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2. Teil - kompassrosen.ch

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»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011<br />

Das e-book in den »<strong>kompassrosen</strong>«<br />

_____________________________________________________________<br />

Der Nopalbaum<br />

Roman über die Eroberung Mexikos dur<strong>ch</strong> Hernándo Cortés,<br />

gekürzte und überbearbeitete Fassung des Romans »Die weißen Götter«<br />

von Eduard Stucken, herausgegeben unter Verwendung älterer Quellen und<br />

Dokumente<br />

von Bernhard Kay<br />

<strong>2.</strong> <strong>Teil</strong><br />

Das Gemetzel von Cholula, Aquarell von Bartholomé de las Casas,<br />

einem Dominikanermön<strong>ch</strong>, der Kaiser Karl V. von den Verwüstungen der Indianer beri<strong>ch</strong>tete und um ihren S<strong>ch</strong>utz bat<br />

(Brevísima relación de la destrucción de las Indias occidentales, 1552)


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 154<br />

I N H A L T S V E R Z E I C H N I S<br />

1. <strong>Teil</strong>: (1. März 2011)<br />

00 Vorwort 3<br />

01 Wasserhäuser 5<br />

02 Die Hahnenfeder 8<br />

03 Silberpuma 17<br />

04 S<strong>ch</strong>ilfrohr 29<br />

05 »Na<strong>ch</strong> Mexico! 42<br />

06 Cempoala 57<br />

07 S<strong>ch</strong>lagender Falke 71<br />

08 Mä<strong>ch</strong>tiger Felsen 83<br />

09 Goldmaske 97<br />

10 Tlaxcala 116<br />

11 Weißer Sommervogel 134<br />

<strong>2.</strong> <strong>Teil</strong>: (1. Juli 2011)<br />

12 Gefleckter Berglöwe 155<br />

13 Herrs<strong>ch</strong>endes Raubtier 168<br />

14 Cholula 187<br />

15 Tempelhüter 207<br />

16 Teno<strong>ch</strong>titlán 222<br />

17 Sengende Glut 234<br />

18 Kiefernzweig 251<br />

19 Moctezuma 266<br />

20 Alvaro 279<br />

3. <strong>Teil</strong>: (1. November 2011)<br />

21 No<strong>ch</strong>e Triste 290<br />

22 Totengeri<strong>ch</strong> 302<br />

23 Otumba 314<br />

24 Olíd 324<br />

25 Isabel 339<br />

26 Tezcoco 350<br />

27 Alderete 365<br />

28 Perlendiadem 374<br />

29 Hinri<strong>ch</strong>tungen 381<br />

30 Maisblume 386<br />

31 Sandoval 402<br />

32 Cuauhtémoc. 411<br />

33 Na<strong>ch</strong>wort 430<br />

Auf der Index-Seite<br />

Kompassrose<br />

befinden si<strong>ch</strong> Links zu folgenden<br />

PDF-Dateien:<br />

Zeittafel<br />

Glossar und Namensverzei<strong>ch</strong>nis<br />

Karte 1:<br />

Der Weg der Conquistadoren 1519<br />

Karte 2:<br />

Die Lage von Teno<strong>ch</strong>titlán<br />

Karte 3:<br />

Teno<strong>ch</strong>titlán um 1520<br />

Im Ar<strong>ch</strong>iv (auf der Indexseite)<br />

befindet si<strong>ch</strong>:<br />

<strong>Teil</strong> 1 vom 01.03.2011<br />

(Zitate und Originalbezei<strong>ch</strong>nungen<br />

werden kursiv wiedergegeben.)<br />

Ausspra<strong>ch</strong>e mexikanis<strong>ch</strong>er Wörter:<br />

<strong>ch</strong> und x wie deuts<strong>ch</strong>es s<strong>ch</strong>; z<br />

wie s; l am Wortende wird ni<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en;<br />

hu vor Vokal wie w, z.B.<br />

Miahuaxiutl (Maisblume):<br />

Miawas<strong>ch</strong>iut – Es werden nur historis<strong>ch</strong><br />

verbürgte Namen wiedergegeben.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 155<br />

