss es in Stücke. Ein nachtschwarzer Kater mit grünlich glühenden Augen.<br />

<strong>Das</strong> beweist nichts, dachte Sigismund und schloss die Augen. Es ist nur eine Schiffskatze.<br />

Öffne Deine Augen und sieh, Sigismund. Kein Tier tötet nur aus Lust und lässt seine Beute danach liegen.<br />

Außerdem: Hast Du heute an Bord irgendwo eine Katze gesehen?<br />

Sigismund öffnete die Augen. Die beiden Rattenhälften lagen in einer kleinen, dickflüssigen Blutlache. Der Kater<br />

war verschwunden. Sigismund hatte das Gefühl, als säße er in seinem Kopf und strich dort knurrend und fauchend<br />

umher.<br />

Glaubst du mir jetzt?<br />

Sigismund nickte und schluckte betreten.<br />

Stille. Die durchdringende, hart und kalt klingende Stimme war aus seinem Schädel verschwunden, so plötzlich wie<br />

sie erschienen war. Sigismund war völlig verwirrt, nahezu aufgelöst. Es war Sigismund, als habe er die letzten<br />

Minuten noch nicht einmal das Sternenlicht gesehen. Er zitterte am ganzen Leib. Er vermochte noch gar nicht zu<br />

fassen, was er da gehört hatte. Stimmte das? Oder war das ganze ein Versuch der Dämonen, ihn vom Weg der<br />

Zwölfgöttlichkeit abzubringen. Ein Bluff, wie man bei Boltanspielern sagte, oder eine ernstzunehmende Drohung.<br />

Es hörte sich alles so logisch, so klar an. Vielleicht hätten sie die Gefechte tatsächlich nicht überlebt ohne Schutz...<br />

Vielleicht stimmte es wirklich, dass Belhalhar ihn für sich gewinnen wollte und deshalb ihn beschützte. Sigismund<br />

war völlig aufgewühlt. Er beschloss, sich schlafen zu legen und nicht mehr an diese unheimliche und gnadenlose<br />

Stimme zu denken. Sigismund legte sich nieder, schloss die Augen. Allein, Borons Schlummer wollte ihn nicht<br />

übermannen.<br />

Odilon stand noch immer an Deck. Seine Augen suchten den Horizont ab. Irgendwo dort draußen musste die Fran-<br />

Horas sein, oder besser das, was <strong>von</strong> ihr übrig war. Sie würde wieder auftauchen, soviel stand fest. Früher oder<br />

später würde der Verwesungsgeruch in ihre Nasen wehen, und dann würde es auch nicht mehr lange dauern, bis das<br />

unheimlich grünlich leuchtende gesunkene und <strong>von</strong> Efferd ausgespieene Schiff wieder auftauchte. Die hier wie auf<br />

dem Präsentierteller angebotenen Seelen würden sie sich nicht entgehen lassen. Alvans Steuermanöver hatte die<br />

Fran-Horas zurückfallen lassen, hinter den Nebelschwaden in der Finsternis verschwinden lassen, aber sie war noch<br />

da. Er spürte es.<br />

"Ich habe das Beiboot schon überprüft. Die Ruder sind griffbereit, wir müssen es nur noch zu Wasser lassen, wenn<br />

die Fran-Horas auftaucht." Meinte Selbfried. "Auftaucht, im wahrsten Sinne des Wortes. <strong>Das</strong> seelenlose Schiff ist<br />

ja nur nachts zu sehen. <strong>Das</strong> lichtscheue untote Gesindel meidet die goldenen Strahlen Praios´ ja."<br />

Nebelfetzen zogen über das dunkle Meer. Ein Geruch <strong>von</strong> Moder schwang in der Luft mit. Alvan wurde übel.<br />

"<strong>Das</strong> heißt wenn Gunelde auf dem Geisterschiff gefangen ist, dann wird sie spätestens bei Sonnenaufgang sterben.<br />

Sie wird ertrinken, wenn die Fran-Horas in der Blutigen See versinkt?" wollte Odilon wissen.<br />

"Mit hoher Wahrscheinlichkeit." Selbfried antwortete emotionslos. "Wenn sie an Bord ist und nicht <strong>von</strong> anderen<br />

Kreaturen geholt wurde. Der Rudergänger ist ja auch verschwunden, bevor die Fran-Horas aufgetaucht ist. Aber<br />

das werden wir ja herausfinden."<br />

"Dort drüben" mischte Alvan sich ein. "Dringt nicht dieses schauderhafte grünliche Leuchten aus dem Nebel dort<br />

hervor?" Tatsächlich erspähten die Gefährten wieder das grüne Licht, welches das Geisterschiff umgab. Es war gar<br />

nicht so weit weg, vielleicht dreihundert Schritt.<br />

"Kapitän!" rief Odilon. <strong>Das</strong> Schiff. <strong>Das</strong> Geisterschiff ist wieder in der Nähe."<br />

Vegsziber nickte. "Gut. Was wollt ihr jetzt tun? Ich werde keinem meiner Leute befehlen, ein solches<br />

Alveranskommando mitzumachen und das Geisterschiff angreifen. Meine Jungs und Mädels fürchten sich vor<br />

keinem menschlichen Gegner, aber gegen Geister kann man nicht kämpfen."<br />

"Fliehen könnt ihr ohnehin nicht, solange kein Windhauch weht. Besser kämpfen als sich selbst aufzugeben!"<br />

erwiderte Odilon.<br />

174


"Wenn ihr wollt könnt Ihr mit dem Beiboot hinüber rudern, wie ihr ja schon vorgeschlagen habt. Fahrt hinüber und<br />

tötet... na ja, besiegt die Untoten Geisterwesen. Oder verreckt bei dem Versuch, mir ist es egal. Aber <strong>von</strong> meinen<br />

Leuten kommt keiner mit."<br />

"Gut, dann machen wir das so." Odilon wunderte sich, dass Selbfried die Initiative ergriff und so rasch zustimmte.<br />

Aber so konnte Vegsziber auch sein Angebot nicht mehr zurückziehen. Aber unheilige Kreaturen besiegen war,<br />

darauf besann sich Odilon, ja die ureigenste Aufgabe der Inquisition. Auf einen Wink Vegszibers ließen zwei<br />

Matrosen das Beiboot zu Wasser. Innerlich war Vegsziber froh, diese Unglücksraben <strong>von</strong> Garethjas, die ihn die<br />

halbe Schmuggelladung und die Leben dreier seiner Matrosen gekostet hatte, loszuwerden. Sollten sie nicht<br />

wiederkehren, auch gut, dann brauchte er den Schatz im Tal der Schmetterlinge auch nicht teilen.<br />

Die Gefährten legten sich in die Riemen. Die wenigen hundert Schritt Entfernung mussten gewiss rasch<br />

zurückzulegen sein. Alvan steuerte auf das grüne Leuchten zu. Als das Leuchten <strong>von</strong> Nebel verhüllt wurde hielt sie<br />

auf die Nebelbank zu. Wurde das Leuchten schwächer? Oder wurde es schon langsam hell, dämmerte schon der<br />

Morgen? Bei dem verfluchten Nebel konnte man noch nicht einmal das erkennen. Wie aus dem Nichts kam ein<br />

plötzlicher Wind auf.<br />

<strong>Das</strong> Schinakel hüpfte unter den schweren, grünlichgrauen Wellen, die immer wieder nach seinem Rumpf griffen<br />

und es um seine eigene Achse zu drehen versuchten. Hätten sich die schattengleichen Gestalten, die sich auf den<br />

Ruderbänken kauerten, nicht entschlossen in die Riemen gelegt, das Bötchen wäre kaum mehr als ein Spielball <strong>von</strong><br />

Wind und Wellen gewesen, die das nächtliche Perlenmeer bewegten. Vereinzelte Nebelfetzen schwirrten vorbei,<br />

aber der Wind blies zu heftig, als dass sie sich an einer Stelle hätte halten können.<br />

Alvan stemmte sich mit den Füßen gegen das Boot und zog das Ruderblatt durch die zähe Masse des Salzwassers.<br />

Ihre Wunden schmerzten, aber sie achtete jetzt nicht so sehr darauf. Ihr Blick ging zu Meister Selbfried, der sich<br />

ächzend neben ihr in dem Takt bewegte, den die übrigen vorgaben. Dollen quietschten. Hesindian kauerte vorne<br />

am Bug und spähte durch das Spritzwasser, dass immer wieder über den Steven - in dem noch ein abgebrochener<br />

Ferkinapfeil steckte - ins Dunkle.<br />

"Verdammt, hier muss es doch irgendwo sein!" nuschelte der Magier und ließ seinen Blick schweifen. Dunkle,<br />

glitzernde Wellen, die im ewigen Takt der See heranrauschten. Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim musste sich beherrschen,<br />

nicht seekrank zu werden. Wie ausgeliefert sie den Urgewalten doch waren...Sie wollte gar nicht wissen, was<br />

jenseits der paar Fingerbreit Holz, tief unter der schwarzen Wasserdecke noch alles für gräuliche Dinge auf sie<br />

lauerten. Sie schrie wie ein kleines Mädchen auf, als neben ihr etwas aus dem Wasser sprang. Ein feuchtes<br />

Klatschen... Erschrocken ließ sie den Riemen los und fing prompt einen "Krebs": das Ruderblatt verfing sich im<br />

Wasser. Bald waren alle aus dem Takt. Wild schaukelnd verlor das Bötchen an Fahrt.<br />

"Verdammt, kannst du nicht aufpassen!" fauchte eine Reihe vor ihr das bleiche Gesicht Sigismunds, der sich mit<br />

weinerlichem Gesichtsausdruck einen Spreißel aus dem Handteller zog. Sie waren alle übermüdet und gereizt.<br />

Lediglich Odilon wirkte einigermaßen ruhig und gelassen, als er, die Linke noch immer am Steuerruder, nach<br />

Wandelur an seiner Seite tastete. Ein wenig hatte der massige, bärtige Mann mit dem wettergegerbten Gesicht<br />

tatsächlich etwas <strong>von</strong> einem schwarzen Bären, wie er da saß und in den selemischen Nebel hinaus starrte, witterte.<br />

"Da ist nichts!" entschied er dann. "War wahrscheinlich nur ein großer Fisch!"<br />

"Ja, oder eine Wasserleiche!" jammerte der Streuner. Hätte er schluchzend "Ich will nach Hause!" gewimmert, sein<br />

Tonfall wäre kaum anders gewesen. "<strong>Das</strong> hier macht doch alles keinen Sinn!" sprudelte es schließlich aus ihm<br />

hervor. Die redselige Rücksichtslosigkeit des Verzweifelten stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er mit kalter,<br />

zitternder - vor Kälte zitternder? - Stimme hinzufügte: "Gunelde ist doch längst ertrunken. Was für ein<br />

bescheuerter Plan... Zu den kalten Alriks hinunter tauchen! Ihr habt sie doch nicht alle... Wir sind gerade noch mal<br />

heil aus Oron rausgekommen, jetzt sollen wir schon wieder unser Glück strapazieren. Lasst uns wieder zur<br />

Nachtwind zurückkehren! Bevor sie uns auch noch holen..."<br />

"Hier muss es doch irgendwo sein!" Alrik beachtete Sigismund nicht, sondern spähte ebenfalls über das im matten<br />

Schein der Sterne glitzernde Meer.<br />

"Da drüben leuchtet doch noch was..." Aber es war wohl tatsächlich nur das Restlicht, das sich auf der<br />

Wasseroberfläche wiederspiegelte.<br />

"Sie sind beide mit der Fran-Horas versunken... ertrunken..." Panisch irrte Sigismunds Blick umher, als erwarte er<br />

jeden Augenblick einen Angriff <strong>von</strong> unten. "Ich mach´ da nicht mehr länger mit... Einmal muss Schluss sein... Ich<br />

bin doch auch nur ein Mensch... Ich bin doch nicht Raidri Conchobair!"<br />

"Raidri Conchobair war auch nur ein Mensch" murmelte Alrik.<br />

"Ja, war. Jetzt ist er tot!"<br />

"Schscht!" Odilon lauschte hinaus aufs Wasser. "Wenn wir schon nichts sehen, hören wir vielleicht etwas." Aber<br />

nur das monotone Rauschen der Wogen war zu hören. Der Seegang schien jetzt, gegen Morgen, deutlich<br />

zuzunehmen.<br />

"Wo ist eigentlich die Nachtwind?" fragte der Friedwanger wie beiläufig, der die letzten Augenblicke über das<br />

Heck gestarrt hatte. Sämtliche Augenpaare drehten sich in diese Richtung. Aber war nur hochschwappendes<br />

175


Wasser und die Dunkelheit der Nacht zu sehen. Selbst Alvans scharfe Augen konnten kaum mehr entdecken. Kein<br />

Wunder, das Schmugglerschiff machte mit den schwarzen Planken und Segeln seinem Namen alle Ehre.<br />

"Ach du Scheiße... jetzt haben wir das Schiff auch noch verloren!" stöhnte Sigismund, der aussah, als wolle er in<br />

seiner Angst über Bord springen. "So eine beschissene Wahnsinnsidee!"<br />

"Halt einfach die Klappe!" fauchte Alvan. Sie zog ihren Riemen ein und ging zum Heck, wo unter einer Ruderbank<br />

eine Kiste stand.<br />

"Was hast du vor", fragte ihr Vater.<br />

"Eine Laterne anzünden. Damit uns Vegsziber wiederfindet." Aber in der Truhe war keine Laterne. Genau<br />

genommen war sie leer. Nicht einmal Proviant, dachte Alvan... Wenn wir jetzt mehrere Tage auf See herumirren,<br />

wird es böse. Nur nicht gleich an das Schlimmste denken, dachte sie.<br />

"Die verdammte Kiste ist leer!" fauchte sie und schlug den Deckel zu. Sie zeigte hier mehr Nerven, als sie<br />

eigentlich beabsichtigt hatte.<br />

"Hat jemand Fackeln dabei?" Aber dies war nicht der Fall. Sie spähten in die Nacht, lauschten. Nichts außer<br />

Rauschen, Gurgeln, Klatschen. Auch <strong>von</strong> dem grünen Leuchten der Fran-Horas war nichts zu sehen.<br />

"Nun gut, wenigstens sind wir jetzt vom Schiff weg!" Alrik grinste schief.<br />

"Vegsziber wird sich schön freuen: Sein Boot ist weg, wir sind weg und die vielen schönen Dukkern auch!"<br />

"Prächtig, wirklich prächtig!" Auch Odilons Nerven lagen blank, der Lautstärke seiner Stimme nach zu urteilen:<br />

"Wir treiben mitten auf dem <strong>Maraskan</strong>sund, keine Spur <strong>von</strong> Gunelde. Wir haben keinen Proviant, und..." Hilflos<br />

ballte der Waldläufer seine Faust. "Hast du irgendeinen blassen Schimmer, wo wir uns gerade befinden, Alvan?"<br />

"Ich habe die Stelle auf der Karte gesehen" antwortete Hesindian anstelle der Elfe. "Bis zur maraskanischen Küste<br />

sind es mindestens dreißig Meilen. Richtung Südosten."<br />

"Südosten." Odilon spähte zu den Sternen. "<strong>Das</strong> ist da drüben" entschied er dann und wies in die Schwärze.<br />

"Dreißig Meilen sind gar nicht so viel. <strong>Das</strong> könnten wir is morgen Abend schaffen."<br />

"Der Wind ist ablandig und die Strömung trägt uns in den <strong>Maraskan</strong>sund hinaus. <strong>Das</strong> wird übel..."<br />

"Scheiße, wer hat eigentlich die verdammte Idee gehabt, <strong>von</strong> der Nachtwind weg zu fahren?" Sigismunds Stimme<br />

klang schrill. "Gunelde war doch eh´ nicht mehr zu retten. Jetzt sind wir alle verloren."<br />

"Niemand ist verloren, bevor er sich nicht selbst aufgibt." Selbfried klang durchaus zuversichtlich. "In einer Stunde<br />

wird wieder Herr Praios über uns wachen." Tatsächlich, <strong>von</strong> Osten her war das Morgengrauen schon zu erahnen.<br />

Noch einmal hielten sie Ausschau nach der Nachtwind, riefen und schrieen. Es war wie verhext. <strong>Das</strong><br />

Schmugglerschiff schien ebenso <strong>von</strong> der Wasseroberfläche verschwunden zu sein wie die Fran-Horas.<br />

Sie ruderten in Richtung Südosten, gegen den hohen Wellengang an. Aber in den Pausen, die sie einlegen mussten,<br />

wurden sie tatsächlich immer wieder zurückgetrieben. Die Stunden krochen dahin. Langsam wurde es hell. Einer<br />

Feuerkugel gleich stieg Praios Schild aus dem Perlenmeer, mit atemberaubender Geschwindigkeit. Eine dünne<br />

Linie markierte den Horizont. War dies eine tiefhängende Wolkendecke oder tatsächlich <strong>Maraskan</strong>? Weit und breit<br />

kein zweites Segel zu sehen. Sie waren allein.<br />

Nun, am Morgen, beruhigte sich das Meer etwas. Aber dafür brannte die Sonne mit großer Gewalt auf die fünf<br />

Gefährten in ihrer Nussschale herab. An unununterbrochenes Rudern war bald nicht mehr zu denken. Immerhin<br />

war die Drift nur noch schwach, auch wenn sie immer noch aufs offene Meer hinaus führte.<br />

Sie improvisierten aus ihren Mänteln und den Riemen einen primitiven Sonnenschutz. Der Baron hatte noch ein<br />

wenig Proviant und etwas Wasser bei sich, das ihr karges Frühstück bildete. Alrik zog eine Angelschnur hervor,<br />

befestigte ein Stück Zwieback daran und warf sie über die Reling. Nach einiger Zeit zappelte etwas am anderen<br />

Ende. Eine kleine Gnitze, immerhin.<br />

"Was wollt ihr jetzt damit machen? Ihr könnt sie doch unmöglich roh essen." Angewidert sah Selbfried auf den<br />

zappelnden Fisch. Alrik schlug das Tier mit dem Kopf voran gegen die Bordwand, zog ein Messer hervor und<br />

weidete den kleinen Fisch aus. Dann warf er ein Stück <strong>von</strong> den Innereien am Angelhaken wieder über die Reling.<br />

Schließlich machte er sich daran, die leere Kiste zu bearbeiten. Er zerschlug den Deckel mit einem Entermesser,<br />

schnitt die großen Trümmer zu feinen Spänen und füllte damit die Truhe. Dann legte er einen kleinen Vorrat an<br />

Holz daneben. Schließlich riss er mehrere unbeschriebene Seiten aus Alborans Tagebuch und fügte sie dem<br />

Brennmaterial bei. Es dauerte eine Weile, bis ein erneutes Zucken der Leine verriet, dass erneut ein Fisch<br />

angebissen hatte. Eine Makrele, diesmal bereits deutlich größer. Alrik wiederholte die Prozedur und warf erneut<br />

seine Angel aus.<br />

Die Stunden verrannen. Sie lösten sich mit dem Rudern in Zweierschichten ab und kamen, so schien es zumindest,<br />

gut voran. Die schwarze Linie am Horizont war, so schien es, tatsächlich Land. <strong>Maraskan</strong>... Dennoch hatte es etwas<br />

Entmutigendes, einen Schemen anzusteuern halten, der auch nach einem halben Tag keine klaren Konturen erhielt.<br />

Gegen Mittag lag ein Vorrat <strong>von</strong> vier kleinen und drei größeren Fischen auf Alriks Ruderbank. Es dauerte eine<br />

Weile, bis in der eisenbeschlagenen Kiste ein kleines Feuer brannte. Es war bereits früher Nachmittag, als sie mit<br />

ihrer Mahlzeit beginnen konnten. Kein Festmahl, aber im Anbetracht der Umstände weitaus besser als gar nichts...<br />

176


Am Abend prasselte ein lauwarmer Tropenregen auf das Boot herab und durchfeuchtete ihre Hemden und Mäntel.<br />

Sie konnten den Stoff auswringen und gewannen so etwas Trinkwasser für die Nacht.<br />

Es wurde rasch dunkel. <strong>Das</strong> Meer war noch immer ruhig, aber der Himmel bewölkt und die Sicht schlecht. Sie<br />

beschlossen, nur wenig zu rudern, um nicht allzu weit vom Kurs abzukommen.<br />

Schließlich sahen sie das Licht über dem Wasser tanzen. Sigismund, der die Wache hielt, weckte die übrigen, die in<br />

einen kurzen, traumlosen Schlaf gefallen war.<br />

"Wa... wacht auf. I...ich glaube, die Fran-Horas i...ist zurückgekehrt." Die übrigen spähten hinaus. Tatsächlich, dort<br />

drüben flackerte ein orangeroter Schein. Nein, es waren mehrere Lichtkegel, die mal ineinander übergingen, mal<br />

gespenstisch auseinander schwebten.<br />

"<strong>Das</strong> ist nicht das gleiche Leuchten wie gestern" brummte Odilon. "Meinst du...es sind Irrlichter?"<br />

"Irrlichter auf hoher See?" Alvan schüttelte ungläubig den Kopf. "Sollen wir näher heran oder versuchen, auf<br />

Abstand zu gehen?"<br />

"Dort, wo das Licht ist, ist auch irgendwo die Küste. Ich denke, wir sollten uns das mal genauer ansehen."<br />

Odilon spähte angespannt zu den Leuchtpunkten. Plötzlich schwirrte etwas <strong>von</strong> oben durch die Nacht. Sigismund,<br />

der an einen Angriff aus der Luft dachte, ging unwillkürlich im Boot in Deckung und auch die anderen duckten<br />

sich unwillkürlich. Irgendetwas Schweres klatschte neben dem Schinakel ins Wasser. Alvan sah einen Vogel, der<br />

mit dem Schnabel voran ins Wasser stieß und tatsächlich mit einem zappelnden Fisch im Schnabel wieder in den<br />

Nachthimmel zurückkehrte. <strong>Das</strong> Geräusch und der Anblick wiederholten sich mehrmals in der Umgebung des<br />

kleinen Bootes. Schließlich sah Alvan voraus mehrere flache Fischerboote dümpeln, an deren Bug jeweils mehrere<br />

große Laternen das Wasser erleuchteten. Die großen Vögel – das mussten Kormorane sein - kehrten mit ihrer Beute<br />

zu den Booten zurück, wo die Fischer bereits auf sie warteten und ihnen die Fische aus dem Schlund zogen. Erst<br />

jetzt, im Schein der Laternen, sah Alvan, dass der Hals der Vögel merkwürdig verengt, vermutlich zugebunden<br />

war.<br />

"<strong>Das</strong> sind Kormoranfischer" verkündete sie laut. "Der Schein der Laternen lockt Fische an und die Vögel sind<br />

darauf dressiert, sie zu fangen und zu den Booten zu bringen. Ihre Hälse hat man mit Bindfäden zugebunden, damit<br />

sie den Fang nicht selbst verschlingen. Wir müssen schon recht nah unter Land sein."<br />

Nun hatten auch die Fischer die Fremden entdeckt, wie aufgeregte Sprachfetzen auf <strong>Maraskan</strong>i erahnen ließen.<br />

"Was sagen sie?"<br />

"Ich weiß nicht genau. <strong>Das</strong> ist breitester nordmaraskanischer Dialekt. Aber ich glaube, sie haben Angst vor uns."<br />

Alvan formte ihre Hände zu einem Trichter und rief auf <strong>Maraskan</strong>isch zurück.<br />

"Preiset die Schönheit, Bruderschwestern. Habt keine Angst, wir führen nichts Böses im Schilde... Wir sind...<br />

Schiffbrüchige."<br />

Misstrauische Blicke, ein raunendes Gespräch auf <strong>Maraskan</strong>isch. Alvan konnte keine Waffen bei den Fischern<br />

entdecken, die größer waren als Belegnägel und Taumesser. Es waren fünf Boote, zählte sie aus den<br />

Augenwinkeln. Zwei <strong>von</strong> diesen ging nun längsseits.<br />

"Du sprichst eigenartig. Kommt ihr aus dem Süden?" Ein alter, graubärtiger Mann mit verkniffenen Augen hatte<br />

das Wort an Alvan gerichtet. Die Edle versuchte die Worte zu interpretieren. Irgendwie hatte die Frage<br />

hoffnungsvoll geklungen. Meinte der Fischer mit Süden das freie Sinoda und hatte er Sympathien für den<br />

weißmaraskanischen Widerstand? Aber Süden konnte ebenso gut die Tuzaker Gegend meinen. Sie beschloss, lieber<br />

vorsichtig zu sein.<br />

"Ich bin <strong>Maraskan</strong>erin" sagte sie ausweichend. "Mein Name ist Alvan Scheyhathjida und das sind meine<br />

Gefährten."<br />

"Ich bin Honjin und das sind meine Söhne und Töchter." Eine Aufzählung <strong>von</strong> Namen folgte, die Alvan nicht<br />

richtig verstand. "Du siehst seltsam aus für eine <strong>Maraskan</strong>erin."<br />

Stimmen <strong>von</strong> den anderen Fischern, die offenbar wissen wollten, was los war. Kormorangekrächze.<br />

Der alte Mann - aber vielleicht war er auch gar nicht so alt, sondern lediglich <strong>von</strong> Arbeit und Wetter gezeichnet,<br />

dachte Alvan - schien seltsam aussehende Menschen gewohnt zu sein. Ängstlich betrachtete er die vielen Waffen<br />

im Boot, dann, mit noch größerer Furcht, den Magier.<br />

"Wir sind nicht die, für die ihr uns vielleicht haltet" versuchte Alvan den Mann zu beschwichtigen, ohne die Karten<br />

allzu offen auf den Tisch zu legen. "Wir wollen nur zur Küste. Ist es noch sehr weit?"<br />

"Nicht weit. Ihr wollt nach Jergan?"<br />

"Was sagt er?" plapperte Sigismund dazwischen.<br />

"Still!“ herrschte Alvan den Helligfarn an, ehe sie antwortete. „Ja, wir wollen nach Jergan."<br />

"Dann müsst ihr noch einen Tag nach Süden fahren. Braucht ihr Proviant?" "Ja, etwas zu essen wäre nicht schlecht.<br />

Und zu trinken. Wir waren schon einen ganzen Tag auf hoher See."<br />

"Gehört ihr zur Flotte des Fürstkomturs?" wollte der alte Graubart nun wissen. Seine Kleidung war für einen<br />

Fischer auffallend bunt, wie Alvan erst jetzt bemerkt.<br />

"Nicht direkt" sagte sie ausweichend. Hatte sie eine gewisse Ablehnung in der Stimme des Fischers gehört, oder<br />

war dies nur Wunschdenken? Dem <strong>Maraskan</strong>er war nicht anzumerken, wie er diese Antwort aufnahm.<br />

177


"Wir können euch Proviant verkaufen" ergriff nun eine dicke Frau vom anderen Boot das Wort. "Wir haben schon<br />

viele Fische gefangen."<br />

"Habt Dank, aber uns steht nicht der Sinn nach frischem Fisch. Wir würden gerne an Land und uns dort etwas<br />

ausruhen. Ist euer Dorf in der Nähe?"<br />

"Was redet ihr da miteinander?" wollte Sigismund wissen.<br />

"Alles bestens. Laß mich nur machen." Alvan wandte sich wieder dem Fischer zu. "Nun, wir brauchen frisches<br />

Wasser und etwas Erholung an Land. Wir würden dafür bezahlen, wenn ihr uns zu eurem Dorf brächtet."<br />

Weder Honjin noch der dicken Frau schien der Gedanke, die merkwürdigen Fremden in ihrem Dorf zu wissen,<br />

sonderlich angenehm zu sein. "Unser Dorf ist nicht in der Nähe" erklang wieder die Fistelstimme des Fischers<br />

Honjin. Dann schien ihm eine Idee zu kommen: "Gehört ihr womöglich zu der Fremdija, die sie am Strand <strong>von</strong><br />

Gipflak gefunden haben?" Gunelde !!? Alvan durchzuckte ein Gefühl, als hätte sie einen Zitteraal berührt. Sie<br />

wusste nicht recht, ob vor freudiger Überraschung oder aus Sorge, eine Tote könnte an den Strand <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong><br />

gespült worden sein.<br />

"Ja. Wir vermissen noch jemanden, der mit uns an Bord war. Eine braunhaarige Frau mit grüner Robe und..."<br />

"Frag sie, wo wir das Tal der Glühwürmchen finden" redete Sigismund, wie immer zum völlig falschen Zeitpunkt,<br />

dazwischen. Alvan ignorierte ihren Gespielen, der mit seiner Frage die Antwort der dicken Frau überlagert hatte.<br />

Irgendetwas <strong>von</strong> Fußspuren am Strand und einer grünen Kutte hatte sie noch mitbekommen. Also doch Gunelde,<br />

dachte sie. "Lebte die Frau noch?"<br />

"Ja. Aber die Fremdija benahm sich sehr merkwürdig und war mit ekligem Schleim bedeckt... wie Fischöl... stank<br />

aber schlimmer... Die aus Gipflak haben gesagt, sie hätten eine Stunde gebraucht, bis sie wieder sauber war. Die<br />

Fischigen haben sie gebracht, sagen sie. Aber wenn ihr genaueres wissen wollt, müsst ihr schon die Leute in<br />

Gipflak fragen." Honjin deutete unbestimmt ins Dunkle.<br />

"Wann ist sie angetrieben worden."<br />

"Gestern Nacht, sagen sie. Da soll ein grünes Leuchten auf dem Meer gewesen sein. Alle hatten Angst. Ihr kennt<br />

diese Frau?"<br />

"Ja."<br />

Nun wollte allerdings auch Odilon, um dessen <strong>Maraskan</strong>i es nicht zum Besten bestellt war, <strong>von</strong> seiner Tochter<br />

Genaueres wissen: "Wie, Gunelde lebt noch?"<br />

"Sieht so aus." Alvan antwortete auf Garethja. "Sie ist offenbar gestern in der Nacht an der Nordspitze <strong>Maraskan</strong>s<br />

an Land gespült worden. Oder auch gebracht. Sie sagen, dass vielleicht diese Fischmenschen... wenn ich sie richtig<br />

verstehe, sollen diese Gal... Gal..."<br />

"Gal´Kzuulim" half Hesindian ihr auf die Sprünge. "Ja, diese Gal´Kzuulim könnten sie an Land gebracht haben.<br />

Auch wenn dies für mich keinen rechten Sinn ergibt."<br />

"Was <strong>von</strong> dem, was mit den Niederhöllen zusammenhängt, macht schon Sinn. Und Gunelde soll jetzt in... wie heißt<br />

das Dorf... in diesem Gipflak sein?"<br />

Alvan gab diese Frage an Honjin weiter. "Ja, ja, Gipflak. In Gipflak ist die grüne Frau gefunden worden. <strong>Das</strong> haben<br />

die Fischer aus Gipflak gesagt. Aus Gipflak, nicht aus unserem Dorf." Der Fischer nickte eifrig und deutete nach<br />

Norden. Heiliger Alboran, verschon mein Haus, zünd andre an, dachte die Halbelfe. Der will nur sein eigenes Dorf<br />

aus der ganzen Sache raushalten.<br />

"Was meinst du, Alvan?" fragte Odilon auf Isdira "Glaubst du, die melden uns weiter?"<br />

"Keine Ahnung. Die wollen auf jeden Fall keine Unannehmlichkeiten wegen uns haben."<br />

"Nun ja, die Nachricht <strong>von</strong> unserem Auftauchen wird sich ohnehin nicht lange verheimlichen lassen. Besser, wir<br />

sind in ihren Augen Leute des Fürstkomturs. Also sollten wir uns auch so benehmen."<br />

"Bist du sicher? Ich habe das Gefühl, er ist auf Helme Haffax nicht besonders gut zu sprechen."<br />

"Er hat vor ihm Angst, also wird er uns melden, wenn er das Gefühl hat, dass wir <strong>von</strong> der anderen Seite des<br />

Perlenmeers kommen. Es gibt bestimmt eine Prämie für das Fangen <strong>von</strong> kaiserlichen Spionen, zumindest aber<br />

barbarische Strafen, wenn man Eindringlinge nicht meldet."<br />

"Was redet ihr jetzt schon wieder?" Sigismund sah seine auf Elfisch parlierenden Gefährten fragend an, wie ein<br />

Kind, das sich aus einem merkwürdigen Spiel ausgegrenzt fühlt. Auch Selbfried sah ungehalten drein. Der<br />

Inquisitor - der sah allerdings kein bisschen aus wie ein schwarzmaraskanischer Pirat. Alvan fluchte innerlich.<br />

Tatsächlich schien die Gegenwart des Praioten auch die Fischer zu verwirren, die sich ihrerseits leise unterhielten.<br />

<strong>Das</strong> gleiche Problem wie in Oron, dachte sie. Auf die Gefangennahme eines Inquisitionsrates der Praioskirche war<br />

sicherlich eine üppige Belohnung ausgesetzt - und selbst ein <strong>Maraskan</strong>er, der nicht mit den Bruderlosen paktierte,<br />

dürfte keine allzu große Sympathien für die Diener des Sonnengottes hegen, die jahrelang zu den eifrigsten<br />

Unterdrückern des maraskanischen Widerstandes gezählt hatten.<br />

Alvan versuchte die Situation richtig einzuordnen. Wie es schien, hatte nur die Besatzung <strong>von</strong> Honjins Boot den<br />

Inquisitionsrat als solchen erkennen können, der seit Elburum zum Glück einen schlichten Überwurf trug. Die<br />

dicke Frau war damit beschäftigt, die neuen Nachrichten an die übrigen Boote weiterzugeben, die noch immer<br />

Abstand hielten, während die übrigen Fischer in diesem Boot sich ängstlich im Hintergrund hielten. Die<br />

178


Wahrscheinlichkeit, dass diese etwas bemerkt hatten, war ziemlich gering. "Meister Selbfried, haltet euch im<br />

Hintergrund!" flüsterte sie zu dem Inquisitor. "Der Fischer dort hat vermutlich schon erkannt, dass ihr kein<br />

Schwarzmaraskaner seid. Verbergt eure Robe unter Eurem Mantel, ich beschwöre Euch."<br />

Der Inquisitor wollte schon protestieren - offenbar hatte er andere Vorstellungen <strong>von</strong> praiosgefälliger Offenheit.<br />

"<strong>Das</strong> ist ein Sonderfall. Denkt an den oronischen Folterkeller!" zischte Alvan und Selbfried lenkte ein. Mit einem<br />

Nicken zog er sich hinter Alrik zurück, der ihn in ein Gespräch verwickelte und so vor den neugierigen Blicken der<br />

Fischer verbarg. "Hör zu, Fischer!" raunzte sie Honjin an. "Du wirst uns mit deinem Boot nach Gipflak bringen, zu<br />

der Frau."<br />

"Aber..."<br />

"Sei still, wenn ich mit dir rede!" (Alvan hoffte den barschen Ton der Besatzungssoldaten einigermaßen richtig zu<br />

treffen) "Dein Boot hat ein Segel, unseres nicht. Du wirst uns erst nach Gipflak bringen und dann nach Jergan.<br />

Wenn du unsere Aufgabe zu unserer Zufriedenheit erfüllst, werden wir dich angemessen belohnen, wenn nicht..."<br />

Alvan ließ diesen Aspekt bewusst offen. Einstweilen würde es genügen, dieses Fischerboot unter Kontrolle zu<br />

bringen (mit diesem konnten sie dann am Ende, wenn alles gut lief, wieder ins freie Aranien zurückkehren. Honjin<br />

würde im Tausch ihr Schinakel erhalten. Oder dachte sie damit bereits zu weit in die Zukunft?). Honjin, der merkte,<br />

das einige seiner schlimmsten Befürchtungen wahr werden drohten, begann zu jammern.<br />

Alvan griff demonstrativ zu ihrer Klinge, aber die Fischer sahen nicht unbedingt so aus, als wären sie begierig auf<br />

einen Kampf. "Der Fang wird verderben!" jammerte Honjin und auch die dicke Frau schimpfte los. "Schazak, das<br />

könnt ihr ihm nicht antun... Er... Wir haben nie Ärger mit der Obrigkeit gehabt." Zumindest sie hält uns also für<br />

Haffax Leute, ging es Alvan durch den Sinn. "Dann fangt nicht jetzt damit an. Ihr werdet jetzt unser Boot in<br />

Schlepptau nehmen und gen Gipflak fahren, oder..."<br />

"Oder was?" Ein Hauch <strong>von</strong> Widerstandsgeist flammte in dem Fischer auf, und auch seine vier Kinder gingen, die<br />

Hand am Griff ihrer Messer, in Kampfposition. Einer kramte einen Schnitter hervor, den er offenbar zum Schutz<br />

vor Seeungeheuern oder Piraten bei sich führte. Es sind <strong>Maraskan</strong>er, dachte Alvan, vergiss das nicht...<br />

Alvans Schwert surrte durch die Luft, als sie, so hoffte sie zumindest, höchst beeindruckend blank zog. Mit einem<br />

Satz sprang sie ins Fischerboot. Ihre Klinge wies auf den Kormoran, der vor ihr neben einem Korb mit Fischen<br />

hockte."<br />

„Oder ich hacke eurem wahrlich possierlichen Vögelchen hier den Kopf ab. Zum Beispiel. Nur so als Anfang <strong>von</strong><br />

allem anderen..." Die Drohung wirkte. Honjin hob beschwichtigend die Hände: "Ich gehorche, ich gehorche. Ist<br />

schon gut. Aber ich warne Euch. Eure Gefährtin ist nicht mehr ganz richtig im Kopf. Sie macht etwas mit dem<br />

Wasser. Es heißt, sie wäre... besessen. Vielleicht haben die Gipflaker sie schon längst <strong>von</strong> den Felsen gestürzt."<br />

"Lasst das unsere Sorge sein." Innerlich fühlte Alvan, wie sich in ihrem Inneren etwas zusammenzog. War das die<br />

Absicht der Gal´Kzuulim gewesen - eine dämonische Wesenheit aus dem Gefolge der Tiefen Tochter an Land zu<br />

bringen, um dort Chaos und Unheil zu stiften? Ein Mensch konnte an Land atmen und sich frei bewegen, ein<br />

Diener Charyptoroths nicht. Nun ja, sie hatten ja zum Glück einen Inquisitionsrat dabei. "Wir haben es ein<br />

bisschen eilig, Freund´ka. Du wirst unser Schinakel ins Schlepptau nehmen und uns nach Gipflak bringen. Und du<br />

da, Bürschchen, leg den Schnitter besser wieder dorthin, wo du ihn rausgezogen hast, bevor sich hier noch<br />

irgendjemand verletzt. Sigismund, mach dich mal nützlich und zieh den Kahn mit dem Bootshaken ran."<br />

Der Fischersohn schien anders als der zitternde Honjin noch nicht geneigt, klein beizugeben. "Verdammte Piraten"<br />

schrie er und hob seine Waffe. Zum Glück reichlich ungelenk. Alvan warf ihr Schwert schwungvoll, mit der Spitze<br />

voran in die Höhe. Verwirrt sah der junge <strong>Maraskan</strong>er hinterher. Die Halbelfe rammte in ihre Faust unters Kinn.<br />

Als der Mann wieder aus seiner Benommenheit erwachte, stand Alvan mit einem Fuß auf seinem Schnitter und<br />

hielt ihm das elegant wiederaufgefangene Schwert an den Hals. Einen Augenblick schienen die Geschwister einen<br />

Verzweiflungsangriff zu erwägen. Als sie sahen, dass Alvan ihren Bruder nicht töten wollte, zögerten sie. Zeit, die<br />

Alrik und Odilon nutzten, um ebenfalls an Bord zu springen. "Wie es scheint, spezialisieren wir uns gerade auf das<br />

Klauen <strong>von</strong> Booten!" grinste der Baron, nahm den Schnitter an sich und warf ihn ins Beiboot der Nachtwind.<br />

179


VII. Kapitel: Die Fischer der Käferinsel<br />

Es war eine Sache <strong>von</strong> wenigen Minuten, das Schinakel an dem kleinen Segler der <strong>Maraskan</strong>ischen Fischer zu<br />

vertäuen. Odilon blickte sorgenvoll auf die fünf Fischer. Natürlich waren die <strong>Maraskan</strong>er unterlegen, auch wenn sie<br />

selbst nur zu sechst waren, aber an Kampfkraft würden sie sich nicht mit ihm, Alrik, Alvan und Selbfried messen<br />

können. Aber er hatte gelernt, auch einen augenscheinlich unterlegenen Gegner nicht zu unterschätzen. Immerhin<br />

würden sie einige Stunden brauchen nach Gipflak, und nach Jergan einen vollen Tag. Und, das würde sich<br />

vielleicht schon wieder als Problem erweisen, sie hatten wieder eine Nacht lang kaum geschlafen. Verdammt, diese<br />

dauernde Anspannung, das andauernde Gefühl, auf der Hut sein zu müssen und seit Wochen nicht gefahrlos<br />

Schlafen zu können, das zehrte an den Nerven und an der Verfassung seiner Gefährten. Er selbst hatte schon<br />

Schwierigkeiten, sich unter Kontrolle zu halten, und dass Sigismund die Kontrolle gelegentlich verlor und im<br />

unpassendsten Moment dazwischenplapperte, war ihm eigentlich nicht vorzuwerfen. Und dennoch würde er ein<br />

Auge darauf haben müssen, denn eine unachtsame Bemerkung des Helligfarners konnte sie alle verraten. Und sie<br />

würden ein paar Stunden Schlaf gut vertragen können, um den angespannten Nerven etwas Erholung zu gönnen.<br />

Doch sie mussten durchhalten, sie konnten sich ja nicht einfach zum Schlafen legen und ihr Schicksal den fünf<br />

gefangenen Fischern anvertrauen.<br />

Alrik und Selbfried sahen beide noch relativ wach aus, die kurzen Ruhephasen während der Nacht hatten ihnen<br />

wohl genügt. Aber die beiden konnten kein <strong>Maraskan</strong>isch. Sigismund war ihm in dieser Situation überhaupt nicht<br />

nutzbringend, er würde ihn zum Schlafen schicken, damit er in Gipflak wieder einigermaßen erholt war.<br />

Letztlich mussten aber er oder Alvan durchgehend wach bleiben, denn nur sie konnten <strong>Maraskan</strong>isch und würden<br />

es mitbekommen, wenn die Fischer sich über einen Aufstand unterhalten würden. <strong>Das</strong>s er wirklich alles verstehen<br />

würde glaubte er zwar selbst nicht, aber zumindest würde er es bemerken, wenn sich bei den Fischern etwas<br />

zusammenbrauen würde.<br />

„Wie geht es Dir, Alvan?“ fragte Odilon seine Tochter auf Isdira. Der Halbelfe war äußerlich nichts anzumerken,<br />

aber Odilon kannte sie gut genug um zu merken, wenn etwas nicht stimmte.<br />

„Warum redet ihr immer auf Elfisch?“ mischte Sigismund sich ein. „Ihr grenzt uns aus, ich finde wir sollten mehr<br />

wert auf Gemeinsamkeit legen.“<br />

„Sigismund, leg Dich schlafen. Du bist übermüdet und Deine Nerven sind überreizt. Ruh Dich eine Weile aus, alle<br />

Deine Fragen beantworte ich Dir in Gipflak.“ Odilons Stimme duldete keinen Widerspruch. Sigismund gehorchte.<br />

Odilon sah Alvan an, immer noch auf eine Antwort wartend.<br />

„Wenn ich ehrlich bin, ich fühl mich hundsmiserabel. Mir ist speiübel. Ich hätte gedacht, ich vertrage diese<br />

Seefahrerei, ich hatte da früher nie Schwierigkeiten.“<br />

„Leg Dich hin und schlaf ein wenig. Ich halte Wache bis Gipflak. Auch Alrik und Hesindian sollen sich auch etwas<br />

ausruhen. Ich denke es reicht, wenn Selbfried und ich wachsam bleiben. Die Fischer sind nicht unsere Gegner, aber<br />

wir wissen nicht, was uns in Gipflak erwartet.“ Odilon wechselte wieder ins Garethische. „Hör zu, Honjin.“<br />

kommandierte er in seinem gebrochenen <strong>Maraskan</strong>isch. „Wir sind Schiffbrüchige und müssen nach Gipflak. Du<br />

kannst Deinen Fang genauso dort verkaufen wie in Deinem Dorf. Wir sind nicht Eure Feinde und werden Euch<br />

nichts tun, aber wir werden dafür sorgen, dass wir unbeschadet nach Gipflak kommen.“ Demonstrativ spannte<br />

Odilon seinen Bogen. Honjin verstand, dass er der erste sein würde, den der Pfeil des bärtigen Hünen treffen<br />

würde, wenn er und seine Söhne und Töchter die Fremden zu hintergehen versuchten.<br />

Honjin sagte etwas auf maraskanisch zu seinen Söhnen und Töchtern. Odilon verstand nur die Hälfte, dieser<br />

nordmaraskanische Dialekt war wirklich kaum zu verstehen. Aber er war beruhigt zu sehen, wie das eine Mädel<br />

sich an die Ruderpinne begab und die zwei Söhne das Segel hochzogen. Es schien so, als hätten sich die Fischer in<br />

ihr Schicksal ergeben.<br />

Honjin seinerseits setzte sich achtern auf die Ruderbank. Er musterte die spitzohrige angebliche Piratin. Er hatte<br />

noch nie zuvor eine Elfe gesehen. Es gab keine Elfen auf <strong>Maraskan</strong>, auch unter den Besatzern nicht. Aber er<br />

erinnerte sich, dass der Schulze in seinem Dorf einmal erzählt habe, er habe gehört, dass in Tuzak eine Elfe zur<br />

Priesterin geweiht wurde. Na ja, es wurde viel erzählt in <strong>Maraskan</strong>, und er gab nicht viel auf solches Geschwätz. Es<br />

fiel ihm nur wieder ein, da er nun zum ersten Mal in seinem Leben eine Angehörige dieses spitzohrigen Volkes<br />

sah.<br />

Meister Selbfried stand schweigend in der Mitte des Kahns neben Odilon. Er hatte ein waches Auge auf die Fischer<br />

gerichtet. Odilon war froh, sich in dieser Sache auf den Inquisitor verlassen zu können. Der Priester war auch nicht<br />

mehr der jüngste, aber er verfügte über eine Zähigkeit und Ausdauer, die Odilon in Erstaunen versetzte. Auch die<br />

vergangene anstrengende Nacht schien ihn nicht erschöpft zu haben.<br />

180


„Eines beschäftigt mich schon eine Weile. Warum befasst man sich bei Eurer Familie so intensiv mit<br />

Ahnenforschung?“ fragte der Inquisitor Odilon, ohne dabei jedoch die Aufmerksamkeit, mit denen er die Fischer<br />

beobachtete, außer Acht zu lassen.<br />

„Mein Neffe hat ein sehr großes Interesse daran. Veneficus ist allen Wissenschaften gegenüber sehr<br />

aufgeschlossen, und die Historienkunde und Ahnenforschung ist gewissermaßen ein Steckenpferd <strong>von</strong> ihm“ Odilon<br />

verstand nicht, worauf der Priester jetzt hinaus wollte, kam aber zu dem Schluss, dass die Wahrheit in diesem Fall<br />

unverfänglich und auch für die Ohren eines Inquisitors geeignet war. „Aber was wundert Euch daran?<br />

Ahnenforschung betreiben doch eigentlich sehr viele adelige Familien. Viele Adelige sind stolz darauf, den<br />

Ursprung ihrer Familie weiter zurückverfolgen als der Nachbarbaron. Warum ist es da verwunderlich, wenn mein<br />

Neffe Ahnenforschung betreibt?“<br />

„Weil, wenn ich das so sagen darf, das Ergebnis derselben bei Eurer Familie aus dem Rahmen fällt. Ich kenne die<br />

Stammbäume vieler Adelshäuser. Viele Familien sind stolz darauf, ihre Ahnenreihe bis in die Zeit des<br />

Bosparanischen Reiches zurückverfolgen zu können. Aber mir ist nicht bekannt, dass eine Familie<br />

mittelreichischem Adel sich dazu bekennt, <strong>von</strong> Barbaren und Elfen abzustammen.“<br />

Odilon dachte nach. „Richtig. Eine Herkunft alten bosparanischen Adels verleiht natürlich einen gesellschaftlichen<br />

Status, der nur zu gern verkündet wird. Aber eine jede Forschung ist letztlich der Wahrheit verpflichtet und erfüllt<br />

nicht den Zweck, das für den Forschenden günstigste Ergebnis herbeizuführen.“ Odilon dachte, dass er den<br />

Inquisitor bei dem praioskirchlich gepredigten Streben nach Wahrheit packen könnte.<br />

„Wohl war. Es ist wohl auch oft Usus bei den Ahnenforschern <strong>von</strong> weltlichem Stand, ruhmreiche Ahnen<br />

hervorzuheben und den Bastard oder eingeheirateten Manne <strong>von</strong> nicht standesgemäßer Herkunft schlichtweg dem<br />

Vergessen anheim fallen zu lassen. Jedoch bleibt festzuhalten, dass die Barbaren, deren Nachfahren Ihr seid,<br />

Heiden waren. Unzivilisierte Menschen, die <strong>von</strong> Praios Gesetzen nichts wussten.“<br />

„Zweifellos wahr. Wie hätten sie denn auch <strong>von</strong> der Lehre des Praios erfahren sollen, wenn es in jenen Tagen keine<br />

Tempel und keine Priester der Zwölfe gab. Jedenfalls nicht außerhalb des Bosparanischen Reiches.“<br />

Dem konnte der Inquisitor nichts entgegen setzen.<br />

Alvan hatte sich hingelegt. Wäre ihr nicht so übel gewesen, sie wäre sofort eingeschlafen. So döste sie vor sich hin<br />

und schreckte alle paar Minuten aus dem Halbschlaf hoch, wachgerissen <strong>von</strong> lauten Wortfetzen, die sie nicht<br />

verstand und <strong>von</strong> großen Wellen, die das Boot heftiger als gewöhnlich schwanken ließen. Schweiß stand auf ihrer<br />

Stirn. Sie sah auf, als Honjin seinem Sohn anschaffte, er möge der Elfe einen Krug Wasser bringen. Alvan zitterte<br />

in banger Erwartung. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wenn ihr doch nur klar werden würde, was. Ihre Sinne<br />

schlugen Alarm, doch sie konnte sich auf nichts konzentrieren. Was ging hier vor? Alvan wollte aufstehen, aber<br />

ihre Beine versagten ihr den Dienst.<br />

Der junge <strong>Maraskan</strong>er reichte ihr den tönernen Krug und dankbar trank sie. In tiefen Schlucken sog sie begierig das<br />

lebensspendende Nass ein. War da ein bleierner Geschmack in dem Wasser oder irrte sie darüber? Schon meinte<br />

Alvan, einen stechenden Schmerz zu spüren. Fragend sah sie den Fischersohn an. Dieser lachte. Gion lachte sie<br />

triumphierend an. Alvan wusste, was passieren würde. <strong>Das</strong> Gift der Roten Dschungelassel war das, ein Gift, dass<br />

sie lähmen würde, bis sie letztlich bei vollem Bewusstsein verhungern würde sobald sie auch nicht mehr essen<br />

konnte. Mit letzter Kraft warf sie Gion den Krug ins Gesicht. Gion lachte noch immer, sein überlegenes Grinsen<br />

ließ sie ihre Machtlosigkeit am ganzen Leib spüren. Alvan fröstelte trotz der Hitze, sie würgte und spuckte und<br />

erbrach sich. Eine raue Hand strich ihr zärtlich liebkosend über die Wange, ein Mund grinste sie lüstern an.<br />

Reflexartig drehte Alvan den Kopf zur Seite und biss zu.<br />

Odilon schrie auf. „Kind, du phantasierst. Werde mir jetzt bloß nicht krank. Wir brauchen Dich. Ich brauche Dich,<br />

wenn wir das hier überstehen wollen.<br />

Langsam kam Alvan wieder zu sich. Schuldbewusst sah sie auf die blutende Hand Odilons. Ein süßlicher Geruch<br />

stieg ihr in die Nase. Zumindest erbrochen hatte sie sich nicht nur im Traum.<br />

„Kind, was ist los mit Dir? Du hast Fieber!“ stellte Odilon fest. Alvan sagte nichts.<br />

Odilon war heilfroh, als Alvan endlich eingeschlafen war. Sie würde den Schlaf brauchen, das war klar. Vielleicht<br />

würde es ihr danach besser gehen. Jetzt konnte er ohnehin nichts für sie tun. Dann sah er seine Gefährten an.<br />

Vollständig wach schien lediglich der Inquisitionsrat. Er hatte sich schlussendlich wiederwillig ganz in seinen<br />

Umhang gehüllt, so dass seine verräterische Kleidung nicht zu sehen war.<br />

„Ich glaube, wir können den Fischern soweit trauen. Sie haben viel zu viel Angst vor uns, als dass sie einen<br />

Aufstand wagen würden.“<br />

„<strong>Das</strong> glaube ich auch.“ stimmte Odilon zu. Sie haben die Gewissheit, uns in Gipflak <strong>von</strong> Bord zu bekommen.<br />

Wenn wir sie dann aus den Augen lassen, werden sie sich <strong>von</strong> dannen machen und in ihr Dorf fahren. Also müssen<br />

wir uns noch etwas einfallen lassen, wenn wir mit ihrem Boot nach Jergan kommen wollen. Wir können schließlich<br />

nicht immer ein Auge auf sie haben, und ich halte auch nichts da<strong>von</strong>, eine Geisel zu nehmen. <strong>Das</strong> bringt letztlich<br />

nur Hass auf uns mit sich, und dann kommen sie vielleicht doch noch auf den Gedanken, uns irgendwo<br />

181


anzuschwärzen. Schließlich hat Honjin ja Eure Robe gesehen. Seht! Dort drüben ist ein Dorf, das muss dann wohl<br />

Gipflak sein.“ Odilon musterte die wellenumspülte Landspitze, die sich nun, am frühen Morgen aus dem Dunst<br />

schälte. <strong>Das</strong> also war der nördlichste Punkt <strong>Maraskan</strong>s.<br />

Majestätisch hob sich die Sonne im Osten und beleuchtete eine unwirtliche Landschaft aus vulkanischem<br />

Felsgestein, die überhaupt nicht aussah, wie Klein-Alrik sich die Insel der Käfer vorstellte. Von Dschungel war<br />

weit und breit nichts zu sehen, stattdessen schienen Buschland und Wiesen die Hügel zu beherrschen. Irgendwie<br />

erinnerte ihn der Anblick der Gegend mehr an das albernische Seenland oder den Windhag denn die Lande am<br />

Perlenmeer, die er <strong>von</strong> seinen Reisen her kannte. Wären die schwüle Hitze und das allgegenwärtige Grauschwarz<br />

der Felsen nicht gewesen.<br />

Die beiden Boote glitten näher heran. <strong>Das</strong> Dorf befand sich am äußersten nördlichen Ende einer großen Bucht, die<br />

sich über viele Meilen entlang der Küste erstreckte. Die Stein- (oder Lehm?) -häuser waren teilweise in die<br />

schwarzen Felshänge hinein gebaut. Gipflak schien ein recht großer Ort zu sein, der bebaute Platz reichte wohl für<br />

mehrere hundert Einwohner. Es gab einen kleinen Hafen, an dessen Mauern ein paar große Kutter festgemacht<br />

hatten.<br />

Einige kleinere Fischerboote lagen auf den schwarzglänzenden Strand - ein Rundumblick verriet, dass sich ein<br />

weiteres halbes Dutzend Boote auf hoher See befand, wenn auch gerade noch in Sichtweite. Überall waren große<br />

Netze zum Trocknen aufgespannt; silberglänzende Schwärme <strong>von</strong> Möwen schwebten im azurblauen Himmel. Ein<br />

durchaus malerischer Anblick. Vor allem der Blick nach Norden, auf die Wassermassen des Perlenmeeres hinaus,<br />

ließ Odilon schwindeln. Von Rulat abgesehen kein Land mehr zwischen hier und Festum, raunte etwas im Takt der<br />

Wellen in ihm, nur Wasser, Wasser, Wolken und Himmel- und darunter das verborgene Grauen der Tiefe...<br />

Die <strong>Maraskan</strong>er holten das Segel ein, und gemächlich glitt ihr Fischkutter auf den Strand zu. Der heftige Ruck, als<br />

der Kiel auf Land stieß, brachte rasch alle Schlafenden und Dösenden an Deck zur Besinnung. Alvan stöhnte leise<br />

auf und sank dann wieder an der Reling zusammen, wo sie wieder in einen tieferen, verschwitzten Fieberschlaf<br />

glitt.<br />

Der Waldläufer versuchte, das weitere Vorgehen zu planen. Alvan konnte er auf keinen Fall mit an Land nehmen,<br />

in ihrem Zustand... Aber die Fischer mussten ihn begleiten, wenn sie nicht plötzlich ohne Boot - oder gar ohne<br />

Boot und ohne Alvan dastehen wollten.<br />

Odilons Blick glitt über die glitschigen Leiber, darunter einen stattlichen Rochen, die in Kisten auf dem Deck<br />

herumstanden und begehrliche Blicke des Kormorans hervorriefen: "Also, Honjin, pack deine Fische zusammen.<br />

Ihr könnt sie hier und jetzt verkaufen, hier auf dem Markt!"<br />

Der alte Fischer schüttelte den silbergrauen Kopf und blickte sauertöpfisch: "Hier nicht. Die Gipflaker haben selber<br />

genug Fische. Außerdem würden sie niemals einem aus Sindibab den Fang abkaufen. Wir sind... es gibt oft Streit<br />

um die Fanggründe..."<br />

"Verstehe. Wo verkauft ihr denn üblicherweise eure Fische...?“<br />

"Auf dem Markt in Jergan."<br />

"Also gut, nach Jergan wollen wir auch." zumindest in die grobe Richtung, dachte Odilon. "Wenn du uns<br />

mitnimmst, werden wir dich gut bezahlen."<br />

"Bis dahin ist mein Fisch restlos verdorben" jammerte der Alte.<br />

Es würde heute wieder ein warmer Tag werden, diesbezüglich hatte der Sindibaber schon Recht. Odilon musste<br />

sich etwas anderes einfallen lassen. Er konnte eine Wache hier lassen, aber es war keineswegs sicher, ob diese<br />

kräftigen maraskanischen Fischerkindern gewachsen sein würde. Er hatte in Festumer Kneipen gesehen, was die<br />

Fäuste <strong>von</strong> Menschen anrichten konnten, die den ganzen Tag quaderschwere Netze aus dem Meer zogen.<br />

Außerdem konnte er im Grunde auf keinen weiteren Kämpfer mehr verzichten, jetzt wo Alvan schon krank<br />

darniederlag. "Sigismund, Alrik, fesselt sie an den Mast!"<br />

"Alle vier...?"<br />

Odilon nickte Sigismund zu, der diese Frage gestellt hatte.<br />

Die Fischer protestierten, aber die Übermacht der Bewaffneten ließ keinen Widerspruch zu. Seile lagen genug<br />

herum, und das Werk war rasch vollbracht.<br />

"Hört zu, ich tue das wirklich nicht gerne!" wandte sich der Gallyser an seine Gefangenen. "Aber ich werde nicht<br />

ohne unsere Gefährtin nach Jergan fahren!"<br />

"Die verfluchte Haffaxija!" Der älteste Fischersohn spuckte voller Verachtung im Gesicht aus.<br />

Odilon verstand das Wort nicht recht, und im Grunde war es ihm gleichgültig. Er überlegte knapp: Es wäre besser,<br />

wenn die Dörfler die Robe des Inquisitionsrates nicht zu Gesicht bekamen. Zwar war Gipflak recht abgelegen, aber<br />

vielleicht gab es gerade deswegen einen Posten der maraskanischen Garde in der Nähe.<br />

182


"Meister Selbfried, ich würde vorschlagen, dass Ihr als Wache auf dem Boot zurückbleibt und ein Auge auf Alvan<br />

haltet."<br />

Der Praiosgeweihte nickte knapp und griff dann grimmigen Blickes nach dem Schnitter, der gegen die Reling<br />

lehnte.<br />

Knirschenden Schrittes gingen die drei übriggebliebenen Gefährten über die felsigen Kiesel des Strandes, auf die<br />

Ortschaft zu, die gleich einer Ringmauer <strong>von</strong> Trockengestellen mit Netzen umgeben war. Glücklicherweise, denn<br />

so konnten die Bewohner nicht gleich sehen, wer sich da an ihren Gestaden tummelte.<br />

"Was ist denn das?"<br />

Sigismund wies auf einen glänzenden, durchsichtigen Brocken auf dem Strand, auf den er gerade getreten war. Als<br />

er seinen Stiefel erschrocken zurückzog, war <strong>von</strong> ihm außer einer kleinen Pfütze und einem winzigen grauen<br />

Überrest nichts übriggeblieben. Odilon kniete neben der Lache nieder und tauchte seinen Finger hinein.<br />

"Es ist kalt" meinte er dann. "Wenn ich nicht wüsste, dass wir hier auf <strong>Maraskan</strong> sind, würde ich sagen, es ist Eis -<br />

schmelzendes Eis."<br />

"Wie kommt das denn hierher?" wunderte sich Sigismund. "Da drüben ist noch mehr da<strong>von</strong>..."<br />

Hinter einem größeren Stein lagen tatsächlich mehrere schneeweiße Häuflein - ohne jeden Zweifel Eis, das nun in<br />

der höhersteigenden Sonne rasch dahinschmolz. Odilon machte aus seiner Verwirrung keinen Hehl.<br />

Es war zwar nun auch in <strong>Maraskan</strong> Winter, aber Eisschollen sollte es hier auf dem Meer eigentlich nicht geben.<br />

Nicht, solange ihm die schwüle Seeluft bereits bei der kleinsten Bewegung den Schweiß auf die Stirn trieb. Er war<br />

sich sicher, dass die allermeisten <strong>Maraskan</strong>er außer auf der schneebedeckten <strong>Maraskan</strong>kette nie in ihrem Leben<br />

Firuns kaltes Element zu Gesicht bekamen. Und hier oben gab es nicht einmal Gipfel, die über die Schneegrenze<br />

hinaus ragten.<br />

Was sollte einer der Gipflaker über Gunelde gesagt haben? Sie macht etwas mit dem Wasser...<br />

Odilon sah sich genauer um. Ein paar Krebse liefen über den Strand, während sich einige tote Raubmöwen um<br />

einen toten Fisch balgten.<br />

Schließlich fiel sein Blick auf ein zertrümmertes Fass, das vor einem größeren Felsbrocken im hüfthohen Wasser<br />

dümpelte. Daneben schwamm ein Stück Tau an einem hölzernen Block. Der Waldläufer hob das Seil hoch, dessen<br />

Ende wie mit einem Messer abgeschnitten worden zu sein schien: "Abgerissen ist das nicht. Sieht eher aus wie glatt<br />

durchgeschossen. Da draußen muss vor kurzem ein Seegefecht stattgefunden haben."<br />

Der Baernfarn hob eine Handvoll Eis hoch: "Vielleicht gibt es da<strong>von</strong> noch mehr. Der arme Honjin könnte es<br />

jedenfalls gut gebrauchen, um seine Fische zu kühlen..."<br />

Hesindian war ein Stück weitergegangen: "Dort drüben liegt...Schilf. <strong>Das</strong> wächst hier weit und breit nicht." Zum<br />

Beweis hielt er einige der Pflanzen in die Höhe. "Fässer, Eis und Schilf, und das abgeschossene Tauwerk. <strong>Das</strong><br />

ergibt für mich nur einen Sinn. Vor der Küste muss irgendwo ein Schiff mit einer Ladung Eis versenkt worden<br />

sein. Vermutlich ein bornländischer Kauffahrer..."<br />

Sigismund sah den Magus spöttisch an: "Eis? Wer soll denn mit so was Unnützen Handel treiben?"<br />

"Die Bornländer zum Beispiel... Im Winter haben sie jetzt da<strong>von</strong> genug, und im heißen Süden sind die Reichen<br />

durchaus bereit, einige schöne Dublonen zu bezahlen, um ihren Wein zu kühlen oder es mit Früchten vermischt zu<br />

naschen."<br />

"So ein Blödsinn." Sigismund lächelte ignorant. "Bis das Zeug in Al´Anfa oder Khunchom ist, hat der Herr Praios<br />

ihnen doch längst die ganze Pracht weggeschmolzen."<br />

"Nicht, wenn man genug da<strong>von</strong> in den Laderraum packt, um die Barren sich gegenseitig kühlen zu lassen, und die<br />

Fässer mit Schilf auspolstert. <strong>Das</strong> hält die Hitze fern und unter der Wasserlinie ist es ohnehin schön kühl."<br />

"Und warum liegt das ganze Eis dann nicht auf dem Meeresgrund?"<br />

"Weil es leichter ist als Wasser. Aber vielleicht haben die Piraten das Schiff auch aufgebracht und die Ladung<br />

einfach über Bord geworfen, weil sie damit ebenso wenig anzufangen wussten wie du...Wir werden es wohl nie<br />

erfahren."<br />

"Wie auch immer, wir sind eigentlich hier, um Gunelde zu suchen, nicht, um hier merkwürdiges Strandgut<br />

aufzusammeln." Odilon ging weiter auf Gipflak zu.<br />

<strong>Das</strong> Dorf lag verlassen da, bis auf einen kläffenden Köter war kein lebendes Wesen zu sehen. Ein derber Tritt des<br />

Streuners, dann ergriff der zähnefletschende Tuzakermischling die Flucht in eine Scheune.<br />

Als sie auf dem <strong>von</strong> Langhütten umrahmten Dorfplatz angekommen waren, ließ Odilon seinen Blick schweifen.<br />

Gut möglich, dass die meisten Einwohner jetzt auf den terrassenförmig angelegten Feldern der Umgebung<br />

arbeiteten oder auf die See hinausgefahren waren, um dem Fischfang nachzugehen. Aber irgendwie war diese<br />

gähnende Leere seltsam.<br />

"Da oben sind Menschen!" rief Hesindian schließlich aus und zeigte auf eine der Erdstufen in den Hängen, wo<br />

offenbar Reis oder Shatak angebaut wurden. Und wirklich waren dort einzelne Gestalten in leuchtendbunten<br />

Gewändern zu sehen, die dort irgendeinem Tagwerk nachgingen.<br />

183


Am Rande des Platzes entdeckten sie einen größeren, <strong>von</strong> einer Mauer umgebenen Hof, über dessen Haupthaus<br />

eine blutrote Fahne mit der schwarzen Dämonenkrone erblickten. Odilon erstarrte. <strong>Das</strong> sah verflucht nach einem<br />

Stützpunkt schwarzmaraskanischer Kämpfer aus. <strong>Das</strong> doppelflügelige, in die <strong>von</strong> Tonscherben gespickte Mauer<br />

eingelassene Tor war <strong>von</strong> innen verrammelt.<br />

Immerhin, es gab außen keine Wachen.<br />

"Ob Gunelde da drin ist?" flüsterte Alrik.<br />

"Keine Ahnung. Wir sollten vielleicht einmal einen Blick in den Innenhof werfen. Aber nicht hier, gehen wir erst<br />

etwas in diese Seitengasse hinein..."<br />

Odilon huschte voran und machte eine Räuberleiter, so dass Sigismund sich nach oben ziehen konnte. Vorsichtig<br />

hielt er sich zwischen den eingemauerten Tonsplittern fest und spähte hinein. Vor dem Tor lag tatsächlich ein<br />

schwerer Holzbalken, in der Mitte des Hofes verdeckte ein schweres Bambusgitter ein Loch im Boden. <strong>Das</strong> sah<br />

verflucht nach einem tulamidischen Gefängnis aus. Die Tür zum Haupthaus war offen. Von dort war nun ein<br />

greller Schmerzensschrei zu hören - dumpf und verzerrt, als käme er aus der Tiefe. Ein Folterkeller? Und war es<br />

am Ende Gunelde, die gerade verhört wurde? Nein, dazu hatte die Stimme zu männlich geklungen.<br />

Sigismund zog seinen Kopf wieder ein, als aus einem Latrinenhäuschen ein tulamidisch aussehender Kämpfer trat,<br />

der seine Schärpe zurechtrückte und dabei den richtigen Sitz des Khunchomers überprüfte. Dann nahm er eine<br />

gegen die Wand gelehnte Armbrust wieder auf und begab sich zu einem aus Bambushölzern gebauten Wachtturm<br />

an der Mauer.<br />

Sigismund ließ sich wieder zurück auf die Straße gleiten. "<strong>Das</strong> scheint wirklich die örtliche Kommandantur der<br />

Besatzungstruppen zu sein."<br />

"Wenn man vom Namenlosen spricht..." Alrik wies zurück auf den Platz, wo nun zwei weitere Kämpfer in eisernen<br />

Plattenrüstungen erschienen, die deutlich mittelaventurischer wirkten. Einer hatte eine Hellebarde geschultert.<br />

Söldner... Sie hatten - wohl nur durch schieres Glück - die verdächtigen Gestalten in der Seitengasse nicht bemerkt,<br />

sondern schlenderten gemächlich weiter.<br />

"Ziemlich viele Bewaffnete für so einen kleinen Ort" flüsterte Odilon.<br />

"Hoffentlich patrouillieren sie nicht auch noch entlang dem Strand..." Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie den<br />

Fuß auf schwarzmaraskanischen Boden gesetzt hatten.<br />

Die drei warfen sich in den Schatten der Mauer, als die beiden Mittelreicher nach einigen Augenblicken<br />

zurückkehrten. Erneut hatten sie Glück. Die Söldner verzichteten wiederum darauf, die kleine unscheinbare Gasse<br />

näher in Augenschein zu nehmen, stellten sich aber nun ausgerechnet an deren Ende auf und begannen ein<br />

Schwätzchen. Den Eindringlingen wandten sie dabei ihren gepanzerten Rücken zu.<br />

„...so einen Hai ...!" konnte Odilon hören, während ihm das Herz bis zum Halse schlug. Wenn sich einer der beiden<br />

nun aus irgendeinem Grund umdrehte, hatten sie eine Menge Ärger am Hals. <strong>Das</strong> Beste wäre es, möglichst schnell<br />

den Rückzug in die Gasse hinein anzutreten, aber das leiseste Geräusch konnte sie verraten. Außerdem gab es da<br />

noch den Posten auf dem Wachtturm... Odilon wusste nicht, ob sie sich gerade im toten Winkel zum Turm<br />

befanden, aber die Straße konnte man <strong>von</strong> dort sicherlich einsehen.<br />

Der Söldling vor ihnen, ein kleiner, untersetzter Mann mit blonden, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haaren,<br />

zeigte mit den Händen die Größe des Fangs an: "War´n Hammerhai."<br />

"Kamma die essen?" wollte sein Nebenmann wissen, ein breitschultriger Kerl mit Schnauzbart und Wehrheimer<br />

Bürstenhaarschnitt.<br />

"Die Flossen schon. Soll ne prima Suppe geben, sagen die <strong>Maraskan</strong>er..."<br />

Odilon staunte. Offenbar waren sie hier geradewegs unter die Feinschmecker geraten...<br />

"Beim Durst des Blutsäufers, die fressen ja auch alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, die Alrechs auf<br />

diesem verfluchten Eiland."<br />

Der Kleinere nickte: "Rustam hat den Hai wieder ins Meer geschmissen. Der wollte nur den Kiefer haben, als<br />

Trophäe."<br />

"War der nicht mal Söldner in Mengbilla?"<br />

"Kann schon sein. Mit Giften kennt er sich jedenfalls bestens aus. Also leg dich bloß nicht mit dem Fasarer an.<br />

Letzten Dämonenlauf hat der einen <strong>von</strong> den Templern umgelegt, weil der ihm beim Zocken blöd kommen wollte...<br />

Mit ´nem vergifteten Stilett in den Hals, bevor der andere auch nur blankziehen konnte. So einer ist Rustam."<br />

Ein pervalisches Kichern.<br />

"Is´ nich wahr. Scheiße, legt der einfach mal so nebenbei `nen Templer um." In der Stimme des Kurzhaarigen<br />

schwang durchaus Respekt mit. "Gab doch bestimmt einen dreizehnfach gehörnten Ärger?"<br />

"Natürlich gab´s den. Hatte aber wohl einen Fürsprecher beim Orden. Man munkelt <strong>von</strong> einer drallen Offizierin mit<br />

`ner Möse so feucht wie die Blutsee. Dieser Rustam kennt halt den Dämonensultan und die ganzen Niederhöllen<br />

persönlich. Vor allem die richtigen Weiber. Ich sag ja, mit dem müssen wir uns gut stellen."<br />

184


Odilon sah Hesindian an. Sie beide dachten offenbar gerade an das Gleiche. Ob sich ein Angriff lohnte? Nein, zu<br />

gefährlich. Der Waldläufer schüttelte sacht den Kopf.<br />

"Wenn er so mächtige Freunde hat, warum hockt er dann ausgerechnet hier, am Arsch der Insel?" wollte der<br />

Schnauzbärtige wissen.<br />

"Leg dich mit den Templern an, und versuch dann auf <strong>Maraskan</strong> zu überleben" lachte der Kurze. "Hat halt Angst,<br />

dass er in Jergan eines Morgens aufwacht und jemand hat ihm einen zweiten Mund gezeichnet. Jemand aus dem<br />

Oktagon... Hier oben fühlt er sich eben ein bisschen sicherer, soweit ab vom Schuß...."<br />

"Kann ich verstehen. Im Dschungel passiert für meinen Geschmack irgendwie auch zu viel Scheiß..."<br />

"Ja, hier oben schieben wir wenigstens ´ne ruhige Kugel."<br />

"Wenn´s hier in der verfluchten Zwölfe Namen nur mehr Nutten, Brannt und Rauschkraut gäbe. Und nicht so viel<br />

Kroppzeug im Meer rumschwimmen würde."<br />

Nun spitzte der Gallyser die Ohren. Eigentlich mussten die beiden gleich auf Gunelde zu sprechen kommen. Aber<br />

seine Erwartung wurde enttäuscht.<br />

"Vor allem diese scheiß Kraken. Letzten Monat wollte ich mal wieder ein Bad im Meer nehmen und so ein<br />

Mistvieh klebt mir plötzlich am Arsch. War zum Glück aber nur `ne kleine. Gab´ ein prima Abendessen..."<br />

"Hast du eigentlich den Schnaps noch, den aus Tuzak?"<br />

"Ja, wieso?"<br />

"Ich finde, wir sollten wieder mal so richtig einen heben."<br />

Odilon seufzte innerlich auf. <strong>Das</strong> Gespräch zog sich wider Erwarten in die Länge.<br />

"Du und deine verhurte Schnorrerei! Wie viel Saufzeug hab ich dir schon in Jergan ausgegeben, eigentlich...?"<br />

"Vergiss nicht, du schuldest mir noch was, seit der Geschichte mit dem Hauptmann."<br />

"Ghulscheiße, wie lange willst du noch auf dem alten Mist rumreiten?"<br />

"Wir saufen den Rum zusammen. Bin ja gar nicht so. Was zu vögeln wäre allerdings auch nicht schlecht."<br />

"Wieso, treibt es Emerjida nicht mehr mit dir? Hat wohl keine Lust, beim Belkelelspielchen ständig eins in die<br />

Fresse zu bekommen?" Der Stoppelhaarige lachte dreckig.<br />

"Scheiß doch auf die maraskanischen Weiber. Ich kann schwarze Haare und braune Haut nicht mehr sehen. Unsere<br />

kleine Meerjungfrau, die würde ich gerne mal verwöhnen."<br />

Nun wurde Odilon doch wieder hellhörig.<br />

"Lass mal, Kuno. Da fault dir am Ende noch der Pimmel ab, bei so einem xeraanischen Treibgut."<br />

"Hässlich ist sie nicht, die Kleine, das steht mal fest."<br />

"Ich sag´ dir, mit der stimmt was nicht. Treibt hier mit lauter Eis und so nem abgestochenen Fischmonster in die<br />

Bucht, lacht und stammelt in einem fort wirres Zeug, dass einem ganz anders wird."<br />

"Ich will mich mit der ja nicht unterhalten." Der Dicke kicherte vielsagend. "Außerdem ist sie ja nicht die erste, die<br />

hierzulande kirre wird."<br />

"Ja, und sie wird auch nicht die letzte sein. Ich sag dir, da steckt bestimmt was Dämonisches dahinter. Was aus der<br />

Blutigen See..."<br />

"Quatsch, ich hab doch mit dem Weibel gesprochen, der war beim Verhör mit dabei. Die kleine Schlampe ist so `ne<br />

Perainetante, zumindest hat sie `ne grüne Robe an. Oder besser gesagt, sie hatte mal was an." Der Söldner namens<br />

Kuno lachte lüstern. "Die Betschwester ist über Bord gefallen, als ihr Schiff <strong>von</strong> `nem anderen gerammt wurde,<br />

draußen im <strong>Maraskan</strong>sund. Dann gab es einen Kampf mit einem dieser Scheiß Fischgesichter, den hat sie mit<br />

einem Dolch alle gemacht. Hat halt Temperament, die Brünette. Die hat so fest zugestochen, dass sie jetzt selbst ein<br />

Loch hat, hähä, noch ein Loch, wo was rausläuft, im Bein. Dann hat sie sich an am Kadaver festgeklammert und ist<br />

irgendwann <strong>von</strong> einem Fischer aus dem Meer gezogen worden. So hat Ugdalf ihr Gestammel wenigstens<br />

verstanden. Aber die Betschwester ist so durch den Wind, die weiß nicht mal mehr ihren eigenen Namen,<br />

geschweige denn, wo sie herkommt. Irgendwo aus dem traurigen Rest vom Mittelreich, ihrer Sprache nach zu<br />

urteilen. "<br />

"Vielleicht spielt sie ja nur die Verrückte, wer weiß? Wenn sie nun eine Spionin ist?"<br />

"Die auf dem Festland sind vielleicht blöd, aber nicht so blöd, das sie ausgerechnet eine mit `nem Perainekittel<br />

schicken."<br />

"Was ist eigentlich aus dem toten Fischmaul geworden? Soll ja zum Fürchten ausgesehen haben..."<br />

"Was erwartest du? <strong>Das</strong>s das abergläubische Pack so ein Viech mit in den Hafen bringt? Nee´, nich mal tot nach<br />

oben treibend. Die wollen übrigens, dass auch die Namenlose kalt gemacht wird. Halten sie für einen Dämon, weil<br />

sie komische Sachen mit dem Wasser macht. In Eis verwandeln, und solche Scherze."<br />

"Was sagt der Hauptmann dazu?"<br />

"Naja, du weißt ja, Adelgunde kriecht den Marasken zurzeit in den Arsch. Heute Abend will sie die<br />

Peraineschickse lebend kochen, in so nem riesen Pott auf dem Dorfplatz. Also nich´ kalt machen, sondern ziemlich<br />

heiß."<br />

"Brr. Warum denn so was?"<br />

185


"Naja, weil sie zumindest mal eine <strong>von</strong> den Zwölfgötteranbetern ist. Wenn nicht sogar `ne Spionin. Aber für ´nen<br />

ordentlichen Scheiterhaufen gibt´s hier oben nich´ genügend Feuerholz. Also heizen wir ihr anders ein. Irgendwie<br />

nich´ schlecht: Wir verwandeln sie in Fleischbrühe, weil sie eine <strong>von</strong> denen ist, und die <strong>Maraskan</strong>affen freuen sich,<br />

weil sie sie für was aus der Blutsee halten. So was nennt man wohl zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen."<br />

Die beiden Söldner lachten gehässig.<br />

"Sieht so aus, als würde mal was geboten werden hier" feixte der Stoppelhaarige. "Dafür spendiere ich gerne einen<br />

Schnaps. Los, gönnen wir uns gleich mal einen Rachenputzer in der Schenke."<br />

"Verdammt gute Idee... Ich krieg schon wieder Durst."<br />

Die Männer gingen weiter, auf einer der Hütten am Dorfplatz zu, ohne die drei heimlichen Lauscher an der Wand<br />

bemerkt zu haben.<br />

„Also gut. Mein Schwesterlein ist am Leben, und sie ist in der Garnison untergebracht. <strong>Das</strong> ist immerhin etwas.<br />

Aber nur noch bis heute Abend, wenn wir nichts dagegen tun. Und ich wüsste ehrlich gesagt nicht was.“ fasste<br />

Alrik den Kenntnisstand der Gruppe zusammen.<br />

„Wir müssen da rein“ meinte Sigismund.<br />

„Natürlich. Vielleicht klopfen wir einfach an ´Tschuldigung, wir wollten mal eben Eure Gefangene befreien`. Die<br />

freuen sich bestimmt, wenn sie noch ein paar mehr Leute verbrennen können.“ Alrik war fast ebenso gereizt wie<br />

Odilon angesichts der Einwürfe des Streuners.<br />

„Ja, ungefähr so.“ gab Sigismund zurück.<br />

„Gehen wir logisch vor. Wie viele Büttel sind in der Garnison?“ fragte Odilon in den Raum, um die Frage sogleich<br />

selbst zu beantworten. „Wenn ich die Größe des Gebäudes so anschaue möchte ich mal sagen, dass dort nicht mehr<br />

als anderthalb Dutzend Söldner untergebracht sind. Auch wenn ein Drittel <strong>von</strong> Ihnen vielleicht irgendwo im Dienst<br />

eingeteilt ist und nicht in der Garnison weilt, sind es zu viele für einen Angriff. Bleiben die Möglichkeiten des<br />

verborgenen Kampfes oder auch eine gute List. Irgendwelche Vorschläge?“<br />

„Wir gehen einfach rein, wie ich schon sagte. Da wir bei Tageslicht wohl kaum heimlich rein kommen, gehen wir<br />

so offen rein, dass keiner meint, wir hätten etwas zu verbergen. Wir spielen Boltan, könnte man sagen. Beim<br />

Boltan gewinnt nicht, wer gute Karten hat. Es gewinnt der, <strong>von</strong> dem die anderen glauben, er hätte die besten<br />

Karten.“ Sigismund grinste.<br />

„Wie stellst Du Dir das vor?“ wollte Hesindian wissen.<br />

„Wir sind Agenten. Sagen wir in Diensten Rayo Brabakers aus Tuzak, die Jerganer könnte man hier vielleicht<br />

kennen. Wir haben eine Mission hier zu erledigen. Ich bin persönlich <strong>von</strong> Brabaker beauftragt, diese Mission<br />

durchzuführen, und ihr drei seid meine Söldner.“<br />

„Und das sollen sie glauben?“ Alrik war nicht da<strong>von</strong> überzeugt.<br />

„Warum nicht. Schließlich haben wir einen Geleitbrief. Hat jemand ein Blatt Pergament dabei?“<br />

„Im Tagebuch meines Großvaters sind noch ein paar leere Seiten drin. Wir könnten eine Seite heraustrennen.“<br />

„Sehr gut. Ich werde das Schreiben dann aufsetzen. Lasst mich nur machen.“<br />

„Ich bin da<strong>von</strong> noch nicht überzeugt. Was willst Du denn schreiben, damit es sich plausibel anhört?“<br />

„Meinst Du, dass das Söldnerpack lesen kann?“<br />

„Zumindest der Kommandant sollte es wohl.“<br />

„Entscheidend ist die Unterschrift. Deswegen nehme ich ja einen Namen aus Tuzak, weil der Kommandant die<br />

Jerganer Namen und Unterschriften kennen könnte.“<br />

„Du brauchst ein Siegel...“ gab Alrik zu bedenken.<br />

„Richtig, Haffax hat die Verwaltung, wie ich meinen möchte, im Wehrheimer Stil organisiert: Straff und mit<br />

Sicherheit geprägt <strong>von</strong> seiner Mittelreichischen Vergangenheit. Aber hast Du schon mal gesehen, wie ein Siegel<br />

nach drei Wochen Reise durch diese Hitze aussieht? Viel ist da nicht mehr zu erkennen, es darf also ruhig etwas<br />

mitgenommen ausschauen. Dann ist es genau richtig. Siegelwachs ist definitiv nicht geeignet für dieses Klima. Es<br />

reicht also, wenn ich das Tuzaker Wappen mit der Dämonenkrone einigermaßen gut treffe. Den Rest macht unser<br />

selbstsicheres forsches Auftreten, weil wir als Gesandte Rayo Brabakers sichtlich ungehalten werden, wenn so ein<br />

kleiner Postenkommandant meint, er könne sich wichtig machen.“<br />

„Gut, mal angenommen sie kaufen uns die Geschichte mit den Agenten ab. Dann sind wir zwar in der Garnison,<br />

aber was wollen wir da? Wie kommen wir an Gunelde heran?“ wollte Odilon wissen.<br />

„Sagen wir mal wir sind einem Kommandounternehmen auf der Spur. Eine Gruppe Dreizehnmal verfluchter<br />

Priester aus dem Mittelreich ist nach <strong>Maraskan</strong> eingedrungen, um die Bevölkerung zu einem Aufstand<br />

aufzuwiegeln. Die Perainedienerin soll daher zum Verhör nach Tuzak gebracht werden.“<br />

„<strong>Das</strong> glauben die doch nicht im Traum! Zwölfgötterpriester im Land der Zwillingsgötter wollen einen Aufstand<br />

initiieren. <strong>Das</strong>s ich nicht lache.“ zweifelte Alrik.<br />

„Warum nicht? Den Anführer des Kommandounternehmens, einen Praiosinquisitor, haben wir ja auch schon<br />

gefangen. Unterwegs haben wir <strong>von</strong> der Betschwester erfahren und vermuten, daß sie auch zu den Spionen gehören<br />

könnte. Deswegen müssen wir sie nach Tuzak bringen.“<br />

186


Odilon lachte laut auf. „Bei Phex, das könnte tatsächlich klappen.“<br />

„Wisst ihr, worauf ich mich am meisten freue? Ich darf den Inquisitorfuzzi fesseln und er kann nichts dagegen tun“<br />

lachte Sigismund, der die schmerzhafte Auspeitschung auf der Greif <strong>von</strong> Beilunk noch nicht vergessen hatte.<br />

Ein leichter ablandiger Wind sorgte an diesem Nachmittag für etwas Abkühlung, es war jetzt nicht mehr so schwül<br />

wie noch zur Mittagszeit. Alvan war aufgewacht, sie fühlte sich jetzt viel besser als in der Hitze zuvor. Sie war<br />

noch immer blass, aber das Fieber hatte nachgelassen.<br />

<strong>Das</strong> Boot bewegte sich nicht mehr stellte Alvan fest. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Sie befanden sich in einem<br />

Hafen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Alvan sich an das grelle Licht gewöhnt hatte und ihre Umgebung<br />

wahrnehmen konnten.<br />

„Sieh an, die Frau Priesterin ist auch wieder unter den Lebenden“ hörte sie eine Stimme. Selbfrieds Stimme. Alvan<br />

sah sich um. Der Inquisitor stand im Boot, der Fischer und seine Kinder waren gefesselt. Von ihren Gefährten<br />

fehlte jede Spur. Fragend sah sie den Praioten an.<br />

„Du hast fünf Stunden geschlafen, meine Tochter“ Selbfried war wieder in seinen gewohnten priesterlichen<br />

selbstherrlichen Tonfall zurückgefallen. Dieses Dorf hier heißt Gipflak, und die anderen sehen sich gerade etwas<br />

um. Reichlich lange sind sie schon unterwegs.“ Alvan sagte nichts. Ihr fiel nichts ein was sie sagen könnte. Sie<br />

konnte wieder klar denken und fieberte auch nicht, aber nach wie vor war ihr übel. Wenn nur Gunelde da wäre. Die<br />

würde wissen, was los mit ihr sei. Gunelde würde ihr sagen können, ob Alvan mit ihrer Vermutung richtig lag.<br />

Alvan hatte den Eindruck, als hätte der Inquisitor etwas sagen wollen, aber er schwieg. Stattdessen richtete er<br />

seinen Blick ins Landesinnere. Alvan sah in die gleiche Richtung und sah, was Selbfrieds Aufmerksamkeit fesselte.<br />

Die Gefährten kamen zurück <strong>von</strong> ihrem Landgang.<br />

„Oha, Alvan mein Liebling, Du bist aufgewacht.“ begrüßte Sigismund die Halbelfe. „Sehr gut, ich brauche Deine<br />

Hilfe.“<br />

Alvan verstand zunächst einmal gar nichts.<br />

„Gunelde wird oben in der Garnison gefangen gehalten. Es sind zu viele Söldner dort, um einen Überfall zu<br />

unternehmen, also greifen wir zu einer List.“ Odilon erklärte Alvan und Selbfried den Plan. Sigismund genoss den<br />

erschrockenen Gesichtsausdruck Selbfrieds, des Mannes, der ihn auspeitschen ließ, als das Gespräch auf Selbfrieds<br />

Rolle als Gefangener kam. Selbfried wollte schon protestieren, sah aber ein, dass er nachgeben musste. Immerhin<br />

konnte er Odilon überzeugen, die Fesseln so locker zu lassen, dass er sich notfalls befreien konnte. Alvan fiel die<br />

Aufgabe zu, Selbfried und die Fischer zu bewachen.<br />

„Jetzt müssen wir aber ein Geleitschreiben aufsetzen. Alvan, ich brauche dafür einen Namen. Wer könnte ein<br />

solches Geleitschreiben verfassen? Ich brauche eine Hochgestellte Persönlichkeit in Tuzak beispielsweise, die mit<br />

solchen Aufgaben befasst ist.“<br />

„Schreib Cjuk Stiij. <strong>Das</strong> ist die rechte Hand Rayos, wie man sagt, eine ausgesprochen geheimnisvolle<br />

Persönlichkeit, die niemand zum Feind haben möchte.“<br />

„Sehr gut.“ Sigismund entfernte vorsichtig eine Seite aus dem Tagebuch und griff nach der Feder, die Hesindian<br />

ihm reichte. Mit verschnörkelten, sehr offiziell aussehenden Buchstaben begann er zu schreiben.<br />

Eine ganze Weile schrieb der Streuner auf das vergilbte Honinger Büttenpapier, dann blies er etwas Sand über die<br />

großen, fast schon übertrieben verschnörkelten Kusliker Zeichen. Zum Abschluss schnitzte an einem Stück Kork<br />

herum, den er <strong>von</strong> einem der Fischernetze abgetrennt hatte, wofür er einen bösen Blick Honjins erntete.<br />

Odilon fiel auf, dass sie sich die ganze Zeit verflucht offen über ihre Pläne unterhalten hatten - in Gegenwart der<br />

Fischer, die vielleicht mehr Garethi verstanden, als ihnen lieb sein konnte. Ihren Gesichtern war nicht anzumerken,<br />

ob sie das Gesagte begriffe hatte und wenn ja, ob sie den Schelmenstreich gegen die Besatzer begrüßten oder ob sie<br />

eher dazu neigten, die Fremdijis an Bord ihres Schiffes an die Obrigkeit zu verraten. Den einen oder anderen Grund<br />

hatten sie ja mittlerweile dafür. Der Waldläufer kämpfte mit dem Wunsch, sie freizulassen, um ihr Vertrauen zu<br />

gewinnen. Aber nein, das war ausgeschlossen. Als ihre Gefangene hatten sie noch am meisten Anreiz, stillzuhalten<br />

und abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden. Irgendwie schade, denn eigentlich fand er diese Menschen<br />

nicht unsympathisch. Vor allem Honjins schwarzhaarige Tochter war hübsch und schien recht aufgeweckt zu sein.<br />

Nein, die Fischer hatten ihnen nichts getan, wenn, dann spielten sie hier die Schurkenrolle...<br />

Sigismund hatte unterdessen aus einer der Bootslaternen die Kerze entfernt und rührte nun in einem<br />

Reisschüsselchen der <strong>Maraskan</strong>er eine widerwärtige Mischung aus heißem, bräunlichem Kerzenwachs und rotem<br />

Fischblut an. <strong>Das</strong> Ergebnis, dass der Spieler auf das Pergament träufelte, wirkte farblich zwar nicht unbedingt wie<br />

ein mittelreichisches Siegel - dafür war der Farbton zu blutig -, aber für die Korrespondenz eines halbverrückten<br />

Kultisten sah es durchaus passend aus.<br />

Schließlich presste er den zum Siegel umfunktionierten Korkschwimmer auf die schwärzlichrostbraune Masse, der<br />

dort eine Dämonenkrone hinterließ, und sorgte mit einigen gleitenden Bewegungen dafür, dass das Zeichen<br />

möglichst verschwamm, ganz so, als sei es in den letzten Tagen großer Hitze ausgesetzt gewesen. Dann zerbröselte<br />

er den Korken und warf die Einzelteile in hohen Bogen ins Meer.<br />

187


"Hier ist unser offizielles Empfehlungsschreiben. Könntet Ihr noch einige Zeichen auf Zhayad darunter setzen?"<br />

Letztere Frage galt dem Magus. "Ein C und ein S als Zeichen unseres Auftraggebers?"<br />

Der Magier nickte und unterschrieb.<br />

Sigismund hatte das Pergament gerade zusammengerollt, als Alvan auf den Ortseingang wies. "Wir bekommen<br />

Besuch!"<br />

Tatsächlich, eine Handvoll Soldaten marschierte aus einem "Tor" in den aufgespannten Netzen geradewegs auf das<br />

Boot zu. Zwei <strong>von</strong> ihnen hatten Armbrüste, zwei weitere hielten die Hellebarden gesenkt. Der weißblonde<br />

Anführer trug lediglich ein Schwert an seiner Seite und ein Dolch am Gürtel, der das Kettenhemd unter dem<br />

schwarzen, auf der Innenseite blutrot gefütterten Mantel zusammenschnürte.<br />

"Scheint so, als wären sie endlich auf uns aufmerksam geworden."<br />

"Da kommen noch mehr!"<br />

Sigismund wies auf den Strand, wo sich ein weiteres halbes Dutzend Soldaten näherte. Offenbar wurde die Küste<br />

wirklich bestreift.<br />

"Wie sind sie nur so schnell auf uns aufmerksam geworden?" wunderte sich Hesindian.<br />

"Offenbar stehen oben auf den Felsen auch noch Posten?" meinte Odilon. "Nun, ja, viel sieht man <strong>von</strong> dort oben<br />

nicht, wenn man nicht wirklich Luchsaugen hat."<br />

"Dein Wort in der Zwölfe Ohr" seufzte Alvan.<br />

Die beiden Söldnergruppen stießen aufeinander und nahmen in einigen Schritt Entfernung Aufstellung. Armbrüste<br />

wurden auf das Fischerboot angelegt. Erst jetzt sah Odilon, dass der "Anführer" eine Frau war, auch wenn dies ob<br />

des Wehrheimer Bürstenhaarschnitts nicht auf dem ersten Blick zu erkennen war. Den Dicken und den<br />

Schnauzbärtigen dort hinten kannte er schon, auch wenn dies umgekehrt nicht der Fall war.<br />

"Belhalhar zum Gruße!" Die Stimme der Soldfrau klang schneidend kalt. Einer der Fische auf dem Korb begann<br />

konvulsivisch zu zucken, obwohl er eigentlich schon seit Stunden tot sein musste, Blut floss ihm aus dem Maul.<br />

Sigismund schauderte, dennoch zwang er sich dazu, mit einem "Die Zwölfe zum Gruße!" zu antworten. Hoffentlich<br />

nahm ihm die Offizierin ab, dass er damit die Erzdämonen meinte.<br />

"Was seid ihr denn für komische Vögel?" wollte die Frau wissen, während sie ebenso verblüfft wie misstrauisch<br />

die Szenerie umschritt. Dann schien sie es sich anders zu überlegen. "Raus dem Boot und Waffen niederlegen!<br />

Sofort!"<br />

<strong>Das</strong> war wirklich bester Wehrheimer Kasernenhofton.<br />

Als die Gefährten zögerten, ertönte überraschend ein weiterer Befehl. "Tötet zwei <strong>von</strong> ihnen!"<br />

Zwei Bolzen surrten mit Urgewalt heran. Einer durchbohrte den Kormoran (obwohl er auf den Inquisitionsrat<br />

gezielt war, der sich aber im letzten Moment zu Boden fallen ließ), der andere durchschlug Honjins Hals, so dass<br />

sein Blut die Gesichter seiner Kinder bespritzte. Alvan schrie entsetzt auf.<br />

"Was fällt euch ein, meine Gefangenen..." Sigismund, entschlossen, seine Rolle zu spielen, trat einen Schritt auf die<br />

Frau zu. Ein derber Hieb mit der eisengepanzerten Faust ließ ihn besinnungslos zu Boden sinken, ehe er überhaupt<br />

merkte, was mit ihm geschah.<br />

"Legt noch einen um, wenn sie nicht gehorchen!" schnarrte die Weißblonde. Eine Armbrust schwenkte, wie <strong>von</strong><br />

einem Automaten gesteuert, auf Alvan. Odilon sprang entsetzt vor seine Tochter und hob die Hände.<br />

"Was soll das, wir gehören zu euch..."<br />

"Die Waffen weg!" peitschte erneut die Stimme der Söldnerin über den Strand, während sie, wie nebenbei, ihr<br />

Schwert zog und beidhändig über die Schulterblätter des Streuners hielt, der sich gerade stöhnend wieder aufraffte.<br />

Erst jetzt bemerkte Odilon das wilde Bellen der beiden Tuzaker, die sich angetan mit Maulkörben und dicken<br />

Lederleinen, gegen den Griff der vier Strandwächter wehrten. Irgendwie sahen sie den Hundedämonen der Oronier<br />

verflucht ähnlich. Geistesabwesend, nur auf das Pochen in seinen Schläfen achtend, ließ er seinen Köcher und den<br />

Bogen zu Boden gleiten. Dann nestelte er an seinem Schwertgehänge, bis auch Wandelur polternd in das<br />

Bootsinnere fiel.<br />

Alvan tat es ihrem Vater gleich, und auch der Friedwanger ließ seine Klinge zu den anderen fallen. Hesindian<br />

lehnte seinen Stab gegen die Reling, während die Soldateska langsam näher rückte.<br />

"So, und nun alle auf den Strand legen, Gesicht nach unten und Hände auf den Rücken! Meine Geduld ist nicht<br />

unerschöpflich..."<br />

"Wir müssen tun, was sie sagt, sonst ist Sigismund tot!" flüsterte Alvan. Irgendwie erinnerte sie das alles - die<br />

Brutalität der Häscher und ihre eigene Ohnmacht - an die Verhaftung durch den Inquisitor, unweit Zorgan. Nur<br />

dass dieser wenigstens noch Praios dienen wollte, und die Blutsäufer dort nicht.<br />

Die drei stiegen aus dem Kahn und ließen sich auf den feuchten Boden gleiten, ganz so, als wollten sie die<br />

Schwarzmaraskaner anbeten. Es war unbequem, mit Händen auf den Rücken hier zu liegen, denn man konnte sich<br />

so nicht gegen das nassen Sand wehren, der einen in den Mund drang.<br />

Drei Wachen huschten heran. Schläge trafen ihre ungeschützten Nieren, den Rücken und ihren Nacken, dann<br />

wurden ihre Hände mit unglaublicher Brutalität zusammengeschnürt. Selbst Odilon schrie auf, als die Stricke sein<br />

Fleisch aufrissen und einer der Hunde ihm direkt vor seinem Gesicht seinen stinkenden Atem ins Gesicht bellte.<br />

188


"Was soll das? Wir sind Gesandte aus Tuzak, <strong>von</strong> Rayo Brabaker. Dort liegt unser Beglaubigungsschreiben!"<br />

Odilon wies mit dem Kopf auf die Pergamentrolle, die neben dem nun langsam wieder zu sich kommenden<br />

Sigismund lag. Die blonde, bürstenhaarige Anführerin - Odilon war sich mittlerweile sicher, dass es sich bei ihr um<br />

die Kommandantin namens Adelgunde handelte - spießte die Pergamentrolle mit der Schwertspitze auf und hob sie<br />

sich ans Gesicht.<br />

"Aus Tuzak kommt Ihr, soso." Die Soldatin entrollte das Papier. "Legt dem Magus einen Maulkorb an, ich möchte<br />

heute nicht noch weitere Überraschungen erleben!" sagte sie beiläufig. Alvan sah aus den Augenwinkeln, wie<br />

Hesindian ein Sack über den Kopf gezogen und mit einem Stoffetzen auf Mundhöhe festgezurrt wurde.<br />

"Wir sind im Auftrag <strong>von</strong> Cjuk Stiij hier, der rechten Hand Rayo Brabakers und..."<br />

Mit dem Daumen fuhr die Frau über das Schreibstück und warf das Schriftstück dann hämisch lächelnd zu Boden:<br />

"Hat man euch bei der KGIA nicht gesagt, dass Tinte mehrere Stunden braucht, bis sie trocken ist? Und dieser<br />

Dreckklumpen hier, ist das das neue Siegel eures Grafen und Reichsgeheimrats ... Dexter Nemrod?" Die Offizierin<br />

spie den Namen förmlich aus.<br />

Odilon fluchte innerlich. Aber so schnell wollte er noch nicht aufgeben.<br />

"<strong>Das</strong> Papier ist feucht geworden, weil es gerade im nassen Sand lag. Außerdem waren wir die letzten Tage auf<br />

hoher See, da ist es nun einmal feucht...Und die ständige Hitze ist für Siegelwachs auch nicht eben gut." Diese<br />

Lüge kam Odilon derart leicht <strong>von</strong> den Lippen, das er den Mut fasste, aufzutrumpfen: "Bei allen gehörnten<br />

