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Sozialreformen sollen wirken und gerecht sein - Flegel-G.de

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<strong>Sozialreformen</strong> sollten <strong>wirken</strong> <strong>und</strong> <strong>gerecht</strong> <strong>sein</strong><br />

Friedhelm Hengsbach SJ., Frankfurt am Main<br />

"Die Gerechtigkeitsfrage ist in die Gesellschaft zurückgekehrt", hat Wolfgang Thierse<br />

vor drei Jahren erklärt. Die bei<strong>de</strong>n Kirchen in Deutschland haben vor sechs Jahren ein<br />

gemeinsames Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialwort veröffentlicht, in <strong>de</strong>m sie für eine "Zukunft<br />

in Solidarität <strong>und</strong> Gerechtigkeit" warben. Sind die Leitbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Sozialgeschichte <strong>und</strong> <strong>de</strong>r christlichen Tradition in <strong>de</strong>r aktuellen sozialpolitischen<br />

Debatte verdampft? Lassen sich aus einer christlichen Perspektive überzeugen<strong>de</strong><br />

Beiträge zu einer wirksamen <strong>und</strong> <strong>gerecht</strong>en Sozialreform formulieren?<br />

Was schief gelaufen ist<br />

Die politische Klasse überschlägt sich <strong>de</strong>rzeit mit Entwürfen, wie <strong>de</strong>r Sozialstaat<br />

umzubauen sei, seit<strong>de</strong>m sie das Zauberwort: "Reformen" ent<strong>de</strong>ckt hat. Die Parteien<br />

überbieten sich in <strong>de</strong>r Radikalität ihrer Än<strong>de</strong>rungsschnitte. Aber die Parteimitglie<strong>de</strong>r<br />

<strong>und</strong> die Bevölkerung folgt ihnen nicht. Der Streit in <strong>de</strong>n Parteien eskaliert,<br />

Wählerinnen <strong>und</strong> Wähler verweigern ihr Votum.<br />

Die Defizite <strong>de</strong>r öffentlichen Debatte sind leicht erkennbar. Die Politiker kündigen<br />

Jahrh<strong>und</strong>ertwerke, größte Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Sozialgeschichte an, la<strong>de</strong>n sie jedoch<br />

nach kurzer Zeit, sobald die gröbsten Wi<strong>de</strong>rsprüche ent<strong>de</strong>ckt sind, auf <strong>de</strong>m Hinterhof<br />

winziger Reparaturwerkstätten ab. Dort geht es nur noch ums Sparen, Streichen,<br />

Kürzen. Die propagierte Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Rasenmähers täuscht darüber hinweg, dass die<br />

Lenker <strong>de</strong>r Rasenmäher vorweg die Stellen abgegrenzt haben, die geschont o<strong>de</strong>r<br />

beson<strong>de</strong>rs behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Mitglie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r ohne Beteiligung <strong>de</strong>s Parlaments berufenen Kommissionen <strong>und</strong> die<br />

politischen Entscheidungsträger selbst sind nicht direkt mit Arbeitslosigkeit o<strong>de</strong>r<br />

sozialer Ausgrenzung konfrontiert <strong>und</strong> wissen kaum aus unmittelbarer Erfahrung, wie<br />

es Arbeitslosen <strong>und</strong> Armen zumute ist. Folglich stehen sie unter <strong>de</strong>m Verdacht, falsch,<br />

nämlich vom Standpunkt abgesicherter Beamten o<strong>de</strong>r Unternehmensmanager her zu<br />

<strong>de</strong>nken.<br />

Rein instrumentelle Verän<strong>de</strong>rungen wer<strong>de</strong>n als "Reformen" <strong>de</strong>klariert. Man verlangt,<br />

dass persönliches Han<strong>de</strong>ln <strong>und</strong> politische Entscheidungen sich an globale o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>mografische Bedingungen anpassen, die jedoch keine Naturereignisse son<strong>de</strong>rn aus<br />

früheren politischen Entscheidungen hervorgegangen sind. Die Anpassung an<br />

Angepasstes wird dann zu einem Teufelskreis, zu einer irrsinnigen Abwärtsspirale.<br />