Fortsetzung von »<strong>kompassrosen</strong>« März 2011<br />

Quetzalcoatl<br />

1<strong>2.</strong> Gefleckter Berglöwe<br />

»I<strong>ch</strong> bete zu unseren Göttern, das Du die Fremden ni<strong>ch</strong>t in Dein Haus lässt. Sie werden<br />

Di<strong>ch</strong> hinauswerfen und Deine Herrs<strong>ch</strong>aft zus<strong>ch</strong>anden ma<strong>ch</strong>en, und wenn Du versu<strong>ch</strong>st,<br />

wiederzuerlangen, was Du verloren, wird es zu spät sein... Do<strong>ch</strong> Moctezuma war ents<strong>ch</strong>lossen,<br />

die Christen als Freunde zu empfangen.«<br />

(Codex Ramírez, Fragment 3 und 4: Warnung Cuitlahuacs)<br />

Das Erdbeben hatte keine Zerstörungen hinterlassen. Mens<strong>ch</strong>en waren ni<strong>ch</strong>t zu S<strong>ch</strong>aden gekommen,<br />

und nur wenige Häuser wiesen Risse auf. Denno<strong>ch</strong> musste si<strong>ch</strong> der Sitte gemäß Moctezuma<br />

in den S<strong>ch</strong>langenberg-Tempel begeben, um das Baumorakel zu befragen. Moctezuma hatte allen<br />

Grund, das Orakel aufzusu<strong>ch</strong>en – ni<strong>ch</strong>t nur des Erdbebens wegen, denn die Erdkröte hatte s<strong>ch</strong>on<br />

seit Urzeiten gezuckt. Dass aber gerade in diesen Tagen die Erdkröte die Stadt erbeben ließ, war<br />

ein Zei<strong>ch</strong>en göttli<strong>ch</strong>en Missvergnügens. Himmlis<strong>ch</strong>e und irdis<strong>ch</strong>e Throne wankten. Das Gerü<strong>ch</strong>t<br />

von einem Friedenss<strong>ch</strong>luss der weißen Eindringlinge mit Tlaxcala wollte ni<strong>ch</strong>t verstummen.<br />

Obglei<strong>ch</strong> vom Großen Palast bis zum S<strong>ch</strong>langenberg nur wenige S<strong>ch</strong>ritte zu gehen waren,<br />

ließ Moctezuma si<strong>ch</strong> in einer mit Goldble<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>lagenen und im Innern mit blauen Kolibrifedern<br />

ausgekleideten Sänfte, einem Meisterwerk der Federarbeiter des Königs, in den Haupttempel Mexicos<br />

tragen.<br />

In der Mitte der Laguneninsel nahm das quadratis<strong>ch</strong>e Gelände des S<strong>ch</strong>langenberg-Tempels<br />

einen überwältigend großen Platz ein. Hier war die Behausung des Hauptgottes der Azteken und<br />

Chi<strong>ch</strong>imeken, des Wunderbaren Huitzilopo<strong>ch</strong>tli, die älteste, blutgetränkte Kultstätte des<br />

Kolibrigottes.<br />

Wie alle Tempel Anahuacs hatte au<strong>ch</strong> diese Tempelburg eine hohe, festungsartige,<br />

zinnengekrönte Mauer, mit je einem Toreingang im Osten, Süden und Westen. Au<strong>ch</strong> die Anordnung<br />

der Heiligtümer unters<strong>ch</strong>ied si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t von den anderen Tempelbezirken, do<strong>ch</strong> häuften si<strong>ch</strong><br />

hier die Altäre und Betplätze in einer so verwirrenden Fülle, wie sie nirgendwo sonst anzutreffen<br />

war. Außer der mä<strong>ch</strong>tigen Stufenpyramide ragten innerhalb der S<strong>ch</strong>langenmauer ni<strong>ch</strong>t weniger als<br />

fünfundzwanzig kleinere Tempelpyramiden empor. Statt einer S<strong>ch</strong>ädelstätte gab es deren sieben,<br />

statt eines Badeplatzes s<strong>ch</strong>immerten drei jaspisumrandete Badetei<strong>ch</strong>e im S<strong>ch</strong>atten alter Bäume.<br />