Dämonen <strong>Maraskan</strong>s, Cjuk Stiij wird es überhaupt nicht gefallen, wie Ihr mit seinen Gesandten umspringt,<br />

Hauptmann Adelgunde!"<br />

Der Umstand, dass der Fremde ihren Namen wusste, ließ leichte Verunsicherung bei der Befehligerin aufsteigen.<br />

Zumindest dauerte es auffallend lange, bis sie antwortete. "Wer sagt, dass Cjuk Stiij, Rayo Brabaker oder sonst<br />

jemand in Tuzak jemals etwas <strong>von</strong> dem erfahren wird, was hier geschieht?" zischte es zurück. "Hier oben in<br />

Gipflak bin ich die Erste nach den Zwölf Erzdämonen, niemand sonst gibt hier Befehle!"<br />

Äußerlich resignierend legte Odilon seinen Kopf in den Sand, wo er schmerzhaft gegen einen der vulkanischen<br />

Kiesel stieß. Innerlich triumphierte er jedoch. Seine Gegenüber hatte gerade eben zumindest die Möglichkeit<br />

angedeutet, dass sie tatsächlich <strong>von</strong> dem Berater des Statthalters <strong>von</strong> Tuzak ausgeschickt worden sein könnten.<br />

Harnischklirrend trat die Söldnerin näher, bis ihr Schatten über dem Gesicht Odilons stand. "Aber ich glaube nicht,<br />

dass ihr aus Tuzak kommt. Mein Gefühl sagt mir, dass ihr zu dieser Peraineschlampe gehört, die gerade <strong>von</strong> der<br />

Schlange mit Samthandschuhen angefasst wird, hähä. Wo eine <strong>von</strong> euch Ratten herumschnüffelt, da ist der Rest<br />

vom Rudel meist nicht weit. Ihr Zwölfgötterkultisten taucht ja immer gleich im Dutzend auf, genauso wie Eure<br />

schwächlichen Götzen, hähä. Nein, ich hab´s in der Pisse, dass ihr Reichssche seid, das sieht man euch irgendwie<br />

an."<br />

"Ihr habt die Perainedienerin gefangengenommen? Nun gut, so habt Ihr wenigstens etwas, was für Euch spricht,<br />

wenn ich Exzellenz Stij Bericht erstatten werde" versuchte Odilon die Lüge weiterzuspinnen. "Und nun bindet<br />

mich und meine Leute gefälligst los, dann bin ich auch bereit, einiges <strong>von</strong> dem zu vergessen, was hier vorgefallen<br />

ist."<br />

"Wie großzügig. Aber noch bin ich mit unserem Kladj nicht fertig. He, du da" - in bestem Marascano wandte sich<br />

die Soldfrau an den Fischersohn, der totenbleich und mit dem Blut seines Vaters bespritzt am Mast stand<br />

"beantworte mir eine Frage: Was sind das für Leute und warum haben sie euch gefesselt?"<br />

Hasserfüllt brüllte der <strong>Maraskan</strong>er einen wüsten Fluch zu der Kommandantin hinüber, irgendetwas mit "Mörder!"<br />

und "Haffaxschweine!"<br />

"Sturdan, nagle den Kopf dieses Trottels an den Mast!"<br />

Erneut krachte ein Armbrustmechanismus. Der junge Fischer stand mit einem mal aufrecht und mit glasigen Augen<br />

da, denn der Armbrustbolzen hatte seinen Schädel durchbohrt und an das Holz des Masts geheftet.<br />

"<strong>Das</strong> war die falsche Antwort" lachte die Offizierin. Irgendwie klang ihre Stimme nach reinem Irrsinn. Es kam<br />

immer wieder vor, dass Befehlshaber <strong>von</strong> Außenposten vom Größenwahn dahingerafft wurden, dachte Odilon, und<br />

dies wohl nirgendwo schneller als dort, wo man den erzdämonischen Herrn des Schlachtens anbetete, der sinnloses<br />

Morden wie dieses hier liebte.<br />

Die Soldatin sprang mit wehendem Umhang aufs Boot, zog einen Dolch und hielt ihn dem verbliebenen Sohn<br />

Honjins an die Kehle, einem jungen Burschen, dem gerade der erste Flaum wuchs und der sicherlich noch keine<br />

vierzehn Götterläufe zählte: "Dein großer Bruder war wirklich sehr mutig, Mädchen!" säuselte die Blutsäuferin.<br />

"Dein jüngerer ist es nicht, denn er macht sich gerade vor Angst in die Hose. Also, gib mir jetzt eine kluge, keine<br />

mutige Antwort, und wähle sie gut, oder die Zahl deiner lebenden Verwandten wird bald sehr klein sein. Wie ist<br />

dein Name, Kind?"<br />

"Eff... Efferjina, Herrin."<br />

"Ein nicht sehr charyptorothgefälliger Name. Aber nun gut, du kannst ja nichts dafür. Sag mir, Efferjina, was sind<br />

das für Fremdijis, die dort im Dreck liegen, und warum haben sie euch gefesselt?"<br />

Die junge <strong>Maraskan</strong>erin antwortete bewundernswert ruhig und in fast akzentfreiem Garethi. "Sie kommen aus<br />

189


Tuzak und sind Gesandte eines... eines hohen Herrn <strong>von</strong> dort. Den Namen konnte ich mir nicht merken."<br />

"Aus Tuzak. Bist du dir ganz sicher?"<br />

<strong>Das</strong> Mädchen schluckte, nickte dann aber tapfer.<br />

"Warum haben sie euch an den Mast gebunden?"<br />

"Ich... ich glaube, sie hatten Angst, dass wir mit dem Boot da<strong>von</strong> segeln, während sie in Gipflak sind. Es gab Streit,<br />

weil Vater..." - nun entrang sich doch ein Schluchzen der Kehle des Mädchen.<br />

"Weil Vater was?"<br />

"Weil er ihnen nicht länger zu Diensten sein wollte."<br />

"Woher kommt ihr?"<br />

"Aus Sis... Sindibab." Wieder hemmungsloses, krampfartiges Weinen.<br />

"Gut. Ich denke, das genügt."<br />

Ein kratzendes Geräusch ertönte, als die Klinge der Schwarzmaraskanerin durch die Kehle des Jungen fuhr. Blut,<br />

vermischt mit Luftblasen, sprudelte aus der entsetzlichen Wunde hervor, während das Kind binnen mehrerer<br />

qualvoller Herzschläge starb.<br />

<strong>Das</strong> Weinen Efferjinas wurde zu einem gräßlichen Aufschrei. Ungerührt wischte die Söldnerin ihre Klinge an den<br />

Wangen des Mädchens ab, das vor Grauen und Trauer beinahe die Besinnung verlor.<br />

"Entweder du hast mich angelogen, Efferjina, oder ihr habt euch ungehorsam gegen Leute verhalten, die in euren<br />

Augen Diener des Fürstkomturs waren. Beides verdient Bestrafung." Die Frau steckte ihren Dolch in den Gürtel,<br />

leckte sich den blutigen Daumen und murmelte dann, den Blick zum Himmel gewandt, eine Anbetungsformel, <strong>von</strong><br />

der Odilon nur den verruchten Namen "Belhalhar" verstand. Gurgelnd stürzte ein letzter Schwall Blut aus dem<br />

nunmehr schneeweißen Hals des jungen <strong>Maraskan</strong>ers. Bei diesem Anblick fiel das Mädchen endgültig in eine<br />

gnädige Ohnmacht.<br />

"Warum sind Gesandte des großen Cjuk Stiij eigentlich mit einem Fischerkahn aus Sindibab unterwegs?" Letztere<br />

Frage galt Odilon, wie ihm ein ungeduldiger Fußtritt einer der Wachen in die Seite verdeutlichte.<br />

"Unser Schiff ist <strong>von</strong> einem Geisterschiff versenkt worden" antwortete er nach einem längeren Stöhnen.<br />

"So ein Zufall, das gleiche behauptet das Storchenweibchen in meinem Kerkerloch auch, wenn ich ihr wirres<br />

Gestammel richtig deute."<br />

"Kein Wunder, wir haben ihr Schiff zuvor ja auch auf hoher See aufgebracht und sie mit anderen mittelreichischen<br />

Spionen gefangengenommen, die in <strong>Maraskan</strong> einen Aufstand der Bevölkerung anzetteln sollte. Es waren Priester<br />

der Zwölfgötter, darunter auch dieser Inquisitionsrat...Sein Name ist Selbfried, und er wird sich gerade ins<br />

Fäustchen lachen, wenn er sieht, wie sich SEINE Diener gegenseitig zerfleischen."<br />

"Gegenseitig zerfleischen? <strong>Das</strong> trifft wohl kaum eure derzeitige Lage. Wie hieß euer Schiff noch gleich?"<br />

"Fran-Horas."<br />

"Und sein Kapitän?"<br />

"Mercurio Mirhamdez."<br />

"Wie hieß das Schiff der Mittelreicher?"<br />

"Greif. Greif <strong>von</strong> Beilunk."<br />

"Wie passend. Gut ausgedacht. Und dieser Mercurio Mirandez stammt aus Tuzak?"<br />

"Nein, Mercurio Mirhamdez" Odilon betonte den Namen, denn er kannte diesen alten Verhörtrick, "ist ein<br />

Freibeuter auf eigene Rechnung. Diesmal fuhr er im Auftrag <strong>von</strong> Stiij, um feindliche Infiltratoren abzufangen."<br />

"Und die Hela-Horas wurde <strong>von</strong> euch versenkt?"<br />

"Nein, die Fran-Horas war unser Schiff und wurde unlängst <strong>von</strong> einem Geisterschiff gerammt und ist gesunken.<br />

Wie lange soll ich hier eigentlich noch im Dreck liegen und unnütze Fragen beantworten?"<br />

"Du kannst auch die Fragen der Schlange beantworten, wenn dir das lieber ist, mein Lieber. Aber der Tobrier wird<br />

euch dann nicht so zart anfassen wie ich. Von welchem Banner kommt ihr?"<br />

"Von keinem. Wir sind hier mit einem Sonderauftrag unterwegs, wie oft soll ich es denn noch sagen?"<br />

"Kein Banner... Also gehört ihr zu den Samthandschuhen?"<br />

"J..ja, doch" Odilon wusste nicht recht, was er mit diesem Begriff anfangen sollte. Aber er hörte sich irgendwie<br />

nach pervalischem Folterknecht und heimlichen Vorgehen an, da mochte er durchaus auf Agenten Rayo Brabakers<br />

passen.<br />

"Ihr habt euch noch nicht vorgestellt. Wie sind eure Namen?"<br />

"Ich heiße Berngrimm, die da neben mir Schejha, der dort Alrik und der Magus Sindian. Der, den ihr<br />

zusammengeschlagen habt, ist unser Anführer, Sigbert" Odilon sprach die Namen laut und deutlich aus, in der<br />

Hoffnung, dass auch die anderen sie mitbekamen - und Sigismund keine anderen in dem Brief genannt hatte.<br />

"Wulfgrimm, Saja, Sindor, Sigwald und - Alrik, natürlich." Die Offizierin setzte sich auf die Wand des<br />

Fischerbootes, als wolle sie es sich dort für den Rest des Tages gemütlich machen.<br />

"Berngrimm, Schejha, Sindian, Sigbert und Alrik. Lasst doch die albernen Spielchen" knurrte Odilon. Er erwartete<br />

einen derben Fußtritt, der allerdings ausblieb. War dies schon ein gutes Zeichen?<br />

"Wie lange bist du schon im Ordensland <strong>Maraskan</strong>, Berngrimm?"<br />

190


"Mehrere Jahre. Verdammt, was soll das werden? Ein Verhör? Dann müsst Ihr uns schon getrennt befragen, so<br />

bringt das doch nichts. Ich könnte dir jede Geschichte erzählen und meine Gefährten würden sie bestätigen."<br />

Ein belustigtes Auflachen. "Ich danke dir für deinen Ratschlag. Schade, dass du nicht derjenige bist, der hier<br />

verhört, nicht wahr? Sag, bevor du nach <strong>Maraskan</strong> gekommen bist, wo warst du da?"<br />

"Im Krieg natürlich, wo sonst?"<br />

"Wann genau bist du zu SEINEN Truppen gekommen?"<br />

"<strong>Das</strong> war zur Zeit der Schlacht <strong>von</strong> Altzoll. Da bin ich übergelaufen, weil ich gemerkt habe, dass das Mittelreich<br />

den Krieg nicht mehr gewinnen kann. Aber was soll die endlose Fragerei?"<br />

"Welchen Rang hattest du damals?"<br />

"Korporal."<br />

"Nur Korporal? So ein prächtiges Kerlchen wie du, weiland sicherlich schon an die fünfundvierzig Götterläufe alt,<br />

und bringt es nur zum Korporal? Nicht sehr glaubwürdig und vielleicht gerade deswegen wahr. Immerhin hattest<br />

du damit einen Grund, dein Glück anderswo zu suchen. Welche Einheit?"<br />

"Darpatische Landwehr."<br />

"Nicht gerade die Besten der Besten. Bei Altzoll bist du übergelaufen, soso. Dann müsstest du die Schlange<br />

eigentlich kennen. War einer unserer Spione zur Zeit der glor- und blutreichen Schlacht am Radrom, als Korporal<br />

in der darpatischen Landwehr. Heute gehört er zu den Samthandschuhen. Und zuletzt war er ziemlich lange in<br />

Tuzak. Ja, ich bin sicher, dass du den Tobrier kennen müsstest, und seinen wahren Namen. Immer vorausgesetzt,<br />

dass du mir hier nicht bloß mittelreichische Märchen auftischst... Also, wie lautet der Name der Schlange?"<br />

Odilon schwieg. Verdammt, natürlich kannte er diesen Borbaradianer nicht, oder? Irgendwie kamen ihm die<br />

genannten Einzelheiten entfernt vertraut vor. Altzoll, Radrom, darpatische Landwehr... Nun gut, er hatte damals<br />

selbst in dieser Gegend gekämpft, mit dem Gallyser und Friedwanger Aufgebot in der Feste Radromsfort, und war<br />

sogar einmal in Gefangenschaft des Feindes geraten. Aber selbst wenn er nun den richtigen Namen nannte, was<br />

völlig ausgeschlossen war, der Folterknecht in Gipflak würde ihn nicht als Seinesgleichen erkennen.<br />

"Ach, wie soll ich euch nur glauben können, wenn ihr nicht einmal den Vertreter der Samthandschuhe in Gipflak<br />

kennt? Ich zähle nun bis zehn, Berngrimm, und wenn du bis dahin besagten Namen nicht ausgesprochen hast, dann<br />

ist dein Freund dort leider tot." Adelgunde wies zu Sigismund, der mit blutender Nase im Griff zweier Söldner<br />

hing, während ein dritter hinter ihm die Armbrust spannte und einen Bolzen auflegte.<br />

"Eins...zwei..."<br />

Odilon blieb keine Zeit darüber nachzudenken, wer die "Schlange <strong>von</strong> Gipflak" war. Wenn Du einmal die Antwort<br />

nicht kennst, stelle eine bessere Frage. Dieser Spruch kam ihm wieder in den Sinn. Rallion, Jirkas Vater aus dem<br />

Silberbuchenwald, hatte das einmal zu ihm gesagt, nachdem er ein ums andere Mal in Wortgefechten gegen die<br />

feinzüngigen Elfen als unterlegener hervorgegangen war. Oder gib eine andere Antwort die noch viel besser ist als<br />

die erwartete.<br />

"Hauptmann Adelgunde, dein Impulsives und aufbrausendes Temperament wird dich eines Tages noch den Kopf<br />

kosten. Mit etwas mehr Beherrschung hättest Du mehr erreicht als nur Postenkommandant eines unbedeutenden<br />

Kaffs am Ende der Welt zu sein."<br />

"Drei!"<br />

"Du musst zwei Möglichkeiten in Betracht ziehen. Entweder ich spreche die Wahrheit, dann würdest Du Dir die<br />

Mächtigen in Tuzak zum Feind machen wenn du dich an uns vergreifst. Oder ich lüge dir etwas vor und wir sind in<br />

Wahrheit Spione des Mittelreiches. In diesem Fall läßt du dir die Chance entgehen, uns lebend zu fangen und uns<br />

auf der Folter wichtige Informationen zu entlocken. In beiden Fällen bist du am Ende der Verlierer."<br />

"Vier!"<br />

Odilon lächelte Adelgunde mit seinem freundlichsten Gesichtsausdruck an, der in dieser Situation selbstsicher und<br />

überlegen wirkte, gerade weil Adelgunde merkte, das dieses freundliche Lächeln alles andere als ehrlich gemeint<br />

war.<br />

"Fünf!"<br />

Adelgunde versuchte unbeeindruckt zu wirken, aber Odilon war das leichte Zittern in der Stimme der Hauptfrau<br />

nicht entgangen. Die Schlange. Plötzlich erinnerte sich Odilon wieder an die Ereignisse in Ährengatter, wo er<br />

gegen die Verderbten gefochten hatte. Die Gallyser und Friedwanger Landwehr waren dort am Radromufer<br />

stationiert gewesen, als ein Tobrier, der der Friedwanger Landwehr angehört hatte, das Brunnenwasser mit<br />

Duglumskraut vergiftet hatte. Der Tobrier war geflohen, er hatte hierfür ein am Ufer versteckt bereit gehaltenes<br />

Boot genutzt. Odilon hatte versucht, ihn schwimmend zu verfolgen, hatte aber natürlich keine Chance gehabt.<br />

Ortwin Natter hieß der Verräter. War die Natter zur Schlange aufgestiegen? Vielleicht. Aber jetzt diesen Namen zu<br />

nennen hieße einen hohen Einsatz auf ein mittelmäßiges Blatt zu setzen. Vor Neun würde er diesen Namen nicht<br />

nennen. Nicht ohne sich sicher zu sein.<br />

„Was meinst Du, was man mit Dir macht, wenn man da<strong>von</strong> erfährt? Wer sich mit den Samthandschuhen anlegt,<br />

wird dafür zur Rechenschaft gezogen werden, und das wird keine angenehme Todesart, das kann ich Dir<br />

191


versprechen. Und wer mutmaßliche hochrangige Agenten des KGIA gefangen nimmt und diese aus ungezügelter<br />

Mordlust meuchelt, anstatt sie zu verhören hat nicht viel Angenehmeres zu erwarten. Und mach Dir keine<br />

Hoffnungen, das geheim halten zu können. Die Schlange wird das schon erfahren, außer du bringst deine Söldner<br />

auch gleich um. Oder meinst du nicht dass sonst der Kladj den Rest besorgen wird? Und selbst das musst Du<br />

erklären. Und du wirst arge Erklärungsnöte bekommen. Man hat dich schließlich nicht nach Gipflak abgeschoben,<br />

weil man ein so immenses Vertrauen in Dich hat.<br />

„Sieben“ Odilon meinte, ein leichtes Zögern aus der Stimme der Hauptfrau herauszuhören.<br />

„Wegen deiner überragenden Intelligenz bist du jedenfalls nicht hier her gekommen. Nach der Fünf kommt die<br />

Sechs.“ Korrigierte Odilon.<br />

„Bei Charyptoroth, dann eben sechs. Ich hab dir eine Frage gestellt und warte auf Antwort. Statt hier um den<br />

heißen Brei zu reden könntest du einfach antworten und wir könnten uns das Theater hier sparen.“ Adelgunde war<br />

sichtlich ungehalten. Daß dieser Berngrimm keinerlei Furcht zeigte, irritierte sie zusehends. Odilon seinerseits<br />

beschloss, einen Versuchsballon steigen zu lassen.<br />

„Sehr richtig. Und anstatt hier die große Frau zu markieren, hast du noch Zeit bis du bei Neun bist, um dich für eine<br />

vernünftige Handelnsweise zu entscheiden. Die Natter hat es gar nicht gerne, wenn man sich gegenüber den<br />

Samthandschuhen nicht zu benehmen weiß.“<br />

„Er hat es auch nicht gerne, wenn man ihn als Natter nennt. Er kann da sehr sauer werden.“<br />

Beinahe hätte Odilon laut aufgejubelt. Ungewollt hatte Adelgunde ihm bestätigt, was er vermutete.<br />

„Ja, ich weiß. Die Natter ist zur Schlange aufgestiegen. Und jetzt bring uns zu ihm. Wir haben sind schon eine<br />

Weile hinter diesen Zwölfgötterkultisten her. Die Peraineschlampe muss ebenso wie dieser Praiosfuzzi nach Tuzak<br />

gebracht werden.<br />

„Sieben und Acht!“ <strong>Das</strong> zweimalige Zählen konnte die Nervosität in der Stimme Adelgundes nicht verbergen.<br />

„Also was nun, Hauptfrau? Bringst du uns nun zu Ortwin der Schlange oder soll Sigbert dir ein besonderes Kapitel<br />

in seinem Bericht widmen?“<br />

"N... Nun..." verhaspelte sich Adelgunde, die wohl erst "Neun" sagen wollte.<br />

Fluchend presste der Söldner hinter "Sigbert" seinem schwitzenden, blutenden Gefangenen die Armbrust ins<br />

Genick, der eher verstört und benommen als ängstlich wirkte. "<strong>Das</strong> bringt doch nichts, Hauptmann. Ortwins Namen<br />

kann dieser Orkarsch überall aufgeschnappt haben. Weiß der Dreizehnte, woher er den Eurigen kennt. Los, legen,<br />

wir die verdammten Brüderschwestern um, dann schreiben die überhaupt keine Berichte mehr, an niemanden."<br />

Hauptmann Adelgunde wollte zu einer scharfen Erwiderung ansetzen - offenbar passte es ihr überhaupt nicht, wie<br />

hier <strong>von</strong> allen Seiten ihre Autorität angezweifelt wurde, als ein Schatten in die Reihen der Schwarzmaraskaner trat.<br />

Ein Mann in dunkelgrauem, fast nachtschwarzen Umhang, der ein weinrotes Wams und schwarze Pluderhosen<br />

trug. Der Kopf war mit einer schwarzen Sendelbinde umwickelt, die dem Mann zum einen etwas Geckenhaftes,<br />

zum anderen etwas höchst Unmaraskanisches gab. Ein blondes und bleiches, leicht aufgedunsenes, nicht allzu<br />

kluges Gesicht, das eine bäuerliche Abkunft zeigte, blonder Vollbart, kräftige Nase, wässrigblaue Augen. Lediglich<br />

die roten Samthandschuhe, <strong>von</strong> der einer neben einem Stilett mit Totenkopfverzierung im Gürtel hing, der andere<br />

die Rechte des Mannes bedeckte, waren an dieser Gestalt auffällig, und Odilon merkte erst jetzt, als seine<br />

Anspannung ein wenig nachgelassen hatte, dass der Fremde wohl schon seit mehreren Augenblicken ihrer<br />

Unterhaltung folgte.<br />

"Der Mann hat recht, Eure Verhörmethoden sind wirklich lausig" beschwerte sich eine Stimme, die ebenfalls nicht<br />

besonders laut, hell, tief, drohend oder gefährlich, eher beiläufig und harmlos klang. Wirklich einprägsam war<br />

allein ihr an leises Schafsgeblöke gemahnender tobrischer Akzent.<br />

Hier stand das Reinbild eines Spitzels, der zu anderen Zeiten einen meckernden Unfreien bei den Bütteln des<br />

Barons anschwärzen oder das Getreideversteck unter dem Dielenboden verraten würde und nur in einer<br />

Schreckensherrschaft wie der des Heptarchen zu Macht und Einfluss aufsteigen konnte. War dieser Mann wirklich<br />

Ortwin Natter, der Verräter, den Odilon am Radrom noch einen Pfeil nachschicken wollte, was er damals leider<br />

nicht mehr geschafft hatte? Der Gallyser musste zugeben, dass er ihn zumindest dem Gesicht nach nicht wieder<br />

erkannte, aber der Rücken dieses Mannes war auch das einzige gewesen, was er <strong>von</strong> ihm bewusst wahrgenommen<br />

hatte, und die Gewandung unterschied sich doch deutlich <strong>von</strong> dem, was er als Korporal in friedwanger Diensten<br />

getragen hatte. Der Rubinring an den Händen, mit dem hatte es doch auch so eine Bewandtnis. Aber war der<br />

Bursche damals nicht ein wenig größer und kräftiger gewesen?<br />

Irgendwie sah an ihm wirklich nichts einprägend oder bedeutsam aus, das schmutzige Blond der Haare hätte<br />

genauso gut ein helles Braun sein können. Selbst die protzigen roten Samthandschuhe wirkten wie das selbst<br />

erfundene Statussymbol eines Mannes, der es nötig hatte, wenigstens ab und an seine wahre Machtstellung durch<br />

derartige Spielereien zu unterstreichen. Aber vermutlich war gerade dieser Eindruck die schärfste Waffe dieses<br />

Mannes: Man unterschätzte ihn, lächelte über ihn, so man ihn überhaupt wahrnahm...<br />

Allerdings schien sich Ortwin Natter ebenso wenig an Odilon erinnern zu können, auch wenn er sich gerade<br />

sichtlich überlegte, ob er ihn nicht schon mal irgendwo gesehen hatte. Aber der Waldläufer hatte ihn nie <strong>von</strong><br />

Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, den Magus Hesindian kannte Ortwin schon etwas besser, aber damals<br />

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hatte dieser noch keinen Bart und keine schlohweißen Haare getragen (vor allem trug Hesindian gerade einen<br />

schmutzigen Lumpensack über den Kopf).<br />

Ortwin hob das Papier auf, dass Adelgunde achtlos auf den Boden hatte fallen lassen und studierte es. "Sie<br />

behaupten, aus Tuzak zu kommen?"<br />

Der Hauptmann bejahte. "Kennt Ihr diese Burschen?" Ihrer Stimme und ihrem Blick war anzumerken, dass sie die<br />

"Schlange" nicht sonderlich leiden konnte, ihr zumindest nicht über den Weg traute.<br />

Der Spion ignorierte die Frage und ließ einen prüfenden Blick über Sigismunds Fälschung gleiten. In Odilon stieg<br />

ernste Sorge auf, dann merkte er, dass die Schlange nichts <strong>von</strong> dem Geschriebenen las - weil er nicht lesen konnte?<br />

- sondern ausgiebig das Siegel studierte. Nur Mut, dachte er. Haffax wird kaum seine besten Leute in diesem<br />

abgelegenen Küstenkaff stationiert haben. Im Grunde ist es eine halbe Bestrafung, hierher an den äußersten Rand<br />

<strong>Maraskan</strong>s geschickt zu werden.<br />

"Sie behaupten, dass sie <strong>von</strong> Cjuk Stiij geschickt wurden, um mittelreichische Spione einzufangen..."<br />

Adelgunde schüttelte ungläubig den Kopf.<br />

"Ja, ich glaube, ich habe zumindest den da, diesen Berngrimm" er deutete mit dem Fuß auf Odilon und "schon mal<br />

irgendwo gesehen. Vielleicht in Tuzak, vielleicht auf dem Festland, ist wohl schon eine Weile her. Dieses Siegel<br />

hier ist jedenfalls echt. Wäre es gefälscht, dürfte man daran keinerlei Anzeichen der maraskanischen Hitze<br />

erkennen, da die Spione ja dann geradewegs über das Meer hierher gekommen wären." Stolz auf seinen Scharfsinn<br />

wippte der Samthandschuh auf seinen Stiefeln. "Ihr habt Befehl, diese Therbûnitin so schnell wie möglich nach<br />

Tuzak zu bringen?"<br />

"So ist es der Wille <strong>von</strong> Exzellenz Stiij." Odilon nickte, soweit seine Lage dies zuließ.<br />

"Und woher wissen Exzellenz Stiij in Tuzak, dass diese besagte Frau sich überhaupt in Gipflak aufhält? Immerhin<br />

ist sie erst seit kurzer Zeit hier..."<br />

"Nun, wie gesagt, wir haben vor ein paar Tagen ihr Schiff aufgebracht, nachdem wir einen Hinweis erhalten<br />

hatten, wonach mittelreichische Spione <strong>von</strong> Zorgan aus nach <strong>Maraskan</strong> eindringen wollten. Aber unser eigenes<br />

Schiff, die Fran-Horas, wurde kurz darauf <strong>von</strong> einem Geisterschiff versenkt, und die Perainedienerin ist bei dieser<br />

Gelegenheit über Bord gegangen."<br />

"Diesen Unsinn hat sich dieser Bursche doch gerade ausgedacht" fauchte Adelgunde.<br />

"Ach ja, hat er das? Und meinen Namen hat er sich wohl ebenfalls ausgedacht, wie? Nein, meine werte<br />

Adelgunde, Ihr habt euch in eine missliche Lage manövriert und wollt es nun nicht zugeben. Aber damit verfangt<br />

ihr euch nur noch mehr im Netz." Der Tobrier wies auf den gefesselten Selbfried.<br />

"Diesen Praiosgeweihten dort habt ihr ebenfalls gefangengenommen?"<br />

"Ja. Ich glaube, er ist ein ordentlicher Inquisitionsrat."<br />

"Ein Inquisitor ? Ein fetter Fang, fürwahr, eine fürstliche Beute. Der Praiot muss so schnell wie möglich in Jergan<br />

vorgeführt werden. Ein sprudelnder Quell <strong>von</strong> Informationen und ein wahrlich prächtiges Opfer für die<br />

Bluttempler. Der Fürstkomtur wird zufrieden mit uns sein, o ja, er wird sogar sehr zufrieden sein."<br />

Der Tobrier betonte das "uns" und rieb sich vergnügt die Hände. <strong>Das</strong> war wohl die langersehnte Gelegenheit, aus<br />

Gipflak wegzukommen und in höhere Kreise aufzusteigen.<br />

"Verzeiht, wir haben eigentlich Befehl, die Gefangenen nach Tuzak zu bringen. Außerdem, könntet Ihr vielleicht<br />

einmal unsere Fesseln lösen, es wird langsam unbequem."<br />

"Sicher." Ortwin schien bereits zu überlegen, wie er selbst den Löwenanteil an der Belohnung für die<br />

Gefangennahme zweier Spione einheimsen konnte. "Weibel, die Gefangenen losbinden."<br />

Odilon stöhnte, als der Druck auf seine Handgelenke mit einem mal schwand. Schmerzend kehrte das Blut in die<br />

Adern zurück.<br />

Auch die übrigen Gefährten wurden nun losgebunden und Sigismund losgelassen, der seufzend in die Knie ging.<br />

Enttäuscht hob der Söldner hinter ihm die Armbrust an, spuckte aus und patschte dann seinem Vordermann<br />

begütigend auf die Schulter, als sei dies alles nur ein etwas rauer Scherz unter Söldner gewesen: "Nichts für ungut,<br />

Kamerad, wir mussten doch sichergehen, dass ihr kein doppeltes Spiel treibt."<br />

Der Streuner murmelte etwas unverständliches, während er sein Taschentusch gegen das aus seiner Nase<br />

hervorsprudelnde Blut presste.<br />

Einen zurückweichenden Feind soll man goldene Brücken bauen, dachte Odilon und sagte laut: "Nun, ich werde<br />

Euren Eifer und Eure, äh, Umsicht lobend erwähnen, Hauptmann Adelgunde. Aber ich habe Befehl, die<br />

Gefangenen so schnell wie möglich nach Tuzak zu bringen." wandte er sich wieder in Richtung des<br />

"Samthandschuhs".<br />

"Karmothkacke" fauchte Ortwin. "Was glaubt dieser Cjuk eigentlich, wer und was er ist? Wichtiger als der<br />

Fürstkomtur? Kommt nicht in Frage. Diese Gefangenen kommen nach Jergan. Ich werde euch begleiten, damit<br />

nicht wieder etwas Unvorhergesehenes geschieht. Wann können wir mit der Rückkehr eines unserer Schiffe<br />

rechnen?"<br />

Letztere Frage galt Adelgunde. "Am frühesten wird hier wohl die `Dämonenkrone´ eintreffen. In spätestens zwei<br />

bis drei Tagen..."<br />

193


"Zwei oder drei Tage ?! <strong>Das</strong> ist mir eindeutig zu lang" beschwerte sich Odilon.<br />

"Nun gut, dann müssen wir eben auf einen Fischkutter ausweichen. Eure Leute können ja schon mal einen<br />

beschlagnahmen, Hauptmann. Zwei Söldner werden uns nach Jergan begleiten, ich denke, das wird als Ehrengeleit<br />

für den Pfaffen" - ein hämisches Kichern - "genügen. Ach, und die kleine <strong>Maraskan</strong>erin da am Mast- irgendwie<br />

fühle ich mich für sie verantwortlich, jetzt, wo sie keinen Ernährer mehr hat. Nehmen wir sie mit, ist was Hübsches<br />

für unterwegs und das Truppenbordell. Nach Fisch stinkt sie ja eh´ schon." Die Schlange lachte dreckig. "Aber nun<br />

ruht euch erst mal ein bisschen bei uns aus, Berngrimm. Ihr und eure Leute hattet eine anstrengende Reise, wenn<br />

ich mir euch so ansehe." Mit anbiedernder Freundlichkeit sah die Schlange in die Runde. Als er das Gesicht des<br />

Magus sah, stutzte er für einen kurzen Moment, lächelte dann aber wieder schmierig. Er schien wirklich nicht das<br />

beste Gesichtergedächtnis zu haben.<br />

"Lolgramoth hat euch wahrlich übel mitgespielt, aber jetzt könnt ihr erst mal ausspannen. Was darf´s denn sein?<br />

Weiber, Lustknaben, Schnaps, Rauschgurken? Mal wieder was Ordentliches zwischen die Beißerchen wäre wohl<br />

auch nicht schlecht, hä? Na kommt schon, macht nicht so ein griesgrämiges Gesicht, nur weil ihr eure Beute jetzt<br />

teilen müsst, dafür habt ihr vom alten Schlächter in Jergan ja auch mehr Dankbarkeit zu erwarten als <strong>von</strong> eurem<br />

Gönner in Tuzak..."<br />

„Wozu einen Fischkutter beschlagnahmen, wir haben doch schon einen Segler hier. Drei Mann sind <strong>von</strong> Bord, da<br />

ist für Euch und Eure zwei Söldner doch allemal Platz.“ Odilon zog es vor, auf das letzte Angebot der Schlange<br />

nicht einzugehen. Lustknaben und Rauschkraut widerten ihn schlicht an. Er zog es vor den Diensteifrigen zu<br />

markieren. „Jergan oder Tuzak ist mir schnurz, aber wir stehen im Dienst seiner Exzellenz Cjuk, wir können und<br />

dürfen nicht gegen Cjuks Befehl handeln.“ Odilon meinte einen Anflug <strong>von</strong> Zorn auf Ortwins Gesicht zu sehen.<br />

„Aber wenn wir auf dem Weg nach Tuzak in Jergan ankern um Wasser und Proviant zu laden, hindert Euch<br />

natürlich niemand daran, Eurer Pflicht gemäß dem Fürstkomtur Bericht zu erstatten. Wenn der Fürstkomtur dann<br />

anders entscheidet und die Gefangenen in Jergan haben will, ist es mir auch recht, dann kann jedenfalls niemand<br />

die loyale Ausführung unseres Auftrages anzweifeln.“ Odilon lächelte. Ganz bewusst ließ er Ortwin die Hoffnung,<br />

dass er selbst Haffax berichten könne. Ortwin schien damit zufrieden. Wohl der richtige Augenblick, die nächste<br />

Forderung durchzusetzen.<br />

„Jedenfalls schätzen es weder Cjuk noch der Fürstkomtur höchstselbst, wenn man seine Zeit mit Lustknaben und<br />

Dirnengesindel verbringt und dabei seinen Auftrag vernachlässigt. Glaubt mir, ich hatte einmal die Ehre Haffax zu<br />

begegnen und weiß, dass er Disziplin und Pflichterfüllung über alle Maßen schätzt. Bis Jergan ist es nicht weit,<br />

wenn wir jetzt in See stechen, sind wir morgen noch vor Sonnenaufgang dort.“ <strong>Das</strong> war noch nicht einmal gelogen.<br />

Er musste ja nicht hinzufügen, daß er General Haffax während der Ogerschlacht begegnet war, als dieser noch auf<br />

der richtigen Seite kämpfte. Jetzt zählte allein möglichst rasch <strong>von</strong> Gipflak in See zu stechen. Erst einmal auf See,<br />

dürfte es kein Problem sein, die Schlange und seine zwei Söldner zu überwältigen. „Hauptmann Adelgunde“ fuhr<br />

Odilon fort und erreichte mit dem Wechsel seines Gesprächspartners zugleich, dass Ortwin gegen die Anweisung<br />

Odilons nicht wiedersprechen konnte. „Ich wäre Euch dankbar, wenn ihr einen paar Fischer rufen würdet, der<br />

unseren Segler <strong>von</strong> dem Fischzeugs befreit. <strong>Das</strong> stinkt ja erbärmlich. Fünf Körbe wird der charyptorothverfluchte<br />

Mist schon füllen.“ Sie konnten mit dem Fisch nichts anfangen, und so kam er wenigstens den Gipflakern zugute.<br />

Adelgunde nickte kurz, noch immer mit einer säuerlichen Miene, aber sie widersprach nicht. Auf einen Wink <strong>von</strong><br />

ihr beeilte sich einer der Söldner, dem Befehl nachzukommen. Hesindian derweil geleitete den etwas<br />

mitgenommen aussehenden „Anführer Sigbert“ in das Boot. So sorgte er gleich dafür, daß Ortwin ihn nicht noch<br />

plötzlich erkennen würde.<br />

"Würdet Ihr dann die Freundlichkeit haben, die Gefangene holen zu lassen?" Alrik wandte sich wieder an Ortwin.<br />

"Verdammt, habt Ihr es eilig. Wollt Ihr denn hungernd nach Jergan segeln?<br />

"Ihr habt Recht, ein leerer Magen segelt nicht gern. Aber es reicht aus, wenn wir etwas Proviant mitnehmen. Da<br />

muss ich Berngrimm Recht geben, der Fürstkomtur wartet wahrlich nicht gerne. Aber während die Fischer das<br />

Boot klar machen ist ja genug Zeit, etwas Verpflegung an Bord zu schaffen. Und<br />

auch für Euch und Eure Büttel, alles Erforderliche zusammen zu suchen."<br />

Noch bevor Ortwin sich zwei Söldner zum Geleit bestimmt hatte, waren drei Fischer mit sechs großen Körben an<br />

den Strand gekommen. "Na los" herrschte Odilon an. "Packt den Fisch in Eure Körbe. Ich überlasse ihn Euch sogar<br />

ohne dafür Geld zu verlangen, weil ich ja ein großzügiger Mensch bin. Aber ich verlange dafür, dass ihr auch die<br />

Toten hier wegschafft. Wir wollen ja nicht die Ratten anlocken."<br />

"Und bringt einen Laib Brot, Wurst und Käse mit" ergänzte Adelgunde, in der Hoffnung sich bei dem wohl doch<br />

höher gestellten Besuch wieder gut zu reden. "Und zwei Karaffen Wein. <strong>Das</strong> kann man ja im Mindesten verlangen,<br />

wenn man Euch schon so reichlich beschenkt."<br />

"Ja, Hauptmann" antwortete einer der Fischer demütig. Odilon hoffte, dass die Fischer ihnen wenigstens ein<br />

anständiges Begräbnis zukommen ließen, aber er wollte sie nicht direkt damit beauftragen. Als Söldner und Agent<br />

Cjuks, den er nun spielte, durfte er kein Mitgefühl mit den Ureinwohnern des besetzten <strong>Maraskan</strong> zeigen.<br />

Schweigend machten sich die drei Fischer an die Arbeit und füllten die Körbe. Sie hatten es wohl eilig, der<br />

Gesellschaft der Bewaffneten zu entgehen und wollten nicht länger als nötig hier am Ufer verweilen. Der Fischer<br />

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war sichtlich bemüht, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. <strong>Das</strong>s man <strong>von</strong> den Besatzern einmal<br />

etwas geschenkt bekam war gelinde gesagt eine Seltenheit, die man annehmen musste, bevor die Herrschaften es<br />

sich anders überlegten. Ortwin sagte nichts mehr. Er wählte zwei Söldner aus, packte ein kleines Bündel seiner<br />

wichtigsten Habseligkeiten und überlegte indes, wo er Berngrimm und Sindian schon einmal gesehen haben<br />

könnte.<br />

Odilon war dankbar, dass Efferjina sie nicht hatte auffliegen lassen. Sie hätte Hauptmann Adelgunde die Wahrheit<br />

lediglich sagen müssen und das ganze Boltanspiel hätte ein wahrhaft übles Ende genommen. Aber vermutlich<br />

hasste die Fischertochter die Haffaxijas noch mehr als ihn und seine Gefährten.<br />

Drei Stunden vor Sonnenuntergang stach der kleine Segler wieder in See. Ein kräftiger Söldner saß neben Ortwin<br />

und sah Efferjina und Berngrimm dabei zu, wie sie den Segler über die Wellen steuerten. Hesindian befand sich im<br />

kleinen Boot, das wieder in Schlepptau genommen wurde, und "beaufsichtigte" gemeinsam mit einem weiteren<br />

Söldner Ortwins die "Gefangenen Zwölfgötterkultisten". So hatte Ortwin nicht die Chance, möglicherweise doch<br />

noch Hesindian zu erkennen. Allein Odilon konnte er<br />

näher anschauen. Ortwin grübelte noch, während die Sonne glutrot über dem <strong>Maraskan</strong>sund versank.<br />

Alrik betrachtete Gunelde. Seine Schwester wirkte noch etwas verwirrt, schien aber bei guter Gesundheit zu sein.<br />

Zumindest waren keine Verletzungen zu erkennen. <strong>Das</strong>s sie schwieg war gut, so konnte sie nicht versehentlich den<br />

Plan der Gefährten verraten.<br />

Der Söldner Gurban hatte sich soeben <strong>von</strong> seinem Platz neben dem Samthandschuh erhoben und suchte sich einen<br />

Platz auf der Ruderbank, neben Efferjina. Auf Tuchfühlung eng setzte er sich neben sie. Efferjina zeigte keine<br />

Reaktion und starrte ausdruckslos geradeaus. Lediglich ihre Handknöchel färbten sich weiß, weil die Finger ihrer<br />

rechten Hand sich um die Ruderpinne verkrampften. Efferjina zeigte auch keine Reaktion, als die schwielige Hand<br />

des Söldners ihren Rock nach oben schob und er seine Pranke in den Schoß der <strong>Maraskan</strong>erin legte. Alvan sah der<br />

Fischerstochter in die Augen. Sie las weniger Angst und Scham, als vielmehr Teilnahmslosigkeit daraus. Sie muss<br />

schon mehrfach dergleichen erlebt haben mutmaßte Alvan, deren eigene Erinnerung ihr wieder in den Kopf stieg.<br />

Mit einem angeekelten Kopfschütteln verbannte sie die Gedanken an Gion im hintersten Winkel ihres<br />

Gedächtnisses.<br />

Gurban, dessen Hose jetzt eine unübersehbare Ausbeulung aufwies, nahm die linke Hand Efferjinas und legte sie<br />

sich in den Schoß. Er brauchte der <strong>Maraskan</strong>erin keinen Befehl zu erteilen. Mit teilnahmsloser Miene kümmerte<br />

Efferjinas linke Hand sich um das Glied des Söldners.<br />

Alvan war es plötzlich wieder, als sehe sie Gion am achteren Ende des Bootes sitzen. Für einen Moment nahm ihr<br />

Gesicht einen hasserfüllten Gesichtsausdruck an. Dann jedoch zwang sich Alvan zu einem verführerischen<br />

Lächeln.<br />

"Heda, Söldner, willst Du Deine Kraft an eine <strong>von</strong> diesem <strong>Maraskan</strong>ergesocks verschwenden? Mit so einem<br />

einzigartigen Gemächt kann man doch Besseres anfangen." Alvan fuhr sich spielerisch mit der Zunge über die<br />

Lippe und ging auf den Söldner zu. "Du da!" herrschte sie Efferjina an. "Kümmere Dich um das Schiff und lass ab<br />

<strong>von</strong> den Spielen der Erwachsenen." Die <strong>Maraskan</strong>erin gehorchte und Alvan setzte sich auf die Knie des Söldners<br />

und griff ihm an den Gürtel. Mit aufreizendem Fingerspiel zog sie ihm den Gürtel aus den Schlaufen der Hose und<br />

warf ihn auf den Grund des Bootes. Es schepperte, als der Gürtel samt dem daran hängenden Säbel des Söldners<br />

auf den Holzplanken aufschlug.<br />

"Ich habe neulich ein Buch gelesen." hauchte Alvan Gurban an und ließ ihre Stimme, auch wenn das gar nicht zu<br />

der Aussage Alvans paßte, verführerisch klingen.<br />

"Ein Buch?" fragte Gurban unwillig, der anderes als eine Unterhaltung über Bücher im Sinn hatte und sich darüber<br />

wunderte was diese Scheija vorhatte. Ortwin amüsierte sich köstlich über die Szene. Jetzt würde er hier wenigstens<br />

etwas zu sehen bekommen. Auch Odilon verfolgte etwas verwundert das Tun seiner Tochter. Seine Nackenhaare<br />

stellten sich auf. Irgendetwas würde sich ereignen, das spürte er.<br />

"Ja, das Buch der Anwesenden." Alvan zog Gurban die Hose herunter, die nun lasch über die Stiefel hing. Alvan<br />

atmete hörbar schneller als wäre sie höchst erregt und fuhr spielerisch mit der Zunge über Gurbans Glied. "Weißt<br />

Du, was mich gewundert hat?"<br />

"Mach weiter." frohlockte Gurban ohne auf die Frage der Halbelfe einzugehen. "Los, mach weiter." Gurban wurde<br />

lauter, nicht erfreut über die Unterbrechungen. <strong>Das</strong> Frauen immer soviel dabei reden mussten!<br />

Wo hatte er Elfenohren schon einmal gesehen, fragte sich Ortwin. Irgendwo... und die Gesichtszüge, nein, die<br />

waren doch anders damals. Älter und viel kühler, aber doch irgendwie ähnlich. Odilon warf Alrik einen warnenden<br />

Blick zu. Alrik war seinerseits überrascht, hatte er doch Alvan noch nie so erlebt, noch nicht einmal unter dem<br />

Verderbten Einfluß Orons. Dann sah Odilon sich um. Ortwin war natürlich bewaffnet, aber Gurban würde ihm so<br />

abgelenkt und mit hängender Hose keine Hilfe sein. Und im anderen Boot dürften Hesindian, Sigismund<br />

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zusammen mit den beiden "Gefangenen" wohl den Söldner überwältigen können, wenn es zu einem Kampf<br />

kommen sollte.<br />

Alvan ließ ihre Lippen über Gurbans Gemächt gleiten. Nach kurzer Zeit schloss Gurban die Augen und stöhnte<br />

leise. Alvan hielt erst inne, als sie merkte dass Gurban kurz vor dem Höhepunkt war. "Weißt Du, was mich<br />

gewundert hat?" wiederholte sie und hauchte einen Kuss auf die Spitze <strong>von</strong> Gurbans Gemächt.<br />

"Nein, sag´s mir und mach weiter" gab Gurban zurück, sichtlich erzürnt über die erneute Unterbrechung<br />

Alvan zuckte mit den Schultern. "Dein Name stand nicht drin."<br />

Gurban verstand nicht was Alvan damit sagen wollte, aber er fragte auch nicht weiter nach, da er ihre warmen<br />

rauen Lippen wieder auf seinem Gemächt spürte. Er hatte bislang noch nicht viele spitzohrige Söldner gesehen und<br />

er hatte sie nie verstanden. Aber das musste er ja auch nicht.<br />

Ortwin grübelte. Buch der Anwesenden, <strong>von</strong> was für einer Karmothkacke faselte das Weib da. Die Elfe! Die Elfe,<br />

die damals in Ährengatter den vergifteten Brunnen gereinigt hatte! Waren die Gesichtszüge dieser spitzohrigen<br />

Söldnerin nicht ähnlich wie die der Elfe? Oder sahen schlicht alle Elfen gleich aus? Konnte das die Tochter der<br />

Elfe sein. Berngrimm... wo hatte er ihn schon einmal gesehen. Der Gefährte der Elfe! Jawohl, das musste der<br />

Gefährte der Elfe sein. Damals hatte Berngrimm noch auf der anderen Seite gekämpft. War Berngrimm danach<br />

übergelaufen, oder war er Verrätern und Agenten aus dem Mittelreich auf den Leim gegangen?<br />

Ein schmerzerfüllter Schrei, der allen durch Mark und Bein ging ließ, Ortwin auffahren. Alvan spie aus. Ihre Bluse<br />

war blutgetränkt? Woran hatte sich die Söldnerin nur verletzt? Sie hatte ihr Messer, das zuvor noch an ihrem Gürtel<br />

hing, in der Hand. Es war blutverschmiert. Erst als Ortwins Blick auf das schmerzverzerrte Gesicht Gurbans und<br />

auf den am Boden liegenden Überrest <strong>von</strong> Gurbans abgeschnittenem Gemächt fiel wurde ihm gewahr, dass nicht<br />

Alvan verletzt war. "Nein, Gion stand nicht im Buch der Anwesenden. Und Gurban wird auch gerade ausradiert."<br />

Der Söldner schrie und brüllte, wälzte sich heulend über die Planken des Fischerboots und schmetterte seinen<br />

bleichen Schädel gegen die Reling, so heftig, dass das Boot bedrohlich zu schwanken begann. Dann verlor er für<br />

einen Augenblick das Bewusstsein, nur um einige Herzschläge später wieder grauenerregend zu stöhnen.<br />

Im Schinakel sprang der zweite Söldling auf, ein <strong>Maraskan</strong>er mit einer klaffenden Narbe im Gesicht, und zog in<br />

einer Bewegung sein Tuzakmesser. Hätte Alrik, unterstützt durch einen Wellenschlag gegen das Boot, der ihn<br />

ohnehin taumeln ließ, sich nicht fallen gelassen, der Hieb hätte ihn den Schädel glatt gespalten. So aber erhielt er<br />

nur eine leichte Streifwunde am Kopf. Sigismund zog sein Rapier, um dem Baron beizustehen, stolperte aber<br />

ebenfalls und fiel klatschend über Bord, wobei er noch den ebenfalls aufgestandenen Magus mit in die Wellen riss.<br />

Odilon sah bestürzt erst zu Ortwin, dann zu dem viehisch stöhnenden, immer bleicher werdenden Gurban,<br />

schließlich zu seiner Tochter, die wie eine blutsaufende Vampirin auf ihr Werk sah und vielleicht am meisten<br />

verstört war. Er hatte damit gerechnet, dass sie den Dreckigen töten würde, aber nicht so, nicht auf eine derart<br />

grässliche, götterverfluchte Art. Irgendwie kam ihm die ganze Situation wie der schlimmste Alptraum vor. Er stand<br />

neben dem Mast und konnte sich nicht regen, nicht einmal Wandelur blankziehen, obwohl sich seine Finger schon<br />

um dessen Griff geschlossen hatten.<br />

Im Beiboot war unterdessen ein wüstes Handgemenge zwischen dem <strong>Maraskan</strong>er und Alrik ausgebrochen, der<br />

einen weiteren Schwerthieb seines Gegners unterlaufen hatte und nun dessen Handgelenke umklammert hielt.<br />

Klirrend fiel die Klinge zu Boden. Ein Kopfstüber, dann riss sich der schwarzhaarige Söldner los. Ein blinkender<br />

Dolch lag in seiner Hand. Benommen wich Alrik dem Stich aus, der nur sein Wams und nicht seinen Bauch<br />

aufschlitzte. Der sich pardergleich bewegende <strong>Maraskan</strong>er war eindeutig der bessere Kämpfer, im Gegensatz zu<br />

dem Friedwanger vor allem ausgeruht und frisch, das sah Odilon auf einen Blick. Verzweifelt versuchte der<br />

Inquisitor seine Scheinfesseln zu lösen, aber einstweilen ohne erkennbaren Erfolg. Gunelde lag neben ihm, mit<br />

fiebrigen Blick und gefesselt, sie schien überhaupt nicht zu begreifen, was um sie herum vor sich ging.<br />

Als Odilon schließlich einigermaßen seine Fassung zurückgewonnen und sein Schwert gezogen hatte, stolperte<br />

Alrik über die Ruderbank. Er hatte alle Mühe, nicht ebenfalls über Bord zu gehen. Der Schwarze nutzte die<br />

Gelegenheit, sein Tuzakmesser wieder an sich zu reißen. Glitzernder Stahl hob sich in die Luft, um den Körper des<br />

Gestürzten zu zerteilen. Ein klatschendes Geräusch war zu hören, als dem Mann <strong>von</strong> hinten ein Dolch in den<br />

wattierten Waffenrock fuhr.<br />

Orientierungslos, aber keineswegs kraftlos sausten mehrere Stein maraskanischen Edelmetalls in die spröde<br />

Ruderbank neben Alriks Brustkorb, ein paar Holzsplitter flogen umher. Verwirrt sah sich der Kämpfer nach Ortwin<br />

um, der den Dolch geworfen hatte. Sein tulamidisch braunes Gesicht war längst so bleich wie der seines Gefährten,<br />

der zu Füßen Alvans langsam ausblutete. Schaum quoll dem <strong>Maraskan</strong>er aus dem Mund, dann begann er grotesk zu<br />

zucken und brach <strong>von</strong> Krämpfen gepeinigt zusammen.<br />

Der Samthandschuh war einen Schritt zum Bug zurückgetreten, wo er nun abwechselnd zu Wandelur und zur<br />

Küste sah, die einige Meilen querab lag. Es war klar, was er dachte: Ein geübter Schwimmer konnte die Entfernung<br />

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schaffen, aber die See war bewegt, es wurde Abend und er wusste nur zu gut, welches Grauen die heimtückisch<br />

glitzernden Wellen verbargen. Außerdem war ihm der Bogen neben Odilon nicht entgangen. Also hob der Spitzel<br />

nun die Hände und zauberte wieder ein schmieriges Rattengrinsen in sein Gesicht, das einzige, was daran wirklich<br />

auffällig war.<br />

"Wir kennen uns, na klar." stieß er nun hervor." Kartos, oder Kratos, so war doch dein Name. Bist schon damals<br />

mit so ´ner Elfe rumgezogen. Karmothkacke, ich dachte immer, die Spitzohren wären alle eher zartbesaitet und<br />

schwächlich. Aber die Kleine da hat ja richtig Biss, hähä!" Ein aufgedrehtes Kichern. "Und das Weißhaar dort im<br />

Wasser" - er deutete mit dem Kopf auf den Magier, der prustend und schnaufend, Sigismund im Schlepptau, wieder<br />

an das Schinakel heran zu kommen versuchte "das ist Gernots Hofmagier, dieser Hesindian Silpho ya Dingsbums.<br />

Bei allen giftspritzenden Marasken, und ich dachte, ihr wärt bei Altzoll draufgegangen. Ich meine, häha, natürlich<br />

schön, dass ihrs nicht seid." Ortwin griente in Odilons Richtung, der nun drohend sein Schwert hob, und buckelte<br />

wie ein getretener Hund. Pflatschend und prustend versuchten sich der Streuner und der Magus wieder an Bord zu<br />

ziehen, wobei ihnen der Baron half. Der Baernfarn sah kurz zu dem Geschehen - bei dem zweiten Söldner hatte das<br />

Gift offenbar seine Wirkung schon vollendet.<br />

Dann heftete der Schwarze Bär sein Augenmerk wieder auf den Samthandschuh. Wie ein gefährlicher Kämpfer sah<br />

dieser nicht aus - in seinem Gürtel steckte nur ein schwerer Dolch, und Gurbans Armbrust lag außerhalb seiner<br />

Reichweite -, aber er konnte durchaus noch mehr vergiftete Waffen bei sich führen. Doch Ortwin schien langsam<br />

zu begreifen, dass er gegen diese Übermacht keine wirkliche Chance hatte. Gehässig lachend trat er gegen den Leib<br />

Gurbans, der jetzt nur noch schwach röchelte. Eine gewaltige Blutlache schwappte im Takt der Wellen über die<br />

Planken und färbte die <strong>von</strong> den ermordeten Fischern hinterlassenen Flecken nach. Odilon hätte gerne einen Schritt<br />

auf Ortwin zu gemacht, aber es ekelte ihn, in das viele Blut zu treten.<br />

Dieser Kahn schien mittlerweile wirklich Belhalhar geweiht zu sein. War es wirklich so, dass in den Schwarzen<br />

Landen die Erzdämonen das Sinnen und Trachten der Sterblichen beherrschten? Wenn er sich seine Tochter so<br />

ansah, die nun betont langsam ihre Gewänder ordnete, dann musste er diese Frage bejahen. Ja, er hoffte sogar, dass<br />

Alvan gerade nicht sie selbst war, dass sie einer dämonischen Einflüsterung erlegen war. Wie aus weiter<br />

Entfernung drangen Schmerzlaute und die quäkende, halb bettelnde, halb feilschende Stimme des Verräters an<br />

seine Ohren.<br />

"Ihr seid also wirklich für die Reichsschen unterwegs. Dacht´ ich mir´s doch. Na gut, nach der Schlacht am<br />

Todeswall hat sich ja das Blatt auch wieder etwas zu euren Gunsten gewendet, das muss man zugeben. So wie hier<br />

jetzt, hähä. Nee, ich hab Euch sofort wieder erkannt und dafür gesorgt, dass euch diese irre Adelgunde nicht<br />

einfach umlegt. Ja, ehrlich, natürlich habe ich euch erkannt." Der Tobrier blickte drein wie der gierigste Krämer im<br />

Suq <strong>von</strong> Elburum. "Ihr glaubt doch wirklich nicht, dass ich so blöd bin, mit nur zwei Söldnern zu euch in einen<br />

Kahn zu steigen. Also, ihr könntet mir ruhig ein bisschen dankbar sein, dass ich euch geholfen habe, diese Trottel<br />

in Gipflak zu überlisten. Nichts als Blutgier im Kopf und keinen Funken Verstand. Und ich kann euch auch<br />

weiterhin helfen, immerhin bin ich ja offiziell ein Bediensteter des Fürstkomturs." Ortwin hob die blutfarbenen<br />

Handschuhe. "Im schönen alten Mittelreich wird man sich sicher auch brennend für einen wie mich interessieren,<br />

der aus erster Hand über die Verhältnisse in <strong>Maraskan</strong> plaudern kann."<br />

"O ja, `brennend´ ist, denke ich, der richtige Ausdruck." Odilon wunderte sich, wie süffisant seine Stimme klang.<br />

Mit dem Fuß schob er den Säbel des Söldners weg, um Ortwin nicht auf dumme Gedanken zu bringen.<br />

"Wie? Ach so, hähä. Nein, keine Sorge, die können doch gar nicht auf eine Quelle wie mich verzichten." Ortwin<br />

buckelte noch ein wenig mehr, während sein Redefluss immer mehr zunahm. <strong>Das</strong>s er überhaupt noch Zeit hatte, zu<br />

reden, schien er bereits als Erfolg zu verbuchen. Also plapperte er munter drauf los. "Sagt mir, wie ich euch helfen<br />

kann, und ich tu´s. Ich meine, natürlich nur, wenn´s nicht allzu blutig wird, ich kann Blutvergießen und Kampflärm<br />

nämlich nicht ausstehen, ehrlich. Deswegen war mir <strong>Maraskan</strong> schon lange zuwider. Dann noch diese eklige Hitze<br />

und das viele Ungeziefer und diese Verrückten überall." Der Blonde verzog angewidert das Gesicht - was auch<br />

Alvan galt - und spuckte aus. "Ich bin doch nur ein kleines Licht, wirklich, ich hab nie ernsthaft mitgemacht. Mit<br />

Dämonenanbeterei und dem ganzen finsteren Magierzeug hatte ich nie was am Hut. Dieser verrückte Gernot hat<br />

mich unter Druck gesetzt, auf ganz gemeine Weise, und als ich wieder in Mendena war, da wollte ich nur noch<br />

meine Ruhe. War ein kleiner Kneipenwirt, hatte mit dem verfluchten Borbaradkram überhaupt nix zu tun. Aber<br />

irgend so ein Schweinehund hat mich bei der Obrigkeit angeschwärzt, nachher hieß es, ich würde für Helme Haffax<br />

spionieren. Spionieren! Ich meine, was konnte der Fürstkomtur schon mit dem Geschwätz anfangen, das hier und<br />

da mal ein besoffener Xeraanier oben bei den Mädels abseiert. Die paar Dukkern aus <strong>Maraskan</strong> haben gerade<br />

gelangt, um die Passage nach Jergan zu bezahlen, als es brenzlig wurde. Mehr wollte ich auch nicht, bloß endlich<br />

meine Ruhe haben, aber hier haben sie mich offenbar für den geborenen Spion gehalten." Ortwin schien für einen<br />

Augenblick lang geschmeichelt. "Naja, da habe ich eben zum Schein mitgemacht, aber nie mehr, als ich wirklich<br />

musste. Ich meine, man hat ja auch mal an die Götter... Man glaubt ja an seine Zwölfe, nich´ wahr? Man is´ kein<br />

197


Unmensch, passt sich nur an die, äh, äußeren Umstände an. Wie `ne Schlange halt, die sich überall durchwindet,<br />

hähä. <strong>Das</strong> haben die in Jergan natürlich bald gespannt und mich in das schöne Gipflak geschickt, wo es wirklich<br />

nich´ viel auszukundschaften gibt. Und dort treffen wir uns wieder, was für eine dämo... äh, göttliche Fügung." Der<br />

Tobrier zwang sich die Karikatur eines freudestrahlenden Lächelns ins Gesicht. "Jetzt kann ich endlich wieder<br />

zurück ins Reich und dabei helfen, meine Heimat zu befreien. Und ich dachte schon, die Zwölfe hätten mich in<br />

Stich gelassen." Ortwin rieb sich vergnügt die Hände, ganz so, als sei er gerade dabei, einen besonders günstigen<br />

Handel abzuschließen. Der blutrote Rubinring blinkte im Licht der sinkenden Abendsonne. Dann ging sein Blick<br />

wieder zu Gurban. "Äh, könntet ihr mir vielleicht einen Gefallen tun und den Burschen hier über Bord werfen? Ich<br />

kann nämlich kein Blut sehen und sein Gestöhne geht mir langsam auf die Nerven."<br />

"Alvan, das ist Deine Aufgabe. Aber gib ihm vorher den Gnadenstoß!" schaffte Odilon seiner Tochter an in einem<br />

Tonfall, der sichtlich verärgert klang<br />

"Gewiss, Vater... Ortwin, wenn ihr nun wieder auf die Seite des freien <strong>Maraskan</strong> und des freien Tobrien wechseln<br />

wollt, dann leistet mir Hilfe. Ihr habt doch, wie ich annehme, noch einen vergifteten Dolch. <strong>Das</strong> würde die Sache<br />

hier" sie nickte in Richtung Gurbans, der sich noch immer stöhnend am Boden wälzte und dessen Schreien nur<br />

aufgrund des Blutverlustes leiser geworden war, "schnell und leise zu einem Ende bringen."<br />

Ortwin nickte pflichteifrig. "Äh, natürlich. Es geht schnell, er wird keine weiteren Schmerzen mehr spüren." Der<br />

Tobrier nahm den schweren Dolch aus seiner Scheide und reichte ihn Alvan. "Rotraupenextrakt" erläuterte er. "Es<br />

geht sehr rasch damit. Sobald das Blut das Herz erreicht ist Schluss."<br />

"Sehr gut." Alvan besah die Klinge. Die dünne Schicht, die auf die Klinge gestrichen war, bemerkte man nur wenn<br />

man sehr genau hinsah. Ansatzlos stieß sie Ortwin die Klinge bis zum Heft in die Brust. Ein Ausdruck<br />

Unverständnisses zeichnete sich auf dem Gesicht des Verräters ab. Mit fragenden Augen sah er Alvan an, sein<br />

Mund öffnete sich, jedoch kam kein Wort über seine Lippen.<br />

„Wie viele Mädchen in Gipflak hast Du geschändet? Wie viele in Tobrien? Hast Du auch nur einen Augenblick an<br />

die Gefühle Deiner Opfer gedacht? Nein? Weißt Du, wie sehr Deine Abwesenheit die Schönheit der Welt mehrt?"<br />

Alvans Stimme war leise und tonlos.<br />

Alvan zog den Dolch aus Ortwins Brust. Ortwin sah Alvan mit glasigen Augen an. Er spürte etwas angenehm<br />

Warmes auf seinem Bauch. Wie durch einen rosafarbenen Schleier sah er Alvans Hand auf sich zukommen und<br />

dann wieder <strong>von</strong> sich wegschnellen. Oder schnellte er <strong>von</strong> der Hand weg? Warum drehte sich auf einmal der<br />

Himmel nach unten und der Ozean nach oben? Warum wurde es auf einmal so kalt?<br />

Ortwins toter Körper versank im Wasser des <strong>Maraskan</strong>sundes. Alvan wischte die blutige Hand, mit der Ortwin über<br />

die Bordwand gestoßen hatte, an ihrer Bluse sauber. Ihrem Vater, der fassungslos neben ihr stand, schenkte sie<br />

keine Beachtung. Den Tritt, den Alvan Gurban verpasste, spürte dieser kaum noch.<br />

"Alvan, es ist genug. Mach dem ganzen ein Ende und schaff ihn dann über Bord." Odilons Stimme klang sichtlich<br />

ungehalten. Die Halbelfe griff nach Gurbans Füßen. Der Söldner versuchte mit schwindender Kraft nach ihr zu<br />

treten, aber seine herabgelassene Hose verhinderte dies. Stattdessen verfing Gurban sich in seinen eigenen<br />

Beinkleidern. Alvan hatte keine Schwierigkeiten, Gurbans Körper über Bord zu stoßen. Odilons Anweisung,<br />

Gurban <strong>von</strong> seinem Leiden zu erlösen, ignorierte sie jedoch. Gurbans Schreien wurde noch einmal lauter, als das<br />

salzige Wasser des <strong>Maraskan</strong>sundes in seine offene Wunde eindrang. Mit einer verächtlichen Handbewegung warf<br />

sie ihm den abgebissenen Rest seines ehemals besten Stückes hinterher. Noch immer war Odilon fassungslos<br />

angesichts der Grausamkeit seiner Tochter. <strong>Das</strong> viehische Brüllen Gurbans klang grauenhaft. Schließlich griff er<br />

selbst nach seinem Bogen. Aber die Strömung hatte Gurbans Leib bereits zu weit abgetrieben. Odilons Pfeil<br />

verfehlte den Söldner. Es dauerte noch eine gute Weile, bis die Schreie verhallt waren.<br />

"Alvan, was sollte das? Ich habe Dich gelehrt das Leben zu respektieren und unnötige Gewalt zu verabscheuen."<br />

Odilon war noch immer fassungslos.<br />

"Ach ja? Aber leider hat das niemand diesem Söldner gelehrt, also mußte ich das jetzt tun."<br />

"Es war nicht erforderlich, die beiden zu töten. Nicht auf so grausame Weise." Odilon korrigierte sich gerade noch.<br />

Für ein Gelingen der Mission wäre es zweifellos nötig gewesen, die drei Schergen der Haffaxijas unschädlich zu<br />

machen.<br />

"Hätte ich zusehen sollen wie er sich an einer unschuldigen <strong>Maraskan</strong>erin vergreift? Wir haben schon genug Leid<br />

über ihre Familie gebracht."<br />

"Ich denke Alvan hat Recht" mischte Sigismund sich ein. "Diese Schurken haben genug Unheil über die Welt<br />

gebracht. Und wir hätten sie ohnehin überwältigen müssen, noch vor Jergan. Hättest Du mit drei Gefangenen durch<br />

Schwarzmaraskan ziehen wollen? <strong>Das</strong> wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Sie hätten uns bei erster<br />

Gelegenheit ans Messer geliefert. Möchtest Du für Gauner wie die drei hier den Erfolg unserer Mission wenn nicht<br />

gar unser Leben riskieren?"<br />

"Aber doch nicht so. <strong>Das</strong> ist barbarisch" widersprach Odilon.<br />

"Ist es weniger schmerzhaft <strong>von</strong> einem Schwert erschlagen als... als so zu sterben? Wo ist der Unterschied?"<br />

verteidigte Sigismund die Halbelfe.<br />

198


"Vater, der Gerechte. Dutzende hat er mit Wandelur erschlagen oder mit Bavhano Bvaith erschossen, aber er<br />

verabscheut Gewalt. Ich verabscheue Gewalt ebenso, deshalb hab ich verhindert, dass Gurban Efferjina Gewalt<br />

antut. Keine Sekunde bereue ich es. Ich gönne ihm jeden Augenblick des Schmerzes. Hoffentlich lebt er noch und<br />

hat noch ein paar leidvolle Stunden vor sich, ehe er verblutet. Hast Du überhaupt eine Ahnung, wie Efferjina sich<br />

fühlt? Was alle anderen Mädchen empfinden, die seinem Wüten zum Opfer gefallen sind?"<br />

"Alvan, ich verstehe ja Deinen Schmerz. Aber wir wollen uns doch nicht auf dasselbe Niveau wie diese Schurken<br />

begeben und so grausam..."<br />

"Ach Vater, deine Moralsüchtelei geht mir tierisch auf den Geist. Du hast überhaupt keine Ahnung <strong>von</strong> den<br />

Gefühlen einer Frau, und trotzdem redest Du als hättest Du Schwester Hesindes Weisheit aus Flaschen getrunken.<br />

Gurban hat nichts anderes verdient als zu verlieren, womit er Efferjina ein Leid antun wollte. Ich habe es genossen.<br />

Jawohl, ich habe mich gut dabei gefühlt. Ich würde wieder so handeln."<br />

Odilon wollte zu einer Antwort ansetzen, aber ihm blieben die Worte in seiner Kehle stecken. Er war schlicht<br />

fassungslos angesichts der gezeigten Grausamkeit seiner Tochter. Von den Söldnern hätte er nichts anderes<br />

erwartet, aber <strong>von</strong> seiner Tochter.<br />

"Dennoch, Alvan, hast Du sehr eigensinnig gehandelt." Alrik mischte sich ein. Sigismund und mich hätte der<br />

Söldner beinahe getötet, weil wir nicht auf den Angriff vorbereitet waren. Ich jammere dem Schurken gewiss keine<br />

Tränen nach, aber Du hast sehr unüberlegt gehandelt. Wir müssen uns bei so einer Sache mehr aufeinander<br />

abstimmen um unser aller Leben zu schützen."<br />

Dem konnte wiederum Alvan nicht viel entgegensetzen. "Ich konnte nicht zusehen, was er mit Efferjina macht.<br />

Hättest Du erlebt, was ich erlebt habe, würdest Du das verstehen."<br />

"Es ist gut, Alrik. Wir haben es alle überlebt, und wir hätten uns auch sonst nicht absprechen können ohne dass die<br />

Söldner es mitbekommen hätten. Es wäre früher oder später darauf hinausgelaufen, dass einer das Signal gibt und<br />

die anderen schnell reagieren müssen. Aber darum geht es doch nicht. Odilon, Du maßt Dir an über etwas zu<br />

richten, was Du nicht verstehen kannst. Keiner <strong>von</strong> uns kann das, und es steht uns nicht zu Alvans Handeln in<br />

Frage zu stellen. Wir haben ja gehört, was Ortwin uns in Gipflak angeboten hat, und wir können ja daraus<br />

schließen, wie sie sich gegenüber den <strong>Maraskan</strong>ern verhalten haben. Nein, ich kann kein falsches Handeln<br />

erkennen." Beschützend legte Sigismund den Arm um Alvans Schultern.<br />

"Ich muss zugeben, es war effektiv. Aber es war völlig überflüssig und zudem auch noch gefährlich, Gurban den<br />

Gnadentod zu verwehren. Einen Schurken zu töten, mag ihn da<strong>von</strong> abhalten, weiteres Unrecht zu tun. Aber es gibt<br />

keine Veranlassung dazu, sein Leiden zu verlängern oder zu erschweren. <strong>Das</strong> meine ich mit unnötiger Grausamkeit.<br />

Ja, als Jäger haben meine Pfeile schon manchem das Leben genommen. Menschen wie Tieren. Aber ich lasse keine<br />

Beute, keinen Feind, verbluten und erfreue mich an seinem Leiden. <strong>Das</strong> darf nicht sein, wenn wir <strong>von</strong> uns<br />

behaupten wollen, auf der richtigen Seite zu stehen. Und in diesem Fall ist es zudem gefährlich. Es ist nicht<br />

ausgeschlossen, dass es Gurban gelingt das Ufer zu erreichen bevor er verblutet und noch berichten kann. Dann<br />

hätten wir sehr bald Verfolger auf unseren Fersen, wenn die Besatzer wissen, dass mittelreichische Freischärler auf<br />

<strong>Maraskan</strong> weilen."<br />

Alvan wandte sich ab, ihr Vater wollte sie einfach nicht verstehen, und sie war es leid, sich rechtfertigen zu<br />

müssen.<br />

"Könnt ihr vielleicht Euren lächerlichen Streit beenden." Hesindian hielt nicht viel <strong>von</strong> dem Disput seiner<br />

Gefährten. "Es gibt wichtigeres zu tun. Vielleicht hilft mir mal jemand dabei, Gunelde wieder auf die Beine zu<br />

bekommen. Und Alvan und Efferjina sollten sich mal eher darum kümmern, dass wir auf dem richtigen Kurs<br />

bleiben, schließlich kann außer den beiden keiner so wirklich ein Boot steuern."<br />

"Ach, der Herr Magus gibt jetzt die Befehle an Deck..." spöttelte Alrik.<br />

Hesindian schüttelte ungehalten den Kopf. "Wir sind bei der ganzen Metzelei schon ein gutes Stück vom Kurs<br />

abgekommen und treiben aufs offene Meer." Tatsächlich flatterte das Segel kraftlos im Wind.<br />

"Nun, für so lächerlich halte ich unseren Streit eigentlich nicht, Herr Magus" knurrte der Gallyser. "Immerhin ist<br />

gerade Blut geflossen, sehr viel Blut. Mir macht es keinen Spaß, wenn Menschen bestialisch getötet werden, egal<br />

wie sehr sie es für manche hier verdient haben mögen. Aber ansonsten habt Ihr schon recht" Odilon sah zu dem<br />

schwarzen Schatten, der die Küste bedeutete und sich nun rasch in der Dämmerung auflöste. Draußen auf dem<br />

Meer, wo die Leichen der Erschlagenen trieben, erschienen nun mehrere dreieckige Rückenflossen. Gurban würde<br />

die Küste nicht mehr erreichen, soviel stand fest. Jedenfalls nicht lebend.<br />

"Alvan, geh an die Ruderpinne. Efferjina, kümmere dich bitte um das Segel. Sigismund, du hilfst ihr dabei."<br />

"Aye, Aye, Käpt´n!" brummte der Streuner und verengte kaum merklich die Augenbrauen. Ein leises "Unser<br />

zartbesaitetes Kuschelbärchen muss halt immer das letzte Wort haben." war zu hören.<br />

"Wie meinen?" Irgendwie klang Odilons Stimme arroganter, als er es beabsichtigt hatte. Breitbeinig stellte er sich<br />

in die Mitte des Kutters und ließ sein Haar flattern.<br />

Der Streuner imitierte eine Verbeugung, die ein wenig an den unterwürfigen Ortwin Natter erinnerte. Irgendwie<br />

scheint sein Geist noch mit auf dem Boot zu stehen, dachte Hesindian, der die Szene beobachtete. Oder sein<br />

Ungeist.<br />

199


"Nichts. Ich höre und gehorche."<br />

"Gut so. Danach trägst du die Waffen zusammen, die hier herumliegen."<br />

"Aber ja doch. Zu Befehl, Käpt´n."<br />

"Meister Selbfried und Alrik, seht einmal nach Gunelde. Bringt sie am besten in die Kajüte." Der Inquisitor, der<br />

sich unterdessen <strong>von</strong> seinen Fesseln befreit hatte, nickte. Nach einigen Handgriffen befand sich der Kahn wieder<br />

auf Kurs.<br />

Die Nacht breitete sich <strong>von</strong> den Rändern her aus, während Praios Scheibe blutrot am Horizont sank.<br />

Alvan blickte auf die glänzenden Flecken auf den Planken des Fischkutters, während Sigismund und Hesindian<br />

leise fluchend ihre klatschnassen Gewänder auswrangen. Odilon warf geistesabwesend eine Pütz, die neben dem<br />

Hüttenaufbau des Bootes stand, an einem Strick ins Wasser und zog ihn dann mitsamt seinem Inhalt ein.<br />

Schwielige Hände griffen nach dem in der Mitte lederumwickelten Seil. Salzwasser klatschte auf die Blutlache,<br />

verwandelte das metallisch riechende Rot in eine rosafarbene Brühe, die schäumend zwischen den Speigatten des<br />

Kutters verschwand. Dann warf der Waldläufer - der nun allerdings mit seiner braungebrannten Haut und dem<br />

sonnengebleichten Haaren aussah wie ein Mensch, der ein Leben lang mit Seefahrt verbracht hatte - Sigismund<br />

eine Bürste zu.<br />

"Wisch den Dreck da mal auf!" befahl er barsch. "Wenn dir schon die Schweinerei gefällt, die deine geliebte Alvan<br />

hier veranstaltet hat..."<br />

Ein nervöses Zucken in Odilons Gesicht verriet, dass ihm sein Ton im nächsten Augenblick selbst missfiel, aber es<br />

war bereits zu spät. Sigismund hieb ihm ohne ein weiteres Wort die Faust unter die Nase. Odilon war zu überrascht,<br />

als dass er noch zu einer Gegenwehr fähig gewesen wäre. Benommen taumelte er gegen die Aufbauten, rieb sich<br />

dann mit dem Handrücken über die Nase, aus der etwas Blut drang. Dann sah er zu Sigismund, der das<br />

Jerganmesser des toten Söldlings in seiner Hand hielt und gegen die untergehende Sonne aussah wie Kor<br />

höchstselbst. Auch Odilons Hand verirrte sich zum Schwertgriff. Der Streuner wollte seine Klinge schon heben -<br />

vielleicht nur drohend, vielleicht schon zum Schlag - da prallte der <strong>Maraskan</strong>stahl <strong>von</strong> unten gegen den Zauberstab<br />

Hesindians.<br />

"Seid ihr eigentlich alle verrückt geworden?" Hesindians Stimme war ruhig, provozierend ruhig.<br />

"Verrückt? Ich bin´s nicht. Ich mach nur nicht mehr länger mit, wie uns Odilon behandelt. Uns alle!" schrie<br />

Sigismund. "Der kluge Odilon, der edle Odilon. Er hat uns das alles hier doch erst eingebrockt und jetzt schwatzt er<br />

unendlich weise, vernünftig und friedfertig daher, wie Rohal höchstselbst!"<br />

"<strong>Das</strong> ist noch lange kein Grund, blank zu ziehen." Auch Alrik trat nun näher, die Hand am Griff seiner Waffe.<br />

"Du verlierst schon wieder die Nerven, Sigismund" stellte der Gallyser in ruhigem Ton fest und stand auf, wobei er<br />

noch immer die Hand gegen die blutende Nase presste. "Ich hätte dich nicht mitnehmen dürfen. Eigentlich müsste<br />

man <strong>von</strong> einem Spieler wie dir mehr Selbstbeherrschung erwarten dürfen..."<br />

Mit leisem Scharren glitt Wandelur aus der Scheide. "Also, leg´ das Jerganmesser beiseite, dann können wir<br />

reden."<br />

"Was? Du bedrohst mich doch hier!" Sigismunds Augen irrten umher. Er trat einen Schritt zurück und hob seine<br />

Waffe. Die Augen des Streuners glänzten fiebrig. Gunelde fuhr aus ihrem Halbschlaf hoch und stöhnte viehisch.<br />

Die schwüle Abendluft dünstete Irrsinn aus.<br />

"Niemand bedroht dich, Sigismund!" sagte Hesindian mit Noionitenstimme. "Du bist es, der hier Ärger macht!"<br />

"Hör auf, hört doch endlich auf!" Alvan fiel ihrem Vater in den Arm.<br />

"Es war ein Versehen, er hat es nicht gewollt!" Sie begann zu weinen.<br />

Odilon stieß sie weg, dabei fiel sie zu Boden. "Wegen dir hat er doch erst angefangen!" brüllte Odilon mit<br />

hochrotem Kopf, während Blut und Rotz aus seiner Nase sprühten. "Hättest du dich nicht solcher Art selbst<br />

vergessen und aufgeführt wie, wie das halsabschneiderischste Lumpengesindel in Zhinbabil.“<br />

Alvan griff nach dem Dolch mit dem Rotraupengift: "Meinst du Gurban oder Gion, Vater?" zischte sie leise,<br />

während Blut aus ihrem Mund tropfte. "Glaub mir, damals bei Gion habe ich gehofft, dass du noch rechtzeitig<br />

kommst, um das Schlimmste zu verhindern. Aber Du warst zu spät! Du hast mir nicht geholfen! Also, woher dein<br />

Zorn? Du bist doch schuld daran."<br />

"Du... Du undankbares Stück!“<br />

Wandelur hob sich in die Höhe, leicht schwankend, als bäume sich die Klinge der heiligen Artema für einen<br />

Augenblick gegen den Willen ihres Besitzers auf.<br />

"Genug, Baernfarn. Ihr seid <strong>von</strong> Sinnen!" Der Praiot war aus der Kajüte getreten und sprach mit ruhiger, fester<br />

Stimme. "Ihr alle, beruhigt euch. Ihr seid nicht mehr ihr selbst. Dämonische Einflüsterungen fangen an, Euer<br />

Handeln zu bestimmen." Ein kurzer, durchbohrender Blick in Alvans Richtung. "Vor allem euer Handeln ist<br />

abscheulich, Alvan <strong>von</strong> Nordenheim, einer Edlen des Reiches unwürdig. Ich werde das in meinem Bericht an die<br />

Kirche erwähnen müssen."<br />

Odilon senkte sein Schwert. Mit einem Mal fühlte er sich müde. Alles tat ihm leid, so unendlich leid.<br />

200


"Ach ja, müsst Ihr das?" Hesindian lachte hohl auf und zeigte dabei seine an der Spitze verstümmelte Zunge. "Ich<br />

muss meine Vorredner korrigieren" lispelte er dann. "Nicht mit Alvan oder Odilon hat alles angefangen. Dem<br />

Praiospfaffen da verdanken wir unseren kleinen Ausflug aufs Perlenmeer. Hätte der Herr Inquisitionsrat nicht<br />

überall dämonische Einflüsterungen gehört. Also haltet besser euren geifernden Mund, bevor ich mich vergesse!"<br />

"Bevor Ihr Euch vergesst?" Der Praiot verschränkte die Arme. "<strong>Das</strong> habt Ihr bereits getan, mit Euren wüsten<br />

Schmähungen. Gerade <strong>von</strong> einem Mann mit euren Namen hätte ich mehr Verstand erwartet. Aber Hesinde ist eben<br />

nicht nur die Herrin der Weisheit, sondern auch die Herrin aller Schlangen..." Selbfried lachte leise auf, schien ihm<br />

der Seitenhieb auf das leise Zischeln des Magus überall gelungen.<br />

"Lästert noch einmal die Göttin, und zur Abwechslung seid Ihr es, der brennt." Der silberbärtige Magus hob seinen<br />

Stab, als wolle er den Inquisitor damit erschlagen.<br />

Odilon war in die Knie gesunken, Wandelur fiel neben ihm zu Boden. Was hatte er getan, vor allem, was hatte er<br />

gerade geschrieen? <strong>Das</strong> alles durfte einfach nicht wahr sein. Irgendwo über ihm, in der Schwärze der Nacht, wo<br />

nun das Madamal und südliche Sterne prangten, war das Rauschen schwerer Schwingen zu hören. Ein kaltes,<br />

grelles Kreischen, wie <strong>von</strong> einem Geier, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Nein, das war kein tierischer<br />

Laut, sondern eine underische Kakophonie voller Hass und Grausamkeit wie aus den tiefsten Niederhöllen, etwas,<br />

was weitaus tiefer ging als nur durch Mark und Bein.<br />

Ein Schatten zog am bleichen Mond vorbei, der aussah wie eine geflügelte Schlange, mit den zerfransten<br />

Lederschwingen einer Flugechse, auf deren Rücken ein gepanzerter Reiter saß. Hatte die Kreatur sie entdeckt?<br />

Einen Augenblick lang hielten sie den Atem an, eine Zeit, in der das grässliche Kreischen in ihren Köpfen<br />

verklang. Dann war das Ungeheuer vorüber, wurde wieder eins mit der Dunkelheit, aus dem es sich binnen weniger<br />

Herzschläge geformt hatte.<br />

Der Grund für ihren Streit war plötzlich vergessen.<br />

"Ein Karakil" flüsterte der Magus in das sanfte Glucksen der Wellen hinein.<br />

"Hat er uns entdeckt?" wollte Alrik wissen.<br />

Hesindian zuckte mit der Schulter. "Groß genug ist der Kutter. Aber der Dämon fliegt in Richtung Festland, und in<br />

ziemlicher Höhe."<br />

Efferjina begann haltlos zu weinen. Dann wurde das Flügelrauschen wieder lauter, kam nun <strong>von</strong> der Seite. Erneut<br />

zeriss das infernalische Kreischen die Ruhe der Nacht. Alvan vernahm einen leichten Schwefelgestank, als das<br />

geflügelte Grauen ein weiteres Mal über sie hinweg strich. Sie glaubte, Schlangenschuppen und einen wallenden<br />

schwarzen Mantel sowie das Blinken einer Rüstung zu sehen, aber vielleicht spielten ihre überreizten Nerven ihr<br />

einfach nur einen Streich. Sigismund sprang hinter dem Mast in Deckung. Odilon griff nach dem Bogen, aber in<br />

diesem Moment war der Schatten auch schon vorüber.<br />

"Jetzt hat er uns gesehen!" meinte Alrik trocken.<br />

"Was machen wir nun?"<br />

"Zumindest sollten wir mal mit dem Streiten und Schlagen aufhören!" meinte Odilon. "Selbfried hat Recht. Wir<br />

sind nicht mehr wir selbst. Hier geht es nicht mehr allein um unser Leben, sondern auch um unser Seelenheil."<br />

"In welche Richtung ist er geflogen?" wollte Selbfried wissen. Einen Augenblick lang zuckte er zusammen, als sich<br />

die Madasichel erneut dunkel färbte, aber es war nur eine Wolke, die sich davor geschoben hatte.<br />

"Richtung Festland" meinte Alrik. "Geradewegs nach Jergan, würde ich sagen. <strong>Das</strong> heißt, der Reiter hat geschnallt,<br />

das mit dem Boot was nicht stimmt und macht demnächst Männchen beim Fürstkomtur."<br />

"Warum hat er uns nicht angegriffen?"<br />

"Nun ja, immerhin sind wir ganz schön viele, und ein Magus, der aufgeregt mit seinem Zauberstab herumfuchtelt,<br />

ist auch dabei. Und so, wie wir hier rumgebrüllt haben, bekommt es wohl selbst ein Dämonenanbeter mit der Angst<br />

zu tun." Alrik grinste. "Ich würde vorschlagen, dass wir an Land steuern und unsere Reise auf der Küstenstraße<br />

fortsetzen. Auf dem Meer sind wir wie auf dem Präsentierteller, wenn unser Flugdämon bei Tagesanbruch<br />

zurückkommt - am Ende noch mit Verstärkung."<br />

Odilon langte sich verwirrt an die Stirn. War der Fluch - all das Schreien, das Drohen, Schlagen und Beleidigen -<br />

tatsächlich so schnell<br />

<strong>von</strong> ihnen abgefallen? Oder bewegte sich das alles knapp unter der Oberfläche, wie die Haie draußen auf dem<br />

Perlenmeer, bereit, jederzeit erneut zuzuschnappen?<br />

"Der Dschungel ist auch gefährlich" meinte Odilon leise. "Zumal bei Nacht. Außerdem wird die Küstenstraße<br />

sicherlich überwacht. Aber ich gebe zu, dass wir gegen einen Karakilangriff noch weniger Chancen hätten. Ein<br />

Brandgeschoss genügt, und hier steht alles in Flammen. Von den Schiffen des Fürstkomturs mal ganz zu<br />

schweigen. Also, stimmen wir darüber ab. Wer ist dafür, dass wir an Land gehen und wer dagegen?"<br />

„Dafür. Ich will runter <strong>von</strong> diesem Boot. An Land fühle ich mich wohler.“ meinte Sigismund. Hesindian nickte<br />

zustimmend.<br />

„Kann mein Schwesterlein eigentlich laufen?“ wollte Alrik wissen.<br />

201


„Ja“ gab Hesindian zurück. „Äußerlich fehlt ihr nicht viel, die wenigen Wunden habe ich versorgt. Die Wunden<br />

aber, die ihrer Seele zugefügt wurden in der Gefangenschaft in Gipflak, kann nur die Zeit heilen.“<br />

„Ein paar Meilen <strong>von</strong> hier gibt es eine Klause“ mischte sich Efferjina ein. Eine alte Kapelle der Zwillinge, seit ein<br />

paar Jahren ist sie verlassen und schon zum Teil überwuchert vom Dschungel. Aber der Landesteg müßte noch<br />

benutzbar sein, groß genug für unser kleines Boot um dort anzulegen. Die Besatzer meiden diesen Ort, vielleicht<br />

hat er auch keine Bedeutung für sie. Vielleicht kennen sie ihn auch gar nicht, denn es gibt keinen Weg zu der<br />

Klause, und der kleine Steg ist hinter Felsen verborgen und nicht zu sehen. Die Garethjas wussten auch nichts<br />

da<strong>von</strong>, da werden die Haffaxijas vielleicht ebenso wenig wissen. In einer Stunde könnten wir die Klause erreicht<br />

haben. Jedenfalls könnt Ihr dort wohl die Nacht verbringen.“<br />

„Hört sich gut an. Wenn wir uns dort verstecken können hat Gunelde vielleicht die Zeit zum Ausruhen die sie<br />

braucht um wieder zu sich zu finden“ meinte Hesindian.<br />

„Ich kenne diese Klause. Mylendijian wohnte dort, aber er ist schon lange gestorben. Die Templer haben ihn<br />

erschlagen. Die Templer des Ordens der Herrin Rondra <strong>von</strong> Jergan. <strong>Das</strong> war zu der Zeit als hier noch die<br />

garethische Fahne auf den Garnisonen der Besatzer wehte.“ erläuterte Alvan. „Gut, steuern wir sie an. Was heißt<br />

„Ihr“? Was ist mit Dir, Efferjina?“<br />

„Ich will heimgehen. Ich habe Angst. Angst vor Euch allen. Ich will nur noch heim.“<br />

Odilon sah betreten in die Runde. An Efferjina hatte niemand <strong>von</strong> ihnen gedacht. Ihr mussten die Gefährten ja wie<br />

die reinsten Barbaren erscheinen. Odilon wagte es nicht, der Fischerstochter zu wiedersprechen.<br />

„Du kannst nicht mehr heim. Es tut mir leid, aber Du kannst nicht mehr heim.“ Selbfried mischte sich ein.<br />

Irgendwann würden die Söldner in Gipflak erfahren, dass Du zurück bist. Sie würden Dich festnehmen und<br />

verhören bis sie wissen was geschehen ist. Und sei es unter Folter. Schon bald werden sie Ortwin vermissen, und<br />

dann werden sie sich umhören. Sie werden Dich finden, und deswegen kannst Du nicht in Dein Dorf zurück.“<br />

Efferjina brach wieder in Tränen aus.<br />

„Du könntest Dich in einem anderen Dorf niederlassen, es darf nur nicht zu nahe an Gipflak sein. Hast Du<br />

Verwandte?“<br />

Efferjina schüttelte den Kopf. Außer Ihrer Mutter in ihrem Heimatdorf hatte sie niemanden mehr. Und dorthin<br />

konnte sie nicht zurück, wie dieser fremde Priester ihr glaubhaft machen wollte.<br />

„Du kannst mit uns kommen, wenn Du willst. Du kannst auch alleine weiterreisen, aber das ist mit Sicherheit noch<br />

gefährlicher als uns zu begleiten. Aber zurück kannst Du nicht mehr. Du kannst Dich bei diesen waghalsigen<br />

Draufgängern dafür bedanken, aber es ändert nichts daran.“<br />

Bei diesen harten Worten des Inquisitors wurde Odilon schlagartig bewusst, dass sie es waren, die den Tod der<br />

Fischer mit zu verantworten hatten und dass sie nun in der Pflicht standen sich um Efferjina zu kümmern.<br />

„<strong>Das</strong> ist leider richtig“ stimmte Odilon zu. Aber viel können wir Dir nicht anbieten. Nur ein Leben in Gefahr und<br />

auf der Flucht, und vielleicht einmal nach unserer Rückkehr ein Leben in der Fremde.“ Odilon schluckte.<br />

„Es gibt Städte an der Küste mit einem Anteil maraskanischer Exilanten. Vielleicht finden wir dort eine Bleibe für<br />

Dich“ schlug Alvan vor.<br />

„Nein. Ich will nicht mit Euch reisen.“<br />

Alvan verstand das gut. Es war zu viel geschehen in den letzten Tagen. Dinge, die sogar ihren Vater die<br />

Beherrschung verlieren ließen. Wie sollte da eine junge Fischerin mit den Ereignissen umgehen können? Es würde<br />

viel Zeit brauchen, bis Efferjina die Ereignisse verarbeitet haben würde. Was sie noch mehr belastete war, dass sie<br />

alle eine hohe Schuld auf sich geladen hatten. Der Inquisitor hatte Recht, es war ihre Schuld dass der Fischer und<br />

seine Söhne den Kreis vollendet hatten. Sie hatten sie in diese Sache hineingezogen. Es galt, etwas wieder gut zu<br />

machen an der Fischerin, und es galt um Vergebung zu bitten. So konnten sie vielleicht Frieden mit ihrem<br />

Gewissen finden. Bei den Zwillingen, sie war eine Priesterin und hatte sich solcherart würdelos verhalten. Da<br />

musste sie ihrem Vater wie auch dem Inquisitor zustimmen. Auch wenn die Besatzer den Tod vielfach verdient<br />

hatten war es falsch <strong>von</strong> ihr gewesen, sich zum Richter wie auch zum Henker aufzuschwingen.<br />

Als könne sie ihre Schuld dadurch <strong>von</strong> sich laden stand sie plötzlich auf und warf die vergiftete Klinge Ortwins, die<br />

sie noch immer bei sich trug, ins Meer.<br />

„Verzeih mir, Efferjina. Wir hätten Dich und Deine Familie niemals in diese Sache hineinziehen dürfen“ stammelte<br />

Alvan leise. „Bitte verzeih uns.“<br />

Efferjina sagte nichts. Sie verspürte nach wie vor eine Abneigung auf die Garethjas. Sie wusste dass sie den Tod<br />

ihrer Familie nicht gewollt hatten und auch nicht die Verantwortung dafür trugen. Schließlich waren die sieben<br />

Garethjas ja Gegner der Besatzer und damit die Verbündeten der <strong>Maraskan</strong>er. Aber die nüchterne Wahrheit, auch<br />

wenn der Verstand sie begriff, konnte ihre Gefühle nicht beseitigen. Efferjina zog es vor still zu sein und sich um<br />

das Boot zu kümmern. Je eher sie die Klause erreichten um so eher konnte sie ihrer Wege ziehen.<br />

Odilon sah schweigend den dunklen Horizont an. Wie hatte er sich nur so gehen lassen können. Er machte sich<br />

selbst schwere Vorwürfe. Auch wenn er die Grausamkeit seiner Tochter verabscheute, hätte er sie nicht so<br />

beleidigen dürfen. Alvan war seine Tochter, und wenn sie so grausam war, dann war das auch seine Schuld. Dann<br />

202


war es ihm nicht ausreichend gelungen ihr Moral und Standfestigkeit zu vermitteln. Dann hieß das, dass er seinen<br />

Vaterpflichten nicht ausreichend nachgekommen war.<br />

Wie hatte er sich nur dazu hinreißen lassen können, Alvan so zu beschimpfen und sie mit dem Abschaum in<br />

Elburum zu vergleichen Was konnte Alvan dafür was man ihr angetan hatte? Nein, er wusste doch dass Alvan auch<br />

in diesen Dingen überlegt war. Alvan gehörte gewiss nicht zu den Frauen, die mit jedem das Lager teilten wenn sie<br />

sich etwas da<strong>von</strong> versprachen. Alvan hingegen tat derlei einzig aus Liebe. <strong>Das</strong> wusste er, ebenso wie er wusste,<br />

dass sie Sigismund nicht liebte und deswegen auch seinem Drängen bislang nicht nachgegeben hatte. Wie hatte er<br />

Alvan also nur mit solch schändlichen Worten beleidigen können? Was musste seine Tochter denken und fühlen?<br />

„Versteht Ihr jetzt was hier vor sich geht?“ fragte der Inquisitor. „<strong>Das</strong> meine ich, wenn ich <strong>von</strong> dämonischen<br />

Einflüsterungen spreche. Wir sind hier im Reich des Dämons, der Rondras aufrechten Zweikampf zu wütendem<br />

Gemetzel pervertiert, und der das Eintreten für eine aufrechte Gesinnung durch blutrünstige Rache ersetzen will.<br />

Ihr habt am eigenen Leib gemerkt, wie die Dämonen Euch in Versuchung führen und Euch beeinflussen wollen.<br />

Sie greifen nach Euren Seelen. Sie schicken Euch Gefühle des Hasses. Sie säen Zwietracht und sie wecken die<br />

Gelüste der Rache. Ihr habt die Versuchung der pervertierten Rahja in Oron gefühlt, und jetzt fühlt ihr es wieder.<br />

Ich sage Euch dass Gefahr droht. Gefahr nicht nur für Euer Leben sondern auch und vielmehr für Eure Seelen. Ihr<br />

werdet diesen dämonischen Griff nach Euren Herzen in diesem Verderbten Land nicht mehr loswerden. Die meiste<br />

Zeit werdet ihr es kaum wahrnehmen, aber der latente Griff ist vorhanden. Und wenn ihr für einen Augenblick nur<br />

Eure Gefühle nicht unter Kontrolle habt, dann schließt sich die dämonische Faust um eure Herzen. Anstelle der<br />

Liebe zum Vater oder zur Tochter gedeiht dann der Hass. Anstelle <strong>von</strong> Vergeben und Verzeihen wird Euer<br />

Handeln <strong>von</strong> Zorn und Rachsucht geleitet.“<br />

Selbfried hielt kurz inne ehe er weitersprach.<br />

„Ja, die unheilige Präsenz ist hier deutlich zu spüren, ihre Auswirkungen und Ausdünstungen sind überall. Aber sie<br />

sind nur schwer wahrzunehmen, weil die Veränderung schleichend <strong>von</strong>statten geht. Ein aufrechter, loyaler und<br />

zwölfgöttergläubiger Bürger wird nicht binnen Sekunden zum blutrünstigen Berserker, Frauenschänder und<br />

Götzenanbeter. Aber die ständige Versuchung ist gegeben, und nicht allen gelingt es, sich dem dauerhaft zu<br />

widersetzen. Nur wenige sind so stark im Glauben und so fest in ihren Überzeugungen, als dass sie ständig in der<br />

Lage wären ihr Handeln vor ihrem Gewissen zu prüfen. Auch Ihr, meine Schafe, habt gefehlt. Es ist Euch noch<br />

einmal gelungen, den Griff nach Euren Seelen zu lockern. Aber seid auf der Hut. Die Reise durch die Verderbten<br />

Lande kann noch länger dauern, und so lange ihr auf diesem <strong>von</strong> Dämonen besudelten Boden weilt, werdet Ihr die<br />

Versuchung immer wieder spüren.“ Der Inquisitor atmete kurz ein, ehe er weiter sprach.<br />

„Vielleicht war es Praios Wille, dass ich Euch auf dieser Reise begleite, um Euer Seelenheil zu bewahren. Mag sein<br />

dass sich deswegen unser Schicksal gekreuzt hat. Die Wege des Praios sind unergründlich. Ich werde mein<br />

möglichstes Tun um Euch heil durch dieses Land zu führen. Ich vertraue darauf, dass Praios weiß, was er damit<br />

bezwecken will, Euch in dieses Land zu führen, und dass er es Euch trotz Eurer nicht immer praiosgefälligen<br />

Ansichten, vielleicht auch gerade deswegen, zutraut eine solche Fahrt erfolgreich durchzuführen. Aber vergesst<br />

niemals, zu keiner Zeit, über die Gefahr, die Euch hier droht.<br />

Und jetzt reicht Euch die Hände und vergesst allen Streit der zwischen Euch stand.“<br />

Odilon war froh dass der Inquisitor die richtigen Worte gefunden hatte, die allen in die Seelen eindrangen. Mochte<br />

sein, dass dies wirklich die Versuchung der Dämonen war, die sie alle spürten. Vielleicht war tatsächlich mehr als<br />

die dauernde Anspannung und die schwüle Hitze daran schuld. Er hatte diesen Verdacht in Elburum ja ebenfalls<br />

schon gehabt. Um Verzeihung bittend umarmte er Alvan. Dann reichte er Sigismund die Hand.<br />

Alvan blickte den Inquisitor an. Als dieser bemerkte, dass die Halbelfe ihn ansah, meinte Alvan für einen<br />

Augenblick einen Ausdruck <strong>von</strong> Milde und <strong>von</strong> Verstehen zu erkennen. Damit hätte sie kaum gerechnet bei dem<br />

stets hart und aufrecht wirkenden Inquisitor. Aber vielleicht verstand Selbfried doch mehr als sie ahnen mochte.<br />