Der gemeinsame Nenner <strong>de</strong>r "Reformen" lautet: Deformation <strong>de</strong>r solidarischen<br />

Sicherung. Gesellschaftliche Risiken wer<strong>de</strong>n als persönliches Versagen ge<strong>de</strong>utet, ihre<br />

Absicherung könne <strong>de</strong>r privaten Vorsorge zugemutet wer<strong>de</strong>n. Die Steuerungsform <strong>de</strong>r<br />

Solidarität, da die Beiträge gemäß <strong>de</strong>r Leistungsfähigkeit entrichtet wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r<br />

Hilfeanspruch jedoch gemäß <strong>de</strong>r Notlage bestimmt ist, wird durch die Marktsteuerung<br />

gemäß <strong>de</strong>r Kaufkraft verdrängt, Gr<strong>und</strong>rechtsansprüche wer<strong>de</strong>n in private Tauschverhältnisse<br />

umformuliert.<br />

1


Die gröbste Fehldiagnose besteht darin, dass die Opfer <strong>de</strong>r Krise zu Tätern<br />

abgestempelt wer<strong>de</strong>n. Höherverdienen<strong>de</strong> <strong>und</strong> wirtschaftlich Abgesicherte verfolgen die<br />

Arbeitslosen <strong>und</strong> Empfänger von Sozialhilfe, Gewerkschaften <strong>und</strong> Kommunen, die<br />

Arbeitsverwaltung <strong>und</strong> schließlich kritische Abgeordnete mit einer ausgesprochenen<br />

Aggressivität. Sie seien Trittbrettfahrer, Verweigerer <strong>und</strong> Schmarotzer. Alternativen zur<br />

eigenen Meinung wer<strong>de</strong>n nicht zugelassen, ein apokalyptisches Szenario <strong>de</strong>s<br />

Entwe<strong>de</strong>r/O<strong>de</strong>r soll Skeptiker <strong>und</strong> Zweifler zum Einlenken nötigen.<br />

Aus Fehldiagnosen folgen riskante Therapien: Wer <strong>de</strong>n Sozialstaat als<br />

Wachstumsbremse verdächtigt, neigt dazu, Sozialleistungen an gesellschaftlich<br />

Benachteiligte zu kürzen. Wer kapitalistische Marktwirtschaften für in sich stabil hält,<br />

bestreitet, dass <strong>de</strong>r Staat die Lücken <strong>de</strong>r privaten Nachfrage schließen müsse,<br />

vereinfacht das Steuersystem auf die Bedürfnisse eines schlanken Staats. Der blin<strong>de</strong><br />

Fleck <strong>de</strong>r Mikroanalyse <strong>und</strong> das Ausblen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s welt- <strong>und</strong> finanzwirtschaftlichen<br />

Kontextes verleiten dazu, öffentliches Sparen nach Art eines fürsorglichen Hausvaters<br />

positiv einzustufen <strong>und</strong> die verheeren<strong>de</strong>n Wirkungen einer Haushaltskonsolidierung zu<br />

übersehen, sobald Konjunkturflaute <strong>und</strong> Wachstumsschwäche zusammentreffen,<br />

während Unternehmen <strong>und</strong> private Haushalte nicht bereit sind, sich zusätzlich zu<br />

verschul<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>nfalls ist we<strong>de</strong>r theoretisch noch empirisch einsichtig, wie sich etwa<br />

die Kürzung <strong>de</strong>r Sozialleistungen, die Lockerung <strong>de</strong>s Kündigungsschutzes o<strong>de</strong>r die<br />