Inmitten der Gärten standen zwei Ballspielhäuser, in denen zu spielen dem Wunderbaren Huitzilopo<strong>ch</strong>tli<br />

vorbehalten war; es gab mehrere große Tanzhöfe, Gartenhäus<strong>ch</strong>en für Fastende und, neben<br />

zahllosen Priesterwohnungen, ein Adlerhaus mit Rüstkammern voller Speere, Pfeile, Keulen<br />

und Opfermessern.<br />

Am südli<strong>ch</strong>en Tempeltor wurde der Zornige Herr von der versammelten Priesters<strong>ch</strong>aft, dem<br />

hohen und niederen Klerus, ehrerbietig empfangen. Sie hatten Gesi<strong>ch</strong>t und Körper s<strong>ch</strong>warz ges<strong>ch</strong>minkt<br />

und weiße Totenkno<strong>ch</strong>en zierten die dur<strong>ch</strong>lö<strong>ch</strong>erten Nasen. Die Unterpriester – Brennholzs<strong>ch</strong>lepper,<br />

Kerzenbündelträger, Tempelsänger, Flurfeger, Räu<strong>ch</strong>erer und Feuerbohrer – waren<br />

in tiefs<strong>ch</strong>warze Gewänder gehüllt; sie trugen Tabaktäs<strong>ch</strong><strong>ch</strong>en auf den Rücken und Kopalbeutel,<br />

Opfervögel und Papierfähn<strong>ch</strong>en in Händen. S<strong>ch</strong>warz waren au<strong>ch</strong> die Ornate der höheren Priester


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 156<br />

und Obersten in der Hierar<strong>ch</strong>ie – des Herren des s<strong>ch</strong>warzen Hauses, des Fur<strong>ch</strong>tbaren Opferers,<br />

des Blutvergießers, des Si<strong>ch</strong>-in-Blut-Kleidenden. Die Gewänder klebten von verhars<strong>ch</strong>tem, dunkelrotem<br />

Blut, die Ärmel bestanden aus gegerbter Mens<strong>ch</strong>enhaut. Der ranghö<strong>ch</strong>ste der Priester aber<br />

– ein hagerer Greis mit düsterem Gesi<strong>ch</strong>tsausdruck, in s<strong>ch</strong>lohweißem Talar und mit einem lang<br />

herabhängenden Zopf –, der den Titel Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t trug, hielt einen Federstab in seiner<br />

Re<strong>ch</strong>ten.<br />

Als der Zornige Herr den Tempelbezirk betrat, erhoben die Trommels<strong>ch</strong>läger und Trompeter<br />

mit großen Mus<strong>ch</strong>elhörnern einen ohrenbetäubenden Lärm. Tempelsänger begannen in rauem<br />

Bass das uralte Kultlied von der Geburt des jungen Kriegers Huitzilopo<strong>ch</strong>tli:<br />

I<strong>ch</strong> bin Huitzilopo<strong>ch</strong>tli, der junge Krieger,<br />

Niemand kommt mir glei<strong>ch</strong>.<br />

Ni<strong>ch</strong>t ohne Grund nahm i<strong>ch</strong> den Toztlifedermantel,<br />

Dur<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> wurde es Tag!<br />

Der Zornige Herr empfand eine fast kindli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>eu und Ehrfur<strong>ch</strong>t vor Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis<br />

Kne<strong>ch</strong>t. Aus dieser S<strong>ch</strong>eu heraus hatte er es vermieden, obwohl in letzter Zeit von Sorgen zermartert,<br />

den Vertreter der Staatsreligion um Rat anzugehen, und hatte bei Eulenmens<strong>ch</strong>en,<br />