Wusste sie denn, wie man den Priester in der oronischen Gefangenschaft behandelt hatte? Gewiss hatte er ähnliches<br />

durchlebt wie sie.<br />

Es war schon weit nach Mitternacht, als die Gefährten endlich die Klause erreichten. Efferjina hatte wirklich einen<br />

guten Platz gefunden um zumindest diese Nacht sicher zu verbringen. Offenbar war die kleine Kapelle wirklich<br />

noch nicht <strong>von</strong> den Dreckigen gefunden worden, denn der Altarraum war nicht geschändet, die Statuetten <strong>von</strong> Rur<br />

und Gror waren völlig unversehrt. Die Kapelle war klein, sie hatte nur einen kleinen Betraum und einen noch<br />

kleineren Raum, in dem Mylendijian früher gewohnt hatte. <strong>Das</strong> Dach war <strong>von</strong> Dschungelpflanzen schon teilweise<br />

überwuchert. Gut so, dachte Odilon, so würde ein Karakil auch im darüber fliegen das Gebäude nicht sofort<br />

entdecken. Alrik sah ihn an. Offenbar dachte er dasselbe wie Odilon.<br />

„<strong>Das</strong> Boot. Wir müssen das Boot verstecken. Es wird uns sonst verraten.“ Alrik hatte Recht. Zwar war der<br />

Bootssteg <strong>von</strong> der Seeseite hin durch Felsen abgeschirmt und nicht zusehen, aber ein Karakil würde den Kutter und<br />

das Ruderboot selbstverständlich erblicken.<br />

203


„Wir haben konstanten Nordwind, schon den ganzen Tag. Wenn wir das Segel und das Ruder feststellen, kann das<br />

Boot auf Halbwindkurs nach Westen fahren. Vielleicht werden die Schergen dann vermuten, dass wir nach Aranien<br />

fliehen wollten und unterwegs <strong>von</strong> den Kreaturen der Blutigen See geholt worden sind.“ schlug Odilon vor.<br />

„Auf alle Fälle wissen sie dann nicht, wo wir angelegt haben. Hier lassen können wir es nicht. An Land ziehen<br />

wäre möglich, aber alles, was sich hier befindet, erhöht die Gefahr der Entdeckung durch einen Karakil. Bleibt<br />

versenken oder das Boot auf die offene See steuern.“ Alrik analysierte die Situation.<br />

„He, das ist mein Boot“ mischte sich Efferjina ein. „Ihr nehmt mir noch alles weg. Ich habe meine Familie<br />

verloren, meine Heimat, und nun nehmt ihr mir auch noch mein Schiff. Mit dem Kutter kann ich eine Existenz als<br />

Fischerin aufbauen. Ohne werde ich zur Bettlerin.“<br />

„Da hat sie Recht“ stimmte Alvan zu.<br />

„Aber wohin nur damit? Hier können wir es nicht lassen, wenn wir nicht gefunden werden wollen. Der Steg ist alt<br />

und verrottet, der Pfad zur Kapelle kaum zu erkennen. Aber eine Schleifspur würde der blindeste Flugdämon<br />

bemerken, also können wir es nicht an Land ziehen. Außerdem wäre vielleicht nicht das kleine Boot, aber auf alle<br />

Fälle der Kutter zu schwer selbst für uns acht.“<br />

„Also, stimmen wir darüber ab. Wir können die Zeit hier nicht mit Diskutieren vertrödeln. Wer ist dafür, dass wir<br />

das Boot aufs offene Meer steuern und treiben lassen?“ Alrik ergriff die Initiative und hob die Hand. Odilon und<br />

Hesindian taten es ihm gleich. Der Inquisitor hob ebenfalls die Rechte.<br />

„Gut, mit mir sind wir also zu viert. Wer ist der Ansicht, dass wir das Boot so gut als möglich hier verstecken<br />

sollen?“<br />

Alvan und Efferjina meldeten sich.<br />

„Nagut. Gunelde ist wohl nicht in der Lage ihre Meinung zu äußern. Was ist mit Dir, Sigismund?“<br />

„Naja, es ist doch ohnehin schon entschieden. Auch wenn ich dagegen bin, hättet ihr eine Stimme mehr. Also<br />

fangen wir halt damit an, den Kutter klar zu machen.“<br />

„Sigismund war froh, der immer noch gereizten Alvan nicht widersprechen zu müssen, obwohl er innerlich Alrik<br />

Recht geben musste. Aber sein Eintreten für Alvan hatte ein zartes Band des Vertrauens zwischen ihm und der<br />

Halbelfe geknüpft, das er jetzt nicht durch eine konträre Meinung aufs Spiel setzen wollte.<br />

Alrik nickte und er und Odilon gingen daran, die beiden Boote vorzubereiten. Odilon schlug mehrmals fest mit<br />

dem Schwertknauf auf die Mechanik des Ruderblattes. Es würde sich nicht mehr verstellen, und zugleich war das<br />

ein Schaden, der auch durch den Angriff eines Untiers der See entstanden sein konnte. Wer immer den Kutter fand<br />

sollte ja nicht gleich die Lunte riechen. Alrik belegte den Mastbaum so dass es für einen Halbwindkurs in etwa<br />

richtig stand. Dann hieben beide noch einige Male auf das Boot ein, so dass es aussah, als hätte hier ein Kampf<br />

gewütet. Naja, viel musste man dazu nicht mehr beitragen, schließlich waren noch genug Blutspuren an Deck. Aber<br />

es sollte dem Finder der Eindruck entstehen, dass der Kutter <strong>von</strong> einem Riesenkrak oder einer anderen<br />

Abscheulichkeit der See angegriffen worden war. Zuletzt setzten sie das Segel und überließen den Kutter der See.<br />

Eine finstere Wolkenbank hatte sich vor das Madamal geschoben. Auch das kam ihnen zugute, dachte Odilon. Ein<br />

nächtlicher Kundschafter würde so nicht viel erkennen können. Andererseits, wer wusste schon auf welche Weise<br />

ein dämonischer Karakil oder eine andere unheilige Kreatur seine Umwelt wahrnahm?<br />

Hesindian und Alvan halfen Gunelde, die noch immer einen verwirrten Eindruck machte, in die Kammer der<br />

Kapelle. Der Inquisitor bot sich an, die erste Wache zu übernehmen, was die anderen gerne annahmen. Alrik war<br />

wiederum überrascht angesichts der Zähigkeit des Geweihten. Er hatte lange Zeit gedacht dass die Praiospfaffen<br />

der Bequemlichkeit erlegen waren und dem Luxus in ihren Tempeln frönten. Aber die Zähigkeit und Ausdauer<br />

Selbfrieds kam wohl der Odilons gleich, und Odilon war ein gutes Stück jünger als der Priester. Froh, endlich zum<br />

Schlafen zu kommen, legte Alrik sich nieder.<br />

Aus der Ferne drangen leise Stimmen in die warme Dunkelheit. Verschwindet, ihr Stimmen, es ist gerade so<br />

angenehm warm und friedlich, dachte Odilon. Es ist noch nicht Zeit diesen erholsamen Schlummerzustand zu<br />

beenden. Gerade jetzt, da er mit Jirka durch die Wälder des Nordens zog wollte er nicht so abrupt wieder in den<br />

schwülwarmen Dschungel <strong>Maraskan</strong>s gerissen werden. Da war sie wieder, die glockenhelle Stimme Jirkas, die er<br />

so lange nicht gehört hatte. Lasst mich noch eine Weile ihren Worten lauschen, dann werde ich mich wieder dem<br />

Tagwerk hier widmen, wünschte sich Odilon. Die Stimme war so rein.<br />

Die Stimme war jedoch sehr irdisch und keineswegs die <strong>von</strong> Jirka. Sie unterhielt sich auch nicht mit ihm sondern<br />

mit Hesindian. Odilon öffnete die Augen. Gunelde! Sie hatte wieder zu sich gefunden.<br />

"Gunelde! Was für eine Überraschung! <strong>Das</strong> erste, was ich <strong>von</strong> Dir höre, seid wir Dich wieder gefunden haben. Wie<br />

geht es Dir?"<br />

"Soweit gut. Ja, ich kann nicht klagen. Ein sehr schöner und ruhiger Ort ist das hier. Ich könnte es hier eine Weile<br />

aushalten."<br />

"Ja, und das sollten wir auch" mischte sich Alvan ein. "Schließlich ist das hier heiliger Boden. Wenn wir irgendwo<br />

für eine Weile Zuflucht finden, dann hier. Die Kapelle ist den Zwillingen geweiht. Hier sind wir sicher <strong>von</strong><br />

204


dämonischen Präsenzen. Keine unheilige Kreatur kann einen geweihten Tempel betreten, und ich meine mal sogar,<br />

das darüber fliegen bereitet ihnen Unbehagen."<br />

"Alvan hat Recht. Die wissenschaftliche Bezeichnung für einen solchen Ort ist Sanktuarium. Ein sakraler Ort,<br />

dessen guter Einfluss die Dreckigen fernhält. Hier drinnen sind wir sicher. Wir müssen nur vermeiden nach<br />

draußen zu gehen. Zumindest heute so lange es hell ist. Sollte man nach uns suchen würde man uns sonst vielleicht<br />

entdecken." erläuterte Hesindian.<br />

"Sanktuarium?" fragte Odilon<br />

"Ja. Es gibt nicht viele solche Zufluchtsstätten in den Schwarzen Landen. Aber die Wirkung ist unverkennbar.<br />

Selbst Gunelde hat wieder zu sich gefunden unter dem segenbringenden Einfluss der Kapelle."<br />

"Also meint Ihr, wir sollen nicht weiterreisen?" vergewisserte sich Odilon.<br />

"Nein. Hier sind wir nicht nur sicher vor Feinden, sondern auch vor dämonischen Einflüssen. Wir sollten den Tag<br />

nutzen um uns zu erholen. Wir haben gestern ja gesehen, wohin das führt. Ein paar Stunden Erholung tun uns nur<br />

gut. Aufbrechen können wir dann bei Einbruch der Nacht."<br />

"Bei Nacht durch den Dschungel? Bist Du <strong>von</strong> Sinnen, Hesindian?"<br />

"Ich denke nicht. Alvan hat erzählt, dass sich die Straße nur eine Meile entfernt befindet. Bei Nacht dürfte dort<br />

wohl kaum jemand anzutreffen sein. Die Furcht vor dem Heerbann der friedlichen Schwestern hält die Haffaxijas<br />

des Nachts in ihren Städten und Dörfern fest. Und wir können uns auf dem Weg auch nicht verlaufen."<br />

"Dafür werden dann wir <strong>von</strong> den Asseln und Käfern gefressen." brummte Odilon.<br />

"Die friedlichen Schwestern werden uns nichts tun. Es ist kein einziger Fall bekannt, dass sie Priester der Zwillinge<br />

angegriffen hätten." Alvan wusste, dass sie nicht die ganze Wahrheit sprach. Die Priester der Zwillinge wussten<br />

lediglich, wie man den friedlichen Schwestern aus dem Weg ging. Mit dem Heerbann wirklich umgehen konnten<br />

lediglich die Bruderschwestern des Eukolizana-Ordens. Und auch diese nur wenn sie sich in Begleitung einer<br />

Maraske befanden. Aber sie musste ihre Gefährten ja nicht beunruhigen. "Ihr Ziel sind die Besatzer, die ruchlosen<br />

Paktierer."<br />

"Dann hat ja außer unserem Inquisitor niemand etwas zu befürchten" brummte Sigismund, zum Glück so leise, dass<br />

der Genannte es nicht hörte. Es achtete auch niemand darauf. Zum gleichen Zeitpunkt ertönte ein hoher schriller<br />

Schrei.<br />

"<strong>Das</strong> ist ein Karakil" flüsterte Selbfried. Schweigt alle still. Vor allem geht niemand <strong>von</strong> Euch nach draußen. Hier<br />

kann er uns nicht sehen und auch nicht spüren. Die Dreckigen suchen uns, aber sie werden uns nicht finden. Nicht<br />

hier."<br />

Die Gefährten verstarrten in banger Erwartung. Sie meinten zu spüren wie der Dämon über den Dschungel kreiste.<br />

Er musste sie sehen. Ein solches Gemäuer, auch wenn es mit Ranken überwachsen war, konnte man aus der Luft<br />

nicht übersehen. Oder doch? Verbarg die heilige Aura des Sanktuariums es vor den Augen des Dämons? Ein<br />

weiterer hoher Schrei ertönte. Der Dämon flog westwärts auf das offene Meer hinaus. Hatte er den Segler erspäht?<br />

Würde die List erfolgreich sein? Jetzt hatten sie keine andere Wahl mehr, als hier auszuharren und die Nacht<br />

abzuwarten<br />

„Nagut, nachdem wir jetzt ohnehin nicht weiter können, sollten wir es uns hier bequem machen bis zum Einbruch<br />

der Dämmerung. Gunelde, vielleicht kannst Du auch einmal nach Alvan sehen“ schlug Odilon vor. „In den letzten<br />

Tagen ist es ihr nicht immer gut ergangen. Ich hoffe, dass es lediglich die Hitze ist die ihr zu schaffen macht, aber<br />

wir sollten sicher gehen.“<br />

„<strong>Das</strong> ist nicht nötig“ widersprach Alvan. „Mir fehlt nichts.“<br />

„<strong>Das</strong> sah gestern aber noch anders aus. Dein Schwächeanfall gestern hat mich schon bedenklich gestimmt. Und mir<br />

ist viel daran gelegen, dass es meiner Lehensfrau gut geht“ stimmte Alrik Odilon zu.<br />

„Mir geht es gut. Danke der Fürsorge.“ Alvan wandte sich abrupt ab und zog es vor, in die Kammer zu gehen, wo<br />

sie ihre Ruhe haben würde.<br />

„Was ist denn mir der los?“ wunderte sich Hesindian. „So zickig kenne ich sie doch sonst nicht.“<br />

„Ich werde nachher mal nach ihr sehen. Aber wenn sie jetzt ihre Ruhe haben will sollten wir das respektieren“<br />

meinte Gunelde.<br />

„Gut. Vielleicht kannst Du uns inzwischen mal erzählen, wie es Dir ergangen ist seit wir Dich verloren haben.“<br />

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich war an Deck gestanden, als der unheimliche Nebel aufkam. Als die Fran-<br />

Horas uns gerammt hatte sind zwei dieser Geschuppten an Bord gesprungen. Wissen die Zwölfe was sie <strong>von</strong> uns<br />

wollten. Aber die Krakonier haben einen Matrosen und mich gepackt. Der andere Krakonier ist mit dem Matrosen<br />

dann auf die Fran-Horas geflüchtet, nur der meine hat sich wohl etwas verschätzt. Ich hab mich gewehrt und mit<br />

ihm gerungen. Ich hab um mich getreten und ihn gebissen. Natürlich hatte ich keine Chance gegen ihn, er hat mich<br />

dann mit seinen Armen umschlungen und zur Reling gezogen. Aber es hat immerhin so lange gedauert dass die<br />

Fran Horas schon zu weit weg war. Also sind wir ins Meer gefallen und haben beide Schiffe nur noch nachsehen<br />

können. Als der Nebel die Umrisse der Schiffe verschluckt hatte waren wir völlig allein.<br />

Dabei hat es sich dann herausgestellt, dass Krakonier zwar stärker sind als Menschen, aber keineswegs<br />

ausdauernder. Nach einer Weile ist es mir gelungen an meinen Dolch zu kommen – er steckte noch immer in<br />

205


meinem Gürtel, wissen die Götter warum er ihn mir nicht abgenommen hat. Den hab ich ihm dann in den Leib<br />

gerammt. Im Todeskampf hat er mir den Dolch zwar noch entwunden und mir ins Bein gestoßen, aber die Wunde<br />

war Peraine zum Dank nicht tief. Wenig später ist der Krakonier dann dahingeschieden. Und ich bin durch das<br />

Meer getrieben. Bis ich dann <strong>von</strong> einem Fischer gefunden wurde, der mich nach Gipflak gebracht hatte.“<br />

„Und das Eis? Wo kam das Eis her?“<br />

„Lieber Himmel, wenn ich das mal wüsste. Ich war völlig erschöpft, hab mich mit Beten bei Bewusstsein gehalten.<br />

Plötzlich war es eben da, einige Holzplanken und treibendes Eis. Ich sehe es als Wunder an, denke der Schutzgott<br />

der Gallyser schickte mir sein Element um mich über Wasser zu halten, weil er über der Mission wacht. Ich weiß es<br />

nicht. Jedenfalls hat das Eis mir das Leben gerettet, ich hab mich halb an dem schwimmenden toten Krakonier,<br />

halb an einem Eisblock festgehalten bis ich gefunden wurde. Denn Rest kennt ihr, ich wurde nach Gipflak gebracht<br />

und dort in der Garnison verhört. Ich war völlig erschöpft, hab teils schon halluziniert, und die Befragung hat mir<br />

den Rest gegeben. Soweit ich überhaupt noch etwas klar denken konnte hab ich gedacht es sei das beste die <strong>von</strong><br />

Hesinde verlassene zu spielen, damit man mich nicht weiter befragt. Aber hier ist wirklich der geeignetste Ort, um<br />

wieder zu sich zu finden. So, jetzt wisst ihr es, und mehr möchte ich auch gar nicht erzählen. Ich werde mal nach<br />

Alvan sehen.“<br />

Alrik nickte, und Gunelde stand auf.<br />

In der Kammer neben dem Altarraum hatte es sich Alvan auf dem verfallenen Bett Mylendijians gemütlich<br />

gemacht. Gunelde setzte sich auf den Schemel daneben und schloss die Tür.<br />

„Du siehst aber wirklich nicht so gut aus. Nein, nicht krank. Aber erschöpft und ziemlich mitgenommen. Mehr<br />

sogar als ich, und dabei bist Du ja die weitaus kräftigere <strong>von</strong> uns beiden. Erzähl mir was mit Dir los ist.“<br />

„Ach Gunelde. Es ist schön dass Du wieder bei uns bist. Mit den Männern kann man ohnehin nicht reden. Sie<br />

verstehen nichts. Sie halten mich für grausam. Sie rügen mich dafür, wie ich Gurban getötet habe. Ja, es war<br />

grausam. Aber es war richtig so und ich bereue es nicht im Mindesten. Gurban hat den Tod verdient, und er hat ihn<br />

auch auf diese Weise verdient.“<br />

„Mag sein. Aber für Odilon und Alrik ist das, was Gurban oder Gion oder Ortwin tun, zwar falsch und<br />

verachtenswert, aber sie verstehen das nicht als unnötige Grausamkeit. Sie können das auch nicht verstehen. Aber<br />

das ist es doch nicht, was Dir fehlt. Es ist mehr als die unverarbeiteten Erfahrungen, die Du gemacht hast, nicht<br />

wahr?“<br />

„Ja und nein. Es ist mehr als das und hängt doch damit zusammen. Die letzte Woche schon geht es mir nicht so gut.<br />

Es bricht alles wieder über mich ein. Und als Gurban sich an Efferjina vergreifen wollte konnte ich einfach nicht<br />

anders. Weißt Du, was mit geschändeten Frauen in der Khom geschieht? Sie können nicht mehr heiraten. Sie tragen<br />

eine so große Schande mit sich, dass die Wüstensöhne eine Frau verstoßen würden, der dergleichen geschieht.“<br />

„Ja. Aber im Reich Rauls ist das götterlob nicht mehr so, und ebenso wenig auf <strong>Maraskan</strong>. Jungfräulichkeit hat<br />

allein bei den Anhängern des Rastullah-Kultes eine so hohe Bedeutung. Aber das dürfte doch für Dich jetzt nicht<br />

das Entscheidende gewesen sein. Ich denke nicht, dass sich ein Darpatier oder Garetier daran stören würde. Auch<br />

wenn die Traviakirche nirgendwo sonst so viel Einfluss hat wie in <strong>Darpatien</strong>, so wird Dir daraus kein Nachteil<br />

erwachsen. Sigismunds amouröse Abenteuer sind bekannt, und über manch andere Damen <strong>von</strong> Stand kann man gar<br />

im Landboten lesen wem sie alles zu willen sind und mit wem sie ohne verheiratet zu sein das Lager teilen, ohne<br />

dass ihnen ein Nachteil daraus entstünde.“<br />

„Nein. Gewiss nicht. Und Sigismund würde mich auch dennoch heiraten. Er ist ein Lebemann, ein Lustwandler und<br />

Herumtreiber. Aber ich denke, er würde es ernst meinen mit mir. Er wäre ein standesgemäßer Ehemann, der mir<br />

meine Freiheit lassen würde. Und ich ihm die seine. Vielleicht sollte ich ihn doch heiraten.“<br />

„Alvan, ich kenne Dich doch jetzt schon eine Weile. Du liebst ihn nicht, warum also würdest Du ihn heiraten<br />

wollen? Niemand drängt Dich in eine Ehe, warum also denkst Du darüber nach?“<br />

„Weil... Tsa meinen Leib gesegnet hat.“<br />

Gunelde stand wie vom Donnerschlag gerührt.<br />

„Bitte sag es niemandem. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich muss doch auch an die Zukunft denken.<br />

Ein Kind <strong>von</strong> einem Dämonenpaktierer und Söldner Xeerans! <strong>Das</strong> würde selbst am Hof <strong>von</strong> Rommilys zerredet<br />

werden. Kannst Du Dir vorstellen, was passieren würde? <strong>Das</strong> wäre doch genau das, worauf die Feinde der<br />

Baernfarns, diese zwölfmal verfluchten <strong>von</strong> Rabenmunds auf dem Fürstenthron, warten. Die Ehre meiner Familie<br />

wäre völlig zerstört, man würde Raul im schlimmsten Fall seines Amtes entheben, der Familie sämtliche Titel<br />

aberkennen. Auch wenn ich nichts dafür kann, jeder würde mich eine Dämonenbuhle nennen, jeder würde sagen,<br />

dass die Baernfarns doch im geheimen den schwarzen Landen verbunden wären, und dass ich mich dem Pack<br />

freiwillig hingegeben hätte.<br />

Gar nicht auszudenken was wäre, wenn der intrigante Oppsteiner da<strong>von</strong> erfährt. Er würde die Geschichte noch<br />

weiter aufbauschen um sich dann dank seiner guten Kontakte zum Fürstenhof unsere Ländereien unter den Nagel<br />

zu reißen. Redenhardt versucht doch seit Jahren schon, uns um die Früchte unserer Arbeit zu betrügen. Sieh Dir<br />

doch nur an, was er aus dem Trutzbund gemacht hat. Aus einem Bund schwarzsichler Adeliger zum gemeinsamen<br />

206


Wohl, wie Deggen es sich gedacht hat, ist ein Verein willfähriger Handlanger Redenhardts geworden. Nein,<br />

niemand darf jemals da<strong>von</strong> erfahren.“<br />

„Und deswegen Sigismund...“<br />

„Ja. Schließlich war ich mit ihm auf Reisen, und meine Bauern lästern schon genug über das angebliche Verhältnis,<br />

das ich mit ihm habe. Diese Geschichte würde wenigstens niemand in Zweifel ziehen. Und da Sigismund<br />

gleichermaßen an dem Ruf unseres Hauses gelegen ist wie mir wird er dabei wohl mitspielen. Er bekommt ja auch<br />

als Preis dafür was er sich wünscht: Mich. Für die Familienehre wäre es das Beste.“<br />

Gunelde verstand jetzt erst die innere Verzweiflung Alvans. Ja, Alvan hatte Recht im Hinblick auf das, was<br />

passieren könnte, wenn man am Hofe <strong>von</strong> der Geschichte erfuhr. Die Baernfarns hatten die letzte Intrige der<br />

unsäglichen Allianz aus dem Fürstenhaus und den Oppsteinern nur knapp überstanden. Ein solcher Skandal könnte<br />

das Ende der nahezu tausenddreihundertjährigen Geschichte der Baernfarns als Barone zu Gallys bedeuten.<br />

„Dann solltest Du mit ihm darüber sprechen. Aber nur mit ihm, noch nicht einmal mit Odilon oder Alrik.<br />

Schließlich wäre jeder mehr, der da<strong>von</strong> weiß, ein Risiko. Ich für meinen Teil werde schweigen wie ein Boronanger.<br />

Aber du musst mit Sigismund ehrlich umgehen, er kennt gewiss den Unterschied zwischen acht und neun<br />

Monaten.“<br />

„Ja, Du hast Recht. Ich hatte zuerst daran gedacht ihn zu verführen, was mir wohl bei Sigismund nicht schwer<br />

fallen würde. Aber er würde es merken.“<br />

Gunelde dachte kurz nach.<br />

„Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Ich kann Dir die entsprechenden Kräuter dafür besorgen wenn wir in Jergan<br />

sind. Es wird dort schon Heilerinnen geben, bei denen ich etwas kaufen kann...“<br />

„Nein... Nein. <strong>Das</strong> dürfen wir nicht. Du darfst das nicht tun. Schwester Peraine erlaubt das Dir ebenso wenig wie<br />

die Zwillinge mir. <strong>Das</strong> wäre ein Frevel an den göttlichen Geboten und das darf nicht sein. Ich darf Rurs<br />

Schöpfungsplan nicht in Frage stellen.“<br />

Gunelde verstand nicht sofort. Aber zugleich war sie froh, dass Alvan ihr Angebot nicht annahm. Es wäre ja auch<br />

ein Frevel gegen ihren Glauben gewesen, der sie in arge Gewissensnöte geführt hätte.<br />

„Du weißt ja, was wir in <strong>Maraskan</strong> glauben. <strong>Das</strong> Schicksal eines rechtschaffenen Menschen dient der Schönheit der<br />

Welt, auch wenn wir oft nicht verstehen können, auf welche Weise. Wenn es Rurs Schöpfungsplan entspricht das<br />

Schwester Tsa meinen Leib segnet werde ich mich dem Willen Rurs fügen.“<br />

Als ein weiteres, auf underische Weise vielstimmiges, hässliches Kreischen erklang, konnte Odilon nicht an sich<br />

halten. Er ging zum rankenbedeckten Eingang des Schreins und spähte aufs Meer. Gleich einem Schweifstern flog<br />

ein glosender Feuerball vom Nachthimmel herab und stürzte auf den Schatten des Fischkutters. Im Widerschein der<br />

Flammen waren die schuppicht glänzenden Leiber der Dämonen zu erahnen, die ihre Beute wie Aasgeier<br />

umkreisten. Es waren zwei Karakilim mit Reitern, nein, drei. Dann wurde es wieder dunkel.<br />

Ein weiterer Feuerball stürzte auf das brennende Boot, das aus der Entfernung, nun, da die Flammen wieder etwas<br />

heruntergebrannt waren, eher wie ein flackerndes Öllämpchen wirkte. Erneut eine gewaltige Stichflamme. Dann<br />

schwanden die Flammen rasch zu einem schwachen Glimmen und verloschen schließlich ganz.<br />

"Gut, dass wir nicht an Bord waren" feixte Alrik, der unbemerkt hinter den Waldläufer getreten war. "<strong>Das</strong> ist ja ein<br />

Feuerwerk wie zu Rohals Verhüllung...."<br />

Odilon nickte: "Zwei magische Feuerbälle auf einmal. Nicht schlecht. Die wollen sich ihrer Sache sicher sein."<br />

Innerlich war er zufrieden. Dieser Gewaltausbruch bedeutete, dass kaum Spuren zurückbleiben würden, die den<br />

Dreckigen irgendwelche nützlichen Anhaltspunkte auf ihren Verbleib geben würden.<br />

"Woher wussten die, dass wir nicht Leute des Fürstkomturs sind?"<br />

"Nun, gut möglich, dass die übrigen Fischer aus Sindibab bereits Meldung gemacht haben" antwortete Odilon. "Ich<br />

war mir nicht ganz sicher, ob nicht auch einige andere <strong>Maraskan</strong>er Selbfrieds Robe erkannt haben."<br />

Erneut flackerten draußen auf dem Meer Flammen hoch. Diesmal musste es sich um mindestens eine Kugel<br />

Hylailer Feuer gehandelt haben, denn Odilon hatte keinen Feuerball entdecken können. Der brennende Ölteppich<br />

galt offenbar eventuellen Überlebenden im Wasser. Odilon schauerte, obschon die Nacht schwülwarm war. Nein,<br />

sie hätten wirklich keine Chance gehabt, sich gegen drei Karakilreiter auf einmal zu wehren, zumal diese sehr hoch<br />

flogen, offenbar um sich gegen Bogenschüsse und Zaubersprüche zu schützen. Es war schon erstaunlich, dass die<br />

Dämonenpaktierer nun, mitten in der Nacht, den Fischkutter so schnell wieder gefunden hatten.<br />

"Vielleicht hat auch unsere alte Freundin Adelgunde in Gipflak Meldung gemacht", schlug Alrik vor. "So eine<br />

Brieftaube ist doch schnell in Jergan. Und wer weiß schon, ob die Dreckigen nicht auch noch andere Möglichkeiten<br />

zur Verständigung haben. Die Geschichte mit den Agenten aus Tuzak hat sie uns jedenfalls keinen Augenblick lang<br />

abgenommen. So dumm wie dieser Ortwin Natter war sie nicht."<br />

"Dumm? Ich weiß nicht, ob Ortwin wirklich nur dumm gehandelt hat." Odilon zuckte mit den Schultern. "Seinem<br />

Verhalten in Radromsfort nach zu urteilen war er ziemlich schlau, oder besser gesagt verschlagen wie eine<br />

Schlange. Gut möglich, das er uns erkannt hat und wirklich ein weiteres mal überlaufen wollte. Sein Spitzname hat<br />

jedenfalls gepasst. Die Dämonen dort draußen" - er wies unbestimmt in den Nachthimmel, der nun wieder<br />

ausschließlich durch das Madamal und einige blinkende Sterne erhellt war - "sind auch eine Art Schlangen und<br />

207


jenem Erzdämonen geweiht, den man als den Feind der Treue kennt, Travia steh´ uns bei. Wer ihm dient, ist auf<br />

zwanghafte Weise unstet und zu ständigem Verrat sowie zur ruhelosen Wanderung verdammt, Eigenschaften, die<br />

alle auf unseren tobrischen Luden zutreffen würden."<br />

"Ja, und die dämonischen Diener dieser Wesenheit sind obendrein dafür berüchtigt, Zwietracht in den Reihen der<br />

Rechtgläubigen zu säen" erklang die leicht stockende Stimme des Magiers, der nun ebenfalls vor den Schrein trat.<br />

"Mag sein, dass es auch der Widersacher Travias und nicht allein der Feind Rondras war, der uns draußen auf dem<br />

Boot in diesen unseligen Streit geraten ließ."<br />

Odilon blickte betreten zu Boden. "Ich hoffe, dass es wirklich auch Dämonenwerk und nicht allein unser eigener<br />

Fehl war."<br />

"Auf jeden Fall ist es gut, dass diese Klapperschlange jetzt abgemurkst im Perlenmeer treibt" meinte Alrik. "Der<br />

Schweinehund hätte uns bei erstbester Gelegenheit selbst ans Messer geliefert, da bin ich mir sicher."<br />

Ein, zwei weiter Mal erklang das schrille, krächzende Kreischen, aber diesmal deutlich schwächer und ferner.<br />

"Sie fliegen nordöstlich an uns vorbei" meinte der Gallyser, nachdem das Gackern, Brüllen und Kreischen des<br />

Dschungels wieder eingesetzt hatte (tatsächlich, erst jetzt hatte er bemerkt, dass der Regenwald totenstill geworden<br />

war, als sich die unheiligen Wesenheiten genähert hatten). "In Richtung Jergan..."<br />

"So sind wir an Jergan schon vorbei?" fragte der silberhaarige Magus nach einem Moment des Nachdenkens<br />

erstaunt. "Ich dachte, das flackernde Leuchten an der Küste vorhin wäre ein Fischerdorf."<br />

"Nein, nach meinen Berechnungen müsste sich die Stadt einige Meilen dort drüben befinden, im Norden jenseits<br />

des Dschungels." Odilon, der einen Schritt auf den morschen Steg hinausgetreten war, wies in die Dunkelheit.<br />

"Warum auch nicht. Wir hatten seit Gipflak die ganze Zeit Rückenwind und sind außerordentlich schnell<br />

vorangekommen."<br />

Alrik spähte in die entgegengesetzte Richtung. "<strong>Das</strong> heißt dann aber auch, dass das Tal der Glühwürmchen sich<br />

nicht allzu weit entfernt befinden muss!? Wenn ich die Karte richtig in Erinnerung habe, irgendwo nicht weit <strong>von</strong><br />

hier im Südosten, auf der anderen Seite der Küstenstraße."<br />

"Ganz recht, ein Tal, dessen Eingang <strong>von</strong> zwei Felsen flankiert werden soll, die entfernt wie Raben aussehen."<br />

"Finden wir die überhaupt bei Nacht?" wollte Alrik wissen.<br />

"Gute Frage. Ich bin mir ehrlich gesagt nicht einmal sicher, ob wir sie mit einer derart wagen Beschreibung<br />

überhaupt bei Tage finden."<br />

"Ich wäre ohnehin dafür, dass wir erst mal hier bleiben, im Sanktuarium. Wir alle scheinen ein bisschen Ruhe<br />

gebrauchen zu können." Hesindians Stimme klang wie ein müdes Seufzen. "Zum Glück haben wir in Gipflak ja<br />

genügend Proviant an Bord genommen."<br />

"Gut, ruhen wir uns etwas aus. Die Häscher des Fürstkomturs dürften uns erst mal für tot halten und Ruhe geben",<br />

meinte Odilon, während die drei wieder in den Schrein gingen. Man setzte sich in einen Kreis. Die auffallend<br />

schweigsame Gunelde begann auf einem kleinen Feuer das Abendessen zuzubereiten, Tee, Fladenbrot und eine<br />

dünne Reissuppe. Alvan befand sich im Nebenraum und war nach Art der <strong>Maraskan</strong>er in eine laute Zwiesprache<br />

mit ihren Göttern vertieft. Die Gefährten aßen schweigend und sahen immer wieder zur Tür, <strong>von</strong> wo aus die<br />

Geräusche des ewig unruhigen Meeres ebenso hereindrangen wie die des nicht minder unsteten Dschungels.<br />

Odilon hatte kaum fertiggekaut, da stand er auch schon wieder mit dem Bogen auf Wache und spähte in die<br />

feuchtwarme Dunkelheit. "Was unser alter Freund Mercurio Mirhamdez wohl gerade macht?" sprach Alrik in das<br />

Schweigen seiner Gefährten hinein. "Hoffentlich ist er nicht schon vor uns im Tal der Glühwürmchen angekommen<br />

und hat sich mit dem Schatz aus dem Staub gemacht." Gunelde und Hesindian räumten die Reste des Mahles<br />

beiseite.<br />

208


VIII. Kapitel: Mylendijians Klause<br />

Was bei Belhalhar wollte dieser Seefahrer wirklich in Jergan, fragte sich Andromeija. Mit einer Frau und einem<br />

Jungen hatte er sich, als sei er eine normale Familie, die in <strong>Maraskan</strong> ihr Glück versuchen wollte, in einer Herberge<br />

eingemietet. Ein Mann mit Al´Anfanischem Dialekt. Es kam selten vor, dass ein Al´Anfaner sich nach Jergan<br />

verirrte, abgesehen <strong>von</strong> Handels- oder Schmugglerschiffen, die aller Feindschaft mit dem Kaiserreich und seinen<br />

Verbündeten zum Trotz in <strong>Maraskan</strong> blanke <strong>Gold</strong>dukaten verdienen wollten. Aber dieser Mann schien zu keinem<br />

Schiff zu gehören. Er war, wie Andromeija erfahren hatte, als Passagier aus Elburum gekommen.<br />

Nun gut, das allein war nicht so absonderlich. Denn zwischen <strong>Maraskan</strong> und Oron herrschte reger Handel, vor<br />

allem Getreide lieferten die Oronier in großem Maße an. Aber der Seefahrer, Mercurio nannte er sich, war kein<br />

Getreidehändler. Er schien wohlhabend zu sein, er hatte stets mit blinkender Münze gezahlt. Aber niemand mochte<br />

auch nur vermuten, woher er seinen Reichtum habe. Und Jergan war gewiss nicht der richtige Ort für einen reichen<br />

Mann, sein Geld zu verprassen. Da wäre er mal lieber in Elburum geblieben. Was also führte Mercurio nach<br />

<strong>Maraskan</strong>?<br />

Andromejia war erst seit wenigen Tagen in Jergan. Sie hatte sich bei hiesigen Stellen gemeldet, wie das üblich war<br />

als Gesandte Rayo Brabakers. Sie hatte gehofft, hier weitere Informationen zu finden über das mögliche Versteck<br />

des geraubten Enduriums. Bislang wusste sie nicht viel. Der in Tuzak verhörte Priester hatte gesagt, dass eine<br />

Mirajida, eine Jerganer Priesterin, das Endurium versteckt hatte. Nun, eine Mirajida hatte es tatsächlich gegeben in<br />

Jergan, und sie war, das hatten ihre Ermittlungen ergeben, im Dschungel verschollen. Ein im Dschungel<br />

verschwundener Mensch mehr. Immerhin wusste sie die ungefähre Richtung Mirajidas. Sie war zuletzt in Nuran<br />

gesehen worden. <strong>Das</strong> war unweit des Tales der Glühwürmchen, in dem, wie der übliche Kladj besagte, der<br />

Tempelschatz der Jerganer Priesterschaft versteckt worden war nach der Invasion. Nach der Invasion der Garether<br />

unter Kaiser Reto, wohlgemerkt.<br />

Eigentlich maß Andromejia dem üblichen Kladj keine Bedeutung zu, aber irgendwie ergänzte sich das. War es<br />

denkbar, dass der Tempelschatz und das Endurium dort tatsächlich versteckt waren, weil die Priesterschaft den<br />

darauf vertraute, dass bei solcherart verbreiteten Gerüchten niemand ernsthaft dort einen Schatz vermutete? Die<br />

Logik der <strong>Maraskan</strong>er legte einen solchen Schluss fast nahe. Es war immerhin den Versuch wert, dort nachzusehen,<br />

weit war der Weg ja nicht.<br />

Also hatte sie sich bei einem kundigen Kartenzeichner eine Wegkarte erstanden und sich den Weg ins Tal der<br />

Glühwürmchen erklären lassen. Stutzig geworden war Mirajida bei der Reaktion des Geographen: „Na so was, da<br />

will jahrelang niemand etwas wissen vom Tal der Glühwürmchen, und dann verkaufe ich gleich zwei Karten dieser<br />

Gegend in nur zwei Tagen! Und ich dachte, die Zeit der Schatzsucher ist schon seit Jahren vorbei. Wenn da jemals<br />

was dran war an dem Kladj ist der Finder des Schatzes doch schon über alle sieben Meere geflohen!“<br />

„Jaja, der Schatz interessiert mich auch gar nicht“ hatte Andromejia entgegnet. Ich schreibe an einer Chronik<br />

maraskanischer Geschichte und wollte den Schauplatz der Schlacht <strong>von</strong> Hemandu in Augenschein nehmen. Sagtet<br />

ihr, noch jemand hätte so eine Karte erstanden?“<br />

„Ja, gerade einmal gestern fragte mich dieser Fremde danach.“<br />

Andromejia war neugierig geworden. An Zufälle glaubte sie nicht. <strong>Das</strong> tat niemand in <strong>Maraskan</strong>, entsprach es doch<br />

der Sicht der <strong>Maraskan</strong>is, hinter allem den Schöpfungsplan Rurs zu vermuten. Auch die Anhänger der neuen<br />

finsteren Religion waren in diesem Denken verhaftet geblieben. Warum also war der Fremde nach Jergan<br />

gekommen? Hatte das etwas mit ihrer Mission zu tun, fragte sich Andromejia? Mit einigen geschickten Fragen<br />

entlockte sie dem Mann die gewünschten Informationen.<br />

Sie würde Mercurio beobachten.<br />

Es war Andromejia nicht schwer gefallen herauszufinden, wo Mercurio sein Quartier bezogen hatte. Andromejia<br />

hatte gute Kontakte zur Unterwelt, auch in Jergan. So hatte sie erfahren, dass Mercurio mit seinen Begleitern im<br />

Roten Mond abgestiegen war, einer gutbürgerlichen ruhigen Herberge, in der man vor dem einfachen und armen<br />

Volk nicht gestört wurde.<br />

Andromejia hatte wirklich keine Schwierigkeiten, etwas über diesen Mercurio in Erfahrung zu bringen. Sie hatte<br />

im Hafenbüro ein paar Fragen gestellt und dabei erfahren, dass Mercurio Kapitän im Dienst der Xeraanischen<br />

Kaperflotte war. Er war schon des Öfteren mit seinem Schiff, der FranHoras, in Jergan vor Anker gewesen. Der<br />

Hafenmeister kannte ihn persönlich, der Zollmeister ebenso, und vermutlich war er auch bei mindestens der Hälfte<br />

der Hafenhuren schon zu Besuch gewesen. Verwunderlich war an der Sache nur, warum Mercurio ohne sein Schiff<br />

nach Jergan gekommen war. Wollte er ohne mit seiner Mannschaft zu teilen einem Schatz nachjagen? <strong>Das</strong> war<br />

möglich. Jedenfalls schien er sehr genau zu wissen, nach was er suchte. Also würde Andromejia mit ihm reden<br />

müssen. Schließlich wusste sie lediglich, dass der Tempelschatz irgendwo im Tal der Glühwürmchen liegen sollte,<br />

aber das Tal war groß. Man könnte jahrelang nach einem Schatz im Dschungel suchen, wenn man nicht wüsste, wo<br />

man suchen sollte. Wenn dieser Mercurio mehr wusste, dann musste sie ihn aufsuchen.<br />

209


Andromejias nächster Weg führte sie zur Garnison. Nachdem sie ein entsprechendes Schreiben vorweisen konnte,<br />

das sie als Gesandte Rayo Brabakers auswies konnte sie es wohl erwarten, dass man drei oder vier Gardisten zu<br />

ihrem Schutz und zum Schutz des Unternehmens ihrem Kommando unterstellte. Ein paar Gardisten wären bei der<br />

Verhandlung mit Mercurio gewiss <strong>von</strong> hilfreich. Schließlich wollte sie hochoffiziell auftreten und wollte das auch<br />

glaubhaft machen können. Und sie wollte ja auch verhindern, dass Mercurio zuerst mit ihr auf Schatzsuche ging<br />

und sie danach schlicht zu beseitigen versuchen würde. Auch wenn der Kapitän unter der Flagge eines verbündeten<br />

Landes segelte hieß das nicht, dass man ihm deswegen gleich vertrauen müßte. Es segelte allerlei Abschaum der<br />

Meere unter den Flaggen der Heptarchenreiche. Aber mit geschulten Gardisten als Begleitung ließ sich der Kapitän<br />

wohl beeindrucken. Und die Frau und das Kind schätzte sie nicht als Gefahr ein, mit der sie nicht auch allein fertig<br />

werden würde.<br />

Wieder erwies sich die Vollmacht, die Andorkan ihr ausgehändigt hatte, als wahres <strong>Gold</strong> wert. Der Hauptmann der<br />

Garde war sichtlich beeindruckt <strong>von</strong> dem hohen Besuch und der Empfehlung Rayos. Gewiß, es sei kein Problem,<br />

ihr ein halbes Dutzend Gardisten für eine zweiwöchige Mission zur Verfügung zu stellen. Natürlich sei man stets<br />

gewillt, der Komturei Tuzak zu helfen soweit man dies könne. Natürlich, darüber machte sich Andromejia keine<br />

Illusionen, war der Eifer des Gardehauptmanns auch dadurch begründet, durch seine Gardisten über die Interessen<br />

und Machenschaften der Tuzaker in Jergan auf dem Laufenden gehalten zu werden. Na wenn schon. Darum würde<br />

sie sich später kümmern.<br />

Einen Moment lang hatte sie darüber nachgedacht, statt Gardisten schlichte Söldner anzuwerben, die ihr Schwert<br />

für ein paar Silberlinge feilboten. Dann hätte sie die Jerganer Stellen nicht in die Sache hineinziehen müssen. Aber<br />

Söldner waren nicht wirklich loyal. Wenn der Wert des Schatzes den zugesicherten Sold um ein Vielfaches<br />

überstieg, dann könnten sie vielleicht auf die falschen Gedanken kommen. Gardisten und Soldaten konnten nicht<br />

einfach desertieren und würden daher loyaler ihre Order ausführen. Mit den Gardisten suchte sie Mercurio auf.<br />

Es war ihr wirklich nicht schwer gefallen, ihn zu überzeugen, mit ihr zusammen zu arbeiten.<br />

Zwei Tage später brachen Andromejia und Mercurio in Richtung Nuran auf. Andromejia hatte Mercurio angeboten,<br />

dass sie ihm ein Drittel des Schatzes als Finderlohn überlassen könne, wenn er ihr bei der Suche behilflich sei.<br />

Mercurio hatte nach einigem Überlegen dem zugestimmt. Es war ein Handel <strong>von</strong> kurzer Dauer, und das ahnten<br />

beide.<br />

Mercurio würde, sobald er den Schatz in seinen Händen haben würde, Andromejia und ihre bewaffneten Begleiter<br />

töten. Er baute darauf, dass Andromejia nicht wissen konnte, dass er in den schwarzmagischen Künsten bewandert<br />

war. Mit Hilfe seiner Fähigkeiten würde er sie schon besiegen können. Aber einstweilen konnte er sie als<br />

einheimische Verbündete, die offenbar mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet war, gut gebrauchen. <strong>Das</strong><br />

einzige Problem bestand im Verlassen der Insel, da er ohne Andromejia wohl kaum nach Jergan, Tuzak oder Boran<br />

gelangen konnte, ohne dass dort die Mächtigen auf ihn aufmerksam wurden. Natürlich würde man Andromejia<br />

früher oder später vermissen, erst recht, wenn er ohne ihre Begleitung gesehen wurde. Aber darüber konnte er sich<br />

beizeiten Gedanken machen. Mercurio wusste nicht, wie weit der Einfluß Andromejias reichte, aber es gab viele<br />

Wege, <strong>Maraskan</strong> zu verlassen.<br />

Andromejia ihrerseits verließ sich auf den Schutz ihrer Gardisten und vor allem darauf, dass sie ein sicheres Gespür<br />

für die Gefahr hatte. Außerdem würde sie Mercurio nach einer Rückkehr nach Jergan ohne Schwierigkeiten durch<br />

die Garde verhaften und beseitigen lassen können. Wenn sich nicht schon vorher die geeignete Gelegenheit gab.<br />

Es war ein Bündnis auf Zeit, Andromejia wie auch Mercurio waren gewieft genug, das zu durchschauen. Aber,<br />

auch da waren sich beide einig, war die Gewissheit der Ungewissheit, die <strong>von</strong> dieser Situation ausging, verlockend<br />

für Menschen, die dem Reiz der Gefahr erlegen waren. Je höher der Einsatz umso reizvoller war das Boltanspiel.<br />

***<br />

Als Jergan in Sichtweite geraten war, ließ Vegsziber die schwarze Al´Anfanische Flagge hissen. Wie viele Piraten<br />

und Schmuggler verwendete er die schwarze Flagge in solchen Fällen. Al´Anfa war weit genug weg, um diesen<br />

Missbrauch seiner Hoheitszeichen nicht ahnden zu können, aber dennoch präsent genug in dieser Region um<br />

glaubhaft zu wirken. Al´Anfaner waren die einzigste Macht außer den anderen Heptarchenreichen, das Handel mit<br />

dem besetzten <strong>Maraskan</strong> trieb. Unter dem schwarzen Banner konnten sie sogar Einlass in den Hafen Jergans<br />

finden. Es war da<strong>von</strong> auszugehen, dass die Haffaxijas durchschauten oder es zumindest erahnten, dass viele der<br />

Schiffe unter der schwarzen Flagge fahrenden Segler diese Flagge missbräuchlich verwendeten. Aber so lange sie<br />

<strong>von</strong> dem Schmuggel profitierten und begehrte Waren aus dem freien Aventurien erlangten, unternahmen sie nichts<br />

dagegen. Es dürfte also durchaus möglich sein, dass eine kleine Gruppe in Jergan <strong>von</strong> Bord ging und in das<br />

Landesinnere reiste.<br />

Kapitän Vegsziber hatte die Gefährten in die Offiziersmesse zu einer Unterredung geladen.<br />

„Also gut, halten wir fest, dass der Tempelschatz <strong>von</strong> der Priesterin Mirajida im besagten Tal der Glühwürmchen<br />

versteckt wurde. Und nehmen wir einmal an, wir finden den Schatz, auch wenn wir ohne den Beistand und das<br />

210


Wissen der Priesterin und ihrer garethischen Begleiter auskommen müssen. Dann hätte sich diese Reise gelohnt“<br />

fasste Meldorjin zusammen.<br />

„Gut, dann werden wir hier in Jergan <strong>von</strong> Bord gehen. Nur eine kleine Gruppe, eine zu große Gruppe würde wohl<br />

nur auffallen. Ich werde mit einer Hand voll Matrosen aufbrechen. Eine größere Anzahl an Personen birgt ein<br />

unnützes Risiko, ohne dass es wohl etwas nützen würde.<br />

Allerdings kann die Nachtwind nicht so lange im Hafen liegen bleiben. Wenn sie nicht in See sticht, sobald die<br />

Ladung gelöscht wurde, wird das auffallen. Und in zwei Tagen sind wir mit Sicherheit nicht zurück <strong>von</strong> unserer<br />

Suche. Die Nachtwind wird daher nach zwei Tagen auslaufen. Meldorjin, du wirst das Kommando führen während<br />

ich nicht an Bord bin. Du wirst uns an der Westküste wieder aufnehmen. Wir treffen uns... lass mich<br />

nachdenken...“<br />

„Ich schlage Mylendijians Klause vor. Die verfallene Kapelle liegt zwei Tagesmärsche südlich <strong>von</strong> Jergan. Ihr<br />

könnt sie vom Tal der Glühwürmchen aus gut erreichen, und ihr könnt dort gut warten. In der zerklüfteten<br />

Küstenlinie mit zahllosen kleinen vorgelagerten Inseln kann man ein Schiff gut verstecken. Und ihr könnt ganz<br />

unauffällig die Straße zur Klause nehmen. Nur am Schluss müsst ihr ein Stück durch den Dschungel.“<br />

„Ja, ich kenne den Ort.“ meinte Vegsziber. „Der Platz ist wahrlich gut geeignet.“<br />

„Gut. Dann halten wir diesen Treffpunkt fest.“ bestätigte Vegsziber. „Meldorjin, du wirst in einer Woche dort auf<br />

uns warten. Sollten wir nicht erscheinen, so wirst Du dort fortan sieben Wochen lang jeden Windstag nach uns<br />

sehen. Wenn wir dann nicht erscheinen kannst Du unser Ableben annehmen. Sollten wir dann dennoch am leben<br />

sein, so werden wir uns versuchen, nach Sinoda durchzuschlagen.“<br />

„Wen wirst Du mitnehmen <strong>von</strong> den Seeleuten?“<br />

Ich denke an Marakeijian. Er ist in Hemandu aufgewachsen und kennt die Gegend wie seine Westentasche. Und<br />

dann noch Algorjin. Er ist der stärkste <strong>von</strong> uns allen. Im Fall einer Auseinandersetzung mit etwaigen Verfolgern<br />

können wir ihn gut gebrauchen.“<br />

Vegsziber ließ seinen Blick über seine Offiziere schweifen. In Gedanken ging er die Mannschaft durch.<br />

„Estibora möchte ich dabei haben. Als gewitzte Krämerseele hat sie sich ja schon erwiesen. Und dann noch Alrech<br />

und Grojiana.<br />

Meldorjin bedauerte es fast ein wenig, selbst nicht mitkommen zu können auf Schatzsuche. Aber an der Order<br />

Vegszibers gab es nichts zu rütteln. Und dass der Kapitän selbst bei der Schatzsuche dabei sein wollte war ihm <strong>von</strong><br />

Anfang an klar gewesen. Aber er sagte nichts. Vegsziber ging mit seiner Truppe <strong>von</strong> Bord. Meldorjin kümmerte<br />

sich darum, dass das Schiff entladen wurde. Zwei Tage später legte die Nachtwind wieder ab, mit Ziel<br />

Mylendijians Klause.<br />

***<br />

"Ihr sucht also..." Der Mann mit den stahlgrauen Augen blätterte einen Augenblick unruhig in einem Stoß<br />

Pergamente, die vor ihm auf dem Tisch lagen, bevor sein Blick auf die Kakerlake fiel, die neben dem Becher<br />

Branntwein über den Tisch huschte. Ein wütender Fausthieb verwandelte die handtellergroße Schabe in einen<br />

Haufen rötlichbraunen Matsch mit einem Kopf, der den Hauptmann der Karmothgarde wütend anfauchte, bevor<br />

dieser seinen Dolch in die eichenen Tischbohlen trieb, genau in den verblichenen Leib des Untiers.<br />

"Verfluchtes <strong>Maraskan</strong>!" keuchte Hauptmann Jobst Brackenburger, Kommandant der Nuraner Garnison, und<br />

glotzte mit seinem unrasierten, bulligen und schweißbedeckten Gesicht zu seiner Gegenüber, während er die<br />

Überreste der Kakerlake <strong>von</strong> der Klinge gegen die Tischkante strich. Die klaffende, glühend rote, offenbar schlecht<br />

verheilte Narbe in seiner rechten Gesichtshälfte wies nun genau auf den Fürstkomtur, der hinter dem Schaukelstuhl<br />

des Festungskommandanten an der Wand hing. Andromejia fiel auf, das über der hässlichen, fahlrosafarbenen<br />

Wulst, die wohl irgendein Schnitter oder Jerganmesser vor vielen Dämonenläufen hinterlassen haben mochte, noch<br />

immer schwarzes Blut glänzte. Ob es sich dabei um das Mal eines Paktierers handelte? Gut möglich, denn der<br />

stämmige, muskulöse Mann kam ihr auffallend fahrig, ja, jähzornig vor, obwohl bislang kaum mehr als die<br />

drückende Hitze der Tropen seinen Unmut erregt hatte. Aber der Branntwein - die Tuzakerin roch das süßlichherbe<br />

Aroma eines "Offenbarung der Zwillinge" - schien wenig dazu angetan, den Mann im Garether Plattenpanzer zu<br />

entspannen.<br />

Der muskelbepackte kleine Mann mit Wehrheimer Bürste, der aussah wie ein Kampfeber, musste ein Paktierer<br />

sein, dachte Andromejia. Jeder Normalsterbliche würde in so einer Rüstung, bei dieser Hitze einfach tot umfallen.<br />

Ihr Blick verfing sich auf den Schreckkopf über den Schultern des Kriegers, die er ihr nun zuwies, während er in<br />

ein glucksendes Kichern verfiel und den Dolch zurück in die Scheide steckte.<br />

"Ihr sucht also das Tal der..." - erneut ein unterdrücktes Lachen - "das Tal der Glühwürmchen. Warum nicht die<br />

gleich magische Elfenstadt Simsaladingsbums oder den Stein der Weisen am Grund des Neunaugensees. Verzeiht,<br />

aber Rayo Brabaker...also, Euer Komtur..." <strong>Das</strong> schwarze Lederwams unter der Rüstung knarrte, als sich der Mann<br />

wieder aufrecht in seinen thronähnlichen Stuhl hievte. "Er scheint viel Zeit zu haben, merkwürdigen Geschichten<br />

nachzugehen. <strong>Das</strong> Tal der Glühwürmchen, ja da<strong>von</strong> habe ich schon gehört. Alrech, nich´ nachlassen, sonst<br />

211


schneide ich dir doch noch die Ohren ab..." Eine unwirsche Handbewegung in Richtung des maraskanischen<br />

Jungen, der in einer Ecke kauerte und über eine Kurbel ein eigentümliches Gebilde aus Seilen und Rollen antrieb,<br />

das eine Art Windrad an der Decke bewegte, ein Ventilator, der einen Schwall kühler Luft im Büro des<br />

Kommandanten <strong>von</strong> Burg Blutstein verteilte. Die Festung thronte auf einem Hügel unweit Nuran über der<br />

Küstenstraße wie dem Dschungel thronte - aber nicht hoch genug, um den schwülen Ausdünstungen des<br />

Regenwaldes und der Mangrovenwälder an der Küste zu entgehen.<br />

"Gut so jetzt. Also..." Brackenburger sah seinen beiden Gegenübern, der Tuzakerin und diesen einarmigen<br />

Piratenkapitän aus Mendena direkt ins Angesicht. "Ihr sucht das Tal der Glühwürmchen und, wie ich vermute, den<br />

Schatz, der dort verborgen sein soll." Erneut ein angedeutetes Glucksen. "Nun schön. Ich verbringe meine Zeit<br />

auch mit vielen sinnlosen Sachen, der Blutsäufer sei mein Zeuge. Verdammt, die Gurvanslilie gehört auch wieder<br />

mal gegossen." Ein Nasebohren und dabei ein Blick zum Fenster, wo vor der halb heruntergelassenen Jalousie<br />

tatsächlich mehrere Töpfe mit exotischen Pflanzen standen. Draußen keckerte der Dschungel. Irgendwo in der<br />

Ferne, in Richtung der <strong>Maraskan</strong>kette grummelte ein Gewitter.<br />

Der Gardehauptmann warf Andromejias Empfehlungsschreiben vor sich auf den eichenen Tisch. "So. <strong>Das</strong> Tal der<br />

Glühwürmchen. Ja, das gibt es, irgendwo in den Wäldern am Ufer des Hira, auf unserer Seite. Nicht allzu weit <strong>von</strong><br />

hier, sind nur ein paar läppische Meilen. Fragt mich nicht, wo genau, bin keiner <strong>von</strong> den verdammten Alrechs.<br />

Aber ein paar läppische Meilen können im maraskanischen Dschungel soviel bedeuten wie der Weg <strong>von</strong> hier übers<br />

Eherne Schwert. Oder gleich übers Nirgendmeer. Ja, vielleicht gibt es dort einen Schatz, vielleicht aber auch nicht.<br />

Auf jeden Fall treibt sich dort in der Gegend der Dajin rum, und das bösartige Krabbelzeug aus dem Dschungel<br />

wurde auch schon reichlich gesichtet. Die Rebellen haben in der Gegend unterirdische Lager eingerichtet, die sehen<br />

nicht einmal unsere Karakilreiter, da kann man Hylailer Feuer draufwerfen wie man will. Und der Dajin macht<br />

anders als früher keine Gefangenen mehr, oder besser gesagt, er hält niemanden der Unsrigen lange gefangen."<br />

Der Ventilator surrte und warf bizarre schwarze Schatten in den Raum, der im Licht der südlichen, nun langsam<br />

sinkenden Sonne in einem matten Rot zu glühen schien. Der Hauptmann grapschte in einen Bosparanjerkübel<br />

voller Eis und rieb sich die glitzernden, schon halb dahingeschmolzenen Würfel ins fette Gesicht.<br />

"Bornländischer Geleitzug, vor ein paar Tagen südwestlich Gipflak angegriffen. War `n harter Kampf" grunzte er<br />

in Richtung Mercurio, als müsse dem dieser Einwurf etwas sagen. Dann ließ er einige Würfel in seinen Rum<br />

plätschern, bevor er ihn laut und vernehmlich schlürfte. An der Decke pfiff ein Gecko, machte sich aber rasch aus<br />

dem Staub, als die Tuzakerin ihn mit den Augen suchte.<br />

"Also, noch mal zum Mitschreiben. Da draußen hat der Dajin seine vorgeschobenen Stellungen, genau dort, wo ihr<br />

unbedingt hinwollt. Tal der Glühwürmchen, Tal des Schwarzen Marans, Tuzakmesserberg, Schnitterhügel und<br />

Schlucht der Vier Harnischgürtler, alles ganz üble Gegenden. Von dort aus greifen die verfluchten Käferfresser<br />

hübsch regelmäßig unser Fuhrwerke und Verstärkungen auf der Küstenstraße an, schießen ab und an mal einen<br />

meiner Wachen mit `nem Giftbolzen <strong>von</strong> der Mauer, ohne dass wir ihnen weiter folgen könnten als ein paar Meilen<br />

in den Dschungel rein. Ihr versteht? Heerbann der Friedlichen Schwestern und so weiter. Friedliche Schwestern. O<br />

Mann, wie ich dieses irre Gequatsche hasse! Ja, und außerdem...gibt es auf der anderen Seite des Flusses da noch<br />

unsere freundlichen Schlangenliebhaber, wirklich nette Nachbarn sind das, o ja." Mit dreckigem Finger versuchte<br />

der Mann den Kragen etwas zu lockern, der aus seinem verschmierten Harnisch herausragte. Dann glotzte er in<br />

Richtung Fenster, dort wo die <strong>Maraskan</strong>kette lag. Er überlegte, ob er noch etwas zu den Schlangenfreunden sagen<br />

wollte, beschloss aber dann, es lieber mit einem Schluck Gebranntem runter zu spülen.<br />

"So, <strong>von</strong> mir aus könnt ihr mich jetzt in Jergan als Rohalsjünger anschwärzen, aber ich sage Euch, lebend kommt<br />

Ihr nicht zum Tal der Glühwürmchen, nich´ mit eurem armseligen Häufchen. Ihr seid schon tot, bevor ihr den Dajin<br />

überhaupt zu Gesicht kriegt. Rotraupengift ist bei denen heuer groß in Mode. Euer halbes Dutzend Gardisten<br />

erledigen die jedenfalls mit links."<br />

Andromejia wollte bereits antworten, aber es war Mercurio, der seinen Eisenhaken vor dem Kommandanten in den<br />

Tisch hieb. "Nun hör mal zu, du Spaßvogel. Was glaubst du, weswegen wir hier sind. Deine ganze Festung ist<br />

voller Soldaten, sicherlich ein Banner schwerbewaffneter Gardisten. Gib uns noch mal ein Dutzend Kämpfer, dann<br />

sollte dieses versprengte <strong>Maraskan</strong>ergesindel uns überhaupt keine Probleme bereiten, bei allen neunschwänzigen<br />

Katzen zwischen Al´Anfa und Rulat!"<br />

"Kaa-tzen! Kaa-tzen!" echote der struppige Papagei auf der Schulter des Piraten. "Die Pest holt den Rest! Ka-tzen!"<br />

"Halt die Klappe, Shruufschnabel!"<br />

Äußerlich unbeeindruckt erwiderte der Hauptmann den funkelnden Blick des Piraten, dann zog er betont<br />

gleichmütig ein Pergament <strong>von</strong> dessen kalt glänzenden Handhaken zurück. "Ganz recht, ein ganzes Banner steht<br />

unter meinem Befehl" Der Mann lächelte frostig, während seine blutige Narbe zuckte. "Fast fünfzig Männer und<br />

Frauen blutgieriger Kämpfer. Was würde wohl geschehen, wenn ich nun aufstehen und Euch erschlagen würde,<br />

werter Kapitän... äh... Mercurian? Glaubt Ihr, euer halbes Dutzend Jerganer Soldaten würde auch nur einen Finger<br />

krumm machen, um den Tod eines dahergelaufenen Xeraaniers zu rächen?" Brackenburger entblößte mit nervös<br />

zitternden Lefzen ein paar gelbliche, überraschend spitze Schneidezähne. Rumgeschwängerter Raubtieratem<br />

hauchte den Schwarzen Mendener an, der unwillkürlich seine Prothese aus dem Tisch zog und sich wieder setzte.<br />

212


"Nana..." sagte Andromejia leise und versuchte völlig unbeteiligt zu wirken. Brackenburger war lange genug auf<br />

<strong>Maraskan</strong>, um zu wissen, dass er <strong>von</strong> nun an jeden Herzschlag damit rechnen musste, <strong>von</strong> ihr mit einer versteckten<br />

und vermutlich vergifteten Waffe getötet zu werden. Schnell, sauber und präzise. Ein zackiges Stiefelknallen an der<br />

Tür rettete die Situation.<br />

"Herr Hauptmann, entschuldigt die Störung, Eildepesche aus Jergan." Ein Gardist in blinkender Uniform, den Helm<br />

untergehakt und mit blutrotem Mantel, wartete darauf eintreten zu dürfen, eine Kuriertasche in der freien Linken.<br />

"Vortreten!"<br />

"Jawoll!" Der junge Blondschopf, der Mercurio ein wenig an einen seiner erschlagenen Leute namens Gion<br />

erinnerte, machte sporenklirrend einen Schritt auf den Schreibtisch des Hauptmanns zu. Du kommst gerade im<br />

richtigen Augenblick, dachte er.<br />

Der Bote legte einen versiegelten Brief in die Rechte des Offiziers.<br />

"Noch was?"<br />

"Nein, Herr Hauptmann!"<br />

"Gut. Wegtreten. Lass dir in der Küche was zu beißen geben, und melde dich dann beim Quartiermeister. Nicht<br />

nachlassen, Alrech, nur nicht nachlassen..." Letzteres galt dem Kurbeldreher, dessen Kopf mittlerweile rot<br />

angelaufen war.<br />

"Mit Verlaub, Herr Hauptmann, ich muss gleich weiter Richtung Alrurdan."<br />

"Verstehe. Na gut, aber füll wenigstens deine Wasserflasche auf."<br />

"Selbstverständlich, Herr Hauptmann!"<br />

"Guter Mann. Wegtreten!"<br />

Der Offizier erbrach das Siegel und überflog dann den Inhalt des Schreibens.<br />

"Oho, eine Samthandschuhgeschichte" murmelte er. "Sieh an."<br />

Er las weiter und blickte schließlich hoch. "Es kommt noch besser. Die Nachricht scheint sogar mit eurem<br />

berühmten Tal der Glühwürmchen zu tun haben."<br />

Mercurio blickte triumphierend.<br />

"Dürfen wir den Inhalt erfahren?" wollte Andromejia wissen.<br />

"Unser Geheimdienst hat zur Abwechslung gute Arbeit geleistet" griente der Hauptmann geistesabwesend. "Wie?<br />

Ja, ich glaube, das hier gehört zu Eurer Geschichte. Ich soll euch sogar ausdrücklich informieren. In Jergan sind<br />

gestern fünf <strong>Maraskan</strong>er verhaftet worden, ein Kapitän namens Vegsziber und vier Matrosen. <strong>Das</strong> heißt, einen der<br />

Matrosen musste die Wache erschlagen, weil er nicht vernünftig werden wollte. Eine Frau soll entkommen sein,<br />

nun ja. Vegsziber, kennt ihr den?"<br />

Andromejia sah verwirrt drein. "Vegsziber? Den Namen gibt´s wie Sand am Meer..."<br />

Der Hauptmann las eine Zeitlang weiter und nahm dazwischen einige hektische Schluck Rum. "Nicht nachlassen,<br />

Alrech, immer hübsch weiterdrehen..." murmelte er.“Nun, das besondere an den Vögeln ist, dass sie sich bei einem<br />

Kartenhändler nach dem Tal der Glühwürmchen erkundigt haben. E u r e m Tal der Glühwürmchen. Nachdem<br />

dieser Vegsziber offenbar nicht der erste war, der binnen kürzester Zeit Interesse an dieser bislang hauptsächlich<br />

<strong>von</strong> Rebellen besuchten Gegend gezeigt hat" - ein wissendes Grinsen in Richtung seiner Gegenüber "- hat der<br />

Kartenpinsler als vorbildlicher maraskanischer Untertan gleich mal Meldung bei unseren werten Freunden <strong>von</strong> den<br />

Samthandschuhen gemacht. Und die haben sich dann bemüßigt gefühlt, den werten Herren einmal auf den Zahn zu<br />

fühlen."<br />

Der Hauptmann las schweigend weiter. "So so, aha. Mit vollem Erfolg, wie es scheint. Ja, die Samthandschuhe<br />

haben noch jedem die Zunge gelockert. Dieser Vegsziber war wirklich ein guter Fang. Der Kapitän einer<br />

Schmugglerzedrakke namens Nachtwind, der in Oron eine Gruppe mittelreichischer Spione an Bord genommen<br />

hat. Darunter auch ein leibhaftiger Inquisitionsrat der Praioskirche. Diese Fremden seien dann aber im<br />

<strong>Maraskan</strong>sund wieder <strong>von</strong> Bord gegangen, vor ein paar Tagen offenbar mit dem Beiboot. Merkwürdig. Hier steht<br />

gar nicht warum. So, wenig später trudeln in Jergan die tollsten Berichte ein. Unsere mittelreichischen Freunde<br />

tauchen an der maraskanischen Nordküste auf, kapern ein Fischerboot mitsamt Besatzung und machen sich auf den<br />

Weg nach Gipflak, offenbar um eine Gefährtin zu befreien, die einen Tag zuvor angespült worden ist. Dort werden<br />

sie um ein Haar verhaftet, können sich aber irgendwie rausreden und behaupten, im Auftrag eines Mitarbeiters des<br />

Tuzaker Komturs zu arbeiten." Ein schneller, leicht misstrauischer Blick auf Andromejia. Dann ein Kopfschütteln,<br />

was allerdings auch einem aufdringlichen Moskito gelten konnte.<br />

"Schließlich macht sich die Gruppe mit ihrer Gefährtin und dem örtlichen Vertreter der Samthandschuhe aus dem<br />

Staub, angeblich auf den Weg in Richtung Jergan. Der Ortskommandantin <strong>von</strong> Gipflak kommt das alles sehr<br />

oronisch vor, sie meldet das Vorgefallene mit ihrer schnellsten Brieftaube in Jergan. Dort können sie natürlich zwei<br />

und zwei zusammenzählen. Da die Mittelreicher nun einen hochrangigen Informanten in ihrer Gewalt haben,<br />

vielleicht sogar einen Verräter oder Doppelspion, der das Festland auf keinen Fall erreichen darf, wird ein<br />

Karakilreiter losgeschickt, um das Boot zu versenken. Gestern Abend hat er es dann entdeckt, ein Schinakel im<br />

Schlepptau. Da sich mindestens ein Magier an Bord befunden zu haben schien, hat er <strong>von</strong> einem direkten Angriff<br />

abgesehen und ist ein paar Stunden später mit Verstärkung zurückgekehrt. Der Fischkutter war da schon weit<br />

213


draußen auf dem Sund, auf dem Weg Richtung Westen, also ins schöne Mittelreich. Die Karakilreiter haben den<br />

Kahn vernichtet, waren sich im Nachhinein aber nicht sicher, ob sich wirklich noch Leute an Bord befunden haben.<br />

Dieser Schmugglerkapitän hat jedenfalls ausgesagt, dass auch die Mittelreicher auf der Suche nach einem Schatz<br />

im Tal der Glühwürmchen gewesen wären. Also halten es die Samthandschuhe für durchaus möglich, dass sie sich<br />

noch in <strong>Maraskan</strong> aufhalten."<br />

Mercurio war <strong>von</strong> Sekunde zu Sekunde unruhiger geworden. "Was sind das für Leute, bei Yonahohs<br />

Glupschaugen? Doch nicht etwa eine grünberobte Perainedienerin, ein einäugiger Tagedieb, ein Praiospfaffe, ein<br />

schwarzbärtiger Recke mit Elfenbogen, eine spitzohrige Piratin sowie so eine geschniegelter Streunertype?"<br />

Brackenburger überflog ein weiteres Mal den Brief: "Hm ja, hier steht zumindest was <strong>von</strong> insgesamt sechs Leuten,<br />

darunter ein Inquisitionsrat im vollen Ornat, eine spitzohrige Priesterin der Himmlischen Zwillinge, - gibt´s das<br />

auch? - sowie ein bärtiger Kerl mit einem markanten Bogen und einem auffallenden Schwert, der ganz so<br />

ausschaut, als könne er damit umgehen."<br />

Der Schwarze Mendener wurde nahezu weiß. "Verdammt! Verdammte grützengrüne Oktopodenscheiße! Sie haben<br />

es also überlebt?"<br />

"Kennt Ihr diese Spione etwa?" fragte Brackenburger. süffisant. "Vielleicht aus Tuzak? Immerhin sollen sie auch<br />

im Auftrag Eures Komturs handeln?"<br />

"Blödsinn. <strong>Das</strong> haben die sich natürlich nur ausgedacht. Nein, die sind aus dem Mittelreich und ebenfalls auf der<br />

Suche nach dem Schatz im Tal der Glühwürmchen. Haben meine halbe Mannschaft umgebracht, die<br />

Schweinehunde. Ich dachte eigentlich, ich hätte sie ein für alle mal erledigt, drüben in Oron!"<br />

"Errrledigt! Errrledigt!" höhnte Shruufschnabel. "Orrron! Orrron!" Mercurio beachtete den Vogel nicht, sondern<br />

beugte sich vor: "Hört zu. Diese Leute befanden sich nie und nimmer auf dem Boot, das gestern Nacht im<br />

<strong>Maraskan</strong>sund verbrannt ist. Dafür sind die viel zu gewieft. Ich vermute sehr, dass sie längst auf dem Weg zum Tal<br />

sind. Wenn Ihr sie schnappen wollt, müsst Ihr uns dorthin begleiten. Dort könnt Ihr sie gar nicht verpassen."<br />

Der Xeraanier wedelte sich mit seinem Dreispitz frische Luft zu und rang um Fassung.<br />

An seiner Stelle sprach Andromejia weiter. "Ich nehme doch an, dass das Euer Befehl ist, Hauptmann. Die<br />

Eindringlinge dingfest zu machen?"<br />

Brackenburger antwortete nicht sofort, sondern schaufelte erneut etwas Eismatsch in seinen Rum und nahm einen<br />

kräftigen Schluck. Leise lachte er in sich hinein. "So, da wollen diese Spinner also auch ins Tal der Glühwürmchen.<br />

Glaubt nun also auch die Agentur oder die Praioskirche an dieses Ammenmärchen vom verborgenen Schatz im<br />

Dschungel, oder was?" Der Gardist spuckte beim Wort Praios aus und machte ein unheiliges Zeichen. Dann nahm<br />

er einen weiteren Schluck.<br />

"Ich meine, es gibt auf <strong>Maraskan</strong> schon verborgene Schätze. Aber ganz bestimmt nicht in diesem Tal. Die gab es<br />

dort vor hundert Jahren nicht. Und solange erzählt man sich in Jergan schon die Geschichten mit dem Versteck, in<br />

ständig neuen Versionen. Ich denke gar nicht daran, meine Leute einfach so, mir nichts dir nichts in den Dschungel<br />

latschen zu lassen, ohne ausdrückliche Anordnung <strong>von</strong> oben. Nein, mein Befehl ist, diese Schmugglerbande<br />

auszuheben, die den Fürstkomtur die ihm zustehenden Zölle betrügt und noch dazu mit dem Feind paktiert. Laut<br />

der Aussage dieses... dieses Vegsziber wollte er mit dem Schatz zu einem geheimen Treffpunkt an der Küste und<br />

sich dort <strong>von</strong> der Nachtwind wieder aufnehmen lassen. Ein verfallener Schrein des Rur und Gror, einige Meilen<br />

südlich <strong>von</strong> Jergan, also offenbar nicht allzu weit <strong>von</strong> hier entfernt." Beiläufig suchte der Hauptmann unter dem<br />

Papiergewühl nach einer Karte.<br />

"<strong>Das</strong> ist doch nicht Euer Ernst? <strong>Das</strong>s es dem Fürstkomtur wichtiger sein soll, ein paar kleine Schmuggler zu fangen<br />

als diese gefährlichen Spione unschädlich zu machen?"<br />

"Nun, sollten mir Eure Spione über den Weg laufen, dann werde ich sie natürlich gefangen nehmen, bei Karmoths<br />

Gnadenlosigkeit. Aber ich werde ganz bestimmt nicht mitten im Dschungel auf sie warten. Da könnte ich mir<br />

gleich ein Messer in den Bauch rammen und in den Niederhöllen auf sie lauern. Dort kann ich sie nämlich auch<br />

nicht verpassen, beim unheiligen Belhalhar. Wo ist denn nur die verdammte Karte?" Jobst fluchte, als ein Stapel<br />

Honinger Büttenpapier vom Tisch rutschte und zu Boden fiel. Dann fiel sein schnapsglänzender Blick auf das<br />

Pergament mit den Umrissen der Insel.<br />

Freundlich lächelnd stand Andromejia auf und hob die Papiere auf.<br />

Grunzend riss der Hauptmann sie ihr aus der Hand. Dann zog er seinen Dolch, und wies auf die Karte. "Also, hier<br />

sind wir, und gleich hier ist der Treffpunkt der Schmuggler. Malenijians Klause oder so ähnlich, mit den<br />

brabbeligen maraskanischen Namen soll sich einer auskennen.<br />

Also werden wir heute Nacht dort vorbeisehen. Außerdem wurde eine Thalukke aus Jergan dorthin beordert, die<br />

sich im Gewirr der Sumpfinseln auf Lauer legt. Aber um eventuelle Gegner an Land gefangen zu nehmen, dafür<br />

brauche ich die Hilfe eurer Soldaten."<br />

"Was?" Die Tuzakerin stemmte empört ihre Fäuste in die Seite. "<strong>Das</strong> ist nicht möglich. Die Soldaten haben strikte<br />

Order, mich zum Tal zu begleiten."<br />

"Mit derart geringen Kräften ist das eh´ Selbstmord. Also lasst es lieber."<br />

214


"Was ich tue oder lasse, entscheide immer noch ich selbst. Warum braucht Ihr meine Leute? Ihr habt hier ein<br />

Banner Karmothgarde unter Waffen."<br />

"Ja, aber die Feste verteidigt sich nicht <strong>von</strong> selbst und ist jetzt schon unterbelegt. Ich rechne mit mindestens<br />

zwanzig Schmugglern und würde gerne in erdrückender Überzahl angreifen. Aber das brauche ich wiederum nicht<br />

vor Euch zu rechtfertigen."<br />

"Ich wüsste nicht im Geringsten, warum ich Euch helfen sollte." Andromejia schüttelte den Kopf. "Immerhin ward<br />

Ihr auch für mich bislang keine große Hilfe."<br />

Der Hauptmann schüttete den Rest der Flasche in den Becher. Enttäuscht stellte er fest, dass nur noch wenige<br />

Tropfen herauskamen.<br />

Dann sah er zum Ventilator, der sich über ihm surrend drehte und dunkle Schatten warf.<br />

"Also gut, ich mache Euch ein Angebot. Ihr werdet mich zur Klause begleiten, mit den Soldaten. Wenn wir die<br />

Schmuggler schnappen, begleite ich Euch dafür mit einem Dutzend meiner Leute zum Tal."<br />

"Ihr habt kein Recht, mir meine Soldaten wegzunehmen. Dann brechen wir eben ohne Eure Hilfe zum Hira auf."<br />

"Eure Soldaten." Jobst schüttelte grinsend den Kopf. "Habt ihr eigentlich noch nicht daran gedacht, dass sich die<br />

Spione ebenfalls in der Gegend um die Klause aufhalten könnten? Immerhin wurde ihr Fischkutter nicht sehr weit<br />

entfernt angegriffen. Die Klause ist ein guter Ausgangspunkt für eine Schatzsuche, nicht nur für die Schmuggler."<br />

"Wir suchen nicht die Spione, sondern den Schatz."<br />

"Angeblich suchen die Spione ebenfalls den Schatz. Und wenn ich Euch richtig verstanden habe, wisst Ihr nicht so<br />

genau, wo er liegt. Aber die Mittelreicher scheinen sich ihrer Sache ziemlich sicher zu sein. Ein Anreiz für Euch,<br />

die Eindringlinge gefangen zu nehmen. Zumindest würdet Ihr dann Eure Konkurrenten loswerden."<br />

Mercurio erhob sich. "Der Hauptmann hat Recht, Andromejia. Die Mittelreicher dürften nach der Überfahrt<br />

ziemlich erschöpft sein. Ich halte es für denkbar, dass sie versuchen werden, sich erst einmal ein paar Tage in<br />

einem Versteck zu erholen, sich zu orientieren und Ausrüstung zu beschaffen, Verkleidung oder einen Maulesel<br />

zum Transport des <strong>Gold</strong>es zu kaufen und dergleichen. Sie stecken ja anscheinend mit diesem Vegsziber unter einer<br />

Decke. Vielleicht hat er ihnen ja das Versteck genannt."<br />

"Nun gut!" Andromejia nickte, grimmig entschlossen. "Dann werden wir heute Nacht zur Klause marschieren und<br />

mit ihnen abrechnen. Schwört Ihr mir beim Blutsäufer, dass Ihr Eure Leute anschließend zum Tal schicken<br />

werdet?"<br />

"Ja, das schwöre ich, bei Belhalhar!" Der Gardist schlug sich scheppernd gegen den Plattenpanzer.<br />

Mercurio grinste pervalisch. "<strong>Das</strong> wird Fisch und Tika gefallen, dass es den Mördern meiner Mannschaft nun doch<br />

noch endlich ans Leder geht. Diese Zahl Soldaten dürfte ausreichen, um mit Odilon und seinen verfluchten<br />

Gefährten fertig zu werden."<br />

"Gut, dann sagt euren Leuten jetzt bescheid. Sie sollen sich auf viele Stunden Marsch durch den Dschungel,<br />

Richtung Küste, gefasst machen. Abmarsch in einer halben Stunde, wir treffen uns draußen auf dem Hof. Jetzt<br />

haben wir späten Nachmittag. Gegen Morgengrauen dürften wir dann bei der Klause sein, zur besten Angriffszeit."<br />

Der Offizier fingerte nach seinem Schwert. Die beiden gingen nach draußen. Jobst scheuchte mit einer bloßen<br />

Handbewegung seinen maraskanischen Diener hinterher. Dann schloss er die Eingangstür und ging er zu einer<br />

weiteren Tür mit einem blutroten Vorhang und zog ihn beiseite. Eine grinsende, schwarzhaarige Frau in schwarzem<br />

Lederkurbul kam zum Vorschein, die sich kalt lächelnd die krallenähnlichen Finger mit einem Stilett manikürte.<br />

"Leutnant Pomodera, Ihr habt alles mit angehört?"<br />

"Alles sehr genau, Herr Hauptmann."<br />

"Ausgezeichnet. Ich habe einen belhalhargefälligen Sonderauftrag für Euch."<br />

"Ich höre.?"<br />

"So wie es aussieht, gibt es tatsächlich einen Schatz oder zumindest etwas sehr Wertvolles im Tal der<br />

Glühwürmchen."<br />

"<strong>Das</strong> glaubt Ihr nicht wirklich. Wenn´s den Schatz wirklich gäbe, gäb´s denn schon längst nicht mehr, so oft, wie<br />

man in Jergan darüber hört."<br />

"Nun, ich würde es nicht glauben, wenn nicht mittlerweile drei Gruppen danach suchen würden. So viele Leute<br />

können sich einfach nicht irren."<br />

"Drei Gruppen? Ich dachte, die Schmuggler wären seit gestern aus dem Rennen."<br />

"Die Schmuggler schon. Ich denke natürlich nicht daran, den Schatz diesem durchtriebenen Rayo Brabaker zu<br />

überlassen. Wer weiß, ob diese <strong>Maraskan</strong>erschlampe überhaupt für den Tuzaker arbeitet, so ein<br />

Empfehlungsschreiben ist schnell gefälscht." Jobst hob wie zur Bestätigung den Bericht aus Jergan. "Am Ende<br />

gehört sie noch zum Widerstand oder dergleichen. <strong>Maraskan</strong>er haben alle mindestens zwei Gesichter, wie ihre<br />

zwittrigen Götzen. Und diesem charyptorothverfluchten Xeraanier traue ich noch viel weniger. Nein, dank ihrer<br />

Geschwätzigkeit wissen wir nun, dass sie einen Schatz suchen, einen Schatz, der allein dem Fürstkomtur gehört,<br />

nach Abzug einer angemessenen Belohnung für seine Finder, versteht sich. Eure Beförderung ist doch ebenso lange<br />

überfällig wie die meinige, sowie ein unserem jeweiligen neuen Rang angemessenes Salär. Also, liebe Pomodera,<br />

Ihr werdet mich nachher zur Klause begleiten. Dort wird es sicher einen heftigen Kampf geben, sei es nun mit den<br />

215


Schmugglern, den Spionen oder beiden Gruppen. Bei so einem Scharmützel kann viel geschehen, zum Beispiel<br />

eine zwielichtige Person aus Tuzak und ein Freibeuter aus Mendena <strong>von</strong> verirrten Pfeilen getroffen werden, Pfeile,<br />

die zu allem Unglück auch noch vergiftet sind. Ich nehme an, Ihr habt da zwei vertrauenswürdige Leute bei der<br />

Hand?"<br />

"Gewiss, das ließe sich schon einrichten. Nachts im Dschungel, da weiß man nie, wem man gerade vor sich hat."<br />

Pomodera grinste gehässig. "Aber habt Ihr nicht geschworen, dass Ihr sie ins Tal der Glühwürmchen begleiten<br />

wollt?"<br />

"Nein, lieber Leutnant, ich habe lediglich geschworen, dass ich meine Leuten dorthin schicken werde, so wie es die<br />

Tuzakerin selbst formuliert hat." Der Hauptmann wandte sich wieder an seinen Schreibtisch.<br />

"Was wird mit der Matrosin und dem Jungen?"<br />

"Ach die. Gehen eben im Dschungel verloren. So was kommt vor. Ich nehme an, Ihr könnt dafür auch noch mal<br />

zwei scharfe Klingen erübrigen, deren Besitzer ihnen die Hälse durchschneiden und die Reste dann im Sumpf<br />

versenken werden?"<br />

"Sicher. Letzten Endes ist es gleich, wessen Blut zu seinen Ehren fließt."<br />

"Nicht wahr? Aber tötet sie alle nicht zu früh, erst wenn eindeutig klar ist, dass wir den Kampf gewinnen. Lasst erst<br />

einmal den Freibeuter und die Tuzakerin im Kampf bluten, sie scheinen gut mit dem Stahl zu sein. Zwölf Leute<br />

lassen wir hier, um die Feste im Notfall gegen die Rebellen zu verteidigen, ich würde sagen unter Weibel Festo.<br />

Die anderen werden uns dann zur Klause begleiten. Zusammen mit den Jerganern sind das dann über vierzig<br />

Kämpfer, die meisten mit Bögen. <strong>Das</strong> sollte ausreichen, um die Lage schnell in den Griff zu bekommen. Noch<br />

Fragen?"<br />

"Nein, Herr Hauptmann."<br />

"Gut. Möge Belhalhar mit uns sein."<br />

Irgendwo im Dschungel antwortete dem Hauptmann ein Parder, boshaft und fauchend, dass einem die Haare zu<br />

Berge stehen konnten.<br />

***<br />

Alvan und Sigismund hatten sich in die Kammer zurückgezogen. Sigismund wusste nicht so recht, was er denken<br />

sollte. Beim Abendessen schon hatte die Halbelfe ihn angelächelt und sich an ihn angeschmiegt. Nicht, dass ihm<br />

das unrecht gewesen wäre. Aber da Alvan bisher immer eine gewisse Distanz, aller Vertrautheit zum Trotz,<br />

gewahrt hatte, wunderte ihn das schon. Alvan hatte seine Zärtlichkeiten und seine Aufmerksamkeit immer<br />

genossen, sie hatte sie aber nie wirklich erwidert.<br />

Beim Abendessen, bei dem sie mit verschränkten Beinen neben ihm saß, berührte ihr Oberschenkel die ganze Zeit<br />

den seinen, und er konnte die Wärme spüren, die ihr Körper ausstrahlte.<br />

Nach dem Essen hatte Alvan ihm mit einem kaum merklichen Kopfnicken angedeutet, ihr zu folgen. Also war er in<br />

die Kammer gegangen, wo Alvan an das Fenster gebeugt stand und den Mond anschaute. Sigismund stellte sich<br />

neben sie. Leicht berührten sich ihre Hüften.<br />

„Meinst Du es ist an der Zeit zu reden, wie es weitergeht? Wie es mit uns weitergeht?“ begann Alvan zögerlich.<br />

Sigismund verstand nicht so recht, auf was Alvan hinaus wollte. Anstelle einer Antwort umarmte er sie <strong>von</strong> hinten.<br />

Die kleinen festen Brüste Alvans kamen auf seinen Armen zu liegen. Sigismund spürte, dass Alvan schneller<br />

atmete.<br />

Alvan ließ sich die Umarmung gefallen, ohne sie jedoch zu erwidern. „Was erwartest Du Dir <strong>von</strong> uns beiden? Ist<br />

Dein Interesse <strong>von</strong> Dauer oder ist es vorübergehender Natur?“<br />

Die falsche Frage. Absolut die falsche Frage, dachte Sigismund. Warum konnte sich Alvan einfach nicht fallen<br />

lassen. Sich nicht übermannen lassen <strong>von</strong> den Begehrlichkeiten, die ihr Körper schon lange signalisierte. Warum<br />

musste sie immer alles ausdiskutieren anstatt geschehen zu lassen was beide wollten? Anstatt zu tun, was Alvan<br />

wirklich wollte, es sich nur nicht eingestand? „Noch nie zuvor habe ich eine Frau so ausdauernd umworben wie<br />

Dich, Alvan. Was meinst Du, warum?“ antwortete Sigismund und ging dabei nicht mehr auf ihre Frage ein als<br />

unbedingt nötig.<br />

Typisch Mann, dachte Alvan. Als ob es das entscheidende wäre, dass ein Mann sich um eine Frau sehr bemühte,<br />

und um alle anderen etwas weniger. Schwester Rahja, war sie etwa eifersüchtig? War sie vielleicht doch mehr in<br />

Sigismund verliebt als sie sich eingestehen mochte oder redete sie sich das nur ein angesichts ihrer Notlage? Sie<br />

beschloss so zu tun, als hätte Sigismunds Antwort sie überzeugt. Alvan lehnte ihren Kopf zurück und lehnte ihn an<br />

Sigismunds Schulter.<br />

„Ja, ich weiß. Es ist schön so.“ Alvan zögerte und wusste nicht so recht was sie sagen sollte. „Aber ich bin eine<br />

komplizierte Frau. Gelegentlich etwas zickig. Vor allem wenn man mich in meiner Freiheit einschränkt. Kannst Du<br />

damit umgehen?“<br />

Angesichts dieser Direktheit wusste Sigismund nicht so recht was er sagen sollte. Er durfte gar nicht daran denken,<br />

wie das mit ihm und Alvan angefangen hatte. Er hatte die lebenslustige Halbelfe erstmals bei den Feierlichkeiten<br />

216


anlässlich des Familientreffens im letzten Sommer gesehen. Alle Baernfarns, aus Gallys, aus Helligfarn, aus<br />

Donnerbach und aus anderen Orten, hatten sich zusammengefunden um nach der Verbannung Deggens ein neues<br />

Familienoberhaupt zu küren. Er hatte Alvana Scheyhathjida <strong>von</strong> Baernfarn-Nordenheim eigentlich gar nicht so<br />

beeindruckend gefunden. Anfangs. Aber er umwarb eigentlich immer die Frauen und da machte er auf der<br />

Feierlichkeit in Gallys keine Ausnahme. Und außer der Halbelfe war eigentlich keine junge Frau mit <strong>von</strong> der<br />

Partie. Keine jedenfalls, die nicht schon verheiratet oder zu alt gewesen wäre. Kordaella <strong>von</strong> Baernfarn<br />

ausgenommen, Alvans Schwester. Aber die war ja völlig prüde. Außerdem hatte ein gutes Stück Berechnung<br />

mitgespielt bei den Komplimenten, mit denen er Alvan bedacht hatte. Schließlich wollte sein Bruder Reto zum<br />

Familienoberhaupt gekürt werden, und dazu konnte er jede Stimme gebrauchen. Und Alvan hatte ja auch für Reto<br />

gestimmt. Schade, dass dennoch Baronin Valyria die Kür für sich entscheiden konnte.<br />

Was dachte er da für abwegiges Zeug? Schließlich zählte das nicht mehr. Er war nach der Feier mit Alvan nach<br />

Nordenheim gereist und da war aus dem anfänglichen Spiel für ihn Ernst geworden. Seine Minne für Alvan war ein<br />

Selbstläufer geworden, der ihm viel Spaß bereitet hatte. Zärtlich strich Sigismund Alvan über die Haare, die seit<br />

den Ereignissen in Oron auf einen Viertel Finger nachgewachsen wahren. Es prickelte angenehm auf Alvans<br />

Kopfhaut. Alvan erwartete offenbar keine Antwort, denn sie sprach weiter. „Vor allem weiß ich nicht, inwieweit<br />

ich Gefühle erwidern kann. Vor allem nach dem was geschehen ist... was auf der Fran-Horas geschehen ist.“ Eine<br />

schlechte Überleitung, dachte Alvan. Aber irgendwie musste sie darauf zu sprechen kommen. „Ich weiß nicht, ob<br />

ich mich wirklich fallen lassen kann.“ Immerhin das stimmte. Sie war noch nie gewillt gewesen, ihre Freiheit<br />

einzuschränken für einen Mann, und daher hatten ihre Beziehungen bisher auch noch nie recht lange gedauert.<br />

Selten länger als ein paar Monate.<br />

„Wir werden es sehen. Nur wenn wir es ausprobieren können wir es herausfinden.“ Sigismund zeigte sich<br />

realistisch und optimistisch zugleich.<br />

„Ja. <strong>Das</strong> werden wir. Wenn Du es willst.“<br />

Sigismund drückte Alvan ganz fest an sich. Erstmalig erwiderte Alvan die Umarmung. Zugleich erdreistete sich<br />

eine Träne ihr Auge glänzend zu machen. Sigismund bemerkte sie, wusste aber nicht, was er da<strong>von</strong> halten sollte.<br />

„Ich werde die Deine, wenn Du es willst. Aber meine Liebe hat einen Preis.“<br />

Oh, Alvan, du bist so furchtbar unromantisch. Ich zahle nicht für Liebe und ich wüsste auch nicht, was ich Dir<br />

geben könnte. <strong>Das</strong> hätte Sigismund am liebsten gesagt und wäre aus der Kammer gelaufen, aber er schwieg und<br />

blieb stehen. Er seufzte. „Was ist los, Alvan. Sag doch einfach, was du willst, anstatt hier in Rätseln zu sprechen.“<br />

Da Alvan nicht so recht wusste, wie sie es anfangen sollte gab sie Sigismund einen Kuss. Einen leidenschaftlichen,<br />

warmen und ausdauernden Kuss, den Sigismund trotz seiner Überraschung erwiderte. Für einen Augenblick vergaß<br />

er seine Verwirrung. Die warmen Lippen Alvans entlocken ihm Gefühle, die er kaum zu bändigen vermochte.<br />

Alvan küsste auf ihre Weise einzigartig. Anders als die Matrosin Alrike. Nicht leidenschaftlicher, aber einfach<br />

anders und auf exotische Weise unnachahmlich. Vielleicht lag das an ihrer elfischen Abstammung, vielleicht an<br />

ihren maraskanischen Erfahrungen. Sigismund beschloss, nicht über Alvans Kusstechnik nachzudenken sondern<br />

einfach zu genießen.<br />

Alvan beendete den Kuss abrupt. Stattdessen nahm sie Sigismund bei der Hand und zog ihn auf das Bett. „Wenn<br />

Du willst...“<br />

Rahjaverflucht, wie unromantisch wollte diese Halbelfe denn noch werden. Gerade eben hatte er seine Erregung<br />

kaum noch zu zügeln vermocht, doch jetzt sank seine Lust wieder. Er wollte doch keine Frau, die sich ihm<br />

willenlos hingab. Er wollte eine Frau, die ihn wollte und begehrte und das auch auszudrücken vermochte.<br />

„Vielleicht sagst Du mir erst einmal den Preis.“ Sigismund antwortete jetzt genauso unromantisch vie Alvan, aber<br />

im Gegensatz zu ihr tat er es bewusst. Vielleicht würde das ihr die unromantische Art ihres Angebotes vor Augen<br />

führen. Sigismund setzte sich neben Alvan auf das Bett und fasste nach ihrer Hand, aber er machte keine Anstalten<br />

ihr Angebot anzunehmen.<br />

Alvan setzte sich wieder auf und schmiegte sich an Sigismund. Eine Träne kullerte ihr über die Wange. „Du bist<br />

der einzigste, der mir helfen kann. Mir und dem Haus Baernfarn. Ich... mein Bauch... die Piraten auf der Fran-<br />

Horas... Ich bin guter Hoffnung und... Ach, Sigismund, bitte heirate mich.“<br />

Sigismund war völlig sprachlos. Alles hatte er erwartet, nur das nicht.<br />

„Ich werde Dir immer eine gute Frau sein. Ich kann das. Du kannst bei mir in Nordenheim wohnen, bei Dir daheim<br />

im armen Helligfarn wirst Du ohnehin nichts erben. Du wirst es immer gut haben bei mir.“<br />

Sigismund spürte wilde und leidenschaftliche Küsse auf seinem Hals. „Du musst mich heiraten. Du weißt was<br />

passiert ist, und Du weißt, was unsere Familie erwartet, wenn unsere Feinde das herausfinden. Dämonenbuhle<br />

werden sie mich schimpfen, und eine Bande <strong>von</strong> Paktierern unsere Familie. Sie werden uns aus <strong>Darpatien</strong> jagen!“<br />

Alvan zog Sigismund in das Bett. Mit geschickten und flinken Fingern knöpfte sie sein Hemd auf. Sigismund hatte<br />

Schwierigkeiten, sich nicht <strong>von</strong> seiner lang gehegten Begierde für die Halbelfe übermannen zu lassen. Alvan<br />

deckte seine Brust mit Küssen ein. Die Edle merkte, wie der Atem Sigismunds schneller ging.<br />

„Alvan... liebst Du mich denn? Ich weiß nicht ob ich das so will.“<br />

217


„Du wirst es nicht bereuen. Keine Frau auf der Welt wird dich so verwöhnen können wie ich, und Dir dennoch<br />

Deine Freiheiten lassen.“ Alvan öffnete ihre Bluse langsam, aufreizend. Sie setzte sich auf Sigismund, warf ihre<br />

Bluse neckisch dem Helligfarn ins Gesicht.<br />

Sigismund schüttelte den Kopf um die Bluse <strong>von</strong> seinen Augen zu entfernen. „Aber... die anderen sind draußen und<br />

könnten hereinkommen...“<br />

„Keine Sorge. Dafür wird Gunelde schon sorgen, dass wir hier ungestört sind.“ Alvan beugte sich nach vorne,<br />

kuschelte sich zu Sigismund, küsste ihn. „Du musst Dich nicht jetzt entscheiden. Morgen ist auch noch ein Tag.<br />

Aber lass Dir beweisen, dass Du es nicht bereuen wirst.“<br />

Sigismunds Widerstand erlahmte, als Alvans Finger kundig über seinen Körper glitten. Verdammt, er liebte diese<br />

Halbelfe, und er würde ihr wohl auch diesen Wunsch erfüllen. Auch wenn sämtliche Alarmglocken in ihm<br />

schrillten und ihn warten, dass das nimmermehr gut gehen könnte. Bei Rahja, sei es wie es sei. Schließlich hatte<br />

Alvan ihm ja soeben gesagt, dass er die Gesetze Travias nicht immer einhalten müsse. Jetzt endlich hatte er<br />

erreicht, wonach ihm seit einem halben Jahr gelüstete, da wollte er doch nicht auf einmal moralischer werden als<br />

Odilon. Sigismunds Blick nahm erst jetzt den im Halbdunkel sonnengebräunten und schweißnass vor Erregung<br />

glänzenden Körper der Edlen war. Bei Rahja, diese Edle begehrte er tatsächlich mehr als jede andere zuvor. Im<br />

Vergleich mit anderen Frauen, Alrike zum Beispiel, spielte Alvan in einer anderen Liga.<br />

Alvan bewegte sich sacht nach unten. Ihre Finger spielten mit Sigismunds Gürtelschnalle, öffnete sie. Sigismund<br />

spürte die warme feste sich sanft bewegende Hand auf seinem Rahjastolz. „Nicht, Alvan. Ich kann nicht... ich kann<br />

mich nicht mehr halten...“ Alvan hielt nicht inne. Sie störte sich nicht daran, als die ganze aufgestaute Begierde<br />

Sigismunds sich entlud. Sie zog ihm lediglich noch seine schwarze Pluderhose aus, während sie nicht vergaß, ihn<br />

zugleich weiter zu liebkosen und zu streicheln. Zärtlich biss sie ihm in den Bauchnabel, die Brustwarzen, den Hals,<br />

das Kinn. Sigismunds Körper spannte sich vor Erregung, Fast hätte er aufgestöhnt, als er die raue Rahjasbehaarung<br />

über die seine Gleiten spürte, als das warme weiche Paradies ihn umschloss. Er schloss die Augen, er wollte diese<br />

vollendete Empfindung nicht durch irgendwelche Sinneseindrücke stören, wollte nur genießen, in welch höchste<br />

Sinnesfreuden Alvan ihn zu versetzen vermochte. Nichts störte die rahjagefällige Zweisamkeit, allein das Licht des<br />

Madamals, stummer Begleiter aller Liebenden, sah Alvan und Sigismund bis spät in die Nacht zu.<br />

***<br />

Vegsziber gönnte sich keine Rast. Er musste seine Gefährten auf der Nachtwind warnen. Verflucht, warum war er<br />

nicht standhaft geblieben. Wäre er der Mann gewesen für den er sich immer selbst gehalten hatte, er hätte auch auf<br />

der Folter nicht gestanden. Vegsziber machte sich Vorwürfe, dass er seine Mannschaft verraten hatte. Diese <strong>von</strong><br />