rigorosen Spardiktate mit <strong>de</strong>r Verheißung von mehr Wachstum <strong>und</strong> Beschäftigung verknüpfen<br />

lassen.<br />

Reformperspektiven<br />

Wirksame <strong>und</strong> <strong>gerecht</strong>e Reformperspektiven müssen zuerst Alternativen zu <strong>de</strong>n<br />

brüchig gewor<strong>de</strong>nen Gr<strong>und</strong>lagen bestehen<strong>de</strong>r Sicherungssysteme erk<strong>und</strong>en. Brüchig<br />

gewor<strong>de</strong>n ist die während <strong>de</strong>r unmittelbaren Nachkriegszeit selbstverständliche<br />

Annahme einer ununterbrochenen Erwerbsbiographie <strong>de</strong>s männlichen arbeitsfähigen<br />

<strong>und</strong> arbeitswilligen Teils <strong>de</strong>r Bevölkerung. Ebenso brüchig ist die Unterstellung, dass<br />

<strong>de</strong>r weibliche Teil <strong>de</strong>r Bevölkerung weiterhin bereit ist, lebenslang mit einem<br />

erwerbstätigen Mann partnerschaftlich verb<strong>und</strong>en zu <strong>sein</strong> <strong>und</strong> unentgeltlich die private<br />

Haus-, Erziehungs- <strong>und</strong> Beziehungsarbeit zu leisten. Und schließlich kann nicht<br />

weiterhin davon ausgegangen wer<strong>de</strong>n, dass <strong>de</strong>r Normalhaushalt <strong>de</strong>r Deutschen aus<br />

zwei Erwachsenen mit zwei o<strong>de</strong>r mehreren Kin<strong>de</strong>rn besteht.<br />

Diese sozialpolitischen "Zeichen <strong>de</strong>r Zeit" gilt es im Licht <strong>de</strong>s Evangeliums zu <strong>de</strong>uten.<br />

Ist die "Option für die Armen" eine angemessene Antwort auf die Situation <strong>de</strong>r seit<br />

einem Vierteljahrh<strong>und</strong>ert verfestigten Massenarbeitslosigkeit <strong>und</strong> <strong>de</strong>r zunehmen<strong>de</strong>n<br />

gesellschaflichen Ausgrenzung? Ja, weil die Gerechtigkeit einer Gesellschaft daran<br />

gemessen wer<strong>de</strong>n kann, wie zwei Drittel <strong>de</strong>r Gesellschaft, die nie <strong>de</strong>n Risiken <strong>de</strong>r<br />

Armut o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s prekären Wohlstands ausgesetzt sind, mit <strong>de</strong>m einen Drittel umgeht,<br />

das dauernd o<strong>de</strong>r zeitweilig mit einer Armutslage konfrontiert ist. Aber was heißt schon<br />

Gerechtigkeit? Ist dieser Begriff nicht ein Spielball politischer Interessen? Zweifellos<br />

muss dieses normative Leitbild immer wie<strong>de</strong>r neu <strong>de</strong>finiert wer<strong>de</strong>n - <strong>und</strong> zwar im<br />

Kontext gesellschaftlicher Situationen, die sich än<strong>de</strong>rn. Im Mittelalter konnten sich<br />

Bauern o<strong>de</strong>r Adlige als <strong>gerecht</strong> empfin<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Gesetzen gehorchten, die<br />

ein gewissenhafter, von Gott erwählter Monarch formulierte. In <strong>de</strong>r Ordnung <strong>de</strong>r<br />

Gesellschaft spiegelte sich nach damaliger Auffassung die I<strong>de</strong>e, die Gott von <strong>de</strong>r Welt<br />

2


<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Menschheit hatte. Heutzutage ist die soziale Gerechtigkeit <strong>de</strong>n Mitglie<strong>de</strong>rn<br />

einer Gesellschaft nicht von außen o<strong>de</strong>r von oben vorgegeben. Sie müssen die real<br />

existieren<strong>de</strong>n Schieflagen <strong>de</strong>r Lebensverhältnisse, die Ergebnisse einer natürlichen<br />