Maiskörnerstreuern, Kristallbes<strong>ch</strong>auern und Fadenknüpfern Trost gesu<strong>ch</strong>t. Do<strong>ch</strong> Moctezuma nährte<br />

die Hoffnung, dass der heutige, vom Ausbru<strong>ch</strong> des Popocatepetl veranlasste unfreiwillige Besu<strong>ch</strong><br />

des Heiligtums eine Annäherung bringen und eine Brücke s<strong>ch</strong>lagen könnte. Das lag au<strong>ch</strong> im<br />

Bestreben von Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t. Er wollte die Ma<strong>ch</strong>t über den König zurückgewinnen. Lange<br />

genug hatte er mit ansehen müssen, dass am Königshof Zauberer ihr Unwesen trieben und die<br />

Einnahmen der wahrsagenden Priesters<strong>ch</strong>aft beeinträ<strong>ch</strong>tigten. Und der Ränkes<strong>ch</strong>mied Tempelhüter<br />

s<strong>ch</strong>wätzte dem König mehr Ents<strong>ch</strong>eidungen auf, als Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t lieb sein konnte.<br />

Mehr aber no<strong>ch</strong> war ihm am Einfluss gelegen, der dem obersten Priester des Kriegsgottes im Rate<br />

des Drei-Städte-Bundes zukam. Dass demütige S<strong>ch</strong>eu den Zornigen Herrn erfüllte, war ihm bekannt.<br />

Aber als kluger Diplomat begrüßte er ihn mit der devoten Anrede: »O großer König, o du<br />

von aller Welt geliebter Sohn! Du bist das wiederherstellende Wasser und das zerfressende Feuer,<br />

du hältst in deinen Händen unser Leben und unseren Tod. Huitzilopo<strong>ch</strong>tli hat di<strong>ch</strong> erwartet, hat<br />

di<strong>ch</strong> herbeigesehnt; der Gott jubelt, dass du den Weg zu ihm fandest!«<br />

Moctezuma überhörte den Vorwurf. Er antwortete:<br />

»O mein Oheim und Vater, i<strong>ch</strong> komme, um unserem mä<strong>ch</strong>tigen Gott Huitzilopo<strong>ch</strong>tli die Füße<br />

und die Hände zu küssen. Mein Silberthron ist sein. Möge er uns alle unter den S<strong>ch</strong>atten seines<br />

Erbarmens nehmen! Nun aber führt mi<strong>ch</strong> zum Orakelbaum, damit er mir sage, damit er mir verkünde,<br />

was die Erde zittern ma<strong>ch</strong>te.«<br />

Die Unterpriester mussten am Tempeleingang zurückbleiben. Nur der höhere Klerus geleitete<br />

Moctezuma. Sie s<strong>ch</strong>ritten um die große Stufenpyramide herum. Ho<strong>ch</strong> ragten die terrassenartigen<br />

Absätze, wu<strong>ch</strong>s die Pyramide zu den Wolken hinauf. Ein aufwärts strebender steinerner Steg<br />

verband Terrasse mit Terrasse und führte bis zur obersten Plattform, dem Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz,<br />

hinauf. Diesen Steg mussten die todgeweihten Opfer bes<strong>ch</strong>reiten, sodass die Bewohner Teno<strong>ch</strong>titláns<br />

dem Todesgang der ins Land des Morgensterns Wandernden zusehen konnten. Neben der<br />

Treppe befand si<strong>ch</strong> eine handbreite Marmorrinne, über die an Festtagen die Blutströme der Geopferten<br />

geleitet wurden, die Bä<strong>ch</strong>e des karminroten Edelsteinwassers.<br />

Zuoberst auf der großen Terrasse aber brannte stets ein Feuer, das Fanal der Wasserstadt,<br />

aus großer Ferne si<strong>ch</strong>tbar, ein Na<strong>ch</strong>t- und Tagweiser zuglei<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>iffern und Wandernden, ein<br />