Bruder Phex beschissene <strong>Gold</strong>gier! Er hatte das Schicksal seiner Mitstreiter auf dem Gewissen. Und vielleicht auch<br />

bald das Schicksal der verbliebenen Matrosen auf der Nachtwind. Und dabei hatte er noch einmal Glück gehabt,<br />

dass er Bruder Boron <strong>von</strong> der Schaufel gesprungen war. Die Zwillinge hatten doch für alle Eventualitäten<br />

vorgesorgt, alle Widrigkeiten mit einkalkuliert in den großen Schöpfungsplan. Auch dass einer der Folterknechte<br />

dem Freien Königreich <strong>Maraskan</strong> die Treue hielt. In der Nacht nach der Folter hatte dieser treue Geselle seine<br />

Zellentür geöffnet und ihn ins Freie geführt. Vegsziber dankte den Zwillingen für diese weise Voraussicht und<br />

hatte sich flugs aus dem Staub gemacht. Er hatte den Mann gebeten, auch seine Gefährten zu befreien. Dann<br />

musste er aufbrechen, er musste sich beeilen um Mylendijians Klause zu erreichen bevor diese dreizehnmal<br />

verfluchten Söldner des Fürstkompturs Meldorjin eine Falle stellen konnten, und wenn er die ganze Nacht hindurch<br />

rennen müsste. Zur Abwechslung hatte er dieses Mal Glück. Auf seiner Flucht war ihm kein Büttel begegnet, auch<br />

die Mauer <strong>von</strong> Jergan, die er erkletterte und die er auf der anderen Seite in die Fluten der Hira sprang, war nicht<br />

ausreichend bewacht. Niemand hatte ihn gesehen. So war er jetzt durchnässt, barfüßig und unbewaffnet. Aber er<br />

war in Freiheit und auf dem Weg nach Süden um Meldorjin zu warnen. Und der Weg zur Klause war in fünf<br />

Stunden zu schaffen.<br />

Bei allen Gehörnten, hätte Schwester Hesinde Dir nicht ins Hirn geschissen, hättest Du durchschaut, dass der<br />

einzigste Zweck Deiner Freilassung es war, das Du uns zur Klause führst, dachte Pervaljin Dracostis, der Magier,<br />

der Vegsziber hoch oben in den Lüften in Gestalt eines Roten Marans verfolgte.<br />

***<br />

Die größte Gefahr für ein jedes Unterfangen ist es wenn man sich sicherer fühlt als man ist. Eigentlich hätte Odilon<br />

das wissen müssen. Aber sie waren hier in einem Sanktuarium. An einem heiligen Ort, den keine unheilige Kreatur<br />

betreten konnte. Und nachdem auch noch das Ablenkungsmanöver mit dem Boot die Karakilim auf die falsche<br />

Fährte gelockt hatte, hatte sich die Anspannung der Gefährten gelöst. Sie fühlten sich ungemein beruhigt, erstmals<br />

seit langem wieder sicher, und kaum merklich ließ im gleichen Maße auch die Wachsamkeit der Gefährten nach.<br />

Alvan und Sigismund waren erschöpft nach ihrem Liebesspiel eingeschlafen, und Odilon hatte eine Weile zornig in<br />

seinen Bart gebrummelt – die Affäre seiner Tochter mit diesem nichtsnutzigen Kartenspieler aus Helligfarn war<br />

nicht dazu geeignet seine Laune zu heben. Letztlich hatte er sich schlafen gelegt. Sollten sich doch die anderen um<br />

218


die Wache kümmern, Alrik oder Selbfried, warum sollte immer nur er sich um alles kümmern. Bei Firun, er war<br />

schließlich auch nicht mehr der jüngste mit seinen mittlerweile etwa fünfzig Wintern. So war schließlich auch er<br />

eingenickt. Alrik hingegen, der sich auf Odilon verlassen hatte, schlummerte seinerseits schon den Schlaf der<br />

Gerechten. Einzig der Inquisitor war noch wach und ging im Andachtsraum auf und ab und hielt Wache.<br />

Natürlich war Odilon nicht in der Lage, dauerhaft seine ganze Aufmerksamkeit dem Umfeld zu widmen. Aber<br />

vielleicht hätte er, oder auch Alvan oder Alrik, die allesamt schon Erfahrung im Dschungel hatten, die Veränderung<br />

bemerkt, die schleichend in der Geräuschkulisse des Dschungels <strong>von</strong>statten ging. Es war nach wie vor laut, auch<br />

nächtens kam die Grüne Hölle <strong>Maraskan</strong>s nicht zur Ruhe. Die Luft war erfüllt vom Zirpen der Grillen, vom<br />

Flattern und Schwärmen tausender Flügelpaare namentlich nicht bekannter Insekten, dem Paarungsruf der<br />

nachtaktiven Nuranpapageien und dem gelegentlichen Knacken im Unterholz wenn ein größeres Tier sich seinen<br />

Weg durch den Dschungel bahnte.<br />

Alvan hätte es wohl sofort gemerkt daß die Nuranpapageien leiser wurden und schließlich verstummten. Sie hätte<br />

gewusst das alle anderen lärmenden Tiere, Nachtschwärmer, Käfer, Kolibris und was sonst noch alles im<br />

Dschungel sein <strong>Das</strong>ein fristete, sich nicht an der Gegenwart der Zweibeiner störten, da sie <strong>von</strong> diesen nichts zu<br />

befürchten hatten. Allein die Nuranpapageien, die aufgrund ihrer prächtigen roten Federn, die die Haarbänder der<br />

<strong>Maraskan</strong>erinnen zierten, gerne gejagt wurden, verstummten. Ein <strong>Maraskan</strong>er hätte sofort gewusst dass sich<br />

irgendwo im Dschungel Menschen befanden. Odilon oder Alrik hätten das obschon nicht gewusst, so aber dennoch<br />

die Veränderung bemerkt und wären so zur Vorsicht veranlasst worden. Selbfried hingegen nahm allein wahr, dass<br />

die Geräusche im Wald nach wie vor in unveränderter Lautstärke anhielten und konnte daher auch nicht erahnen,<br />

dass draußen im Dschungel, gar nicht weit entfernt, Menschen versteckt waren. Daran lag es, dass Selbfried die<br />

Anwesenheit der <strong>Maraskan</strong>er erst bemerkte, als diese die Klause betraten und ihn mit einem Blasrohr bedrohten.<br />

„Ich grüße Euch in dieser Klause. Darf ich Euch einen Platz an unserem Feuer anbieten, vielleicht auch einen<br />

Schluck Wasser zum trinken?“ Selbfried hatte sich rasch <strong>von</strong> seiner Überraschung erholt. Seine freundlich<br />

klingenden Grußworte hatten einzig den Zweck, da sie kräftig gesprochen waren, seine Gefährten zu wecken.<br />

Einen lauten Alarmruf konnte er nicht ausstoßen, sonst hätte diese verwildert aussehende Gestalt aus dem<br />

Dschungel ihn wohl mit dem Blasrohr beschossen. Und seine drei Begleiter sahen nicht minder verwegen drein.<br />

Aber wer konnte schon etwas gegen freundliche Begrüßungsworte haben?<br />

Die vier Gestalten schienen zwar zu verstehen was der Inquisitor <strong>von</strong> sich gab, jedoch reagierten sie nicht darauf.<br />

Noch ehe Odilon und Alrik wirklich wach geworden waren hatten die Männer aus dem Dschungel die Waffen der<br />

Gefährten bereits eingesammelt. An Widerstand war jetzt nicht mehr zu denken.<br />

Immerhin, dachte Selbfried, wenn das hier ein Sanktuarium ist sind diese vier keine Paktierer der Dreckigen. Aber<br />

ob es ein so viel besseres Schicksal war, <strong>von</strong> herumtreibenden Gaunerbanden – letztlich waren die maraskanischen<br />

Rebellen ja auch nichts anderes, gefangen gehalten zu werden musste sich erst noch herausstellen. Sofern es<br />

überhaupt Rebellen waren und nicht einfache Straßenräuber, denn so sahen die vier für Selbfried eher aus.<br />

„Was macht ein Garethja, ein bruderloser Priester des Praios, in einem Tempel der Zwillinge?“ fragte einer der<br />

vier, offenbar der Anführer, nachdem sie die Waffen eingesammelt hatten<br />

„Was veranlasst Euch dazu zu glauben dass ihr so mit uns umspringen könnt? Wir sind einer mehr als ihr?“<br />

Selbfrieds Gegenfrage diente dem einzigen Zweck, die vier Dschungelkämpfern glauben zu machen dass sie<br />

tatsächlich nur zu fünft waren. So hatten Alvan und Sigismund vielleicht noch die Möglichkeit zu handeln.<br />

„Vielleicht sollte ich sagen, dass die Geschosse, die mein Freund Farjion verschießt, mit dem Gift des<br />

Gelbschwanzskorpions versehen sind. Sobald einer <strong>von</strong> Euch Schazzak´ Garethjas muckt werden die Garethjas<br />

ohne ihren priesterlichen Beistand kämpfen müssen, Hochwürden.“ <strong>Das</strong> ´Hochwürden´ hörte sich irgendwie<br />

verächtlich an.<br />

„Vielleicht solltet ihr aber auch bedenken dass wir gar nicht Eure Feinde sind“ mischte sich Odilon ein, der sich<br />

den Schlaf aus den Augen gerieben hatte und sich selbst verfluchte über seine Nachlässigkeit. Man hätte ja<br />

wenigstens die Tür zum Tempelraum <strong>von</strong> innen verkeilen können, aber nicht einmal daran hatte er gedacht.<br />

„Aha, weil also jetzt die Haffaxijas uns seit ein paar Jahren tyrannisieren sind die Garethjas auf einmal unsere<br />

Freunde, oder wie ist das jetzt? Wir haben die drei Jahrzehnte Eurer Tyrannei nicht vergessen, Garethjas!“<br />

Innerlich atmete Odilon auf. Die vier waren Rebellen und keine Straßenräuber. Die Möglichkeiten, dies hier auf<br />

friedlichem Weg zu klären standen also nicht schlecht. Alvan stand gewiss schon im Nebenraum lauschend an der<br />

Tür und würde im richtigen Moment eingreifen. Schließlich zollten die Rebellen einer Priesterin der Zwillinge<br />

Respekt.<br />

„Tyrannei? Wir haben Euch drei Jahrzehnte lang ermöglicht in Frieden zu leben und die praiosgewollte Ordnung<br />

zu genießen anstatt Euch in Kleinkriegen und ständigen Scharmützeln, Meuchelmorden und anderen Querelen<br />

selbst zu zerfleischen“ ereiferte sich der Inquisitor.<br />

„Hochwürden, ich bitt´ Euch...“ wollte Odilon den Eifer des Praiosgeweihten unterbrechen.<br />

„Habt ihr vergessen dass in den Jahren zuvor kein <strong>Maraskan</strong>ischer Regent in Frieden alt geworden ist, dass ein<br />

jeder dahingemeuchelt wurde? Ihr solltet uns dankbar sein für dreißig Jahre Frieden auf <strong>Maraskan</strong>.“<br />

219


„Meister Selbfried, ihr seid nicht dazu berufen jetzt für uns zu sprechen.“ Odilon hatte einen scharfen Tonfall<br />

angeschlagen. Er war sichtlich ungehalten darüber dass der Inquisitor die Möglichkeiten der Diplomatie gerade im<br />

Eiltempo verschlechterte. „Wir reisen nicht im Auftrag des Kaisers in Gareth sondern in eigener Sache!“ Letzteres<br />

sagte Odilon zwar zu Selbfried, es war aber mehr für die Ohren der Rebellen gedacht.<br />

„Wenn die Garethjas dann ihren internen Zwist beigelegt haben hätten sie vielleicht die Güte zu erklären was sie<br />

auf unserer Insel wollen“ sagte der Anführer der Vier, sichtlich belustigt und mit sehr ironischem Tonfall.<br />

Selbfried verstummte. Er erkannte, dass seine wahrhaftigen Worte vorschnell gewählt und, wenn auch praiosfromm<br />

der Wahrheit entsprechend, der Sache nicht dienlich waren.<br />

„Die ganze Reise war meine Idee. Mein Großvater ist vor Jahren in der Nähe <strong>von</strong> Jergan gefallen. Ich sollte mich<br />

wohl vorstellen... Gunelde <strong>von</strong> Friedwang ist mein Name, und dies ist mein Bruder Alrik. Unser Großvater liegt in<br />

einem Grab im Tal der Glühwürmchen. Wir sind nach <strong>Maraskan</strong> gereist um seine Gebeine in die Ahnengruft<br />

unserer Familie in Friedwang in der Schwarzen Sichel zu überführen.“ Gunelde konnte nicht weitersprechen, denn<br />

sie wurde <strong>von</strong> lautem Gelächter der Dschungelkämpfer unterbrochen.<br />

„Eine Bande Garethjas reist unter Gefährdung ihres Lebens nach <strong>Maraskan</strong> um einen Haufen alter Knochen zu<br />

suchen. Bei der Schönheit der Welt, wie konnte ein Volk solcher Narren jemals unsere Insel erobern?“ rief Farjion<br />

aus. „Es ist ein Wunder dass ihr noch am Leben seid und nicht schon längst zu Maraskenfutter geworden seid.“<br />

„Ihr braucht gar nicht so zu lachen. Schließlich reisen wir unter der Führung einer Priesterin der Zwillinge“<br />

triumphierte Gunelde – und verspielte damit den Trumpf, den die Gefährten noch hatten, nämlich das Alvan und<br />

Sigismund noch unentdeckt in der Kammer weilten. Die Rebellen hingegen waren gewarnt. Eine Priesterin war<br />

also noch hier. Wo hielt sie sich versteckt?<br />

„Die Priesterin möchte ich sehen, die sich für ein solch närrisches Vorhaben hergibt.“ Der Rebell spielte den<br />

Überraschten. „Wo soll diese Priesterin denn sein?“<br />

„Naja, sie wird wohl noch schlafen...“<br />

„Sturmfejian! Dort drüben hinter der Tür. Vielleicht ist in der Kammer noch jemand!“<br />

„Mag sein. Alrijiana, Haldorban, ihr beide seht nach. Aber seid vorsichtig!“<br />

Die Alrijiana genannte Kämpferin öffnete vorsichtig die Türe. Tatsächlich, Alvan und Sigismund schlummerten<br />

nichtsahnend, eng aneinandergeschmiegt und splitterfasernackt dort auf dem Bett in der Kammer. Zur Belustigung<br />

seiner Gefährten trieb Alrijiana die beiden mit vorgehaltener Klinge aus ihrer Kammer.<br />

„Alvan!“ Odilon hatte zwar letztlich erahnt, was sich zuvor in der Kammer abgespielt hatte, aber jetzt die nackten<br />

Tatsachen zu sehen war dann doch zuviel für den alten Recken. Dann aber riss er sich zusammen. Er wusste nicht,<br />

ob er sich mehr über seine Tochter oder über den Versprecher Guneldes oder über die mangelnde Wachsamkeit des<br />

Inquisitors aufregen sollte. Und auch wenn er mit der Liebschaft seiner Tochter mit Sigismund nicht einverstanden<br />

war, so war jetzt definitiv nicht der richtige Zeitpunkt dies zu besprechen. Jetzt standen andere Dinge im<br />

Vordergrund. Zunächst einmal versuchte er sich zu konzentrieren.<br />

„Alvan, zieh Dich bitte an, Du wirst hier gebraucht, nicht nur wegen Deiner Sprachkenntnisse.“ Dann wechselte<br />

Odilon ins <strong>Maraskan</strong>o. „Vielleicht sollte ich uns erst einmal vorstellen. Ich bin Odilon Wildgrimm, meine<br />

Gefährten und ich kommen aus der Schwarzen Sichel.“ Odilons <strong>Maraskan</strong>isch war keinesfalls akzentfrei, und die<br />

<strong>Maraskan</strong>er sprachen gewiss mehr und besser Garethi als Odilon die Zunge der <strong>Maraskan</strong>er beherrschte. Aber seine<br />

Erfahrungen, die er bei den Nivesen und den Elfen und sogar mit Orks und Goblins gemacht hatte, hatten mehrfach<br />

gezeigt dass man leichter das Vertrauen eines jeden Volkes erringen konnte wenn man sich bemüht zeigte die<br />

Sprache des Gastgeberlandes zu erlernen. Die meisten der garethischen Besatzer <strong>Maraskan</strong>s hatten dies nicht getan.<br />

„Dort drüben seht ihr Alrik <strong>von</strong> Friedwang, den Gatten meiner Nichte und dessen Schwester Gunelde. Und dort<br />

drüben seht ihr Sigismund <strong>von</strong> Baernfarn-Helligfarn, einen entfernten Verwandten <strong>von</strong> mir, und meine Tochter<br />

Alvan Scheyhathjida Barnfanij. Meine Tochter lebte eine gute Weile in <strong>Maraskan</strong> und wurde in Tujiak zur<br />

Priesterin der Zwillinge geweiht.“<br />

„Gewiss. Unsere Priester reisen für gewöhnlich immer in Begleitung <strong>von</strong> Praiospfaffen“ spöttelte Sturmfejian.<br />

„Der Inquisitor begleitet uns eher zufällig, aus einer Laune des Schicksals heraus“ antwortete Alvan, die sich eine<br />

Decke überwarf. „Es gefiel den Zwillingen, auf diese Weise einem Priester aus Gareth die Schönheit <strong>Maraskan</strong>s zu<br />

zeigen“ erläuterte Alvan, in weitaus besserem <strong>Maraskan</strong>o.<br />

„Natürlich.“ Erst jetzt bemerkte Sturmfejian die spitzen Ohren der Halbelfe. „Eine Priesterin aus dem Land der<br />

Garethjas. Auch noch eine Elfe, und dazu in Begleitung eines Praiospriesters. Erzählt das meinetwegen den<br />

bruderlosen Einfaltspinseln <strong>von</strong> Haffaxijas, aber nicht den Kämpfern der Sira Jerganak!“<br />

Alvan zeigte äußerlich keine Reaktion, aber als der Name der Rebellen fiel mußte sie sofort an die Erzählung<br />

Meldorjins denken. Rurs Plan war doch wahrhaft bis in das letzte Detail durchdacht. Und als Priesterin der<br />

Zwillinge hatte sie es nicht nötig, sich weiter vor diesen Rebellen zu rechtfertigen.<br />

„Von den Sira Jerganak seid ihr? Na wunderbar. Dann könnt Ihr uns doch gewiss zu Rurmanjinn bringen. Wir sind<br />

auf der Suche nach ihm.“<br />

„Aber sicher doch. Haben die Herrschaften sonst noch einen Wunsch? Ein Glas Wein vielleicht? Sollen wir Euch<br />

mit Palmwedeln Kühlung fächeln?“ spottete Sturmfejian in gespielter übertriebener Unterwürfigkeit. Aber anhand<br />

220


der Reaktion erkannte Alvan jedoch, dass es diesen Rurmanjinn also tatsächlich gab. <strong>Das</strong> fing also gar nicht mal so<br />

schlecht an.<br />

„Still. Da draußen rührt sich was!“ warnte Haldorban.<br />

Tatsächlich war in der Dunkelheit schemenhaft eine Gestalt zu erkennen, die den Pfad zur Klause hin entlang<br />

hastete. Auf einen Wink Sturmfejians machte Farjion sich bereit und stellte sich mit seinem Blasrohr in drei Schritt<br />

Entfernung <strong>von</strong> der Tür auf. Die Gestalt – Haldorban erkannte eine Frau – war offenbar nicht sehr um Heimlichkeit<br />

bemüht. Offenbar rechnete sie nicht damit, hier jemanden vorzufinden. Die Klinke wurde herabgedrückt, die Türe<br />

aufgeschoben, und im Mondlicht sahen die Gefährten die Frau. Sie war nur mit einem leichten Dolch bewaffnet.<br />

„Erstarre!“ rief Farjion.<br />

Die Frau rührte sich nicht. Sie wirkte überrascht hier nicht allein zu sein, aber sie reagierte wie es alle <strong>Maraskan</strong>er<br />

gelehrt wurden. Mit dem Befehl Erstarre wurde kein Scherz gemacht. Wer sich, so angesprochen, dennoch<br />

bewegte, hatte keinen Grund, sich zu beschweren, wenn er im nächsten Augenblick einen Dolch in der Kehle hatte.<br />

„Erkläre Dich. Was willst Du hier?“ fragte Farjion.<br />

„Estibora!“ rief Alvan aus, die die Matrosin <strong>von</strong> der Nachtwind als erste wieder erkannte.<br />

„Alvan! Du lebst? Ich hatte Dich schon auf dem Grund des Sundes geglaubt!“<br />

„Ruhe hier!“ Erst jetzt bemerkte Estibora, dass die Priesterin und ihre Gefährten nicht allein waren, sondern ebenso<br />

wie sie bedroht wurde.<br />

„Estibora also. Du kennst diese Garethjas also. Woher?“<br />

„Von der Nachtwind. Sie fuhren mit uns über den Sund. Die Priesterin wollte nach Jergan, in die Gegend <strong>von</strong><br />

Jergan. Moment mal, dich kenne ich doch auch. Hab ich Dich nicht schon mal gesehen. Du gehörst doch zu den<br />

Sira Jerganak?“<br />

„Kann es sein dass Du zu viel weißt?“ fragte Farjion drohend.<br />

„Was... wir gehören doch zu Euch. Hast Du vergessen, dass die Sira Jerganak ebenso wie andere Rebellen <strong>von</strong> der<br />

Nachtwind beliefert? Mit Waffen, Nahrung, Werkzeug aus Sinoda?“<br />

„Du gehörst zur Nachtwind? Zu Vegszibers Mannschaft?“ fragte Sturmfejian ungläubig.<br />

„Ja, gehört sie. Ich erkenne sie wieder. Ich habe sie einmal am Lagerplatz gesehen, beim Entladen. Ja, ich erkenne<br />

sie wieder.“ Bei Alrijianas Worten atmete Estibora hörbar auf.<br />

„Dann sind diese komischen Gestalten also tatsächlich keine Garethjas, keine Feinde <strong>Maraskan</strong>s?“<br />

„Nein, ja, aber auf alle Fälle sind sie keine Feinde <strong>Maraskan</strong>s. Die Halbelfe ist eine Priesterin der Zwillinge, aber<br />

sie wird halt <strong>von</strong> Garethjas begleitet. Sie wollten mit Kapitän Vegsziber nach <strong>Maraskan</strong> segeln und dort den<br />

Tempelschatz <strong>von</strong> Jergan bergen.“<br />

Sturmfejian lachte nicht, auch wenn Alvan diese Reaktion beinahe erwartet hatte. „Was wollt ihr mit dem Schatz?“<br />

wollte er wissen. Alvan meinte aus der Reaktion herauszulesen, dass der Rebell den Schatz im Tal der<br />

Glühwürmchen als existent annahm.<br />

„Soweit sich <strong>Gold</strong> darin befindet soll damit der Widerstand finanziert werden, namentlich die Ausrüstung und<br />

Versorgung der Schmuggler der Nachtwind, die ihrerseits für die Versorgung der Rebellen im Dschungel<br />

unabdingbar sind“ erläuterte Alvan, ohne dabei näher auf den Grund der Vereinbarung einzugehen. „Alles andere<br />

soll in die Obhut des Tempels der Zwillinge gebracht werden. Und dann ist da natürlich noch das Grab <strong>von</strong><br />

Guneldes und Alriks Großvater. Ich habe den beiden versprochen, ihnen bei der Bergung der sterblichen Überreste<br />

ihres Ahnen zu helfen, wofür sie mir bei der Bergung des Tempelschatzes zur Seite stehen. Schließlich soll sich<br />

beides am selben Ort befinden.“ Alvan ging lieber gleich auf beide Ziele ein, die sie hier verfolgten, sonst würden<br />

die Rebellen noch glauben sie würden sie anlügen, nachdem ja Gunelde zuvor nur <strong>von</strong> der Suche nach dem Grab<br />

ihres Großvaters gesprochen hatte.<br />

„So, ihr wolltet also den Schatz im Tal der Glühwürmchen heben. Einen Schatz, den schon viele gesucht haben,<br />

und den es vielleicht gar nicht gibt.“ Sturmfejian schien nicht wirklich überzeugt zu sein <strong>von</strong> der Möglichkeit der<br />

Nichtexistenz des Schatzes. „Warum habt ihr Euch dann <strong>von</strong> Kapitän Vegsziber getrennt?“<br />

„Wir wollten zuerst noch unsere Mitreisende Gunelde befreien, die in Gipflak gefangen gehalten wurde“ erklärte<br />

Alvan.<br />

„Wir dachten schon Alvan und ihre Gefährten würden schon auf dem Grund des <strong>Maraskan</strong>sund liegen. Daher<br />

befahl Vegsziber, allein nach dem Schatz zu suchen.“ Estibora stockte. „Sie... die Samthandschuhe... sie haben uns<br />

erwischt. Alle haben sie gefangengenommen. Nur ich konnte fliehen.“<br />

„Wie konnte das passieren?“<br />

Ich... ich weiß es nicht. Die Samthandschuhe haben überall ihre Spitzel. Sie mussten über uns und unsere Pläne<br />

informiert worden sein. Vielleicht war es zu auffällig bei diesem Kartenhändler nach einer Karte für das Tal der<br />

Glühwürmchen zu fragen. Sie haben Algorjin erschlagen. Vegsziber, Marakejian, Alrech und Grojiana haben sie<br />

gefangen. Mögen die Zwillinge ihnen ein gütiges Schicksal zugedacht haben.“<br />

„Aber...“ Alvan konnte dem noch nicht ganz folgen. „Woher wusstest Du dann dass Du uns hier finden würdest?“<br />

221


„Wusste ich nicht. Ich wollte hier auf die Nachtwind warten. Die wollte uns in drei Tagen hier abholen. Die Klause<br />

hier war unser Treffpunkt. Ich wollte meine Mannschaft warnen, denn ich weiß nicht ob meine Gefährten so lange<br />

schweigen können beim Verhör im Kerker <strong>von</strong> Jergan. Gut möglich, dass es hier bald <strong>von</strong> Soldaten wimmelt.“<br />

Farjion ließ erschrocken seinen Schnitter sinken. „Dann sind wir hier auch nicht mehr sicher. Zum Bruderlosen<br />

noch mal, das hat uns gerade noch gefehlt!“ fluchte er. „Was nun?“ der Rebell blickte ratlos seine Gefährten an.<br />

<strong>Das</strong> mit der Gefangennahme der Fremden konnten sie jetzt wohl vergessen. Die Fremdijas waren, wenn er das jetzt<br />

richtig mitbekommen hatte, ja doch Verbündete, auch wenn sie Garethjas waren. Oder besser sie waren immerhin<br />

Feinde der Haffaxijas und damit keine unmittelbaren Gegner.<br />

„Wir müssen weg. Weg <strong>von</strong> hier. Wir wissen nicht, ob die Haffaxijas die Klause finden oder nicht, aber wenn sie<br />

auf dem Weg hierher sind bleibt uns vielleicht nicht mehr viel Zeit. Darauf können wir es nicht ankommen lassen“<br />

stellte Alrik fest.<br />

„Es wäre das Beste wenn wir uns in Euer Lager durchschlagen können. Die Soldaten wissen nicht wo das ist, und<br />

mit ihnen gemeinsam können wir den Feind vielleicht sogar in einen Hinterhalt locken und aus dem Dschungel<br />

heraus besiegen. <strong>Das</strong> ist doch ohnehin Eure Taktik Sturmfejian, aus der Sicherheit des Dschungels heraus<br />

versprengte Truppenteile anzugreifen um damit die Dreckigen zu schwächen“ schlug Alvan vor.<br />

„Ja. Schon. Aber zu unserem Lager ist es... ein weiter Weg.“ beinahe hätte Sturmfejian zu viel über das Lager und<br />

seinen Ort gesagt. So weit vertraute er den Fremden doch noch nicht. „Aber vielleicht ist es wirklich das Beste, uns<br />

in den Dschungel zurück zu ziehen. Andererseits ist das ein heiliger Ort, der uns einen gewissen Schutz gewährt.<br />

Die Dreckigen kennen diesen Ort nicht. Auch wenn Kapitän Vegsziber den Platz verrät wird es eine Weile dauern<br />

bis sie ihn finden. Der einstige Pfad <strong>von</strong> der Straße zu Klause ist schon seit Jahren vom Dschungel zurückgeholt<br />

worden. Da gibt es nichts mehr zu finden, und die unheiligen Kreaturen in Seinen Diensten meiden diesen Ort<br />

allemal. Niemand, der seine Existenz den Verderbten geweiht hat, kann die Klause betreten.“ Sturmfejian wusste<br />

nicht genau ob sie hier wirklich sicher waren. Aber er wollte auf keinen Fall das Lager der Rebellen verraten. Einer<br />

Priesterin der Zwillinge, ja, einer Schmugglerin des Widerstandes, vielleicht. Aber doch ganz gewiss keinem<br />

Priester der Praioskirche, unter welchen Umständen auch immer dieser zeitweise gemeinsam mit den Rebellen<br />

kämpfen mochte. Nein, es kam nicht in Frage diese Fremdijas ins Lager zu bringen. Sie würden hier bleiben<br />

müssen bis Rurmanjinn entschieden hatte wie mit den Fremdijas zu verfahren sei.<br />

„Nein“ bestimmte Sturmfejian. „Wir werden nicht ins Lager zurückkehren. Wir werden hier bleiben. Farjion, du<br />

kehrst zurück ins Lager und erstattest Bericht und holst neue Order ab, wie mit den Fremdijas zu verfahren ist. Wir<br />

werden hier ausharren. Selbst wenn Söldner aus Jergan eintreffen wird es mindestens einen Tag dauern bis diese<br />

zur Klause marschiert sind. Aber zuerst müssen sie herausfinden wo sie ist, wenn sie das überhaupt schaffen, diese<br />

´schazzak´ verderbten Gesellen.“ Sturmfejian spuckte verächtlich auf den Boden. Bis dahin wird Rurmannjin<br />

entschieden haben und wir sind längst im Dschungel verschwunden bevor hier auch nur der Schatten eines<br />

Soldaten zu sehen ist.<br />

Alrik war da weniger optimistisch, aber er verstand dass die Rebellen sie natürlich nicht in ihr Lager führen<br />

würden. Selbstverständlich würde kein Freischärler ein solches Risiko eingehen. Es war töricht <strong>von</strong> Alvan, das zu<br />

erwarten. Sie überschätzte den Respekt den man ihr als Priesterin entgegenbrachte. Natürlich würde man keine<br />

mittelreichischen Adeligen oder gar einen Praiospriester in die Geheimnisse der maraskanischen Rebellen<br />

einweihen. und wenn sie hundertmal <strong>von</strong> einer Priesterin der Zwillinge<br />

begleitet wurden.<br />

„Vielleicht könnten wir dennoch diesen Tempel verlassen und an einem anderen Ort Zuflucht suchen. Farjion kann<br />

uns dort benachrichtigen sobald Rurmanjinn eine Entscheidung getroffen hat. Wir wären dann aber sicher vor den<br />

Soldaten aus Jergan“ schlug Alrik vor.<br />

„Irgendwo im Dschungel? So etwas kann doch nur ein Garethja vorschlagen! Ohne unseren Eukolizana wird<br />

niemand einen Tag im Dschungel ausharren. Der Heerbann ist nicht weit. Da kämpfe ich lieber gegen ein Dutzend<br />

Soldaten bevor der Heerbann uns zum Frühstück verputzt. <strong>Das</strong> schlag´ Dir mal lieber aus dem Kopf. Nein, da sind<br />

wir hier allemal sicherer, zumal wir nicht länger als einen Tag hier bleiben werden. Also los, Farjion. Du hast nicht<br />

viel Zeit zu verschwenden.“ Sie würden hier bleiben müssen bis Rurmanjinn entschieden hatte wie mit den<br />

Fremdijas zu verfahren sei. Und nicht zuletzt wollte er noch etwas darüber sinnieren, ehe er eine Entscheidung fiel.<br />

Ein Gedanke formte sich in Sturmfejians Kopf. Der Anführer des Rebellentrupps nickte Farjion unmerklich zu.<br />

Alrik war sich nicht sicher, ob Sturmfejian das nur sagte um einen Vorwand zu haben, hier in der Klause zu bleiben<br />

oder ob wirklich Gefahr im Dschungel drohte. Schließlich waren die Rebellen ja auch ohne die Eukolizana<br />

gekommen. Wen auch immer er sich unter Eukolizana vorstellen musste. Vermutlich eine besonders<br />

Dschungelerfahrene Rebellin. Im Gegensatz zu Alvan wusste er nicht, dass die Angehörigen des Eukolizana-<br />

Ordens, einem Orden der Zwillingsgötter, sich der Erforschung des Dschungels und seiner Tiere verschrieben<br />

hatten und wussten, dass der Heerbann der friedlichen Schwestern die Nähe <strong>von</strong> Marasken mied. Darin bestand das<br />

Geheimnis dieses Ordens. Solange man in Begleitung einer Maraske war drohte einem vom übrigen gefräßigen<br />

Krabbelgetier des Waldes keine Gefahr. In der Nähe <strong>von</strong> Marasken zu verweilen ohne <strong>von</strong> diesen gefährlichen und<br />

giftigen Tieren angegriffen zu werden war allerdings eine Kunst, die nur die Eukolizana verstanden. Aber es blieb<br />

222


den Gefährten wohl nichts anderes übrig als zu hoffen dass Sturmfejian mit seiner Einschätzung Recht hatte, dass<br />

hier keine Gefahr <strong>von</strong> Soldaten drohe. Und dass Farjion nicht zu lange brauchen würde um den Rebellenhauptmann<br />

zu informieren und um Rat zu fragen. Hätten die Gefährten geahnt, wie nahe die drohende Gefahr war, sie hätten<br />

wohl eine Nacht im Dschungel der scheinbaren Sicherheit der Klause vorgezogen. Aber sie waren müde. Vor allem<br />

Gunelde war wirklich am Ende ihrer Kräfte angelangt.<br />

Die heiße Mittagszeit hatte begonnen, als Odilon wieder erwachte. Die Ereignisse der vergangenen Stunden<br />

erschienen ihm entfernt als lägen sie lange zurück. Wie durch einen sanften Schleier schienen die Gefährten <strong>von</strong><br />

den Gefahren <strong>Maraskan</strong>s abgeschirmt.<br />

Verdammt, was war los mit ihm. Die Anstrengungen hatten ihm mehr zugesetzt als er glauben wollte, aber er<br />

durfte sich jetzt keine Ruhe gönnen. „Aufstehen, Alrik“ rief er und rüttelte den Friedwanger wach. Wir können hier<br />

nicht ewig bleiben. Mit jeder Stunde die verstreicht rücken vielleicht die Feinde näher.“<br />

„Heda, Ihr vergesst wohl dass hier immer noch wir die Entscheidungen treffen. Und ich sage wir warten auf<br />

Farjion“ ereiferte sich Sturmfejian. „Außerdem seid Ihr immer noch unsere Gefangenen, solange bis Rurmanjinn<br />

entschieden hat wie mit Euch zu verfahren ist. Also gebt Ruhe, sonst werden wir Euch leider fesseln müssen.<br />

Bislang behandeln wir Euch ja sehr entgegenkommend, weil ihr in Begleitung einer Priesterin reist.“<br />

Alrik räkelte sich und rieb sich die Müdigkeit aus den Augen, dann trank er einen Schluck aus seiner<br />

Wasserflasche. „Gut, ja, aber vergesst nicht dass wir nicht wissen wann die Haffaxijas <strong>von</strong> diesem Ort erfahren.<br />

<strong>Das</strong> kann schneller gehen als ihr denkt.“<br />

„Und wenn ein Trupp Gardisten nicht <strong>von</strong> Jergan aus aufbricht sondern sie einen Eilboten nach Nuran schicken,<br />

trennt sie nur ein zweistündiger Fußmarsch <strong>von</strong> uns“ ergänzte Alvan. „Ein Karakilreiter braucht nicht lange <strong>von</strong><br />

Jergan nach Nuran.“<br />

„Bis Farjion zurückkehrt vergehen nicht mehr als noch zwei Stunden. Bis dahin bleiben wir hier!“ bestimmte<br />

Sturmfejian. Er misstraute den Fremden noch immer. Gut, Estibora gehörte zu den Freischärlern, aber das musste<br />

nichts heißen. Und die anderen waren Garethjas, denen konnte er auch nicht so recht vertrauen. Wer konnte schon<br />

einer Gruppe vertrauen, die <strong>von</strong> einem Praioten angeführt wurde. <strong>Das</strong> allein schon reichte aus, um sein Misstrauen<br />

zu erwecken. Außerdem begleiteten wirklich seltsame Personen diesen Priester. Zerlumpte, schäbige Gesellen, die<br />

sich als Adelige des Kaiserreiches ausgaben. Er wusste nicht, was er da<strong>von</strong> halten sollte, aber er war misstrauisch.<br />

Und die Fremden drängten darauf, die Klause zu verlassen. War dieses Drängen wirklich durch Angst vor den<br />

Haffaxijas motiviert, oder hatten die Fremden vor, ihn in eine Falle zu locken? Hatten diese Fremden Verbündete<br />

im Wald? <strong>Das</strong> war nicht ausgeschlossen. Sturmfejian war sich sicher, dass diese acht Gestalten nicht zu den<br />

Dreckigen gehörten, aber deswegen mussten sie ihnen noch lange nicht wohlgesonnen sein. Die Geschichte mit<br />

dem toten Großvater glaubte er jedenfalls nicht.<br />

Odilon grübelte, wie er die Rebellen da<strong>von</strong> überzeugen konnte, die Klause zu verlassen. Warum war dieser Rebell<br />

so uneinsichtig? Es musste ihm doch klar sein, dass sie auch gemeinsam nichts gegen einen Trupp Soldaten aus<br />

Jergan oder Nuran unternehmen konnten. Warum weigerte Sturmfejian sich so vehement gegen das, was doch nur<br />

vernünftig war. <strong>Das</strong>s er sie nicht ins Lager führen würde war klar und einleuchtend, aber es gab doch wohl<br />

genügend andere Verstecke im Dschungel! Farjion würde sie auch an einem anderen Ort gewiss finden, wenn er<br />

ein auch nur halbwegs im Wald erfahrener Rebell war. Die Entscheidung Sturmfejians schien ihm so offensichtlich<br />

falsch. Aber als Rebell, als Dschungelkämpfer, der einen Trupp anführte, hätte Rurmanjinn doch ganz gewiss<br />

keinen Trottel ausgewählt? Oder urteilte er hier falsch über den Rebellenführer? Er kannte Rurmanjinn doch gar<br />

nicht, und vielleicht wusste Sturmfejian etwas, was ihm unbekannt war. Gewiss wäre es ihm und seinen Gefährten<br />

gelungen, die verbliebenen drei Rebellen zu überwältigen. Aber das wäre möglicherweise nicht ohne Verluste zu<br />

bewerkstelligen, da da<strong>von</strong> auszugehen war, dass die Rebellen ein Waffengift verwendeten und daher auch kleine<br />

Verwundungen tödlich sein konnten. Außerdem würde man die Rebellen als Verbündete brauchen, wollten sie<br />

jemals zum Tal der Glühwürmchen vordringen wollen. Sie konnten es sich nicht leisten, sich die Sira Jerganak zum<br />

Feind zu machen. Ohne die Hilfe der Rebellen hatte ihr Unterfangen kaum Aussicht auf Erfolg. Vielleicht war<br />

Sturmfejian auch gar nicht so einfältig oder entscheidungsunlustig wie er auf Odilon wirkte. <strong>Das</strong> wäre zumindest<br />

denkbar. Aber welchen Plan verfolgte der Rebell dann?<br />

Sturmfejian überlegte. Er wusste, dass die Befürchtung, die die Garethjas ausgesprochen hatten, zutreffend war.<br />

Gewiss würden hier über kurz oder lang Söldner auftauchen. Vermutlich sogar sehr bald. Gerade deswegen wollte<br />

er hier bleiben. Mochten die Garethjas ruhig denken, dass er unfähig war, einen vernünftigen Plan zu fassen. Es hat<br />

sich schon oft als Vorteil erwiesen, wenn ein Gegner einen unterschätzte. Die Zeit arbeitete gegen die Garethjas,<br />

ganz richtig. Aber sie arbeitete für ihn. Nein, die Zeit arbeitete nicht für ihn, aber sie arbeitete für die Rebellen des<br />

freien <strong>Maraskan</strong>. Und das zählte. Wenn er, Alrijiana und Haldorban heute die vierundsechzig Fragen des Seins<br />

beantworten würden, dann war das in Kauf zu nehmen. Solange dabei nur die Feinde <strong>Maraskan</strong>s einen höheren<br />

Blutzoll entrichten würden. Und das würden sie, das war gewiss. Schließlich war es weniger Farjions Auftrag, eine<br />

Anweisung <strong>von</strong> Rurmanjinn einzuholen, als vielmehr die gesamten Rebellen als Verstärkung zu alarmieren.<br />

223


Die Haffaxijas wollten ein Schmugglerschiff aufbringen, das in wenigen Tagen hier anlegen würde. Gut, aber das<br />

würden sie ganz gewiss nicht mit einfachen Söldnern aufbringen. Nein, sie würden das Schiff hier anlegen lassen<br />

um es dann mittels einiger Kriegsgaleeren einzukreisen und es an der Flucht zu hindern. Sie würden das Schiff<br />

wahlweise zu entern versuchen oder aber es aus der Entfernung mit Geschützen zu versenken. Aber ganz gewiss<br />

würde kein Haffaxija versuchen, ein hier vor der Küste ankerndes Schiff mit Landtruppen zu erobern, eine solche<br />

Torheit würden Haffax Söldner wahrlich nicht begehen.<br />

Nun gut, auf den Ausgang eines Seegefechtes konnten die Sira Jerganak keinen Einfluss nehmen. <strong>Das</strong> wollte<br />

Sturmfejian auch nicht. Aber die Haffaxijas würden eine Einheit in Bewegung setzen, um die Klause und das<br />

Umfeld zu sichern, damit nicht möglicherweise jemand die Schmuggler warnen würde, und auch um den Matrosen<br />

nicht eine Flucht ins Landesinnere zu gestatten. Andernfalls würden die Schmuggler, wenn ihnen der Fluchtweg<br />

übers Meer verwehrt war, ihr Schiff selbst versenken und dann versuchen, sich über Land nach Sinoda<br />

durchzuschlagen.<br />

Also war mit dem Eintreffen <strong>von</strong> Söldnern des Dreckigen zu rechnen, noch bevor sich die Kriegsschiffe aus Jergan<br />

hier blicken lassen würden. Offen blieb, wie viele Söldner man schicken würde. Sturmfejian nahm an, dass die<br />

Dreckigen <strong>von</strong> möglicherweise einigen wenigen Recken ausgingen. Von der geflüchteten Estibora wussten sie,<br />

vermutlich ebenso <strong>von</strong> der Anwesenheit der sieben Garethjas. Also gingen sie <strong>von</strong> maximal einem Dutzend<br />

Feinden aus, die sich möglicherweise in der Klause versteckt hielten. Um ein Dutzend sich verteidigende Kämpfer<br />

mit absoluter Sicherheit besiegen zu können würde man drei Dutzend Angreifer aussenden. Dieses Kräfteverhältnis<br />

hatten die Besatzer schon immer angewandt wenn es gegen Rebellen ging, das war unter den Garethjas schon so<br />

gewesen. Und was Kriegstaktik anging, darin unterschieden die neuen Besatzer sich kaum <strong>von</strong> den Alten. Mit<br />

etwas Reserve waren es vielleicht vier Dutzend. Na wenn schon, das war nicht viel. Wahrlich nicht.<br />

Sturmfejian war nicht größenwahnsinnig, auch wenn man den Eindruck gewinnen konnte, wenn man vernahm,<br />

dass er vier Dutzend Gegner nicht für viel hielt. Sturmfejian lächelte kaum merklich. Aber diese vier Dutzend<br />

Feinde würden die Klause erstürmen müssen, bevor das Schiff der Schmuggler in Sicht kam, um diesen eine Falle<br />

stellen zu können. Die Gefahr einer Belagerung war also gering. Und die Klause bot hervorragende Deckung,<br />

hingegen war nicht da<strong>von</strong> auszugehen, dass die Söldner der Dreckigen die Deckung des Dschungels so gut nutzen<br />

konnten. Und der Wald in der Nähe der Klause war licht genug um die Blasrohre der Rebellen zur tödlichen Waffe<br />

werden zu lassen, während sie selbst hier recht gute Deckung genossen. Außerdem konnte Rurmanjinn den<br />

Haffaxijas mit den Seinen in den Rücken fallen, und im Dschungelkampf waren <strong>Maraskan</strong>er den Besatzern<br />

überlegen. Die Rebellen konnten es nicht wagen, die Besatzer in ihren Garnisonen anzugreifen. Aber hier im<br />

Dschungel war das etwas anderes. Hier waren die Feinde zu einem bekannten Zeitpunkt dort wo man sie besiegen<br />

konnte.<br />

<strong>Das</strong> Beste aber war, dass Rur ihnen diese Bande Garethjas geschickt hatte. Diese waren die eigentlichen, denen die<br />

Besatzer nachjagten. Also würden sich in diesem Fall die alten und die neuen Besatzer gegenseitig an die Gurgel<br />

gehen. Während die <strong>Maraskan</strong>er also nicht mehr als drei Leben – mit der Fischerin und der seltsamen Priesterin<br />

fünf Leben – verlieren konnten, so würden sicherlich sechs Garethjas und ganz gewiss mehr als ein Dutzend<br />

Haffaxijas Bruder Boron <strong>von</strong> Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen. Es war also ein Gefecht, bei dem<br />

<strong>Maraskan</strong> gewinnen würde, egal wie sich das Schlachtenglück wendete. Auch wenn die Söldner aus Jergan vor den<br />

anderen Rebellen hier eintreffen würden, so wäre ihr Blutzoll hoch. Die Garethjas sahen schlagkräftig aus, und ihre<br />

Schlagkraft würde sich auf alle Fälle gegen die Dreckigen richten. Konnte Rur ihnen ein schöneres Geschenk<br />

machen als dass die Toren <strong>von</strong> Garethjas sich zur Abwechslung einmal für die Freiheit <strong>Maraskan</strong>s aufopferten?<br />

Außerdem hatte er ja noch ein paar Trümpfe im Ärmel.<br />

„Also gut“ Sturmfejian machte einen Gesichtsausdruck, als würde er sich <strong>von</strong> den Befürchtungen der Gefährten<br />

beeindrucken lassen. „Wir können hier nicht verschwinden bevor Farjion uns neue Befehle <strong>von</strong> Rurmanjinn bringt.<br />

Aber wir können uns ja darauf vorbereiten uns zu wehren, wenn diese bruderlosen Söldner denn tatsächlich<br />

kommen sollten. Damit ihr beruhigt seid, Garethjas.“...“Ihr beide“ Sturmfejian deutete auf Alrik und Odilon „könnt<br />

ja schon einmal die Fenster verrammeln und die Türe verriegeln, so dass nur schmale Schlitze zum Schießen<br />

bleiben. Bretter gibt’s hier ja zuhauf, wenn man die Möbel zerlegt. Und Du da“ er zeigte auf Sigismund „nimm den<br />

großen Hammer dort und entferne den Balken dort vom Steg. Den dort, an dem man Boote anbinden kann. Wir<br />

können ihn zum Verkeilen der Tür gewiss gut gebrauchen.“<br />

<strong>Das</strong> war zwar keine Entscheidung, wie die Gefährten sie sich erhofft hatten, aber es war immerhin eine<br />

Entscheidung. Vielleicht war es die falsche Entscheidung, dachte Alrik. Aber sei´s drum. Durch untätig rumsitzen<br />

würden sie nichts verbessern, und Odilon und Alvan würden hoffentlich wissen was das Beste sei. Doch keiner der<br />

beiden erhob Widerspruch. Also ging Sigismund wie aufgetragen nach draußen, und Alrik machte sich daran, mit<br />

seinem Schwertknauf die in der Kapelle befindlichen Möbel zu bearbeiten, Splinte und Holzkeile herauszuklopfen<br />

und zu Brettern zu verarbeiten. Es würden keine zwei Stunden vergehen, bis die Tür verkeilt und die Fenster<br />

notdürftig zu Schießscharten umgebaut sein würden. Die Rebellen waren gut ausgerüstet mit allerlei Werkzeug,<br />

also war es keine Schwierigkeit, die Bretter auf die richtige Länge zurechtzusägen. Die Fenster waren ins<br />

224


Mauerwerk eingelassen und <strong>von</strong> Haus aus nur außen mit einem Laden versehen. Da der Durchlass sich nach außen<br />

verjüngte war es ein leichtes, Bretter so darin zu verkeilen, dass nur ein schmaler Spalt über blieb. So lange die<br />

Läden geschlossen waren würde man das <strong>von</strong> außen noch nicht einmal bemerken. Zum Wald hin wiesen nun zwei<br />

Schießscharten und natürlich die verriegelte Tür, je eine gen Praios und gen Firun, und zwei <strong>von</strong> der kleinen<br />

Kammer aus gen Efferd zum Meer gewandt, keine fünf Schritt vom verfallenen Landesteg entfernt, an dem<br />

Sigismund sich zu schaffen machte.<br />

Odilon war sich nach wie vor nicht sicher, ob er den Plan der Rebellen gut heißen sollte. Gewiss war eines: Sollten<br />

die Söldner Haffax´ tatsächlich angreifen, so dürfte ihnen ein Erstürmen nicht leicht fallen. Die Kapelle war<br />

tatsächlich wie eine kleine Festung gebaut, ein Angreifer müsste mit beachtlichen Verlusten rechnen. Auch die<br />

Gefahr, ausgeräuchert zu werden, war nicht übermäßig hoch. Schließlich war die Kapelle aus Stein gebaut, aus<br />

Holz waren lediglich die Tür und die Fensterläden. Und das Dach der Klause war mit Lehmziegeln bedeckt, die<br />

dem hölzernen Dachstuhl doch einen gewissen Schutz verleihen würden. Ein Angreifer, der Zeit mitbrachte, würde<br />

sich ohne schwere Geschütze wohl am leichtesten damit tun, die Verteidiger schlicht auszuhungern. Aber Zeit<br />

würden die Angreifer nicht haben, wollten sie nicht riskieren, dass Rebellen ihnen in den Rücken fielen. Nur eines<br />

gefiel Odilon gar nicht. Es gab keine Möglichkeit, zu fliehen. Warum bedachte Sturmfejian das nicht?<br />

Sigismund hatte sich den Hammer ergriffen und war zum Steg gegangen. Er tat, wie man ihm aufgetragen hatte.<br />

Sollten sich Odilon, Alrik und Alvan mit den Rebellen einigen. Er hatte ohnehin das meiste nicht verstanden, was<br />

da auf <strong>Maraskan</strong>o gebrabbelt worden war. Außerdem war er ganz froh, jetzt einmal seine Ruhe zu haben und über<br />

das vorgefallene nachzudenken, während er den Hammer schwang. Der Holzbalken war mit langen Nägeln auf die<br />

Holzpfosten genagelt, es war selbst für den handwerklich wenig erfahrenen Sigismund kein Problem, mit gezielten<br />

Hammerschlägen <strong>von</strong> unten die Nägel aus den Pfosten zu treiben. Der Balken war gut acht Schritt lang. Die<br />

Rebellen hatten das gut eingeschätzt, man konnte den Balken an der Westwand der Kapelle abstützen und gegen<br />

die Tür lehnen. So auf die Schnelle war das eine wirksame Methode den Zugang zur Kapelle zu verrammeln.<br />

Odilon deutete Alrik, ihm zu helfen. „Wenn wir die langen Bretter dort oben quer unter dem Dach befestigen<br />

können wir <strong>von</strong> vier Stellen aus etwaige Angreifer unter Beschuss nehmen. Bislang haben wir ja nur die beiden<br />

Fenster unten, die ins Landesinnere weisen. Wir können oben einfach einen Ziegel auf jeder Seite entfernen, und<br />

schon haben wir zwei neue Schusspositionen. Gerade wenn ein Feind mit großer Übermacht angreift kann es<br />

entscheidend sein, wenn wir damit die Schussfrequenz verdoppeln. Wir haben nur fünf Schützen. Alvan und mich<br />

und die drei Rebellen mit ihren Blasrohren.“<br />

„Du vergisst, dass ich noch ein paar Wurfmesser habe. Außerdem haben wir ja noch eine gute Portion Schlafgift.<br />

Und nicht zuletzt haben die Rebellen neben den Blasrohren auch zwei Armbrüste dabei. Mit Selbfried und<br />

Sigismund haben wir dann sieben Schützen und einen Magier. Was meinst Du, Odilon, werden wir hier angegriffen<br />

werden? Ich frage mich was Sturmfejian vorhat.“<br />

„<strong>Das</strong> wüsste ich auch gerne. <strong>Das</strong> Problem ist dass wir ohne die Hilfe der Rebellen das Tal der Glühwürmchen<br />

niemals finden werden, und außerdem sind wir im maraskanischen Dschungel ein leichtes Opfer für alles, was dort<br />

lebt an Ungetier. So unwohl ich mich dabei fühle, ich glaube dieser Sturmfejian ist nicht so dumm wie er sich gibt.<br />

Ich denke fast er will den Verderbten eine Falle stellen.“<br />

„Nur eben mit uns als Köder. Dieses Alveranskommando wirst Du doch nicht mitmachen wollen?“ entgegnete<br />

Alrik.<br />

„Dann sag mir was wir sonst machen sollen. Du kennst den Dschungel, du hast ihn selbst erlebt und weißt wie<br />

tödlich diese grüne Hölle sein kann. Und der Dschungel im Süden des Kontinentes ist gegen diesen hier auf der<br />

Insel des krabbelnden Schreckens ein wahres Honigschlecken. Ohne die Unterstützung der Rebellen kommen wir<br />

hier nicht weit. Du hast gehört, dass der Heerbann nicht weit ist.“<br />

„Aber Odilon, das kann doch nicht Dein Ernst sein! Warum willst Du Dich auf das hier einlassen?“<br />

„Weil er Recht hat“ mischte sich Selbfried ein, der unbemerkt hinzugetreten war. Mit der Hand überprüfte er das<br />

Brett, das Odilon und Alrik in den Dachsparren befestigt hatten, auf seinen Sitz. „<strong>Das</strong> dürfte halten. Hier oben<br />

können gut zwei Schützen Platz finden. Alrik, auch wenn Odilon ein guter Jäger ist, so hat er seine Erfahrungen in<br />

den Wäldern des Nordens gemacht. Und auch wenn Alvan die Kultur der <strong>Maraskan</strong>er kennt, so kennt auch sie<br />

keinen Weg, den Gefahren des Dschungels wirklich zu begegnen. Im Wald würden wir nicht weit kommen, gegen<br />

Schlangen, Taranteln, <strong>Maraskan</strong>federn, Spinnen, Egel und anderlei Getier wissen wir nicht umzugehen. Aber da<br />

hat Sturmfejian wohl Recht, auch wenn er hier den Einfältigen markiert. In dieser Kapelle lässt es sich eine Weile<br />

aushalten, zumindest wohl so lange bis Farjion weniger eine Order <strong>von</strong> Rurmanjinn als vielmehr eine Horde<br />

Dschungelkrieger als Verstärkung geholt hat. Ich denke Sturmfejian plant ein Scharmützel mit der eiskalten Logik<br />

eines Militärstrategen. Alle, die die Kapelle angreifen, sind verhältnismäßig schutzlos, wenn ihnen die Rebellen in<br />

den Rücken fallen. Und er riskiert dabei nur das Leben <strong>von</strong> drei Rebellen und das <strong>von</strong> ein paar für ihn<br />

bedeutungslosen Mittelreichern. Es scheint ihn selbst nicht zu stören, dass er dabei vielleicht sein Leben lassen<br />

225


wird. Diese Heiden glauben ja auch nicht an das Gericht Borons sondern an die Wiedergeburt, da fällt das Sterben<br />

leicht.“<br />

„Außerdem rechne ich durchaus gute Chancen für uns aus. Natürlich hängt es da<strong>von</strong> ab, ob und wann die Rebellen<br />

kommen. Aber ich denke Sturmfejian weiß was er tut. Und wenn wir hier einen Hinterhalt legen sieht es<br />

möglicherweise besser für uns aus als man meinen könnte. Vergiss nicht, dass wir hier geschützt sind vor<br />

dämonischen Angriffen. <strong>Das</strong> einzigste was mich stört ist, dass wir hier keine Rückzugsmöglichkeit haben.“ Odilon<br />

sah durch die schmale Luke, die er und Alrik durch die Herausnahme eines Dachziegels gefertigt hatten. Ob sich<br />

mit dem Ast der Pinie, die über das Dach hing, etwas anfangen ließe? Wäre das, zumindest bei Nacht, ein<br />

möglicher Fluchtweg? Oder auch ein Schwachpunkt in der Verteidigung. Auf alle Fälle waren die zusätzlichen<br />

Luken, die er und Alrik gefertigt hatten, ein Schwachpunkt. Sollten die Angreifer Hylailer Feuer mit sich führen,<br />

dann wäre dies die einzige Stelle, die Feuer fangen könnte. "Aber ein paar Vorbereitungen müssen wir schon noch<br />

treffen, damit wir hier auch lange genug aushalten können, bis die Rebellen uns unterstützen können. Wir müssen<br />

die Truhe, die in der Kammer steht, mit Sand füllen. Sand ist das einzigste, mit dem wir einen Brand mit Hylailer<br />

Feuer löschen können, wenn die Haffaxijas uns ausräuchern wollen. Und die beiden alten Fässer dort müssen wir<br />

noch mit Wasser füllen. Zum Trinken ebenso wie um Brände zu löschen. Zum Glück haben die Zwillingspriester<br />

diese Klause direkt neben einen Bach gebaut. Und wenn ich mich nicht irre, dann hat der Bach ein lehmiges Bett.<br />

Damit können wir die Balken des Dachstuhls einreiben und gegen Feuer schützen, notdürftig zumindest. Im<br />

Bereich der Luken sollten wir das unbedingt tun, und auch die Bretter in den Fenstern sollten wir mit Lehm<br />

behandeln. Also, an die Arbeit. Es sind nur noch vier Stunden bis es dunkel wird."<br />

Gunelde hatte ihrerseits den Gedanken gehabt, aus den Tüchern des Bettes und einem provisorisch zusammen<br />

gebastelten Holzgestell ein paar zusätzliche „Verteidiger“ zu fertigen. Damit würden die Luken auf alle Fälle für<br />

entfernte Angreifer bewacht aussehen, vielleicht würden auch Pfeile und Bolzen der Angreifer auf falsche Ziele<br />

gelockt werden. Gemeinsam mit Alvan machte sie sich an die Arbeit. Erst nach Sonnenuntergang waren alle<br />

Vorbereitungen getroffen. Zuletzt stellten sie das Waffengift – außer Alriks Schlafgift stand noch das Gift der<br />

Rebellen zur Verfügung, das tödlich wirkte. Die Gefährten vereinbarten mit den Rebellen, das tödliche Gift für die<br />

Schusswaffen und das Schlafgift für die Handwaffen zu verwenden. Dann teilten Wachen sie ein und legten sich<br />

dann schlafen.<br />

Odilon schreckte aus einem unruhigen Halbschlaf hoch. Grillenzirpen und leises Schnarchen im Halbdunkel. Einen<br />

Moment lang durchzuckte ihn Schrecken, glaubte er doch, er sei auf Wache eingeschlafen. Nein, er war fest in eine<br />

Decke eingehüllt und lag auf seinem Schlafplatz. Leise stöhnend stand er auf. Erst jetzt merkte er, was ihn hatte<br />

aufwachen lassen. Stimmengewirr vor der Tür. Wortfetzen auf maraskanisch. Ein fahles Dämmerlicht verriet, dass<br />

das Morgengrauen nicht mehr fern war. Draußen keckerte, tropfte, fauchte, knisterte und schrie der Dschungel<br />

gegen das monotone Murmeln des Perlenmeers an. Die Eingangstür stand offen, der schwere Holzbalken lag davor.<br />

Sturmfejian und Alrijiana im Hartholzpanzer, die schwarzglänzenden Haare zu einer tollkühnen Frisur<br />

hochgesteckt, standen unter dem Portal und hielten ihre blitzenden Klingen auf eine schmutzstarrende,<br />

kahlschädelige Gestalt, die stöhnend hereingekrochen kam. Erst als die Wache eine Fackel entzündete, erkannte der<br />

Gallyser den Kapitän der Nachtwind.<br />

"Vegsziber!" stieß nun auch der Rebell hervor. "Vetter! Was um der göttlichen Geschwister willen machst du denn<br />

hier!" Erstaunt hob der Waldläufer die Augenbrauen. Die beiden waren verwandt? Nun ja, Sturmfeschijn und<br />

Sturmfeijan hörte sich durchaus ähnlich an. Der Schmugglerkapitän keuchte etwas, und sein Vetter beeilte sich,<br />

ihm eine Flasche mit Wasser zu reichen. Der <strong>Maraskan</strong>er trank gierig, verschluckte sich und hustete. "Jergan...<br />

Gefängnis... bin entkommen... wo sind die anderen?"<br />

"Estibora ist hier." Sturmfejian blickte erst zu Odilon, stutzte einen Moment und sah dann ins Dunkle.<br />

"Was soll das, heißen, du bist entkommen?"<br />

"Einer der Wachen... gehörte zu den Sira Jerganak...." Schwach schlug Vegsziber nach einem Moskito, der sich an<br />

einer schmutzstarrenden Wunde an der Stirn des Mannes laben wollte.<br />

"Was?"<br />

"Er hat mir bei der Flucht geholfen. Ich musste so tun, als würde ich ihn niederschlagen, und..."<br />

"Schazzak!" rief Sturmfejian aus und ließ seinen Vetter fallen, den er gerade noch beim Trinken gestützt hatte. "Du<br />

Narr! Wir haben im Gefängnis <strong>von</strong> Jergan niemanden vom Widerstand. Da bin ich mir sicher. So sicher, wie eines<br />

Tages Gror das Geschenk seines Bruders empfangen wird!"<br />

Vegsziber stöhnte schwach. Die Finger seiner rechten Hand trieften vor Blut und waren merkwürdig krumm, wie<br />

gebrochen. Man hatte ihn offenbar gefoltert. Der Hals unter dem stoppelbärtigen Kinn wies Würgemale auf.<br />

Vegsziber war in Jergan eindeutig gefoltert worden. Der Rebell schimpfte weiter, während im Schrein die ersten<br />

Schläfer erwachten. "M´sarrar! Und du bruderloser Einfaltspinsel hast natürlich nicht gemerkt, dass das alles nur<br />

eine Finte war, um die Haffaxijas hierher zu führen!" Mit einem derben Fußtritt zertrat er einen Blutegel, der <strong>von</strong><br />

Vegszibers Stiefeln auf den Boden des Schreins gerutscht war. Irgendwo über dem Dach schrie triumphierend ein<br />

Maran. Merkwürdig, dachte Odilon, ein Maran, der bei Nacht jagte?<br />

226


"Rast, das ist doch keine Rast hier!" fluchte eine der Soldaten und fing mit der Faust eine der allgegenwärtigen<br />

Stechmücken, um sie dann genüsslich zwischen den Fingern zu zerreiben.<br />

"Ruhe, Soldaten!" fauchte Brackenburger. Grunzend wischte sich der Hauptmann den Schweiß aus dem<br />

Stiernacken. "Es geht noch früh genug weiter. Kannst froh sein, dass du hier nicht im echten Dschungel bist." Der<br />

Karmothgardist wandte sich dem schwächlich aussehenden Mann mit dem zu vielen kleinen Zöpfen geflochtenen<br />

Bart zu, der neben ihm an dem qualmenden Lagerfeuer stand - nackt, wie seine verfluchten Zwillingsgötzen ihn<br />

geschaffen hatten.<br />

"Zieht das an" Brackenburger warf dem Magus ein Bündel Gewänder zu, einschließlich eines Paars Stiefel. "Sonst<br />

fressen euch die Moskitos noch auf."<br />

Pervaljin Dracontis fing die Kleider auf und zog sich langsam an, ohne auf die feixenden Blicke der Soldaten und<br />

die anzüglichen Mienen der Frauen um ihn herum zu achten. Für einen Magier sieht er ziemlich kräftig und<br />

ausdauernd aus, dachte Brackenburger. Aber bei den Tuzaker Zauberern sollte es sich ja ohnehin um halbe<br />

Waldläufer handeln. "Habt Ihr nichts Besseres?" seufzte der Magier im besten Garethi, als er ein gestopftes Loch in<br />

dem Lederwams entdeckte. "Und etwas, das dem maraskanischen Dschungel angemessener ist?"<br />

"Seid froh, dass ich Euch überhaupt etwas zum anziehen gebe. Ich könnte euch auch nackt in den Dschungel<br />

schicken." Der Magier lächelte überheblich und sah dann an sich herab. "Eindeutig zu weit in der Breite und zu<br />

kurz in der Länge. Sind die Kleider <strong>von</strong> Euch, Herr Hauptmann?"<br />

Andromejia kicherte leise und wandte sich dann wieder dem Lagerfeuer zu, wo die etwas Glut hoch stocherte.<br />

Dann sah sie verstohlen zu dem Magus. Er sah gut aus, jedenfalls besser als die meisten Männer seines Standes.<br />

Wie ein Geist war er vor wenigen Augenblicken in ihre Reihen getreten, splitterfasernackt. Er hatte etwas<br />

Geheimnisvolles an sich, fand sie. Auch Mercurio blickte interessiert, war aber abwartend. Der Schiffsjunge und<br />

die Matrosin hatten sich im Schutz des Rauches unter einen Mohagoni-Baum gelegt und dösten.<br />

Der Hauptmann schnaubte und blickte dann zu den Sternen. Der Morgen war nicht mehr fern: "Ist das hier eine<br />

Belhankaner Modenschau? Nein, ist es nicht. Also, Herr Magus, kommen wir zur Sache. Wo ist diese verfluchte<br />

Klause?"<br />

Pervaljin blickte auf die Flammen. "Ihr hättet kein Feuer entzünden dürfen. Wer sagt Euch, dass sie nicht in der<br />

Nähe sind?"<br />

"Wir haben eine Ewigkeit hier am Treffpunkt auf euch gewartet. Ich dachte schon, ihr findet uns nicht oder ihr<br />

hättet Euch verflogen" - ein schiefes Grinsen - "also wollte ich Euch eine kleine Orientierungshilfe geben. Also: S i<br />

n d die Bastarde irgendwo in der Nähe ?"<br />

Der Magier, dessen Alter sehr schwer einzuschätzen war, blickte unbestimmt in den Dschungel hinein. "Seid froh,<br />

dass der Rauch nicht höher gestiegen ist, als die Baumwipfel dort drüben, und dass der Wind so kräftig vom Meer<br />

her bläst. Die Klause ist vielleicht eine Meile <strong>von</strong> hier entfernt, in diese Richtung. Ich werde euch führen. Aber ich<br />

warne Euch. Die Verfolgung hat länger gedauert, als ich dachte, und die Verwandlung sehr viel Kraft gekostet. Ich<br />

werde Euch im Kampf keine allzu große Hilfe sein können."<br />

"Lasst das mal uns machen", knurrte Mercurio in seinen schwarzen Bart und lächelte hintersinnig. Auch der<br />

Hauptmann verkniff sich einen Moment lang ein Grinsen, als er das selbstgefällige Gesicht des Südländers sah.<br />

Warte erst Mal ab, was ich noch alles in der Hinterhand habe, dachte er... "Gut, der Schrein ist also dort drüben.<br />

Und, was tut sich dort sonst noch, Meister Dracontis?"<br />

"Ich konnte nicht allzu viel erkennen. Außer Fackelschein hinter der Eingangstür. Im Ziegeldach befinden sich<br />

einige Löcher, und darin scheinen Bewaffnete zu stehen. In einige der Fensterläden konnte ich eine Art<br />

Schießscharten ausmachen. Sah so aus, als ob die Klause erst vor kurzem umgebaut wurde. Alles in allem macht<br />

das Gebäude einen recht wehrhaften Eindruck. Bis zum Dschungel sind es nur ein paar Schritt, so dass man sich<br />

leicht anschleichen kann. Dafür steht der Schrein gleich am Meer, so dass den Rebellen zumindest der Rückzug<br />

abgeschnitten ist."<br />

"<strong>Das</strong> Schiff, was ist mit dem Schiff?"<br />

"Weit und breit nichts zu sehen. Aber es gibt da draußen einige vorgelagerte Inseln und die Küste ist recht sumpfig,<br />

so dass man leicht eine Zedrakke in der Nähe verstecken könnte. Ich wollte nicht allzu lange dort herumfliegen, um<br />

keine Aufmerksamkeit zu erregen."<br />

"Mit wie vielen Verteidigern müssen wir rechnen?"<br />

"Gute Frage. Auf dem Dach standen einige Wachen bereit, zwei oder drei Leute, glaube ich. Aber das Gebäude ist<br />

nicht sehr groß. Mehr als ein Dutzend sicherlich nicht."<br />

"Nun gut, dann greifen wir auf jeden Fall mit dreifacher Überlegenheit an." Jobst Brackenburger grunzte zufrieden<br />

und wischte sich ein aufdringliches Glühwürmchen <strong>von</strong> der Wange. "Die Wehrheimer Zahlen sind schon mal auf<br />

unserer Seite."<br />

"<strong>Das</strong> Gebäude ist allerdings aus Stein und massiv. Es sieht auf den ersten Blick schon ein bisschen aus wie eine<br />

Festung. Und vergesst nicht, für uns..." Der Magier räusperte sich fein. "...für die <strong>Maraskan</strong>er ist es ein heiliger<br />

Ort."<br />

227


"O ja, gewiss doch, ich werde mir die Stiefel abputzen, bevor ich die Tür eintrete." Zufrieden registrierte der<br />

Hauptmann das höhnische Gelächter der Soldaten, das seinem Scherz folgte.<br />

"So meine ich es nicht. Aber es ist nicht auszuschließen, dass... einige Eurer Leute im Inneren Schwierigkeiten<br />

bekommen könnt."<br />

"Meint Ihr Leute, die einen Pakt abgeschlossen haben?" Verstohlen wischte sich Brackenburger etwas <strong>von</strong> dem<br />

Blut ab, das aus der Narbe in seinem Gesicht rann.<br />

"Zum Beispiel."<br />

"Ach was, es ist nur ein dämonenverdammtes Rur-und-Gror-Loch. Wenn uns schon die Tempel der Zwölfgötzen<br />

keinen Widerstand entgegenzusetzen hatten, dann so eine lächerliche Fladenfresserkaschemme erst recht nicht. Rur<br />

und Gror, so ein Blödsinn, hört sich an wie Rum und Grog, nicht wahr, Leute?" Erneut antwortete ein kehliges<br />

Gelächter.<br />

"Ich weiß, in welcher Form ihr Garethjas die Offenbarung der Zwillinge am ehesten zu schätzen wisst" Pervaljin<br />

lächelte und sog dabei den milden Geruch nach Rum ein, der <strong>von</strong> der Feldflasche an Brackenburgers Seite zu<br />

seiner raubvogelartig gebogenen Nase aufstieg. Brackenburger schüttelte unwillig den Kopf. Langsam ging ihm der<br />

Magus mit seinem Überlegenheitsgetue auf die Nerven. Er traute ihm nicht, so wie er keinem <strong>Maraskan</strong>er traute.<br />

Am schlimmsten waren magiekundige <strong>Maraskan</strong>er. Vielleicht sollte er ihn auch aus dem Weg räumen? Aber nein,<br />

irgendwann würde es schwer werden, seinem Vorgesetzten gewisse Todesfälle zu erklären.<br />

"Gut, bringen wir die Sache langsam mal auf einen Punkt. Ihr kommt aus Jergan. Bekommen wir Unterstützung<br />

durch die Karakilreiter, wie zugesagt?"<br />

"Ja, ein Karakil wird mitsamt Beherrscher bei Sonnenaufgang die Küste entlang fliegen. Aber Ihr müsst ihm ein<br />

Zeichen geben, mit einem Spiegel oder dergleichen, sonst findet er den Schrein nicht."<br />

"Wie, nur e i n Reiter?"<br />

"Wo denkt Ihr hin? Wisst Ihr, wie schwer es ist, diese Kreaturen zu beschwören und zu binden, bei Lolgramoth?"<br />

Ein hastiges Schutzzeichen.<br />

"Ihr seid da der Experte." Der Hauptmann zuckte mit den Schultern, während er sich warmes Blut und kalten<br />

Schweiß aus dem Gesicht wischte.<br />

"Gut, ein Karakil dürfte für unsere Zwecke genügen. Leutnant Pomodera?"<br />

Die Angesprochene trat mit mühsam unterdrücktem Gähnen neben den Hauptmann. "Tschullligung. Herr<br />

Hauptmann?"<br />

"Wir werden nun auf die Klause vorrücken und zwar in drei Gruppen zu je drei Händen. Ihr werdet mit euren<br />

fünfzehn Kämpfern über die rechte Flanke vorstoßen und dort sichern. Weibel Berschin rückt gleichzeitig über die<br />

linke Flanke vor. Die mittlere Gruppe übernehme ich. Sucht euch eine Position am Meer, wo Ihr in Richtung<br />

Jergan blicken könnt, ohne dass man euch vom Schrein aus sieht. Sobald ihr den Karakilreiter seht, macht ihn mit<br />

einem Spiegel auf den Schrein aufmerksam, aber möglichst so, dass der Feind nichts da<strong>von</strong> mitbekommt. Der<br />

Reiter wird dann ein paar Brandgeschosse aufs Dach werfen und die Burschen mit Hylailer Feuer ausräuchern. Die<br />

waren ja so freundlich, uns ein paar Löcher ins Dach zu machen, wo das Mistzeug reinfließen kann. Sobald die<br />

Feinde aus dem Haus rennen, machen wir sie mit unseren Bögen und Nachtwinden nieder. Aber vergesst nicht,<br />

wenigstens ein paar Gefangene zu nehmen - wir wollen IHM unseren Sieg schließlich hernach gebührend danken.<br />

Noch Fragen?"<br />

"Hmm ja" Die Offizierin kratzte sich unter dem Helm am Kopf. "Wollt Ihr das Haus wirklich in Brand stecken?<br />

Wenn das Schmugglerschiff wirklich in der Nähe ist, bekommen die das doch mit und ziehen Leine."<br />

"Nun, zwei Galeeren sind schon auf den Weg hierher" antwortete der Magier anstelle des Hauptmanns.<br />

"Entweder, das Schiff ist nicht da, dann werden sich die Unsrigen zwischen den Inseln auf die Lauer legen. Oder<br />

die Schmuggler bekommen das Feuer mit, fliehen aus ihrem Versteck und den Galeeren genau in die Arme. Wir<br />

haben gerade anlandigen Wind, da werden sie mit ihrer Zedrakke Ruderschiffen nicht entkommen."<br />

"Gut" Pomodera stemmte ihre Fäuste in die Hüfte. "Ich denke, soweit habe ich das verstanden. Aber was ist, wenn<br />

das da drüben eine Falle ist?"<br />

"Wie? Was für eine Falle?" grunzte der Hauptmann.<br />

"Nun, wenn dieser dämliche Kapitän da drüben ankommt, können die sich doch am Arsch abfingern, dass wir den<br />

Kerl nur deswegen haben entkommen lassen, damit er uns zum Versteck führt. Ich meine, ich kenne dieses Pack.<br />

Glaubt mir, die hocken sich nicht einfach wie Hühner in einen Käfig und warten drauf, bis der Schlachter mal eben<br />

reinlangt und ihnen das Hälschen umdreht. Nee, die Heimat des <strong>Maraskan</strong>ers ist der Dschungel, dort ist er es<br />

gewohnt zu kämpfen. Was ist, wenn noch einige <strong>von</strong> den Ratten im Wald herumschleichen?"<br />

"Berechtigter Einwand." Der Hauptmann nickte. "Meister Dracontis, könntet Ihr Euch noch ein weiteres Mal in<br />

einen Maran verwandeln?"<br />

"Sicher."<br />

"Gut, wenn Ihr schon keine Kampfmagie mehr anzuwenden vermögt, dann werdet Ihr eben die Lage aus der Luft<br />

erkunden. Fliegt uns voraus und seht Euch die Umgebung des Schreins bei Tageslicht an. Als Raubvogel habt Ihr<br />

doch scharfe Augen, nicht wahr? Schreit dreimal, sobald Ihr Rebellen im Wald ausmacht, und fliegt zu der Stelle,<br />

228


wo sie sich verstecken. Meine Leute werden sich dann am Boden um das Problem kümmern." Der Magier nickte.<br />

"Wie Ihr befehlt. Eure Gewänder sind mir ohnehin zu kratzig."<br />

"Ihr könnt Euch nach der Schlacht an den Gefallenen schadlos halten" zischte Brackenburger. "So, ich denke, das<br />

genügt als Schlachtplan. Andromejia, Mercurio, ihr werdet mit den beiden anderen Leutnant Pomodera folgen. Für<br />

die Dauer des Kampfes gehorchen Eure Gardisten ihrem Befehl. Keine Widerrede vergesst nicht unsere<br />

Abmachung." Andromejia überlegte kurz, nickte dann aber.<br />

"Also gut, meine Kinder!" Leutnant Pomodera wandte sich den Soldaten zu, die in kleinen Gruppen herumstanden<br />

oder sich gegen Bäume lehnten (sich hinzulegen hatten nur die wenigsten gewagt). "Nehmt eure Waffen, spannt die<br />

Kurzbögen und macht euch abmarschbereit." Sie sah zum Himmel. "Bis zum Morgengrauen ist es nicht mehr<br />

weit." "Ja, wir sollten uns beeilen" Der Hauptmann nickte, während er nach seinem Schwertgehänge griff und es<br />

sich umschnallte. "Auf in den Kampf – für Belhalhar!" Er gab das Zeichen zum Abmarsch.<br />

"Verdammich, das sin´ Puppen!" Korporalin Finkenschlag biss in ihren Kautabak und spie dann in hohem Bogen<br />

einen schwarzen Strahl auf einen der großen Farne, der neben ihm aus dem satten, schwülwarmen Brei des<br />

Dschungels in sein Gesichtsfeld ragte. "Bei allen Dämonen, was hat das zu bedeuten?"<br />

Brackenburger verlagerte sein Gewicht etwas und blickte über den umgestürzten Baumstamm hinweg zur Klause,<br />

die als klobiger Schatten vor ihm aus Morgendunst auftauchte. <strong>Das</strong> durch einen Baldachin aus Blättern, Ranken<br />

und Nebelschwaden zusätzlich abgedunkelte Dämmerlicht gab der Lichtung, wenn man die Ecke, wo der Wald<br />

einige Schritt vor dem Gemäuer zurückwich, überhaupt so nennen durfte, etwas Unwirkliches, Überderisches.<br />

Dahinter murmelte und schmatzte das Perlenmeer, eine Geräuschkulisse, die ab und an <strong>von</strong> dem hohen Klatschen<br />

einer größeren Welle unterbrochen wurde. Hinter ihnen gluckerte das Bächlein, durch den sie sich gerade an die<br />

Szenerie herangewatet hatten, denn an ein schnelles Vordringen durch das Gestrüpp war ohne Haumesser nicht zu<br />

denken. Immerhin, es ging laut genug zu, um sich hier, kaum einen Bogenschuss <strong>von</strong> dem Schrein entfernt, im<br />

gehobenen Flüsterton unterhalten zu können.<br />

Ja, was hatte das zu bedeuten? Der Hauptmann kniff die Augen zusammen. Auch wenn die Korporalin schärfere<br />

Augen hatte als er - deswegen hatte er sie ja auf seinen kleinen Erkundigungsgang mitgenommen - sah er nun doch,<br />

dass sich die Schemen oben auf den Dach oben schon seit geraumer Zeit nicht bewegten. Waren das wirklich nur<br />

Attrappen aus Holz und Stofffetzen? Es sah verflucht so aus.<br />

Zumindest rechneten die dort drüben also mit einem Angriff. Nun, Attrappen baute man üblicherweise, um den<br />

Gegner vorzugaukeln, dass man eine höhere Kampfkraft besaß, als es wirklich der Fall war. Aber er traute es<br />

diesen hinterhältigen Käferfressern durchaus zu, dass die Puppen da oben standen, um einen Angreifer in<br />

Sicherheit zu wiegen. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie seine Leute auf die Klause zustürmten und dann<br />

grinsend echte Scharfschützen neben den Vogelscheuchen auftauchen. Aber <strong>Maraskan</strong>er waren spitzfindig, und<br />

vielleicht wollten sie gerade erreichen, dass er diesem Gedankengang folgte. Vermutlich machte sich ihr Gegner<br />

wirklich nur größer, als er in Wirklichkeit war.<br />

Er sah zu der braunhaarigen Soldatin hinüber, die ihr verschwitztes Haar zu einem Pferdeschwanz<br />

zusammengebunden hatte. Brackenburger wurde aus der Finkenschlag nicht recht schlau. Sie war recht spät<br />

übergelaufen, und wahrscheinlich nur, weil sie nicht mit maraskanischen Rebellen im Dschungel hausen wollte und<br />

ihr neuer Befehlshaber Helme Haffax hieß. <strong>Das</strong> ganze Dämonenzeugs, wie sie es nannte, wollte sie sich nach<br />

Möglichkeit vom Leib halten. Vermutlich kämpfte sie nur in der Karmothgarde, weil sie sich als eine Garethja aus<br />

dem fernen Kosch gar nichts anderes mehr vorstellen konnte, als auf <strong>Maraskan</strong> gegen irgendetwas zu kämpfen.<br />

Zwischen ihr und dem heimatlichen Angbar lagen jedenfalls hunderte Meilen dämonisch verseuchtes Land, sie<br />

schien nicht sehr erpicht darauf zu sein, neben den bekannten auch noch unbekannte Gefahren kennen zu lernen.<br />

Nun, Rauline Finkenschlag war eine gute Soldatin, sie schlug sich länger mit der verfluchten Insel herum als<br />

Hauptmann Brackenburger selbst. Er fragte sich, warum sie nie befördert worden war. Aber so war es eigentlich<br />

immer, die fähigen Leute durften auf den schlechtesten Posten versauern. <strong>Das</strong>s er, der Veteran des Orkenkrieges<br />

und der Answinkrise, es trotz seiner unbestreitbaren kriegskundlichen Fähigkeiten nie weiter als zum Feldwebel<br />

gebracht hatte, war einer der Gründe gewesen, warum er seinerzeit so schnell dem Beispiel seines heutigen<br />

Befehlshabers gefolgt und übergelaufen war. Irgendwie war es ein gutes Gefühl, dass die adeligen Schnösel, die so<br />

lange auf Seinesgleichen herabgeblickt hatten, sich nun vor der Gefahr aus dem Osten ängstigten - zum Beispiel<br />

vor Leuten wie ihm. Seit Orkenwall hasste er sie, vor allem diesen Idioten Brin, der durch seine Unfähigkeit die<br />

Niederlage gegen die Schwarzpelzen erst heraufbeschworen hatte. Sein Tod in der Dämonenschlacht hatte eine<br />

tiefe Befriedigung für ihn bedeutet. Alara war wegen diesem gekrönten Laffen gestorben, seine kleine, blauäugige,<br />

weißhäutige, verletzliche Alara, die so sehr auf die Kriegskunst ihres geliebten Reichsbehüters vertraut hatte.<br />

Jobst fand, dass ihr Rauline sogar ein wenig ähnlich sah. Einen schrecklichen Augenblick lang sah er die<br />

Korporalin vor sich im Schlamm liegen und schreiend, blutspuckend auf die rotgefiederten Orkpfeile in ihrem<br />

Körper starren. Dann waren die Schwarzpelze über sie hergefallen. Mit Müh und Not hatte er sich retten können,<br />

sich und die todwunde Alara. Irgendwie hatten sie sich zu einem Verbandsplatz durchgeschlagen, wo es sogar noch<br />

einen Feldscher mit einer kleinen Ampulle Heiltrank gegeben hatte. Vor die Wahl gestellt, ob die Korporalin Alara<br />

229


Mühlstein oder ein Gardeleutnant "<strong>von</strong> Stand" das rettende Elixier erhalten sollte, hatte sich der Medicus<br />

selbstverständlich für den Edelmann entschieden. Alara war wenig später in Jobsts Armen gestorben. Der Medicus<br />

hatte Mitleid gehegt, aber er, der Weibel, war außer sich gewesen und hatte in seinem Schmerz und seiner Wut<br />

einige skandalöse Worte über den unterschiedlichen Wert des Lebens einer Niedriggeborenen gegenüber dem eines<br />

feinen Herrn herausgeschrieen, die er hernach noch bitter bereut hatte. Irgendwie hatte nämlich auch der Leutnant<br />

es geschafft, das Gemetzel zu überleben. <strong>Das</strong> war vermutlich der Grund gewesen, warum Jobst nach dem Krieg<br />

nach <strong>Maraskan</strong> versetzt worden war. Nun ja, im Grunde war ihm hier das Schicksal sogar gewogen gewesen. Denn<br />

wenn schon nicht vor den Heiligen Zwölfen, dann waren die Menschen wenigstens vor den Unheiligen Zwölfen<br />

alle gleich.<br />

Der Hauptmann räusperte sich und konzentrierte sich auf die Gegenwart und die belhalhargefällige Aufgabe, die<br />

sie ihm stellte.<br />

"Mal nur nich´ zuviel in den Gegner hineingeheimnissen, Finkenschlag. <strong>Das</strong> will der doch bloß, dass wir uns nen<br />

Kopf machen wegen ihm. Beim Blutsäufer, wir sind eindeutig im Vorteil, nicht nur zahlenmäßig. Wenn die Sonne<br />

aufgeht, scheint sie denen mitten ins Gesicht. Wir haben dann den Überraschungsmoment auf unserer Seite und<br />

bestes Schützenlicht. Der Karakilreiter wird den Bastarden schon den Rest geben. Die werden brennen wie die<br />

Fackeln, wenn sie uns in die Pfeile rennen."<br />

<strong>Das</strong> milchige Zwielicht färbte sich langsam in ein blutiges Rot. Beste Angriffszeit. Hoffentlich würde sich der<br />

Dunst rechtzeitig verziehen, bevor der Flugdämon eintraf. Brackenburger spürte eine prickelnde Erregung in sich<br />

aufsteigen. Dieses Gefühl war es, das er seit den Erfahrungen des verlustreichen Orkkrieges und des frustrierenden<br />

Kleinkrieges auf <strong>Maraskan</strong> über alles liebte: Mit MACHT angreifen. <strong>Das</strong> Heft in die Hand nehmen. Mit eiserner<br />

Faust zuschlagen und den Gegner vernichten Darauf kam es im Krieg an und sonst nichts. Auf den SIEG. Wie viele<br />

Soldaten waren gleich Alara sinnlos gestorben, weil denen da oben das Gefasel <strong>von</strong> rondragefälliger Ehre, die<br />

geheiligte Tradition und der eitle Ruhm mehr bedeutete als ein schneller, eindeutiger Sieg.<br />

Draußen auf dem Meer war nichts <strong>von</strong> der Zedrakke zu sehen, aber das hatte er auch nicht ernsthaft erwartet. Sein<br />

Blick glitt über die Schießscharten in den Fensterläden, die lianenumrankten Steinmauern, das lukenbewehrte<br />

Dach. Der Magier hatte Recht, die Klause hatte schon etwas <strong>von</strong> einer Festung an sich und war offensichtlich zu<br />

diesem Zweck <strong>von</strong> irgendjemand erhalten worden. Auch der Steg hinter dem Schrein machte einen vergleichsweise<br />

neuen Eindruck. Ein Rebellennest, kein Zweifel. <strong>Das</strong> sah alles nach einem dicken Fang aus, und er würde ihn<br />

einbringen. Nur dumm, dass der Eingang auf der anderen, zur Seeseite hin lag. Bei einem Angriff würden sie um<br />

das Gebäude herum müssen und dabei gute Ziele für die Schützen abgeben. Außerdem war auf der anderen Seite<br />

vermutlich nicht genügend Platz, um eine Ramme gegen das Tor einzusetzen. Sie waren also wirklich auf die Hilfe<br />

dieses Karakilreiter angewiesen.<br />

"Wir haben genug gesehen" brummte der Hauptmann. "Gehen wir zurück."<br />

Seine drei Gruppen kauerten einen Steinwurf weit hinter ihm am Bach. Brackenburger erstattete kurz Bericht.<br />

"Sobald Berschin und Pomodera in Position sind, werden wir <strong>von</strong> der linken Flanke her und mit unserem Zentrum<br />

angreifen" schloss er ab. Die Reaktion war verhaltener Unmut in den Gesichtern der Kämpfer. Sie hatten sich<br />

offenbar auf eine Art bequemer Sumpfhuhnjagd eingestellt, bei der dem Karakil die Aufgabe des Treibers zufallen<br />

würde.<br />

"Wir müssen herausfinden, wie stark der Gegner ist. Insbesondere müssen wir so viele feindliche Schützen<br />

ausschalten wie möglich, damit der Karakilreiter möglichst nahe ans Dach herankommt. Die Alrechs haben Puppen<br />

in die Luken gestellt, weiß der Namenlose, was das zu bedeuten hat. Also, noch mal zurück zu unserem<br />

Schlachtplan. Pomoderas Abteilung halten wir erst mal in der Rückhand, hier an der rechten Flanke. Wir selbst<br />

rücken durch den Bach rechterhand auf die Klause zu und versuchen möglichst schnell in den toten Winkel der<br />

Schießscharten zu gelangen." Mit einem Stöckchen zeichnete Brackenburger den Bach und die Klause in den<br />

feuchten Uferschlamm und wies auf die Gebäudecke, die direkt an das Gewässer stieß. "Der Bach hier ist ein<br />

famoser Laufgraben, wenn ihr den Kopf nur tief genug haltet. <strong>Das</strong> Schilf bietet gute Sichtdeckung, zumindest<br />

gegen Beschuss aus den Fenstern. Die Dachluken machen wir ein wenig Sorgen. Und passt bloß auf, dass eure<br />

Bogensehnen nicht nass werden. Haben wir es bis zu dieser Ecke geschafft, sind wir im toten Winkel, insofern ihr<br />

euch nicht direkt vor die Schießscharten stellt. Nur müsst ihr euch möglichst schnell um das Gebäude verteilen.<br />

Zwei Gruppen - ihr und ihr - brechen die Fenster auf der Ostseite auf, schießen ein paar Pfeile hinein und werfen<br />

Fackeln hinterher. Wir müssen rauskriegen, wie abwehrbereit sie sind. Die vorderste Gruppe stößt zur Eingangstür<br />

vor und versucht <strong>von</strong> dort aus einzudringen. Falls das Tor verschlossen ist, was ich annehme, sichert ihr es gegen<br />

einen Ausfall. Aber haltet euch immer an der Mauer, damit euch keine Pfeile treffen. Weibel Berschin nimmt in der<br />

Zwischenzeit das gesamte Haus <strong>von</strong> links her unter Beschuss, um den Gegner abzulenken. Vergesst nicht, dieser<br />

Angriff dient nur dazu, die Verteidigungsfähigkeit der Gegner zu prüfen. Sobald ich den Rückzugsbefehl gebe,<br />

zieht ihr euch wieder zurück und schließt vom Bach aus seitlich zu den anderen beiden Abteilungen auf, damit wir<br />

eine schöne Schlinge um ihren Hals bekommen. Lasst niemanden entkommen. Versucht, möglichst viele Schützen<br />

230


auf den Dächern auszuschalten. Hört ihr einen Maran zweimal laut schreien, zieht ihr euch ebenfalls zurück, denn<br />

dann heißt das, dass sich der Karakil mit dem Hylailer Feuer nähert."<br />

Wie zur Bestätigung des Gesagten war der laute Ruf eines Raubvogels zu hören, wenig später ein zweiter. <strong>Das</strong><br />

bedeutete, dass der Weibel und Pomodera ihre Ausgangspositionen erreicht hatte. Ansonsten blieb der Magier in<br />

Vogelgestalt stumm. Offenkundig trieben sich keine weiteren <strong>Maraskan</strong>er mehr in der Gegend herum. Sehr gut.<br />

"Also gut, bei Belhalhar. Greifen wir an." Brackenburger hob die Hände zum Mund und ließ ebenfalls den Schrei<br />

eines Maran ertönen.<br />

Geduckt huschten die Männer und Frauen den Bach entlang. Finkenschlag ging mit ihrer Gruppe voran. Ein leises,<br />

aber andauerndes Pflatschen ertönte. Die Korporalin fragte sich, ob es wirklich eine gute Idee war, sich derart laut<br />

dem Haus zu nähern, andererseits kamen sie im Bachbett wirklich schneller voran, als wenn sie sich erst durch das<br />

Dickicht hätten schlagen müssen. Der hohe Schilf und die Schachtelhalme schirmte sie leidlich vom Blickfeld der<br />

<strong>Maraskan</strong>er ab, andererseits erschwerte es auch das Zielen auf mögliche Feinde. Erst kurz vor dem Schrein hatten<br />

die Gegner das Schilf vor der Hauswand gerodet, um freies Schussfeld für die beiden Fenster zu schaffen. Nun gut,<br />

das bedeutete, dass sie leichter an die Mauer herankommen würden.<br />

Es wurde nun rasch hell. Kein Pfeil zischte heran, kein Schütze ließ sich auf dem Dach blicken. Dennoch, die<br />

Attrappen irritierten sie, denn aus ihrem eingeschränkten Blickwinkel war kaum zu beurteilen, ob das Stück Stoff,<br />

dass sie über den Halmen aufblitzen sah, nun zu einer Puppe oder einen maraskanischen Kämpfer gehörte.<br />

Die Vorhut aus fünf Kämpfern huschte weiter. Sie sollten zur Tür und nachsehen, ob sie verschlossen war und<br />

wenn nein, mit Sturmgebrüll hinein. Rauline hörte, wie der Hauptmann ungehalten zischte. Seine Gruppe, die in<br />

der Mitte, war eindeutig zu laut, ebenso die Nachhut. Linkerhand im Dschungel verstummten nun ebenfalls die<br />

Vögel, leises Rascheln und Knistern war zu hören. <strong>Das</strong> waren Berschins Gardisten.<br />

Rauline spürte, wie ihr das Herz bis zum Halse schlug. Ihre Haut schwitzte und juckte unter dem Lederpanzer,<br />

ebenso prickelte ihre Kopfhaut unter dem schweren, innen mit Leder ausgeschlagenen<br />

Helm. Verdammt, langsam mussten die Wachen da drinnen doch etwas bemerken, bei dem Lärm, den sie hier<br />

machten. Pflasch... pflasch... pflasch...<br />

Oder war das am Ende alles ein Hinterhalt? Die Angbarerin zwang sich zur Ruhe. Vermutlich wirkte das alles nur<br />

für ihre überreizten Sinne so laut. Drinnen im Gebäude hörte man vermutlich nur den Wellengang der<br />

morgendlichen See. Wenn man sich nicht gerade zum ersten Mal umdrehte...Und Wachen neigten dazu, beim<br />

ersten Sonnenlicht in ihrer Aufmerksamkeit nachzulassen, da sie nun das Schlimmste überstanden glaubten. Wie<br />

befohlen, huschte sie<br />

zu der verwitterten Mauer aus schwarzem Gestein und wagte sogar einen Blick in die Schießscharte. Drinnen war<br />

es erstaunlich hell - natürlich, die Luken im Dach - aber ihr Blickwinkel war zu ungünstig, als dass sie drinnen<br />

irgendetwas Eindeutiges hätte erkennen können. In jedem Fall stand dort schon mal niemand mit gespanntem<br />

Bogen.<br />

Mit nervöser Handbewegung und geduckt bedeutete sie ihren Leuten, ihr zu folgen. Vor Aufregung hatte sie ganz<br />

vergessen, ihren Nachtwind zu ziehen, vor dem zweiten Fenster holte sie ihr Versäumnis nun nach. Ein Blick nach<br />

oben. Ein strahlendblauer, vom Dachfirst und einigen Baumwipfeln eingerahmter Himmel. Rauline war sich alles<br />

andere als sicher, ob sie sich auch nach oben in einem toten Winkel befand. Selbst an die Mauer gepresst sah sie<br />

die Luke mitsamt der Vogelscheuche über sich aufragen. Wenn <strong>von</strong> da oben geschossen wurde. Die Korporalin<br />

verdrängte den Gedanken, huschte unter der zweiten Schießscharte hinweg zur anderen Ecke. Mit einem Stoßgebet<br />

spähte sie herum.<br />

Der Blick aufs morgendliche Perlenmeer war atemberaubend. Weiße Schaumkrönchen bedeckten die azurblaue<br />

See, die sich jenseits der sumpfigen Küstenzone ausbreitete. Ein morscher Steg führte, flankiert <strong>von</strong> einigen<br />

Stelzenbäumen und sehr viel Schilf, geradewegs auf den Eingang des Schreins zu, den nur wenig Schritt Felsen<br />

vom Wasser trennten. Ein kleiner Trampelpfad führte <strong>von</strong> hier aus zum Bach, der sich in einigen Schritt<br />

Entfernung zwischen <strong>von</strong> der Brandung glattgewaschenen Vulkangestein zum Meer schlängelte.<br />

Sie huschte, an einem weiteren Fenster vorbei, Richtung Eingangstor. Dort schob sie den Riegel beiseite und<br />

drückte gegen die Tür. Nichts tat sich. <strong>Das</strong> schwerfällige Zittern des Holzes verriet ihr, dass auf der anderen Seite<br />

ein Balken eingelegt sein musste. Sie drückte nochmals dagegen, erst zaghaft, dann fester. Ein leises Rumpeln, als<br />

der Balken nach wenigen Fingerbreit gegen einen Widerstand schlug. Nichts zu machen.<br />

"Farjion? Bist du das?" fragte auf der anderen Seite eine halb müde, halb besorgte Stimme auf <strong>Maraskan</strong>isch. Die<br />

Korporalin wich neben das Tor zurück, den Nachtwind abwehrbereit erhoben. Zum Glück war ihre Gruppe dicht<br />

hinter ihr und machte sich ebenfalls kampfbereit.<br />

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Allerdings, der <strong>Maraskan</strong>er bereitete ihr keineswegs den Gefallen, das Tor zu öffnen. Stattdessen erklang seine<br />

Stimme nach einer geraumen Zeit <strong>von</strong> oben, <strong>von</strong> einer der Dachluken linkerhand des Tors. Nun sah der Rebell, wer<br />

dort unten vor der Tür stand.<br />

"SIE KOMMEN! WACHT AUF! SIE GREIFEN AN!" Dann war sein Kopf auch schon wieder verschwunden -<br />

aus gutem Grund, prasselten doch keinen Herzschlag später vom Wald her ein halbes Dutzend Pfeile neben die<br />

Luke, durchbohrten die Stoffpuppe und zerschlugen mehrere Ziegel.<br />

"Vorrücken und die Fensterläden aufbrechen!" kommandierte auf der anderen Seite Hauptmann Brackenburger<br />

kühl, während er sich mit gezogener Klinge gegen die Hauswand warf. "Dann Fackeln hinein! Verteilt euch neben<br />

den Schießscharten, bietet ihnen kein Ziel!" Irritiert sah er auf den Pfeil, der einen Fingerbreit neben ihm in den<br />

Boden schlug. Aus dem Haus kam er nicht, dafür war seine Flugbahn zu ungewöhnlich. Einer <strong>von</strong> Berschins<br />

Leuten musste ihn im Eifer des Gefechts aufs Dach abgeschossen haben - vermutlich auf eine der Puppen- wo er<br />

offenbar abgeprallt war und sich überschlagen hatte.<br />

"Alarm! Wacht auf!" gellte es <strong>von</strong> innen. <strong>Das</strong> Gebäude wurde lebendig.<br />

Im Gebäude waren die Gefährten sofort wach. Ihre Körper waren noch angespannt, in banger Erwartung dessen<br />

was da kommen mochte. Alrik war der erste, der wie in hundertfach eingeübter Bewegung zum Messer griff, zu der<br />

Schießscharte neben der Tür sprang. Er sah, wie ein Voraustrupp der Angreifer, der sich der Tür genähert hatte,<br />

soeben wieder zurückziehen wollte. Mit rascher Bewegung warf er das Messer. Zwar hektisch und nur schlecht<br />

gezielt, aber dennoch traf er die der Klause am nächsten stehende Kämpferin, eine Garethja mit einem Nachtwind<br />

in der Hand, in das Bein. An sich war das keine schwere Verletzung, die Alrik der Kämpferin zugefügt hatte, aber<br />

das Schlafgift, mit dem Alrik seine Messer wie auch die Klingen seiner Gefährten versehen hatte, tat sofort seine<br />

Wirkung. Die Kämpferin machte noch zwei Schritte, bis sie mit einem erstaunten Gesichtsausdruck zu Boden<br />

stürzte.<br />

Odilon war nicht viel langsamer als der Friedwanger. Sein Pfeil fand seinen Weg <strong>von</strong> der Bogensehne in den<br />

Rücken eines hinwegstürmenden Soldaten. Die anderen drei Kämpfer der Vorhut des Feindes gelang es, das<br />

rettende Schilf des Bachbettes zu erreichen, das sie vor dem Blick der Gefährten schützte.<br />