<strong>und</strong> gesellschaftlichen Lotterie selbst korrigieren <strong>und</strong> sich in einem öffentlichen Dialog,<br />

<strong>de</strong>r von Konflikten <strong>und</strong> wechselseitigem Respekt bestimmt ist, über die allgemein<br />

verbindlichen Normen <strong>de</strong>r Gerechtigkeit verständigen. Nach <strong>de</strong>m Zusammenbruch <strong>de</strong>r<br />

Kommandowirtschaften <strong>und</strong> <strong>de</strong>r um eine einzige Partei zentrierten Staaten in<br />

Osteuropa folgt die Mehrheit <strong>de</strong>r Menschen einem Traum, dass sich das Leitbild <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit in einer Symbiose von kapitalistischer Marktwirtschaft <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>mokratischer Gesellschaft verwirklichen lasse. Durch die Proklamation <strong>und</strong><br />

Anerkennung <strong>de</strong>r Menschenrechte, das heißt: bürgerlicher Freiheitsrechte,<br />

wirtschaftlich-sozialer Gr<strong>und</strong>rechte <strong>und</strong> politischer Freiheitsrechte könnten die<br />

Schieflagen wirtschaftlicher Macht, die <strong>de</strong>r Kapitalismus im Unternehmen, auf <strong>de</strong>n<br />

Arbeits-, Güter- <strong>und</strong> Finanzmärkten strukturell hervorbringt, gezähmt <strong>und</strong> zum Wohl<br />

<strong>de</strong>r Menschen korrigiert wer<strong>de</strong>n. Dabei sollte die Wirtschaft in eine <strong>de</strong>mokratische<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> die Gesellschaft in eine erhaltenswerte Natur eingebettet bleiben. Ein<br />

Umbau <strong>de</strong>r sozialen Sicherungssysteme verdient <strong>de</strong>mgemäß die Kennzeichnung:<br />

"Reform", wenn er aus solchen Perspektiven einer <strong>gerecht</strong>en Gesellschaft gespeist ist.<br />

Eine erste Komponente <strong>de</strong>s fälligen Umbaus trifft das System <strong>de</strong>r Erwerbsarbeit.<br />

Diese wird auf absehbare Zeit <strong>de</strong>r Hauptschlüssel <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Integration<br />

bleiben, durch <strong>de</strong>n die Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger persönliche I<strong>de</strong>ntität, einen<br />

angemessenen Lebensstandard <strong>und</strong> gesellschaftliche Anerkennung gewinnen. Aber<br />

we<strong>de</strong>r die Industrie noch <strong>de</strong>r Export noch die Konzerne wer<strong>de</strong>n in Zukunft einen hohen<br />

Beschäftigungsgrad herstellen. Deshalb müssen während <strong>de</strong>s Konjunkturtiefs <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

Wachstumsschwäche die öffentlichen Investitionen - mit einer Sogwirkung auf private<br />

Investitionen - drastisch gesteigert wer<strong>de</strong>n. Zu welchen Zwecken? Erstens um die<br />

ökologische Umsteuerung <strong>de</strong>r Verkehrs- <strong>und</strong> Energiesysteme sowie <strong>de</strong>r<br />

Landwirtschaft zu beschleunigen. Und zweitens um qualifizierte, öffentliche <strong>und</strong> private<br />

Arbeitsgelegenheiten in <strong>de</strong>n Bereichen <strong>de</strong>r Ges<strong>und</strong>heit, Bildung <strong>und</strong> Kultur zu<br />

erschließen <strong>und</strong> mit angemessener Kaufkraft auszustatten. Die Zukunft <strong>de</strong>r Arbeit<br />

besteht in <strong>de</strong>r Arbeit am Menschen, in <strong>de</strong>n personnahen Diensten.<br />