Drohzei<strong>ch</strong>en den Feinden, das Symbol der tributraffenden Königin aller Städte und ihrer Weltbedeutung,<br />

der hö<strong>ch</strong>ste Stolz ihrer Erbauer.<br />

Moctezumas prüfendes Auge entdeckte, dass die Mörtels<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>t des bunten Firnisses an einigen<br />

Stellen abgelöst und abgebröckelt war. Er fragte den Hohepriester, ob das Erdbeben diesen<br />

S<strong>ch</strong>aden verursa<strong>ch</strong>t habe. Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t sagte:<br />

»O du von aller Welt geliebter Sohn! Das Zucken der Erde kann an den Sternenhimmel ni<strong>ch</strong>t<br />

rühren. Do<strong>ch</strong> zugeben muss mein Herz, dass das Haus des Wunderbaren Huitzilopo<strong>ch</strong>tli verwittert<br />

und verblasst ist.«<br />

Nun musste au<strong>ch</strong> der Rest der Gefolgs<strong>ch</strong>aft zurückbleiben; nur der König, der Hohepriester


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 157<br />

und ein Orakelkünder gingen gemessenen S<strong>ch</strong>rittes bis zur Orakelkapelle und traten ein. Das<br />

da<strong>ch</strong>lose Gemäuer war ein uralter, s<strong>ch</strong>muckloser, weißgetün<strong>ch</strong>ter Bau, vier mit einer niedrigen Tür<br />

versehene glatte Wände, aufgeri<strong>ch</strong>tet rings um einen zeitzermürbten Nopalbaum. Hier war der<br />

Mittelpunkt der blauen Erds<strong>ch</strong>eibe!<br />

Huitzilopo<strong>ch</strong>tli hatte einst den Azteken befohlen, aus dem Reiherland auszuwandern. Er<br />

zeigte ihnen einen s<strong>ch</strong>immernden S<strong>ch</strong>ilfsee, der si<strong>ch</strong> vor den Augen der staunenden Azteken mit<br />

silbrig bes<strong>ch</strong>uppten Fis<strong>ch</strong>en füllte, si<strong>ch</strong> mit Wasserrosen und Kolbenröhri<strong>ch</strong>t bedeckte und mit<br />

zahllosen Wasservögeln, Edelreihern, Ibissen, Seeraben, Si<strong>ch</strong>lern und Blauflügelenten bevölkerte.<br />

Sie sollten siedeln, wo der Nopalbaum wä<strong>ch</strong>st, auf dessen Spitze ein Adler horstet, der eine<br />

S<strong>ch</strong>lange vers<strong>ch</strong>lingt. Und als es tagte, gewahrten sie einen<br />

sta<strong>ch</strong>elumpanzerter Feigenkaktusbaum; ein riesenhafter Adler<br />

horstete auf dem Nopalbaum, der eine grüne S<strong>ch</strong>lange in den Krallen<br />

hielt.<br />

Huitzilopo<strong>ch</strong>tli:<br />

»Kolibri zur Linken« (häufig au<strong>ch</strong> »des Südens«),<br />

hö<strong>ch</strong>ster Gott der Azteken, Personifikation<br />

der Sonne, des Krieges, der Jagd<br />

Moctezuma betrat die von jenen ersten Ansiedlern zum<br />

S<strong>ch</strong>utz des Nopals erri<strong>ch</strong>tete Ummauerung. No<strong>ch</strong> immer war es<br />

derselbe jahrhundertealte Baum, den die Mauern umfriedeten. Ein<br />

abgeri<strong>ch</strong>teter Adler, mit einer Goldkette an die oberste Abzweigung des Kaktusstammes gefesselt,<br />

würde dem Weissagenden Priester das Baumorakel offenbaren.<br />

Der Weissagende Priester, ein dur<strong>ch</strong> Kasteiungen ausgemergelter, hohlwangiger Mens<strong>ch</strong>,<br />

legte mit zeremoniellen Bewegungen seine Gewänder ab und nahm umständli<strong>ch</strong>, nur mit der<br />