Sturmfejian und Haldorban reagierten gleichfalls schnell. Mit ihren Blasrohren schossen sie vergiftete Pfeile auf<br />

die <strong>von</strong> Süden angreifenden Soldaten. Die Soldaten waren nicht auf diese Art <strong>von</strong> Beschuss vorbereitet, und die<br />

Pfeile fanden schwache Stellen in den Rüstungen der Angreifer. <strong>Das</strong> Gift der Rebellen erledigte den Rest. Weibel<br />

Berschins Leute waren versprengt, ein Teil <strong>von</strong> ihnen hatte sich in die unmittelbare Nähe der Mauer geflüchtet, in<br />

der Hoffnung, dort nicht <strong>von</strong> den Rebellen getroffen zu werden. Ein anderer Teil zog sich in den Dschungel zurück.<br />

Der Angriff <strong>von</strong> Pomoderas Leuten und <strong>von</strong> Hauptmann Brackenburger selbst verlief erfolgreicher. Ungehindert<br />

konnten je ein Vortrupp <strong>von</strong> Osten und Norden bis zur Mauer der Kapelle vorrücken Alrijiana, Alvan, Sigismund<br />

und Selbfried erreichten ihre Positionen an der Nord- und Ostwand zu spät, um das Vorrücken der Soldaten<br />

behindern zu können.<br />

„Fackel hineinwerfen!“ ertönte das Kommando <strong>von</strong> Brackenburger. Schlagartig wurden brennende Fackeln durch<br />

fünf der Schießluken in das innere der Kapelle geworfen.<br />

„Gunelde, Vegsziber!“ rief Odilon. Mehr brauchte er nicht zu sagen. Die Gefährten hatten der Heilerin und dem<br />

verletzten Kapitän die Aufgabe zugewiesen, die Schützen mit allem notwendigen zu versorgen und vor allem<br />

entstehende Brandherde zu löschen. Da der Boden der Kapelle aus Stein war bestand ohnehin nur geringe Gefahr<br />

eines Brandes. Gunelde und Vegsziber klaubten die Fackel aus und steckten sie in das Wasserfass, wo die<br />

Flammen zischend erloschen. Solange die Soldaten kein Hylailer Feuer oder andere Brandsätze einsetzten waren<br />

Angriffe dieser Art ohne Schwierigkeiten abzuwehren.<br />

„Derzeit ein klassisches Patt“ kommentierte Selbfried. „Ohne schweres Gerät kommen sie hier nicht rein, aber wir<br />

können sie auch nicht erreichen, wenn sie sich so nahe an der Mauer befinden.“<br />

„Bloß dass das Patt sich zu unseren Ungunsten entwickeln wird, wenn uns nichts einfällt“ knurrte Alrik.<br />

„Alrik, du musst die Westseite mal kurz allein halten. Ich geh´ aufs Dach und verschaff mir etwas Überblick.“<br />

raunte Odilon dem Friedwang zu. Der Waldläufer sprang auf, griff nach dem Deckel des Wasserfasses, das ihm als<br />

Schild dienen mochte und riss dann einen Kerzenleuchter, der seitlich an der Wand befestigt war, ab. Die<br />

Messingplatte, die das Licht der Kerze im Raum verteilen sollte, diente ihm behelfsmäßig als Spiegel. Dann<br />

erklomm er die Leiter, die an die Balken unter dem Dach angelegt war. Durch die Luken spähte er ins Freie. Sich<br />

mit dem Fassdeckel abschirmend hielt er den Spiegel aus der Luke um zu sehen wie viele Soldaten sich an der<br />

Mauer verschanzt hatten. Auf der Südseite waren dies zwei, an der Ostwand vier und im Norden drei. Der Rest der<br />

Angreifer hielt sich im respektvollen Abstand entfernt um auf die Luken zu schießen immer wenn sich dort einer<br />

der Gefährten zeigte.<br />

Odilon lächelte trocken. Es waren gewiss gute Schützen, aber keine wirklichen Scharfschützen, die da auf sie<br />

schossen. Die Pfeile trafen zwar recht genau den Bereich der Schießscharten, aber dass ein Pfeil genau durch die<br />

schmale Luke traf, damit war nicht unbedingt zu rechnen, das wäre ein Glückstreffer. Es war schon der Fehler der<br />

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Garethischen Besatzer gewesen, sich zu sehr auf schwer bewaffnete Söldner, zu setzen, die im Kampf Mann gegen<br />

Mann ihre Stärke hatten, zu verlassen. Wirklich ausgebildete Scharfschützen hatten die Soldaten den Göttern sei<br />

dank nicht aufzubieten. Also hatte Odilon es riskieren können, für eine kurze Sekunde seinen Arm mit dem<br />

Metallspiegel in der Hand aus der Luke zu strecken. Wären erfahrene Jäger dort draußen, Nivesen oder Elfen gar,<br />

dann hätte er sich vielleicht <strong>von</strong> seiner Hand verabschieden können. Aber er hatte Glück gehabt. Die Soldaten<br />

waren Infanteristen, denen man einen Bogen in die Hand gedrückt hatte.<br />

Odilon sprang wieder nach unten und winkte die Gefährten zu sich. „Gut, es sind zwei Soldaten an der Südwand<br />

und drei an der Nordwand. Wir machen einen Ausfall. Wir stürmen zu fünft heraus. Alrijiana und Sturmfejian<br />

gehen nach links. Alrijiana nimmt den hinteren aufs Korn, Sturmfejian den vorderen. Ich gehe mit Selbfried und<br />

Alvan nach links. Alvan visiert mit dem Bogen den vordersten an, Selbfried mit der Armbrust den zweiten und ich<br />

den hintersten Kämpfer. <strong>Das</strong> Gift auf den Waffen erledigt ja den Rest, auch wenn wir nicht tödlich treffen sollten,<br />

eine kleine Wunde reicht ja aus. Alrik, du greifst Dir die Verwundete, die vor dem Tor döst. Wir können sie<br />

nachher verhören und erfahren vielleicht noch etwas Wichtiges. Sigismund und Gunelde öffnen und schließen das<br />

Tor. Vegsziber, Estibora und Haldorban bleiben an den Luken und schießen, wenn sich jemand zeigt. Für das<br />

ganze haben wir keine zehn Sekunden. Wir geben nur einen Schuss ab, auch wenn er daneben geht. Nachgeladen<br />

wird da draußen nicht. Los geht’s.“<br />

Die Aufgaben waren klar verteilt, insofern gab es keine Rückfragen. Odilons Plan baute darauf, dass sie, um nur<br />

einen Schuss auf den Gegner abzugeben, nicht länger als eine Sekunde im Schussfeld der Feinde sein würden. Auf<br />

der Westseite waren sie ja im Schutz der Kapelle, sie mussten nur für einen Augenblick ins Schussfeld der Feinde<br />

eindringen. <strong>Das</strong> taten sie aber mit gespannter Waffe, so dass sie keine Zeit verschwenden würden.<br />

Da sie bereits wussten wo ihr Feind stand und der Überraschungsmoment auf ihrer Seite war, würden sie zum<br />

zielen und für die Schussabgabe nur eine Sekunde benötigen, auf die kurze Distanz würde man ein Ziel auch kaum<br />

verfehlen können. Die Soldaten hingegen hatten eine Schrecksekunde zu überwinden, sie schossen aus mindestens<br />

zwanzig Schritt Entfernung und mussten daher genauer zielen. Sie würden, wie Odilon das berechnete, nicht so<br />

schnell reagieren können. Darauf baute sich Odilons Kalkül auf.<br />

Odilon und Selbfried hoben den Schweren Balken, mit dem das Tor verkeilt war, zur Seite. Dann bezogen sie alle<br />

Stellung. Odilon, Selbfried und Alvan stellten sich mit geladenen und gespannten Waffen auf der rechten Seite des<br />

Tores, das Rebellenpärchen – Sturmfejian hatte Odilon das Kommando nicht eine Sekunde streitig gemacht –<br />

führten die Pfeile in das Blasrohr ein und warteten auf der linken Seite. Sigismund und Gunelde schoben den<br />

Riegel zur Seite. Auf Odilons Kopfnicken hin zogen sie mit aller Kraft das schwere Tor auf.<br />

Gleichzeitig stürmten die Rebellen und die Gefährten aus dem Tor. Hier offenbarte sich auch, warum Odilon die<br />

Ziele so verteilt hatte. Odilon, der größte der Gefährten, musste sich am weitesten <strong>von</strong> der Kapelle entfernen,<br />

Selbfried stand vor ihm und die kleinste Alvan war ganz vorne positioniert. So konnten die jeweils größeren<br />

Schützen hinter ihr ihren Schuss abgeben ohne dass der davor stehende Kämpfer in seinem Schussfeld<br />

eingeschränkt war. Auf der Südseite war Sturmfejian größer als Alrijiana.<br />

Alvan und Odilon schossen nahezu gleichzeitig. Alvans Pfeil traf den vordersten der Soldaten in den Bauch.<br />

Odilons Pfeil prallte am Helm des hintersten Soldaten mit einem laut vernehmbaren Klongk ab. Aber auch wenn<br />

dieser Pfeil nicht saß, die Überraschung war ihnen prächtig gelungen. Der Inquisitor schoss die Armbrust nur eine<br />

halbe Sekunde später ab, traf zunächst den Nasenschutz Helm des Soldaten, glitt aber ab und fuhr in die Wange des<br />

Kämpfers. <strong>Das</strong> Gift wirkte schnell.<br />

Auf der anderen Seite zeigte sich, dass die Rebellen wahrhafte Meister in der Kampftechnik der blitzartigen<br />

Überraschungen waren. Alrijiana und Sturmfejian schossen ihre Blasrohre ab, hechteten dann zurück in die<br />

Deckung der Kapellmauer, rollten sich dann geschickt ab und waren noch vor den Gefährten wieder in der Kapelle.<br />

Die Soldaten hatten nicht den Hauch einer Chance gegen sie.<br />

Alrik hatte die immer noch schlafende Soldatin gepackt und in die Kapelle geschleift. Jetzt erst hatten sich die<br />

Soldaten <strong>von</strong> ihrem Schreck erholt. Eine wahre Salve an Pfeilen ging im Eingangsbereich der Kapelle nieder. Es<br />

war ein Glück, dass die Soldaten <strong>von</strong> ihren Schusspositionen aus die Westseite der Kapelle nicht unter Beschuss<br />

nehmen konnten. Selbfried drehte die Armbrust zur Seite, und ein Pfeil, der ihn sonst getroffen hätte, prallte am<br />

Lauf ab. Hatte der Inquisitor den Pfeil gesehen oder hatte er schlicht Glück gehabt? Mit einem Stoßgebet zu Praios<br />

sprang er zu der Kapelle. Dabei riss er Odilon schier um, der dasselbe Ziel hatte. Der Waldläufer stürzte zu Boden.<br />

Der Soldat, den Odilon verfehlt hatte, hatte sich jetzt endlich <strong>von</strong> seiner Überraschung erholt. Mit einer fliesenden<br />

Bewegung zog er seinen Dolch aus dem Stiefel und warf ihn. Alvan schrie auf, als der Stahl sich in ihre Wade<br />

bohrte. Selbfried packte die stürzende Alvan am Arm und zog sie mit sich in die Kapelle.<br />

Sigismunds Atem stockte, als er Alvans Verletzung sah. Der Dämon... Belhalhar... er hatte seinen Schutz <strong>von</strong> ihnen<br />

genommen. Es war, wie der Erzdämon angekündigt hatte. Alvan hatte ihn erhört, war die Seine geworden, aber er<br />

war keinen Pakt mit dem Dämon eingegangen. Nein, seine Seele hatte er nicht opfern wollen. Aber dafür kam jetzt<br />

das Sterben. Sie würden alle sterben. Panik kam in ihm hoch, seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Kaum sah<br />

er, wie Selbfried mit Alvan die Sicherheit der Kapelle erreicht hatten, als er auch schon ohne darüber<br />

nachzudenken und ohne zu realisieren, dass Odilon noch draußen war, das Tor schloss. Instinktiv half Gunelde ihm<br />

233


dabei. Sie hatte ihre Augen nur auf das Tor gerichtet, und als Sigismund es schloss dachte sie nur, dass es ja ihre<br />

Aufgabe sei, dem Streuner zu helfen.<br />

Sigismund schauderte. Seine Hand tastete nach seinem Dolch. Er konnte sich immer noch anders entscheiden. Ein<br />

kurzer Stich nach dem verfluchten Inquisitor, und er und seine Gefährten würden das hier überleben. <strong>Das</strong> hatte<br />

Belhalhar ihm versprochen.<br />

Nein. Niemals. Er wollte lieber sterben als sein Seelenheil zu riskieren.<br />

Odilon fluchte. Was dachten diese Bastarde <strong>von</strong> Gefährten sich eigentlich, ihn hier draußen zu lassen. Der<br />

Waldläufer rappelte sich auf und sprang erst einmal mit einem weiten Satz hinter die Uferböschung in Sicherheit.<br />

Keinen Augenblick zu spät. Wo er noch eben lag schlugen ein halbes Dutzend Pfeile ein. Die Soldaten schossen<br />

wild auch <strong>von</strong> der anderen Seite über die Kapelle hinweg. Wer sich jetzt noch dort befand wäre des Todes. Auch<br />

wenn man ihn dort nicht sehen konnte, so bauten die Soldaten doch darauf dass dort jemand sein konnte, und mit<br />

der entsprechenden Streuung und Menge an Pfeilen – darüber schienen die Haffaxijas offenbar zu verfügen –<br />

würde man ihn dort auch treffen. Odilon robbte durch den Sand unter den alten Steg. Dort fand er erst einmal<br />

Schutz. Aus seiner Deckung heraus konnte er sehen, dass die Soldaten an den Flanken weiter vorrückten.<br />

Verflucht, jetzt würden sie ihn auch auf dem freien Platz vor der Kapelle beschießen können. Ein Rückzug in die<br />

Kapelle schien ihm jetzt kaum mehr möglich. Zum Tor hin hätte er gut zehn Schritt zurückzulegen, und die<br />

feindlichen Schützen wussten ja jetzt, dass er sich hier befand. Sie würden damit rechnen. Er hätte nur dann<br />

Aussicht auf Erfolg, wenn seine Gefährten in der Kapelle die Tür sofort öffneten, wenn er kam. Und er konnte<br />

ihnen nichts zurufen, da das ja auch die Soldaten gehört hätten.<br />

Wieder schlugen ein paar Pfeile auf dem Vorplatz ein, gut zwei Schritt <strong>von</strong> ihm entfernt. Odilon grinste. Die<br />

Haffaxijas hatten wohl mitbekommen, dass er sich nicht in die rettende Kapelle zurückziehen konnte, wussten aber<br />

wohl auch nicht genau wo er war. Odilon sah sich um. Er konnte unter dem Steg die Bucht hinaus schwimmen, so<br />

gelangte er gut dreißig Schritt weg vom Ufer. Von da aus waren es nur gut zehn Schritt zu der felsigen Landzunge,<br />

die die Bucht im Süden begrenzte. Von hier aus konnte der den Angreifern vielleicht in den Rücken fallen. Die<br />

zehn Schritt konnte er gewiss tauchen, und sich dann verdeckt <strong>von</strong> den Felsen am Ufer irgendwo in Sicherheit an<br />

Land ziehen. Odilons Herz schlug schneller. Ja, das war eher seine Art zu kämpfen. <strong>Das</strong> Gelände ausnutzen und<br />

den Feind überraschen. Schließlich war er Jäger und kein Krieger. Aber zuerst wollte er doch noch sehen, ob er<br />

nicht noch den einen oder anderen Krieger, der sich unter den Schießscharten direkt an der Außenwand der Kapelle<br />

aufhielt, erlegen konnte. Der Jäger in ihm war wieder erwacht, dachte Odilon, jetzt dachte er über Soldaten schon<br />

wie über Jagdwild. Naja, letztlich war es kein großer Unterschied darin, einen Pfeil auf ein Tier oder einen<br />

Menschen abzuschießen. Odilon kroch die Böschung entlang im Sichtschutz des Ufergrases. Unterwegs las er drei<br />

versprengte Pfeile auf. Sehr gut, mit diesen hatte er jetzt zweiundzwanzig Pfeile. Vier da<strong>von</strong> waren vergiftet. Gut,<br />

diese vier würde er zuerst verwenden. Sollte er durch das Wasser fliehen würde das Gift ohnehin <strong>von</strong> den<br />

Pfeilspitzen abgewaschen werden. Die Bogensehne konnte in ein Tuch einwickeln und in den Mund stecken beim<br />

Tauchen. Dem Bogen und seinem Schwert würde ein kurzes Bad im Salzwasser nicht schaden, wenn er bald<br />

danach beide reinigte. Aber das Gift auf den Pfeilen konnte er dann natürlich vergessen.<br />

Odilon spähte vorsichtig durch das Gras. Er sah den Soldaten, den er verfehlt hatte, und zwei weitere, die das Ufer<br />

mit den Augen absuchten. Allerdings blickten ihre Augen mehr auf den Steg. Offenbar vermuteten sie ihn dort und<br />

warteten darauf, dass er sich mit einem Spurt zur Kapelle in die vermeintliche Sicherheit bringen wollte. Sie<br />

würden gleich erfahren, wie sehr sie sich irrten. Wieder triumphierte Odilon innerlich. Die drei hatten keine<br />

Schusswaffen, lediglich Wurfmesser. Die Bogenschützen waren ja allesamt zurückgeblieben in der Deckung des<br />

Waldes, während die Vorhut die verrammelten Fenster aufbrechen oder in Brand stecken sollten. Also waren sie<br />

ihm eigentlich gar nicht gefährlich. Außer sie würden ihn im Nahkampf angreifen wollen, aber dann würden sie<br />

sich in das Schussfeld seiner Gefährten begeben, die ihnen wohl den Garaus machen würden. Odilon legte<br />

vorsichtig einen Pfeil auf die Sehne, dann spähte er wieder durch das Gras. Noch immer suchten zwei Soldaten<br />

nach ihm, der dritte war wieder um die Ecke auf die Ostseite der Kapelle verschwunden. Na dann, Firun sei´s<br />

befohlen. Odilon zielte kurz, dann schoss er. Eigentlich hätte er auch einen unvergifteten Pfeil nehmen können. Auf<br />

diese Entfernung war das Gift schon fast Verschwendung. Mit dem Pfeil durch die Kehle sackte der Soldat hinten<br />

über. Sein Kamerad floh, als er den Sterbenden erblickte, ebenfalls um die Ecke und brachte sich in Sicherheit.<br />

Na gut, dann sind es jetzt noch vier, dachte Odilon, die dort hinter der Kapelle sitzen. Jetzt wurde es aber Zeit, dass<br />

er sich entfernte.<br />

Ein Schrei ertönte. Ein Vogelschrei. Zu oft schon hat hier ein Maran geschrieen, dachte Odilon. Der Waldläufer sah<br />

nach oben. Tatsächlich, über der Kapelle kreiste der Vogel. <strong>Das</strong> konnte kein Vogel sein. Odilon hatte zu lange mit<br />

der Elfe Jirka zusammen gelebt, um nicht zu wissen, dass dies hier ein Magier in Vogelgestalt sein musste. Also<br />

brachte er sich noch nicht unter den Steg in Sicherheit, floh er noch nicht gleich weiter zu der Landzunge. Den<br />

Maran, den wollte er haben.<br />

Für Odilon war es ungewohnt, im liegen zu zielen. Aber aufstehen konnte er nicht, um sich nicht selbst zu<br />

gefährden. Die einzigste Art, den oben kreisenden Vogel zu treffen, war aus einer auf dem Rücken liegenden<br />

Schusslage heraus. Keine gute Art zu zielen. Aber die einzige hier mögliche. Er musste den Maran ja nur am Flügel<br />

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itzen, den Rest würde das Gift schon erledigen. Der Vogel kreiste immer noch über der Klause, er hatte ihn nicht<br />

bemerkt. Sehr gut. Offenbar was das der Erkundungsflug eines Magiers, der seinem Hauptmann über die<br />

Verteidigungsstärke der Rebellen berichten sollte. Aber warum brauchte der Maran so lange, um zu sehen, was er<br />

sehen wollte? Warum kreiste er so oft über die Kapelle? Naja, ihm sollte es egal sein, er würde jetzt genau zielen.<br />

Er wusste, dass er nur einen Schuss hatte. Würde dieser verfehlen, so würde der Maran auf alle Fälle verschwinden.<br />

Odilon zielte sorgfältig. <strong>Das</strong> Blinken, als würde man mit einem Taschenspiegel das Sonnenlicht reflektieren,<br />

bemerkte er nicht, zu sehr konzentrierte er sich auf diesen einen Schuss. Den anfliegenden Karakilreiter bemerkte<br />

er ebenfalls nicht.<br />

Odilon ließ die Sehne los. Der Pfeil flog durch die Luft und durchschlug den linken Flügel des Marans. Noch im<br />

Fallen verwandelte sich der Maran zurück in seine Menschengestalt und stürzte auf das Dach der Kapelle. Fast<br />

zeitgleich ließ der Karakilreiter seine brennende Fracht fallen. Drei Kugeln mit Hylailer Feuer stürzten in die Tiefe,<br />

die Tonkugeln zerschellten auf dem Dach und das brennende Öl verteilte sich auf den Ziegeln. Odilon hielt<br />

erschrocken inne. Wie mochte es jetzt seinen Gefährten in der Kapelle gehen? Hielt die Lehmschicht auf den<br />

Balken diesem Feuerangriff stand?<br />

Auch Leutnant Pomodera hielt den Atem an. Sie hatte drei guten Soldaten, denen sie vertraute, das Kommando<br />

erteilt, auf ihr Zeichen zunächst Fisch und Tika auszuschalten und dann Mercurio und Andromejia. Sie sollten<br />

ihnen Pfeile in den Rücken schießen, sobald die Rebellen vermutlich wild um sich schießend aus der brennenden<br />

Kapelle geflohen kamen. <strong>Das</strong> musste doch jetzt bald soweit sein, wenn das Hylailer Feuer seinen Zweck gut<br />

erfüllte.<br />

Magister Pervaljin Dracontis landete unsanft auf dem Giebel des Schreins und schrie auf, diesmal mit menschlicher<br />

Stimme. Einige blutgetränkte Maranfedern regneten auf ihn herab, während er durch ein Flammenmeer nach unten<br />

glitt. Seine Haut war binnen weniger Herzschläge loderndes Feuer. Ein heißes, betäubendes Sengen auf seinem<br />

Hinterkopf teilte ihn mit, dass auch seine Haare in Flammen standen. Er stürzte in Schilf, dessen Stiche und<br />

Schnitte er kaum noch spürte und pflatschte dann irgendwie ins Bächlein. Ein Gurgeln, als er ins Wasser<br />

eintauchte. Die niederhöllischen Schmerzen ließen einen Augenblick lang nach, als ihn das brackige Nass einhüllte.<br />

Merkwürdigerweise verlor er nicht das Bewusstsein, obwohl seine Verletzungen erheblich sein mussten, wie eine<br />

merkwürdig kühle Stimme in seinem Kopf räsonierte. Luft, er musste atmen - denn zum Luftholen war er nicht<br />

mehr gekommen.<br />

Als er keuchend und dampfend mit seinem zerschrammten Gesicht aus dem Schilf stieß, begann das Hylailer<br />

Feuer, dass auf seinem Rücken und seinem Kopf klebte, wie <strong>von</strong> Zaubererhand entzündet wieder zu lodern. Der<br />

Magier schrie auf und tauchte wieder unter. Luft, er brauchte...Als er mit dem Kopf erneut nach oben stieß, begann<br />

das grausame Spiel <strong>von</strong> neuem. Warum, warum nur verlor er nicht wenigstens die Besinnung?<br />

Hauptmann Brackenburger lag wenige Schritt da<strong>von</strong> entfernt auf dem Bauch und starrte auf die grausige Szenerie.<br />

Verdammt, kein schöner Tod - gleichzeitig ersaufen und verbrennen? Wie hieß doch noch gleich dieser<br />

merkwürdige Spinnendämon aus dem Gefolge der Tiefen Tochter, der seinen Opfern ein derart bizarres Ende zu<br />

bereiten pflegte? Der Magus, der sich vor ihm - dampfend und brennend wie eine Schale Räucherwerk - im<br />

Bachbett wälzte, wusste es bestimmt, aber er sah nicht so aus, als habe er die Muße, dem Hauptmann diese Frage<br />

zu beantworten.<br />

Schließlich lag der Mann ruhig, wenn auch eigenartig verkrümmt im Wasser und brannte vor sich hin. Der Geruch<br />

nach verbrannten Menschenfleisch und Hylailer Feuer stieg in den Morgenhimmel.<br />

Der Hauptmann hob vorsichtig den Kopf etwas und schob einige Schachtelhalme beiseite. <strong>Das</strong> Dach qualmte und<br />

rauchte ordentlich, aber es waren nur wenige Flammen zu sehen, die aus dem Inneren des Gebäudes nach oben<br />

schlugen. <strong>Das</strong> meiste Öl war die Dachschräge hinunter getropft und hatte dort das Schilf in Brand gesetzt. Nur an<br />

einer Luke stand eine der Attrappen in hellen Flammen. Kein Zweifel, der verfluchte Magier hatte bei seinem Sturz<br />

in die Feuerhölle nicht eben wenig <strong>von</strong> dem Dämonenzeug am eigenen Leib mitgenommen.<br />

<strong>Das</strong> Schilf in der Nähe des Schreins war rasch abgebrannt. Die Sonne in ihrem Rücken verfinsterte sich zusehends.<br />

Der Paktierer fragte sich, ob der viele Rauch nun gut oder schlecht für sie war, aber einstweilen verschaffte er<br />

ihnen einen Vorteil: Die Soldaten, die noch am Schrein ausgeharrt hatten, kamen aus dem rußigen Qualm<br />

geradewegs aufs Bachbett zugerannt und warfen sich hinein. Kein Pfeil flog hinterher - offenbart mussten die<br />

Käferfresser das jähe Feuer vom Himmel erst einmal verdauen.<br />

Dann surrte eine Feuerlanze durch die Luft und traf den Mantel eines der Gardisten, der sofort Feuer fing. Panisch<br />

schreiend sprang der Mann ins Wasser. <strong>Das</strong> musste dieser Magier gewesen sein, <strong>von</strong> dem der Xeraanier ihnen<br />

erzählt hatte. Als Antwort zischten mehrere Pfeile in Richtung Schrein - ein Schmerzenschrei verriet, dass<br />

zumindest einer durch die Schießscharte hindurch getroffen hatte. Ein Glückstreffer, immerhin.<br />

235


Aber verdammt, der Schrein brannte längst nicht so lichterloh, wie er es sich vorgestellt hatte. Zumindest die<br />

Dachbalken mussten doch Feuer fangen, aber außer Rauch war nichts zu sehen. War dieser Karakilreiter schon<br />

wieder verschwunden? Er suchte den Himmel ab, sah aber weit und breit keine geflügelte Schlange.<br />

Dann traf ihn selbst ein Geschoss an der Schulter. Die Wucht des Aufschlags ließ ihn taumeln. Verdammt, er gaffte<br />

hier unter Beschuss leichtsinnig herum wie ein Rekrut im ersten Dienstjahr! Der Paktierer fluchte und zog<br />

ansonsten ungerührt den Armbrustbolzen aus dem Lederwams. Blut sprudelte hervor. Brackenburger grunzte<br />

leicht, als die Wunde endlich frei lag. Einer der Vorzüge des Paktes war es, das er unempfindlich gegenüber<br />

Schmerzen war und Wunden als Kratzer hinzunehmen vermochte, die jeden gewöhnlichen Sterblichen für viele<br />

Tage aufs Krankenbett werfen würde. Ob das Geschoss vergiftet gewesen war? Brackenburger war es gleich. In<br />

seinem Blut wallte Schlimmeres als Gift - die Macht eines Erzdämons. Dennoch ging er wieder etwas tiefer in<br />

Deckung, während über ihn Pfeile in alle möglichen Richtungen surrten. Offenbar hatten die im Schrein das Feuer<br />

mittlerweile unter Kontrolle.<br />

Die Burschen wehrten sich zäher, als er gedacht hatte - und sie verfügten über vergiftete Waffen. Rauline<br />

Finkenschlag, die gutaussehende, tapfere Korporalin, hatte es offenbar als eine der ersten erwischt. Auch<br />

diesbezüglich empfand Brackenburger nichts - ein weiterer Vorzug des Paktes.<br />

"Schießt auf die Fenster und Luken!" befahl er seinen Leuten. Sie mussten wenigstens versuchen, sie beim Löschen<br />

zu stören. Sie hatten genug Pfeile, um den Schrein in der Hoffnung auf Glückstreffer mit Geschossen zu<br />

überschütten.<br />

In einer der Dachluken erschien der Oberkörper eines <strong>Maraskan</strong>ers, der einen Giftpfeil auf gut Glück in Richtung<br />

des Baches zu pusten versuchte. <strong>Das</strong> kleine, grün gefiederte Geschoss verfehlte einen der Schützen nur knapp, der<br />

sich angemessen revanchierte und den <strong>Maraskan</strong>er mit einem sauberen Blattschuss in die Brust tötete. Dann sprang<br />

der Gardist zurück in Deckung und legte einen weiteren Pfeil ein.<br />

Brackenburger blickte Richtung Dschungel, wo jetzt erneut Flügelschlag zu hören war. Der Schatten des Dämon<br />

irrlichterte über das Grün der Bäum - merkwürdig, dass dieser Dämon Schatten wirft, dachte Brackenburger. Einen<br />

Augenblick lang sah er zwei Gestalten auf der schmutziggrünen, underisch hässlichen Schlange - ein gepanzerter<br />

Krieger und ein Zwerg, nein, ein Kind, das hinter ihm saß, aus einem Korb aufs seinem Rücken weitere Kugeln<br />

fischte und mit einer Fackel entzündete. <strong>Das</strong> also war das Geheimnis, warum der Karakilreiter mehrere Geschosse<br />

auf einmal hatte werfen können. Aber...ein Kind? Brackenburger war irritiert. <strong>Das</strong> Kind auf der geflügelten<br />

Schlange hatte seine Leute entdeckt und winkte ihnen fröhlich zu. Dann drehte das Ungeheuer mit schrillem<br />

Kreischen ab und verschwand hinter dem öligen Rauch, den der Seewind mit Macht in Richtung Dschungel schob.<br />

Ein Kind. Mit einem Mal kam dem Hauptmann alles sehr unwirklich vor. Wie kam es, dass ein Kind auf ihrer Seite<br />

kämpfte, und noch dazu auf dem Rücken eines mehrgehörnten Dämons, den selbst hart gesottene Veteranen mehr<br />

fürchteten als den Tod oder die Pest? Mit einem Mal überfiel ihn das Grauen. Auf welche Mächte hatte er sich hier<br />

eingelassen?<br />

Erneut Rauschen in der Luft. Der Flügelschlag des Karakil hörte sich merkwürdig verzerrt an, als sei dies alles nur<br />

ein Fiebertraum, als seien die gewaltigen Fledermausschwingen nicht <strong>von</strong> dieser Welt - und, bei Xarfai, das waren<br />

sie auch nicht. Die Luft selbst schienen unter der Berührung mit dem Unheiligen aufzustöhnen.<br />

Der Reiter schien mit dem Ergebnis seines Angriffs ebenfalls nicht zufrieden zu sein, denn er lenkte das geflügelte<br />

Grauen geradewegs auf das Dach zu, als gebe es nicht die geringste Gefahr durch Bogenschützen. Tatsächlich<br />

schien sich diese Arroganz auszuzahlen - kein Pfeil surrte in den rauchgesättigten Himmel. Vermutlich waren die<br />

Alrechs im Schrein nun wieder mit Löschen beschäftigt. Brackenburger sah, wie das zerlumpte Kind auf ein<br />

Zeichen des Reiters aus dem Sattel sprang und jauchzend und mit seinem Armchen rudernd in die Tiefe glitt.<br />

Irgendein maraskanischer Gassenjunge, dachte der Hauptmann, möglicherweise besessen oder unter dem Einfluss<br />

eines finsteren Beherrschungszaubers. Vielleicht hatte man ihn aber auch einfach nur mit Rauschkraut oder<br />

Schnaps gefügig gemacht. Die schmutzigen Beine brachen sofort, als sie knallend auf dem Dach aufschlugen. <strong>Das</strong><br />

Kind stürzte auf den Rücken, vom Gewicht seines geflochtenen Tragkorbs dort hin gerissen. Flammen leckten <strong>von</strong><br />

unten herauf und nun begann das Kind jämmerlich zu schreien.<br />

Der Inhalt eines halben Dutzends zerbrochener Brandgeschosse detonierte und hüllte den schmächtigen Leib des<br />

Jungen in ein Festtagsgewand aus grellen Stichflammen. Feuerkaskaden stürzten unter seinem sich in der flirrenden<br />

Hitze rasch schwarz färbenden und krümmenden Körper<br />

hervor und ergossen sich über die Dachschräge, hinein in zwei der Luken. Nun stand das Dach endgültig in hellen<br />

Flammen. Rote Dämonenaugen, die Brackenburger aus den aufgebrochenen Fenstern anstarrten, verrieten ihn, dass<br />

die Flammen sich rasch nach unten ausgebreitet hatten.<br />

Mercurio Mirhamdez hatte die Szenerie <strong>von</strong> einem meerumspülten Felsinselchen am Rande des Dschungels<br />

verfolgt. In einigen Schritt Entfernung, am Sandstrand, lungerten Pomoderas Soldaten und gafften durch die<br />

Baumreihen hindurch in Richtung der brennenden Klause. Selbst auf diese Entfernung war die Hitze, die <strong>von</strong> den<br />

überall herunter schwappenden, tropfenden und zu Pfützen zusammen rinnenden Brandöl ausging, noch zu spüren.<br />

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Über den Bäumen hing fetter Rauch, der nun, als sich der Wind um einige Strich in ihre Richtung drehte, wilde<br />

Flüche unter den Soldaten auslöste.<br />

"Charyptoroth holt sie alle!"<br />

"Halt die Klappe, Shruufschnabel! Na, du hast schon Recht!"<br />

Der Schwarze Mendener hatte <strong>von</strong> seinem Felsblock aus einen guten Ausblick über das Geschehen - einen besseren<br />

als die Leutnantin allemal. Als der Maran vom Himmel gestürzt war, hatte er sich dann aber doch hinter dem<br />

schwarzen Vulkanstein in Deckung begeben. Der Schuss war eindeutig <strong>von</strong> außerhalb der Kapelle abgegeben<br />

worden, aus der ungefähren Richtung des Stegs, wohin dieser verfluchte Odilon Wildgrimm geflohen war. Nun<br />

gut, mit dem Schlächter seiner Mannschaft hatte er als Allererster noch eine Rechnung offen.<br />

Schon als Charyptorothanbeter vertraute er wenig auf die Macht des Feuers. <strong>Das</strong> Feuerwerk am Strand sah<br />

wahrlich beeindruckend aus, aber das Steingemäuer war keine hölzerne Schi<strong>von</strong>e, die man ohne weiteres in Brand<br />

schießen konnte. Außerdem hatte er die Mittelreicher schon einmal vergebens mit der Macht des Hylailer Feuers<br />

auszulöschen versucht, an Bord der Fran-Horas. Diese verdammten Bastarde schienen neun Leben zu haben wie<br />

die Katzen. Nun denn, die wurden bekanntlich am besten ersäuft - Mercurio grinste hinterhältig - während er sich<br />

mit Hilfe seines Handhakens in Richtung Wasser hangelte, wobei er sorgfältig darauf achtete, nicht ins Schussfeld<br />

dieses Waldläufers zu geraten (auch wenn er mehr als einen gewöhnlichen Bogenschuss <strong>von</strong> diesem entfernt war.<br />

Aber wer wusste schon, wie weit und genau dieser Bursche mit seinem Elfenbogen zu schießen vermochte?)<br />

Der Magier versicherte sich erst der Gegenwart des grünlich schimmernden Amuletts um seinen Hals, das einen<br />

Knäuel Schlangen zeigte und starrte dann auf die zu seinen Füßen gluckernde und schmatzende See. Sein Geist<br />

suchte den Kontakt zu ihrer Macht, die sich ihm im schwarzen Schlick zu seinen Füßen offenbarte. Während er<br />

stumme Zwiesprache hielt und seinen Wunsch formulierte, nestelte er ein kleines Fläschchen aus einer<br />

Gürteltasche empor und entkorkte es mit seinen Zähnen. Ein übler Gestank nach verfaultem Fisch und<br />

Schlimmeren drang an seine Nase, als er etwas <strong>von</strong> der öligen, schwarzen Flüssigkeit ins Meer träufelte. Mercurio<br />

wusste selbst nicht, aus was genau die unheilige Mixtur bestand, nur dass ihr Delphintran und das Blut eines<br />

Efferdgeweihten beigegeben worden war. Eine durchaus potente Mischung also.<br />

<strong>Das</strong> Wasser schien ein wenig zu zischen und zu verdampfen, als die Flüssigkeit sie berührte. <strong>Das</strong> flüsternde Gefühl,<br />

dass SIE hier anwesend war, dass ihre Macht überall zu seinen Füßen wirkte, verstärkte sich <strong>von</strong> einer bloßen<br />

Ahnung zu einer tiefen, inneren Gewissheit. Auch der Papagei schlug aufgeregt mit den Flügeln und krächzte<br />

mehrmals. Shruufschnabel schien sich zu ängstigen.<br />

Der Paktierer verkorkte das Fläschchen sorgfältig und verstaute es wieder an seinem Gürtel. Mercurio fasste eine<br />

einzelne Welle weit draußen auf dem Perlenmeer ins Auge, die genau auf den Steg zurollte, wo sie sich in einigen<br />

Herzschlägen in ein weißes, schäumendes Nichts auflösen würde.<br />

Mit Befriedigung sah er, wie sein Gebet erhört wurde, wie sich die freundliche, kleine blaue Welle binnen eines<br />

Augenblicks dunkel, fast schon ins Schwärzliche verfärbte und dabei auf jedem Schritt höher auftürmte, höher und<br />

höher, er hörte, wie ihr leises Glucksen zu einem vibrierenden Dröhnen wurde, bevor es schließlich zu einem<br />

ohrenbetäubenden Donnern und Brüllen anschwoll. Schließlich hob sie sich in all ihrer Pracht und Schönheit über<br />

den Steg, bereit, als nachtblaue Faust auf den brennenden Schrein herabzufahren und dessen dampfende Trümmer<br />

ins Meer zu spülen, IHR zur Beute. Seine Feinde im Schrein aber würden beim Zusammenprall <strong>von</strong> Hylailer Feuer<br />

und Wasser gekocht werden wie die Krebse. Vor allem die Gewissheit, dass Odilon Wildgrimm das erste Opfer der<br />

Mörderwelle sein würde, entlockte Mercurio ein viehisches Triumphgeheul - und er hatte einen Logenplatz bei<br />

seiner Vernichtung.<br />

Odilon lag noch immer in der Deckung hinter der Dünung. Wie gebannt sah er den Karakil, der zu seinem<br />

Entsetzen zurückgekehrt war und ein zweites Mal seine verderbliche Ware auf das Dach der Kapelle warf. Es<br />

schauderte ihn, als er bemerkte, auf welche Weise die Feuergeschosse förmlich auf das Dach getragen wurden. Bei<br />

allen Zwölfen, war es denn notwendig gewesen, ein Kind zu einem solchen Zweck zu missbrauchen? Hätte nicht<br />

auch ein Krieger seine tödliche Fracht abwerfen können?<br />

Ungeachtet der Gefahr riss Odilon seinen dritten vergifteten Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf die Sehne, zielte<br />

nur kurz und schoss dem Lenker der Karakil, der noch immer über der Klause kreiste, hinterher. Er traf den<br />

Dämonenreiter in den Rücken. der Mann taumelte, konnte sich aber auf dem Rücken des Dämons halten. Konnte es<br />

sein, dass das Gift bei Paktierern der finsteren Macht nicht wirkte? Getroffen war der Mann ja, und einen jeden<br />

Sterblichen hätte der Pfeil auch ohne das Gift erledigt. Dieser Mann aber schien zwar verwundet, aber nicht tödlich<br />

getroffen. Aber er lenkte seinen Flugdämon nun nach Norden und flog gen Jergan. Na, immerhin verwundbar<br />

waren diese Burschen, auch wenn sie weit mehr wegstecken konnten als ein Söldner, der keinen Pakt mit den<br />

Finsteren geschlossen hatte. Sei´s drum. Jedenfalls würde der Karakilreiter in diesem Gefecht nicht mehr<br />

eingreifen. Odilon fluchte leise vor sich hin und zog sich hinter die Dünung zurück. Jetzt war es allerhöchste Zeit<br />

für ihn, die Stellung zu wechseln. Nur wohin?<br />

Odilon blickte sich um. Was für ein Rumoren war das dort auf dem Meer? Es schien Odilon als würde das Meer zu<br />

kochen anfangen. Hob sich dort, gut zweihundert Schritt entfernt, nicht eine besonders hohe Welle? Bei Efferd, mit<br />

237


was für unheiligen Mächten hatte er es hier zu tun? Es schien ihm, als würde Charyptoroth selbst die Kapelle<br />

vernichten wollen. Odilon mochte es sich nicht ausmalen, was passierte, wenn die Welle das Ufer erreichte und mit<br />

Gewalt über ihn und die Kapelle hereinbrach. Sobald sie die Welle brach würde nichts, was in ihrem Weg war,<br />

bestehen bleiben. Wäre er noch am Ufer, so würde ihn die Welle schlicht packen und seinen Leib an der Wand der<br />

Kapelle zerschmettern. Und selbst wenn er das Glück haben sollte das zu überleben, so würde er benommen am<br />

Boden liegen und den Pfeilen der Söldner ein leichtes Ziel bieten. Herr Efferd, steh´ mir bei.<br />

Eine Welle brach aber erst wenn der Meeresgrund flach wird. Einer Welle entgeht man am besten, indem man<br />

unter ihr hindurch taucht, am Strand entlang fliehen machte wohl keinen Sinn. Efferd, steh mir bei, betete Odilon.<br />

<strong>Das</strong> ist meine einzigste Chance. Wenn ich nur rechtzeitig in das tiefe Wasser komme, am Ende des Steges. Mit<br />

einer fließenden Bewegung warf Odilon Bavhano Bvaith fort und sprang auf. Die Welle hob sich, näherte sich,<br />

langsam zwar aber mit einer ungeheuren Kraft und Gewalt. Bereits jetzt war sie vier Schritt hoch und wuchs noch<br />

weiter.<br />

Odilon begann zu rennen. Er machte sich nicht die Mühe, unter dem Steg entlang zu tauchen, denn soviel Zeit hatte<br />

er nicht. Er rannte den Steg entlang. Es würde nur wenige Sekunden dauern, um die dreißig, vierzig Schritt hinter<br />

sich zu bringen bis zum Ende des Steges. Zu knapp, um den Soldaten Gelegenheit zu geben, auf ihn gezielte<br />

Schüsse abzugeben. So hoffte Odilon zumindest. Odilon rannte, was seine Beine herzugeben vermochten.<br />

Die Hitze in der Kapelle nahm ein kaum mehr erträgliches Ausmaß an. Zwar brannte nur der Dachstuhl – die<br />

hölzernen Möbel hatten Sigismund und Vegsziber rasch aus dem Gefahrenbereich geschafft, und das wenige<br />

herabtropfende Brandöl war mit Sand leicht zu löschen – der größere Teil des Öls war ohne Schaden anzurichten<br />

außen abgeflossen, aber obwohl die Hitze nach oben entweichen konnte fehlte nicht mehr viel, um den Gefährten<br />

in der Kapelle mehr als nur die Haare zu versengen. Aber der Dachstuhl war nicht mehr zu löschen, und es war<br />

wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die brennenden Balken unter ihrer Last einbrechen würden und ein Hagel<br />

aus Dachziegeln auf die Gefährten einschlagen würde.<br />

Aber noch war es nicht so weit. Entschlossen, sich so teuer als irgend möglich zu verkaufen, schossen Sturmfejian<br />

und Alrijiana – wenn sie um den Tod ihres Mitstreiters Haldorban trauerten war ihnen das jedenfalls nicht<br />

anzumerken – aus den Scharten der Südmauer der Kapelle. Sie hatten bemerkt dass einige der Soldaten ob des<br />

Feuers in der Klause zu leichtsinnig geworden waren und sich aus ihrer Deckung erhoben hatten und darauf<br />

lauerten, dass die Rebellen aus der brennenden Kapelle ins Freie flüchteten. Die vergifteten Pfeile der<br />

Dschungelkrieger fanden ihren zielsicher Weg zu den <strong>von</strong> Rüstung unbedeckten Körperpartien zweier Soldaten.<br />

Ein Knarren ging durch das brennende Gebälk. Einige Dachziegel polterten in die Tiefe. Gunelde kümmerte sich<br />

nicht darum. Jetzt ging es erst einmal vor, Alvans Wunde behelfsmäßig zu verbinden.<br />

Brennendes Öl tropfte <strong>von</strong> der Decke herab. Sigismund schrie auf und steckte seine da<strong>von</strong> getroffene Hand in das<br />

Fass mit kühlendem Wasser. „Raus hier!“ schrie Sigismund mit panikerfüllter Miene. „Wir müssen hier raus, sonst<br />

verbrennen wir alle!“<br />

Eine deftige Watsche des Inquisitors brachte den hysterisch schreienden Sigismund zur Ruhe. Selbfried packte den<br />

verdutzt guckenden Helligfarn und tunkte ihn kopfüber bis zum Bauch in das Wasserfass. „<strong>Das</strong> kühlt und<br />

verhindert, dass deine Kleider Feuer fangen“ rief er ihm zu, als er ihn Sekunden später wieder hoch zog. „Und nun<br />

zurück an deine Luke!“ Selbfried stieß Sigismund derb zu der Schießluke, die dieser verlassen hatte. Dann beugte<br />

er sich selbst kopfüber in das Fass, bevor er wieder die Armbrust aufnahm und zu seiner Position sprang. Die Idee<br />

machte Schule, und die Rebellen ebenso wie die restlichen Gefährten nutzten die Möglichkeit, ihre Kleider zu<br />

benässen und sich vor der Hitze notdürftig zu schützen. Alvan seufzte erleichtert auf, als die Hitze für eine kurze<br />

Weile nachließ. Ein Schmerz durchzuckte ihre verletzte Wade. Mit einem Anflug <strong>von</strong> Erschöpfung sank sie nieder<br />

und begann zu beten.<br />

Es geschah selten, dass die Geweihten der Zwillinge beteten. Korrekter wäre es zu sagen, dass die Gläubigen der<br />

Zwillinge der Kraft der Gebete weitaus weniger Bedeutung zumaßen als die Gläubigen der Zwölfgötterkirchen.<br />

Sah man die Garethjas allerorten für guten Fang zu Efferd, für gute Ernte zu Peraine oder für Glück in der Liebe zu<br />

Rahja beten, so wäre derlei Gebetsverhalten für <strong>Maraskan</strong>er undenkbar. Rur hat die Weltenscheibe ja in vollendeter<br />

Perfektion geschaffen. Eine bessere Welt als die Existierende war nicht denkbar. Schließlich hatte Rur alle Dinge,<br />

aus denen die Welt bestand, so erschaffen, dass sie die Bestmögliche aller denkbaren Schöpfungen war. Auch die<br />

Makel, die Rur der Weltenscheibe mit auf den Weg zu Gror gegeben hat, waren so gestaltet, dass sie zwar dem<br />

einzelnen Schicksal übel mitspielen mochten, aber der gesamten Schönheit der Welt dienlich waren oder aber sie<br />

auf eben diese Weise geringstmöglichst schädigten. Rur hat einen schönen Weltendiskus erschaffen. Es mochte<br />

sein, dass der Mensch es in seiner beschränkten Wahrnehmung nicht erfassen konnte, warum etwas der Schönheit<br />

der Welt dienlich war. Aber es bestand an der Tatsache selbst kein Zweifel. Da es aber keine bessere Möglichkeit<br />

der existierenden Welt gab als die bestehende Welt war es völlig zwecklos, für eine bessere Welt zu beten. Im<br />

Gegenteil, eben dies zu tun hieße die Vollkommenheit der Schöpfung Rurs in Frage zu stellen. Aus eben diesem<br />

Grund sah man <strong>Maraskan</strong>er nicht zu den Zwillingen beten.<br />

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Rur hatte den Weltendiskus den Zwölf überlassen, damit diese während des weiten Fluges zu Gror die Schönheit<br />

der Welt bewahrten. Der Jahrtausende währende Flug der Welt war nicht ohne Gefahr, und Rur konnte den<br />

Weltendiskus, erst einmal auf die weite Reise geschickt, nicht mehr beschützen oder beeinflussen. Daher wachten<br />

die Zwölf Göttlichen Geschwister über das Wohl und Wehe der Welt. Um diese verantwortungsvolle und schwere<br />

Aufgabe erfüllen zu können hat Rur den Göttlichen Geschwistern genaue Anweisungen gegeben, was zu tun sei.<br />

Die Zwölf Göttlichen Geschwister hatten wahrlich keine leichte Aufgabe zu erfüllen.<br />

Bei dieser schweren Pflichterfüllung war es aber nicht gänzlich ausgeschlossen, dass den Göttlichen Geschwistern<br />

ein Fehler unterlaufen konnte. Bruder Praios musste die Sonne ja nicht nur an einem Ort des Weltendiskus<br />

aufgehen lassen, nein, er musste ein jedes Dorf, einen jeden Wald und einen jeden See auf Deres weitem Rund<br />

gleichmäßig mit seinen Sonnenstrahlen bedenken. Ebenso war es Schwester Peraines Aufgabe, die Fruchtbarkeit<br />

der Felder nicht nur in einem Landstrich zu gewährleisten. Die Göttlichen Geschwister hatten wahrhaft eine<br />

schwere Aufgabe, um die sie nicht zu beneiden waren. Gewiss unterliefen ihnen selten Fehler, aber dennoch<br />

geschahen Fehler. Höchstselten, aber sie geschahen. War es daher unangebracht, darum zu bitten, dass die<br />

Göttlichen Geschwister ihre Entscheidungen und ihr Handeln noch einmal überdenken? War es vermessen um eine<br />

kleine Überprüfung zu bitten, ob die Maßstäbe, die Rur am Anbeginn der Welt, in der ersten Stunde des Fluges des<br />

Weltendiskus den Geschwistern gestellt hatte, erfüllt wurden? War es gerecht oder vermessen, Bruder Ingerimm zu<br />

fragen, ob sein Feuer denn tatsächlich die Klause Mylendijians ausgerechnet zu dieser Stunde verbrennen musste?<br />

War es gerecht oder vermessen, Bruder Efferd zu fragen, ob denn tatsächlich eine Welle aus dem Nichts entstehen<br />

konnte und die Gefährten zu ertränken drohte? So sinnierte Alvan. War es denn im Sinne Rurs, sie auf diese<br />

gefahrvolle Reise zu schicken um sie dann, so wenige Meilen vor dem Ziel, elend sterben zu lassen? Hatten sie die<br />

ihnen zugedachte Aufgabe ohne es zu bemerken schon erfüllt? Vielleicht war es lediglich das <strong>von</strong> Rur erdachte<br />

Ziel dieser Reise, die Fran-Horas zu versenken oder Ortwin Natter zu töten. Dann wäre ihre Aufgabe schon erfüllt,<br />

ihr weiteres Schicksal ohne Belang. Oder harrte die Aufgabe, die Rur ihnen zugedacht hatte, noch ihrer<br />

Erledigung? Dann, und da<strong>von</strong> meinte Alvan ausgehen zu können, war es wohl gerechtfertigt, Bruder Efferd und<br />

Bruder Ingerimm zu bitten, ihren Auftrag zur Wahrung der Schönheit der Welt zu überprüfen. Oh göttlicher Rur,<br />

gib das Du nicht vergessen hast Bruder Efferd und Bruder Ingerimm aufzutragen, an diesem schönen Tag<br />

besonders sorgfältig ihre Werke zu prüfen.<br />

Odilon sprang mit einem Hechtsprung in die Fluten des <strong>Maraskan</strong>sundes. Hier, am Ende des Steges, war das<br />

Wasser gut fünf Schritt tief, und der Meeresgrund schien weiter rasch abzufallen. Fünfzig Schritt entfernt hob sich<br />

die Welle in bedrohliche Höhe, aber noch kräuselte sich die Krone der Welle nicht. Noch drohte die Welle nicht zu<br />

brechen. Odilons Körper verschwand in den Fluten. Der Waldläufer tauchte, damit sein Kopf den Schützen der<br />

Feinde kein Ziel bot. Nicht mehr als eine Viertelminute würde vergehen, bis die Welle Odilon erreicht hatte.<br />

Odilon zog seine Arme durch das Wasser mit aller Kraft, die ihm verblieben war. Noch einmal streckte er den Kopf<br />

aus dem Wasser und holte, als er die riesenhafte Welle, höher als zwei Trolle aufeinandergestellt groß waren, auf<br />

sich zu rollen sah, noch einmal tief Luft. Auf dem Gipfel der Welle wogten Schaumkronen, einem steilen Berg<br />

gleich hob sich das Wasser, und als es über Odilon zusammenbrach tauchte dieser in die Tiefe.<br />

Pomodera sah die Welle, die der unheimliche Pirat erwirkt hatte. Sehr gut. Die Welle würde die Kapelle ganz<br />

gewiss in Trümmer legen. Wenn dann tatsächlich noch einer der Rebellen das überlebte würden die Pfeile den Rest<br />

erledigen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen.<br />

„Eiger, du weißt bescheid. Nimm Dein Schwert und erledige diese Tika. Fred, du knöpfst Dir den Jungen vor. Die<br />

beiden sind hinter den unseren, unweit vom Hauptmann. Mach es kurz und schnell, wir können es nicht riskieren<br />

dass die beiden schreien. Auch wenn der charypthorothverfluchte Pirat sie bei dem Lärm hier nicht hören dürfte<br />

gehen wir kein Risiko ein.“<br />

„Jawoll, Frau Leutnant.“ Die beiden Angesprochenen salutierten und entfernten sich.<br />

Pomodera dachte kurz nach. Sie hatte jetzt noch zehn Leute unter ihrem Befehl hier auf der Nordseite der Klause.<br />

Diese Tuzaker Schlampe Andromejia und Mercurio waren mit ihren Bütteln noch zu siebt. Kein gutes Verhältnis.<br />

Auch wenn sie die Überraschung auf ihrer Seite hatten war mit diesem Zahlenverhältnis keine absolute<br />

Siegesgewissheit verbunden. Ein Soldat, der einen Fehler machte, konnte dem Feind genug Zeit für einen Alarmruf<br />

geben. Verflucht, es war leichtsinnig gewesen, sich so nahe der Mauer zu nähern. Drei gute Kämpfer hatte sie<br />

dadurch verloren. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.<br />

„Algor, Hertha, Berthel, Sighold und Fredegard, ihr fünf erledigt Andromejia. Und zwar sobald ich ihre fünf Büttel<br />

weggeschickt habe. Ihr wartet dann noch bis ich mit Kemal, Argos und meinem Adjutant Hassan zu Mercurio<br />

gegangen bin, um dort mit ihm ´das Ende der Klause sehen zu können´.“ Und das Ende dieses vermaledeiten<br />

Piraten, fügte Pomodera in Gedanken hinzu. Ein hinterhältiges Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. Die Order<br />

hatte sie leise gegeben, so dass nur die betroffenen Kämpfer ihre Order vernommen hatten. Die Tuzakerin, die sie<br />

für die Anführerin des zusammengewürfelten Trupps aus Bütteln und Piraten hielt, schätzte sie als die gefährlichste<br />

Gegnerin ein und bedachte sie daher mit fünf Angreifern. Sie konnte nicht ahnen, dass in Wahrheit Mercurio der<br />

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weitaus gefährlichere Gegner war. Dann kommandierte sie wieder mit lauter Stimme, so dass auch Andromejias<br />

Büttel ihre Stimme vernahmen.<br />

„Wilbert und Kunibald, ihr rückt mit den fünf Bütteln aus Jergan weiter vor. Gut möglich, dass das Rebellenpack<br />

bald aus der Klause rennt, wenn sie die Hitze nicht mehr aushalten. Bringt Euch in gute Schusspositionen. Na los,<br />

wird’s bald? Wilbert führt das Kommando!“ Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verbot jede Rückfrage. Mit einer<br />

Handbewegung deutete sie Kemal, Argos und Hassen, ihr zum Strand zu folgen.<br />

Odilon wurde herumgewirbelt. Er wusste nicht mehr wo oben und unten war. Sich zu orientieren war nicht mehr<br />

möglich, als die Welle über ihm zusammenbrach. Die Urgewalt des Wassers schmetterte ihn gegen etwas hartes,<br />

einen versunkenen Baum wie Odilon annahm. Odilon verzerrte sein Gesicht, als er sich das Knie am beinharten<br />

Holz aufschlug. Wäre er noch nicht so weit geschwommen, wäre er direkt in der brechenden Welle gewesen, er<br />

hätte nichts anderes als beten können. So aber hatte er den Punkt, an dem die Welle brach, wohl eine Armeslänge<br />

hinter sich gelassen. <strong>Das</strong> Wasser wirbelte hier zwar noch herum, aber es würde ihn nicht an den Strand schmettern.<br />

Odilon tauchte in die Richtung, die er für vorne unten hielt.<br />

„Schönes Unheil, das Du hier anrichtest, Mercurio.“ begrüßte Pomodera den Piraten.<br />

„Nicht wahr? Die Herrin der Meerestiefen zeigt sich heute gnädig. Sie wird unser Opfer dankend annehmen. Nicht<br />

jeden Tag ertrinkt ein Garethischer Inquisitor in ihren Fluten.“ Mercurio sah auf die Welle, die sich bedrohlich<br />

auftürmte. „Der Schlagetot der Rebellen ist ein mutiges Kerlchen. Er hat die einzigste Chance, die er hat, ergriffen<br />

und versucht, unter der Welle hindurch zu tauchen. Verdammt gerissen, der Bursche, hat glänzend reagiert. Aber<br />

ich glaube nicht, dass er der Welle entkommt. Charyptoroth wird ihn sich schon in die Tiefe holen.“<br />

„Und wenn nicht erledigen das unsere Schützen. Kemal ist sicher im Umgang mit dem Kurzbogen, und auch<br />

Hassan hat ein scharfes Auge. Wenn er nachher noch im Wasser schwimmt werden sie ihn schon erledigen.“<br />

Mercurio nickte. Vorsorglich legten Hassan und Kemal schon einmal Pfeile auf die Sehnen. Seltsam, dachte<br />

Mercurio. Wenn die beiden nach Odilon schauen sollten, warum blickten sie dann nicht aufs Meer? Naja,<br />

vermutlich wollten sie auch den Untergang der Klause miterleben, so was gab es ja nicht alle Tage zu sehen. Und<br />

solange die Welle mit aller Gewalt auf das Ufer zurollte war Odilon ohnehin nicht zusehen. Mercurio lachte<br />

hämisch bei dem Gedanken daran, wie Odilon jetzt wohl unter Wasser <strong>von</strong> der Macht und Gewalt der Fluten gegen<br />

die Felsen geschlagen würde.<br />

Die tosenden Fluten hatten jetzt den Steg erreicht. Wie Streichhölzer knickten die Bretter, als die ungeheure Macht<br />

des Wassers auf sie einschlug. Holzstücke wirbelten durch die Luft. Nichts würde <strong>von</strong> dem Steg übrigbleiben.<br />

Schritt um Schritt versank der Landesteg in den Fluten. Dann schlug die Welle mit ohrenbetäubendem Lärm auf<br />

das Ufer.<br />

Also Odilons Lungen zu bersten drohten tauchte er auf. Es dauerte eine Weile, sich zu orientieren, nachdem er sich<br />

das salzige Wasser aus den Augen gerieben hatte. Die Welle. Er sah sie <strong>von</strong> sich weg bewegen, er war hinter der<br />

Welle, in Sicherheit. Vorerst. Wo war Bavhano Bvaith? Der Gedanke an seinen Bogen schoss ihm durch den Kopf.<br />

Nach rechts, er musste nach rechts schwimmen. Dort wo er Mercurio vermutete. Links würde man ihn zuerst<br />

suchen, weil das linke Ufer näher lag. Nach rechts waren es gut hundert Schritt zum Ufer der Bucht, also mochte<br />

man meinen er würde das linke Ufer ansteuern, zu dem es keine zwanzig Schritt waren. Aber er konnte nach rechts<br />

schwimmen ohne gesehen zu werden. Er konnte tauchen. Vier oder fünfmal würde er Atem holen müssen bis zum<br />

Ufer, aber wenn er in einem Wellental nach Luft schnappte würde man ihn vom Ufer aus nicht sehen. Oft ist nicht<br />

der vermeintlich einfachere Weg der sichere, sondern der, dem Deine Verfolger eben deswegen weniger Beachtung<br />

beimessen. Diese nivesische Jägerweisheit hatte er zu beherzigen gelernt. Außerdem würden die Verderbten wohl<br />

erst einmal in der Kapelle sehen, welchen Schaden sie angerichtet hatten mit der Flutwelle. Die Kapelle... wer <strong>von</strong><br />

seinen Gefährten würde das Inferno überleben? Würde es überhaupt jemand überleben? War er jetzt auf sich allein<br />

gestellt?<br />

Fisch lachte, als er <strong>von</strong> seinem sicheren Platz aus sah, wie die Wassermassen über die Kapelle hereinbrachen. Nein,<br />

darin würde das wohl sicher niemand überleben. Ein dreckiges, schmutziges Lachen tönte aus seiner Kehle.<br />

Schade nur dass sie ihm nicht lebend in die Hände fielen. Es hätte einen Heidenspaß gegeben, die<br />

Zwölfgötterpaktierer, allen voran den Inquisitor, auf schmerzvolle Weise zu Tode zu foltern. Schade, dass ihm nun<br />

die schmerzvollen Schreie und das Bitten, das Jammern und das Flehen, ihnen ein kurzes Ende zu bereiten,<br />

entgangen war. Diese Einfaltspinsel <strong>von</strong> Kaiserlichen und Zwölfgöttergläubigen, die ihm und Tika so bereitwillig<br />

auf den Leim gegangen waren in ihrem naiven Glauben an das Gute im Menschen. Abermals lachte er. Auch Tika<br />

lachte. Tikas Brüste hoben und senkten sich lustig, wenn die Piratin lachte. Für einen Moment bedauerte Fisch es,<br />

das Tika vermutlich alt und runzlig sein würde, bis er in das Alter kommen würde, mit Frauen seinen Spaß zu<br />

haben. Aber wirklich nur für einen Moment. Dann wunderte er sich, warum aus seiner Brust plötzlich eine<br />

Dolchspitze ragte. <strong>Das</strong> letzte was er sah war Tikas erschrockener Gesichtsausdruck. Tika ihrerseits konnte noch<br />

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einen lauten Schrei ausstoßen, bevor auch sie das gleiche Schicksal erlitt. Eiger hoffte, dass der Schrei in dem<br />

Getümmel nicht aufgefallen war, sonst würde er sich nachher vor Leutnant Pomodera und nicht zuletzt vor dem<br />

rachsüchtigen Hauptmann dafür verantworten müssen, wenn etwas schief ging.<br />

Scheinbar mit ungeheurer Urgewalt fielen die Wassermassen auf die Klause hernieder. Ein ohrenbetäubender Lärm<br />

erklang, es war nicht möglich festzustellen, ob der Lärm durch platschende und tosende Wassermassen, berstende<br />

Balken oder wild umherschlagende Dachziegel verursacht wurde. Erst viel später, als Ruhe eingekehrt war, konnte<br />

der Inquisitor das was er sah und hörte, zu einem schlüssigen Bild in seiner Erinnerung zusammenfügen.<br />

Alrik, der durch die Scharte die heranwalzende Flutwelle als erster sah, rief den Gefährten noch eine Warnung zu,<br />

rasch zur Seite zu springen. Seine Worte „Weg <strong>von</strong> der Tür!“ hallten im Raum, bevor sie vom Lärm verschluckt<br />

wurde. Die Gefährten reagierten rasch, warfen sich an die Seiten der Kapelle. Sigismund jedoch, <strong>von</strong> Panik erfüllt,<br />

versuchte die Türe zu öffnen und ins Freie zu fliehen. Die Flutwelle hatte er noch gar nicht wahrgenommen, er sah<br />

die Hauptbedrohung nach wie vor im Feuer. Und Alvan kniete weiterhin auf dem Boden. Bei dem Inquisitor war<br />

zuerst der Eindruck entstanden, die Baernfarn stünde unter Schock oder aber ihr Bein versage den Dienst. Erst<br />

einen Sekundenbruchteil bemerkte er, dass die Priesterin der Zwillinge betete.<br />

Der Inquisitor hätte wohl die Möglichkeit gehabt, Alvan zur Seite zu ziehen, aber er tat es nicht. Er konnte später<br />

nicht mehr sagen, warum. Vielleicht hatte er in diesem Augenblick zuviel Angst um sich selbst gehabt. Vielleicht<br />

war es auch der Respekt <strong>von</strong> Priester zu Priester, beim Gebet nicht, unter keinen Umständen, zu stören. Vielleicht<br />

war es auch ein Gedanke wie ´lass doch mal sehen ob die heidnischen Zwillingsgötzen Dir helfen können´.<br />

Vielleicht auch alles zusammen. Jedenfalls sah Selbfried zu, wie alle außer Alvan und Sigismund sich an die Seiten<br />

der Klause flüchteten, Bruchteile bevor die Wassermassen die Tür der Klause schlicht aus den Angeln riss und<br />

durch den Raum an die Gegenüberliegende Wand schmetterte. Sigismund, der unmittelbar vor der Tür stand, wurde<br />

<strong>von</strong> der bloßen Gewalt schlicht umgerissen, die Unterkante der Türe zertrümmerte Sigismunds Schädel.<br />

Vielleicht war es diesem Umstand zu verdanken, dass die Tür minimal nach oben abgelenkt wurde und um<br />

Haaresbreite über Alvan hinwegflog. Stattdessen fiel Sigismunds Kopf, an dem noch ein schlaffer Körper hing, in<br />

Alvans Schoß. Wo soeben noch schön geschnittene Gesichtszüge auf dem Kopf des Helligfarn zu sehen waren war<br />

jetzt nur noch eine einzige breiige Masse verblieben, die auf Alvans Kleid tropfte, Sekundenbruchteile bevor die<br />

Flutwelle Alvan und Sigismund mit sich riss, herumwirbelte und ebenfalls an die Ostwand der Kapelle schleuderte.<br />

War es ein Zufall, dass im Moment, als beide Leiber auf der Wand aufschlugen, Sigismund sich zwischen Alvan<br />

und der Wand befand und mit seinem toten Leib den Aufprall der Geliebten milderte und ein zweites Mal in nur<br />

einer Sekunde das Leben rettete?<br />

Selbfrieds Blick war zu sehr gebannt auf Alvan und Sigismund gerichtet, als dass er bemerkte, dass das Wasser<br />

nicht nur durch die Tür in die Kapelle hereinflutete, sondern dass es auch <strong>von</strong> oben herabfiel. Die Flutwelle<br />

schwappte über das Dach hinweg und riss die Dachziegel samt dem darauf verbliebenen Brandöl mit sich. Ein<br />

großer Teil der Ziegel wurde wild umher geschleudert und kam außerhalb der Kapelle zum Liegen. Nur gut drei<br />

Dutzend Ziegel wurden in das Innere der Kapelle geschleudert und zerschellten an der Ostwand. Wie durch ein<br />

Wunder wurde Alvan auch <strong>von</strong> diesen Ziegeln nicht getroffen. Es musste ein Wunder sein. Sigismunds Leichnam<br />

war auf Alvan gefallen, sein Leib schirmte die Geweihte abermals vor den tödlichen Geschossen ab.<br />

Die Wassermassen ließen den brennenden Dachstuhl verlöschen. <strong>Das</strong> Hylailer Feuer war ja zum größten Teil <strong>von</strong><br />

der Flut weggespült worden. Unter dem Druck des Wassers gaben die Dachbalken jedoch nach und stürzten in sich<br />

zusammen.<br />

Hauptmann Brackenburger sah die Welle nicht auf die Kapelle zukommen. Er befand sich auf der Ostseite der<br />

Kapelle und hatte <strong>von</strong> dort Blickkontakt zu Weibel Berschin und Leutnant Pomodera, was sich aber auf dem Meer<br />

zusammenbraute, das konnte er nicht sehen. Er hatte es bemerkt, wie Pomodera die Jerganer Büttel auf gute<br />

Schusspositionen schickte, und wie sie zwei Soldaten auf Tika und Fisch ansetzte. Gute Frau, lobte er sie innerlich.<br />

Es war klug <strong>von</strong> ihr, die Büttel außer Reichweite zu schicken. So war die Kampfkraft des zweiten Gegners geteilt.<br />

Außerdem musste man so die Jerganer vielleicht nicht töten, schließlich waren sie nur Handlanger, die nur zufällig<br />

unter dem falschen Kommando standen. Wenn sie nichts bemerkten <strong>von</strong> dem, was mit Andromejia und den Piraten<br />

geschah konnte man das ja alles den Rebellen in die Schuhe schieben, und wer würde da schon so genau<br />

nachhaken? Jeden Augenblick würden die Rebellen vor der Hitze aus der Kapelle fliehen, und dann würden seine<br />

Leute sie ins Kreuzfeuer nehmen. In dem Getümmel würde es nicht auffallen, wenn es noch ein paar Tote mehr<br />

gab.<br />

Hauptmann Jobst Brackenburger war wirklich überrascht, als die Flutwelle über das Dach schwappte und das<br />

Inferno über der Kapelle hereinbrach? Auch seine durch den Pakt mit Belhalhar gesteigerten Kräfte und<br />

Fähigkeiten halfen ihm hier nicht, schnell genug zu reagieren.<br />

Später sollte der Inquisitor noch lange darüber nachdenken was er gesehen hatte. War es wirklich Zufall gewesen,<br />

dass die Priesterin der Zwillingsgötzen dreimal so unglaubliches Glück gehabt hatte? Anfangs glaubte er das. Denn<br />

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schließlich konnten Götzen, die es nicht gab, auch keinen Götzenanbetern beistehen. Später aber, als er sich den<br />

Schauplatz noch einmal in Ruhe anschauen konnte, kam er zu dem Schluss, hier Zeuge Göttlichen Wirkens<br />

geworden zu sein. Sicherlich, das wundersame Überleben der Priesterin könnte Zufall sein. Aber wenn sich die<br />

Flutwelle <strong>von</strong> oben herab auf das Dach gestürzt hätte – und so musste es wohl gewesen sein, wollte er die Gesetze<br />

der Physik nicht unbeachtet lassen, dann hätte der Dachstuhl in sich zusammenbrechen müssen. Er und die anderen<br />

wären dann höchstwahrscheinlich <strong>von</strong> Dachziegeln erschlagen worden. Und wenn das ihr Leben nicht gekostet<br />

hätte, dann hätten sie im Hylailer Feuer verbrennen müssen. <strong>Das</strong> wäre ungehindert in die Kapelle gestürzt und hätte<br />

dort einen auf dem Wasser schwimmenden Brand ausgelöst. Gut, das Brandöl wäre mit dem Wasser zur Türe<br />

hinaus abgeflossen, aber nichts desto trotz hätten ihre Leiber oder zumindest doch die Haare und die Kleider in<br />

Flammen gestanden. Aber nichts dergleichen war passiert. Der größte Teil des Daches war nach außen<br />

geschleudert worden, und ebenso die brennenden Flüssigkeit. Gut. <strong>Das</strong> allein hätte Selbfried nicht zu der<br />

Überzeugung kommen lassen, ein Wunder erlebt zu haben. Aber die Tatsache, dass das brennende Öl nicht nur<br />

nicht in die Kapelle floss, sondern <strong>von</strong> den Wassermassen dem Befehlshaber der Verderbten ins Gesicht<br />

geschleudert wurde, war nun wirklich kein Zufall mehr. Es konnte letztlich nichts anderes als ein Wunder sein.<br />

Nachdem es aber die Zwillingsgötter nicht gab – und Selbfried war selbstverständlich überzeugt da<strong>von</strong> – war der<br />

Inquisitor sich sicher, ein Wunder der Zwölf Götter gesehen zu haben. Ja, es musste wohl so gewesen sein, dass die<br />

Zwölf sich ob der wenn auch fehlgeleiteten Frömmigkeit der Priesterin zum Eingreifen erbarmten. Auch wenn die<br />

spitzohrige <strong>Maraskan</strong>erin nicht dem richtigen Glauben anhing, so kämpfte sie doch immerhin auf der richtigen<br />

Seite. Und der Irrglaube der <strong>Maraskan</strong>er war doch immer noch besser als diese verfluchte Paktiererei der<br />

Verderbten. Konnte es sein, dass es Praios in seiner Weisheit gerichtet hatte, dass diejenigen, die die<br />

Praiosgefällige Wahrheit nicht so deutlich erkennen konnten wie er selbst wenigstens einen vergleichsweise<br />

harmlosen Irrglauben als seelischen Halt bekommen hatten, um den Verlockungen der Verderbten besser<br />

widerstehen zu können? Aber das war eine theologische Diskussion, die er zu einem anderen Zeitpunkt mit seinem<br />

Abt führen wollte.<br />

Hauptmann Jobst Brackenburger wusste nicht, wie ihm geschah, als er plötzlich in Flammen stand. Er schrie, mehr<br />

vor Schreck denn aus Schmerz, dann erstarb der Schrei auf seinen Lippen.<br />

Andromejia hörte den Schrei des Hauptmanns und löste ihren Blick <strong>von</strong> dem Chaos, in dem die Kapelle versank.<br />

Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, dass sich <strong>von</strong> hinten fünf <strong>von</strong> Pomoderas Leuten an sie anschlichen, ihre<br />

Klingen zum Schlag bereit in der Hand...<br />

Die Mauern der Kapelle hatten das Inferno der Wassermassen gut überstanden. Nur die Tür und das Dach waren in<br />

Trümmern. <strong>Das</strong> Feuer war erloschen, und damit diese Gefahr gebannt. Aber dennoch stand es nicht gut um die<br />

Gefährten. Alles, was <strong>von</strong> den Fluten mitgerissen und gegen die Wand geschleudert worden war, war gelinde<br />

gesagt in Mitleidenschaft gezogen worden. Bis auf Alvans Kurzbogen und eine Armbrust waren die Schusswaffen<br />

zerborsten oder zumindest verbogen, auf alle Fälle jedoch nicht mehr gebrauchsbereit. Auch Alrijianas Blasrohr<br />

war in zwei Teile zerbrochen – die Rebellin hob das Blasrohr Haldorbans auf, das unter seinem toten Leib<br />

begraben war. Abgesehen <strong>von</strong> Sigismund und Alvan, die bewusstlos auf dem Kapellenboden lag, hatte wenigstens<br />

niemand schwere Verletzungen da<strong>von</strong> getragen. Auf die Prellungen und Schürfwunden achtete in dieser Situation<br />

niemand.<br />

In der Klause selbst raffte sich der Inquisitor als erster wieder auf. Jetzt, da Odilon nicht anwesend war, übernahm<br />

er wie selbstverständlich das Kommando.<br />

„Aufgestanden! Die Sache ist noch nicht ausgestanden. Würde mich nicht wundern, wenn sie bald durch den jetzt<br />

offenen Eingang einfallen und uns mit ihrer schieren Anzahl überwältigen. Sturmfejian, lad Dein Blasrohr.<br />

Estibora, du nimmst Alvans Kurzbogen, ich behalte die Armbrust. Alrik und Gunelde, ihr lehnt die Tür dort an die<br />

Wand, Gunelde kann sich dahinter um die Verletzten kümmern. Zieht Alvan und die Gefangene dahinter, notfalls<br />

hat Gunelde dann eine Geisel. Hesindian, Du erhältst die Möglichkeit zu beweisen, dass man mit dieser<br />

praiosverfluchten Magie auch gutes bewirken kann!<br />

Die Schützen gehen nach hinten an die Ostwand. Lehnt ein paar <strong>von</strong> den Brettern an die Wand, damit wir<br />

wenigstens ein wenig Deckung haben. Vegsziber, Alrik, ihr stellt Euch rechts und links neben den Eingang und<br />

stecht sie ab, wer auch immer hereinkommt. Efferjiane, hier, nimm Sigismunds Rapier und hilf den beiden!“<br />

Misstrauisch blickte Mercurio zu den beiden Gardisten, die Pfeile auf die Sehnen gelegt hatten und ihre Bögen nun<br />

halb gespannt hielten. Sowohl als Pirat wie Beschwörer verfügte er über ein ausgeprägtes Gespür für Gefahren.<br />

Shruufschnabel hob sein Bein, wippte mit dem Kopf und krächzte. Auch dem Papagei auf der Schulter schien die<br />

Situation nicht zu behagen.<br />

Pomodera zögerte, den entscheidenden Befehl zu geben. Die Welle hatte sie in mehr als nur einer Hinsicht<br />

beeindruckt. Dieser bleiche Xeraanier war mehr, als er zu sein vorgab - für einen gewöhnlichen Paktierer verfügte<br />

242


er über eindeutig zuviel Macht. <strong>Das</strong> bedeutete, dass sie ihn schnell würde töten müssen, bevor er sie einsetzen<br />

konnte.<br />

Als Mercurio sich mit verlegener Geste über die Jacke strich und dabei etwas Unverständliches murmelte,<br />

beschloss sie zu handeln.<br />

"Legt ihn um!" fauchte sich Kemal und Hassan an. Zwei Pfeile zischten durch die Luft und klatschten in den Leib<br />

des Einarmigen. Mit einer Mischung aus Überraschungs- und Schmerzenslaut stürzte er ins Wasser.<br />

Der Papagei flatterte wütend krächzend hoch und stieg in den morgendlichen Himmel über der Bucht. Argos riss<br />

seinen Bogen hoch, blinzelte dann aber irritiert, als ihn das Glitzern des Perlenmeers blendete. Als er wieder klar<br />

sehen konnte, war der Papagei spurlos verschwunden. Dann drang die schrille Mannweib-Stimme des Leutnants an<br />

sein Ohr: "Du Trottel! Auf den Xeraanier sollst du schießen!"<br />

Der Gardist nickte. Als er vor sich einen Dreispitz aus dem Wasser hüpfen sah, schoss er seinen Pfeil ab.<br />

Der Inquisitionsrat lauschte nach draußen in die brütende Schwüle des Dschungels. Bis auf gelegentliche<br />

Schmerzenschreie und aufgeregte Rufe war es still.<br />

Dann kamen die Pfeile. Wie ein wütender Hornissenschwarm surrten sie in steilem Bogen heran, fächerten sich<br />

über den Dach auf und klatschten wie Platzregen herab. Diese Salve war eindeutig nicht gezielt, sondern regnete<br />

einfach auf den zerstörten Dachstuhl des Schreins herab.<br />

Selbfried konnte gerade noch einen Warnruf ausstoßen und unter einem Rest des Dachgebälks Deckung suchen, als<br />

die Geschosse auch schon ihre ersten Opfer fanden.<br />

Schreie. Surren. Sturmfejian wurde der Fuß durchbohrt, ein weiteres Geschoss drang <strong>von</strong> oben in seine rechte<br />

Schulter.<br />

"Vetter!" brüllte Vegsziber und lief auf den Rebellen zu, um ihn aus der Gefahrenzone zu stoßen. Dann fuhr ihm<br />

ein Pfeil wie ein Raubvogel gegen den Hals und stieß aus dem Nacken wieder heraus. Dickflüssiges Blut spritzte.<br />

Der Schmugglerkapitän griff sich mit beiden Händen an die Kehle, als wolle er sich erwürgen, sackte in die Knie<br />

und stürzte über den brüllenden Sturmfejian. Letzter war ebenfalls zusammengebrochen. Zwei Pfeile schlugen in<br />

den Rücken seines Vetters, der nun wie ein Schild über ihm lag.<br />

Trotz allem hatte die Salve schlecht gelegen. Die meisten Pfeile hatten sich in den Überresten des Dachstuhls<br />

verfangen. Allerdings merkte Selbfried nun, dass er keineswegs so sicher gestanden war, wie er geglaubt hatte. In<br />

seinem Umhang prangten zwei Löcher, aus dem einen ragte sogar noch die Befiederung eines Pfeils, dessen Spitze<br />

in einem Balken steckte. Der Praiot riss sich los und sah nach oben. Eine weitere Salve schwirrte heran.<br />

"Stellt Euch an die Wände!"<br />

Hesindian und Alrik reagierten sofort, der Baron hatte sogar noch die Geistesgegenwart, die matt stöhnende Alvan<br />

mit sich zu reißen und aufzurichten. Die gefesselte Rauline schrie auf, als sie mehrere Pfeile ihrer eigenen<br />

Kameraden durchbohrten. Gunelde starrte auf den gefiederten Schaft, der plötzlich aus ihrer Schulter ragte und<br />

verlor mit einem Stöhnen das Bewusstsein. Estibora brachte sich am Mauerwerk in Sicherheit. Alrijiana hatte<br />

schlichtweg Glück, die Pfeile schienen regelrecht um sie herum zu fliegen. Aber nun geriet sie in Panik. Mit einem<br />

Satz sprang sie durch eines der Fenster an der Ostwand, dessen Läden durch die Welle aufgesprengt worden waren,<br />

und verschwand. <strong>Das</strong> Fischermädchen folgte ihr auf den Füßen.<br />

"Bei Praios, bleibt hier!" Selbfried wollte die beiden Frauen noch aufhalten, aber ein erneuter Geschosshagel<br />

zwang ihn dazu, sich wieder in seine Ecke zu verkriechen.<br />

Draußen sirrten nun ebenfalls Bögen und fanden leichte Beute. Herzschläge später schwang sich Alrijiana wieder<br />

über das Fensterbrett, zwei Pfeile im grellbunten, süßlich riechenden Hartholzharnisch. Sie konnte sich gerade noch<br />

ducken, da surrte auch schon ein Pfeil durchs Fenster, prallte aber harmlos an der Gegenwand ab.<br />

"<strong>Das</strong> Mädchen hat´s erwischt!" keuchte sie.<br />

"Hilfe!" röchelte Sturmfejian, der leichtsinnigerweise den Leichnam seines Vetters <strong>von</strong> sich gewälzt hatte. Mehrere<br />

Pfeile steckten in seinem Mantel und den Rändern seiner Pluderhose, ein weiterer hatte sein Blasrohr fein<br />

säuberlich in der Mitte durchschlagen. Der <strong>Maraskan</strong>er lag im besten Schussfeld.<br />

"Hilf ihm!" herrschte der Geweihte Alrijiana an, die wenn überhaupt nur leicht verletzt zu sein schien. Die Rebellin<br />

nickte und sprang mit gezücktem Tuzakmesser auf den Verwundeten zu. Mehrere Hiebe, dann waren die Pfeile<br />

zerteilt und sie konnte den vor Schmerzen schreienden Rebellenführer an den Rand des Schreins ziehen. Keinen<br />

Augenblick zu früh, denn nun tröpfelten wieder mehrere Pfeile herab, sprangen übermütig im Schrein umher oder<br />

blieben in den Holztrümmern stecken. Hier und da loderten kleine Brände.<br />

Der Inquisitor blickte durch das offene Fenster nach draußen. Im Schatten des Fensters legte er mit der Armbrust<br />

an.<br />

Dort wimmelte es <strong>von</strong> Gardisten, die sich nun immer näher heran trauten. Efferjiane lag, <strong>von</strong> mehreren Pfeilen<br />

durchbohrt, am Bachufer und schrie und wimmerte zum Herzerweichen.<br />

"Wir müssen ihr helfen!" rief Hesindian, der ihre Schreie nun hörte.<br />

"<strong>Das</strong> ist doch gerade das, was sie wollen!" knurrte Selbfried. "Uns herauslocken..."<br />

"Aber..."<br />

243


"Bleibt, wo Ihr seid!" herrschte der Praiot den Magier an. "Sigismund ist schon tot. Wir können uns keine weiteren<br />

Verluste mehr leisten."<br />

In diesem Augenblick hatte er sein Ziel erspäht - einen blinkenden Helm im Schilf, wo tatsächlich mehrere<br />

Schützen auf der Lauer lagen. Der Inquisitor nahm Druckpunkt. Er wusste, dass er kein allzu begnadeter<br />

Armbrustschütze war, aber er vertraute auf Praios. Mit einem Stoßgebet zum Götterfürsten sandte er das Geschoss<br />

zu seinem Ziel. Als wäre er ein Flinker Ferdoker, drehte sich der Gardist mit einem jähen Ächzen um die eigene<br />

Achse und stürzte in den Bach. Dann sprang Selbfried in Deckung, denn als Erwiderung surrten nun mehrere<br />

Pfeile heran.<br />

"Estibora, nimm sie mit deinem Bogen unter Beschuss!" Selbfried riss mit der bloßen Hand die Sehne zurück und<br />

spähte nach den Bolzen. Dann sah er, wie die Schmugglerin, die quer durch den Raum abkürzen wollte, in der<br />

Bewegung innehielt. Sie lehnte sich, <strong>von</strong> einem Geschoss in die Brust getroffen, an einem nunmehr nutzlosen<br />

Stützbalken. Der Bogen entglitt ihren kraftlosen Händen, dann kippte sie in eine der Pfützen auf dem Boden. Zwei<br />

weitere Pfeile bohrten sich in ihren Rücken.<br />

Dann ebbte der Beschuss ab. Offenbar ging den Gardisten nun doch die Munition zu Neige. "Zum Angriff!" brüllte<br />

eine grelle Stimme. "Xarfai mit uns! Rache für den Hauptmann!"<br />

Nun galt es, sich auf den Nahkampf vorzubereiten. Alrik stand noch auf Posten, Alrijiana schien ebenfalls noch<br />

kampffähig zu sein, selbst Sturmfejian hatte bei allen Schmerzen noch den Kurzbogen an sich gezogen. Aber wo<br />

um alles in der Welt war Hesindian?<br />

Mit einem gurgelnden Laut schlug Mercurio Mirhamdez auf den felsigen Untergrund des Meeres auf. <strong>Das</strong> Wasser<br />

war hier, nahe den Felsen, bereits übermannstief. Seinen Dreispitz, den er, einem Reflex folgend, festgehalten<br />

hatte, schoss nach oben.<br />

Der Pirat drehte sich halb herum und tastete nach den beiden Pfeilen. Sie waren nur mit der Spitze, nicht den<br />

Widerhaken, in seinen Leib eingedrungen, dem Armatrutz sei Dank. Die Wunden brannten ob des Salzwassers<br />

niederhöllisch. Diese miesen kleinen Kanalratten - das hatte er nun da<strong>von</strong>, dass er Belharharpaktierern vertraute.<br />

Mit kräftigen Schwimmbewegungen steuerte er ein Tangfeld an, um sich darin zu verbergen. Seitdem er seinen<br />

Pakt mit der Tiefen Tochter geschlossen hatte, verspürte er unter Wasser nicht mehr den geringsten Atemdrang und<br />

konnte sich beinahe so lange in ihrem Element bewegen wie ein tulamidischen Perlentaucher. Mercurio war sich<br />

nicht ganz sicher, ob er dabei nicht irgendwann ersticken würde, ohne es zu merken. Aber bislang war er immer<br />

rechtzeitig aufgetaucht. Merkwürdig verspürte er hernach an der Luft entsetzliche, lähmende Atemqual, die in etwa<br />

so lange andauerte, wie er getaucht hatte, ganz so, als würde er auf kurz oder lang die Eigenschaften eines Fischs<br />

annehmen.<br />

Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt für derartige Gedanken. Auch wenn er den Gardisten ihre Heimtücke<br />

gerne vergolten hatte, auf einen offenen Kampf würde er sich schwerlich einlassen können. Draußen klatschten<br />

Pfeile in die Bucht. Die Gardisten nahmen diesen Odilon unter Beschuss. Offenbar hielten sie ihn, Mercurio, also<br />

bereits für tot, ersoffen wie eine Bilgenratte. Gut so.<br />

Was scherten ihn diese stumpfsinnigen Befehlsempfänger des Hauptmanns! Die beiden Kratzer lohnten ja nicht<br />

einmal einen Heilzauber. Odilon Wildgrimm - dem Mittelreicher galt sein ganzer Hass! Wie weit hätten sie es im<br />

Gespann bringen können, er als Piratenkapitän und dieser Teufelskerl als sein erster Offizier! Aber der Verräter<br />

hatte seine Hand ausgeschlagen - und Mercurio hing zu sehr an seiner gesunden Rechten, als das er so etwas<br />

einfach auf sich beruhen lassen konnte.<br />

Der Xeraanier tastete nach dem Amulett, das er eigens für derartige Fälle um seinen Hals trug. Wer immer sich<br />

hinaus auf Charyptoroths nasses Reich wagte, musste sich rechtzeitig vor dem Ertrinkungstod wappnen.<br />

Mercurio stimmte sich auf den Zauber ein, den er vor langer Zeit auf den Haifischzahn gesprochen hatte, der an<br />

einem Lederriemen neben ihm hochtrieb. Tatsächlich - etwas geschah mit seinem Körper. Seine Sinne schärften<br />

sich, Blutgeruch drang in seine Nase und weckte Lust auf Töten und Zermalmen. Der Stoff seiner Gewänder<br />

begann zu spannen und schließlich ratschend zu zerreisen. Die Verwandlung hatte begonnen.<br />

Hesindian schob den Riegel des Fensters beiseite und sprang nach draußen. Geduckt lief er auf die Stelle zu, wo<br />

Efferjiane noch immer zum Herzerweichen schrie. Hakenschlagend lief er auf sie zu, ohne auf die Pfeile zu achten,<br />

die neben ihn in den Boden fuhren oder am ARMATRUTZ abprallten. Mit gezücktem Nachtwind stürzte sich einer<br />

der Gardisten auf ihn, dicht gefolgt <strong>von</strong> einem zweiten. Wie ein Messer fuhr Hesindians Zauber in den Kopf des<br />

Angreifers:<br />

"PARALÜ PARALEIN - sei starr wie Stein!"<br />

Der Mann erstarrte mitten in der Bewegung, als wäre der ganze Kampf nur ein absurdes Kinderspiel. Sein Gefährte<br />

lief geradewegs in einen FULMINICTUS und stürzte zu Boden. Der Magier warf sich hinter der "Statue" in<br />

Deckung, <strong>von</strong> der nun zwei weitere Pfeile abprallten.<br />

244


Sein Blick huschte über die nunmehr ohnmächtige - oder tote? - <strong>Maraskan</strong>erin, die in Griffweite vor ihm lag, über<br />

die Gardisten, die aus dem Bachbett auf ihn zugelaufen kamen, teilweise weitere Pfeile abschießend, und auf die<br />

Gardisten, die <strong>von</strong> den Seiten her vorrückten.<br />

Hesindian formte seine Hände zu einer Schale und blies sacht darüber.<br />

"IGNISPHAERO FEUERBALL"<br />

Mit sanftem Glosen bildete sich aus dem Nichts eine Feuerkugel und zischte als lodernder Schweifstern auf den<br />

Pulk der Soldaten zu, die nun über den Bachrand sprangen.<br />

Eine dumpfe Explosion. Gierige Flammen leckten über Mäntel und Köpfe hinweg, setzten Schilf in Brand,<br />

verzehrten Fleisch und schmolzen Stahl.<br />

Hesindian lief aus der Deckung. Mit Befriedigung sah er, wie die überlebenden Kämpfer vor ihm zurück wichen<br />

und sich darauf beschränkten, Pfeile auf ihn abzuschießen. Drei, vier Gardisten wälzten sich schreiend am Boden,<br />

einer lag bereits still. Der Edle <strong>von</strong> Orweiler riss den dürren, blutigen Leib des Mädchens an sich, dass ebenfalls<br />

einige Brandwunden abbekommen hatte und lief damit auf den Schrein zu, ohne sich noch einmal umzublicken.<br />

Odilon kämpfte mit der Strömung und der Brandung. Es hätte ein schöner Tag werden können, mit<br />

strahlendblauem Meer und warmer Sonne, aber er war nicht zur Sommerfrische hier. Dieses Meer war abgrundtief<br />

böse, und die Pfeile gut gezielt. Immer wieder tauchte er in die Tiefe, während Geschosse neben ihm einschlugen,<br />

wie Sturmtaucher auf der Jagd nach Fischen, eine silbrigweiße Spur aus Bläschen hinter sich herziehend. Die Jagd<br />

würde nicht ewig so weitergehen können. Er brauchte Luft, Luft und einen Augenblick Erholung.<br />

Sein Kopf stieß durch das salzige Wasser. Seine Haare klebten in seinen Augen, darum sah er die Rückenflosse, die<br />

vom Strand her auf ihn zuglitt, erst sehr spät. Ein schwarzweiß gestreifter Körper <strong>von</strong> Übermannslänge bewegte<br />

sich mit tödlicher Eleganz auf ihn zu.<br />

Ein Streifenhai! <strong>Das</strong> fehlte ihm gerade noch. Instinktiv sah er sich um - die Biester griffen gerne im Rudel an. Der<br />

hier war allein.<br />

Von der Seite her stupste ihn ein Stock, ein Stück Treibholz, an. Nun, ein Stock, der neben ihm im Wasser trieb,<br />

würde ihn in diesem Kampf wenig nützen.<br />

Oder doch? Mit einem länglichen Gegenstand konnte er einen derartigen Gegner vielleicht leichter auf Distanz<br />

halten. Dann glitt seine Hand zu dem Messer an seiner Seite. Der Hai schoss nun zielstrebig auf ihn zu. Kein<br />

Zweifel, er sah ihn als seine nächste Beute an. Bis zum Strand würde es Odilon nicht mehr schaffen, das wusste er.<br />

Also tauchte er unter. Wenn, dann hatte er nur unter Wasser eine Chance.<br />

Ein riesiges, zahngespicktes Maul rauschte auf ihn zu, während ihn leblose Fischaugen kalt musterten. Die linke<br />

Flosse, irgendetwas stimmt mit seiner linken Flosse nicht, dachte Odilon noch, dann prallte der Raubfisch auch<br />

schon heran. Der Waldläufer stieß mit der Stockspitze nach der Schnauze des Tiers. Der Hai wich leicht aus, und<br />

Odilon versuchte ihm die Klinge in die fünf Kiemenschlitze zu stechen, die nun an seinem Gesichtsfeld<br />

vorbeiglitten. Überraschend warf das Tier seinen Kopf herum, und Odilon wurde das Messer aus der Hand<br />

gerissen. Auf Nimmerwiedersehen verschwand die Waffe in der Tiefe. Raue Haihaut riss Odilons Gesicht auf, ein<br />

Schlag gegen die Nase betäubte ihn für einen Moment.<br />

<strong>Das</strong> also ist das Ende, dachte er, als der Hai einige Schritt entfernt zu einem weiteren Angriff ansetzte. In einer<br />

namenlosen Bucht bei <strong>Maraskan</strong> <strong>von</strong> einem Streifenhai gefressen. Welch unrühmliches Ende für einen Recken der<br />

Ogerschlacht!<br />

Ein weiterer Schatten glitt vom offenen Meer her heran. Sein Blut lockte offenbar die Gefährten des Streifenhais<br />

an. Dann musste er sich wieder seinem ersten Gegner zuwenden, der mit weit auseinander geklappten Kiefern auf<br />

ihn zuschoss. Als Odilon die verkrüppelte linke Flosse sah, begriff er zumindest intuitiv, dass es Mercurio sein<br />

musste, der ihn hier in Fischgestalt angriff. <strong>Das</strong> Gefühl hatte fast etwas Tröstliches: Wenigstens <strong>von</strong> einem<br />

rachsüchtigen Charyptorothpaktierer, nicht <strong>von</strong> einem Tier aus reinem Fressinstinkt getötet.<br />

Ein zorniges Quietschen ertönte. Der Rammstoß des Delphins traf den Hai <strong>von</strong> der Seite, direkt in die Kiemen -<br />

dort wo er tödlich war. In einer Wolke aus Fischblut wurde der massige Leib des Haies beiseite gedrückt, vorbei an<br />

Odilon, der für einen Augenblick nicht mehr klar denken konnte. Mit geöffnetem Maul verschwand der Kadaver<br />

aus seinem Blickfeld. Der weiche, glatte Leib des Efferdtieres stieß den Baernfarn beiseite, ein unbeabsichtigter<br />

Flossenschlag ließ den Baernfarn benommen durchs Wasser taumeln. Wo die Götter eingreifen, nehmen sie wenig<br />

Rücksicht auf das Wohlbefinden der Sterblichen, war sein erster klarer Gedanke, als er mit geprellter Nase an die<br />

Oberfläche kam.<br />

Dann surrten wieder Pfeile heran. War er noch immer in Reichweite der Bogenschützen? Erst jetzt sah er, dass die<br />

Gardisten nicht auf ihn, sondern auf einen blutigen Menschenkörper zielten, der in einiger Entfernung im Wasser<br />

rollte. Tatsächlich schlug nun ein Pfeil in den leblosen Leib ein, dem offenbar ein Arm fehlte. Sie halten Mercurios<br />

Körper für den Meinigen, dachte Odilon. Er beschloss, seinen Vorteil zu nutzen und so schnell wie möglich zum<br />

Ufer zu tauchen.<br />

Er fischte nach dem treibenden Stock, der ihm Glück gebracht hatte, und tauchte erneut ins Wasser. Ein<br />

schnatterndes, durchdringendes Geräusch ertönte. War das der Siegesruf des Delphins? Odilon bildete sich ein,<br />

245


einen verschwommenen Schatten in Richtung Meer gleiten zu sehen, dann konzentrierte er sich lieber aufs<br />

Schwimmen. Mit letzter Kraft erreichte er das rettende Ufer und taumelte keuchend in Richtung Unterholz.<br />

Andromejia reagierte schnell. Noch bevor die fünf heran waren hatte sie ein Messer gezogen und geworfen. Die<br />

fließende Bewegung des Ziehens und Werfens <strong>von</strong> Messern war der Diebin in Fleisch und Blut übergegangen.<br />

Berthel, dem der Stahl in die Kehle fuhr, merkte gar nicht, wie ihm geschah. Der vorderste der Angreifer war zu<br />

Boden gegangen, und einen Augenblick lang zögerten die verbliebenen vier. Andromejia nutzte diesen kurzen<br />

Moment, um zu fliehen. Sie war wendiger und schneller als die schwer gerüsteten Söldner, und zudem mit dem<br />

Wesen des Dschungels vertrauter als ihre Gegner. So gelang es ihr, Schutz im Dickicht des Waldes zu finden, wo<br />

die Soldaten sie aus den Augen verloren. Mit einem kaum hörbaren Fluch bedachte Andromejia die Verräter. Sie<br />

würden den Tag noch verfluchen, an dem sie geboren wurden.<br />

Die <strong>Maraskan</strong>erin huschte, geschickt die Deckung der Büsche und Bäume ausnutzend, westwärts.<br />

Dreizehnmalverfluchtes Nuraner Pack! Sie würde sich jeden <strong>von</strong> Ihnen vorknöpfen, alle schön der Reihe nach.<br />

Jetzt musste sie erst einmal wieder zurück zu ihren Bütteln. Schließlich hatte sie ja noch die fünf Jerganer unter<br />

ihrem Befehl.<br />

Andromejia erreichte mit einigen schnellen Schritten die Erdverwerfung, hinter der ihre fünf Büttel mit Wilbert und<br />

Kunibald Stellung bezogen hatten und gerade dabei waren, eine weitere Salve Pfeile in die Kapelle zu schießen. Im<br />

Laufen zog sie ein weiteres Messer aus ihrem Gürtel und warf es. "Schnappt sie Euch, das Verräterpack!" rief sie<br />

ihren Bütteln zu. <strong>Das</strong> geworfene Messer stakte aus der Brust Wilberts. "Na los, macht ihn nieder, den Verräter!"<br />

wiederholte Andromejia.<br />

Die Jerganer waren überrascht. Gerade eben noch waren die Nuraner ihre Mitstreiter, und nun sollten sie Verräter<br />

sein? Irritiert folgten sie dem Befehl zögerlich und töteten Kunibald nicht sofort. Lediglich zogen Erkan und<br />

Abelmir ihre Säbel und bedrohten Kunibald.<br />

"Lass die Waffe fallen!" herrschte Abelmir Kunibald an. Kunibald, der um Pomoderas Auftrag wusste, ahnte wie<br />

ihm geschlagen hat. Gab er auf würde Andromejia ihn töten. Die <strong>Maraskan</strong>erin kannte gewiss keine Gnade. Also<br />

griff er an. Es war das letzte was er tat. Abelmir und Erkan streckten ihn nieder. Wilbert, todwund getroffen, gelang<br />

es noch, seinen Säbel zu ziehen. Aber Andromejia war schneller und erledigte ihr blutiges Handwerk.<br />

"Da ist sie!" rief Algor und deutete auf Andromejia, die gerade ihren Dolch aus Wilberts Brust zog. "Eiger, Fred,<br />

helft uns!" Hertha rief die Gefährten um Verstärkung.<br />

Noch ehe die Gerufenen jedoch herangeeilt waren entbrannte unter den Soldaten aus Jergan und Nuran ein wildes<br />

Gefecht. Algor stach nach Abelmir, verfehlte jedoch. Den Hieb Zornbrechts jedoch übersah er. Sein Brüllen ging<br />