Die herkömmliche Erwerbsarbeit wird nicht <strong>de</strong>r einzige Schlüssel sozialer Integration<br />

bleiben. Bereits heutzutage sind drei verschie<strong>de</strong>ne gesellschaftlich nützliche<br />

Arbeitsformen im Gespräch - die übliche Erwerbsarbeit, die private Beziehungs- <strong>und</strong><br />

Erziehungsarbeit sowie das zivilgesellschaftliche Engagement. Die bisherige<br />

sexistische Arbeitsteilung, die <strong>de</strong>n Männern die bezahlte <strong>und</strong> sozial abgesicherte<br />

Erwerbsarbeit <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Frauen die unentgeltliche private Hausarbeit zuordnete,<br />

wi<strong>de</strong>rspricht einer aufgeklärten Geschlechter<strong>gerecht</strong>igkeit. Also sollten die drei<br />

Arbeitsformen neu <strong>und</strong> fair auf Männer <strong>und</strong> Frauen verteilt wer<strong>de</strong>n.<br />

Wie sehen nun die Konturen einer wirksamen <strong>und</strong> <strong>gerecht</strong>en Finanzierung<br />

umgebauter solidarischer Sicherungssysteme aus? Zu allererst bleibt <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong>satz<br />

unangetastet, dass gesellschaftliche Risiken solidarisch abgesichert wer<strong>de</strong>n, soweit<br />

sie <strong>de</strong>m Individuum nicht zuzurechnen sind. Daraus folgt, dass die<br />

Finanzierungsgr<strong>und</strong>lagen <strong>de</strong>r solidarischen Sicherungssysteme nicht einzuschnüren,<br />

son<strong>de</strong>rn auszuweiten sind.<br />

Also sollten erstens jene drei Schieflagen <strong>de</strong>r Einkommen <strong>und</strong> Vermögen umgekehrt<br />

wer<strong>de</strong>n, die durch politische Vorentscheidungen während <strong>de</strong>r letzten 25 Jahre<br />

3


verursacht sind: Falls die Beiträge zur Rentenversicherung <strong>und</strong> zur Krankenversicherung<br />

nicht paritätisch erhoben wer<strong>de</strong>n, sollte <strong>de</strong>r Arbeitgeberbeitrag in einen<br />

dynamischen Anstieg <strong>de</strong>r Bruttolöhne aus unselbständiger Arbeit umgewan<strong>de</strong>lt<br />

wer<strong>de</strong>n. Außer<strong>de</strong>m ist <strong>de</strong>r Trend zu stoppen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Anteil <strong>de</strong>r Gewinneinkommen<br />

am gesamten Volk<strong>sein</strong>kommen erhöht, während sich <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r Lohneinkommen<br />

vermin<strong>de</strong>rt. Und schließlich ist die unverhältnismäßige steuerliche Entlastung<br />

Höherverdienen<strong>de</strong>r <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Gewinneinkommen bei gleichzeitig stärkerer Belastung<br />

<strong>de</strong>r Lohneinkommen sowie <strong>de</strong>r unteren Einkommensgruppen durch die Verbrauchsteuern<br />

zu entschärfen.<br />

Die zweite Ausweitung <strong>de</strong>r Finanzierungsbasis <strong>de</strong>r solidarischen Sicherungssysteme<br />

besteht darin, dass alle in <strong>de</strong>r Gesellschaft erzielten Einkommen, also nicht nur die<br />

Erwerb<strong>sein</strong>kommen <strong>de</strong>r abhängig Beschäftigten zur Finanzierung herangezogen<br />

wer<strong>de</strong>n; sie sind proportional o<strong>de</strong>r besser: progressiv beitragspflichtig. Die Ansprüche<br />

an die kollektiven Sicherungssysteme wer<strong>de</strong>n von unten her gesockelt <strong>und</strong> nach oben<br />

hin ge<strong>de</strong>ckelt. Folglich mag es für Höherverdienen<strong>de</strong> sinnvoll <strong>sein</strong>, die kollektive<br />