<strong>von</strong> einem überraschten zu einem schmerzverzerrten Klang über, als er seines abgehackten Armstumpfes Gewahr<br />

wurde. Rotes warmes Blut spritzte im Rhythmus seines schlagenden Herzens aus der Wunde. Binnen Minuten<br />

würde er verbluten, das wusste Algor. Mit Todesverachtung schlug er nach Zornbrecht und stach diesem ins Bein.<br />

Dann setzte ein Hieb Erkans nach seinem Rücken ihn endgültig außer Gefecht. Algor kippte vorne über. Eine<br />

wohlige Bewusstlosigkeit nahm ihm den Schmerz.<br />

Herthas Klinge fuhr mit grausem Geschick durch die Luft. Die Söldnerin täuschte kurz an und stach dann zu. Ihre<br />

Klinge drang in die Brust eines weiteren Büttels ein. Abermals war es Zornbrecht, der die Angreiferin<br />

zurückschlug. Die Schmerzen in seinem wunden Bein nicht achtend trennte er mit einem mächtigen Hieb Hertha<br />

den Kopf vom Hals. Abelmir und Erkan knöpften sich Sighold vor. Geschickt ihre Überzahl ausnutzend griffen sie<br />

<strong>von</strong> zwei Seiten an. Bereits nach wenigen Augenblicken brach Sighold unter ihren Hieben zusammen. Fredegard<br />

ihrerseits tauchte unter einem Schlag eines Jerganers durch und stach nach Andromejia. Die Tuzakerin sah den<br />

Angriff spät. Sie konnte es nicht verhindern, dass die Klinge ihr den Unterarm über seiner ganzen Länge<br />

aufschlitzte. Andromejia schrie. Abermals war es Zornbrecht, der helfend einsprang. Er hieb der Angreiferin den<br />

Knauf seines Schwertes mit immenser Kraft über den Schädel, so dass diese reglos zusammenbrach.<br />

Fred und Eiger hielten, diese beeindruckende Demonstration <strong>von</strong> Kampfkraft gewahrend, respektvollen Abstand<br />

und griffen anstatt zu den Klingen zu ihren Kurzbögen. In rascher Folge schossen sie ihre Pfeile ab. Ein Jerganer<br />

sank todwund getroffen zu Boden. Andromejia stürmte mit den verbleibenden drei Gefährten vorwärts. Den beiden<br />

Nuranern blieb kaum Zeit, abermals die Klingen zu ziehen, als die Jerganer schon über ihnen waren und mit<br />

kräftigen Hieben deren Leben ein Ende setzten.<br />

"Dieser verfluchte Jobst Brackenburger hat das ausgeheckt. Er wollte den Schatz im Tal der Glühwürmchen für<br />

sich alleine haben!" erläuterte Andromejia ihren verbliebenen Gefährten. "Wisst ihr was, Leute? Sollen die<br />

Drecksnuraner sich doch den Schädel einrennen bei den Rebellen in der Klause. Wir machen uns jetzt vom Acker.<br />

Wenn wir uns nach Norden in Sicherheit bringen und in Jergan vom Verrat der Nuraner berichten, dann werden<br />

diese Halunken sich schon noch dafür verantworten müssen." Dem Befehl fügten sich die Jerganer Büttel nur zu<br />

gerne.<br />

Berschin sah auf den kümmerlichen Rest seiner Leute. Dieser verfluchte Magus mit seinem Feuerball hatte drei<br />

seiner Recken niedergerafft. Er konnte es <strong>von</strong> seinem Standort aus nicht erkennen, ob sie tot oder nur verletzt<br />

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waren, aber kampfesfähig waren sie keinesfalls mehr. Der Angriff, den seine Mannen wagemutig vorgetragen<br />

hatten, war durch das Wüten des Magiers aufgehalten worden. Schlimmer noch: Nur noch drei Soldaten seines<br />

Trupps waren einsatzbereit. Nun, er wusste, dass ein Versteinerungszauber nicht ewig vorhalten würde, und dass<br />

auch die durch die feindliche Kampfmagieverletzten Gefährten wohl noch am Leben waren. Allein, das half ihm<br />

nicht viel. Seine Männer waren besinnungslos vor Schmerzen. Dieses hirnlose Anrennen, das Jobst Brackenburger<br />

befohlen hatte, schien sich in ein schlimmes Gemetzel verwandelt zu haben. Der Hauptmann gefallen, zahlreiche<br />

Soldaten tot oder verwundet. So konnte das nicht weitergehen. Sie hatten die Rebellen grob unterschätzt.<br />

"Wolbert, Du siehst im Osten nach dem Rechten. Sieh nach, wie viele <strong>von</strong> Jobsts Leuten noch kämpfen können und<br />

sag ihnen, dass ich jetzt nach Jobsts Ableben das Kommando führe."<br />

"Jawohl, Weibel!" salutierte der Angesprochene.<br />

"Schick zwei <strong>von</strong> ihnen zu mir. Im Süden sind wir sonst zu wenige, um sie unter Beschuss nehmen zu können. Und<br />

dann sieh nach, wie es um Pomoderas Flügel steht." Berschin konnte <strong>von</strong> seiner Position aus nicht erkennen, was<br />

sich im Norden der Kapelle abspielte. Er sah lediglich Pomodera und ein paar Getreue am Ufer stehen und hatte<br />

auch das Ende des Charypthorothverfluchten Piraten miterlebt, aber die Sicht auf alles weitere war ihm durch die<br />

Kapelle verwehrt. Wolbert nickte und machte sich an die Erledigung seines Auftrages.<br />

"Und ihr beide, pirscht Euch noch mal in der Deckung des Bachlaufes ran und seht zu, dass ihr die Verwundeten<br />

bergt!" befahl Berschin seinen beiden verbliebenen Soldaten.<br />

Selbfried sah sich um. Es schien, als hätten die Soldaten nach Hesindians beeindruckender Demonstration erst<br />

einmal genug, den schon ein paar Minuten ließ sich niemand blicken, auf den man hätte schießen können. Oder<br />

waren endlich Rebellen zur Rettung im Anmarsch? Der Inquisitor wusste es nicht. Aber es würde Zeit, er hatte die<br />

Ankunft der Sira Jerganak schon viel früher erhofft. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebten. Vielleicht<br />

sollten sie alle dankbar sein, dass nur Sigismund, Haldorban und Vegsziber gefallen waren. Aber ob Efferjiane und<br />

Estibora ihre schweren Verletzungen lange überleben würden war eher zweifelhaft. Estibora lag regungslos,<br />

vielleicht hatte sie auch schon Eingang in Borons Hallen gefunden. Von Efferjiane war gelegentlich ein Stöhnen zu<br />

hören, das aber auch immer mehr ermattete.<br />

Des Inquisitors Blick streifte Alvan und Sigismund. Die zierliche Halbelfe war unter Sigismunds Leib begraben,<br />

das war wohl ihr Glück. Einige Pfeile stakten in Sigismunds Leib, die sonst Alvan wohl den Rest gegeben hätten.<br />

Immerhin, die Halbelfe atmete noch. Allein, eine Hilfe im weiteren Kampf würde sie wohl nicht sein, ebenso<br />

wenig wie Gunelde. Raulines Brust hob und senkte sich langsam. Die Soldatin war zäher als er dachte, er hatte<br />

angenommen dass die Gefangene dem Beschuss ihrer eigenen Leute zum Opfer gefallen war. Zwei Pfeile stakten<br />

in ihrem Leib. Der eine da<strong>von</strong> hatte wohl die Lunge getroffen, dem pfeifenden und rasselnden Geräusch nach. Aber<br />

das Weib war verdammt zäh. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, die Feindin zu töten, solange er<br />

noch dazu in der Lage war. Aber er verwarf den Gedanken. Schließlich war das immerhin ein Tempel, geheiligter<br />

Boden, auf dem die Heiligen Zwölfe sogar einer fehlgeleiteten Priesterin die Bitte nach einem Wunder gewährten.<br />

Da durfte er so nicht handeln. Außerdem, wer wusste denn schon, ob sich noch ein tieferer Sinn hinter dem<br />

Überleben Raulines verbarg. Verdammt, jetzt begann er auch schon so verquert zu denken wie diese spitzohrige<br />

Priesterin.<br />

Jedenfalls waren nur noch Hesindian, Alrik und Alrijiana auf den Beinen. Sturmfejian war zwar bereit, bis zum<br />

letzten Atemzug zu kämpfen, aber ob der Rebell noch eine große Hilfe war bezweifelte Selbfried. Und wie es um<br />

Odilon stand wusste er auch nicht. Er hatte ihn zuletzt auf dem Steg rennen sehen, ihn dann aber als die Flut<br />

hereinbrach aus den Augen verloren. Er war ja ein zäher Hund, dieser Gallyser Waldläufer. Vielleicht hatte er sich<br />

retten können. Allein, ihm hier in der Kapelle war damit auch nicht geholfen.<br />

"Bei Belhalhar, das Weibstück lebt noch!" rief Pomodera aus, als sie Andromejia erblickte. Was hatte das zu<br />

bedeuten? Wie konnte diese Schlampe aus Tuzak den Angriff <strong>von</strong> fünf guten Soldaten überlebt haben? Egal, das<br />

würde sie später klären. "Na los dann, Hassen und Kemal, schießt das Luder nieder. Und ihre Handlanger auch<br />

gleich!" Andromejias Überleben konnte nur bedeuten, dass ihre Leute gefallen waren. Wie auch immer sie das<br />

geschafft hatte, jetzt würde sie das Thargunitoth holen. Hassen und Kemal schossen nahezu gleichzeitig.<br />

Andromejia schrie auf und stürzte zu Boden, als der Pfeil ihre Wade traf. Der zweite Pfeil verfehlte. Mit einem<br />

Aufschrei des Erschreckens sprangen Abelmir und Erkan hinter Bäume in Deckung. Nur Zornbrecht reagierte zu<br />

spät. Argos Pfeil hatte ihn in die Brust getroffen.<br />

Odilon hatte sich an Land gezogen und hatte im Gebüsch Zuflucht gesucht. Jetzt verschaffte er sich erst einmal<br />

einen Überblick. Von seinem sicheren Standpunkt aus hatte er Hesindians wagemutigen Ausfall beobachtet. Alle<br />

Achtung, zollte der Waldläufer seinen Respekt. Der Knabe hatte wirklich Mut. Vor allem wusste er jetzt, dass die<br />

unheilvolle Welle nicht das Ende seiner Gefährten mit sich gebracht hatte. Auch das hatte etwas Beruhigendes. Die<br />

Kapelle selbst sah ja wüst zugerichtet aus. Die Mauern standen zwar noch, aber vom Dach war nicht mehr viel<br />

übrig geblieben. Und die Tür war ebenfalls verschwunden, der Zugang zur Kapelle somit frei.<br />

247


Allerdings hatten die Angreifer auch schon starken Blutzoll lassen müssen. Und das Beste: Endlich hatten sie<br />

Unterstützung <strong>von</strong> einer Vorhut der Rebellen erhalten. Leutnant Pomodera und ihre Leute wurden <strong>von</strong> Pfeilen<br />

eingedeckt, die aus dem Wald kamen. Es war aber auch Zeit geworden, lange hätten seine Gefährten die Kapelle<br />

nicht mehr verteidigen können. Seltsam nur, es waren nur drei Rebellen. Odilon erkannte nur drei Bäume, hinter<br />

denen sich offenbar Rebellen verschanzt hatten. Man könnte doch wohl meinen, die Sira Jerganak hätten mehr als<br />

nur drei Kämpfer geschickt um einer solchen feindlichen Macht Herr zu werden. Immerhin, auf der Nordseite der<br />

Kapelle hatten sie es auch nur noch mit wenigen Gegnern zu tun. Da hatten die Rebellen wohl schon gut<br />

aufgeräumt unter den Haffaxijas. Nur ein mageres Häuflein <strong>von</strong> drei Getreuen hatte die Befehlshaberin in diesem<br />

Gefechtsabschnitt unter ihrem Kommando. Odilons Hand spannte sich fester um den Stab, der ihm zugetrieben<br />

war. Gut anderthalb Schritt lang und recht fest. Er könnte sich anpirschen und die Rebellen unterstützen. Die<br />

Soldaten waren beschäftigt genug, um ihn nicht zu bemerken, wenn er sich den Strand entlang anschlich. Die<br />

felsige Küste bot ihm genug Deckung. Vorsichtig kroch Odilon zu den Soldaten heran. Dabei konnte er das weitere<br />

Geschehen nicht beobachten, da die Felsen ihm die Sicht versperrten, wenn er nicht offen sichtbar den Strand<br />

entlang spazieren wollte.<br />

Als Odilon heran gekommen war bot sich ihm ein überraschendes Bild. Es schien fast als würden die Rebellen<br />

keine Hilfe benötigen. Drei Soldaten lagen erschossen am Strand, lediglich die Befehligerin hatte sich noch hinter<br />

Felsen verschanzt, fluchte vor sich hin und schoss nach den Rebellen - Odilon erkannte eine anmutige<br />

<strong>Maraskan</strong>erin und einen garethisch aussehenden Recken. Der dritte Rebell, der vorhin noch geschossen hatte, war<br />

wohl gefallen. Jedenfalls konnte Odilon keinen dritten Schützen erspähen. Halt. Bewegte sich da nicht noch jemand<br />

im Wald. Allerdings nicht dort, wo Odilon den dritten Rebellen vermutete. Nein, weiter hinten. Ein anderer<br />

Kämpfer, ein Soldat der Nuraner, schlich sich im Rücken der Rebellen an. Schon spannte er den Bogen. Odilon<br />

musste handeln, sonst wäre es um die Verbündeten geschehen.<br />

Mit einem gewaltigen Satz sprang er <strong>von</strong> dem Felsen, der ihm Deckung und Übersicht geboten hatte, herab.<br />

"Hinter Euch, Rebellen!" rief er eine Warnung aus. Dann landete er unsanft auf dem Geröll am Strand und rappelte<br />

sich, den Stock in der Hand, auf, um Pomodera anzugreifen. Die Soldatin, überrascht <strong>von</strong> dem neuen Feind, drehte<br />

sich herum und schoss einen Pfeil ab. Allerdings ungezielt. Der Pfeil verfehlte Odilon deutlich. Ehe Pomodera<br />

einen neuen Pfeil ziehen konnte drosch Odilon ihr den Stock über den Schädel. Pomodera sackte zusammen.<br />

Odilon nahm sich nicht die Zeit zu überprüfen, ob Pomodera tot oder lediglich besinnungslos war. Er stürmte<br />

vorwärts um den Rebellen zu helfen. Für den einen der Rebellen war die Hilfe ohnehin zu spät gekommen. Der<br />

Soldat hatte einen Pfeil abgeschossen und den Getreuen mit einem Schuss ins Gesicht nieder gestreckt. Die<br />

Rebellin war schon verletzt, sie blutete an Arm und Bein, und der Angreifer hatte den Bogen fallen gelassen und<br />

ging sie mit seinem Säbel an, und die Rebellin hatte nur einen Dolch in der Hand. Odilon stürmte vorwärts. Der<br />

Stock sauste hernieder, und Odilon vernahm deutlich das Knacken brechender Knochen, als der Hieb den Unterarm<br />

des Angreifers zertrümmerte. Der Säbel entglitt dem Soldaten. Ein böses Lächeln umspielte die Lippen der<br />

Rebellin, die mit lasziv anmutender langsamer Bewegung mit ihrem Dolch die Kehle des Soldaten durchschnitt.<br />

Wolbert starb rasch.<br />

Odilon würgte. Noch immer verspürte er kein angenehmes Gefühl, wenn ein Wehrloser getötet wurde. Aber<br />

schließlich wollte der Soldat noch eben die Rebellin töten. Der Dschungel kannte keine Gnade, die Käfer nicht, die<br />

Spinnen nicht und auch nicht die Menschen aus dem Dschungel. Er würde sich nie daran gewöhnen können.<br />

Odilons Blick fiel auf die verwundete <strong>Maraskan</strong>erin. Unvermutet begann sein Herz schneller zu schlagen, als er<br />

sah, wie sich die Brüste der Rebellin unter schnellem atmen hoben und senkten. Wie konnte er in dieser Situation<br />

nur daran denken! Er zwang sich, seine Gedanken zu sammeln. Die Rebellin war schwer verwundet. Verdammt,<br />

was für ein verführerisches Lächeln! Odilon schüttelte den Kopf.<br />

„Wurde aber auch Zeit, dass ihr kommt. Lange hätten wir nicht mehr durchgehalten in der Kapelle." Sagte er<br />

knapp, nur um irgendetwas zu sagen. Andromejia verstand erst nicht. Aber sie kombinierte rasch. Der bärtige<br />

Recke, der ihr zu Hilfe gekommen war, musste der Schlächter <strong>von</strong> der Fran-Horas sein, <strong>von</strong> dem Mercurio erzählt<br />

hatte. Offenbar hielt er sie für eine Rebellin und damit für eine Verbündete. Na denn, es war wohl günstig, ihn in<br />

dem Glauben zu lassen. Solange nur nicht die echten Rebellen auftauchten und ihre Tarnung durchkreuzten.<br />

Andromejia setzte ein ermattetes Lächeln auf. Viele Männer waren da<strong>von</strong> angetan, wenn eine Frau die männliche<br />

Beschützerrolle dankbar anerkannte. Mit Männern hatte sie viel Erfahrung. Und ihrem Auftrag mochte es dienlich<br />

sein, diesen Kämpfer ihr verfallen zu lassen, und darüber hinaus brauchte sie Schutz, wenn noch weitere Soldaten<br />

der vermaledeiten Nuraner ihr ans Leder wollten. Schwester Belkelel mochte ihr dabei helfen. Nicht umsonst hatte<br />

sie ihre Seele der Herrin des ungezügelten Begehrens geopfert.<br />

"Danke" hauchte sie. "Ja, meine Gefährten und ich haben bemerkt, dass die Schwesterlosen diese Klause<br />

attackieren. Da war uns klar, das hier jemand unsere Hilfe braucht. Leider haben sie uns bemerkt, als wir uns<br />

anpirschten. Hätte mich wohl beinahe das Leben gekostet."<br />

"Dann war es Zufall, dass ihr hier wart? Gehörst Du nicht zu den Sira Jerganak, die uns schon seit Stunden zu Hilfe<br />

kommen sollten?" Aha, dachte Andromejia. Die Sira Jerganak werden erwartet. Dann wäre es wohl falsch, sich als<br />

248


eine <strong>von</strong> dieser Rebellengruppe auszugeben, sollte ihre Tarnung nicht auffliegen. "Nein. Ich... Wir... sind <strong>von</strong> den<br />

Dajinim." <strong>Das</strong> war die einzigste andere Rebellengruppe der Gegend, die sie vom Namen her kannte.<br />

"Ah..." stammelte Odilon. Der wohlige Geruch Andromejias betörte ihn. Verdammt, wie lange ist es her, dass ich<br />

Jirka nicht gesehen habe. Der Waldläufer versuchte, sich auf Jirkas Antlitz vor seinem inneren Auge zu<br />

konzentrieren. "Jetzt scheint erst einmal Ruhe zu sein. Ist wohl am besten, ich bringe Dich in die Klause, wo wir<br />

Deine Wunden verbinden können. Nachdem hier im Norden der Klause kein Feind mehr steht hindert uns ja<br />

niemand daran."<br />

Kurz vor Morgengrauen. Auf dem <strong>Maraskan</strong>sund...<br />

***<br />

Kapitän Olsan Efferdtod reckte das Kinn und sah über das Achterdeck der "Dämonenkrone", die wie eine<br />

Nachahmung der Dämonenarchen Xeraaniens über das nächtliche Perlenmeer glitt. Nur das Klatschen der<br />

Peitschen war <strong>von</strong> den Ruderbänken her zu hören, <strong>von</strong> wo ein wahrhaft pestilenzischer Gestank an seine Nase<br />

drang, das dumpfe Dröhnen der Trommel schwieg schon seit Einbruch der Dämmerung. Die Galeere flog dahin,<br />

weit und breit war nichts zu sehen. Wie auch bei dieser selemischen Finsternis. Der Kapitän hatte Zeit, seinen<br />

Gedanken nachzugehen. "Nachtwind", der Name passte.<br />

Am Nachmittag hatte seine Bordmagierin ihm mitgeteilt, dass sie in Jergan Jagd auf eine dreiste Schmugglerbande<br />

machen wollten, die ihr Versteck irgendwo an der Küste, auf der Höhe <strong>von</strong> Nuran hatten. Mochte die Tiefe Tochter<br />

wissen, wie sich diese Hexe Zachora mit den Halsabschneidern im Fürstenpalast verständigte, sie tat es und<br />

offenbar funktionierte es sogar ganz gut. Tatsächlich hatten sie die Zedrakke auch nahe am angegebenen Ort<br />

gefunden - eine unscheinbare Bucht, umgeben <strong>von</strong> Dschungel, Sumpf und Mangroven. Allerdings waren die<br />

Schmuggler noch nicht dazu gekommen, Anker zu werfen, und hatten sie rechtzeitig bemerkt. Dieses verfluchte<br />

Buggeschütz blinkte aber auch gegen die Sonne wie die Spiegel im Hurenhaus der Tränenreichen! Er hätte es<br />

schon längst einmal über Bord werfen müssen. Wer auch immer den nachtschwarzen Pott gesteuert hatte, Olsan<br />

bewunderte ihn ein wenig. Man musste schon verdammt gut sein, um einem wie ihm zu entwischen, Olsan<br />

Efferdtod. Der Dämonenkerl hatte sich mit seinen Kahn aus übelster Leeposition wieder aus der Bucht<br />

herausgewunden - verfluchte Drachenflügel! Man sollte diese Zedrakken eben nicht unterschätzen!<br />

Wie eine Schnecke über die Rasierklinge war der Alrech über das Riff hinweggerutscht, das die Bucht vom offenen<br />

<strong>Maraskan</strong>sund abschirmte. Schneidig, schneidig. Da war sicherlich keine Handbreit Wasser mehr unter dem Kiel<br />

gewesen, eher nur ein Fingerbreit. Natürlich, der <strong>Maraskan</strong>er kannte in "seiner" Bucht natürlich jeden Winkel und<br />

jeden Durchschlupf. Die Falle hatte nicht zugeschnappt, so wie sich Olsan das vorgestellt hatte. Nun denn, die<br />

Burschen hatten natürlich Heimvorteil, wie man beim Imman sagen würde.<br />

Schon als er noch Olsan Efferdlieb und kaiserlicher Seeoffizier gewesen war, hatten ihn diese tulamidischen Kästen<br />

den letzten Nerv gekostet. Man konnte ihnen so viele Rotzenkugeln in den Zedernholzrumpf jagen wie man wollte,<br />

kiellos und mit zahllosen Schotts unterteilt, wie sie waren, schien ihn dies nicht eben sehr viel auszumachen.<br />

Typisch <strong>Maraskan</strong>er – kein Rückgrat, und trotzdem nicht unterzukriegen, oder vielleicht gerade auch deswegen nur<br />

schwer zu fangen.<br />

Versonnen lächelnd sah der Kapitän zu, wie der spindeldürre Kadaver einer der Rojer <strong>von</strong> den Wachen nach oben<br />

gezerrt und über Bord geworfen wurde. Kein sehr fetter Happen für die Haie. Dieser maraskanische Schwächling<br />

würde sie nicht mehr an der Nase herumführen und die Flotte des Fürstkomturs durch seine fast schon an<br />

Aufsässigkeit grenzende Faulheit und Schwächlichkeit sabotieren. An das Verbrechen, das zu seinem <strong>Das</strong>ein als<br />

Rudersklave geführt haben mochte, wollte er lieber gar nicht erst denken. Tulamidenpack, heimtückische<br />

Sklavenseelen <strong>von</strong> Geburt an und nicht wert, anders behandelt zu werden als der Dreck und das Ungeziefer,<br />

zwischen dem sie hausten. Seit Helme Haffax Herr über die Käferinsel war, wurde wenigstens mit eiserner Hand<br />

durchgegriffen.<br />

Nur langsam hatte er gelernt, die Denkweise der Alrechs ein wenig besser zu verstehen. Auch wenn es natürlich<br />

eine Zumutung für einen brillanten, <strong>von</strong> Belhalhar wie Charyptoroth gesegneten Strategen wie ihm war, sich in die<br />

kruden Gedankengänge dieses Mindervolkes zu begeben.<br />

Man nehme nur diesen verflucht geschickten Kapitän der Nachtwind, dachte er. Stundenlang war der Bursche<br />

hinaus auf den offenen <strong>Maraskan</strong>sund gefahren, obwohl ihm der Wind dabei fast schon ins Gesicht geblasen hatte.<br />

Warum war der Sauhund nicht nach Süden oder Norden ausgewichen, mit raumem Wind? Hätte der hohe Seegang<br />

seiner Bireme nicht derart zu schaffen gemacht, die "Nachtwind" wäre leichte Beute geworden. Wäre sie ja fast<br />

auch, aber dann war die Nacht hereingebrochen und der schwarze Vogel auf Nimmerwiedersehen verschwunden.<br />

Was tun? Kurs halten, hatten seine Offiziere vorgeschlagen, der Wind hatte ja ständig nachgelassen, und spätestens<br />

bei Morgengrauen mussten sie den Schmuggler doch einholen, mit so vielen Löchern im Rumpf und der Takelage.<br />

Der Wind drehte leicht, also sollte man sein Glück vielleicht einmal etwas weiter südlich versuchen. Seine<br />

249


Offiziere, anständige Seeleute, würden es sicherlich noch weit bringen. Aber sie schafften es einfach nicht, einmal<br />

<strong>von</strong> einer wirklich überlegenen Warte an die Dinge heranzugehen.<br />

Olsan hingegen hatte schon sehr früh den Verdacht gehegt, dass der <strong>Maraskan</strong>er nur deswegen so halsbrecherisch<br />

hart am Wind fuhr, weil er seine Verfolger <strong>von</strong> der Bucht wegzulocken versuchte. Wie eine schwarze Amsel die<br />

Katze <strong>von</strong> ihrem Gelege. Gewiss doch, soweit der Kapitän verstanden hatte, wollte der <strong>Maraskan</strong>er sich dort mit<br />

weiteren Schmugglern treffen, die in ihrem Versteck an Land zeitgleich <strong>von</strong> der Karmothgarde ausgehoben werden<br />

sollten. Was wäre, wenn der Käferfresser nach Einbruch der Dunkelheit gewendet hätte, unbemerkt an ihm<br />

vorbeigefahren und jetzt wieder auf dem Weg zum Treffpunkt wäre?<br />

Also jagte die "Dämonenkrone" nun wie ein unermüdlicher Spürhund nach Osten. Selbst wenn die Nachtwind nicht<br />

irgendwo vor ihm war, die Gardisten an Land würden sich sicher über Verstärkung freuen.<br />

Langsam ging die Sonne auf. Die Küste <strong>Maraskan</strong>s schälte sich aus dem Dunst. Olsan hatte perfekt navigiert, wie<br />

immer, <strong>von</strong> hier bis zur Bucht waren es nur noch einige wenige Meilen. Schon nach kurzer Zeit wies ihm eine fette<br />

Rauchwolke über den Bäumen den Weg. Kein Zweifel, der Kampf war dort in vollem Gange.<br />

"Schiff in Sicht!" gellte es <strong>von</strong> der Spitze des Hauptmasts. Der Ausguck wies <strong>von</strong> der Küste hinweg zur offenen<br />

See. "Nein, es sind zwei!"<br />

Olsan zog sein Fernrohr aus und suchte die blaugrüne Kimmung ab. Tatsächlich, eine rabenschwarze Zedrakke.<br />

"Was kommt denn da angeflogen? Mein kleines Amselchen." Olsan kicherte leise. Er hatte den richtigen Einfall<br />

also sogar noch v o r dem maraskanischen Kapitän gehabt...<strong>Das</strong> bedeutete, dass er ihm wirklich überlegen war.<br />

Grandios, einfach grandios. Fast schon ein wenig selbstverliebt strich er sich über das pomadige Haar und wischte<br />

sich die Hand am nachtblauen Uniformrock sauber.<br />

Die "Nachtwind", kein Zweifel. <strong>Das</strong> Fernrohr glitt weiter, fand eine Möwe, dann eine tiefhängende Wolke.<br />

Schließlich ein weiteres Schiff. Von Südwesten her näherte sich eine schnelle Thalukke, mit Segeln wie<br />

Haifischflossen. <strong>Das</strong> blutige Lilienbanner der Fürstkomturei flatterte am Großmast. Noch großartiger. <strong>Das</strong> würde<br />

ein guter Tag werden.<br />

"Sieht ganz so aus, als hätten wir die schwarze Schlampe mächtig in die Enge getrieben!"<br />

Sogar ein sehr guter Tag. Triumphierend sah Efferdtod zu seinem Ersten, der genüsslich grinste, während die<br />

Bordmagierin Zachora ob seiner Wortwahl eher verdrießlich dreinblickte. Nun ja, er konnte das blasse, verwöhnte,<br />

ständig seekranke Persönchen ohnehin nicht sonderlich leiden. Wie lächerlich sie in ihrer mit Sternen und<br />

sonstigem Flitterkram bestickten Robe aus schwarzem Samt aussah. Nun denn, sie war mitunter ganz nützlich,<br />

darauf kam es an. Einige Leute waren halt einfach nicht borbaradial genug, um auch ohne Magie Erfolg im Leben<br />

zu haben. So wie er heute.<br />

"Schiff klar zum Wenden. Jetzt holen wir uns den Bastard!"<br />

Die "Dämonenkrone" rauschte auf die Zedrakke zu - leider nicht ganz so schnell, wie sich das Olsan Efferdtod<br />

vorgestellt hatte. Nach der nächtlichen Verfolgungsjagd waren die Rudersklaven heillos erschöpft, und sie fuhren<br />

jetzt wieder gegen den Wind und die Strömung an. Er gab Befehl, den Mast einzulegen. Diese schwächlichen<br />

<strong>Maraskan</strong>er. Jeder Goblin war diesem Pack an Kraft und Ausdauer überlegen. Kein Wunder, dass sie so<br />

heimtückisch waren, denn den offenen Kampf konnten sie in den seltensten Fällen wagen. Nun ja, an sich eine gute<br />

Eigenschaft bei Rudersträflingen. Wenn sie nur etwas schneller rudern und nicht so sehr nach Schweiß und<br />

Exkrementen stinken würden.<br />

Olsan grinste dennoch. Alles passte wunderbar, Charyptoroth würde ihm einen schnellen Sieg schenken. Die<br />

Thalukke hinter der "Nachtwind", das musste die "Sancta Bethana" unter Salvida Wergenwickler sein, ein<br />

pfeilschnelles Schiff und mindestens so wendig wie die Zedrakke.<br />

Erst als er die vielen bunt gekleideten Gestalten an Deck sah, erstarb sein selbstgefälliges Grinsen etwas. <strong>Das</strong><br />

waren nicht Wergenwicklers Leute, nein, das erspürte er sofort. Er erahnte Holzpanzer und Jerganmesser. Dieses<br />

Pack sah verflucht nach maraskanischen Piraten aus!<br />

War dies am Ende die "Schwarzer Stier", die vor einem Dämonenlauf auf halbem Weg zwischen Tuzak und Jergan<br />

verschwunden war, vermutlich <strong>von</strong> einem Sturm an die Küste geworfen oder <strong>von</strong> Irgendetwas aus Charyptoroths<br />

Tiefen geholt? Eine neue Fahne entfaltete sich nun am Großmast: Eine rote Maraske auf grünem Grund. Eine sehr<br />

gewagte Heraldik. Erneut machte sich Arroganz auf Olsan Gesicht breit. Nicht einmal Wappen konnten die<br />

<strong>Maraskan</strong>er richtig zusammenstellen.<br />

Stimmte am Ende das Gerücht doch, dass die vermisste Thalukke Rebellen der Sira Jerganak in die Hände gefallen<br />

war? Auffallend war, dass in den letzten zwölf Monden immer wieder Fischerburschen und -Mädchen aus den<br />

Küstendörfern südlich Jergans in den Dschungel gegangen waren, ganz so, als würden die Alrechs gezielt<br />

seefahrendes Volk anwerben.<br />

Die Thalukke korrigierte leicht ihren Kurs und hielt nun geradewegs auf die Galeere zu. Kein Zweifel, sie hatte die<br />

"Dämonenkrone" als neues Ziel auserkoren.<br />

"Schiff klar zum Gefecht!" kommandierte Olsan. Seine Finger verkrampften sich mehrmals nervös und entspannten<br />

sich dann wieder. Sie wagten ihn herauszufordern, ihn, einen für sein Alter mit am höchst dekorierten Offiziere der<br />

<strong>Maraskan</strong>ischen Flotte.<br />

250


Auf der "Roten Maraske" wurden in diesem Augenblick drei Dutzend Klingen gezogen und drohend in Richtung<br />

der Bireme geschwenkt. Sie wagten es also tatsächlich.<br />

Er musste diese Thalukke versenken, koste es, was es wolle. Ein Piratenschiff, das <strong>von</strong> den Mangrovenwäldern der<br />

Jerganer Küste aus operierte, war ein marinestrategischer Alptraum. Verstecke gab es genug.<br />

Wie ein Menetekel zog <strong>von</strong> der Bucht her schwarzer Rauch auf die Bucht heraus, einige Schwaden erreichten sogar<br />

die Dämonenkrone. Die Bugrotze begann zu schießen, ein Geschoss klatschte neben dem Rumpf der Thalukke ins<br />

Wasser. Ein weiteres zertrümmerte die Reling neben dem Bugspriet. Dann jagte das Ruderschiff auf den<br />

<strong>Maraskan</strong>er zu und bohrte sich krachend in dessen Seite, so heftig, dass Olsan zu Boden gerissen wurde. Der Stoß<br />

war gut gezielt und tödlich.<br />

Die meisten <strong>Maraskan</strong>er waren wild durcheinandergewirbelt wurden, Efferdtod bildete sich sogar ein, eine<br />

bepelzten Maraske zwischen ihren bunten Leibern zappeln zu sehen. Nein, das musste eine Sinnestäuschung sein.<br />

"Mit voller Kraft zurück! Dann nach Steuerbord wenden! Schnell..."<br />

Wie ein Ork, der seinen Arbach aus einem durchbohrten Gegner zieht, fuhr die "Dämonenkrone" zurück. Einige<br />

Schritt bewegte sie sich im Krebsgang rückwärts und kam taumelnd frei. Olsan rappelte sich auf und sah, wie sich<br />

die "Nachtwind" näherte, offenbar in der Absicht zu entern. Schnaubend wischte er sich ein Stäubchen <strong>von</strong> der<br />

Uniform. "Richtschütze, Hylailer Feuer auf die Zedrakke!" brüllte der Kommandant. Es dauerte quälend lange, bis<br />

die Waffe wieder geladen war, Zeit, in der sich die schwarze Zedrakke der Bireme bis auf Bogenschussweite<br />

näherte. Hornissenbolzen surrten über Deck, ein Seesöldner heulte getroffen auf. Armbrustschützen gaben die<br />

Antwort. Auch auf der Nachtwind schien es Trefferwirkung zu geben. Der Steuermann kippte um, und das Schiff<br />

lief aus dem Ruder.<br />

Nun schlug ein Brandgeschoss <strong>von</strong> der Dämonenkrone unterhalb des Großmastes ein. Flammen züngelten empor<br />

und lösten das blanke Chaos aus. Sandeimer wurden <strong>von</strong> Hand zu Hand gereicht, Matrosen taumelten umher,<br />

betäubt <strong>von</strong> Hitze und Rauch. Die Luft flimmerte und stank nach Öl. "Sollen wir ihnen mit dem Rammsporn den<br />

Rest geben?" wollte der Erste wissen. Olsan schüttelte den Kopf. "Nicht so forsch, lieber Steinbrecher, nicht so<br />

forsch. Immer langsam mit den jungen Tintlingen."<br />

Die Zedrakke war jetzt nicht das Problem. Er sah sich nach der Thalukke um, die sich wie ein Schwerverletzter<br />

noch einige Dutzend Schritt durch das Wasser geschleppt hatte und nun am Riff hing. Wenn der feindliche Kapitän<br />

geglaubt hatte, dadurch ihren Untergang verhindert oder zumindest hinausgezögert zu haben, so hatte er sich<br />

getäuscht. Auch noch <strong>von</strong> Korallenblöcken aufgebrochen, sank ihr schlanker Leib umso rascher. Die ersten<br />

Rebellen sprangen ins Wasser oder versuchten das Beiboot klar zu machen.<br />

"Richtschütze! Feuer auf die Thalukke!"<br />

<strong>Das</strong> Geschoss löste eine gewaltige Stichflamme aus. Der Achtertrutz der Roten Maraske brannte nach wenigen<br />

Augenblicken lichterloh. Nun sprangen immer mehr Rebellen ins Wasser, einige gingen unter und tauchten nicht<br />

mehr auf. Andere hielten sich im Wasser fest oder paddelten ungeschickt in Richtung Strand.<br />

Olsan sah eine achtbeinige Spinne durchs Wasser schwimmen, einen weißhaarigen <strong>Maraskan</strong>er im Schlepptau. Er<br />

hatte sich also doch nicht getäuscht. Er täuschte sie nie! Einen Augenblick lang befiel ihn das Grauen. Dann fing er<br />

sich wieder.<br />

"Richtschütze! Hagelschlag auf die Mannschaft an Bord. Armbruster und Bogner, schießt auf die, die schon im<br />

Wasser schwimmen." Nach einigen Augenblicken wurde der Befehl ausgeführt. Scharfe Metallsplitter surrten über<br />

das Deck, Menschen brachen zusammen oder taumelten umher. Pfeile surrten. <strong>Das</strong> Wasser färbte sich blutrot.<br />

Efferdtod nickte.<br />

"Sehr schön, sehr schön. Seht Ihr, Steinbrecher, hier drüben gibt es auch sehr lohnende Ziele. Habt Ihr denn<br />

überhaupt keinen Blick für das Notwendige?"<br />

Die Rebellen waren nun schon deutlich dezimiert, die Karmothgardisten an Land würden ihn schon den Rest<br />

geben. Hie und da konnte er einen <strong>von</strong> ihnen durch den Dschungel laufen sehen.<br />

Dem Rauch über der Ruine am Strand und deren Zustand nach zu urteilen hatten sie mit den dortigen Alrechs<br />

bereits kurzen Prozess gemacht. Der traurige Rest der Piraten, der sich noch an Bord des Wracks drängte, konnte<br />

offenbar nicht schwimmen. Nun denn, sie würden sich schon zwischen einem Tod in den Flammen oder im<br />

Salzwasser entscheiden müssen. Aber das rasch sinkende Schiff würde ihnen früher oder später die Entscheidung<br />

abnehmen.<br />

Der Kapitän wandte sich wieder der Nachtwind zu. Auch dort hatte sich nun eine fette Rauchwolke gebildet, die<br />

das Schiff beinahe vollständig einhüllte. Hie und da schlugen Flammen empor; es stank nach merkwürdiger<br />

Alchimie. Offenbar hatte sich dort drüben irgendetwas Hochbrennbares entzündet, das sich an Bord der Zedrakke<br />

befand, anders konnte sich der Kapitän die schnelle Ausbreitung des Feuers nicht erklären. Efferdtod fühlte sich<br />

eigentümlich erhaben und ruhig, fast schon beschwingt, als er sich wieder seinem Ersten Offizier zuwandte.<br />

"Herrlich, nicht wahr? Ich liebe den Geruch <strong>von</strong> Hylailer Feuer am Morgen."<br />

Nun konnte er doch ein keckerndes Lachen nicht unterdrücken. Auch der Erste Offizier grinste geistesabwesend.<br />

Du arrogantes Schwein, dachte er. Irgendwann wirst du dir mit deiner Selbstherrlichkeit das Genick brechen, für<br />

251


heute hast du noch mal Glück gehabt. Dafür werden sie dir einen Orden umhängen. Wenn ich könnte, würde ich<br />

dich damit erdrosseln. Laut sagte er: "Wunderbar, bei der Ersäuferin. Ich finde, es riecht sehr würzig, wie Tabak.<br />

Verpassen wir der alten Tante noch ein paar Schuss. Ich persönlich ziehe nämlich den Geruch <strong>von</strong> verbranntem<br />

<strong>Maraskan</strong>erfleisch vor..."<br />

"Wie? Nein, mein werter Steinbrecher, das wäre reine Munitionsverschwendung. Den Bureaukraten in Jergan muss<br />

ich nachher eh wieder jede verschossene Kugel einzeln begründen. Der Schmugglerkahn hat den Todesstoß auch so<br />

schon erhalten. Eine gute Leistung, nein, eine hervorragende Leistung, auch <strong>von</strong> der Besatzung. Seht Ihr, die<br />

ständigen Gefechtsübungen machen eben doch Sinn. Außerdem sagt mir mein Instinkt, dass es bald schlechtes<br />

Wetter geben wird. Gespür, das ist das, worauf es ankommt. Was Euch übrigens fehlt, Steinbrecher. Nun ja, noch.<br />

Ich hoffe, Ihr habt diesbezüglich heute wieder ein wenig dazu gelernt, ja? Also, machen wir, dass wir in den Hafen<br />

kommen, unsere Aufgabe hier ist erledigt. Sollen sich die Karmothgardisten darum kümmern, die Überlebenden<br />

gefangen zu nehmen. Ich möchte nicht, dass diese blutigen Krüppel mir das Deck versauen..."<br />

"Wie Ihr meint, Käpt´n!"<br />

Die Dämonenkrone wendete majestätisch und fuhr hinaus auf die offene See, zwei gewaltige und eine kleinere<br />

Rauchsäule über der Bucht zurücklassend.<br />

Meldorjin blinzelte in den Rauch, der <strong>von</strong> überall aus den Luken her quoll. Selbst durch das Tuch, dass er sich wie<br />

seine Leute um den Kopf gebunden hatte. <strong>Das</strong> gute Rauschkraut, der erlesene Sinoda-Tabak. Vegsziber würde ihn<br />

umbringen, wenn er erfuhr, was gerade mit seiner Ladung passierte. Aber das Zeug qualmte tatsächlich, als stünde<br />

das Schiff in hellen Flammen. Und die List hatte funktioniert.<br />

Die feindliche Bireme wurde kleiner und kleiner und war schließlich nur noch ein weißes Segel über den Wellen.<br />

Die <strong>Maraskan</strong>er lachten leise in sich hinein und starrten mit glasigen Augen ins Nirgendwo. Irgendwie schienen sie<br />

gerade sehr glücklich mit sich und mit der Weltenscheibe im Reinen zu sein. "Löscht jetzt das Feuer"<br />

kommandierte der Erste Offizier. "Und hört auf, das ganze Zeug einzuatmen. Bei der Schönheit der Welt, mir ist<br />

selbst schon ganz schummrig. Höchste Zeit, sich um Rurmanjinns Leute auf der `Maraske´ zu kümmern."<br />

„Weibel Berschin!“ rief Melzior. „Hast Du bemerkt was draußen in der Bucht geschehen ist?“ Melzior hatte <strong>von</strong><br />

Berschin den Auftrag erhalten die Bucht zu observieren. Schließlich war ja im Laufe des Tages mit Entsatz aus<br />

Jergan zu rechnen. Schließlich galt es ja auch noch, ein Schmugglerschiff aufzubringen.<br />

„Mache er Meldung“ herrschte Berschin den Soldaten an.“<br />

„Mir scheint da draußen war ein Seegefecht im Gange. Bei dem diesigen Wetter und den zahlreichen Klippen, die<br />

die Sicht versperren war nicht viel zu sehen. Aber ein Schiff der Schmuggler – es hat eine maraskanische Flagge,<br />

auch wenn es sonst nicht der Beschreibung des gesuchten Schiffes entspricht – ist vor der Küste auf ein Riff<br />

aufgelaufen und droht auseinander zu brechen. Die Verfluchten Zwillingsanbeter versuchen gerade zur Küste zu<br />

schwimmen. Ein Schiff aus Jergan hab ich auch gesehen. Ich meine fast, es verfolgt ein zweites Schmugglerschiff,<br />

aber das war nicht genau zu erkennen.“<br />

„Gut. Ein Schiff weniger, das dieses Pack hat. Aber auch wiederum gar nicht gut. Sagtest Du diese Bastarde<br />

schwimmen ans Ufer?“<br />

„Ja!“<br />

„Verdammich! Wir haben gerade mal noch fünfzehn Mann, <strong>von</strong> diesen verfluchten Rebellen in der Kapelle ist<br />

allemal noch dieser Magus lebendig, und dann kommt da auch noch dieses Schmugglerpack an Land<br />

geschwommen! Herrje, das ist ja zum verzweifeln.“ Berschin sprach jetzt wieder lauter, so dass alle verbliebenen<br />

Soldaten, die sich versammelt hatten, ihn hören konnten. „Wir lassen die Klause erst einmal Klause sein.<br />

Vermutlich haben diese Käferfresser genug damit zu tun, ihre Überlebenden zu zählen. Die Schmuggler sollten wir<br />

niedermachen, bevor sie das Ufer erreicht haben. Als Schwimmer dürften sie gute Ziele bieten. Wenn das Pack erst<br />

einmal an Land ist wird es ungleich schwieriger. Also, Jungs! Macht die Bogen bereit und dann ans Ufer! Hasman<br />

und Ergobrecht, ihr behaltet die Klause im Auge. Wenn sich etwas tut macht ihr Meldung!“<br />

Als Odilon mit Andromejia auf dem Arm die Kapelle betrat sah er erst einmal den Lauf einer Armbrust unter seiner<br />

Nase. Als der Inquisitor Odilon erkannte senkte er die Armbrust.<br />

„Von Baernfarn! Ihr lebt! Praiosdank, wir haben uns schon Sorgen gemacht!“<br />

„Wie ich sehe steht die Kapelle noch. Wir hatten Unterstützung <strong>von</strong> Rebellen. Naja, zumindest <strong>von</strong> einer. Die Frau<br />

ist verletzt, wir müssen ihr helfen.“ Erst jetzt bemerkte Odilon, dass die Frau offenbar vor Schmerzen das<br />

Bewusstsein verloren hatte.<br />

„Fragt sich nur wie. Gunelde braucht gleichermaßen Hilfe. Wir sind so gut wie wehrlos, wenn die<br />

Dämonenknechte noch einmal angreifen. Ich frage mich ohnehin, warum sie innehalten, jetzt, nachdem der Zugang<br />

zur Klause nicht mehr versperrt ist. Ich denke, Ihr solltet einmal nach Eurer Tochter sehen. Alrijiana wird sich der<br />

Rebellin annehmen, und ich werde mal erspähen, was der Feind treibt.“<br />

252


Der Inquisitor wusste nicht so recht, wie er dem Gallyser vom Tod seines Verwandten berichten sollte. Aber der<br />

Recke hatte wohl schon genug Blut gesehen in seinem Leben, da würde der Gallyser es schon verkraften, wenn er<br />

so unvermittelt Sigismunds Leichnam und seine verletzte Tochter sah. Der Inquisitor spähte derweil durch das<br />

Fenster nach draußen. Was machten die Soldaten da?<br />

Der Anblick verwirrte den Inquisitor. Die Soldaten rückten ab! Nein, sie zogen sich nicht in den Wald zurück<br />

sondern sie rückten zum Strand vor! Warum nur? Was wollten sie dort, <strong>von</strong> dort aus würden sie die Kapelle gewiss<br />

nicht stürmen können.<br />

Selbfried spähte auf das Meer. War da nicht noch in der Entfernung eine Rauchsäule zu sehen? Es war ihm so, als<br />

könne er dort eine Rauchwolke sehen. Hatte Haffax Flotte die Nachtwind aufgebracht und in Brand geschossen?<br />

Möglich. Aber was machten die Soldaten mit ihren Bögen am Strand?<br />

Da schwamm doch jemand im Meer! Halt, nein, nicht nur einer. Da waren mehrere! Und jetzt sah er auch den<br />

Mast, der hinter einer Felseninsel aufragte. Viel war da<strong>von</strong> nicht zu sehen. Die ganze Szenerie war <strong>von</strong> den<br />

Klippen und Inselchen verdeckt gewesen, und durch die schmalen Scharten und Fenster der Kapelle wahrlich nicht<br />

zu entdecken Wahrscheinlich hätte er den Mast auch gar nicht entdeckt, wenn da nicht diese rotgrüne Flagge noch<br />

daran geweht hätte. Und die Soldaten waren an das Ufer gerannt und nahmen die Schwimmer unter Beschuss!<br />

Hatten die Rebellen per Schiff angreifen wollen und waren dabei aufgebracht worden <strong>von</strong> Haffax Flotte? In diesem<br />

verrückten <strong>Maraskan</strong> war alles möglich! Aber der Feind der Soldaten war ein Freund der Belagerten, das war<br />

gewiss.<br />

„Friedwang! Baernfarn!“ rief Selbfried. „Seht, die Rebellen brauchen unsere Hilfe!“<br />

Alrik sprang auf, und auch Odilon riss sich vom Anblick seiner verwundeten und immer noch bewusstlosen<br />

Tochter los.<br />

„Seht dort was sich dort am Ufer abspielt.“<br />

„Egal wer es ist, den sie dort beschießen, eine bessere Gelegenheit, die Soldaten zu erledigen, gibt es nicht mehr.“<br />

meinte Alrik.<br />

„Der dort!“ Odilon deutete auf Berschin. „<strong>Das</strong> muss der Anführer sein. Den hol´ ich mir!“ Odilon nahm sich<br />

Alvans Bogen.<br />

„Gut. Du machst den Weibel nieder. Wir gehen dann in den Nahkampf über.“, sagte Alrik. „Ihr auch,<br />

Hochwürden?“ fragte Alrik, der sich nicht getraute, einem Inquisitor eine direkte Kampfanweisung zu geben.<br />

„Gewiss doch. Sturmfejian hält hier die Stellung und kümmert sich um die Verwundeten. Ich hoffe doch mal, dass<br />

das das letzte Gefecht für heute ist. Bei Praios, das ist wahrlich genug!“<br />

Odilon bückte sich nach Wandelur – er hatte die Klinge in der Kapelle abgelegt damit ihm das Schwertgebaumel<br />

nicht hinderlich wäre bei dem eigentlich viel kürzer geplanten Ausfall – und schob es wieder in die Rückenscheide.<br />

„Zu dumm dass wir außer Alvans Kurzbogen und der Armbrust keine Schusswaffen mehr haben. Ein Bogen für<br />

Dich, Alrik, wäre wirklich gut zu gebrauchen.“<br />

„Richtig. Aber Es liegen ja genügend Waffen herum. Die ganze Nordseite ist <strong>von</strong> toten Soldaten übersäht, ein<br />

wahrer Selbstbedienungsladen für Waffen aller Art.“<br />

„Richtig. Daran hatte ich gar nicht gedacht.“<br />

Hesindian huschte durch den nahen Dschungel. Hier war die Rebellin, die Odilon gebracht hatte, wirklich<br />

gründlich gewesen. Kein Soldat war noch am Leben. Rasch klaubte Alrik drei Bögen auf – schließlich sollte<br />

Sturmfejian die Klause auch verteidigen können – und nahm auch noch drei Köcher mit Pfeilen mit. Wenige<br />

Augenblicke später übergab er den Gefährten die Waffen.<br />

Ergobrecht eilte zu Weibel Berschin und berichtete, dass der Magus Bögen und Pfeile geborgen hatte <strong>von</strong> den<br />

gefallenen Kameraden. Der Magus hatte sich aber zu schnell bewegt als dass sich ein Schuss gelohnt hätte.<br />

Offenbar waren darin noch mehrere Personen am Leben. Aber Berschin schloss aus der Tatsache, dass lediglich der<br />

Magier draußen gesehen wurde, dass die anderen verletzt waren. Sonst hätte man einen Magier wohl nicht als<br />

Waffenholer eingesetzt. Berschin schaffte Ergobrecht an, weiter zu beobachten und, sobald sich jemand blicken<br />

ließ, zu schießen. Auch wenn der Schuss daneben ging oder das Ziel nicht lohnenswert war. Hauptsache die<br />

Rebellen blieben in der Kapelle und machten keinen Ärger, solange die Schmuggler nicht erledigt waren.<br />

Als Ergobrecht zurückkehrte spähte er nach Hasman. Der hatte sich wohl in tiefer in die Deckung zurückgezogen<br />

und verbarg sich im Gebüsch. Verfluchter Bastard <strong>von</strong> Kamerad, er konnte doch nicht einfach so sich verstecken<br />

ohne ihm etwas zu sagen. Schließlich standen sie hier nur zu zweit den Rebellen gegenüber, <strong>von</strong> denen vielleicht<br />

doch noch mehr als nur der Magier kampfbereit waren!<br />

Ergobrecht kam nicht weiter dazu, sich über Hasman zu ärgern.<br />

„Guter Schuss!“ lobte Selbfried. „Friedwang, Ihr seid auf dem besten Wege, dem Gallyser Waldläufer den Rang<br />

abzulaufen als bester Bogenschütze.“<br />

Alrik grinste. Die beiden hatten sich aber auch zu sehr wie die Anfänger angestellt. Einer beobachtete, während der<br />

andere Meldung machte. <strong>Das</strong> hatte ja förmlich dazu eingeladen, sie einzeln zu erledigen. Den ersten hatten Odilon<br />

253


und Selbfried gleichzeitig aufs Korn genommen und dann ins Gebüsch gezogen, bevor der zweite zurückgekehrt<br />

war. Den zweiten hatten dann Alrik und Alrijiana unter Beschuss genommen, wobei Alrijianas Pfeil fehl ging.<br />

„Na dann vorwärts!“ kommandierte Odilon. Ich habe noch dreizehn Gegner gezählt. Mittlerweile dürften sie recht<br />

demoralisiert sein, und zu einer schlagkräftigen Aktion ist der kümmerliche Rest auch nicht mehr in der Lage,<br />

wenn ich das planlose Herumgerenne so recht bedenke. Wahrscheinlich haben sie die Hosen gestrichen voll und<br />

wissen nicht wovor sie mehr Angst haben, vor uns oder vor dem Krabbelgetier im Dschungel. Wenn wir sie<br />

solange in Schach halten können, bis die Schmuggler ans Ufer gekommen sind haben wir es so gut wie<br />

überstanden.“<br />

Rasch, aber geschickt die Deckung des Dschungels ausnutzend, pirschten sich die fünf nach Südwesten zum Ufer<br />

hin. Alrijiana nahm sich allerdings die Zeit, um die bei Hesindians Angriff verletzten Soldaten zu Bruder Boron zu<br />

schicken. Die Rebellen kannten wahrlich keine Gnade. Sie erwarteten keine und gewährten auch kein Nachsehen.<br />

Geduckt wateten die fünf durch den Bach. Die schwimmenden Rebellen waren in einer nicht zu beneidenden Lage.<br />

Am Ufer warteten Schützen, und im Meer schwammen Haie. Sie würden einen grausigen Blutzoll entrichten<br />

müssen. Allerdings konnten die verbliebenen dreizehn Soldaten auch nicht die ganze felsige Küste überwachen. In<br />

der Deckung, die die Felsen boten, hatten sich schon viele Schwimmer in Sicherheit gebracht.<br />

Die Gefährten waren heran. Pfeile wurden auf die Sehnen gelegt, Selbfried führte einen Bolzen ein und spannte die<br />

Armbrust. „Alsdann, Odilon. Ihr erledigt den Anführer und gebt damit das Signal zum Angriff. Dann schießen wir<br />

was die Bögen hergeben.“ Selbfried deutete den Gefährten noch kurz an, wer auf wen zielen sollte, während Odilon<br />

sich auf seinen Schuss konzentrierte.<br />

Odilon ließ die Sehne los. Der Pfeil surrte und traf Weibel Berschin in die Brust. Der Soldat war todwund<br />

getroffen, sackte aber noch nicht zusammen. Einen Alarmruf auf den Lippen stürmte er mit Todesverachtung auf<br />

die Gefährten zu.<br />

Pfeile surrten durch die Luft. Drei weitere Soldaten wurden getroffen. Auch die Schmuggler, die ans Ufer<br />

gekommen waren, griffen in den Kampf ein. Und noch ehe die verbliebenen Nuraner reagieren konnten wurde eine<br />

weitere Salve abgeschossen. Odilon sah zwei Soldaten in den Wald fliehen. Als Odilon den heranstürmenden<br />

Berschin mit Wandelur niederstreckte hoben drei verbliebene Soldaten die Hände zum Zeichen der Aufgabe.<br />

„Rurmanjinn!“ rief Alrijiana auf <strong>Maraskan</strong>isch aus und half einem der Rebellen aus dem Wasser. „Hättet nicht Ihr<br />

uns retten sollen und nicht wir Euch? Wir warten schon seid Stunden!“<br />

„Wir haben die Schlagkraft der Flotte der Haffaxijas unterschätzt. Wir sind halt doch Dschungelkrieger und keine<br />

Seefahrer. Da hat uns diese Trireme doch glatt gerammt. Efferjian konnte die Thalukke gerade noch auf Grund<br />

setzen bevor sie sank, sonst hätten wir das Ufer kaum erreicht. Aber wie ich sehe habt ihr unsere Hilfe doch auch<br />

nicht nötig gehabt.“<br />

„Die Garethjas sind nicht zu unterschätzen. Rur hat uns die richtigen Recken geschickt. Aber Haldorban ist tot.<br />

Und Vegsziber, der Schmugglerkäptn. Die Garethjas haben auch einen toten zu beklagen.“<br />

„Ja, aber jetzt müssen wir uns zuallererst um die Gefangenen kümmern und dann uns in der Kapelle sammeln und<br />

uns um die Verwundeten kümmern.“<br />

„Zwei der Soldaten sind in den Wald geflohen. Wenn sie <strong>von</strong> den Vorfällen hier berichten wird sich hier bald die<br />

gesamte Armee einfinden. Haffax wird es sich nicht gefallen lassen, dass wir hier seine Männer aus der Nuraner<br />

Garnison niedermetzeln. Entweder wir verfolgen sie oder wir müssen uns hier vom Acker machen. Noch einmal<br />

möchte ich nicht kämpfen gegen die Soldaten.“<br />

„Richtig.“ Rurmanjinn gab ein paar Kommandos in seinem maraskanischen Dialekt, die Odilon nicht verstand.<br />

Drei der Rebellen entwaffneten und fesselten darauf die Soldaten, die sich ergeben hatten. Vier weitere <strong>Maraskan</strong>er<br />

verfolgten die Spuren der Flüchtigen.<br />

Kurze Zeit später hatten sich die Rebellen in der Kapelle – vielmehr in dem Gemäuer, das einmal Kapelle war,<br />

versammelt. Es war eng in dem Gemäuer. Die gut fünfzig Rebellen mussten sich dicht aneinander drängen, um<br />

allesamt darin Platz zu finden. Rurmanjinn stieg auf ein Fass – es war das einzigste Einrichtungsstück der Kapelle,<br />

das nicht gänzlich zertrümmert war – und sorgte mit harscher Gestik für Ruhe.<br />

Alrik musterte den Rebellenführer. Der Mann war klein. Überraschend klein. Er hätte sich einen Hauptmann der<br />

Rebellen irgendwie eindrucksvoller vorgestellt. Aber wer wusste denn schon, was der Mann mit dem schwarzen<br />

Schnurrbart für Fähigkeiten hatte. Er verstand ohnehin nicht, was Rurmanjinn zu seinen Leuten sagte. Also konnte<br />

er sich darauf konzentrieren, die Rebellen genauer anzuschauen und sich ihre Gesichter einzuprägen. Da war noch<br />

der komische Alte, ein weißhaariger Greis, der ständig in Begleitung einer widerwärtigen Spinne war. <strong>Das</strong> musste<br />

eine <strong>Maraskan</strong>-Tarantel sein! Hatten die Rebellen etwa dressierte Kampfspinnen? Möglich war ja viel bei diesem<br />

seltsamen Volk.<br />

Dann waren da noch die beiden Heiler. Zwei Männer mittleren Alters, die sich um die verletzten kümmerten und<br />

dabei offenbar einigen Sachverstand aufwiesen. Immerhin kümmerten die zwei sich nicht nur um die Rebellen,<br />

254


sondern auch um Alvan, Gunelde und die verletzte Rebellin. Sie hatten die Verletzten nach draußen getragen um<br />

sich im besseren Licht der Sonne ihrer anzunehmen. Die bewusstlose Rebellin war auch wieder zu sich gekommen.<br />

Die restliche Rebellenschar war eine wilde Horde bunter Gestalten. Nicht nur <strong>Maraskan</strong>er sah er, auch hatten sich<br />

wohl einige Garethjas, Angehörige der einstigen kaiserlichen Armee, wie man an Uniformresten erkannte, den<br />

Rebellen angeschlossen. Dachten sich wohl, lieber für die Zwillingsanbeter zu kämpfen als für die<br />

Dämonenpaktierer. Naja, war wohl das Beste, was man auf diesem Eiland tun konnte, wenn einem die Flucht<br />

verwehrt war.<br />

Odilon gab sich redliche Mühe, das Stimmengewirr auf <strong>Maraskan</strong>isch zu verfolgen. Alles bekam er natürlich nicht<br />

mit. Aber er verstand doch immerhin, dass Rurmanjinn zunächst fünf Rebellen den Befehl erteilte, <strong>von</strong> den<br />

Gefallenen Soldaten alle Waffen und alles Verwertbare Habe heranzubringen. Die Körper der Toten mochten sie<br />

ruhig liegen lassen, darum würden sich die Käfer schon kümmern, wie Rurmanjinn sagte. Nur sollten sie sich<br />

vergewissern, dass die Soldaten wirklich alle tot waren.<br />

Dann gab Rurmanjinn die Order, die Gefangenen zu töten. Doch da stand Odilon auf und rief laut vernehmlich<br />

„Halt!“ Dann wechselte er in sein radebrechendes <strong>Maraskan</strong>isch. „Ist es nicht Sitte, dass derjenige über das<br />

Schicksal <strong>von</strong> Gefangenen entscheidet, dem sie sich ergeben haben? Diese drei, die sich ergeben haben, sind<br />

ebenso wie die Verwundete hier“ er deutete auf Rauline „unsere Gefangene. Daher steht uns auch das Recht zu,<br />

eine Entscheidung zu treffen!“ Odilon konnte es nicht zulassen, dass Menschen erschlagen wurden, die sich ihm<br />

ergeben hatten und deren Schicksal daher in seiner Verantwortung lagen.<br />

„Der Mann hat recht!“ rief Andromejia aus. Nicht dass die Tuzakerin Anteil genommen hätte am Schicksal der<br />

Soldaten. Sie folgte reiner Berechnung. Einerseits wollte sie ja Odilon für sich gewinnen, andererseits wollte sie<br />

verhindern, dass die Soldaten, die ja um ihr Doppelspiel wussten, sie verraten würden. Und das würden sie wohl<br />

nicht tun, wenn sie in Andromejia die Hoffnung ihres Überlebens setzten.<br />

Einer der Rebellen, der schon den Dolch gezogen hatte um Rurmanjinns Befehl auszuführen, hielt inne und sah den<br />

Rebellenführer fragend an. Hesindian bemerkte einen fragenden Blickwechsel zwischen den drei Gefangenen und<br />

Andromejia.<br />

„Wir werden später darüber reden!“ vertagte Rurmanjinn die Entscheidung. Sorge dafür, dass die drei gut gefesselt<br />

und bewacht bleiben.“<br />

Odilon war fürs erste zufrieden. Er wusste auch nicht, was er mit den Gefangenen machen sollte. Er hatte weder die<br />

Möglichkeit noch den Willen, sie dauerhaft zu bewachen. Aber er konnte doch nicht zusehen, wie Wehrlose<br />

Gefangene getötet wurden.<br />

„Ihr anderen! Füllt das Fass hier mit Wasser und bringt die Klause wieder auf Vordermann – na ja, schafft<br />

zumindest den Müll raus!“ Er deutete auf die noch überall herumliegenden Bretter, Ziegel und anderlei Gerätschaft,<br />

das die Flutwelle in dem Gemäuer abgelegt hatte. „Und Du, Ramajida, Du schwimmst zur Maraske und birgst das<br />

Beiboot. Ihr tumben Dschungelkrieger habt es ja vorgezogen an Land zu schwimmen anstatt zu rudern.“ Ein<br />

Lachen ging durch die Menge, schließlich wusste jeder genau, dass angesichts des drohenden Untergangs der<br />

Maraske keine Zeit war, sich um das Boot zu kümmern. Dann bergt ihr alles, was wir da<strong>von</strong> gebrauchen können.<br />

Da wir keine Schiffszimmerleute und keine Werft haben und hier wohl auf kurz oder lang mit weiteren<br />

Patrouillenschiffen aus Jergan rechnen müssen geben die Sira Jerganak am heutigen Tage also ihre Flotte auf.<br />

Ramajida, nimm Dir ein paar Leute die Dir helfen.“<br />

Rurmanjinn sah sich um. „Gut. Die Verletzten bleiben hier, Alemanjinor und Diborjin kümmern sich darum. Alle<br />

anderen, außer denen, die hier aufräumen: Raus mit Euch. Hier ist es zu eng für alle. Helft den anderen dabei, den<br />

toten Soldaten Waffen und Gerät abzunehmen, holt das Gerümpel vom Schiffswrack, macht euch nützlich. Aber<br />

steht nicht dumm rum wie aranische Blaufußtölpel. Alrijiana, Bormanjin, Dajina, ihr bleibt hier. Wir müssen uns<br />

beraten über das weitere Vorgehen.“ Rurmanjinn wandte sich nun an die Gefährten. „Und ihr bleibt auch hier. Der<br />

da“ er deutete auf Hesindian „kann vielleicht den Heilern zur Hand gehen. Ihr anderen drei berichtet uns, was<br />

vorgefallen ist, und dann werden wir weitersehen, was zu tun ist.“<br />

Alemanjinor und Diborjin sahen sich die Verwundeten an. Die Rebellen waren doch recht gut weg gekommen. Die<br />

Soldaten waren keine begnadeten Schützen gewesen, so waren nur vier <strong>von</strong> ihnen verwundet. Aber es waren<br />

allesamt nur Fleischwunden. Schmerzhaft zwar, aber sie alle würden es überstehen. Auch Sturmfejian würde seine<br />

Verletzungen überstehen. Gut möglich, dass er zeitlebens humpeln würde, aber verglichen mit Estibora und<br />

Efferjiane ging es ihm geradezu glänzend. Beide <strong>Maraskan</strong>erinnen hatten schwere Wunden da<strong>von</strong> getragen, und die<br />

Heiler konnten nicht absehen, ob sie den Tag überleben würden.<br />

Gunelde war rasch wieder zu sich gekommen. Fachkundig hatte Alemanjinor ihre Schulter verbunden und eine<br />

Schlinge für ihren Arm geknüpft. Gunelde war blass und hatte Schmerzen, die ihr wahrlich zu schaffen machten,<br />

aber mit der Zeit würde es heilen. Ähnlich stand es um Alvan. Die Wunde in ihrer Wade war nicht tief und würde<br />

heilen. Die Platzwunden sahen übler aus als sie waren. Aber alles in allem würde sie mit Hilfe eines Stockes laufen<br />

können. Morgen jedenfalls, für diesen Tag ordnete Alemanjinor, der auch eine Gehirnerschütterung nicht<br />

ausschloss, absolute Ruhe an. Auch Andromejia – Rurmanjinn wollte die ihm unbekannte Rebellin nach der<br />

Behandlung noch einmal genauer befragen – hatte keine wirklich schweren Wunden erlitten. Aber sie würde einige<br />

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Zeit ebenso wie Alvan einen Gehstock brauchen, und auch den Arm in einer Schlinge tragen müssen. Aber die<br />

Schmerzen, auch wenn Alemanjinor das kaum glauben konnte, waren so schlimm, dass Andromejia das<br />

Bewusstsein<br />

verloren hatte. An weitere Kämpfe oder auch eine Rückkehr zu den Dajinim war in dieser Situation nicht zu<br />

denken.<br />

Am schlimmsten stand es um Rauline. Die Gefangene war wieder zu sich gekommen – das Schlafgift hatte<br />

mittlerweile nachgelassen – aber sie konnte kaum atmen, und bei jedem Atemzug war ein pfeifendes Geräusch zu<br />

vernehmen, dort wo die Luft durch die Schusswunde entwich. Eigentlich hätten sich die Rebellen keine große<br />

Mühe mit ihr gegeben, schließlich war es nicht üblich, in diesem Krieg Gefangene zu machen. Aber Odilon hatte<br />

darauf bestanden. Er hatte das tiefe Bedürfnis, nach diesem schrecklichen Gemetzel einem Menschen helfen zu<br />

können.<br />

Odilon hielt der verletzten Gardistin die Hand in der verzweifelten Hoffnung, er könne ihr damit helfen, während<br />

Alemanjinor den Pfeil, der hinten aus dem Rücken der Gardistin ragte, ganz durch die Wunde zog.<br />

<strong>Das</strong> war der schlimmste Augenblick. Der Pfeil musste raus, aber nun konnten die Verletzungen innerlich bluten,<br />

das Blut würde in die Lunge eindringen. Alemanjinor legte blutstillende Kräuter auf, und Hesindian sprach einen<br />

Heilzauber. Der Magus war erschöpft, er konnte nicht mehr viel helfen. Aber vielleicht würde es genügen, um<br />

zumindest innere Blutungen verhindern zu können. Danach konnte man nur noch beten.<br />

Alrik war zu Odilon getreten. „Deine Verwendung für die Soldatin in Ehren, aber ich glaube kaum, dass sie die<br />

Nacht überstehen wird. Hesindian hat nicht mehr viel magische Kraft in sich. Ich hoffe nur, dass wir nicht<br />

andernorts gerade dieses bisschen Kraft gebraucht hätten. Immerhin dient sie der falschen Seite. Und wir haben<br />

auch keine Gnade zu erwarten wenn sie uns kriegen.“<br />

„Richtig. Ich weiß auch nicht, was wir mit ihr machen sollen, selbst wenn sie überlebt. Mitnehmen können wir sie<br />

nicht. Aber dennoch sind heute genug Menschen gestorben. Lass uns inmitten dieses Gemetzels für ein wenig<br />

Milde und Barmherzigkeit sorgen. Wir erheben ja Anspruch darauf, auf der guten Seite zu stehen. Also lass uns<br />

etwas dafür tun, diesem Anspruch zu entsprechen. Ich habe heute meinen... na ja, wohl meinen Schwiegersohn<br />

verloren. Lasst uns wenigstens dieses Leben retten.“<br />

„<strong>Das</strong> macht ihn auch nicht mehr lebendig. Aber du hast Recht, wir sollten Sigismund noch begraben.“<br />

„Ja. Aber das hier, das ist nicht wegen Sigismund. Ich habe einfach Angst, dass wir inmitten dieser harten<br />

grausamen Welt völlig verrohen. Wir dürfen uns nicht genauso verhalten wie... wie diese rachsüchtigen Diener des<br />

Rondrafeindes. Dann haben sie schon gewonnen. Wir dürfen nie vergessen, wofür wir kämpfen. Wir haben unsere<br />

ethischen Grundsätze. Und nur diese sind es, warum es sich lohnt, auch in schweren Zeiten nicht aufzugeben.<br />

Deswegen will ich alles tun, damit diese Soldatin überlebt.“ Odilons Hand tastete nach dem Herzschlag der<br />

Soldatin. Nur schwach war er zu fühlen. Dabei kam Odilons Hand auf einer Kette mit einem Anhänger zu liegen.<br />

Ohne darüber nachzudenken warum tastete er nach dem Anhänger. Es war ein silbernes Oval mit Ornamenten<br />

darauf, die Odilon irgendwie an zwergische Runen erinnerten.<br />

„Sieh nur. Ein schönes Amulett. Sollte sie diese Nacht nicht überleben, dann werden wir sie begraben wie es sich<br />

gehört, und wir werden dieses Amulett auf ihr Grab legen. Aber ich hoffe, dass das nicht notwendig sein wird.“<br />

sagte Odilon. Alrik besah das Amulett.<br />

„Was ist denn das? <strong>Das</strong> Amulett hat ein kleines Scharnier!“ bemerkte Alrik. „Jetzt bin ich aber auch neugierig. Was<br />

mag sich wohl darin verbergen?“ Alrik fingerte an dem wohl schon seit langem ungeöffnetem Mechanismus<br />

herum. Schließlich gelang es ihm, das Amulett zu öffnen.<br />

„Sieh einmal an. Eine Gravur. Ein Gebäude, eine Burg. Oder ein Tempel, wie mir scheint. Da unten sind die<br />

Symbole <strong>von</strong> Hammer und Amboss!“ erläuterte er.<br />

„<strong>Das</strong> ist der Ingerimm-Tempel <strong>von</strong> Angbar. Ein trutziges Gemäuer, ich hab ihn vor Jahren einmal gesehen. Dieses<br />

Amulett wird <strong>von</strong> den Priestern in Angbar an die Gläubigen als Talisman verkauft. Üblicherweise ist es geweiht.“<br />

Odilon blickte lange auf das Amulett. „Wenn die Soldatin trotz allem noch an die Zwölf glaubt müssen wir ihr erst<br />

recht helfen.“<br />

Wie durch einen dichten warmen Nebel drangen die Worte in Raulines Gehirn. Sie war zu schwach, etwas zu<br />

sagen. Sie war sogar zu schwach, darüber nachzudenken. Aber es war lange her, das jemand die Zwölf erwähnte in<br />

ihrer Gegenwart. Nein, sie würde nicht sterben. Sie würde dies hier überleben. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte<br />

sie sich geborgen. Diese fremden Krieger würden sie beschützen. Es wurde warm und dunkel. Dann schlief Rauline<br />

ein.<br />

Odilon und Alrik überließen Rauline den Heilern. Der Rebellenhauptmann hatte einen Bericht erbeten, und den<br />

sollte er bekommen. Odilon fing mit seiner Erzählung mit dem Aufbruch aus dem Sichelgebirge an. Schließlich<br />

brauchten sie ja die Hilfe der Rebellen, um das Tal der Glühwürmchen zu erreichen. Da würde es also wenig Sinn<br />

machen, etwas zu verheimlichen. Es war allemal besser, durch die Erzählung der vollen Wahrheit das Vertrauen<br />

der Rebellen zu erringen.<br />

256


"Sieh einmal an, jetzt interessieren sich also schon die Garethjas für den Jerganer Tempelschatz. Ist ja interessant."<br />

lachte Rurmanjinn.<br />

„Naja, nicht ganz. Wir Garethjas interessieren uns zuallererst darum, den Leichnam des Großvaters <strong>von</strong> Alrik und<br />

Gunelde zu bergen und in die Familiengruft zu seiner letzten Ruhe zu bringen. Von dem Tempelschatz haben wir<br />

erst unterwegs erfahren. Aber Alvan ist der Ansicht, dass es unsere eigentliche Aufgabe ist, den Tempelschatz zu<br />

bergen und in einen Tempel der Zwillinge zu bringen."<br />

"Deine Tochter ist Priesterin der Zwillinge sagtest Du?"<br />

"Ja. Sie erhielt ihre Weihe in Tuzak vor einigen Jahren."<br />

"Ich hörte da<strong>von</strong>. Du weißt ja, in <strong>Maraskan</strong> bleibt nichts verborgen. Und die Geschichte <strong>von</strong> der spitzohrigen<br />

Priesterin hat viele Abende am Kaminfeuer gefüllt. Wir haben es erst nicht glauben wollen, aber nach dem so viele<br />

diese Geschichte erzählten hielten wir sie irgendwann für wahr. Und jetzt sehe ich also selbst diese Priesterin -<br />

gebe Rur, dass sie bald wieder genesen wird, ich bin gespannt darauf, selbst einmal den Kladj mit Eurer Tochter zu<br />

betreiben. Aber Rur wird sich schon etwas gedacht haben bei seinem Schöpfungsplan. Vielleicht ist es in dieser<br />

schweren Zeit nötig, Verbündete auf dem Festland zu haben. In welchen Tempel wollte Scheyhathjida den Schatz<br />

bringen? Nach Sinoda?"<br />

"Ich weiß es nicht. Meine Tochter hat nichts darüber gesagt. Aber ich denke sie hat sich schon darüber Gedanken<br />

gemacht. Ich weiß auch gar nicht, aus was der Schatz bestehen soll. Meines Wissens werden in den Tempeln der<br />

Zwillinge jedenfalls keine großen Reichtümer gehörtet."<br />

"Genaues weiß ich auch nicht. Aber man sagt, dass viele Schriften des Tempels dort in Sicherheit gebracht wurden.<br />

Also nichts <strong>von</strong> materiellem Wert, aber für die Priesterschaft natürlich wichtig weil darin unsere Geschichte<br />

überliefert ist." Odilon war sich nicht sicher, ob Rurmanjinn das jetzt nur sagte, um sicherzustellen, dass<br />

<strong>Gold</strong>sucher jetzt vielleicht das Interesse am Schatz verlieren würden.<br />

"Also gibt es diesen Schatz wirklich?"<br />

"Gute Frage. Aber nach dem so viele Menschen dem Schatz nachjagen scheinen es zumindest viele zu glauben und<br />

bereit zu sein, dafür zu sterben. Aber wenn es den Schatz geben soll, dann ist er bei der Priesterschaft der Zwillinge<br />

in den richtigen Händen. Wir werden Euch daher ins Tal der Glühwürmchen führen. Wenn Rur das nicht gewollt<br />

hätte, dann hätte er es nicht so vorgesehen, dass ihr vier Dutzend Soldaten besiegt. Außerdem habt ihr uns einen<br />

großen Dienst erwiesen. Die Garnison in Nuran hat uns viel Kopfzerbrechen bereitet, weil der Posten sich nahe an<br />

unserem Gebiet befindet. Für die nächste Zeit dürften wir unsere Sorgen diesbezüglich los sein. Wer ist eigentlich<br />

diese <strong>Maraskan</strong>erin, die bei den Verwundeten liegt? Ihr habt sie noch gar nicht erwähnt?" wollte Rurmanjinn<br />

wissen.<br />

"Die <strong>Maraskan</strong>erin? Ja richtig. Andromejia. Als die Nuraner Soldaten dabei waren die Klause zu stürmen ist sie<br />

ihnen in den Rücken gefallen und hat uns vielleicht damit gerettet. Erst dachte ich, sie gehöre zu Euch. Aber sie<br />

sagte, sie heiße Andromejia und gehöre zu den Dajinim."<br />

"Zu den Dajinim?" Merkwürdig. Die kämpfen doch eigentlich weiter im Süden. <strong>Das</strong> ist unser Gebiet. Aber es<br />

scheint gut gewesen zu sein, dass sie sich so weit in den Norden verirrt hat. Rur hat wahrlich alles bedacht. Ich<br />

werde einen Boten zu den Dajinim schicken."<br />

"Wie kommt es eigentlich, dass die Rebellen zu Schiff angreifen und nicht aus dem Dschungel heraus wie wir das<br />

vermutet hatten?"<br />

"<strong>Das</strong> erklärt sich eigentlich <strong>von</strong> selbst. Als Farjion uns berichtete <strong>von</strong> den Ereignissen haben wir beschlossen, dass<br />

es unerlässlich ist, die Nachtwind zu warnen, bevor sie in eine Falle fährt. Schließlich würden wir mit den<br />

Schmugglern unsere wichtigste Versorgungsquelle verlieren. Um beide Ziele - die Schmuggler zu warnen und die<br />

Soldaten zu vernichten - zu erreichen mussten wir zuerst die Nachtwind finden. Also haben wir die Rote Maraske<br />

bestiegen. Wir hatten gehofft, die Nachtwind zu finden und dann gemeinsam in der benachbarten Bucht sicher<br />

anlegen zu können, um dann mit vereinter Kraft die Soldaten angreifen zu können. Leider haben wir die Nachtwind<br />

verfehlt, wir haben sie erst gefunden, als sie der Dämonenkrone schon fast in die Falle gegangen war. Dann haben<br />

wir gehofft, dass wir mit zwei Schiffen doch wohl die Bireme der Jerganer versenken können. Aber da haben wir<br />

uns wohl überschätzt. Wir sind halt doch Dschungelkrieger und keine Seefahrer. Wir können <strong>von</strong> Glück sagen,<br />

dass wir nur das Schiff verloren haben und nicht auch noch unser Leben. So haben wir noch einmal verdammtes<br />

Glück gehabt, dass wir in dem haifischverseuchten Gewässer hier nicht noch mehr unserer Leute verloren haben."<br />

"Aber der Verlust des Schiffes wiegt schwer für Euch möchte ich meinen" warf Alrik ein.<br />

"Ja. Aber letztlich ist es eher ein Verlust für die Jerganer, die ja letztlich ihr eigenes, wenn auch <strong>von</strong> uns gekapertes<br />

Schiff, versenkt haben. Wie man gesehen hat haben wir ohnehin nicht die Erfahrung, ein erfolgreiches Seegefecht<br />

zu führen. Schwerer wiegt der Verlust der Klause. Wir werden uns einen anderen Ort suchen müssen, um mit den<br />

Schmugglern zu handeln. <strong>Das</strong> bedeutet weitere Wege, einen Zeitverlust und auch ein größeres Risiko auf dem<br />

längeren Weg. <strong>Das</strong> macht mir weitaus mehr sorgen."<br />

"Rurmanjinn!" unterbrach einer der Rebellen mit lautem Rufen die Unterhaltung. "Die Nachtwind! Die Nachtwind<br />

ist zurückgekehrt!" Sie lassen gerade den Anker herunter, im Sichtschutz hinter dem Kormorankliff."<br />

257


"Sehr gut. Führt den Kapitän... na ja, wen sie sich halt jetzt nach Vegszibers Tod dazu auswählen, zu mir. Sobald er<br />

da ist wollen wir Rat halten."<br />

Im Westen ging tiefrot die Sonne unter. <strong>Das</strong> Licht spiegelte sich vieltausendfach in den sanften Wellen des<br />

<strong>Maraskan</strong>sundes.<br />

Meldorjin war sichtlich erschüttert, als man ihm vom Tod Vegszibers und der anderen gefangenen Schmuggler<br />

berichtete. Bei aller Rivalität, die es zwischen Kapitän und erstem Offizier gegeben hatte empfand Meldorjin den<br />

Tod Vegszibers als Verlust. Die Mannschaft der Nachtwind wollte sich am nächsten Tag einen neuen Kapitän<br />

wählen. Bis dahin aber kam man überein Meldorjin als ranghöchsten der Besatzung zur Beratung mit den Rebellen<br />

zu entsenden. Es glaubte ohnehin niemand daran, dass am nächsten Tag ein anderer als Meldorjin zum Kapitän<br />

gewählt werden würde.<br />

Meldorjin hatte eine Wasserpfeife <strong>von</strong> Bord mitgebracht, um das Gesprächsklima angenehmer zu gestalten. Er war<br />

ein Schmuggler, ein Gesetzloser, zumindest in den Augen der Besatzer, wie alle Angehörigen seines Berufes. Aber<br />

er war ein Schmuggler mit Stil, der ein gepflegtes Auftreten und gute Umgangsformen über alle Maßen schätzte.<br />

Da war es selbstredend Pflicht, ein Gastgeschenk mitzubringen zu der Beratung mit den Rebellen. Und die<br />

Wasserpfeife, schien ihm das geeignetste zu sein. Meldorjin wusste, das Rurmanjinn dem Rauchkraut nicht<br />

abgeneigt war, und ein paar tiefe Züge aus der Wasserpfeife würden die Zungen lockern. Meldorjin füllte den<br />

Tabak ein und legte ein Stück glühende Kohle dazu. Er bot Rurmanjinn den ersten Zug an. Der Rebellenhauptmann<br />

inhalierte den kalten Rauch der Wasserpfeife, dann erzählte er <strong>von</strong> allem Vorgefallenen, damit alle, die Schmuggler<br />

ebenso wie die Garethjas und die Rebellen, gleichermaßen über alles Bescheid wussten.<br />

Als er geendet hatte bat er noch den Inquisitor - naturgemäß hielt er den Priester für den Anführer der Garethjas -<br />

und Meldorjin ihre Erlebnisse zu erzählen. Danach blickte er nachdenklich in die Runde.<br />

"Lasst uns den Zwillingen danken für diesen schönen Tag. Rurs Schöpfungsplan war wirklich durchdacht. Jedem<br />

einzelnen Pfeil haben die Zwillinge eine genaue treffsichere Flugbahn festgelegt. Es ist fürwahr eine wunderbare<br />

Fügung der Dinge, dass wir nahezu die gesamte Kompanie aus Nuran besiegt haben. Naja ein paar <strong>von</strong> uns Sira<br />

Jerganak mit tatkräftiger Unterstützung der Garethjas träfe es wohl genauer. Auch haben wir nur wenige Verluste<br />

zu beklagen. Alles in allem sind nur sieben <strong>von</strong> uns Gefallen und ein knappes Dutzend verletzt. Und die Nachtwind<br />

konnte der Dämonenkrone entkommen, was wohl das wichtigste ist. Bleibt zu entscheiden wie wir jetzt weiter<br />

vorgehen."<br />

"Wir müssen ins Tal der Glühwürmchen" ließ der Inquisitor verlauten. "<strong>Das</strong> eigentliche Ziel dieser Reise ist es, die<br />

Gebeine eines Toten in geweihter Erde zu bestatten. Nebenbei gilt es, das Geheimnis des Tales und des<br />

Tempelschatzes zu ergründen."<br />

"Ja. <strong>Das</strong> berichtetet ihr.", antwortete Rurmanjinn. "Und ich habe bereits zugesagt, dass wir Euch in das Tal führen<br />

werden. Ihr habt an diesem Tag unseren Kampf gegen die Haffaxijas ausgetragen, und es ist nur recht und billig,<br />

wenn wir euch dafür zu eurem Ziel bringen. Rur mag wissen warum er euch geschickt hat, aber ich meine es dient<br />

der Schönheit der Welt, Euch bei diesem Ziel behilflich zu sein. Doch dazu kommen wir noch.“ Odilon war<br />

verwirrt. Er hatte nicht damit gerechnet, so freigiebig Unterstützung der Rebellen zu bekommen, nachdem diese<br />

zuvor keine Schwierigkeiten gehabt hatten, sie an vorderster Front gegen die Truppen Haffax´ im wahrsten Sinne<br />

des Wortes zu verheizen. Rurmanjinn fuhr fort. „Meldorjin, habt ihr die bestellten Waffen, das Rotraupengift und<br />

nicht zuletzt das Werkzeug, das wir das letzte Mal bestellt hatten?"<br />

"Gewiss doch. <strong>Das</strong> Werkzeug und die Waffen sind unversehrt. Allerdings ist der Preis diesmal höher als üblich.<br />

Bei dem Gefecht ist unser ganzer kostbarer Sinoda-Tabak in Flammen aufgegangen. Ein schwerer Verlust für uns,<br />

und das Schiff hat auch Schaden genommen. Wir werden Khunchom anlaufen müssen um dort ein paar<br />

Reparaturen vornehmen zu lassen. <strong>Das</strong> Schiff muss wieder auf Vordermann gebracht werden. Und das kostet. Da<br />

wir keinen Tabak mehr verkaufen können brauchen wir etwas mehr <strong>Gold</strong> für den Rest unserer Ware."<br />

"Verdammt, Meldorjin. Du weißt genau, dass wir nicht mehr bezahlen können. Wir haben einen Freiheitskampf zu<br />

führen, du tumber <strong>von</strong> Bruder Phex ins Hirn geschissener Schmuggler! Wir haben keine gehorteten Reichtümer zu<br />

verschenken!"<br />

"Wir auch nicht, Rurmanjinn. Du brauchst Dich gar nicht so aufzuregen. Ohne <strong>Gold</strong> können wir das Schiff nicht<br />

reparieren. Und ohne gutes Schiff gibt es bald keinen Nachschub mehr für Euch, das weißt Du genau."<br />

"Wenn ich einen Vorschlag zur Güte machen dürfte" mischte Alrik sich ein. "Wir haben ja immerhin noch drei<br />

Gefangene, die ihres Schicksals harren. Was haltet Ihr da<strong>von</strong>, wenn wir sie Euch zur Deckung der Unkosten an<br />

Bord übergeben. Ihr könnt sie ja auf einem Sklavenmarkt verkaufen. Als ehemalige Soldaten erzielen sie bei<br />

Al´Anfas Gladiatorenschulen gewiss einen vernünftigen Preis."<br />

"Hm, ja. <strong>Das</strong> wäre eine Möglichkeit. Für drei Gladiatoren kann ich hundertfünfzig Dukaten anrechnen. <strong>Das</strong> ersetzt<br />

zumindest schon mal einen Teil des Schadens.", meinte Vegsziber. Odilon war dies auch recht. Er hätte ohnehin<br />

nicht gewusst, was er mit den Gefangenen hätte tun sollen. So dienten sie auf ihre Weise wenigstens noch der<br />

Schönheit der Welt, wie Alvan sagen würde.<br />

258


Rurmanjinn war merklich erleichtert. Die weiteren Verhandlungen über den Preis verliefen moderater. Letztendlich<br />

verlangte Meldorjin immer noch mehr als der eigentliche Marktwert war, aber es hielt sich im Rahmen, und<br />

Rurmanjinn wusste, dass der Preis angesichts der Verluste angemessen war.<br />

"Gut. Morgen bei Tagesanbruch werden wir alles <strong>von</strong> Bord laden."<br />

"Wunderbar. Dann werde ich morgen den Hauptteil der Rebellen mit der Ladung und den hier <strong>von</strong> den Soldaten<br />

erbeuteten Waffen zurück ins Lager der Rebellen schicken. Ich werde dann die Garethjas in das Tal der<br />

Glühwürmchen führen. Der Eukolizana kommt natürlich mit uns - ohne seine Führung brauchen wir uns gar nicht<br />

in den Dschungel zu getrauen. Dann noch Ramajida und Groajin. <strong>Das</strong> dürfte reichen."<br />

"Von uns kommen natürlich auch noch ein paar Matrosen mit.", stellte Meldorjin fest. Rurmanjinn sah ihn fragend<br />

an.<br />

"Haben die Garethjas das nicht erwähnt? Die Priesterin hat uns zugesagt, dass sie unsere Unkosten mit <strong>Gold</strong> und<br />

Silber aus dem Schatz zu decken gedenkt. Natürlich werde ich daher einige Leute mitschicken. Sagen wir fünf<br />

Matrosen. Ich werde sie morgen früh auswählen."<br />

Rurmanjinn lachte laut. "Wie Du willst, Meldorjin. Aber ich glaube kaum, dass der Schatz <strong>Gold</strong> und Silber enthält.<br />

Eher alte Schriftrollen. Für die Priesterin gewiss interessant, für dich wohl kaum. Aber mach was du willst."<br />

Meldorjin zuckte mit den Schulten, wenig beeindruck <strong>von</strong> Rurmanjinns Neuigkeiten, und sinnierte nach, wen er auf<br />

die Mission schicken sollte. Er wäre zu gern selbst mit gegangen, aber da er gedachte, selbst Kapitän werden zu<br />

wollen auf der Nachtwind war es gänzlich falsch, sich für mehrere Tage abstinent zu machen. Er hatte gewiss<br />

genug damit zu tun, die Mannschaft auf sein Kommando einzuschwören.<br />

"Da wäre noch etwas.“ sagte Odilon. „Die Soldatin Rauline. Wir haben sie gefangen genommen, aber sie ist schwer<br />

verletzt. Ich glaube, dass sie zwar auf der falschen Seite gekämpft hat, aber dass ihre Seele noch nicht verloren ist.<br />

Ich bitte darum, sie auf der Nachtwind aufzunehmen bis wir zurück sind aus dem Tal der Glühwürmchen. Nehmt<br />

Euch ihrer an und pflegt sie gut."<br />

"Was denn, eine Soldatin der Feinde soll ich pflegen?"<br />

"Ja. Ich bitte darum. Wenn sich herausstellt, dass sie sich den Dämonenpaktierern verschrieben hat magst Du sie<br />

ebenfalls in die Sklaverei verkaufen. Aber wenn nicht würde ich ihr gerne die Möglichkeit zu einer Rückkehr in die<br />

zwölfgöttlichen Lande geben."<br />

"Nagut. Aber wenn du keinen Beweis führen kannst, dass sie bereit ist auf der richtigen Seite zu stehen wird sie mit<br />

den anderen verkauft." Meldorjin ging da<strong>von</strong> aus, dass Odilon den Beweis nicht führen können würde, und dass er<br />

daher hier vermutlich ein Geschäft zu erwarten, aber ganz gewiss nichts zu verlieren habe.<br />

"Bleibt noch eine Frage zu klären.", warf Selbfried ein. Was geschieht mit dieser Andromejia?"<br />

"Wieso, sie kann ja zurück zu den Dajinim kehren. Oder bei den Sira Jerganak bleiben?" antwortete Odilon.<br />

"Bei uns?" widersprach Rurmanjinn. "Keinesfalls!" Niemand den wir nicht kennen kommt in unser Lager. Auch<br />

keine Rebellin der Dajinim!"<br />

"Aber wieso? Sie kämpft doch letztendlich mit Euch!"<br />

"Odilon!" herrschte Selbfried den Waldläufer an. „Seid Ihr völlig naiv? Die Geschichte mit der Verirrten Rebellin<br />

glaubt Ihr doch nicht im Schlaf, oder?"<br />

Odilon sah ihn fragend an.<br />

"Denkt doch mit, Odilon! Von Euch hätte ich mehr Scharfsinn erwartet. Eine Rebellin der Dajinim spaziert so<br />

mirnichtsdirnichts allein durch das Gebiet der Sira Jerganak. Zufällig kommt sie an einer Schlacht vorbei und denkt<br />

sich: Aha, wen die Soldaten angreifen, das müssen meine Freunde sein, also greife ich mal eben allein eine<br />

Übermacht an. Die Sache stinkt doch zum Himmel! Erzählt nicht, Ihr habt der Frau geglaubt."<br />

"Ich, na ja, aber es kann ja so gewesen..."<br />

"Ach Mumpitz, Odilon. <strong>Das</strong> ist nicht der scharfsinnige Waldläufer, der da aus Euch spricht. Wer auch immer dieses<br />

Luder ist oder für wen sie kämpft weiß ich nicht. Aber auf alle Fälle hat sie nur einen Teil der Wahrheit gesagt,<br />

wenn die Sache nicht vielleicht gar völlig erlogen ist. Ich rate zur Vorsicht was dieses Weib betrifft." Selbfried<br />

wusste selbst nicht, warum er so sehr gegen die <strong>Maraskan</strong>erin eingenommen war. Als der Wahrheit Verpflichteter<br />

hätte er zunächst Andromejia befragen müssen und dann dies Aussage überprüfen. Aber irgendetwas in ihm ließ<br />

alle Alarmglocken schrillen, wenn er an Andromejia dachte. Irgendetwas war da, an irgendetwas erinnerte<br />

Andromejia ihn, auch wenn er selbst nicht recht sagen konnte an was.<br />

"Auf alle Fälle kann sie nicht zu uns ins Lager kommen. Wie geht es ihr eigentlich?" wollte Rurmanjinn wissen.<br />

"Die Verletzungen sind nicht so schwer.“ antwortete Alemanjinor.<br />

"Dann lass uns morgen sehen was sie zu sagen hat wenn es ihr wieder besser geht.“ Rurmanjinn wandte sich um.<br />

Andromejias Schicksal kümmerte ihn jetzt nicht weiter.<br />

259


IX. Kapitel: <strong>Das</strong> <strong>Gold</strong> <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong><br />

Odilon schlug die Augen auf. Einen Augenblick lang wusste er nicht, wo er sich befand und seine Hand suchte<br />

instinktiv nach dem Pfosten seines Bettes im heimatlichen Gallys. <strong>Das</strong> sanfte Murmeln des Perlenmeers weckte mit<br />

seinen Sinnen zugleich die Erinnerung. Natürlich, das hier war <strong>Maraskan</strong> und Sigismund war tot.<br />

Den Sternen nach zu urteilen, die über seinen Kopf funkelten, war die Stunde des Morgengrauens nicht mehr fern.<br />

Obwohl ihm der Kampf immer noch in den Knochen steckte, erhob er sich ächzend. Eine kleine, rotbleiche<br />

Sandkrabbe stakste neben ihn über den Strand. Odilon wollte ob des possierlichen Anblicks bereits lächeln, dann<br />

entsann er sich, dass es die Körper der Gefallenen waren, die die kleinen Krabben anzog.<br />

Tatsächlich lag bereits süßlicher Verwesungsgeruch in der Luft. Die Rebellen hatten die Leichen der Gefallenen in<br />

den Dschungel geschleppt, den Käfern und wilden Tieren zum Fraß und sie zuvor gründlich gefleddert. Nun schien<br />

es, als sei das Nuraner Banner wieder zum Leben erwacht und schlummere um einige Lagerfeuer am Strand (in der<br />

Kapelle, wo so viele Gefährten ums Leben gekommen waren, wollte niemand nächtigen, auch Odilon nicht). Der<br />

Gallyser bewunderte die List der <strong>Maraskan</strong>er: So wie sie nun ausstaffiert waren, mit den blutroten Mänteln und<br />

Waffen der Paktierer, musste sie jedermann für Soldaten des Fürstkomturs halten.<br />

Ächzend stand er auf und klopfte sich den nassen Sand aus den Beinkleidern. Die Nacht war kühl und er konnte<br />

etwas Wärme vertragen. Steifbeinig schritt er auf eines der Wachfeuer zu. Ein Posten der Sira Jerganak sprach ihn<br />

nervös an, die Hand an der Armbrust. Odilon nannte schnell die Parole – der Name irgendeiner maraskanischer<br />

Spezialität, mochten die Göttlichen Geschwister wissen, aus welcher Laune die Rebellen darauf gekommen waren -<br />

und ging auf das Feuer zu. Auch der <strong>Maraskan</strong>er nickte zufrieden, schulterte die Armbrust und schlenderte auf den<br />

Urwald zu, wo die Zikaden zirpten und Glühwürmchen tanzten.<br />

Odilon rieb sich die Hände am wohlriechenden Feuer, dessen Rauch den Aasgestank ein wenig milderte und die<br />

Insekten fernhielt. Dann fesselte irgendetwas die geschulte Aufmerksamkeit seines Waldläuferblicks. Was für eine<br />

seltsame Spur - ganz so, als sei hier ein riesiges, achtbeiniges Insekt den Strand entlang gelaufen. Ach ja, die<br />

Maraske. Mißtrauen keimte in Odilon auf, als er sah, wohin die Spur führte. Geradewegs auf die Stelle zu, wo seine<br />

Gefährten schliefen. Verdammt, war er nicht schon wieder die ganze Zeit zu vertrauensselig gewesen. Er kannte<br />

diese Rebellen doch kaum, und in ihren Augen war er immer noch ein Mittelländer, der in Begleitung eines<br />

Inquisitors der Praioskirche reiste, also ein möglicher Feind.<br />

Odilon folgte der Spur, der, wie er nun bemerkte, auch noch die Fußstapfen eines Menschen beigefügt waren. Der<br />

weißhaarige Rebell?! Die Fährte endete am Körper des selig schnarchenden Alrik, dessen Hand auf seinem<br />

Rucksack ruhte. Der Rucksack war geöffnet. Merkwürdig, üblicherweise pflegte der Friedwanger ihn im<br />

Dschungel zu schließen, schon allein damit einem keine unliebsame Überraschung hineinkroch. Den Spuren nach<br />

zu urteilen hatte jemand den Rucksack durchsucht und dann wieder unter die Arme des Schlafenden geschoben.<br />

Nun, die Fußspuren führten eindeutig zum Meer. Als Odilon ihr folgte, stieß er schon bald auf einen Schatten, der<br />

im Mondschein auf einem der Felsen saß und sich über etwas beugte.<br />

Odilon machte einen Schritt auf ihn zu, als ein böses Zischen ihn an die staksigen Abdrücke <strong>von</strong> Maraskenfüßen<br />

erinnerte. Eine beinahe mannshohe Spinne war aus den Schatten getreten, sträubte das borstige Fell und begann<br />

sich zu drehen. Ein giftglänzender Stachel wies nun genau auf den Waldläufer. Odilon wusste, dass das Tier kurz<br />

vor einem Angriff stand. Die Spinne schien, ihrer Körpergröße nach zu urteilen, sehr alt zu sein – und sehr giftig.<br />

"Lass gut sein, Lilibetjida!" sagte der weißhaarige Rebell im überraschend akzentfreien Garethi. "Er ist ein<br />

Freund!" Langsam drehte er sich um, griff in einen Umhängebeutel an seiner Seite und warf dem Untier etwas zu,<br />

das wie ein gesprenkelter Pilz aussah. Wie ein leidlich beruhigter Wachhund drehte sich das Tier wieder um und<br />

begann mit seinen Beißzangen den Brocken zu zerkleinern und einzuspeicheln. Bizarre Facettenaugen musterten<br />

Odilon immer noch misstrauisch, der es immer noch nicht wagte, näher zu treten. Diese Spinne war ein tödlicher<br />

Gegner. Der Greis wandte sich wieder dem Buch zu, das auf seinen verschränkten Beinen lag, und blätterte weiter.<br />

"Für einen Greis habt ihr scharfe Augen, wenn Ihr das Tagebuch des Alboran <strong>von</strong> Friedwang beim Lichte des<br />

Madamals zu lesen vermögt, Marajin <strong>von</strong> Tuzak!" Odilons Stimme klang ruhig und übertönte gerade noch das<br />

ewige Murmeln der Brandung.<br />

„Greis? Ihr irrt euch. Ich zähle keine sechzig Drehungen der Weltenscheibe. Es ist der Dschungel, der meinen Leib<br />

altern ließ, der Dschungel und der Krieg. Meine Augen sind so scharf wie die eines Marans. Aber hört nicht auf<br />

meine eitlen Worte. Tretet näher, Odilon Wildgrimm. Meine achtbeinige Freundin wird Euch nichts tun,<br />

vorausgesetzt, Ihr macht keine all zu rasche Bewegung."<br />

Der Gallyser nickte und stieg auf das schwarzglänzende Basaltgestein hinauf.<br />

"Setzt Euch doch." Marajin wies ihm den Platz. Odilon ließ sich nieder, ebenfalls im Schneidersitz. "Gewiss, ich<br />

bin Marajin <strong>von</strong> Tuzak. Wie habt Ihr mich so schnell erkannt?"<br />

"Nun, es sind die Priester der Eukolizana, die sich als einzige auf die Kunst der Zähmung der Maraske verstehen.<br />

Ihr seid also schon einmal ein Diener des Rur und Gror. Außerdem sprecht ihr mit Tuzaker Dialekt, der hier oben<br />

sehr selten zu vernehmen ist. <strong>Das</strong> richtige Alter habt Ihr ebenfalls, auch wenn ich mir Euch wirklich älter<br />

260


vorgestellt habe, als Ihr seid. Man vergisst leicht, dass die unselige Schlacht <strong>von</strong> Hemandu noch keine vierzig<br />

Götterläufe zurück liegt. Zuletzt weiß ich <strong>von</strong> den Schmugglern, dass Ihr der Vater Rurmanjinns seid. Ja, ich<br />

glaube, Meldorjin hat es mir erzählt."<br />

Der Priester lächelte. "Ihr nennt die Schlacht <strong>von</strong> Hemandu unselig? Ihr, ein Garethja? Was missfällt Euch denn an<br />

Eurem großen Sieg?"<br />

"<strong>Das</strong>s er mit Helme Haffax einem Dämonenbuhlen zum Herren einer Insel gemacht hat, die einst <strong>von</strong> Tsa gesegnet<br />

war."<br />

"Glaubt Ihr an die Macht des Schicksals?"<br />

"Gewiss. Vielleicht nicht ganz so intensiv, wie Ihr <strong>Maraskan</strong>er es tut, aber..." Odilon beendete den Satz nicht.<br />

Marajin wies in Richtung Strand, wo Alrik Tsalind <strong>von</strong> Friedwang schlief: "Ich wusste, dass Alboran in irgendeiner<br />

Form zurückkehren würde. Früher oder später. Nun begegne ich also seinem Enkel und lese in seinem Tagebuch.<br />

Er begann gerade, zu verstehen. Ja, der Baron <strong>von</strong> Friedwang lernte schnell. Schneller als die anderen Garethjas."<br />

"Was erwartet uns im Tal der Glühwürmchen?"<br />

"Was erwartet I h r denn vom Tal der Glühwürmchen?" Odilon lachte auf. Eine echt maraskanische Antwort.<br />

"Manche sagen, dass dort ein Schatz versteckt sei."<br />

Der <strong>Maraskan</strong>er lächelte erneut. "Und? Was ist Eure Meinung?" Auch Odilon konnte sich ein Grinsen nicht<br />

verkneifen. "Nun, wenn <strong>Maraskan</strong>er <strong>von</strong> Schätzen sprechen, hat dies meist einen Hintersinn." Er zuckte mit den<br />

Schultern. "Wahrscheinlich liegt dort ein Krug mit Heiligem Talued-Wasser, vielleicht Schriftrollen.<br />

Möglicherweise auch wirklich <strong>Gold</strong> oder etwas anderes Wertvolles?"<br />

"So seid Ihr auf Reichtümer aus, auf glänzendes <strong>Gold</strong>, verbotenes Wissen oder auf wundersame Genesung aus den<br />

Wassern des Talued, auch wenn sie einem die Erinnerung benebelt? Habt Ihr deswegen gleich Euer Leben riskiert?<br />

<strong>Das</strong> wäre närrisch."<br />

"Nun, ursprünglich sind wir hier, um die Gebeine des vormaligen Barons <strong>von</strong> Friedwang zurück in seine Heimat<br />

zurück zu bringen."<br />

"Sein Leben um eines Toten willen aufs Spiel setzen? <strong>Das</strong> nenne ich noch närrischer. Euer Schwert scheint<br />

mitunter schärfer zu sein als Euer Verstand." Marajin klappte das Buch zusammen und steckte es weg. "Ihr sucht<br />

also die Knochen <strong>von</strong> Alboran Sigismund <strong>von</strong> Friedwang? Nun gut, der Baron hat mir dieses Leben gerettet, ich<br />

bin ihm also wohl zu ewigem Dank verpflichtet und damit auch denjenigen, die seines Blutes oder Freunde seiner<br />

Nachkommen sind. Ja, Rurs Pläne sind schwer ergründlich. Merkwürdig auch, dass der junge Garethja, der in der<br />

Klause gestorben ist, auch Sigismund hieß. Folgt mir! Es wird Zeit, Euch etwas zu zeigen."<br />

Der Priester stand auf und schritt gemessen den Strand entlang auf den Schrein zu. Die Maraske folgte ihm mit<br />

leise im Sand scharrenden Schritten. Odilon achtete darauf, dem Ungetüm nicht zu nahe zu treten. "Woher habt Ihr<br />

eigentlich gewusst, dass Alrik das Tagebuch seines Großvaters im Rucksack mit sich führt?" fragte Odilon in die<br />

entstandene Stille hinein.<br />

"Ich habe es nicht gewusst. Meine Absicht war, etwas in dem Rucksack zu suchen, das Eure Geschichte bestätigt."<br />

Marajin blieb unvermittelt stehen. "Ich muss Euch etwas gestehen. Rurmanjinn, mein Sohn, hatte nie die Absicht,<br />

euch ins Tal der Glühwürmchen zu bringen."<br />

"Was?"<br />

"Mein Sohn hegt wohl eher den Plan, Euch in den Dschungel zu führen und dort zu töten oder dem Heerbann der<br />

Friedlichen Schwestern zu überlassen. Zumindest vermute ich das, denn er verschließt sein Herz schon seit langem<br />

auch vor mir. Aber ich weiß, er hasst Garethjas, vor allem wenn sie das Ornat des Praios tragen und er macht wenig<br />

Unterschied zwischen Garethjas im Dienste des Helme Haffax oder im Dienste der Reichsbehüterin <strong>von</strong> Gareth,<br />

deren Soldaten uns kaum weniger Leid zugefügt haben als die Haffaxijas."<br />

"Bei Firun! Ich dachte, er wollte uns helfen?"<br />

"Ihr Garethjas seid einfach zu vertrauensselig. Wie Alboran damals. Ein scharfes Schwert und ein schwacher<br />

Verstand." Marajin kicherte leise.<br />

"Eure Tochter ist in seinen Augen eine Verräterin am Rur-und-Gror-Glauben, weil sie gemeinsame Sache mit<br />

Mittelreichern macht. Er würde Euch niemals zum Tempelschatz <strong>von</strong> Jergan führen, soviel steht fest. Er weiß ja<br />

nicht einmal, wo er sich befindet."<br />

"Und Ihr? Was ist mit Euch?"<br />

"Nun, wie ich schon sagte: Folgt mir einfach." sagte Marajin kurz entschlossen und wies auf das zerborstene Tor<br />

des Tempelchens. Er griff zu dem glühenden Scheit eines Lagerfeuers. Mit dieser Lichtquelle in der Hand trat er<br />

ein.<br />

Odilon folgte ihm, während die Maraske, wie eine Wächterin vor dem Eingang verharrte. Im Schrein selbst war nur<br />

der größte Schutt beseitigt worden, noch immer lag Schutt und Holz umher, Pfützen - aus Wasser? Oder Blut? -<br />

kräuselten sich unter dem Tritt des Priesters. Vor einer basaltenen Bodenplatte, die durch einen herabfallenden<br />

Balken zerschlagen war, blieb Marajin stehen.<br />

"Könntet Ihr mir einmal kurz helfen, dies beiseite zu räumen?" Odilon nickte, leicht irritiert. Dann schob er den<br />

schweren Stützbalken beiseite. Irgendwo am anderen Ende knirschte Schutt. Der Priester bückte sich und entfernte<br />

261


die Plattentrümmer. Zum Vorschein kam bräunlicher Dschungelboden, durchzogen <strong>von</strong> dunklem Wurzelwerk. "Ist<br />

es das, was ihr mir unbedingt zeigen wolltet? Was ist das?"<br />

"Die Wurzeln eines Trommelbaums."<br />

"Aber..."<br />

"Ganz recht. <strong>Das</strong> hier ist das Tal des Glühwürmchens, oder besser gesagt dessen äußerstes Ende im Nordwesten."<br />

"Aber der friedwanger Veteran hat uns gesagt, dass sie den Leichnam des Barons rechterhand des Weges nach<br />

Nuran vergraben haben, hinter einem Taleingang, der <strong>von</strong> zwei rabenförmigen Felsen flankiert wird."<br />

"Könntet Ihr Euch nach knapp vierzig Jahren noch einwandfrei erinnern, ob ihr einen Weg nach rechts oder nach<br />

links gegangen seid? Folgt dem Bach in den Dschungel hinein, und ihr werdet zwei Felsblöcke finden, die<br />

tatsächlich wie Raben aussehen. Aber Ihr habt ein klein wenig recht - die meisten Schatzsucher vermuten das Tal<br />

der Glühwürmchen auf der anderen Seite des Hira. Es ist nur das Tal der Schmetterlinge, das sie meinen. Die<br />

beiden sind sich sowohl vom Namen als auch der Form und Ausdehnung her sehr ähnlich." Odilon kratzte sich<br />

verwirrt am Kopf. Doch da war noch etwas. "Guneldes Vision... Darin kam das Meer nicht vor..."<br />

"Vision? Was für eine Vision?"<br />

"Der Grund, warum wir hier sind. Die Perainedienerin, sie hat geträumt, eine Dienerin des Rur und Gror hätte<br />

einen Krug zum Trommelbaum gebracht. Zum Grab ihres Großvaters Alboran, und ihn dort vergraben. Dann sei<br />

sie <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong>federn getötet worden."<br />

"Ja, sie hat recht geträumt. <strong>Das</strong> war Mirajida, meine Gemahlin." Der weißhaarige Mann senkte den Kopf. "Sie hat<br />

die Sira Jerganak regelmäßig mit Shatak und Reise versorgt, die sie im Trommelbaum deponiert. Vor beinahe 25<br />

Jahren ist sie im Dschungel umgekommen. Ihr zum Andenken habe ich diesen Schrein gebaut - über dem Grab des<br />

Barons <strong>von</strong> Friedwang."<br />

"Und das Meer?"<br />

"Die Küste erstreckte sich damals noch in einiger Entfernung <strong>von</strong> hier, einen ganzen Bogenschuss weit in Richtung<br />

des Riffs, und war hinter dichten Gestrüpp und Baumreihen verborgen. Erst die große Sturmflut, einige Jahre,<br />

nachdem meine Frau gestorben ist, hat die Landschaft so verändert, wie wir sie heute sehen. Die Flutwelle hat die<br />

Mangrovenbäume und die Basaltfelsen, die das Tal vom Meer abgetrennt haben, beiseitegefegt, und den<br />

Trommelbaum, der hier stand, gefällt. Möglicherweise war es auch ein Seebeben, so etwas kommt hier vor. Im Jahr<br />

darauf haben wir dann begonnen, einen Schrein zu bauen, um denjenigen zu gedenken, die hier aus dem Buch der<br />

Anwesenden Gestrichenen gestrichen worden sind und den Rebellen einen Ort der zu geben, um die Göttlichen<br />

Geschwister zu ehren. <strong>Das</strong> ist die ganze Geschichte."<br />

"Und der Tempelschatz <strong>von</strong> Jergan? Oder die Kriegskasse des Frumold? Ihr sollt ihn doch vergraben haben?"<br />

"Von einem Schatz im Tal der Glühwürmchen habe ich selbst schon als kleiner Junge gehört, und mein Großvater<br />

und dessen Großvater. Die Herkunft des Schatzes hat sich <strong>von</strong> Generation zu Generation verändert, aber die<br />

Geschichte selbst ist immer gleich geblieben. Ammenmärchen. Es gibt keinen Schatz, außer im Kladj auf dem<br />

Basar <strong>von</strong> Jergan. Es gibt nur die Knochen des Barons, eingehüllt in ein Gewirr aus durch Salzwasser konservierten<br />

Wurzeln, das keine Axt je durchtrennen wird."<br />

Marajin wies auf das Geflecht unter der Bodenplatte. "Seht: Der Baron <strong>von</strong> Friedwang wollte damals <strong>Maraskan</strong><br />

erobern, nun lässt <strong>Maraskan</strong> ihn nicht mehr los."<br />

Odilon senkte den Blick auf das verglimmende Holzscheit, das neben dem Loch im Boden lag. "<strong>Das</strong> heißt, alles<br />

war umsonst, die Strapazen, die Opfer... alles?"<br />

"Wenn man den Umfang der Welt aus einer Wurzelknolle ersehen kann und auch in einer Maraske die Schönheit<br />

der Welt verborgen liegt, glaubt ihr nicht, dass alles einen Sinn hat?"<br />

"Nun werdet Ihr mir sicher gleich erzählen, dass in diesem Fall der Weg das Ziel war, oder eine andere<br />

maraskanische Weisheit vorbringen?" Aber vielleicht ist das alles nur ein Trick, um uns <strong>von</strong> dem eigentlichen Tal<br />

fernzuhalten, dachte Odilon. Andererseits, die schwarzen Wurzeln zu seinen Füßen sprachen eine eindeutige<br />

Sprache. Er spürte, dass dies ein Grab war.<br />

Nein, Marajin sprach die Wahrheit. Denn nun sah er auch den rostigen Schwertgriff zwischen einzelnen<br />

Wurzelsträngen liegen, halb in die Erde eingedrückt. Er nahm in heraus und starrte ihn dumpf brütend an.<br />

"Alles umsonst" rief der Gallyser aus. "Vom ersten Tage an vergebens. Die Reise, die Kämpfe und Sigismunds<br />

Tod..."<br />

"Sigismund ist tot?" fragte eine matte Frauenstimme. Odilon fuhr herum und ließ das rostige Stück Schwert fallen.<br />

Alvan stand im Eingang, mit bleichem Gesicht und blutigem Verband um die Schultern. Ihrem stieren Blick nach<br />

zu urteilen, hatte sie die Maraske neben ihr gar nicht bemerkt.<br />

"Alvan, du solltest nicht aufstehen." Besorgt eilte Odilon auf seine Tochter zu.<br />

"Sigismund ist also tot?" wiederholte sie ihre Frage, mit leise bebender Stimme.<br />

"Ja. Und die Queste war völlig umsonst." Ihr Vater nickte stumm. "<strong>Das</strong> also war das, was Boron bezweckte", sagte<br />

er mit jäher Bitterkeit in der Stimme. "<strong>Das</strong>, was er immer bezweckt. Den Tod. Deswegen hat er Gunelde die Vision<br />

in seinem Tempel geschickt: Um den Tod zu bringen."<br />

262


"Sigismund ist tot" flüsterte Alvan. Sie versuchte zu weinen, aber keine Träne entrann ihren Augen. Eine Zeit des<br />

Schweigens verging.<br />

"Kann ich ihn sehen... noch einmal sehen?"<br />

"Ich glaube nicht, dass das gut wäre" murmelte Odilon. Nein, seine Tochter durfte die gräßlichen<br />

Verstümmelungen nicht sehen, die die Flutwelle an Sigismunds Leib hinterlassen hatte.<br />

"Ich kann Euren Schmerz verstehen. Vielleicht ist es nicht ganz so trostlos, wie ihr denkt."<br />

Marajin ging auf den Altarstein aus dunklem Vulkanstein zu. Er betätigte einen geheimen Mechanismus, dann<br />

rollte der Block beiseite. Im Boden kam eine Vertiefung zum Vorschein, in deren Mitte ein nach Zimt duftendem<br />

Kästchen aus irgendeinem Edelholz stand. Der Priester nahm es heraus, öffnete es. Es war mit Samt ausgeschlagen<br />

und enthielt einen ledernen Beutel. Marajin nestelte dessen Bändel auf. Ein in allen regenbogenfarben schillernder<br />

Opal rollte in seine Hände, so groß wie ein Taubenei. Odilon trat näher. Der Stein zeigte das Zeichen der Tsa, auf<br />

irgendeine merkwürdige Weise in den Kristall geschnitten. Sanftes, warmes Regenbogenlicht fiel in den Raum, wie<br />

ein Trost in dunkler Nacht.<br />

"Die Sturmflut hat ihn damals an Land geschleudert" flüsterte Marajin. "Ich vermute, dass er aus einem alten<br />

Echsentempel stammt, der einmal an der Küste gestanden haben und dort untergegangen sein muss. Ich habe ihn<br />

genau auf Alborans Grab gefunden. Merkwürdig, nicht war. Aber so ist es nun einmal auf <strong>Maraskan</strong>. Leben und<br />

Tod sind eins. Vielleicht war es nicht nur Bruder Boron, der euch die Vision gezeigt hat, sondern Schwester Tsa."<br />

"Tsa, Göttin des Lebens." flüsterte Odilon. <strong>Das</strong> warme, freundliche Licht schien stärker zu werden und sich in<br />

ihren Gesichtern zu spiegeln.<br />

"Ganz recht. Sie gemahnt uns daran, dass es keinen wirklichen Tod gibt, sondern einen ewigen Kreis aus Vergehen<br />

und Wiederkehr. Dies gilt auch für Euren toten Gefährten. Der Stein ist ein Zeichen, ebenso wie Euer Erscheinen<br />

ein Zeichen ist. Vielleicht ist es der Wille der Göttin, dass dieses Artefakt in einen ihrer Tempel auf dem Festland<br />

gebracht wird. Ja, ich bin fast sicher, dass Sie Euch die Vision gesandt hat, <strong>von</strong> der ihr sprecht. Denn Leben und<br />

Tod sind eins, Boron und Tsa Geschwister." Odilon nickte. War das Haus Friedwang der Göttin Tsa nicht seit alters<br />

her besonders eng verbunden? Alborans Tochter und deren Sohn trugen sogar deren Namen in den ihrigen.<br />

Hoffnung durchflutete ihn, als er den freundlichen Schimmer des Opals sah. Vielleicht war ihre Reise doch nicht<br />

völlig sinnlos gewesen.<br />

"Meldorjin wird bald nach Khunchom aufbrechen. Wir werden den Stein in den dortigen Tempel der Lebensgöttin<br />

bringen." hörte der Gallyser sich sagen.<br />

Marajin nickte. "Ja, ich glaube, dies ist auch der Wille Rurs." Er steckte das Juwel in den Beutel und legte diesen<br />

wieder in das Kästchen. Mit einem Scharren glitt der Altar wieder zurück und verbarg das Kästchen vor<br />

neugierigen Blicken.<br />

"Die Stunde der Morgendämmerung ist nicht mehr fern" stellte Marajin fest.<br />

"Die Dunkelheit weicht und ein neuer Tag beginnt. Hadert nicht mit Eurem Schicksal. Die Schönheit der Welt und<br />

das Wissen darum ist das wahre <strong>Gold</strong> <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong>."<br />

"Ihr habt sicher Recht. Lasst uns nun gehen." Odilon wandte sich zur Tür. "Alvan, du musst dich wieder hinlegen<br />

und schonen."<br />

Die Halbelfe schüttelte den Kopf. "Lasst mich noch einen Augenblick hier bleiben und beten." Odilon dachte kurz<br />

nach, dann nickte er.<br />

"Ich warte draußen auf dich."<br />

Die beiden Männer gingen und die Edle <strong>von</strong> Nordenheim war allein.<br />

Alvan trat auf den Altar zu, wie betäubt <strong>von</strong> dem, was sie soeben erfahren hatte. Vor dem schwarzen Stein sank sie,<br />

überwältigt <strong>von</strong> körperlichem und seelischem Schmerz zusammen.<br />

Sigismund ist tot. Sigismund ist tot.<br />

Sie konnte es nicht begreifen.<br />

Sigismund ist tot.<br />

Dann begriff sie.<br />

Ich erinnere mich.<br />

Alles ist, als wäre es gestern geschehen. Ich reite die Straße nach Jergan entlang, durch den grünen, dampfenden<br />

Dschungel. Die Haut dampft mit unter dem viel zu schweren Plattenpanzer. Elfenkönig ist erschöpft <strong>von</strong> dem<br />

langen Ritt, er stolpert.<br />

263


Ich stolpere mit und der Pfeil surrt knapp über mich hinweg. Ein Hinterhalt. Überall <strong>Maraskan</strong>er mit ihren bunten<br />

Rüstungen und verschlagenen Gesichtern. Ein Kampf, viele blitzende Klingen...<br />

Meine tapferen Friedwangen halten sich prächtig. Aber viele sterben, so viele... Triumph! Wir haben sie in die<br />

Flucht geschlagen... Ein Krabbeln auf meiner Wange. Verfluchte Stechmücken! Ich schlage nach dem Ungeziefer.<br />

Etwas beißt mich. Nein, das ist kein Moskito, sondern ein Käfer... Plötzlich ist alles so seltsam. Alles<br />

verschwimmt, der Dschungel, die Straße, das Blut. Ein Rausch aus Farben und Tod...<br />

Als ich wieder zu mir komme, liege ich in meinem Feldbett. Der Abendregen fällt, und vom Meer her naht eine<br />

kühle Brise. Jargan ist bei mir, Jargan, mein tapferer Knappe, und der <strong>Maraskan</strong>er. Der Junge weint, während er<br />

mir die glühende Stirn mit einem Tuch kühlt. Ich muss ihn ermahnen, tapfer zu sein. Tapferer Jargan. Draußen<br />

tuscheln meine Bauern, gaffen zum Zelt herein und stehen herum wie dumpfes, verstörtes Vieh, das den nahenden<br />

Tod spürt.<br />

Es geht zu Ende mit mir. Ich sterbe. Sangive. Tsalinde. Lebt wohl. Ich werde Euch nie wiedersehen. Lebe wohl,<br />

mein geliebtes Nordenheim, Ort der Kindheit. So ist es also, wenn man zu Boron geht. Mir graut vor seiner kalten<br />

Halle.<br />

Wie aus weiter Ferne höre ich die Stimme der Lebenden. Marajin spricht zu mir, <strong>von</strong> Wiedergeburt und der<br />

Schönheit der Welt. Offenbar versucht er mich zu seinem Glauben zu bekehren. Der <strong>Maraskan</strong>er fragt mich etwas,<br />

und ich nicke, obwohl ich ihn nicht verstehe. Er legt seine Hand auf meine Schulter, und alles ist mit einem mal so<br />

leicht, so tröstlich. Was, wenn er am Ende recht hat?<br />

Der Regen verebbt und eine Zeitlang liege ich schweigend, höre nur meinen rasselnden Atem, der schwerer geht<br />

und schwerer. Ein Glühwürmchen kommt durch den Zelteingang hereingeflogen. Ich sehe ihm zu, bis sein Licht<br />

verglüht. Dann Dunkelheit. Dunkelheit...<br />

"ALVAAAN!" Odilon schrie, während er seine Tochter an der gesunden Schulter rüttelte. Die Elfe war am Altar<br />

zusammengesunken, ein Lächeln umspielte ihr totenbleiches Gesicht.<br />

Ein tastender Griff an den Hals verriet dem Waldläufer, dass sie noch lebte. Aber in ihrem Inneren tobte das Fieber.<br />

„Lass Sie“ Marajin zog Odilon beiseite. „Sie versteht, sie beginnt zu verstehen. Und das ist anstrengend.“ Auch<br />

Alrik legte beruhigend die Hand auf Odilons Schulter. Odilon hatte gar nicht bemerkt, dass Alrik hinzu getreten<br />

war. Der Friedwanger musste erwacht sein, als Odilon in seinem Rucksack nachgesehen hatte.<br />

Alriks Blick fiel auf das Schwert, das Odilon aus dem Grab gezogen hatte und noch immer in der Hand hielt.<br />

„Ein Schwert mit dem Steinbockwappen auf dem Knauf!“ rief er aus. <strong>Das</strong> ist Friedwanger Machart!“<br />

„Ja. <strong>Das</strong> Schwert Deines Großvaters. Hier ist sein Grab, Marajin hat es mir eben gezeigt. Seit Tagen lagern wir<br />

hier, ohne zu Wissen, dass wir bereits im Tal der Glühwürmchen, am Ziel unserer Reise, angelangt sind.“, erklärte<br />

Odilon.<br />

„Na, wenn das mal nicht der Schönheit der Welt dient!“ Alrik lachte. „Da mag man gar nicht mehr an Zufälle<br />

glauben.“ Alrik hatte der Erzählung Marajins offenbar schon eine Weile gelauscht. „Dann sind wir also am Ziel<br />

unserer Reise angelangt. Hier ist das Grab <strong>von</strong> Guneldes... unseres Großvaters. Seine Gebeine können wir nicht<br />

bergen, da sie gänzlich vom Geflecht der Wurzeln des Trommelbaumes umschlossen werden. Wir müssten<br />

tagelang den Wurzelstock ausgraben und dabei den Rest der Kapelle zum Einsturz bringen, wollten wir die<br />

Knochen bergen. Und einen anderen Schatz des Jerganer Tempels hat es nie gegeben. Was für ein Ende unserer<br />

Reise.“<br />

„Ja. Mir scheint, Eure Reise war soweit erfolgreich. Auch wenn Ihr Euren Großvater nicht bergen könnt, so könnt<br />

Ihr aber immerhin sein Schwert heimführen und Euren Segen über die Grabstätte sprechen. Ich denke, damit habt<br />

ihr Eure Schuldigkeit gegenüber Eurer Familie wohl getan.“<br />

„Ja, gewiss. Die Schuld Guneldes und meiner zu Alboran Sigismund <strong>von</strong> Friedwang ist abgetragen.“, antwortete<br />

Alrik. „So wie auch Ihr Eure Schuld abgetragen ist.“<br />

„Wie meint Ihr das?“ Marajin war sichtlich überrascht.<br />

„Warum sonst hättet Ihr uns retten wollen vor dem Tod, in den Rurmanjinn uns führen wollte?“<br />

„Ja, richtig. Ich bin ein Diener der Zwillinge. Auf seinem Totenbett stellte ich Alboran die Frage, die mir schon<br />

lange auf dem Herzen lag. Ich fragte ihn, ob er die Zwillinge geschaut habe, ob er die Schönheit der Welt nun<br />

verstünde und ob er nun begonnen habe zu glauben. Alboran antwortete mit einem Nicken. Es war das letzte, was<br />

er tat in seinem Leben. Noch im Sterben ist er zum Glauben an die Zwillinge konvertiert. Es ist Brauch bei uns,<br />

dass ein Gläubiger auf den Schutz der Priester vertrauen kann. Und ich konnte nichts mehr für Alboran tun außer<br />

für ihn beten. <strong>Das</strong> einzigste, was ich jetzt für Alboran tun konnte, ist seine Enkelkinder auf eine sichere Heimreise<br />

zu geleiten. Ich bin es Alboran schuldig gewesen zu verhindern, dass mein Sohn seine Enkel tötet.“<br />

„Sehr nobel <strong>von</strong> Euch. Ich bin Euch richtig dankbar. Nein, wirklich.“ Alriks ironischer Tonfall machte deutlich,<br />

dass er Marajin nicht recht glaubte, was diesen sichtlich verunsicherte. „Aber beantwortet mir eine Frage. Nachdem<br />

264


Rurmanjinn gesehen hat, dass wir offenbar keine völlig harmlosen Gegner sind muss er sich im klaren darüber sein,<br />

dass es zumindest mal ein gewisses Risiko darstellt, uns töten zu wollen, oder auch nur uns im Dschungel allein zu<br />

lassen in der Hoffnung, dass der Heerbann der friedlichen Schwestern den Rest erledigt.“<br />

„Ja, mag sein. Ich für meinen Teil möchte weder meinen Sohn sterben sehen noch Euch.“<br />

„Folgerichtig habt Ihr also uns deswegen das Grab meines Großvaters gezeigt damit es zu keinem Blutvergießen<br />

zwischen uns kommt.“<br />

„Ja“<br />

„Was mich aber zu der Frage führt, warum uns Rurmanjinn überhaupt tot sehen will. Wenn es hier doch tatsächlich<br />

keinen Schatz gibt, sondern nur bleiche Knochen und ein altes Schwert. <strong>Das</strong> hätte uns doch auch Rurmanjinn<br />

schlicht überlassen können, da beides wohl völlig wertlos für ihn und seine Rebellen ist. Warum also sollte<br />

Rurmanjinn ein Risiko eingehen, wenn er sich da<strong>von</strong> keinen Gewinn verspricht.“<br />

Marajin gab keine Antwort. Ein leichtes Zittern verriet Alrik, dass der <strong>Maraskan</strong>er sich in die Enge getrieben<br />

fühlte.<br />

„Ihr seid mir sehr sympathisch, ehrlich. Ich sehe auch nicht gern etwas zwischen uns stehen, aber ich werde nun<br />

einmal nicht gerne angelogen!“ setzte Alrik nach.<br />

„Nun, wie ich sagte verschließt Rurmanjinn seine Gedanken vor mir. Ich weiß nicht, was er sich da<strong>von</strong> erhoffte. Er<br />

hat es mir auch nicht gesagt. Vielleicht hatte er Angst, der heilige Ort könnte entweiht werden, wenn man das Grab<br />

öffnet, und ein wichtiges Sanktuarium, ein wichtiger Zufluchtsort, wäre dahin. Ich weiß es nicht.“<br />

„Ja, so könnte es gewesen sein. Könnte aber auch sein, dass es hier wirklich einen Schatz gibt und ihr ebenso wie<br />

Rurmanjinn verhindern wollt, dass wir ihn finden. Nur jeder auf seine eigene Weise. Hm, eigenartig. Irgendwie<br />

finde ich diese Interpretation der Dinge viel wahrscheinlicher.“<br />

„Äh, ja. Ich kann diesen Gedankengang nachvollziehen. Aber...“ stammelte Marajin<br />

„Ich kann Eure Handlungsweise auch nachvollziehen. Und ich finde es ja auch sehr zuvorkommend <strong>von</strong> Euch, dass<br />

Ihr Euren Sohn an seinem Plan hindern wollt. Vielleicht beruhigt es Euch, dass wir anfangs wirklich nur wegen<br />

unserem Großvater gekommen sind. Erst unterwegs haben wir die Erzählungen <strong>von</strong> dem Schatz gehört. Und da die<br />

Wege der Götter unergründlich sind, wie man bei uns sagt, aber doch alles irgendwie der Schönheit der Welt dient,<br />

wie man bei Euch sagt, fragten wir uns, ob es nicht unsere Aufgabe sei, den Schatz auch gleich zu heben um damit<br />

möglicherweise Gutes zu bewirken. Vor allem aber sind wir bei unserem Wissensdurst und Forscherdrang gepackt.<br />

Wir sind nicht so weit gereist und haben so viele Gefahren überstanden, um hier mit der halben Wahrheit wieder<br />

heim zu reisen.“<br />

„Nun, Ihr seht selbst, dass sich hier nichts anderes befindet als eben das Grab Eures Großvaters. Es steht Euch frei,<br />

hier herumzubuddeln soviel ihr wollt. Ich werde Euch nicht daran hindern. Allein, es wird vergebens sein, und ich<br />

weiß nicht wie mein Sohn darauf reagieren wird.“<br />

Alrik seufzte. Er wusste, dass dieser Marajin etwas verbarg.<br />

„Aber mein Gefährte hat Recht.“, mischte Odilon sich ein. „Ihr habt uns angelogen. Ja, es ist wohl die Wahrheit,<br />

dass dies das Grab Alborans <strong>von</strong> Friedwang ist. Aber das ist nur der unverfängliche Teil der Wahrheit. Glaubt uns,<br />

es geht uns wirklich nicht darum, uns an fremdem <strong>Gold</strong> zu bereichern. Ich für meinen Teil habe kein Interesse an<br />

<strong>Gold</strong> und Edelsteinen. Wir haben daher auch mit den Schmugglern ausgehandelt, dass sie <strong>Gold</strong>, Silber, Edelsteine<br />

und Münzen aller Art, soweit sie im Schatz vorhanden sind, behalten dürfen. Und das käme ja letztlich auch den<br />

Rebellen zugute. Schließlich segelt die Nachtwind für Sinoda, respektive für das Königreich <strong>Maraskan</strong>. Und<br />

ebenso hat Alvan geschworen, dass sie alles weitere in die Obhut eines Tempels der Zwillinge gibt. Für uns selbst<br />

bleibt also gar nichts <strong>von</strong> dem Schatz als allein das Wissen darum und die Sicherheit, vielleicht mit der Hebung des<br />

Schatzes zur Befreiung <strong>Maraskan</strong>s beigetragen zu haben.“<br />

„Wo soll ich Euch denn angelogen haben“ wich Marajin aus, teils um Zeit zu gewinnen, teils um zu sehen, ob<br />

Odilon nicht vielleicht nur bluffte.<br />

„Ihr sagtet, Eure Gattin Mirajida habe die Rebellen mit Reis und Shatak versorgt und die Lebensmittel hier<br />

deponiert. Habt ihr einmal darüber nachgedacht, wie viel Reis und Shatak ungefähr, sagen wir etwa einhundert<br />

Rebellen so essen? Diese Menge kann eine Frau allein gar nicht mal so eben einkaufen und zwei Tage <strong>von</strong> Jergan<br />

hierher tragen. Dazu bräuchte sie einen Esel und einen Eselkarren. Mir kann aber nun keiner erzählen, dass die<br />

Garethischen Soldaten nicht gemerkt hätten, allwöchentlich größere Mengen Reis und Shatak kauft und dann durch<br />

den Dschungel transportiert. <strong>Das</strong> wäre aufgefallen. Mirajida hätte Wagenspuren hinterlassen, und die Klause wäre<br />

schon viel früher entdeckt worden. Und beim Transport <strong>von</strong> der Klause ins Lager hätten die Rebellen auch Spuren<br />

hinterlassen. Nein, das wäre viel zu gefährlich gewesen. Reis und Shatak kann man schließlich viel leichter auch im<br />

Dschungel anbauen, in völlig ausreichender Menge.“<br />

Marajin lachte. „Nagut, ich gebe mich geschlagen. Ihr habt Recht. Mirajida hatte zwar Kontakt mit den Rebellen,<br />

aber sie hat sie nicht mit Reis versorgt. Aber das ist eine andere Sache. Mirajida hat den toten Briefkasten hier<br />

bestückt, damit der Kontakt der Rebellen nach Jergan funktionierte. Aber Mirajida hat keinen Schatz hierher<br />

gebracht und auch keinen hier gesehen. Und ich auch nicht.“<br />

265


„<strong>Das</strong> glaube ich Euch sogar. Ihr seid ein wahrer Meister darin, die Wahrheit so wortgetreu zu sagen, dass einem<br />

kaum auffallen würde, dass ihr noch etwas verschweigt. Was ist eigentlich aus Eurer Schwiegertochter geworden?“<br />

Odilon wollte den Priester weiter unter Druck setzen. Just in diesem Moment bewegte sich Alvan. Die Halbelfe<br />

schien wieder zu sich zu kommen.<br />

„Kümmert Euch besser um Eure Tochter.“ sagte Marajin und deutete mit einem Kopfnicken zu Alvan. Odilon<br />

drehte sich zu seiner Tochter um, die tatsächlich die Augen öffnete.<br />

„Vater!“ rief Alvan, als sie wieder zu sich gekommen war. „Alboran war... er glaubte... er glaubte an die Zwillinge!<br />

Marajin hat ihn bekehrt zum Glauben an Rur und Gror. Er... Er glaubte an die Wiederkehr!“<br />

„Ja, das tat er.“, bestätigte Marajin. „Am letzten Tag seiner Existenz begann er zu glauben.“<br />

„Marajin, was habt ihr zu ihm gesagt, als er entschlief? Was wolltet ihr ihm mitteilen? Er selbst konnte es nicht<br />

mehr verstehen.“<br />

„Dann... dann ist es also wahr geworden? Dann ist Alboran wiedergekehrt?“<br />

„Ja. Marajin, was hast Du Alboran geantwortet, als er starb?“<br />

„Ich sagte ihm, dass wir uns wiedersehen würden. In diesem oder im nächsten Leben.“<br />

Alvan zitterte ein wenig. „Ich weiß dass nur die wenigsten sich daran erinnern können, in welcher Form sie den<br />

Weltendiskus in ihrer vormaligen Existenz geschaut haben. Vielleicht liegt es daran, dass hier Alborans Grab ist,<br />

und dass ich es nur hier erfahren konnte. Aber hier ist der Schnittpunkt zwischen meinem früheren Leben und<br />

meinem jetzigen Leben. Seltsam, dass mir das nicht früher schon aufgefallen ist. Wir beide lebten in Nordenheim,<br />

und in unser beider Leben hat eine Reise nach <strong>Maraskan</strong> uns den Glauben gebracht, und das sogar am selben Ort.<br />

Hier, als Mylendijian hier lebte, konvertierte ich und begann meinen Weg als Priesterin. Und beinahe hätten wir<br />

sogar denselben Namen getragen.“<br />

Alrik schaute erstaunt. Alvan und Alboran waren sich im Klang der Namen nun auch wieder nicht so ähnlich.<br />

„Ja, das ist richtig,“ erläuterte Odilon, als er den fragenden Blick auf Alriks Gesicht sah. „Jirka wollte unserer<br />

zweiten Tochter ursprünglich den Namen Alvorana geben. Im Isdira bedeutet der Name soviel wie `die<br />

morgendliche Sonne, die im Osten aufgeht´. Aber Veneficus hat gebeten und gebettelt, doch einen anderen Namen<br />

zu wählen, weil Alvorana dem Namen Alboran zu sehr ähnelt. Und damals, unter Baron Weldorn, war das<br />

Verhältnis zwischen Gallys und Friedwang weitaus frostiger als heute. Da wäre Alborana oder Alvorana schlicht<br />

ein kleiner Eklat gewesen. Also haben wir uns dann auf die Kurzform Alvana geeinigt. Was im Isdira keine<br />

wirkliche Übersetzung hat. Aber man könnte vielleicht `die Heimkehrende´ oder `die Wiederkehrende´ als<br />

Übersetzung angeben.“<br />

Marajin blickte Alvan schweigend an.<br />

„Eure Schwiegertochter, Rurmanjinns Frau, hieß ebenfalls Mirajida. Sie war es, die Gunelde in ihrem Traum<br />

gesehen hatte. Sie war es, die <strong>von</strong> den <strong>Maraskan</strong>federn zerfressen worden war, nicht war?“ unterbrach Alrik. Ihm<br />

war das Gerede schlicht zu viel. Dieses maraskanische Gefasel <strong>von</strong> Wiedergeburt war ja als rein theoretisches<br />

Gedankenspiel ganz nett, aber wenn dass heißen sollte, dass seine Lehensfrau Alvana <strong>von</strong> Baernfarn sein Großvater<br />

Alboran war, dann ging ihm das entschieden zu weit.<br />

„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Aber es könnte sein. Hört mir zu. Mirajida war eine junge Novizin<br />

im Tempel <strong>von</strong> Jergan. Sie war hübsch. Verdammt hübsch, aber ich schätzte sie nicht besonders. Wegen ihrer<br />

Eitelkeit und ihrer Hochnäsigkeit. Sie war ein Mädchen aus gutem Haus. Mein Sohn Rurmanjinn hat sie im Tempel<br />

kennen gelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Von Anfang an war mir das nicht recht. Die junge Mirajida<br />

spielte mit meinem Sohn, wie nur eitle junge Mädchen das tun können. Ich bat meinen Sohn zur Vernunft zu<br />

kommen, aber gegen die innige Liebe, die mein Sohn ihr entgegen brachte, konnte ich nichts tun. Naja, so ist die<br />

Jugend eben. Als Rurmanjinn die Kleine geschwängert hatte, das war kurz bevor Haffax die Macht an sich riss,<br />

bestanden ihre Eltern, wie auch ich, darauf, dass die beiden heirateten. Rurmanjinn freute sich darauf, aber Mirajida<br />

war wütend. Wütend auf mich und auf ihre Eltern, die sie dazu zwangen, ihr Leben mit einem nach Urwald<br />

stinkenden Bauerntölpel zu verbringen, der für sie nur ein Abenteuer war.“<br />

Alrik musste grinsen. Die Geschichte ähnelte doch fast der seiner Schwester Gunelde, die ja auch einen<br />

Bauernsohn geehelicht hatte.<br />

„Jedenfalls war sie seitdem unausstehlich im Tempel, kam ihren Pflichten kaum noch nach und war... na ja einfach<br />

schwierig eben. Sie ließ sich nichts sagen <strong>von</strong> mir, und auch <strong>von</strong> den anderen Priestern nicht. Als dann Haffax in<br />

Jergan an die Macht kam forderte sie, wir müssten alle Schriftrollen und alles andere, was <strong>von</strong> Bedeutung war, in<br />

Sicherheit bringen. Hier in Jergan bestünde Gefahr, dass die Verderbten etwas in die Hände bekämen oder auch<br />

zerstörten. Wir anderen Priester hielten dagegen, dass eine Reise mit den Gerätschaften viel zu auffällig und zu<br />

gefährlich sei. Vor allem, wenn wir, wie sie wollte, die ganzen Heiligtümer ans Festland verschiffen würden, wie<br />

Mirajida forderte. Gemeinsam überstimmten wir sie. Mirajida hatte wütend mit dem Fuß aufgestampft und war aus<br />

dem Tempel gerannt. Wir hatten sie nicht aufgehalten.<br />

Am nächsten Morgen bemerkten wir, dass der Krug mit Talued-Wasser, den wir im allerheiligsten aufbewahrten,<br />

verschwunden war, und ebenso ein ledernes Säckchen mit Diamanten, die ein reicher Bürger in die Obhut des<br />

266


Tempels gegeben hatten. Nur ein Brief lag noch dort. Darin schrieb Mirajida, dass sie <strong>von</strong> unserer Verstocktheit<br />

enttäuscht wäre, und daher selbst beweisen würde, dass es nicht zu gefährlich sei, die wichtigsten Dinge in<br />

Sicherheit aufs Festland zu bringen.<br />

Ich bin daher Mirajida nachgeeilt. Es war nicht schwer, ihre Fährte zu verfolgen. Eigentlich wusste ich ja genau,<br />

wo ich suchen musste. Schließlich wusste Mirajida <strong>von</strong> Rurmanjinn, wo die Schmuggler anlegten. Es war<br />

naheliegend, dass sie mit den Schmugglern den <strong>Maraskan</strong>sund überqueren wollte. Also habe ich mich auf den Weg<br />

zur Klause gemacht. Es war ein stürmischer Tag. Grauenhaft.“ Marajin schüttelte sich. „Als ich ankam sah ich nur<br />

noch ein leeres Gerippe am Strand liegen. Ja, es muss dann wohl so gewesen sein wie ihr sagt. Ich hatte auch schon<br />

so etwas wie <strong>Maraskan</strong>federn vermutet. Kein anderes Tier nagt ein Gerippe so schnell ab wie eben diese<br />

schwirrende Plage. Wie gesagt, das Wetter war grauenhaft an diesem Tag. Es war der Tag der Sturmflut. Ich<br />

konnte nicht einmal mehr Mirajida begraben. Die Flut hat sie – und ein gutes Stück unseres schönen <strong>Maraskan</strong> –<br />

schlichtweg in die Tiefe gerissen.“<br />

„Ja, ich erinnere mich noch daran, wie es hier vor der Flut ausgesehen hatte, als Mylendijian hier lebte. Aber das<br />

war ja auch damals schon lange den Roab hinunter. Als Mylendijian starb hatten die Garether ja hier noch das<br />

Sagen.“ meinte Alvan.<br />

„So ist es. Als Mirajida, Rurmanjinns Mirajida, hierher kam mit dem Krug Talued-Wasser und den Edelsteinen,<br />

war Mylendijian schon einige Jahre tot, und die Klause hier war unbewohnt. Die Rebellen haben sie<br />

wiederentdeckt und dann aufgrund der günstigen und versteckten Lage als Kontaktplatz zu den Schmugglern<br />

genutzt. Aber Mirajidas Leichnam, na ja, was da<strong>von</strong> halt übrig blieb, ist mitsamt dem Schatz, wenn man ihn so<br />

nennen will, ein Opfer der Fluten geworden. Es gibt also tatsächlich keinen Schatz hier zu holen. Aber wie es<br />

scheint hat sich die Reise für Euch allemal gelohnt. Ihr habt mehr über die Schönheit der Welt erfahren als die<br />

meisten Menschen in ihrem ganzen Leben!“<br />

Odilon nickte. Ja, so war es wohl. Den Schatz gab es nicht.<br />

„Marajin!“ Alrik seufzte und schüttelte den Kopf. „Marajin, Du enttäuscht mich. Als in Guneldes Traum Mirajida<br />

an diesen Ort kam verbarg sie den Krug in den Ästen des Trommelbaumes. Sie ließ ihn nicht einfach so am Strand<br />

stehen. Und da auf diesem Trommelbaum ja Mylendijians Kapelle errichtet wurde frage ich mich, wo der zweite<br />

Trommelbaum ist.“<br />

Marajin schwieg wieder. Der scharfsinnige Garethja hatte sich auch jetzt nicht <strong>von</strong> ihm leimen lassen. Nagut. Es<br />

konnte auch nicht mehr schaden, auch noch den letzten Teil der Wahrheit zu erzählen.<br />

„Ja, der zweite Baum. Einen pflanzte ich zu Ehren Rurs, dort ließ ich die Kapelle errichten, die später Mylendijian<br />

betreute. Den zweiten zu Ehren Grors pflanzte ich direkt am Ufer. Wo damals eben das Ufer war. Die Flut hat ihn<br />

mit in die Tiefe gerissen. Mitsamt Mirajida, dem rurundgrorverdammten Diamantensäckel und dem gleichfalls<br />

rurundgrorverdammten Krug mit Talued-Wasser. Und wenn es auch nur ein Krug mit Marupisse gewesen wäre, ich<br />

kann dazu nicht mehr sagen. Seid Ihr jetzt endlich zufrieden?“<br />

„Der Trommelbaum! Ja, das war es! Als die Flutwelle mich in die Tiefe drückte stieß ich mit dem Knie gegen<br />

irgendeinen Ast. Dachte ich zuerst. Aber der Ast hat nicht nachgegeben. Wenn das der Trommelbaum war steht er<br />

noch immer dort, unter Wasser!“ rief Odilon.<br />

„Dann wollen wir mal nachsehen.“ Alrik war zufrieden. Endlich schien ihm die ganze Geschichte eine<br />

glaubwürdige Gestalt anzunehmen. Oder würde er bei weiterem Nachdenken noch mehr Ungereimtheiten<br />

entdecken? Egal, es konnte nicht schaden, einen Tauchgang zu unternehmen. Inzwischen konnte er noch über das<br />

Gehörte sinnieren.<br />

Ein erster zarter Sonnenstrahl blinzelte vorsichtig über die Gipfel der <strong>Maraskan</strong>kette, als Marajin, Alrik, Alvan und<br />

Odilon zum Strand gingen. Odilon wollte schon sein Hemd ausziehen, jedoch Alvan unterbrach ihn, einer<br />

unbestimmten Ahnung folgend. „Nein, Vater. Eine Priesterin der Zwillinge hat den Schatz dort versteckt, also soll<br />

auch eine Priesterin der Zwillinge danach suchen. Schließlich handelt es sich um Eigentum des Tempels <strong>von</strong> Rur<br />

und Gror, und ich denke es ist so auch eher im Sinne <strong>von</strong> Marajin und Rurmanjinn.“<br />

„Nagut, Alvan. Vielleicht ist es besser so. Ich bin gestern genug geschwommen, und ich werde auch langsam alt.<br />

Warum sollen nicht auch einmal Jüngere die Arbeit erledigen. Du musst einfach geradeaus schwimmen, dort wo<br />

der Steg war. Siehst Du die Maraszeder dort?“<br />

„Ja.“<br />

„Ungefähr auf Höhe der Maraszeder bin ich vor der Welle in die Tiefe getaucht. In etwa dort müsste auch der<br />

Trommelbaum sein.“<br />

Alvan zog ihre Bluse aus und warf sie achtlos an den Strand. Dann entledigte sie sich ihres Rockes und stieg in das<br />

Wasser. Es war angenehm warm, wärmer als die kühle Morgenluft. Also lief sie weiter, und als das Wasser ihr bis<br />

über die Hüfte reichte begann sie zu schwimmen. Mehrmals sah sie sich um nach der Maraszeder und auch nach<br />

ihrem Vater am Strand, der ihr die richtige Richtung mit dem Arm anzeigte. Gut fünfzig Schritt vom Ufer entfernt<br />

tauchte sie.<br />

267


Alvan entschwand aus den Blicken der drei am Strand verbliebenen Männer. Marajin ließ seinen Blick über das<br />

Meer schweifen.<br />

„Seht nur! Auf der Nachtwind lassen sie Boote zu Wasser. Sie bringen jetzt alle Güter für die Rebellen an Land.<br />

Wahrscheinlich wollen sie bald aufbrechen, bevor vielleicht noch die Verderbten in Jergan auf die Idee kommen,<br />

noch einmal ein Patrouillenschiff auszusenden, um zu sehen, warum <strong>von</strong> den Nuranern keiner mehr zurück<br />

gekommen ist. Ja, ist wohl auch besser so. Wir sollten zusehen, dass wir bis Mittag verschwunden sind.“<br />

Langsam kam auch Leben ins Lager der Rebellen. So nach und nach vernahm man Stimmen <strong>von</strong> den Schlafstätten<br />

der Rebellen. Alrik weckte Gunelde und den Inquisitor, während Odilon bei Marajin am Strand blieb. Alvans erster<br />

Tauchgang blieb ohne Erfolg. Es war noch recht dunkel im Wasser und Alvan konnte nicht sehr weit sehen. Alvan<br />

schwamm nach Odilons winken fünf Schritt weiter nach Norden und probierte es noch einmal.<br />

„Was macht ihr denn so früh am Strand?“ wollte Selbfried wissen.<br />

„Wir suchen den Schatz vom Tal der Glühwürmchen. Gunelde, was meinst Du? Wenn Du Dir vorstellst, das hier<br />

wäre früher Land gewesen, erst später hat eine Flutwelle das Ufer ins Landesinnere verschoben, könnte das dann<br />

hier so ähnlich aussehen wie in Deinem Traum?“<br />

„Ähm, irgendwie schaut <strong>Maraskan</strong> für mich überall gleich aus. Ich weiß nicht so recht. Es könnte sein. Zumindest<br />

sehe ich nichts, was nicht absolut dagegen sprechen würde. Aber ich kann das jetzt wirklich nicht sagen.“<br />

„Könnte der Trommelbaum nicht direkt am Ufer gestanden sein?“<br />

„Ich habe kein Wasser gesehen. Obwohl... etwas sandig war der Grund immerhin. Vielleicht war es doch ein<br />

Strand.“<br />

„Stell Dir vor Du stehst dort, wo Alvan jetzt schwimmt. Aber das ist alles Land, und dort wo Alvan ist steht ein<br />

Trommelbaum. Du blickst ins Landesinnere. Könnte es so ausgesehen haben?“<br />

„Ja. <strong>Das</strong> könnte sein. Den markanten Gipfel dort, den habe ich gesehen.“<br />

„Also zumindest die grobe Richtung stimmt.“, sagte Alrik<br />

„<strong>Das</strong> hat noch nicht so viel zu bedeuten. <strong>Das</strong> gesamte Tal der Glühwürmchen verläuft in dieser Richtung, und ob<br />

das etwas mehr im Landesinneren gewesen ist oder nicht kann man schon kaum abschätzen, wenn man selbst hier<br />

war, und nicht bloß da<strong>von</strong> geträumt hat.“, gab Odilon zu bedenken.<br />

„Richtig. Aber es könnte sein. Darum probieren wir es hier.“<br />

„Heda, schöne Meerjungfrau, was machst Du denn hier? Magst Du nicht ins Boot kommen und Dich aufwärmen?“<br />

feixte einer der Schmuggler im Ruderboot, als Alvan unmittelbar neben dem Boot auftauchte.<br />

„Lass die anzüglichen Bemerkungen, Adubred! Du redest nicht nur mit einer Dame, sondern zudem mit einer<br />

Priesterin der Zwillinge!“ Meldorjin wies den Matrosen zurecht. „Aber die erste Frage stellt sich auch mir. Obwohl<br />

mir durchaus klar ist dass so ein morgendliches Bad belebend wirken kann gehe ich nicht da<strong>von</strong> aus, dass dies der<br />

Zweck Deines Aufenthaltes im Wasser ist.“<br />

„Ja. Ich suche nach einem Trommelbaum. Hier im Wasser.“<br />

„Nach einem Trommelbaum? Na, wenn Du den suchst. Der hat uns schon oft genug beim Anlegen gestört.<br />

Versuche es mal zwölf Schritt weiter draußen. Aber warum...“ Meldorjin sprach nicht zu Ende. Alvan war bereits<br />

in die angegebene Richtung geschwommen. Meldorjin hieß seine beiden Ruderer, Alvan zu folgen. Der<br />

Neuernannte Schmugglerkapitän war neugierig geworden.<br />

Alvan tauchte. Zwei, Drei, Vier Schritt tief. Da tauchte aus dem trüben Wasser plötzlich ein kahler Baum auf. Die<br />

Äste des Trommelbaumes wirkten gespenstisch unheimlich. Alvan schwamm weiter auf den Baum zu. Sie bekam<br />

einen Ast zu fassen und zog sich daran entlang zum Stamm hin. Tatsächlich, der Trommelbaum war hohl. Luft. Sie<br />

brauchte Luft.<br />

Alvan schwamm senkrecht nach oben. Jetzt, da sie wusste, wo sie suchen musste, würde sie den Baum gleich<br />

wiederfinden. Nur zuerst einmal tief Luft holen. Alvans Kopf durchstieß die Wasseroberfläche, und die Halbelfe<br />

japste nach Luft. Sie ließ sich gehörig Zeit, um wieder zu Atem zu kommen, denn ihr nächster Tauchversuch, das<br />

wusste sie, würde sie in das innere des hohlen Trommelbaumes führen.<br />

„Alvan! So warte doch. Was suchst Du bei dem Trommelbaum?“ rief Meldorjin.<br />

„Den Schatz!“ antwortete Alvan. Noch einmal holte sie tief Luft, dann tauchte sie in die Tiefe. Sie erreichte die<br />

obersten Äste des Trommelbaumes. Verflucht, war der Baum eng. Der Stamm maß einen halben Meter im<br />

Durchmesser. Alvan würde im inneren des Baumes nicht umdrehen können. Sie würde rückwärts heraustauchen<br />

müssen. Aber die Halbelfe verschwendete keine weiteren Gedanken daran. Der Schatz! Die Neugierde in ihr war so<br />

groß, dass sie darüber die Gefahr vergaß. Alvan hatte den Grund des Stammes erreicht. Der Druck auf ihren Ohren<br />

und ihren Zähnen war kaum mehr zu ertragen. Ihre Hände tasteten den Boden ab. Da! Etwas tönernes ertasteten<br />

ihre Finger. Der Krug! Weiter tasteten ihre Finger über den Boden. Ein Ledersäckchen! Na da<strong>von</strong> würde nicht viel<br />

übrig sein nach einigen Jahren im salzigen Wasser des <strong>Maraskan</strong>sundes. Aber die Steine mussten noch da sein.<br />

Vier Steine hatte Alvan schließlich ertastet, als sie sich dazu entschloss, aufzutauchen. Es war ein verdammt<br />

ungutes Gefühl, rückwärts zu schwimmen und sich im stockfinsteren Inneren des Stammes nach oben zu schieben.<br />

268


Alvan glaubte gar, sie würde gar nicht mehr nach oben kommen. Endlich ertasteten ihre Füße das Ende der engen<br />

Röhre. Alvan dankte den Göttern, als sie endlich aufgetaucht war.<br />

„Alvan! Jetzt sag doch endlich, was Du da machst!“ rief Meldorjin erneut.<br />

„Wie ich schon sagte, ich heben den Schatz im Tal der Glühwürmer. Er liegt hier, im Inneren des<br />

Trommelbaumes.“ Alvan legte den Tonkrug ins Boot, der auch nach all den Jahren noch unversehrt und fest<br />

verschraubt war, und dann die vier Diamanten, danach zog sie sich in das Boot. „Wir hatten schließlich eine<br />

Vereinbarung. <strong>Gold</strong>, Silber und Diamanten für Euch, alles andere für uns. Die Vier Edelsteine sind demnach für die<br />

Nachtwind. Vielleicht befinden sich noch mehr Steine da unten im hohlen Stamm des Trommelbaums. Aber lasst<br />

uns erst einmal an Land rudern.“<br />

Meldorjin hieß seine beiden Ruderer nicht so zu gaffen, sondern ans Ufer zu rudern. Wobei er nicht erkennen<br />

konnte, ob die Ruderer mehr auf die nackend da sitzende Halbelfe oder auf die Steine in ihrer Hand schauten. Er<br />

selbst schaute höflich zur Seite wie er es in seiner Kinderstube gelernt hatte. Aber solange die beiden wenigstens<br />

zügig ruderten rügte er sie nicht wegen ihrer Blicke.<br />

Alvan hielt die Edelsteine in der linken, den schweren Krug in der rechten Hand, und ließ sich ans Ufer rudern. Der<br />

Krug war wirklich schwer. Alvan hätte nicht gedacht, dass ein Tonkrug mit zwei Schank Wasser so schwer sein<br />

konnte. Nicht so schwer, als dass sie ihn nicht hätte heben können. Aber doch schwer genug. Seltsam, dachte<br />

Alvan. Bei dem Gewicht des Kruges fiel Alvan eine alte Geschichte ein, die sich zugetragen hatte, als sie auf einer<br />

früheren Reise nach Tuzak gekommen war. Konnte das sein?<br />

Am Strand war Rurmanjinn zu Marajin und den Gefährten getreten, als Meldorjins Boot anlegte. „Vater. <strong>Das</strong><br />

konntest Du nicht tun. Wieso nur hast Du diesen Garethjas gezeigt, wo sich der Schatz befindet?“<br />

„Ich habe es ihnen nicht gezeigt. Sie haben es selbst gefunden. Aber, mein Sohn, es scheint mir wohl doch der<br />

Schönheit der Welt zu dienen, diesen Leuten den Schatz zu überlassen. Rur hätte es sonst nicht so eingerichtet.“<br />

„Vater! <strong>Das</strong> ist ein Inquisitor aus Gareth! <strong>Das</strong> sind unsere alten Besatzer, die uns dreißig Jahre lang unterdrückt<br />

haben!“ Während die Umstehenden den Disput der beiden verfolgten kleidete sich Alvan am Ufer an, ließ dabei<br />

aber weder den schweren Krug noch die Edelsteine aus den Augen.<br />

„Es ist eine Priesterin der Zwillinge dabei!“<br />

„Ach Papperlapapp. <strong>Das</strong> ist doch dummes Geschwätz! Eine spitzohrige Garethja kann keine wahrhafte Priesterin<br />

sein!“<br />

„Milhibethjida war da anderer Ansicht. Sie hat mir <strong>von</strong> ihrer Begegnung mit Scheyhathjida erzählt.“<br />

„Ich werde es nicht zulassen, dass das Eigentum <strong>Maraskan</strong>s in die Hände unserer Feinde gerät!“<br />

„Rurmanjinn.“, unterbrach Alvan mit einer sehr priesterlich würdevoll klingenden Stimme. „Ich verstehe Deine<br />

Sorge. Aber wie Du siehst wird das Eigentum des <strong>Maraskan</strong>ischen Volkes keinem Fremden in die Hände fallen.“<br />

Alvan legte bewusst eine Pause ein, um ihre Stimme wirken zu lassen.<br />

„Hör mich an, Rurmanjinn, was ich zu sagen habe. Die Edelsteine – vielleicht liegen noch mehr im Trommelbaum,<br />

ich konnte in der Dunkelheit da unten ja nichts erkennen – sind den Schmugglern versprochen. Diese segeln für das<br />

Freie <strong>Maraskan</strong>, und mit damit kommen die Steine der inoffiziellen maraskanischen Flotte zugute. Nichts anderes<br />

sind die Schmuggler ja. Wie Du weißt haben die maraskanischen Schmuggler ja schon bei der Befreiung Sinodas<br />

wertvolle Dienste geleistet und beim Übersetzen der maraskanischen Kämpfer vom Festland geholfen. Also<br />

kommen die Steine <strong>Maraskan</strong> zu Gute und damit letztlich auch Euch. Und der Krug. Darin befindet sich das heilige<br />

Wasser des Talued. Einen Schluck da<strong>von</strong> erbitte ich für meinen Gefährten Alrik, um seinem blinden Auge die<br />

Sehkraft zurückzugeben. Und einen weiteren Schluck erbitte ich für Hesindian, damit dessen Geist wieder völlig<br />

klar wird und er die Erinnerungen an seine schwierige Zeit in Schwarztobrien, und nicht zuletzt seine Trunksucht<br />

hinter sich lassen kann. Und einen weiteren Schluck erbitte ich für mich... eigentlich für mein ungeborenes Kind –<br />

für Sigismunds Kind. Es hat unter den Strapazen wohl mehr als alle anderen gelitten und ich möchte nicht nach<br />

dem Mann auch noch das Kind verlieren.<br />

Der Rest aber soll wieder dem Tempel der Zwillinge zurückgegeben werden. Marajin, Du sollst das Wasser zurück<br />

in den Tempel <strong>von</strong> Jergan bringen, oder wohin immer es Dir richtig erscheint. Damit, denke ich, ist jedem geholfen<br />

und der Schatz bleibt, wie ich es versprochen habe, in maraskanischen Händen. Rurmanjinn, ihr habt da einen<br />

Wasserschlauch um den Hals hängen? Leert ihn aus und gebt ihn Eurem Vater.“<br />

Rurmanjinn war sichtlich verwirrt <strong>von</strong> den Worten der Priesterin, die dann wohl doch eine war, und gehorchte.<br />

„Gut“ fuhr Alvan fort. „Der beste Schutz für einen Schatz ist ein gutes Versteck und eine gute Tarnung. Niemand<br />

wird in einem Wasserschlauch, den ein alter Reisender trägt, heiliges Wasser vermuten. So wird Marajin<br />

unbehelligt nach Jergan reisen können.“ Alvan schraubte den Tonkrug auf und füllte das heilige Wasser des Talued<br />

in den Wasserschlauch, den Marajin ihr bereitwillig hinhielt. Als der Krug leer war füllte Alvan ihn wieder mit<br />

salzigem Meerwasser. “Jeder andere wird meinen, ich habe nun das kostbare Wasser, und ich werde nun damit<br />

gemeinsam mit den Schmugglern und meinen Gefährten die Heimreise antreten. Wenn wir alle neun darüber<br />

stillschweigen wahren wird ein jeder meinen, ich wäre mit dem heiligen Wasser abgereist. Dafür wird der Kladj<br />

269


schon sorgen, wenn die Rebellen wie auch die Schmuggler mich mit dem Krug an Bord gehen sehen. <strong>Das</strong> ist der<br />

beste Schutz, den wir dem heiligen Wasser bieten können.“<br />

Rurmanjinn zögerte. Aber er konnte nichts dagegen einwenden. <strong>Das</strong> heilige Wasser würde zurück in den Tempel<br />

kommen. <strong>Das</strong> war das wichtigste. Und die Edelsteine kämen ja auch den <strong>Maraskan</strong>ern zu Gute. Fragend sah der<br />

Rebell seinen Vater an.<br />

„Wohin willst Du dann mit dem falschen Krug reisen?“ wollte Marajin wissen.<br />

„In einen zentralen Tempel der Zwillinge.“, antwortete Alvan.<br />

Marajin nickte. Er wusste nicht um das Gewicht des Kruges, aber er ahnte, dass dieses Umfüllen des Wassers eine<br />

weitere Bedeutung hatte. Aber er fragte nicht weiter nach, da Alvans Antwort ihn überzeugt hatte, der Priesterin zu<br />

vertrauen. Wie hätte auch ein anderer als ein Priester der Zwillinge die Antwort, die Alvan ihm gab, verstehen<br />

können. Er war damals dabei gewesen, als die Priester den Auszug <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong> planten, wie ihn die heiligen<br />

Schriftrollen der Beni Rurech vorhergesagt hatten. Die Rollen hatten als sicheren Ort vor der Verfolgung durch die<br />

Verderbten den Ort vorhergesagt, der in der Mitte, also im Zentrum, der maraskanischen Städte Jergan, Tuzak und<br />

Boran, liegt. Erst hatte man geglaubt, inmitten der <strong>Maraskan</strong>kette Zuflucht zu finden. Aber die Priesterschaft der<br />

Zwillinge hatte schließlich einer anderen Deutung den Vorzug gegeben. Sie hatten eine Kreisbahn auf eine<br />

Landkarte des Weltendiskus gezeichnet, auf der die genannten drei Städte lagen und festgestellt, dass der<br />

Mittelpunkt dieses Kreises irgendwo im Raschtulswall lag. Dort hatte man schließlich die verborgene Siedlung<br />

Asboran gegründet, <strong>von</strong> der noch nicht einmal die meisten <strong>Maraskan</strong>er, geschweige denn die Garethjas, wussten.<br />

Wenn Alvan nun den Krug, so er eine Bedeutung hatte, in den Tempel nach Asboran bringen wollte, dann diente<br />

das wohl der Schönheit der Welt.<br />

Marajin nickte. „So soll es sein.“<br />

Asboran! Dachte Alvan. Jetzt sollte es also sein. Die Stadt der Verheißung hatte Alvan selbst nie erblickt, aber sie<br />

würde sie finden. Plötzlich musste Alvan lächeln. Hatte ihr Vater nicht gesagt, dass die Urväter der Baernfarns<br />

nicht aus dem Raschtulswall kamen? Nun würde sie dorthin zurückkehren, und vielleicht befand sich Asboran gar<br />

in dem Tal, in dem ihre Urahnen einst gelebt hatten. Dann kam ihrem Namen Alvana, die Heimkehrende, eine<br />

völlig neue Bedeutung zu. Ach, wie schön war doch die Welt!<br />

Andromejia ging wieder hinter dem schwarzen Felsen in Deckung, <strong>von</strong> wo aus sie das Gespräch mitverfolgt hatte.<br />

In ihrem Gehirn arbeitete es: Es sah ganz so aus, als hätten die verfluchten Reichsschen das Versteck des Schatzes<br />

gefunden - es war hier, an der Klause, nicht tiefer im Dschungel, wie sie zunächst gedacht hatte. Und der Schatz<br />

bestand offenbar aus einem Krug mit dem Wasser des Talued. Sie ballte die Faust und lachte hinein. Was waren die<br />

Garethjas und die Rebellen doch für Narren - sprachen ganz offen über streng geheime Dinge, obwohl es am Strand<br />

nur so <strong>von</strong> Ohren und Augen wimmelte.<br />

Ein Krug mit dem Wasser des Heiligen Talued - nur langsam begriff sie, was das bedeutete. Ein derart wirksames<br />

Heilmittel gegen Wunden und Krankheiten musste dem Orden des Blutsäufers pures <strong>Gold</strong> wert sein - dass der<br />

Trank zugleich Vergessen schenkte, dürfte den Schlächtern des Fürstkomturs, die zu Zeugen <strong>von</strong> soviel Grauen<br />

geworden waren, nur recht sein. Andererseits würde es nicht leicht werden, dem Priester den Schatz im<br />

Wasserschlauch wieder abzujagen. Die Menge war zudem enttäuschend gering, und es war zu erwarten, dass der<br />

Inhalt nach so langer Zeit im Meer mit Salzwasser verunreinigt war. Vielleicht würde es sich eher lohnen, sich mit<br />

dem Spitzohr zu beschäftigen.<br />

Sie hatte nicht alles <strong>von</strong> ihrer Rede verstanden - dieses verdammte Meeresrauschen! - aber etwas war doch klar und<br />

deutlich an ihr Ohr gedrungen: Ein "zentraler Tempel des Rur-und-Grorglaubens". Bei allen gehörnten Dienern<br />

Xarfais - am Ende würde sie das Spitzohr noch zu einem versteckten Zufluchtsort der Rur-und-Gror-Paktierer<br />

führen - das Wissen um den Aufenthaltsort eines geheimen Rur-und-Grorzirkels konnte dem Fürstkomtur am Ende<br />

mehr wert sein als ein Wasserschlauch voller salzigem Heiltrank. Nur seltsam, dass die Elfenschlampe dazu an<br />

Bord der Zedrakke gehen wollte, die doch demnächst gen Khunchom in See stechen sollte. Wurden die<br />

Widerstandsaktionen auf der Insel am Ende <strong>von</strong> der Stadt im Mhanadi-Delta aus gesteuert?<br />

Merkwürdig auch, mit wie wenig sich die Garethjas hatten abspeisen lassen. Ein Schluck für den Baron, den<br />

Magier und einen für diese merkwürdige Priesterin - überaus bescheiden. Ihr war nicht entgangen, wie mühsam die<br />

Elfe nach dem Umfüllen mit dem tönernen Krug hantiert hatte, obwohl er in der Zwischenzeit doch leer gewesen<br />

war. Er schien ziemlich schwer zu sein - obwohl sein Inhalt mühelos in einen Wasserschlauch passte. Und aus<br />

welchem Grund sollte eine Priesterin einem "zentralen" Tempel der Göttlichen Geschwister einen Krug voller<br />

Salzwasser überbringen? Ihre Intuition sagte ihr, dass noch etwas im Krug verborgen war, vermutlich in dessen<br />

Boden (ja, tatsächlich, das war es, was sie die ganze Zeit gestört hatte: Der Krug war größer als ein Wasserschlauch<br />

und randvoll gewesen, dennoch hatte sein Inhalt genau in die Feldflasche des Rebellen gepasst). <strong>Das</strong> alles deutete<br />

auf eines hin - es befand sich noch etwas anderes im Krug, etwas, was vielleicht sogar noch wertvoller war als<br />

Talued-Wasser.<br />

270


Was sie nun brauchte, war ein guter Plan. Andromejia überlegte fieberhaft. Unter den Rebellen herrschte<br />

Aufbruchstimmung, es war klar, dass sie noch vor Mittag vom Strand verschwinden wollten. Was tat der alte<br />

Priester nun? Er ging allein in die Klause, vermutlich, um dort zu beten. Die Maraske war nirgendwo zu sehen,<br />

vermutlich hatte sie sich in den Urwald begeben, um sich auf die Suche nach Giftpilzen zu machen. Die<br />

Gelegenheit war also günstig.<br />

Andromejia mischte sich unter die Rebellen, die den Strand endgültig <strong>von</strong> allen Spuren säuberten und die<br />

Lagerfeuer löschten. Um sie scherte sich im Augenblick niemand. Ihr Blick fiel auf einen Elfenpfeil, der keine<br />

Armweite <strong>von</strong> ihr entfernt in einem der Bäume steckte. Merkwürdiges Geschoss - das musste ebenfalls <strong>von</strong> den<br />

Garethjas stammen. Der Baum war morsch, und so konnte sie den Pfeil ohne größere Mühen herausziehen.<br />

Langsam reifte in ihr eine Idee. Natürlich, so konnte sie das Blatt doch noch wenden!<br />

Im Schutze des Dschungels arbeitete sie sich an die Klause heran. Ein scharrendes Geräusch ließ sie erstarren. Ihr<br />

Blick huschte ins Innere der Ruine, <strong>von</strong> woher es gekommen war. Der Altar hatte sich zur Seite bewegt, und der<br />

alte Priester ein Kästchen aus einer Vertiefung im Boden hervorgeholt. <strong>Das</strong> wurde ja immer besser! Andromejia<br />

kam sich langsam vor wie ein Zwerg neben einem Drachenhort, der freie Auswahl hatte, welch unglaubliche<br />

Kostbarkeiten er sich als nächstes in die Taschen stopfen wollte.<br />

Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass sie <strong>von</strong> ihrer Position aus niemand sehen konnte, zog sie sachte das kleine<br />

Fläschchen mit Rotraupengift hervor, entkorkte es und tauchte die Spitze des Pfeils hinein. Dann steckte sie die<br />

Phiole wieder weg.<br />

Der alte Mann hatte das Kästchen nun auf den Altar gestellt und öffnete es, wobei er ihr den Rücken zuwandte. Bei<br />

Borbarads Angedenken, sie hatte als Meuchlerin schon schwierigere Aufträge erledigt. Lautlos huschte sie näher,<br />

nur ein weiterer tödlicher Schatten aus dem gackernden, kreischenden, raschelnden Dschungel, der über dem<br />

zerstörten Dach aufragte. Der Priester bemerkte sie erst, als ihre Linke sich um seinen Mund legte.<br />

"Hmmmmhmmm....!"<br />

"Schöne Grüße vom Fürstkomtur, Abschaum! Mögest du als Made wiedergeboren werden!"" zischte es in Marajins<br />

Ohr, dann bohrte sich ein Pfeil in seine Schulter. Verzweifelt versuchte er sich aus der Umklammerung zu befreien,<br />

dann setzten auch schon die Krämpfe ein.<br />

Andromejias Hand wurde feucht, als Schaum über die Lippen des Weißhaarigen drang. Als litte er an Schwarzwut,<br />

zuckte und zitterte sein Körper im erbarmungslosen Griff der Tuzakerin. Dann erschlaffte er. Ein<br />

regenbogenfarbiger Stein fiel aus seiner Hand zu Boden und rollte einige Fingerbreit da<strong>von</strong>. Der Stiefel der<br />

Meuchlerin brachte den Opal zum Stillstand, indem er sich auf ihn stellte.<br />

Andromejia ließ den Leichnam des Alten auf den Altar sinken und überzeugte sich mit einem Griff an den Hals,<br />

dass er wirklich tot war. Dann wandte sie sich dem Edelstein unter ihrem Absatz zu. Mit einem Lächeln, dessen<br />

Kälte im genauen Gegensatz zu dem warmen Feuer des Juwels stand, hob sie es auf.<br />

"Sieh an, das Zeichen <strong>von</strong> Schwester Tsa! Die Geberin und Nehmerin des Lebens! Wie passend!" Sie ließ den<br />

Stein in ihrer Tasche verschwinden. Nach einigem Suchen hatte sie geheime Feder gefunden. Rumpelnd bewegte<br />

sich der Stein über das Versteck, in das sie das Kästchen wieder hineingestellt hatte. Dann nahm sie sich, mit der<br />

kühlen Geschäftigkeit einer Raubwespe, dem Wasserschlauch um den Leib des toten Priesters an.<br />

"Ich hoffe, ich störe nicht!"<br />

Andromejia fuhr herum. Einen Augenblick lang lähmte sie das Entsetzen, denn die weißen Haare des Mannes im<br />

Eingang sahen ganz so aus wie die des toten Priesters, der für einen Moment <strong>von</strong> den Toten zurückgekehrt zu sein<br />

schien. Dann erkannte sie den Magier der Garethjas, dessen Name ihr gerade entfallen war.<br />

"Nein. Ganz im Gegenteil!" Andromejia lächelte düster, dann wirbelte ihr schlanker Leib wie der einer elfischen<br />

Wipfelläuferin durch die Luft. Einige Augenblicke lang schienen Sumus Gesetze aufgehoben zu sein. Tatsächlich<br />

schien sie mit wirbelnden Schritten geradewegs durch die Luft zu laufen.<br />

Andromejias wahnwitzige Springprozession durch den Schrein endete geradewegs vor dem Sonnenpunkt des<br />

Magiers, gegen den sich ihr Stiefel bohrte.<br />

Keuchend prallte der Magier zurück. Hätte Andromejia nicht seinen Mantelkragen zu fassen bekommen, er wäre<br />

geradewegs durch die Eingangstür geflogen, was keineswegs in ihrem Sinne gewesen wäre. Also riss sie in zurück<br />

und warf ihn gegen die Wand.<br />

Die gespreizten Finger ihrer Linken fuhren dem Magier in die Seite, der mitten in der Bewegung erstarrte. Dann<br />

sackte er starr und mit ungläubigem Blick zu Boden.<br />

Andromejia konnte das Erstaunen ihres Opfers verstehen. Nur wenige Warmblütler kannten die alte Kunst<br />

echsischer Krieger, durch bestimmte Griffe und Stöße das Nervensystem ihrer Opfer zu lähmen, ohne ihnen dabei<br />

das Bewusstsein zu rauben.<br />

"Deine Freunde sagen, du suchst das Vergessen, Schneehaar!" flüsterte sie, während ihre spinnenbeinähnlichen<br />

Finger über den Kopf des Garethja strichen, dessen Augen im Gegensatz zu seinem Körper merkwürdig lebendig<br />

wirkten, ja, in wilder Panik herum irrten.<br />

271


"<strong>Das</strong> sollst du nun bekommen!" Sie entkorkte den Wasserschlauch und flößte dem Gelähmten etwas <strong>von</strong> dem<br />

Wasser des Talued ein, wobei sie sorgfältig seine Halsmuskeln massierte, um den Schluckreflex wieder einsetzen<br />

zu lassen und darauf achtete, dass er ihr Gesicht nicht zu sehen bekam.<br />

Der Gesichtsausdruck veränderte sich, die Hautfarbe des Garethja wurde rosiger, dafür bekamen seine Augen einen<br />

unsäglich stumpfen Ausdruck. Andromejia erhob sich hinter ihm, zog den Wasserschlauch des Magiers an sich und<br />

schüttete ihn aus. Dann füllte sie das Talued-Wasser in ihn um und warf Rurmanjinns Schlauch neben den noch<br />

immer reglos daliegenden Magier. Nun musste sie sich beeilen, denn dessen Lähmung würde nicht ewig andauern.<br />

Vorsichtig um sich spähend huschte die Meuchlerin hinaus und war wenige Augenblicke später im Dschungel<br />

verschwunden.<br />

Wenig später hallte ein schriller Schrei durch das provisorische Lager. Eine Rebellin stürzte totenbleich vom<br />

Schrein her auf Rurmanjinn zu, der gerade noch im Gespräch mit einem seiner Unterführer verharrte.<br />

"Commandante! Sie... sie haben... ihn umgebracht!"<br />

Der <strong>Maraskan</strong>er fuhr herum. "Was zum Bruderlosen... Hör auf, hier herum zu schreien wie eine Brülläffin,<br />

Cellajida. Sollen sämtliche Haffaxijas der Insel auf uns aufmerksam werden?"<br />

Die junge Frau begann nun haltlos zu schluchzen und verzweifelt nach Worten zu ringen, während ihr die Tränen<br />

nur so über das Gesicht rannen und helle Schlieren in die lehmverschmierte Haut malten.<br />

"Schazzak, was soll das? Hat dich ein Kra´zuuk-Käfer gebissen?"<br />

"Dein Vater, Commandante, er liegt im Schrein... tot! Der Magier der Garethjas hat ihn ermordet!"<br />

Als habe Satinav begonnen den Zeitfluss einzufrieren, kamen sämtliche Bewegungen am Strand nach und nach<br />

zum Erliegen. Nach einiger Zeit war nur noch das grelle, höhnische Schreien eines Dschungelvogels zu hören,<br />

während Rurmanjinns Gesicht langsam erbleichte.<br />

Ohne ein weiteres Wort stürzte er auf den Schrein zu, gefolgt <strong>von</strong> einigen seiner Getreuen. Die übrigen sahen sich<br />

verwirrt und bestürzt an, aber einige begannen sich bereits nach den Gefährten des Inquisitors umzusehen.<br />

Dann war ein heulender Aufschrei aus dem Inneren des Schreins zu hören. Rurmanjinns Stimme. Als nächstes<br />

zerrten zwei Rebellen den totenbleichen Magus Hesindian aus der Ruine, der alles teilnahmslos mit sich geschehen<br />

ließ, und warfen ihn mit den Knien voran in den Sand. Einer der <strong>Maraskan</strong>er nahm seine Schärpe ab und schlang<br />

sie dem Edlen <strong>von</strong> Orweiler um die Hände. Nach einigen Augenblicken wurden ein halbes Dutzend Klingen auf<br />

den Garethja gerichtet, der an irgendetwas Furchtbarem schuldig zu sein schien, ohne dass die meisten wussten,<br />

woran.<br />

Vor dem Schrein herrschte völliges, lärmendes Chaos. Erst als Rurmanjinn aus der Ruine trat, einen<br />

blutverschmierten Elfenpfeil und einen leeren Wasserschlauch in Händen, kehrte wieder gespenstische Ruhe ein.<br />

Im gleichen Augenblick näherte sich Odilon mit federnden Schritten, gefolgt <strong>von</strong> seinen Begleitern. Aus den<br />

Augenwinkeln sah er, wie die Menge der Rebellen sich hinter ihm zu schließen begann, ganz so, als sollten sie<br />

schon jetzt an einer Flucht gehindert werden.<br />

Rurmanjinn blieb stehen, zitternd und ins Leere starrend. Immer mehr Rebellen huschten an ihm vorbei und sahen<br />

ins Innere des Schreins. Flüche, bisweilen auch leise Schluchzer, waren zu hören.<br />

"Was ist passiert?" wollte Odilon wissen. Rurmanjinn blinzelte, als müsse er sich erst besinnen. Dann schrie er los:<br />

"<strong>Das</strong> fragst du noch!?? Mein Vater ist tot - ermordet! Von deinem Kumpan hier!" Es folgte eine Flut <strong>von</strong> Flüchen<br />

über die Garethjas, denen man nicht trauen dürfe, unterbrochen <strong>von</strong> einzelnen Tränen, hilflosen Gesten und wildem<br />

Brüllen.<br />

"Marajin ist tot?" Mit ungläubigem Gesichtsausdruck machte Odilon einen Schritt auf den Schrein zu. Obwohl sich<br />

ihm sofort zwei <strong>Maraskan</strong>er im Holzharnisch in den Weg stellten und ihn abdrängten, sah er noch den Priester,<br />

regungslos auf dem Altar liegend. Er konnte keine auffällige Verletzung entdecken.<br />

"Wie... wie ist er gestorben?" hörte der Baernfarn sich selbst tonlos fragen.<br />

"<strong>Das</strong> kann... doch alles nicht wahr sein. Gerade eben haben wir doch noch miteinander gesprochen... er wollte doch<br />

nur den Stein..." Odilon biss sich auf die Lippen, aber in dem aufgeregten Rufen und Schreien waren diese Worte<br />

ohnehin untergegangen.<br />

"Wage es, dich auch noch zu verstellen, M´Sarrar. Ist das nicht einer eurer Pfeile, garethischer Hund?"<br />

Rurmanjinn hielt Odilon das Geschoss elfischer Machart vor die Nase. An der Spitze klebte Blut.<br />

"Nun mal langsam. Wirft man etwa m i r vor, der Mörder zu sein?" Odilon wich einen Schritt zurück. "Ich habe gar<br />

keinen Bogen mehr, mit dem ich Marajin hätte töten können. Bavhano´Braith ist in der Bucht versunken.<br />

Außerdem war ich die ganze Zeit am Strand..."<br />

"Natürlich, dein Bogen ist spurlos verschwunden...." höhnte Rurmanjinn, die Stimme verzerrt <strong>von</strong> Trauer und<br />

Schmerz." Frag diesen Hund hier, warum er meinem Vater einen vergifteten Pfeil in den Arm gestoßen hat."<br />

"Hesindian, ja, bei Firun? Was ist los?" Alrik lief auf den gefesselten Magier zu, wurde aber nach wenigen<br />

Schritten vom Schaft eines Schnitters zurückgestoßen.<br />

"Hehe, langsam Freundchen..." Alrik rangelte kurz mit seinem Gegenüber. Der Kreis der <strong>Maraskan</strong>er zog sich<br />

enger. Die Stimmung wurde gereizter.<br />

272


"Lasst das, Friedwang!" mischte sich Odilon ein. "Also, was ist geschehen, Hesindian?"<br />

Der weißhaarige Magier sah den Gallyser verständnislos, ja, fast schon blöde an. "Was... was mache ich hier...?<br />

Was wollen all diese Leute <strong>von</strong> mir?"<br />

"Wie? Soll das heißen, du weißt nicht, was geschehen ist?"<br />

"Nein... wie komme ich hierher? Was ist das für ein Strand?"<br />

"Hesindian, in der Zwölfe Namen, du hast doch nicht etwa wieder eine Rauschgurke gegessen?"<br />

"<strong>Das</strong> Verhör führe ich!" brüllte Rurmanjinn. "Ich kann euch genau sagen, was geschehen ist. Dieser Verräter hat<br />

sich in den Schrein geschlichen, dieses bruderlose Stück Käferdung! Er hat meinen Vater mit einem vergifteten<br />

Pfeil ermordet und vom Wasser des Lebens getrunken! Aber der Narr wusste nicht, dass man seine Erinnerungen<br />

verliert, wenn man vom Talued-Wasser trinkt. Er hat auf der Stelle den Verstand verloren und den Schlauch fallen<br />

lassen, so dass sämtliches Wasser verloren gegangen ist!" Wütend warf der <strong>Maraskan</strong>er den Wasserschlauch zu<br />

Boden.<br />

"Nicht nur meinen Vater hat er getötet, nein, sondern auch noch das heilige Wasser verschüttet. Allein dafür<br />

verdiente er den Tod - er und seine Komplizen!"<br />

"Von was redet der eigentlich?" Hesindian runzelte die Stirn. "Wo sind wir hier? Nicht mehr in der Baronie Gallys,<br />

oder?" "Nein." Trotz allem musste Alrik bei der Vorstellung lächeln, dass der Magier in seiner Erinnerung<br />

vielleicht gerade noch in Orweiler gesessen hatte und er sich nun plötzlich unter blutrünstigen Rebellen am Strand<br />

<strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong> wiederfand.<br />

"Was hat das alles zu bedeuten?" Hesindians Stimme klang völlig hilflos, fast schon verzweifelt.<br />

"Ich versuche gerade, es herauszufinden. Offenbar habt Ihr tatsächlich <strong>von</strong> dem Talued-Wasser getrunken... Ihr<br />

seht bemerkenswert frisch aus." Auch den übrigen fiel nun auf, dass die Kratzer und Schrammen aus Hesindians<br />

Gesicht verschwunden hatte, ebenso war sein an der Stirn vom Feuerball versengtes Haar wieder nachgewachsen.<br />

"Danke... das kann ich <strong>von</strong> Euch leider nicht behaupten, Herr Odilon..." Ein derber Fausthieb Rurmanjinns<br />

zerstörte den Eindruck jugendlicher Frische auf dem Antlitz des Magus wieder<br />

"Wage es, meinen toten Vater auch noch zu verspotten, Yilam´djinsterer." brüllte Rurmanjinn. "Die Beweislage ist<br />

eindeutig. Der da ist der Mörder!"<br />

"Unsinn!" begehrte Selbfried auf, der sich bei einem Kriminalfall plötzlich wieder in seinem Element wähnte.<br />

"Warum sollte ein Magus Euren Vater mit einem der Pfeile Odilons töten - vom fehlenden Motiv einmal ganz<br />

abgesehen? Ein Magier hat ganz andere Mittel..."<br />

"Wer sagt, dass dieser Schurke bei seiner Tat allein war?" Der Anblick des Praioten ließ die Gefühlslage des<br />

<strong>Maraskan</strong>ers endgültig <strong>von</strong> Trauer in Zorn umschlagen. "Vielleicht hatte er ja Komplizen...Euch!" Selbfried lachte<br />

dröhnend auf - eine Heiterkeit, die die Sympathie der trauernden Rebellen ihm gegenüber nicht gerade steigerte,<br />

wie Odilon bemerkte. Einige Waffen, die sich bereits gesenkt hatten, wurden nun wieder drohend gehoben.<br />

"Wahrlich, Praios hat Euch Ketzern das Hirn verbrannt!" donnerte der Inquisitionsrat. "Waren wir nicht die ganze<br />

Zeit über am Strand? Dafür gibt es doch jede Menge Zeugen..."<br />

"<strong>Das</strong> wird sich herausstellen! Nehmt ihnen die Waffen ab und bindet sie!" befahl Rurmanjinn.<br />

"Langsam, langsam!" Odilon griff zum Schwert. "Jeder hier könnte der Mörder gewesen sein. Von meinen Pfeilen<br />

liegen genügend in der Gegend herum und ich pflege meine Waffen im Allgemeinen nicht zu vergiften!"<br />

"Schweig, Garethja. Mein Vater hätte euch niemals trauen dürfen - und alles nur wegen einer sentimentalen<br />

Erinnerung an einen Reichsbaron, der angeblich anders war als seine mordbrennende Kumpane. Diese Andromejia<br />

hatte schon Recht - vermutlich hat diese spitzohrige Priesterin ihn mit einem Djinnenzauber behext. Oder der<br />

Magier hat ihn den Verstand geraubt! Freiwillig hätte er euch niemals das Versteck des Schatzes verraten. Und als<br />

ihr gemerkt habt, dass ihr an das heilige Talued-Wasser nicht herankommt, habt ihr ihn heimtückisch ermordet. O,<br />

mein Vater, mein armer Vater? Was hat er euch getan? Ihr Mörder! Dafür werdet ihr sterben - langsam und<br />

qualvoll!"<br />

"Andromejia?" rief Selbfried aus. "Natürlich - die angebliche Rebellin ist die Mörderin! Ich hatte <strong>von</strong> Anfang an<br />

Zweifel, dass sie wirklich das ist, was sie zu sein vorgibt. Wo ist sie?"<br />

"Hört nicht auf den Praiospfaffen!" ertönte eine Frauenstimme. Andromejia trat unter die <strong>Maraskan</strong>er, scheinbar<br />

erzürnt. "<strong>Das</strong> Schwein <strong>von</strong> Inquisitor versucht nur, einen Keil zwischen uns Dajinim und euch Sira Jerganak zu<br />

treiben, um seine wahren Pläne zu verschleiern. Seht sie euch doch einmal an - sehen s o etwa Freunde des<br />

maraskanischen Volkes aus? Oder gar eine Priesterin des Rur und Gror?" Die Meuchlerin machte eine abfällige<br />

Geste in Richtung Alvan.<br />

"Sie haben nicht mehr Grund, uns zu misstrauen als dir. Wo warst du denn die ganze Zeit?" wollte Odilon wissen.<br />

"Ich habe dich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen."<br />

Andromejia überlegte kurz, was sie erwidern sollte. Sie konnte ja schlecht sagen, dass sie gerade eben den<br />

Schlauch mit dem echten Talued-Wasser und den Opal hinter einem der Felsen versteckt hatte. Ihr Blick ging zu<br />

dem Magier - nichts deutete darauf hin, dass er sie wieder erkannte. Dann spähte sie nach dem Krug mit dem<br />

Salzwasser, den Alvan krampfhaft in ihren Händen hielt. Er schien für das Spitzohr wirklich einigen Wert zu<br />

haben. Nun, niemand würde ihn vermissen, sobald die Garethjas tot waren.<br />

273


"Ich war mal kurz für kleine Mädchen. Ist das im Mittelreich etwa verboten?" Andromejia spürte, dass sie die<br />

Stimmung der meisten Rebellen auf ihrer Seite hatte, also versuchte sie noch eins drauf zu setzen.<br />

„Deswegen kommt ihr Schassakabalim wohl so gerne auf unsere schöne Insel, he? Um hier alles mit eurem<br />

Garethjadreck zu besudeln..." Ebenso verhaltenes wie grimmiges Gelächter erklang. "Jawohl. Mit Garethjadreck<br />

und unserem Blut!" schrie es irgendwo in der Meute.<br />

„Es stimmt, was unsere Freundin <strong>von</strong> den Dajinim sagt. Ich habe sie aus dem Wald kommen sehen. Dort<br />

drüben..." wollte ein pickliger Rebellenjüngling wissen, der aufgeregt in die dem Schrein genau entgegengesetzte<br />

Richtung wies.<br />

"Genug, Andromejia, niemand verdächtigt dich!" meldete sich wieder Rurmanjinn zu Wort. Dessen Stimme wurde<br />

nun leiser, als er sich Odilon zuwandte. "Keiner soll sagen, dass ich einen Garethja ungerecht behandele, nur weil<br />

eure Richter allesamt korrupte Schinder waren. Legt eure Waffen nieder, dann verspreche ich euch einen<br />

angemessenen Prozess. Und ihr, holt meinen toten Vater vom Altar. Es ist kein guter Ort, um vor Schwester Tsa zu<br />

treten!"<br />

"Einen Augenblick!" erklang die Stimme Meldorjins, der sich soeben mit federnden Schritten vom Strand her<br />

näherte. "Was ist geschehen?" wollte er mit befehlsgewohnter Stimme wissen.<br />

"Was geschehen ist? Die bruderlosen Garethjas haben den wehrlosen alten Marajin getötet. Diese elenden<br />

Blutkäfer!" schrie eine Rebellin und wies auf Hesindian. Aufgeregte Stimmen sprachen durcheinander - es dauerte<br />

eine Weile, bis der Schmuggler alles verstand. Aber die Leiche des toten Priesters, die nun aus dem Schrein<br />

getragen wurde, sprach auch so eine deutliche Sprache.<br />

Ungehalten schüttelte der Offizier den Kopf: "Die Garethjas haben mit uns gestern tapfer gegen die Haffaxijas<br />

gekämpft. Warum sollten sie so etwas einzigartig Unsinniges tun?"<br />

"Weil sie Marajin das heilige Wasser stehlen wollte!" schrie Rurmanjinn.<br />

"<strong>Das</strong> dieser Magier seine Erinnerung verloren hat ist doch Beweis genug! Er hat meinen Vater getötet, das Wasser<br />

an sich genommen, da<strong>von</strong> getrunken und den Rest verschüttet!"<br />

"Was denn für Wasser, bei den göttlichen Geschwistern?"<br />

"<strong>Das</strong> heilige Wasser des Talued, das Marajin in einem Wasserschlauch bei sich hatte! Nur ich, er und die Garethjas<br />

wussten da<strong>von</strong>!"<br />

Rurmanjinn raufte sich den Bart und sah abwechselnd erst zu der Leiche seines Vaters und dann zu dem Mörder,<br />

der immer wieder angestrengt die Augen zusammen kniff und wieder öffnete, als könne er so die Erinnerung in<br />

seinen Kopf zurück zwingen. Hesindians Gesichtsausdruck nach zu urteilen war er sich keineswegs selbst sicher,<br />

ob er nicht vielleicht doch der Mörder war.<br />

Odilon kniete sich neben der Leiche Marajins nieder, der mit weit aufgerissenen Augen vor ihm im Sand lag. Die<br />

Wunde in seinem linken Oberarm war nicht tief, nur wenig Blut hatte das kleine Loch in seiner Robe hinterlassen.<br />

Vorsichtig zog Odilon den Ärmel zurück.<br />

"Lass deine schmutzigen Finger <strong>von</strong> meinem Vater!" brüllte Rurmanjinn und griff nun endgültig nach seinem<br />

Jerganmesser. Meldorjin fiel ihn in den Arm. "Hör auf! Odilon hat Recht - wir müssen allen Spuren sorgfältig<br />

nachgehen, ehe wir ein Urteil sprechen, bei Schwester Hesinde!"<br />

"Hier an Land gebe ich die Befehle!"<br />

"Die Trauer um deinen Vater trübt dir den Verstand, Rurmanjinn. Du magst die Macht haben, einem Mann den<br />

Kopf abzuschlagen, aber hast du auch die Macht, ihn wieder anzufügen, wenn sich heraus stellt, dass du einen<br />

Unschuldigen getötet hast?"<br />

"Wie? Willst du damit sagen, ich hätte keinen Verstand, Yilam´djinsterer?" Rurmanjinn riss sich los und zog blank.<br />

"Wer weiß, vielleicht steckst du ja auch mit drin. Ihr verdammten Schmuggler habt die Garethjas ja überhaupt erst<br />

hierher hergebracht."<br />

"Du weißt nicht, was du sprichst! Niemand nennt mich einen Yilam´Djinsterer! Steck deine Klinge weg, oder..."<br />

Odilon sah aus den Augenwinkeln, wie mehrere Schmuggler herbei eilten, die Klingen bereits zum Kampf erhoben.<br />

Wenig fehlte, und die Schmuggler und Rebellen würden maraskanisches Blut noch vor dem der Garethjas<br />

vergießen. Ein wildes Gerangel kündigte sich an, Schimpfworte flogen hin und her, Fäuste wurden geballt. Estibora<br />

sprang trotz ihrer Verwundungen Meldorjin bei und hob drohend den Khunchomer.<br />

"Genug jetzt!" Odilon stand auf. "Meldorjin hat Recht. Lasst erst die Spuren sprechen, bevor ihr haltlos<br />

Verdächtigungen aussprecht, euch beleidigt oder noch mehr Blut vergießt."<br />

"<strong>Das</strong> sagt der Richtige!"<br />

"Ja, denn ich kenne mich mit solchen Dingen aus. Nehmt zum Beispiel diese Wunde hier..." Odilon wies auf das<br />

kleine, unscheinbare Loch in Marajins Oberarm.<br />

"Der Pfeil wurde niemals <strong>von</strong> einem Bogen abgeschossen, denn selbst wenn der Schütze weit draußen auf dem<br />

Meer gestanden hätte - was offensichtlich nicht der Fall gewesen sein kann - , das Geschoss hätte beim Aufprall<br />

mehr Schaden anrichten müssen. <strong>Das</strong> heißt, jemand muss Marajin einen vergifteten Pfeil in den Arm gestoßen<br />

haben. Warum, frage ich? Eine mit Gift bestrichene Klinge hätte den gleichen Zweck erfüllt. Aber dieser Jemand<br />

274


wollte, dass der Mordverdacht auf uns fällt, daher wählte er eine Waffe, die zugleich auf uns verweist und auf dem<br />

Schlachtfeld leicht zu finden ist: Diesen Pfeil elfischer Machart!"<br />

Aufgeregtes Gemurmel erklang. Einige der Rebellen schienen sich ihrer Sache nun nicht mehr ganz so sicher zu<br />

sein.<br />

"Der geheimnisvolle Unbekannte" höhnte Rurmanjinn voller Schmerz und Zorn. "Was ist mit dem Magier? Ich will<br />

dir sagen, was passiert ist. Er wollte meinen Vater mit einer Waffe töten, die möglichst wenig Spuren hinterlässt,<br />

etwa mit der Spitze eines Pfeils. Dann beging er einen Fehler und trank <strong>von</strong> dem Wasser des Lebens. Also gelang<br />

es ihm nicht mehr, die Spuren zu beseitigen."<br />

Odilon musste zugeben, dass er für Hesindians Rolle ebenfalls keine schlüssige Erklärung hatte. "Glaube mir, ein<br />

Magier hätte andere Möglichkeiten, einen Mann zu töten, ohne Spuren zu hinterlassen. Ein Fulminictus Donnerkeil<br />

etwa oder..."<br />

"Ja? Auch nach der gestrigen Schlacht, die dem Zauberer zweifelsohne den Großteil seiner Kräfte geraubt hat?"<br />

Odilon schluckte. Rurmanjinn kannte sich besser mit diesen Dingen aus, als er es einem einfachen maraskanischen<br />

Rebellenführer zugetraut hätte.<br />

Was, wenn Hesindian wirklich der Täter war? Konnte er wirklich seine Hand für den Magier ins Feuer legen? Im<br />

nächsten Augenblick tadelte er sich dafür. Hesindian wusste, wie das Heilige Talued-Wasser wirkte, er sollte ja<br />

sogar einen Schluck da<strong>von</strong> erhalten, um die Erinnerungen an die Schwarzen Lande auszulöschen. Ausgeschlossen,<br />

dass er einfach so <strong>von</strong> dem machtvollen Quellwasser trank. War der Magus niedergeschlagen und ihm das Wasser<br />

gewaltsam eingeflösst worden? Dann hatte es zugleich mit der Erinnerung jede Spur des Überfalls gelöscht.<br />

Raffiniert. Oder hatten sie es am Ende gar nicht mehr mit dem wahren Hesindian zu tun? Er hatte schon oft genug<br />

mit Gestaltwandlern zu tun gehabt. Aber ein Gestaltwandler, der auf heiligem Boden tötete?<br />

"Gestattet Ihr, dass ich den Schrein einmal näher in Augenschein nehme?"<br />

"Was sollte das bringen?"<br />

"Ich suche nach Spuren - die Euch offenbar überhaupt nicht interessieren. Ihr habt eine schwere Anschuldigung<br />

gegen einen uns erhoben - nein, gegen uns alle. Gebt mir also wenigstens Gelegenheit, uns zu verteidigen."<br />

"Also gut, es geht tatsächlich um euer Leben. Aber keine faulen Tricks. Wenn ihr in den Dschungel flieht, kommt<br />

ihr nicht weit."<br />

Ohne ein weiteres Wort ging Odilon in den Schrein. Es roch verbrannt, und süßlich, nach Verwesung. Sein Blick<br />

tastete mit der reichen Erfahrung des Fährtenlesers den Boden ab. Hie und da standen Wasserpfützen, verkohlte<br />

Balken und jede Menge zerbrochene Ziegel lagen herum. <strong>Das</strong> Wurzelwerk des Trommelbaums ragte noch immer<br />

deutlich aus dem Boden.<br />

Ein dunkler Wasserfleck in der Nähe des Ausgangs weckte seine besondere Aufmerksamkeit.<br />