Absicherung mit einer zusätzlichen privaten Absicherung zu kombinieren.<br />

Um die Logik <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Charme einer erweiterten Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>r solidarischen<br />

Sicherung einsichtig zu machen, sollten drittens einige weit verbreitete Legen<strong>de</strong>n über<br />

bestehen<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r zukünftige solidarische Sicherungssysteme verabschie<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n.<br />

Der Sozialstaat ist we<strong>de</strong>r eine Wachstumsbremse noch ein Standortnachteil im<br />

globalen Wettbewerb noch in erster Linie ein Kostenfaktor. Immerhin sind gera<strong>de</strong><br />

diejenigen Län<strong>de</strong>r international beson<strong>de</strong>rs wettbewerbsfähig <strong>und</strong> als herausragen<strong>de</strong><br />

Geschäftspartner interessant, die über komfortable Sicherungssysteme verfügen. Die<br />

drohend ausgemalte Systemkonkurrenz <strong>de</strong>r Staaten um niedrigere Steuern,<br />

Lohnkosten <strong>und</strong> Sozialabgaben ist faktisch nicht belegt. Es trifft nicht zu, dass die<br />

Deutschen auf Gr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r solidarischen Sicherungssysteme über ihre Verhältnisse<br />

leben. Sie leben nicht über, son<strong>de</strong>rn weit unter ihren Verhältnissen, weil sie seit<br />

mehreren Jahren nur 70% ihres Arbeitsvermögens <strong>und</strong> ihres Produktionspotenzials<br />

ausschöpfen. Oft auch wird die <strong>de</strong>mographische Entwicklung als Beleg dafür<br />

angeführt, dass die solidarischen Sicherungssysteme nicht mehr finanzierbar seien; an<br />

die Stelle <strong>de</strong>s Umlagesystems sollte ein kapitalge<strong>de</strong>cktes System treten, das darüber<br />

hinaus sicherer <strong>und</strong> rentabler sei. Aber nicht <strong>de</strong>r biologische Aufbau <strong>de</strong>r Bevölkerung,<br />

son<strong>de</strong>rn die ökonomischen Wachstumschancen, <strong>de</strong>r Beschäftigungsgrad <strong>und</strong> die<br />

Produktivität sind für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Lan<strong>de</strong>s entschei<strong>de</strong>nd.<br />

Und unabhängig vom kapitalge<strong>de</strong>ckten o<strong>de</strong>r umlageförmigen Finanzierungssystem<br />

bleibt es dabei, dass in einer Erwerbsarbeitsgesellschaft die Gruppe <strong>de</strong>r<br />

Erwerbstätigen ein reales Volk<strong>sein</strong>kommen erwirtschaften muss, von <strong>de</strong>m sie selbst,<br />

die Gruppe <strong>de</strong>r noch nicht Erwerbstätigen <strong>und</strong> die <strong>de</strong>r nicht mehr Erwerbstätigen ihren<br />

Lebensunterhalt beziehen. Die Abgrenzung von wie auch immer <strong>de</strong>finierten<br />

Generationen ist <strong>de</strong>mgegenüber ebenso nachrangig wie ein angeblicher<br />

Generationenkonflikt. Denn die so genannte Gerechtigkeitsfrage zwischen <strong>de</strong>r alten<br />

<strong>und</strong> jungen Generationen löst sich auf in eine Frage <strong>de</strong>r Gerechtigkeit zwischen<br />

Erwerbstätigen <strong>und</strong> Arbeitslosen, Männern <strong>und</strong> Frauen, Wohlhaben<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Armen,<br />

Ost- <strong>und</strong> West<strong>de</strong>utschen <strong>de</strong>rselben Generation.<br />

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