"Ist das die Pfütze, neben der Ihr Euren Wasserschlauch gefunden habt?" fragte er Rurmanjinn. Dieser nickte.<br />

Odilon zückte seinen Dolch.<br />

Rurmanjinn wurde sichtbar nervös. "Keine Tricks, habe ich gesagt!"<br />

Der Gallyser ritzte sich den Zeigefinger der linken Hand, dann tauchte er den Zeigefinger der Rechten in die<br />

winzige Lache, die sich noch auf eine der Bodenplatte erhalten hatte und steckte ihn in den Mund. Der Geschmack<br />

<strong>von</strong> abgestandenem Wasser, mehr nicht. Der Finger der linken Hand blutete noch immer.<br />

"<strong>Das</strong> ist kein Talued-Wasser!"<br />

"Wie?"<br />

"Der blutende Finger hier ist doch Beweis, genug, oder? Außerdem ist meine Erinnerung völlig klar, während<br />

dieses Wasser hier brackig und abgestanden, um nicht zu sagen unheilig schmeckt!"<br />

"Was soll das heißen?"<br />

"Jemand hat das Wasser aus Hesindians Wasserschlauch ausgeschüttet, das Talued-Wasser hineingegossen und<br />

Euren leeren Schlauch am Tatort zurück gelassen." Odilon tippte sich an die Stirn. Natürlich, das hatte ihn die<br />

ganze Zeit irritiert: Hesindian hatte vor wenigen Augenblicken noch seinen Wasserbehälter an der Seite getragen -<br />

und nun nicht mehr.<br />

Nun gut, wenn Hesindian nicht der Täter war, wer dann? Andromejia?<br />

Noch immer drang zarter Verwesungsgeruch an seine Nase. <strong>Das</strong> kam nicht <strong>von</strong> draußen, <strong>von</strong> den Leichen der<br />

Karmothgardisten, auch wenn man im ersten Moment diesen Eindruck haben konnte.<br />

Odilon folgte dem Geruch. Schließlich wiesen ihm Moskitos und Blutkäfer den Weg. In einem dunklen Winkel<br />

hinter einem Schutthaufen und unterhalb eines der Fenster wurde er fündig - eine tote Ratte verweste still vor sich<br />

hin. Dem glitschigen, braungrauen Körper war nicht anzusehen, wie das Tier getötet worden war, aber als Odilon<br />

es mit der Spitze des Dolches anstieß, klaffte dessen Bauch auf. Auf dem Boden klebte Blut. Angewidert presste<br />

sich der Gallyser ein Stück Mantel vor die Nase. Dann sah er die Tonscherbe im Leib des Tieres stecken -<br />

vermutlich war diese auch das Werkzeug gewesen, mit dem sein Bauch aufgeschlitzt worden war. Flach atmend,<br />

schob Odilon mit der Dolchspitze das Bruchstück zur nächsten Pfütze und säuberte es grob. Erneut prallte er<br />

zurück, als er in der Scherbe ein verschlungenes Zeichen eingraviert sah. Instinktiv schlug er das Heilige Zeichen<br />

des Firun.<br />

275


"Hesindian soll herkommen!"<br />

"Aber...!"<br />

"Nun macht schon."<br />

Rurmanjinn gehorchte mit leichtem Murren. Der Magier wurde auf einem herrischen Wink <strong>von</strong> ihm herbeigeführt.<br />

"Was ist das für ein Zeichen hier?"<br />

"Nun, ganz eindeutig die Glyphe jener erzdämonischen Wesenheit, die man gemeinhin die Herrin der<br />

Schwarzfaulen Lust nennt. Ich möchte den Namen nicht aussprechen, denn da meine Hände leider gefesselt sind,<br />

kann ich die dazu notwenigen Schutzgesten nicht ausführen. Würdet Ihr mir nun endlich sagen, was passiert ist?"<br />

"Nein, das wäre jetzt zu kompliziert. Aber schön, dass Ihr nicht alles vergessen habt, Hesindian." Odilon grinste<br />

wölfisch. "Was meint Ihr? Reicht so etwas aus, um ein Sanktuarium zu entweihen? Eine tote Ratte und eine<br />

Tonscherbe mit dem eingeritzten Zeichen einer Erzdämonin?"<br />

"Nun, ich habe zwar keinen blassen Schimmer, wo ich eigentlich bin und was diese Ruine hier sein soll. Aber im<br />

Prinzip könnt Ihr mit dem Symboltier des Namenlosen, Blut und einer unheiligen Glyphe schon einigen Schaden<br />

anrichten."<br />

"Deswegen ist sie also ohnmächtig geworden, als ich sie hier herein getragen habe. Nicht wegen dem Blutverlust!"<br />

"Wer?"<br />

"Andromejia. Sie ist eine Paktiererin und hat den Rattenkadaver in den Schrein geworfen." Odilons Hand ruckte<br />

zum Schwert. Mit weiten Schritten eilte er nach draußen. Rurmanjinn schnaubte ungehalten auf. "Wer sagt das? Sie<br />

ist eine Kameradin <strong>von</strong> den Dajinim."<br />

"<strong>Das</strong> sagt s i e."<br />

"Nun sprecht I h r unbewiesene Verdächtigungen aus."<br />

Odilon lachte auf und suchte die lärmende Menge nach dem Gesicht der <strong>Maraskan</strong>erin ab. Keine Spur zu sehen.<br />

"Wo ist sie hin?" Tatsächlich, die <strong>Maraskan</strong>erin war verschwunden. Odilon packte den jungen Rebellen, der<br />

Andromejia aus dem Wald hatte kommen sehen, an der Schulter.<br />

"He, du. Wo kam die angebliche Dajina vorhin aus dem Dschungel?"<br />

Ebenso eingeschüchtert wie unbestimmt wies der Jüngling in den Dschungel.<br />

"Genauer geht´s wohl nicht, wie? Und wo ist sie jetzt hin?"<br />

"Keine Ahnung!"<br />

"I c h habe gesehen, wo sie hin gelaufen ist" erklang eine matte Frauenstimme.<br />

Rebellen, Schmuggler wie Garethjas blickten zu der Palme, an der die gefangene Korporalin der Karmothgarde<br />

gefesselt war.<br />

"Dort zu den Felsen ist sie hin! Ans Meer!" Rauline wies mit dem Kopf die Richtung.<br />

"Verflucht, das ist genau dort, wo wir uns vor einer halben Stunde über das Heilige Wasser des Talued unterhalten<br />

haben. Wir Narren! Sie hat alles belauscht." Odilon griff sich an die Stirn.<br />

Die Angbarerin nickte. "Ganz recht, diese Andromejia gehörte zu uns. Ich habe die ganze Zeit gedacht, sie hätte u n<br />

s verraten. Aber so, wie es jetzt aussieht, dient sie doch dem Fürstkomtur."<br />

"Sie gehört zu euch? Warum hast du das nicht gleich gesagt, Verräterin?" fuhr der Inquisitor die Gefangene an.<br />

Rauline lachte in stiller Verzweiflung auf. "Ihr habt mich ja nicht danach gefragt."<br />

Die Meuchlerin schlug die Äste beiseite und zerrte ihre Beute hervor: den Heiligen Stein der Tsa und den<br />

Wasserschlauch mit dem Wasser des Talued. Dann sah sie noch einmal zum Strand, wo das Durcheinander noch<br />

immer anhielt und der Streit zwischen Schmugglern und Rebellen wieder. Niemand hatte gemerkt, dass sie sich<br />

heimlich aus dem Staub gemacht hatte. Leider hatte dieser Rurmanjinn nicht kurzen Prozess mit den Garethjas<br />

gemacht, wie sie sich das erhofft hatte. Stattdessen hatte er es zugelassen, dass sich dieser oberschlaue Odilon an<br />

die Aufklärung des Falles machte. Chazuul! Nun denn, bei den Mittelreichern gab es ein Sprichwort: Lieber den<br />

Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Es war zwar schade, dass sie nun keinen Blick in den Tonkrug<br />

mehr werfen konnte. Aber sicher war sicher. Sie hatte das Sanktuarium der Göttlichen Geschwister geschändet<br />

(Belkelel sei Dank, der ihr noch in der Nacht diesen Einfall eingegeben hatte), ein wertvolles Artefakt dieses<br />

geschuppten Kriechtierleins Tsa erbeutet und hielt außerdem einen äußerst potenten Heiltrank in Händen - das<br />

musste genügen.<br />

Sie hatte sich den Wasserschlauch gerade an einem Riemen um die Schulter geworfen, da trat Odilon zusammen<br />

mit dem Rebellenführer aus dem Schrein. Nun war es höchste Zeit, zu verschwinden.<br />

Andromejia huschte in den Dschungel hinein, darauf bedacht, erst einmal einen ordentlichen Vorsprung zum Lager<br />

zu gewinnen. Dornen zerrten an ihren Gewändern, Schweiß lief ihr über das Gesicht. Ein Haumesser wäre jetzt<br />

sehr nützlich gewesen, aber das verursachte ohnehin zuviel Spuren. Nach einiger Zeit blieb sie stehen, lauschte.<br />

Nur das Gackern, Brüllen und Zischen des Dschungels war zu hören - und ihr eigener, hektischer Atem.<br />

Sie schlug einen großen Bogen, bis sie wieder auf den Bachlauf stieß. Wenn sie ihm folgte, war es bis zur Straße<br />

nach Jergan nicht mehr weit.<br />

Sie watete den Bach entlang. Dunkle Blutegel hefteten sich an ihre Stiefel. Verflucht, wenn diese hinein krochen<br />

und ihr das Blut aussaugten, konnte sie ohnmächtig werden - das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Sie<br />

276


eschloss, sich doch besser wieder in den Dschungel zu schlagen. Mit dem Dolch streifte sie die Blutsauger ab und<br />

versuchte ihn als improvisierte Machete einzusetzen. Sie war nun wieder in Hörweite des Lagers, aber das<br />

aufgeregte Geschrei der Rebellen verriet ihr, dass sie in der anderen Richtung gesucht wurde.<br />

Zufrieden lachte sie in sich hinein. Hatte sie die Straße erst einmal erreicht, war sie in Sicherheit. Helme Haffax<br />

würde hoch zufrieden mit ihr sein, und auch an <strong>Gold</strong> würde es ihr nicht mangeln.<br />

Sie kämpfte sich durch das Unterholz. Als sie das Meeresrauschen hörte und den Schrein durch das Gewirr der<br />

Bäume hindurchschimmern sah, fluchte sie leise. Verdammt, sie hatte gerade eben einen Bogen zurück geschlagen.<br />

Der Bach lief eben doch nicht so geradlinig auf den Taleingang mit den beiden Rabenfelsen zu, wie sie gedacht<br />

hatte.<br />

Bei Belkelel, das hier war die Aufgabe einer Waldläuferin, nichts für eine gewerbsmäßige Beischlafmörderin wie<br />

sie. Nur gut, dass ihre Verfolger bei dem Gewirr <strong>von</strong> Schlingpflanzen, Farnen, Schachtelhalmen, umgestürzten<br />

Bäumen und bemoosten Stämmen mindestens ebenso schnell die Übersicht verlieren würden.<br />

Irgendwo in der Nähe war ein Prasseln, Krachen und Knacken zu hören. Ein Baumriese, der zu Boden stürzte.<br />

Andromejia hatte einmal irgendwo gehört, dass viele Menschen, die im Dschungel starben, nicht Pardern oder<br />

<strong>Maraskan</strong>federn zum Opfer fielen, sondern <strong>von</strong> plötzlich umstürzenden Bäumen erschlagen wurden - vor allem<br />

dann, wenn deren Blätter schwer <strong>von</strong> einem vorangegangenen Regen waren. <strong>Das</strong> wäre nun wahrlich ein<br />

belkelelungefälliges Ende ihrer Mission.<br />

Die Tuzakerin kämpfte sich mit dem Dolch weiter. Pflanzensaft verklebte ihr Gesicht und Hände. Vom Bach war<br />

bald nichts mehr zu sehen, ebenso wenig vom Lager der Rebellen. Unvermittelt trat sie auf eine weitere kleine<br />

Lichtung, die <strong>von</strong> Totholz, geduckten Blätterpflanzen und jeder Menge eitriggelber, rotgesprenkelter Pilze bedeckt<br />

war. Allerhand<br />

Krabbelgetier war am Boden unterwegs. Auf der anderen Seite schien ein Wildwechsel vom Bach weg zu führen.<br />

Immerhin, besser als gar kein Weg. Andromejia rückte den Wasserschlauch zurecht, vertrieb die allgegenwärtigen<br />

Stechmücken und lief über die Lichtung, einige der Pilze achtlos beiseite tretend.<br />

Sie hatte den Wildwechsel gerade erreicht, als ein wütendes Zischen sie herumfahren ließ. Dann spürte sie nur noch<br />

einen gräßlichen Schmerz im Oberschenkel.<br />

Mit einem gewaltigen Sprung setzte Odilon über das Bachbett. Andromejia hatte ihm mit ihrem Fluchtweg einige<br />

Rätsel aufgegeben, aber vermutlich war das auch so beabsichtigt. Oder hatte sich sein Wild schlichtweg verlaufen -<br />

bereits hier, wo der Dschungel noch licht und vergleichsweise ungefährlich war (die <strong>Maraskan</strong>er sprachen sogar<br />

nur vom "Forst" im Vergleich zu den wirklich gefährlichen Berg- und Nebelwäldern im Landesinneren)?<br />

Eine Abfolge furchtbarer Schreie ließ Odilon zusammen zucken. <strong>Das</strong> kam aus der gleichen Richtung, in die auch<br />

die Fährte der Meuchlerin wies.<br />

Nach einigen Dutzend Schritt erreichte Odilon eine Lichtung voller Eitrigem Krötenschemel. Die Schreie waren<br />

verstummt. Andromejia lag reglos auf der anderen Seite, der Leib bläulich verfärbt und angeschwollen. Die<br />

Meuchlerin war eindeutig tot. Neben ihr stand das Ungetüm <strong>von</strong> Maraske und sträubte noch immer ihre rot-gelben<br />

Borstenhaare.<br />

"<strong>Das</strong> ist Lilibetjida!" flüsterte Rurmanjinn, der hinter ihm herankam. "Bei den Göttlichen Bruderschwestern! Die<br />

Maraske hat die Mörderin meines Vaters gerichtet! Bewegt euch nicht. Sie scheint immer noch zornig zu sein!"<br />

"Ich dachte, sie wäre zahm?" Odilon ließ das achtbeinige Ungeheuer, das ihm fast bis zur Brust reichte, nicht aus<br />

den Augen - und umgekehrt.<br />

"Man kann eine Maraske nicht zähmen."<br />

"Dachte ich´s mir doch. Und wie kommen wir nun ans Talued-Wasser?<br />

Nach und nach kamen die übrigen Gefährten und Rebellen heran.<br />

"Was machen wir nun?" wollte Alrik wissen.<br />

"Gute Frage."<br />

Dann war mit einem Mal alles seltsam. Als hätte Satinav selbst den Faden der Zeit durchtrennt.<br />

"Und? Wie haben wir es geschafft, der Maraske den Edelstein und das Talued-Wasser abzunehmen?"<br />

Alrik vom Friedwang stand auf dem Achterdeck der Nachtwind und blinzelte in die Sonne, die gerade ihren<br />

täglichen Weg über das Perlenmeer begann.<br />

Er hatte sich noch nicht ganz daran gewöhnt, wieder mit beiden Augen zu sehen. Also klappte er wieder die<br />

Augenklappe herunter und sah zu Odilon.<br />

Der Gallyser sah lächelnd zu Hesindian, Alvan und dem Baron. Es war kaum zu glauben, dass die Ereignisse der<br />

letzten Stunden auf <strong>Maraskan</strong> komplett aus ihrem Gedächtnis gestrichen worden sein sollten. Dafür sahen sie<br />

allerdings nun aus wie das blühende Leben selbst.<br />

Odilons Blick ging zu Selbfried und Gunelde. Die beiden waren zu spät auf der Lichtung im Dschungel<br />

eingetroffen und wussten ebenfalls nichts <strong>von</strong> dem Vorgefallenen.<br />

277


"Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Offenbar hat mich das Mistvieh übel geblendet, als ich ihr mit Wandelur<br />

den Stachel abgeschlagen hatte. Behauptet zumindest dieser maraskanische Rebell. Wie hieß er noch gleich?"<br />

"Rurmanjinn." schlug Selbfried vor.<br />

"Wenn Ihr das sagt. Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass ich, Odilon Wildgrimm der Schwarze Bär,<br />

vergessen haben soll, was passiert, wenn man einer Maraske den Stachel abschlägt: <strong>Das</strong> ganze Gift spritzt in der<br />

Gegend herum."<br />

"Jedenfalls war die Maraske ohne Stachel ungefährlich. Vielleicht wusstest du, dass du dich mit dem Talued-<br />

Wasser heilen konntest?" meldete sich Alvan zu Wort.<br />

"Vielleicht. Ich hab´s vergessen." Odilon machte eine wegwerfende Handbewegung.<br />

"Ach, du bist eben unser Held. Opferst dich für uns alle." Die Edle <strong>von</strong> Nordenheim drückte ihrem Vater einen<br />

Kuss auf die Stirn.<br />

"Papa ist der Größte, wie?" Odilon grinste schief. Alvan sagte nichts. Vielleicht war es gut, dass ihre Gefährten die<br />

Ereignisse der letzten Stunden vergessen hatten. So konnten sie jedenfalls niemandem <strong>von</strong> dem Tonkrug berichten.<br />

"Jedenfalls ist der Maraskenstachel ein schönes Andenken. Ich denke, er wird sich gut machen über den Kamin <strong>von</strong><br />

Burg Gallys. Und Du willst wirklich noch aufbrechen zu Deinen exilmaraskanischen Freunden?" fügte Odilon<br />

etwas leiser hinzu.<br />

"Ja, Vater. Ich muss."<br />

"Nun denn. Wenn du es sagst, dann weiß ich, dass es nötig ist."<br />

Alvan ließ vor ihrem geistigen Auge noch einmal die Ereignisse der letzten Stunden auf <strong>Maraskan</strong> vorüber ziehen.<br />

Es war eigenartig. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie die tote Andromejia gefunden hatten und die Maraske<br />

erblickten war die Erinnerung ihrer Gefährten völlig klar. Aber alles, was seitdem geschehen war bis zu dem<br />

Augenblick, in dem sie an Bord der Nachtwind gingen, war ihnen hinter einer Wand aus undurchdringlichem Nebel<br />

verborgen. Und dabei hatten sie ja noch Glück gehabt. Sie waren kaum verletzt und hatte offenbar nur wenig <strong>von</strong><br />

dem Heiligen Wasser getrunken. Abgesehen <strong>von</strong> Hesindian, der hatte ja seine Erinnerung an die gesamte Reise<br />

verloren. Gunelde, Alrik und Odilon hatten zumindest mehr vergessen als sie. Allein wie es um den Inquisitor stand<br />

wusste sie nicht. Meister Selbfried hatte sich nichts anmerken lassen, wenn er etwas vergessen hatte. Vielleicht<br />

aber war er ja auch gar nicht <strong>von</strong> dem Vergessen betroffen, vielleicht hatte er gar nichts <strong>von</strong> dem Wasser<br />

getrunken. Sie wusste es nicht. Aber sie wollte auch nicht das Risiko eingehen, ihn misstrauisch zu machen, in dem<br />

sie ihm Fragen stellte.<br />

Allein ihre eigene Erinnerung war ungetrübt geblieben.<br />

Der Krug. Sie hoffte nur, dass es niemandem aufgefallen war, wie sehr sie auf den Krug acht gegeben hatte.<br />

Schließlich sollte er ja als wertlos gelten, als reines Ablenkungsmanöver. So hatte sie es ja zu den Rebellen und<br />

auch den Piraten gesagt. Alle sollten da<strong>von</strong> ausgehen, das heilige Wasser werde <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong> fort geschafft,<br />

während es noch auf der Insel weilte und den Sira Jerganak beizeiten gute Dienste leisten würde. Niemand durfte<br />

wissen, dass es um etwas gänzlich anderes ging als allein um das Talued-Wasser.<br />

Da kam Alvan ein tröstlicher Gedanke. Vielleicht diente Marajins Tod auf diese Weise der Welt, dass nun niemand<br />

mehr auf <strong>Maraskan</strong> wusste, was wirklich mit dem Schatz im Tal der Glühwürmchen geschehen war, und somit<br />

niemand etwas verraten konnte. Andromejia war tot, Mercurio war tot, und ihre Gefährten hatten die Erinnerung<br />

verloren. Rurmanjinn hingegen würde da<strong>von</strong> ausgehen, dass er den Schatz in Händen hielt, weil er nichts anderes<br />

als Wasser, schlicht und einfach Talued-Wasser, enthalten hatte. Mal abgesehen <strong>von</strong> ein paar Edelsteinen, die aber<br />

den Schmugglern zugefallen waren. Jedenfalls würde niemand mehr an den mit Salzwasser gefüllten Krug denken.<br />

<strong>Das</strong> war wohl die beste Tarnung eines Schatzes, dass alle etwas völlig Unwahres für die Wahrheit hielten. So<br />

konnte sie ungefährdet den eigentlichen Schatz nach Asboran bringen.<br />

Nagut, sie wusste nicht sicher, was der Krug barg. Dazu hätte sie den Krug ja zerbrechen müssen, um nachzusehen,<br />

was im dicken Boden und in den dicken Wänden verborgen war. <strong>Das</strong> aber würde Alvan nicht tun dürfen. Nicht<br />

bevor sie in Asboran eingetroffen war. Aber sie war sich ihrer Vermutung sehr sicher. Es passte einfach zu gut<br />

zusammen. Wenn an sich schon sehr wertvolles Talued-Wasser die Tarnung für den eigentlichen Schatz des<br />

Jerganer Tempels war, dann musste der Schatz selbst etwas noch viel wertvolleres sein. Kostbarer als <strong>Gold</strong> und<br />

Edelsteine. Und was konnte noch so viel wertvoller sein als vielleicht ein magisches Metall? Die Geschichte, dass<br />

Rebellen während der Zeit der Besatzung durch die Garethjas kostbarstes Endurium erbeutet hatten war oft genug<br />

zu hören in <strong>Maraskan</strong>. Wie üblich gab es mehr als ein Dutzend verschiedene Erzählungen darüber, die alle mehr<br />

Dichtung als Wahrheit enthielten. Aber da sie in jenen Tagen selbst auf <strong>Maraskan</strong> gewesen war wusste sie, dass das<br />

erbeutete Endurium nicht im Spiel verloren, im Dschungel verschollen oder in Tuzak vergraben war wie die<br />

verschiedenen Geschichten einem Glauben machen wollten, sondern dass es der Obhut der Priesterschaft der<br />

Zwillinge übergeben worden war. Aber auch unter den Priestern wussten nur wenige da<strong>von</strong>. Vielleicht hatte Rur<br />

deshalb diese Aufgabe für sie ausgesucht, weil sie darum wusste und daher auf den Gedanken gekommen war, den<br />

Krug nach Asboran zu bringen.<br />

278


Alrik wies auf die Silhouette, die sich vor ihnen aus dem Dunst der Gegenküste schälte. "<strong>Das</strong> da drüben ist<br />

Khunchom. Ein neuer Morgen bricht über der Stadt am Mhanadi an. Freunde, es sieht so aus als wären wir<br />

wohlbehalten zurückgekehrt in das Freie Aventurien."<br />

279


Epilog: Der Dank des Inquisitors<br />

Es war ein milder Frühlingstag über der Heide. Die noch schneebedeckten Gipfel der Schwarzen Sichel ragten<br />

nicht weit entfernt im Norden empor, aber in den Tälern hatte es schon allerorten zu blühen und zu sprießen<br />

begonnen. Firun wich allerorts vor dem mit Macht hereinziehenden Praios zurück.<br />

Odilon lehnte sich an den hölzernen Zaun und beobachtete die Pferde. Die Fohlen des letzten Jahres waren an der<br />

Reihe, sich an das Tragen <strong>von</strong> Sattel und Zaumzeug zu gewöhnen. Der Anblick der jungen Rösser erfüllte Odilon<br />

mit einem Glücksgefühl. Er liebte Pferde, und er konnte sie gar nicht lange genug betrachten. Er sah ihre<br />

kraftvollen und eleganten Bewegungen. Es war eine gute Zucht, zweifellos. Fertig ausgebildet würden sie gewiss<br />

einen guten Preis erzielen, und die Aufkäufer der Armee zahlten gut, die Nachfrage nach guten Rössern für die<br />

Kavallerie war ungebrochen.<br />

Veneficus stand neben ihm. Obwohl der Magus ein gutes Stück jünger war als Odilon hätte man sie wohl für gleich<br />

alt halten mögen. Der Magus war früh ergraut, und sein Gesicht trug auch nicht die kräftige Hautfarbe Odilons, der<br />

im Gegensatz zu Veneficus auch nicht einen großen Teil seines Lebens in seiner Studierstube verbracht hatte.<br />

Vielleicht wirkte es sich auch aus, dass in Odilons Adern ein Viertel elfisches Blut floss.<br />

<strong>Das</strong> halblange graue Haar des Magiers flatterte im Frühlingswind. "Sigismund ist tot, und ihr anderen seid dem Tod<br />

auch nur noch einmal knapp <strong>von</strong> der Schippe gesprungen. Und jetzt sag mir noch einmal, warum dieser Wahnsinn<br />

denn hatte sein müssen." stellte Veneficus fest, nachdem Odilon ihm <strong>von</strong> der Reise nach <strong>Maraskan</strong> berichtet hatte.<br />

"Ach Veneficus, das verstehst du nicht. Du hast niemals das Gefühl des Abenteuers so erlebt, wie ich es kenne.<br />

Und du kannst auch Alvanas Sehnsucht nach <strong>Maraskan</strong> nicht nachvollziehen."<br />

"Und für diese Sehnsucht hat Sigismund sein Leben gelassen." gab Veneficus sachlich zurück.<br />

"Ja. Wirf mir nicht vor, dass ich nicht auch um ihn trauere. Aber es war sein freier Entschluss. Es ist eines jeden<br />

Mannes Recht, sich für oder gegen ein Risiko zu entscheiden. Er hat gewusst, worauf er sich einlässt."<br />

"Du hättest ihm diesen Wahnsinn ausreden müssen. Du hattest die Erfahrung gehabt, dich auf ein solches Wagnis<br />

einzulassen. Er nicht, und das wusstest du. Wenn jemand die Schuld an seinem Tod trägt, dann du."<br />

Odilon konnte nicht anders, als Veneficus auf gewisse Art und Weise Recht zu geben. Ja, Veneficus war aus Liebe<br />

zu Alvan mit nach <strong>Maraskan</strong> gezogen. Er hätte es ihm verbieten können. Dann wäre der Helligfarn noch am Leben.<br />

'<strong>Das</strong> Leben eines jeden Menschen dient der Schönheit der Welt, und auch sein Tod' Odilon kamen die Worte<br />

Alvans in den Sinn. Alvan hatte um den Streuner ebenfalls getrauert, aber es war eine kurze Trauer im Bewusstsein<br />

um die Wiedergeburt. Kurz vor ihrem Abschied hatte Alvan ihm anvertraut, dass sie ein Kind <strong>von</strong> Sigismund<br />

erwarten würde. Odilon lächelte unbewusst. Ein Leben war vergangen, ein neues entstand. Und Odilon wurde<br />

Großvater. Auf einmal verstand er die <strong>Maraskan</strong>er.<br />

"Ja, ich hätte es vielleicht verhindern können, wenn ich auf die Vernunft gehört hätte. Wir alle hätten diese Reise<br />

vielleicht nicht unternehmen müssen. Und dennoch denke ich, dass wir richtig gehandelt haben. Ich weiß, das wirst<br />

du jetzt vielleicht nicht verstehen, aber ich muss Alvan da Recht geben. Wir können jetzt noch gar nicht absehen,<br />

inwieweit das Unternehmen der Schönheit der Welt dienlich war."<br />

"Mit diesem maraskanischen Gefasel kannst du jeden Schwachsinn schönreden." konterte der Magier trocken. "Ich<br />

hatte gedacht, du bist logischen Gedanken und Argumenten zugänglich."<br />

"Ich denke das bin ich. Aber ich habe auf dieser Reise auch vieles gesehen und viel neues hinzu gelernt." Odilon<br />

ließ es dabei bewenden. Er würde Veneficus nicht erzählen, was er <strong>von</strong> Alvan erfahren hatte.<br />

"Warum ist eigentlich Mardhelm nicht mehr auf dem Gestüt?" lenkte er ab. Veneficus bohrte nicht weiter nach.<br />

<strong>Das</strong> hatte bei Odilon ohnehin keinen Sinn.<br />

"Die Armee hat ihn uns abgeworben. Gute Zureiter sind bei der Kavallerie gefragt. Die haben ihm ein Angebot<br />

gemacht, da konnten wir finanziell einfach nicht mitbieten. Die Fürstlichen tun sich da leicht, die kassieren genug<br />

Steuern <strong>von</strong> uns, aber in Gallys sind wir froh, wenigstens bald schuldenfrei zu sein, aber für ein fürstliches Salär für<br />

einen Pferdekenner hatten wir keine Mittel. Wir haben jetzt einen neuen eingestellt, Eberhelm, aber der ist noch<br />

jung und hat nicht die gleiche Erfahrung wie Mardhelm. Aber das wird schon noch. Jetzt, wo du wieder da bist und<br />

im Gestüt nach dem rechten sehen kannst."<br />

"Glaube nicht, ich bleibe lange in Gallys. Ich habe Jirka versprochen, das wir in diesem Sommer zu ihrer Sippe<br />

reisen. Sie möchte endlich den Norden wiedersehen. Wir waren schon seit Jahren nicht mehr an den Gestaden <strong>von</strong><br />

Kvill und Oblomon."<br />

"Schade. Wir hätten dich hier gebrauchen können. Mit welchem Pferd willst du reiten, jetzt, wo Kutaki tot ist?"<br />

"Ich werde mir eines aus dem Gestüt nehmen. Ich kenne die Zucht, und ich werde bestimmt ein gutes finden."<br />

"Nagt. Du musst dich aber beeilen. Der Aufkäufer der Kavallerie wollte in ein paar Tagen kommen und sich unsere<br />

Pferde ansehen. Für ein erprobtes Ross zahlen sie bis zu dreihundert <strong>Gold</strong>dukaten."<br />

"Alle Achtung, das sind ja stolze Preise!"<br />

"Ja, damit können wir einen Teil der Kosten für das Kulturspectaculum endlich abstottern, die Valyria uns<br />

eingebrockt hat. Aber für dich lasse ich mir einen Vorzugspreis einfallen."<br />

280


"He, Moment mal. Seit wann zahle ich etwas in unserem eigenen Gestüt?"<br />

"Was dachtest du? Wir haben hier ja auch immense Unkosten mit dem Gestüt, das Futter, der Zureiter will bezahlt<br />

werden, ..."<br />

"<strong>Das</strong> Pferd kann ich mir auch selber zureiten, hab ich mit Kutaki ja auch geschafft!" unterbrach Odilon ungehalten.<br />

"Hmm, lass mich nachdenken. Du könntest wieder einsteigen als Leiter des Gestüts. Als solcher stünde dir ein<br />

Pferd natürlich kostenfrei zur Verfügung..."<br />

"Vergiss es. Ich habe gesagt dass ich diesen Sommer nach Norden reise und dabei bleibt es auch. Du weißt genau,<br />

dass ich nicht so viel Geld für ein Pferd habe. Aber bevor ich meine Freiheit aufgebe und einer festen Anstellung<br />

nachgehe bleibe ich halt auf Schusters Rappen."<br />

"Schade. Noch mal schade." Veneficus hatte es selbst nicht zu hoffen gewagt, dass er Odilon zum Bleiben<br />

überreden könnte. Odilon wäre im Gestüt sehr nützlich gewesen, kein Zweifel, mit seinem Wissen über Pferde.<br />

Aber die Zeit, da Odilon selbst Pferde zugeritten hatte – ausgenommen für sich selbst natürlich – war vorbei.<br />

„Wo ist eigentlich Alvan?“ wollte Veneficus wissen. „Sie hat Dich nicht begleitet.“<br />

„Ja, richtig. Wir haben uns nach unserer Rückkehr in die freien Lande getrennt. Sie wollte noch ein paar<br />

Exilmaraskanische Freunde besuchen.“ Odilon sagte nichts über Asboran. Es wäre nicht gut für den Magus, nicht<br />

gut für irgendjemanden sonst, zu wissen, dass es diese Stadt gab. Selbst die wenigsten <strong>Maraskan</strong>er wussten da<strong>von</strong><br />

etwas, und die Garethjas – jetzt dachte er auch schon so wie diese Insulaner – sollten besser nichts da<strong>von</strong> wissen.<br />

Schließlich war Asboran eine geheime Stadt irgendwo im Raschtulswall, wie er sich zusammengereimt hatte. Die<br />

<strong>Maraskan</strong>er konnten es sich nicht leisten, Mitwisser über ihre Zuflucht zu haben. <strong>Das</strong> Wissen um Asboran war<br />

daher zu gefährlich um verbreitet zu werden. „Sie besucht noch einige Priester der Zwillinge, die ihr noch <strong>von</strong> ihrer<br />

Zeit auf <strong>Maraskan</strong> her bekannt sind.“ <strong>Das</strong> entsprach der Wahrheit, war aber unverbindlich genug. „Dort lässt sie<br />

sich pflegen und versorgen“<br />

„Pflegen? Ist sie verletzt? Ich meine, noch verletzt. Wunden habt ihr ja genug da<strong>von</strong> getragen.“<br />

„Nein. Nicht verletzt. Schwanger.“<br />

Odilon genoss den verdutzten Gesichtsausdruck auf dem Gesicht des sonst so nüchtern und gefühllos auftretenden<br />

Magiers.<br />

„<strong>Das</strong> hatte ich noch gar nicht gesagt. Alvan und Sigismund sind ein Paar geworden. Sie wollten heiraten.“<br />

„Na wunderbar.“ Ereiferte sich der Magus. „Hätten sie mit dem Rahjaspiel nicht warten können bis sie verheiratet<br />

wären? Wir sind hier in <strong>Darpatien</strong>, du weißt was die Traviafrommen Lästermäuler sagen werden.“ Die Worte des<br />

Magiers klangen ungehalten, was aber vielleicht auch daran liegen mochte, dass Veneficus nie im Leben die<br />

richtige Frau kennen gelernt hatte und zeitlebens einsam geblieben war. „Jetzt dürfen wir ein uneheliches Kind<br />

erklären.“<br />

„Diese Schranzen können doch sagen was sie wollen. Ein Verlobter, der vor der Trauung stirbt, das ist doch in<br />

Kriegszeiten kein außergewöhnliches Schicksal. Sollen diese Moralapostel doch erst einmal in Zwerch aufräumen<br />

oder die ewige Fehde der Rabenmunds und Bregelsaums beenden anstatt sich an Nebensächlichkeiten<br />

aufzustoßen.“<br />

„Ich bin ganz Deiner Meinung. Aber Du weißt doch, dass diese Schranzen in Rommilys alles aufgreifen, was sich<br />

gegen unsere Familie verwenden lässt. Diese Neider werden das Fressen dankbar annehmen.“<br />

„Sollen sie. Wer sagt, dass sie nicht regulär verheiratet waren?“<br />

„Was soll jetzt das schon wieder heißen?“<br />

„Ganz einfach. Auf der Asmodena-Horas war ich schließlich zeitweise der Kapitän. Als solcher habe ich das Recht,<br />

eine Ehe zu schließen. Wer sagt Dir, dass ich das nicht getan habe? Ich habe mit Alvan schon darüber geredet, sie<br />

wird das so bestätigen.“<br />

„Vergiss es, Odilon. Ich werde es nicht zulassen, dass Du falsch Zeugnis leistest in dieser Sache. Auch wenn es<br />

einer guten Sache dienlich ist. <strong>Das</strong> wäre zu durchschaubar, die Gerüchte würden nie verstummen. Außerdem gibt<br />

es zu viele Zeugen. Was meinst Du würde der Inquisitor dazu sagen?“<br />

Odilon sagte nichts. Er wusste, dass diesmal Veneficus Recht hatte.<br />

Odilon und Veneficus ritten an Gallys vorbei, als die Sonne sich langsam über der weiten Ebene Niederdarpatiens<br />

senkte. Die Abendsonne wärme sie, aber ein frischer Wind blies aus Gallys herab. Odilon blickte auf die Stadt, die<br />

auf dem Hang des Artemaberg genannten Hügels gebaut war, und die er fast vier Monde lang nicht gesehen hatte.<br />

Zügig ritten die beiden Männer zur Burg am westlichen Fuß des Hügels.<br />

Jetzt in der Schneeschmelze, da die Berge der Sichel nach und nach aper wurden, war der vom Grundwasser<br />

gespeiste Wassergraben rund um das Herrenhaus, das die stolze Bezeichnung Burg Gallys führte, bis zum Rand<br />

gefüllt. Die Zugbrücke war herabgelassen, wie immer bis zum Sonnenuntergang. Baronin Valyria war der Ansicht,<br />

das mache einen offeneren und freundlicheren Eindruck, also hatte sie angeordnet dass das Tor nur bei Dunkelheit<br />

zu verschließen sei. Zwei Gardisten standen am Eingang Wache und grüßten mit zackiger militärischer<br />

Handbewegung, als der Statthalter und der ehemalige Baron den ummauerten Innenhof betraten.<br />

281


Valyria, seit ihrer Vermählung mit Deggens Sohn Raul <strong>von</strong> Baernfarn Baronin zu Gallys, begrüßte den alten<br />

Recken mit einem herzlichen Handschlag. Odilon erwiderte den Gruß freundlich, übersah aber nicht die nicht<br />

gerade freundlichen Blicke, mit denen Valyria und Veneficus sich begegneten.<br />

„Werter Oheim, ich freue mich, dass Du wohlbehalten wieder zurückgekehrt bist <strong>von</strong> Deiner Reise. Raul hat mir<br />

schon erzählt was euch widerfahren ist.“ Da die verwandtschaftlichen Verhältnisse etwas komplizierter waren in<br />

der Familie Baernfarn, bedingt durch die Adoption seines Neffen Deggen durch Odilon und die Adoption Rauls<br />

durch Deggen, ebenfalls eigentlich der Neffe Deggens, um die Erbfolge zu gewährleisten, hatte es sich<br />

eingebürgert, Odilon schlicht als Oheim anzureden, obwohl er durch die Adoptionen bedingt ja der Großvater<br />

Rauls war.<br />

„Ja, ich freue mich auch, dem alten Gallys mal wieder einen Besuch abstatten zu dürfen. Lange werde ich ohnehin<br />

nicht bleiben können. Der Tag naht, an dem Firun und Praios gleich stark sind, und ich hatte es Jirka ja<br />

versprochen, nach dem Frühlingsfest mit ihr zu ihrer Sippe zu reisen.“<br />

„Ja, Odilon. Dennoch freue ich mich, Dich zu sehen. Aber die wichtigsten Neuigkeiten hast Du ja noch gar nicht<br />

erfahren, was hier in den letzten Monden passiert ist. Ach was, es ist noch genug Zeit heute Abend, um<br />

Geschichten zu erzählen. Aber ein Bote war heute hier. Ein Beilunker Reiter. Ein sonderbarer Kauz. Er schien es<br />

eilig zu haben, denn er führte sechs Pferde mit sich, zusätzlich zu dem auf dem er geritten ist.“<br />

„Ein Bote der Beilunker? Na hoffentlich kommen da keine schlechten Nachrichten aus Rommilys. Die nächste<br />

Steuererhöhung? Oder ein Ruf zum Rapport an den Fürstenhof. <strong>Das</strong> hätte mir gerade noch gefehlt.“ vermutete<br />

Odilon. „Eine Reise in das Keft der Hofschranzen ist das letzte, was ich gebrauchen kann.“<br />

„Nein, das ist es gewiss nicht. Der Bote sagte, er käme aus Gareth. Hat die sechs Pferde hier lassen wollen. Sagte,<br />

es wäre ein Geschenk für dich.“<br />

„Wer schenkt mir denn schon Pferde?“ Odilon war überrascht. „Ist der Bote noch da?“<br />

„Nein. Er sagte, er müsse noch nach Norden, er war unterwegs nach Markt Friedwang. Offenbar hat man sogar in<br />

Gareth <strong>von</strong> Eurer Reise Kenntnis genommen.“<br />

„Na gut, dann will ich mal sehen wer aus Gareth sich die Mühe macht, mir zu schreiben.“ Odilon nahm das<br />

Schreiben, das Valyria ihm reichte. „Aha, das Siegel der Praioskirchlichen Inquisition. <strong>Das</strong> kann dann wohl nur aus<br />

der Feder Seiner Hochwürden Selbfried Rabensang stammen.“ Odilon setzte sich auf die Bank neben dem Kamin<br />

und las.<br />

Gegeben zu Gareth am Ersten des Mondes PHEx<br />

Die Heiligen und Unteilbaren ZWÖlf zum Gruß, PRAios voran!<br />

Werter Baernfarn!<br />

Den Gesetzen der Heiligen PRAioskirchlichen Inquisition folgend sei Euch eröffnet und kund getan, dass die<br />

Heilige Inquisition gegen Euch und Eure Familie routinemäßige Ermittlungen geführt wurden im Rahmen der<br />

Überprüfungen, die in den an die <strong>von</strong> der Verderbten Macht besetzten Lande angrenzenden Gebieten durchgeführt<br />

wurden.<br />

Es sei Euch hiermit den Gesetzen der Inquisition konform mitgeteilt, dass die Ermittlungen mit<br />

zwölfgöttergefälligem Ergebnis beendet wurden. Es sei also Eure Familie <strong>von</strong> jedem Verdacht frei gesprochen,<br />

Kontakte zu den Verderbten Feinden der Zwölfgöttlichen Ordnung zu unterhalten. Ein jeder, der sich<br />

diesbezüglichem Gerede hingibt möge sich vor der Gerichtsbarkeit verantworten.<br />

Na, das sind doch einmal gute Nachrichten, dachte Odilon. Er hatte es schon einmal gehört, dass die Inquisition<br />

nach Abschluss ihrer Ermittlungen, soweit es nicht zu einer Verurteilung kommt, der Verdächtigte über das Ende<br />

der Untersuchung in Kenntnis gesetzt wird. Aber das war nur selten der Fall. In den meisten Fällen fand die<br />

Inquisition etwas, wenn sie nach etwas suchte. Odilon blickte wieder auf den Brief und las weiter.<br />

Ebenfalls sei, um der zwölfgöttlichen Weltenordnung gerecht zu werden, in dem Stammbaum Eurer Familie der<br />

Eheschluss des Sigismund <strong>von</strong> Baernfarn-Helligfarn und der Alvana Scheyhathjida <strong>von</strong> Baernfarn-Nordenheim am<br />

14. des Firunmondes im 32. Jahr nach Kaiser Hals Thronbesteigung in der Klause Mylendijians, <strong>Maraskan</strong>,<br />

nachzutragen. Auch unter den bekannten ungewöhnlichen Umständen ist ein beidseitiges Eheversprechen, das auf<br />

geweihtem Boden in Gegenwart eines Priesters geleistet wurde, als bindend anzusehen. Umso mehr, als auch die<br />

282


Ehe unüberhörbar vollzogen wurde. Auch der bedauerliche Tod des Ehegatten am Tage nach der Eheschließung<br />

macht dieselbe nicht zunichte, weswegen auf der ordentlichen Eintragung der Heirat bestanden werden muss.<br />

Odilon schmunzelte. Die Formulierung des Inquisitors war so geschickt gewählt, dass sie ja wortwörtlich der<br />

Wahrheit entsprach. Nur die Auslegung des Geschehens war doch gelinde gesagt ungewohnt. Aber eine Kapelle<br />

der Zwillingsgötter war zweifellos geweihter Boden, auch wenn ihn dieses Zugeständnis aus der Feder eines<br />

Praiosgeweihten in Erstaunen versetzte.<br />

Ich vertraue darauf, dass die vor den Göttern geschlossene Ehe, die ich in meiner Eigenschaft als Priester des<br />

PRAios bezeuge, Eingang in Eure Familienchronik findet. <strong>Das</strong> ungeborene Kind Eurer Tochter möge daher den<br />

Namen des Vaters ehrenvoll tragen.<br />

Seid darüber hinaus versichert dass ich Eure Tatkraft und Euren Einsatz im Kampf wider den Usurpator in Jergan<br />

überaus schätze. Gäbe es mehr Recken <strong>von</strong> Eurer Sorte, so wären die Tage der Erben des Bethaniers wohl gezählt.<br />

Die PRAioskirchliche Inquisition weiß es ebenfalls zu würdigen, dass Ihr und Eure Gefährten Euer eigenes Wohl<br />

und Eure Gesundheit wagtet, um einen Inquisitor in PRAios Diensten aus der Gefangenschaft Orons zu befreien.<br />

Es ist weiterhin meine Schuldigkeit, Euch und Euren Gefährten Euer Eigentum zurück zu geben. Fünf Pferde aus<br />

Eurem Besitz, beziehungsweise aus dem Besitz Eurer Gefährten, wurden wie Ihr wohl wisset zeitweise in Zorgan<br />

verwahrt und <strong>von</strong> dorten nach Gareth überführt. Es ist meine Pflicht, diese Pferde ihren Reitern wieder zuzuführen.<br />

Ich bitte Euch, die Tiere Euren Gefährten in meinem Auftrage zu übergeben.<br />

Um Euch meinen persönlichen Dank und meine Wertschätzung zu erweisen erlaube ich mir, Euch ein Pferd aus<br />

dem Besitz der Inquisition zu schenken. Mir ist bewusst, wie schwer der Verlust eines Pferdes wie des Euren wiegt.<br />

Erlaubt es mir also als Geste der Dankbarkeit Euch ein Reittier zu schenken, das Euch gewiss ebenso gut tragen<br />

wird wie Euer treuer Kutaki. Acatenango ist eine zweijährige Stute aus bester garethischer Zucht, die sich unter<br />

einem erfahren Reiter gewiss zu einem stets zuverlässigen und edlem Ross entwickeln wird.<br />

Möget Ihr die Gerechtigkeit PRAios schauen und auch fürderhin Eure Gebete an den Herrn PRAios richten!<br />

PRAios möge Euch und Eure Familie segnen<br />

Selbfried Rabensang, Inquisitionsrat der PRAioskirchlichen Inquisition.<br />

Odilon las sich den Brief ein zweites und ein drittes mal durch, bevor er ihn Veneficus reichte. Er konnte es kaum<br />

glauben, was er da las. Gewiss, er war dem Inquisitor näher gekommen auf der gemeinsamen Reise. Er wusste<br />

auch, dass er Selbfried allemal da<strong>von</strong> überzeugt hatte, dass weder die Baernfarns noch die Friedwangs mit dem<br />

Finsteren Feind in Verbindung standen. Aber dieser Brief, in dem Selbfried Rabensang nicht nur seine Dankbarkeit<br />

ausdrückte, hatte ihn überrascht. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Inquisitor ihm ein gutes Pferd schenken<br />

würde, und dass er den guten Namen seiner Tochter durch sein Zeugnis bezüglich der Ehe mit Sigismund bewahren<br />

würde. Darüber hinaus war der Brief, der ihm und seiner Familie die Anerkennung und Wertschätzung der<br />

Inquisition ausdrückte, ein unüberschätzbar wertvolles Leumundszeugnis. <strong>Das</strong> würde doch so manche Unkenrufe,<br />

die in Rommilys hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurden, verstummen lassen.<br />

Odilon fragte sich, ob der Inquisitor auch Alrik und Gunelde <strong>von</strong> Friedwang einen ähnlichen Brief geschrieben<br />

hatte.<br />

„Gut, ich denke, dann wäre zumindest die Sache mit Alvan zu aller Beteiligten Zufriedenheit geregelt.“,<br />

konstatierte Valyria. „Die entsprechenden Eintragungen und Formalia werde ich in die Wege leiten.“<br />

„Buchführung und Eintragungen im Stammbaum waren seit jeher Aufgabe des Statthalters.“, brummte Veneficus.<br />

„Deine Aufgabe, liebe Valyria, ist es, unser Haus zu repräsentieren und nach außen zu führen. Du musst Dich<br />

wirklich nicht mit alltäglicher Kleinarbeit belasten.“ Der Magus war nicht begeistert, dass die Baronin ihm einmal<br />

mehr seinen Aufgabenkreis einschränken wollte.<br />

„Könnten wir die Kindereien dann bleiben lassen, ja?“ machte Odilon seinen Unmut über die in seinen Augen<br />

völlig überflüssige Auseinandersetzung um Amtsbefugnisse kund. Genau aus diesem Grund, wegen diesem<br />

ständigen Zank um Macht und Einfluss, hatte er ja seinerzeit Amt und Würden aufgegeben. „Es gibt wahrlich<br />

283


wichtigeres zu tun. Wie steht es eigentlich mit der Stadtgarde? Hat die Garde ihre Sollstärke wieder erreicht? Oder<br />

sind die Lücken, die es seit dem Krieg gibt, noch immer nicht wieder ersetzt worden?“<br />

„Wir haben drei neue Gardisten eingestellt. Aber Du hast Recht, die alte Stärke ist noch nicht wieder hergestellt.“,<br />

erläuterte Veneficus. „Es ist schwer, in diesen Zeiten gute Bewaffnete zu finden. Es ist wie mit den guten Zureitern,<br />

wir können mit dem Sold, den Fürstenhaus oder kaiserliche Armee bieten, einfach nicht mithalten. Uns bleibt da<br />

nur zweite Wahl. Und da habe ich doch lieber einen Gardist weniger, als dass ich ein unnützes faules Ei bezahlen<br />

muss, das meint, ein Schwert tragen zu können reiche aus als Befähigung zu einem guten Gardisten.“<br />

„Wohl wahr.“, bestätigte Valyria. „Gute Kämpfer sind gefragt in diesen Tagen. Aber es sieht so schlecht nicht aus.<br />

Zwar zahlen wir weniger als die Armee, aber dafür drohen bei uns auch weniger Gefahren für Leib und Leben. Die<br />

Garde hat schließlich keine Einsätze an der Front. Aber es ist richtig. Zwei oder drei neue Gesichter täten den<br />

Artemareitern nicht schaden.“<br />

„Gut. Dann habe ich da vielleicht eine geeignete Kandidatin. Auf <strong>Maraskan</strong> habe ich eine frühere Soldatin der<br />

kaiserlichen Armee getroffen. In den ganzen Kriegswirren kam sie wohl etwas unter die Räder, hat übles<br />

mitgemacht und einige schwere Verletzungen da<strong>von</strong> getragen. Aber sie hat Erfahrung und kann mit dem Schwert<br />

umgehen. Du solltest sie einmal Hauptmann Krand vorstellen. Vielleicht kann er sie gebrauchen.“<br />

„Ich vertraue auf Dein Urteil, Odilon.“, sagte Veneficus. „Wie heißt die Kleine denn?“<br />

„Rauline Finkenschlag, sie kommt ursprünglich aus Angbar. Aber klein ist sie gewiss nicht. Sie dürfte auf Dich<br />

herabschauen können, Veneficus. Ich denke, sie wird eine absolut loyale Gardistin sein. Ich hab sie erst einmal<br />

beim Gesinde unterbringen lassen, als Gast des Hauses gewissermaßen. Sie wollte ursprünglich ja weiter nach<br />

Angbar reisen. Aber dort kennt sie nach fünfzehn Jahren in er Fremde ja auch niemand mehr. Ein Angebot bei der<br />

Garde, eine neue Zukunft für sie, das würde sie gewiss nicht ausschlagen.“<br />

„Dann soll Krand sie sich einmal anschauen. In einer Sache hast Du Recht, Odilon. Es kann sich manchmal als gute<br />

Entscheidung erweisen, einer gestrandeten Existenz eine neue Zukunft anzubieten. Möglich, dass sich das mit<br />

Dankbarkeit und Loyalität auszahlt. Kann aber auch sein, dass es ein Reinfall wird und Dein Schützling sich nicht<br />

mehr auf die neuen Aufgaben einstellen kann. Wir werden es sehen.“<br />

Alrik Tsalind tätschelte liebevoll die Nüstern seines Schwarzen und fütterte ihn mit noch etwas Süßmoos. Er hätte<br />

nie gedacht, "Ruß" jemals wiederzusehen. Nun ja, er hätte auch nie gedacht, noch einmal lebend in seine Baronie,<br />

zu Frau und Kindern zurück zu kehren. Er war eben doch ein Phextagskind. Der glückliche Alrik, wie ihn die<br />

Bauern nannten. Zufrieden sah er zu Serwa, der er die Freude über die Rückkehr ihres Gemahls anzumerken<br />

vermochte. Alrik hoffte sehr, dass die Freude echt war.<br />

Nun schickte ihn die Inquisition also den Rappen zurück. Der Phexgeweihte grinste in sich hinein. Selbst die<br />

Spürhunde der Praioskirche waren also nicht allwissend. Wenn Selbfried ahnte, dass Alrik das Tier einmal beim<br />

Glückspiel mit einem garethischen Edelmann in Rommilys gewonnen hatte. Nein, nicht beim Glücks-Spiel, wie<br />

sich der ehemalige Brabaker Streuner insgeheim verbesserte. Nicht so, wie er Boltan zu spielen pflegte.<br />

Dann wandte er sich Hesindian zu, der, den Arm um die fröstelnde Efferjina gelegt darauf wartete, dass der<br />

Stallbursche sein Pferd aus der Box führte.<br />

Die Traviagläubigen der Schwarzen Sichel würden fortan wieder einigen Grund haben, sich die Schnäbel zu<br />

zerreißen, dachte der Baron. Eine sechzehn Jahre junge maraskanische Fischerstochter und ein beinahe doppelt so<br />

alter Magus. Nun ja, was Schwester Rahja - oder der Plan Rurs? - zusammen gefügt hatte...<br />

Sie gingen nach draußen. Abschiedstimmung kam auf.<br />

"Die Leute in Orweiler werden Auge machen, wenn sie ihre neue Edle sehen" lästerte der Baron. "Nun ja,<br />

irgendjemand muss den Gutshof ja bewirtschaften. Ich nehme an, du wirst Dir <strong>von</strong> deinem Anteil doch mal endlich<br />

ein ordentliches Anwesen leisten, oder?"<br />

"Herrin Hesinde, da muss ich erst mal nachzählen. Soviel <strong>Gold</strong> haben wir in Khunchom schließlich auch nicht<br />

bekommen." Hesindian griff nach dem Zügel und schwang sich in den Sattel. "Auch wenn Du mit den Priestern<br />

gefeilscht hast, als hätten wir nicht einen heiligen Opal der Tsa in einen ihrer wichtigsten Tempel, sondern<br />

irgendein Diebesgut zur nächsten Hehlerhöhle gebracht."<br />

"Sag bloß, du hättest lieber auf die Mäuse verzichtet. Du kannst mir die Duckern gerne rüberschieben. Immerhin ist<br />

Burg Friedstein auch abgebrannt, in jeder Hinsicht..."<br />

Der Magier lachte auf. "Wie ist das eigentlich passiert? <strong>Das</strong> Feuer in meinem Gutshof, meine ich?"<br />

"Ich, äh, oh, das ist eine lange Geschichte. Kannst du dich wirklich nicht mehr daran erinnern?"<br />

Der junge Zauberer zuckte hilflos mit den Schultern und schüttelte den weißhaarigen Kopf. "Ich habe wirklich<br />

keinen blassen Schimmer. Du musst mir mal das Tagebuch geben, das Du über die ganzen Ereignisse im Osten<br />

geschrieben hast."<br />

"Habe ich das?"<br />

"Nun, ich habe dich auf dem Rückweg mehrmals darin blättern und hineinschreiben sehen.“<br />

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"Wenn das so ist... Mal sehen..." Alrik verbarg sein erneutes Lächeln hinter seiner Hand, mit der er seinen Spitzbart<br />

zwirbelte. Tatsächlich hatte er beinahe so etwas wie seine Memoiren geschrieben - nur für den Fall, dass das<br />

Talued-Wasser die Erinnerung an wirklich wichtige Ereignisse in seinem Leben löschen würde. <strong>Das</strong> war zum<br />

Glück nur teilweise geschehen - aber dennoch war Alrik dieses maraskanische Wässerchen unheimlich. Auch<br />

Hesindian hatte nach seinem zwangseingeflösstem Schluck nichts mehr da<strong>von</strong> wissen wollen. Offenbar kam es<br />

dem Magier hesindelästerlich vor, auf derart rabiate, eben maraskanische Weise Wissen gegen Genesung<br />

einzutauschen. Vielleicht wollte sich Hesindian aber auch einfach nicht ein zweites Mal sein vergessenes Leben<br />

<strong>von</strong> einem Freund erzählen lassen, den er am Ende womöglich gar nicht mehr erkennen würde.<br />

Alrik tastete nach seiner Augenklappe, die er nun wieder trug, und zwinkerte. Er hatte sich noch nicht vollständig<br />

daran gewöhnt, wieder mit beiden Augen zu sehen (merkwürdig, sein Körper schien sich mehr an die vergangenen<br />

Jahre zu entsinnen als sein Geist), außerdem wollte er sich verwirrte Fragen der Dienerschaft ersparen. Für das<br />

Gesinde hatte er sich auf einer Wallfahrt zum Tsatempel in Khunchom befunden und <strong>von</strong> heilkräftigen Quellen<br />

getrunken, was streng genommen sogar stimmte. Nur der Anreiseweg war eben ein wenig komplizierter gewesen.<br />

Sei´s drum, er konnte Hesindian unmöglich seine geheimen Aufzeichnungen zu lesen geben, die seine doppelte<br />

Existenz als Baron <strong>von</strong> Friedwang und Phexgeweihter offenbaren würden. Er musste also eine zweite, bereinigte<br />

Version anfertigen... Nun gut, umso mehr würde er wieder mit dem vertraut werden, was für ihn selbst hinter einem<br />

Schleier des Vergessens entschwunden war.<br />

"Ja, das kann ich Dir gerne geben. Aber ich muss das Gekrakel erst mal selber entziffern und ins Reine schreiben."<br />

"Lass Dir Zeit damit. Ich werde ohnehin die nächsten Monate mit dem Bau des Gutshofes beschäftigt sein.<br />

Vielleicht auch mit dem eines Magierturms, wer weiß." Hesindian hob die junge <strong>Maraskan</strong>erin in den Sattel, die<br />

ihren Lebensretter versonnen musterte. Der Magier schien ihr in der merkwürdig fremden Umgebung aus<br />

herabrieselndem Schnee und weißem Wald, voller hellhäutiger Menschen Halt zu geben. Andererseits wunderte es<br />

Alrik nicht, dass Efferjina Hesindian so bereitwillig ins kalte Land der Garethjas gefolgt war. In <strong>Maraskan</strong> gab es<br />

wenig, was sie noch hätte halten können - ihre Eltern waren tot, die Insel <strong>von</strong> Dämonenanbetern besetzt und sie<br />

wurde dort vermutlich längst als Rebellin gesucht.<br />

"Was auch immer du demnächst vorhast, ich wünsche dir viel Glück dabei." meinte Alrik.<br />

Der Magus nickte dankend, dann lenkte er das Pferd zum Burgtor.<br />

"Auch Dir wünsche ich den Segen der Zwölfe, bis wir uns wiedersehen."<br />

Hesindian winkte er dem barönlichen Ehepaar zu und sprengte in das gleißende Licht der Sonne, die soeben in<br />

voller Pracht über den Bergen aufging.<br />

Die Mittagssonne brannte heiß und hell hernieder auf die Stadt, die eng eingerahmt <strong>von</strong> hohen Bergen und steilen<br />

Felswänden war, dass sie nur in den Mittagsstunden im Sonnenschein lag. Nur kurz wurde es hier wirklich warm,<br />

die meiste Zeit war es eher frisch hier in der verborgenen Talsenke inmitten des Raschtulswalles. Alvan hatte aber<br />

keinen Sinn für die Schönheit <strong>von</strong> Bruder Praios güldener Scheibe. Die Halbelfe war noch reichlich ermattet <strong>von</strong><br />

den vergangen Tagen, die sie sich als die schönsten ihres Lebens vorgestellt hatte. Einem Kind das Leben schenken<br />

zu können war doch irgendwie das schönste auf dem Weltendiskus. Dem Leben einen neuen Anbeginn geben zu<br />

dürfen, damit der ewige Kreislauf <strong>von</strong> Leben und Wachsen, <strong>von</strong> Tod und Niedergang, nicht unterbrochen würde.<br />

So hatte sie sich die letzten Wochen schon sehr auf diesen Tag gefreut. Doch als der Tag gekommen war – in den<br />

frühen Morgenstunden hatten die Wehen eingesetzt – war es einfach nur schmerzhaft. Wer auch immer in<br />

Geschichten und Erzählungen <strong>von</strong> der Freude des Mutterwerdens sprach, das musste wohl ein Mann gewesen sein,<br />

der solche Geschichten geschrieben hatte. Oder eine Frau, die selbst nie Mutter geworden war und neidisch auf<br />

andere Frauen blickte. Alle Schmerzen und Strapazen, die sie in ihrem bisherigen Leben ausgestanden hatte, waren<br />

geradezu ein Ogermethschlecken verglichen mit der Geburt eines Kindes. Und als die Geburt vollbracht war und<br />

die Amme ihr ein blutverschmiertes Etwas in den Arm legte konnte sie zunächst gar nichts empfinden – nur völlige<br />

Erschöpfung. Die Amme wusch das Kind, und Alvan gelang es endlich, ein paar Augenblicke Schlaf zu<br />

bekommen. Wie herrlich warm war es doch hier im Bett, wie kuschelig gemütlich.<br />

Leider währte ihr Schlaf nur wenige Minuten, den der kleine Bub, der nunmehr den Weltendiskus bevölkerte,<br />

begann auf das Lauteste zu schreien, so dass Alvan ihn erst noch stillen musste. Jetzt tat ihr auch noch die Brust<br />

weh ob der ungewohnten Behandlung, die ihr da widerfuhr. Schwester Tsa, seufzte Alvan, hättest Du das nicht<br />

auch einfacher einrichten können? Aber wenigstens gab der Kleine jetzt Ruhe, und Alvan konnte endlich schlafen.<br />

Die nächsten Tage brachte Alvan lediglich mit Essen und Schlafen zu. Sie war dankbar, dass die Amme ihr so<br />

hilfreich zur Seite stand. Mit der neuen Pflicht, sich um ein Kind zu kümmern, war Alvan gänzlich überfordert.<br />

Eines Tages zur Mittagsstunde war Alvan wieder aufgewacht. <strong>Das</strong> Öffnen der Türe zu ihrer Kammer hatte sie<br />

geweckt. Milhibethjida war eingetreten. <strong>Das</strong> einzigste vertraute Gesicht, das sie hier in Asboran wieder gesehen<br />

hatte. Aber auch nur einmal kurz. Die Priesterin hatte kaum Zeit gefunden für die Halbelfe, für deren Weihe zur<br />

Priesterin der Zwillinge sie sich vor Jahren eingesetzt hatte. Aber jetzt wollte Milhibethjida trotz der Arbeit, die auf<br />

sie wartete, sich doch die Zeit nehmen, um Alvans Nachwuchs willkommen zu heißen. <strong>Das</strong> war sie Alvan doch<br />

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schuldig, meinte Milhibethjida. Immerhin hatte die spitzohrige Priesterin den Krug aus Jergan mit sich gebracht.<br />

Und der Krug war <strong>Gold</strong> wert. Nein, er war viel bedeutender als <strong>Gold</strong>. Gut und gerne ein Stein Endurium, zu lauter<br />

kleinen silberfarbenen Kügelchen gegossen, war in der Wand und dem Boden des Tonkruges eingebrannt gewesen.<br />

Es war das Endurium, das die Rebellen vor Jahren den Garethischen Besatzern abgenommen hatten. Erbeutet bei<br />

diesem denkwürdigen Überfall auf die Enduriummine im Inneren der <strong>Maraskan</strong>kette. <strong>Das</strong> Metall war damals nach<br />

Tuzak gebracht worden, später nach Jergan. Jetzt war es endlich an einem Ort, wo das kostbare magische Metall<br />

dem <strong>Maraskan</strong>ischen Volk zugute kommen sollte. Hier in Asboran konnte man etwas mit dem Metall anfangen.<br />

Milhibethjida wusste jetzt noch nicht, in welcher Weise das Endurium zur Schönheit der Welt beitragen würde.<br />

Vielleicht würde es, Raschtulswaller Eisenerz beigemengt, zur Fertigung guter Schwerter dienen, die auch<br />

Dämonen zu verwunden in der Lage waren. Vielleicht, ach es war müßig, über die Möglichkeiten nachzudenken,<br />

auf welche Weise man das Endurium am wirkungsvollsten verwenden könnte. Man würde beizeiten den richtigen<br />

Entschluss fassen.<br />

„Schwester Scheyhathjida!“ Milhibethjida hatte bemerkt, dass Alvan erwacht war. „Wie fühlst Du Dich?“<br />

„Milhibethjida! Es ist schön Dich zu sehen... wenn ich ehrlich bin, ich weiß nicht so recht. Es... es ist so anders, so<br />

völlig neu für mich.“<br />

„Hast Du schon einen Namen für Deinen Sohn?“<br />

„Mehr als nur einen. Ich muss ihn ja schließlich nach seinem verstorbenen Vater nennen. Aber ich dachte auch<br />

schon an einen Freund aus früheren Tagen, nach dem ich ihm benennen könnte.“<br />

„Dann gib ihm doch beide Namen!“<br />

„Daran dachte ich schon. Aber ich dache auch daran, Alriks Großvater zum Namenspatron zu machen. Auch wenn<br />

er lange vor meiner Geburt gestorben ist standen wir uns sehr nahe.“<br />

„Na, Du wirst Dich entscheiden müssen.“<br />

„Ja. Was hältst Du <strong>von</strong> Scheyjian Alboranismund?“<br />

„Warum nicht? Je ein Namen für seine garethische und seine maraskanische Seite. Er kann sich selbst später für<br />

eine Seite entscheiden. Oder für beide. Es ist eine Bereicherung, mit zwei Kulturen aufzuwachsen.“<br />

„Nein. Es ist eher eine Herausforderung, die niemals leicht fällt, und die auch sehr hart sein kann. Ich war niemals<br />

Elfe und niemals Mensch und werde es nie sein. Ich habe zu viel Widersprüchliches auf meinen Weg bekommen.<br />

Und ich wurde weder <strong>von</strong> den Elfen noch <strong>von</strong> den Menschen... <strong>von</strong> den garethischen Menschen als eine der ihren<br />

akzeptiert. Wenn es wirklich eine Bereicherung sein soll, zwei Kulturen sein eigen zu nennen, dann ist es eine<br />

Bereicherung, auf die ich in meinem nächsten Leben gerne verzichten kann.“<br />

„Ich verstehe. Von dieser Warte aus habe ich noch niemals darüber nachgedacht. Aber vermutlich hattest Du<br />

deswegen so leicht Zugang zu unserer maraskanischen Sicht der Dinge gefunden. Du warst ja schon <strong>von</strong> klein auf<br />

daran gewöhnt, dass es oft mehr als eine Weise gibt, Dinge zu betrachten, und dass jede Wahrheit für sich<br />

betrachtet logisch und richtig erscheint, auch wenn zugleich das absolute Gegenteil da<strong>von</strong> ebenso wahrhaftig sein<br />

kann.“<br />

„Ja. Es ist gut möglich dass ich nie die Weisheit der maraskanischen Weltsicht erkannt hätte, wenn ich nur Garethja<br />

oder nur Elfe gewesen wäre. Ach Milhibethjida, ich muss wieder zurück in meine Heimat, nach Nordenheim.<br />

<strong>Maraskan</strong> wird mir fehlen.“<br />

„Scheyhathjida, <strong>Maraskan</strong> ist Deine Heimat. Nicht dort ist Deine Heimat, wo Du geboren oder aufgewachsen bist,<br />

sondern dort, wo Dein Herz ist. Bei den meisten ist beides das Gleiche. Aber Du, Scheyhathjida, Du bist eine<br />

<strong>Maraskan</strong>erin. Deine Heimat ist hier bei uns!“<br />

„Ja. Du hast Recht. Aber ich muss dennoch nach Nordenheim. Ich habe dort Pflichten und Verantwortung. Ich habe<br />

ein Gut zu betreuen. Die Arbeit erledigt sich nicht <strong>von</strong> selbst.“<br />

„Scheyhathjida. Du bist auch Priesterin der Zwillinge. <strong>Das</strong> ist kein leerer Titel. <strong>Das</strong> ist eine Aufgabe, eine<br />

Berufung. <strong>Das</strong> maraskanische Volk braucht Dich in dieser schweren Zeit. Außerdem kann ich Dich nicht gehen<br />

lassen. Du bist zu wichtig. Du kennst Asboran! Ich kann Dich nicht gehen lassen.“<br />

„Ach Milhibethjida. Ich... ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Ich will ja hier bleiben. Hier bei Euch ist mein<br />

Herz. Aber ich muss zurück. Ich weiß nicht, ob ich dieser Aufgabe gewachsen bin, die ich hier hätte. Vielleicht<br />

hätte ich die Weihe nie erlangen sollen.“<br />

„Blödsinn, Schwester Scheyhathjida. <strong>Das</strong> Schicksal hat Dich dreimal nach <strong>Maraskan</strong> geführt. Es wäre nicht so<br />

geschehen, wenn es nicht Rurs Plan wäre. Derlei Gerede will ich <strong>von</strong> Dir nie wieder hören. Du bist Priesterin der<br />

Zwillinge. Niemand hat gesagt, dass das eine leichte Aufgabe ist. Aber Du hast die Weihe erlangt, also lebe danach<br />

und verkrieche Dich nicht hinter irgendwelchen Pflichten auf irgendwelchen Gutshöfen. Aber ich bin nicht<br />

gekommen, um Dir zu erläutern, welche Pflichten eine Priesterin der Zwillinge hat. Darüber weißt Du selbst genug<br />

bescheid.“<br />

„Entschuldige, Milhibethjida. Es ist zuviel. Ich sollte mich nicht so gehen lassen. Als Priesterin sollte ich<br />

würdevoller Auftreten.“<br />

„Ja das solltest Du. Die Reise nach <strong>Maraskan</strong> und die ganzen Gefahren, die Du und Deine Gefährten überstanden<br />

haben, sprechen für sich. Ihr alle habt vielleicht unschätzbare Dienste geleistet. Es ist jetzt noch gar nicht absehbar,<br />

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auf welche Weise das wieder gefundene Endurium der Schönheit der Welt dient. <strong>Das</strong> darf nicht vergessen werden.<br />

Aber dennoch habt Ihr alle, Du wie Deine Gefährten, auch gegen maraskanisches Recht verstoßen.“<br />

Alvan war erst verwirrt. Aber dann wurde ihr klar, worauf Milhibethjida hinaus wollte.<br />

„Vor einigen Wochen schon habe ich einen Brief <strong>von</strong> einem Kapitän Meldorjin erhalten. Er hat mich über den<br />

Tempel in Khunchom erreicht, es hat also etwas länger gedauert. Aber schließlich können wir es nicht riskieren,<br />

jedem Schmuggler, der uns verbunden ist, <strong>von</strong> Asboran zu erzählen. Meldorjin sah sich in der Pflicht, uns <strong>von</strong><br />

einem Urteil wegen Unbewusster Mordung und weiterer Delikte gegen Dich zu berichten. Kielholen, das war die<br />

durch das zuständige Gericht festgelegte Strafe.“<br />

„Ja, das ist richtig.“<br />

„Es ist unverzeihlich, dass eine Priesterin der Zwillinge so eklatant gegen das Recht verstößt. Scheyhathjida, du<br />

sollst dem Volk ein Halt sein. <strong>Das</strong> kannst Du nur, wenn Du Dich selbst immer vorbildlich verhältst. Ich wiederhole<br />

mich. Priesterin zu sein ist kein Ehrenamt sondern eine tagtägliche Herausforderung!“<br />

„Ja, Milhibethjida. Du hast Recht. Aber was hätte ich tun sollen? Weißt Du, was genau geschehen ist?“<br />

„Ich habe das Gerichtsprotokoll gelesen. Meldorjin hat mir außerdem einen langen Brief geschrieben und das<br />

Vorgefallene berichtet. Er hat mich gebeten, über die Vollziehung des Urteils zu befinden. Scheyhathjida, Du<br />

weißt, dass nur in den allerseltensten Fällen die Priesterschaft sich schützend vor einen der Ihren stellt, der das<br />

Gesetz bricht. Ich kann also das Urteil nicht mildern, Scheyhathjida.“<br />

Alvan wusste nicht, was das heißen sollte. Kielholen war das Urteil. Dazu müsste man sie ja erst wieder zur<br />

Nachtwind bringen.<br />

„<strong>Das</strong> einzigste, was ich kann, ohne dass es der Überzeugung der Priesterschaft widerspricht, ist das Urteil zu<br />

verschärfen.“<br />

Jetzt war Alvan noch mehr als zuvor verwirrt.<br />

„Außerdem kann ich es nicht zulassen, dass man Dich kielholt, solange Du ein zu stillendes Kind hast. Die<br />

maraskanische Rechtssprechung sieht es vor, dass ein gegen eine stillende Mutter verhängtes Urteil, dass den Tod<br />

der Verurteilten mit sich bringen kann, aufgeschoben wird bis das Kind der Mutterbrust entwöhnt ist und vom<br />

Vater allein versorgt werden kann. Erschwerend aber kommt in diesem Fall hinzu, dass der Vater des Kindes tot<br />

ist. Sag, Scheyhathjida, was würdest Du in meiner Situation als gerechtes Urteil sprechen?“<br />

„Ich weiß es nicht. Ich hatte schon gar nicht mehr daran gedacht.“<br />

„Ich habe lange darüber nachgedacht. Gestern im Rat der Priester haben wir einen Entschluss gefasst. Übrigens<br />

haben wir aufgenommen, was Kapitän Meldorjin vorgeschlagen hat. Der Mann ist wirklich bewandert in der<br />

Juristerei, das möchte man bei einem Seefahrer gar nicht vermuten. Die Vollziehung des Urteils wird aufgrund<br />

Deiner Mutterschaft auf Drei Jahre verschoben. In drei Jahren wirst Du Dich wieder hier in Asboran einfinden.<br />

Dann wirst Du erfahren, wann und wo das Urteil vollstreckt wird.“<br />

Alvan war geschockt. Gewiss, nicht jeder, den man kielholte, starb dabei. Aber doch immerhin die meisten. Und<br />

sie würde man ja zweimal kielholen, wie Kapitän Vegsziber es festgelegt hatte. Dennoch, sie konnte sich nicht<br />

vorstellen, dass das Meldorjins Vorschlag gewesen war. Wie sollte sie den drei Jahre in der Gewissheit des<br />

wahrscheinlichen Todes leben?<br />

„Ich bin noch nicht fertig, Scheyhathjida. Die Rechtssprechung sieht vor, dass eine angezeigte Tat wider das Recht<br />

ungesühnt bleiben kann, wenn das Opfer jener Tat selbst darum bittet, Milde walten zu lassen. Offenbar scheint der<br />

Schmugglerkapitän Dich zu mögen, Scheyhathjida. Er hat in seiner Eigenschaft als Kapitän, der als solcher die<br />

Interessen seiner Mannschaft vertritt, um Milde gebeten. Die Priesterschaft ist geneigt, dem Antrag Meldorjins zu<br />

entsprechen. Aber sie wollen erst in drei Jahren darüber befinden.“<br />

Milhibethjida lächelte. „Nun ja, etwas Strafe muss schon sein, da waren wir uns einig. Schließlich hat eine<br />

Priesterin sich an härteren Maßstäben messen zu lassen als ein Bauer oder Fischer. Es liegt also an Dir, Dich zu<br />

bewähren in den nächsten drei Jahren.“<br />

„Jetzt bin ich ehrlich gesagt völlig verwirrt. Mit dem ganzen hatte ich nicht gerechnet. Aber Du hast Recht. Es ist<br />

ein Urteil gesprochen worden und das kann nicht einfach übergangen werden.“<br />

„<strong>Das</strong> Urteil hätte Meldorjin selbst aussetzen können. Schließlich ist dazu das Gericht zuständig, das es verhängt<br />

hat, also der Kapitän der Nachtwind. Aber nachdem Du Dich auf Priesterrecht berufen hast wird das ganze<br />

kompliziert. Nun muss nunmehr nicht nur das Urteil, sondern auch die Aussetzung desselben, durch die<br />

Priesterschaft bestätigt werden. So hat es jedenfalls Meldorjin in seinem Brief dargelegt, und die Argumentation ist<br />

schlüssig.“<br />

Alvan seufzte. „Meldorjin wird das schon richtig geschrieben haben. Der Mann ist ein wandelndes Gesetzbuch.“<br />

„Also wirst Du Gelegenheit bekommen, Dich in den nächsten drei Jahren zu bewähren. Es wird Zeit, dass Du<br />

Deine Aufgaben als Priesterin gewissenhafter als bislang wahrnimmst. Aber eine unstete Seele wie Du wird sich<br />

mit den Aufgaben, die bei der Betreuung eines Tempels tagtäglich stellen, wohl nicht anfreunden können. <strong>Das</strong> wäre<br />

nicht das Rechte für Dich. Aber Rur wird sich etwas dabei gedacht haben, als er Dich nach <strong>Maraskan</strong> schickte. Du<br />

bist zur See gefahren, bevor Du nach <strong>Maraskan</strong> kamst. Unter den Piraten des Südmeers bist Du bis zur<br />

Richtschützen geworden. Zuvor warst Du Söldnerin. <strong>Das</strong> ist also die Welt, in der Du Dich auskennst. Fürwahr eine<br />

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mehr als nur ungewöhnliche Lebensgeschichte für eine Priesterin der Zwillinge. Aber es war zweifellos Rurs Wille,<br />

Dich nach <strong>Maraskan</strong> zu führen. Du wirst Wanderpredigerin sein, wie bisher. Allerdings werde ich Dir eine feste<br />

Aufgabe übertragen.“<br />

Alvan schwieg. Sie stellte keine Frage. Milhibethjida würde ihr bestimmt gleich verkünden, was man <strong>von</strong> ihr<br />

erwarten würde.<br />

„Wie Du weißt gibt es zahlreiche Schmuggler auf <strong>Maraskan</strong>. Ebenso natürlich auch Piraten. Meldorjins Nachtwind<br />

ist nur ein Schiff <strong>von</strong> vielen. Es sind wilde Gesellen, die meisten vermutlich mehr auf ihren eigenen Verdienst<br />

bedacht als auf alles andere. Aber sie alle sind <strong>Maraskan</strong>er, und sie sind auf ihre Weise die Flotte des Freien<br />

<strong>Maraskan</strong>. Diesen sollst Du die Schriftrollen auslegen und ihnen seelischer Beistand sein. Da wird eine Frau<br />

gebraucht, die sich auskennt zur See und keiner der gelehrten Prediger, wie es hier die meisten sind. Eine<br />

Priesterin, die raubeinig und grob genug ist, um unter den wilden Gesellen nicht unterzugehen, aber auch eine<br />

Priesterin, die fest im Glauben ist und die über einen wachen Verstand verfügt. Du wirst also zu den Schmugglern<br />

gehen und dort Deine Aufgaben als Wanderpredigerin wahrnehmen. Zugleich bist Du ein Bindeglied der<br />

Priesterschaft der Zwillinge zu den Rebellen. Wenn die Schmuggler jeweils auf <strong>Maraskan</strong> anlanden und mit den<br />

Rebellen Handel treiben hast Du Gelegenheit, Kontakte zu den Rebellen zu knüpfen. Du wirst die verschiedenen<br />

Schiffe der Schmuggler und Piraten, die sich <strong>Maraskan</strong> verbunden fühlen, besuchen. Und Du wirst dort Deine<br />

Aufgaben als Priesterin wahrnehmen und dazu beitragen, die Schönheit der Welt zu mehren.“<br />

„<strong>Das</strong> ist keine leichte Aufgabe, Schwester Milhibethjida.“<br />

„Ich weiß, Schwester Scheyhathjida. Aber es ist Dein Platz auf diesem Weltendiskus. Ich werde Dir später mehr<br />

erzählen, was alles auf Dich zukommt. Schlaf jetzt. Es ist noch genug Zeit.“<br />

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Anhang: Die Personen<br />

Alvana Scheyhathjida <strong>von</strong> Baernfarn-Nordenheim: Tochter des früheren Gallyser Barons Odilon Wildgrimm <strong>von</strong><br />

Baernfarn und der Elfe Jirka Birk Athrawaneja, mit dem Edlengut Nordenheim belehnt. Sich selbst nennt sie lieber<br />

Alvan als Alvana, da ihr die männliche Form ihres Namens mehr behagt.<br />

Gunelde <strong>von</strong> Friedwang: Enterbte Tochter der einstigen Friedwanger Baronin Tsalinde Kalmanderia, Angehörige<br />

des Therbunitenordens der Peraine.<br />

Sigismund <strong>von</strong> Baernfarn-Helligfarn: Sproß einer mit dem Edlengut Helligfarn auf Efferdträne belehnten<br />

Seitenlinie derer <strong>von</strong> Baernfarn und damit ein entfernter Verwandter (nicht wirklich der Vetter) Alvanas.<br />

Alrik Tsalind <strong>von</strong> Friedwang: Zurückgekehrter, einst verschollener Sohn der Tsalinde Kalmanderia und damit<br />

Baron <strong>von</strong> Friedwang. Böse Zungen behaupten, er wäre in Wahrheit ein Hochstapler, der sich nur für Alrik ausgibt.<br />

Insgeheim dient Alrik Phex und hat die Priesterweihe erlangt.<br />

Serwa Philibine <strong>von</strong> Friedwang-Baernfarn. Dem Gallyser Adelsgeschlecht entstammende Frau, die auf den<br />

Friedwanger Baronenthron eingeheiratet hat. Alvans Base zweiten Grades.<br />

Odilon Wildgrimm <strong>von</strong> Baernfarn: Alvans Vater, ehemaliger Baron zu Gallys, der zugunsten der Liebe seiner<br />

Gefährtin, der Elfe Jirka, einem Leben als Waldläufer den Vorzug gab.<br />

Hesindian Silpho ya Phaitos: Der Trunksucht verfallener Magier, dessen Verstand bei seinen Erlebnissen im<br />

Bethanischen Krieg gelitten hat. Hesindian ist mit dem Gallyser Edlengut Orweiler belehnt.<br />

Jirka Athrawaneja Oladin: Gefährtin Odilons, eine Waldelfe.<br />

Veneficus <strong>von</strong> Baernfarn: Serwas Bruder, zugleich Hofmagus und Statthalter der Baronin <strong>von</strong> Gallys<br />

Raul Anders Volkmar <strong>von</strong> Baernfarn: Baron <strong>von</strong> Gallys, Stiefenkel Odilons.<br />

Valyria <strong>von</strong> Baernfarn-Binsböckel: Gemahlin Baron Rauls, Baronin <strong>von</strong> Gallys<br />

Deggen <strong>von</strong> Baernfarn: Stiefsohn Odilons <strong>von</strong> Baernfarn, Baron <strong>von</strong> Gallys 22-29 Hal. Da Deggen während des<br />

Answinputsches zum Haus Gareth gehalten hat ist er beim Fürstenhaus Rabenmund in Ungnade gefallen und<br />

wurde 29 Hal nach einer Intrige aus <strong>Darpatien</strong> verbannt. Nach seiner Amtsenthebung widmete er sein Leben der<br />

Rondrakirche und wurde zum Priester geweiht.<br />

Weldorn <strong>von</strong> Baernfarn: früherer Baron <strong>von</strong> Gallys, verstorben 10 Hal.<br />

Wibhard Artema <strong>von</strong> Baernfarn: vorzeitlicher Baron <strong>von</strong> Gallys, zur Zeit der Priesterkaiser hingerichtet (656 v.H.).<br />

Alboran <strong>von</strong> Friedwang: auf dem <strong>Maraskan</strong>feldzug Kaiser Retos gefallener Großvater Guneldes und Alriks.<br />

Tsalinde Kalmanderia <strong>von</strong> Friedwang: Verstorbene Mutter Alriks und Guneldes, Tochter Alborans <strong>von</strong> Friedwang.<br />

Gernot <strong>von</strong> Friedwang-Glimmerdieck: als Borbaradianer entlarvter einstiger Baron Friedwangs<br />

Der Oppsteiner: gemeint ist der intrigante Baron Redenhardt <strong>von</strong> Oppstein, ein Erzrivale des Hauses derer <strong>von</strong><br />

Baernfarn.<br />

Meister Selbfried Rabensang, Ordentlicher Inquisitionsrat der Heiligen Kirche des Praios: Geweihter und Inquisitor<br />

des Praios aus dem Reichsforst, Garetien.<br />

Helme: Hausdiener Alvans auf Gut Belenburg<br />

Xavert: Stallbursche Alvans<br />

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Thalbert: Knecht Alvans<br />

Erttelgrimm: Firunpriester zu Nordenheim<br />

Damian Firunsdank: Barönlicher Forstwart zu Nordenheim<br />

Krusa Missila: Novizin des Nordenheimer Firuntempels<br />

Randolf Hirsbach: Bauernbursch aus Nordenheim<br />

Alwin Hirsbach: Bauernbursch aus Nordenheim<br />

Amanda: Bäuerin aus Nordenheim<br />

Firnjan: Bauer aus Heidengrund, Verstorbener Gatte Guneldes<br />

Dankwart Heimstein: Veteran der Friedwanger Landwehr aus dem <strong>Maraskan</strong>krieg<br />

Bruder Anselm: Ordensbruder des Bannstrahl Praios<br />

Bruder Friedhelm: Ordensbruder des Bannstrahl Praios<br />

Bruder Corbenian: Ordensbruder des Bannstrahl Praios<br />

Helme Haffax: Einstiger erfolgreicher General des Kaiserreiches, nach seinem Verrat Vasall Borbarads und<br />

derzeitiger Fürstkomtur und Herrscher der Insel <strong>Maraskan</strong><br />

Answin <strong>von</strong> Rabenmund: früherer Graf <strong>von</strong> Wehrheim, der sich nach dem Verschwinden Kaiser Hals auf den<br />

Kaiserthron geputscht hatte.<br />

Xeraan: finsterer Magier, einer der Heptarchen.<br />

Andromejia: Einstige Tuzaker Diebin, jetzt in den Diensten Helme Haffax stehend.<br />

Andorkan: Einstige Größe der Tuzaker Unterwelt, jetzt Führer einer Art Geheimpolizei <strong>von</strong> Helme Haffax<br />

Rayo Brabaker: Komtur zu Tuzak, <strong>von</strong> Haffax Gnaden Befehlshaber Tuzaks.<br />

Cjuk Stiij: Sekretär im Dienst des Rayo Brabaker<br />

Nedimajida <strong>von</strong> Boran: Komturin <strong>von</strong> Boran, Vasallin <strong>von</strong> Helme Haffax<br />

Alrech: Priester der Zwillingsgötter in Tuzak, der wegen seiner Kontakte zu Rebellen auffiel und schließlich auf<br />

Geheiß Rayos <strong>von</strong> Tuzak gefangen und verhört wird.<br />

Asmodena Horas: vorzeitige Kaiserin des alten Bosparanischen Reiches, nach der die „Fran-Horas“ ursprünglich<br />

benannt war.<br />

Fran-Horas: vorzeitiger Kaiser des alten Bosparanischen Reiches, der Legenden zufolge mit Dämonen paktiert<br />

haben soll.<br />

Mercurio Mirhamdez der Schwarze Mendener: Piratenkapitän der Fran-Horas mit Kaperbrief des Pontifex<br />

Maximus.<br />

Emporio Lamenduza: Pirat auf der Fran-Horas.<br />

Tjeika Tetjen: genannt Tika. Seefahrerin aus dem Bornland, die zum Piratendienst auf der Fran-Horas gezwungen<br />

wurde.<br />

290


Fisch: Schiffsjunge an Bord der Fran-Horas.<br />

Dusan: Pirat an Bord der Fran-Horas, ein Feigling, der dem jeweils Mächtigen gegenüber buckelt.<br />

Sauerbrot: Pirat der Fran-Horas, ein einfältiger Geselle.<br />

Oske: Pirat der Fran-Horas, ursprünglich ein tobrischer Fischer.<br />

Xenia: Bösartige und sadistische Bootsfrau der Fran-Horas<br />

Kobad: Geldgieriger und hinterhältiger Pirat der Fran-Horas<br />

Svanja Hranngarsdottir: angebliche Thorwalerin, Piratin der Fran-Horas<br />

Zoltan Schönauge: Pirat aus Mendena an Bord der Fran-Horas<br />

Fedor Frettchen: Pirat aus Mendena an Bord der Fran-Horas<br />

Linne Einbein: Piratin der Fran-Horas<br />

Gerrik: Pirat der Fran-Horas, der <strong>von</strong> Odilon an Bord der Greif in der Kapitänskajüte zur Strecke gebracht wird<br />

Undinai Darpfanger: Kapitänin der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Hortensen: Matrose der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Maldor: Matrose der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Eckbert: Matrose der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Fredo: Matrose der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Alrike: Matrosin der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Arto: Matrose der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Hildegunde: Matrosin der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Harduk: Bootsmann der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Eigor: Matrose der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Berta: Matrosin der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Herta: Matrosin der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Maline: Matrosin der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Volkmar: Steuermann der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Sarben: Matrose der Greif <strong>von</strong> Beilunk<br />

Moghuli Dimiona: Herrscherin Orons, Belkelel-Paktiererin und eine der sieben Heptarchen (Erben Borbarads)<br />

Farviriol Krähenschwinge: Leiter der Oronischen Geheimpolizei.<br />

Raidri Conchobair: Früherer Graf <strong>von</strong> Winhall, vermutlich größter Schwertkämpfer dieser Zeit. Raidri starb in der<br />

Dämonenschlacht.<br />

291


Umradjida: frühere Königin <strong>Maraskan</strong>s<br />

Milhibethjida: eine der Hochgeschwister des Tempels <strong>von</strong> Rur und Gror in Tuzak<br />

Fürstin Sybia: Frühere Regentin Araniens.<br />

Ruramid: Freibeuterin der maraskanischen Rebellen,<br />

Vegsziber Sturmfeschijn <strong>von</strong> Gipflak: Schmuggler, Verbündeter der maraskaner Freischärler<br />

Meldorjin: <strong>Maraskan</strong>ischer Rebell, ehemals Justitiar zu Tuzak.<br />

Estibora: <strong>Maraskan</strong>ische Rebellin, ehemals Krämerin in Boraan<br />

Khurkaschim Pascha: Häuptling eines Ferkinastammes in Oron.<br />

Alrech: Matrose des maraskanischen Schmugglerschiffes Nachtwind<br />

<strong>Gold</strong>ajin: Matrose des maraskanischen Schmugglerschiffes Nachtwind<br />

Marusa: Matrosin des maraskanischen Schmugglerschiffes Nachtwind<br />

Gilborjian: Steuermann der Nachtwind<br />

Grojiana: Matrosin der Nachtwind<br />

Mirajida die Jüngere: Priesterin der Zwillingsgötter, die einen Krug Talued-Wasser im Dschungel versteckte und<br />

auf dieser Mission starb.<br />

Mirajida die Ältere: Kriegerin im Dienst König Frumolds <strong>von</strong> <strong>Maraskan</strong> zur Zeit der Schlacht <strong>von</strong> Jergan, Mutter<br />

<strong>von</strong> Mirajida der Jüngeren<br />

Marajin <strong>von</strong> Tujiak: <strong>Maraskan</strong>ischer Mönch des Eukolizana-Ordens, Gefährte Mirajidas der Älteren, Vater <strong>von</strong><br />

Rurmanjinn, Schwiegervater <strong>von</strong> Mirajida der Jüngeren.<br />

Rurmanjinn: Sohn <strong>von</strong> Marajin und Mirajida der Älteren, Rebell der maraskanischen Dschungelkämpfer, Anführer<br />

der Sira Jerganak<br />

Mylendijian: Priester der Zwillinge, der Alvan auf den Weg des Glaubens an Rur und Gror führte und der auch ihre<br />

Aufnahme als Novizin für das Priesteramt förderte. Er wurde <strong>von</strong> Tempelrittern aus Jergan erschlagen<br />

Xenjida: Schwägerin <strong>von</strong> Mirajida der Jüngeren<br />

Sadidja: Tante zweiten Grades <strong>von</strong> Meldorjin, Freundin Xenjidas.<br />

Marakeijian: Matrose der Nachtwind, beheimatet in Hemandu<br />

Algorjin: Kampfstarker Matrose der Nachtwind<br />

Grojian: Kartenzeichner in Jergan<br />

Honjin: alter maraskanischer Fischer<br />

Efferjina: Honjins Tochter<br />

Adelgunde: Hauptfrau der Garnison <strong>von</strong> Gipflak<br />

Sturdan: Söldner aus Gipflak<br />

292


Gurban: Söldner aus Gipflak<br />

Ortwin Natter: gebürtiger Tobrier, Spitzel der Haffaxijas<br />

Jobst Brackenburger: Kommandant der Garnison Nuran<br />

Pomodera: Leutnant der Garnison Nuran<br />

Pervaljin Dracostis: Magier im Dienst der Jerganer Geheimpolizei<br />

Farjion: Rebell der Sira Jerganak<br />

Sturmfejian: Rebell der Sira Jerganak<br />

Alrijiana: Rebellin der Sira Jerganak<br />

Haldorban: Rebell der Sira Jerganak<br />

Eiger: Soldat der Garnison Nuran<br />

Fred: Soldat der Garnison Nuran<br />

Algor: Soldat der Garnison Nuran<br />

Hertha: Soldatin der Garnison Nuran<br />

Berthel : Soldat der Garnison Nuran<br />

Sighold: Soldat der Garnison Nuran<br />

Fredegard: Soldatin der Garnison Nuran<br />

Alemanjinor: Heilkundiger Rebell der Sira Jerganak<br />

Diborjin: Heilkundiger Rebell der Sira Jerganak<br />

Ramajida: Rebellin der Sira Jerganak<br />

Groajin: Rebell der Sira Jerganak<br />

Adubred: Matrose der Nachtwind<br />

Aventurische Ortschaften und Begriffe:<br />

Al´Anfa: Auch Schwarze Perle des Südens genannt, größte Stadt Südaventuriens, die ihren Reichtum auf<br />

Sklavenhandel gründet.<br />

Albernia: westlichste Provinz des Kaiserreiches, Hauptstadt Havena<br />

Alrurdan: Dorf an der maraskanischen Westküste<br />

Akademie der vier Türme zu Mirham: Magierakademie der Stadt Mirham, einem Teil des Al´Anfanischen<br />

Imperiums.<br />

293


Äthrajin: maraskanisches Wort für den Limbus<br />

Asboran: Geheime Stadt der <strong>Maraskan</strong>er im Raschtulswall<br />

Baburin: Stadt in Aranien<br />

Badoc: Ausdruck der elfischen Sprache für alles <strong>von</strong> seiner wahren Natur oder seinem natürlichen Verhalten oder<br />

Wesen Entfernte oder Abgeänderte. Für Elfen ist die gesamte menschliche Zivilisation badoc.<br />

Barun-Ulah: Fluss in Aranien<br />

Bannstrahler: Orden der Praioskirche. Deren Mitglieder verfolgen Götterlästerliche Umtriebe, wozu sie auch Magie<br />

zählen, mit unnachgiebiger Härte.<br />

Baernfarn: Die Baernfarner Heide ist eine Karsthaltige Heidelandschaft zwischen der Schwarzen Sichel und dem<br />

Ochsenwasser. Zugleich ist Baernfarn der Name des Adelsgeschlechtes, das seit 1246 v.H. in Gallys residiert.<br />

Bavhano Bvaith: Langbogen des Odilon Wildgrimm <strong>von</strong> Baernfarn<br />

Beilunk: Stadt am Golf <strong>von</strong> Perricum, unbesetzte Enklave des Kaiserreiches in den Schwarzen Landen<br />

Belenburg: Gutshof der Edlen Alvan <strong>von</strong> Nordenheim<br />

Bireme: Galeere mit jeweils zwei Ruderreihen pro Seite<br />

Bohlenburg: Baronie in <strong>Darpatien</strong>, am Nordufer des Ochsenwasser gelegen.<br />

Boltan: Dem Poker ähnliches aventurisches Glücksspiel<br />

Bornland: Aristokratischer Staat Nordaventuriens<br />

Brabak: Stadt am Südkap des aventurischen Kontinentes<br />

Daffel: Dorf in der Baernfarner Heide, der Baronie Gallys zugehörig<br />

Dajinim: <strong>Maraskan</strong>ische Rebellengruppe aus der Gegend um Jergan<br />

Elburial: Der Stadt Elburum vorgelagerte Insel<br />

Elburum: Stadt in Schwarzaranien, Zentrum des Belkelel-Glaubens<br />

Fellakhand: Stadtteil <strong>von</strong> Elburum<br />

Festum: Hauptstadt des Bornlandes<br />

Friedwang: Baronie in <strong>Darpatien</strong>, am Südrand der Schwarzen Sichel gelegen.<br />

Gallys: Drittgrößte Stadt <strong>Darpatien</strong>s, gelegen zwischen der Schwarzen Sichel und dem Ochsenwasser. Die Stadt ist<br />

seit Jahrhunderten Stammsitz des Adelsgeschlechtes derer <strong>von</strong> Baernfarn.<br />

Gareth: größte Stadt Aventuriens, Kaiserstadt und Hauptstadt des Mittelreiches bzw. Garether Reiches oder Reich<br />

Rauls.<br />

Gipflak: Dorf an der maraskanischen Nordspitze<br />

Gonede: ein aventurisches Gift<br />

Helligfarn: Edlengut der Familie Baernfarn auf der darpatischen Insel Efferdträne.<br />

294


Hemandu: Dorf auf <strong>Maraskan</strong>, nähe Jergan. In der Umgebung des Dorfes Schlug Kaiser Reto eine siegreiche<br />

Schlacht gegen die <strong>Maraskan</strong>er.<br />

Honingen: Stadt in Albernia<br />

Hylailos: eine der Zyklopeninseln<br />

Hylailer Feuer: Eine Tonkugel, die explosives Brandöl beinhaltet und mittels Lunte gezündet wird. Wird bei<br />

Schiffsgeschützen verwendet.<br />

Inrahkarten: Kartenspiel, das für das Boltanspiel verwendet wird<br />

Isdira: Die Sprache der Elfen<br />

Jergan: Stadt im Nordwesten der Insel <strong>Maraskan</strong>.<br />

Keshal Tarek: Regierungssitz der Moghuli Dimiona<br />

Khom: südaventurisches Wüstengebiet<br />

Levthan: Halbgott in Gestalt eines brünstigen Widders, ein Sohn der Rahja<br />

Llanka: Hauptstadt des Oronischen Reiches<br />

Loskarnossa: Verfallene Burg in der Baronie Friedwang<br />

Madamal: Der Aventurische Mond<br />

<strong>Maraskan</strong>sund: Meerenge zwischen <strong>Maraskan</strong> und Aranien.<br />

Mendena: Stadt in Schwarztobrien<br />

Mirham: Stadt im Einflussbereich <strong>von</strong> Al´Anfa<br />

Moha: dunkelhäutiges Volk aus dem südaventurischen Dschungel<br />

Nivesen: Rentierhütendes Nomadenvolk Nordaventuriens<br />

Nordenheim: kleines Dorf am Südrand des Sichelgebirges, Edlengut der Alvana <strong>von</strong> Baernfarn.<br />

Nuran: Dorf auf <strong>Maraskan</strong> unweit des Tals der Glühwürmchen<br />

Oron: der <strong>von</strong> Moghuli Dimiona beherrschte Osten Araniens<br />

Orweiler: Dorf im Süden <strong>von</strong> Gallys, Lehen des Magisters Hesindian.<br />

Rommilys: Hauptstadt der Provinz <strong>Darpatien</strong><br />

Roab: Fluss in <strong>Maraskan</strong><br />

Rulat: zu Tobrien gehörende Insel an der Ostküste Aventuriens, einstige Sträflingsinsel<br />

Selem: südaventurische Stadt, Inbegriff für Armut<br />

Sinoda: Stadt in Südmaraskan<br />

Sindibab: Dorf an der maraskanischen Westküste.<br />

Sira Jerganak: Rebellengruppe aus der Gegend um Jergan<br />

295


Sklaventod: schwertartige Klingenwaffe<br />

Sumu: Erdgöttin, die in der Schwarzen Sichel stark verehrt wird. Sumus Leib = die Welt Dere<br />

Tuzak (maraskanisch Tujiak): größte Stadt <strong>Maraskan</strong>s an der Ostküste der Insel<br />

Vinsalt: Hauptstadt des Horasreiches an der Aventurischen Westküste, auch Altes Reich, Bosparanisches Reich,<br />

Vinsalter Reich oder Liebliches Feld genannt.<br />

Wandelur: Schwert des Odilon Wildgrimm <strong>von</strong> Baernfarn<br />

Waqqif: ein in Südaventurien verwendeter Dolch<br />

Zorgan: Hauptstadt des Fürstentums Aranien an der Aventurischen Ostküste<br />

Zhinbabil: Stadtteil Elburums<br />

296

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