S<strong>ch</strong>ambinde um Hüfte und S<strong>ch</strong>ritt bekleidet, auf einem niedrigen, sta<strong>ch</strong>eligen Kaktus Platz. Blut<br />

tropfte ihm von den S<strong>ch</strong>enkeln und Waden. Aus dem Hüfttu<strong>ch</strong> zog er ein kleines Gefäß hervor und<br />

begann, seinen nackten Oberkörper mit einer Zaubersalbe zu bestrei<strong>ch</strong>en, die ihn binnen weniger<br />

Minuten in einen Traumzustand versetzte.<br />

Ein Sklave hatte Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t bei seinem Eintritt ein etwa einjähriges Kind dargeboten,<br />

und der hielt es dem Raubvogel hin. Der große Vogel packte das Kind mit den Krallen und<br />

bewegte den Kopf langsam hin und her. Es konnte als eine Begrüßung des Königs gedeutet werden.<br />

Mit wiegendem Oberkörper starrte der Weissagende Priester unablässig zum Adler hinauf.<br />

Do<strong>ch</strong> das Erwartete blieb aus; zwar wimmerte das Baby in den Adlerklauen vor S<strong>ch</strong>merz, do<strong>ch</strong> der<br />

Adler fraß das Kind ni<strong>ch</strong>t.<br />

Moctezuma fragte, vor fiebriger Erregung flüsternd: »Warum vers<strong>ch</strong>mäht er die Speise?«<br />

Au<strong>ch</strong> Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t konnte seine Besorgnis ni<strong>ch</strong>t verbergen.<br />

»Der Baum zürnt«, ließ si<strong>ch</strong> der Weissagende Priester mit dumpfer Stimme vernehmen.<br />

Moctezuma fragte po<strong>ch</strong>enden Herzens weiter: »Wie kann i<strong>ch</strong> den Baum bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigen?«<br />

»Der Baum sagt: ›Lass den Sternhimmel am Turm des hö<strong>ch</strong>sten Heiligtums mit Edelsteinen<br />

überdecken!‹«<br />

»So viele Edelsteine besitze i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t«, rief Moctezuma entsetzt.<br />

Der Herr des Orakels antwortete wie in Trance: »Du hast den S<strong>ch</strong>atz von Tezcoco, sagt der<br />

Baum.«<br />

Unerwartet plötzli<strong>ch</strong> fuhr der s<strong>ch</strong>arfges<strong>ch</strong>wungene S<strong>ch</strong>nabel des Adlers nieder – einmal,<br />

zweimal! Laut s<strong>ch</strong>rie das Kind auf, zuckte in den Adlerklauen: Der Raubvogel hatte ihm die Augen<br />

ausgehackt. Dann ließ er das s<strong>ch</strong>reiende Baby fallen, das dumpf am Boden aufs<strong>ch</strong>lug und verstummte.<br />

Der Weissagende Priester erhob si<strong>ch</strong>, wankte mit blutigen Beinen zu dem Kind und nahm es<br />

auf. »Tot«, sagte mit starrem Blick. »Huitzilopo<strong>ch</strong>tli hat das Opfer vers<strong>ch</strong>mäht! Wehe Teno<strong>ch</strong>titlán!«<br />

Da verstummte Moctezuma.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 158<br />

*<br />

Am Tag darauf fastete der Zornige Herr. Um Cuauhtémoc ni<strong>ch</strong>t zu begegnen, um ihm den Befehl<br />

no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t erteilen zu müssen, verweilte er in seinen Gemä<strong>ch</strong>ern und im kleinen Tempel der Trauer.<br />

Er für<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong> vor den Augen seines Neffen, der als Vorsteher des Hauses der Edelsteine<br />

die Verantwortung für den Goldhort trug. Die harten Augen des S<strong>ch</strong>lagenden Falkens für<strong>ch</strong>tete er<br />

mehr als die Vorwürfe und den Zorn seines leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>wiegersohns Cacama. Diesen,<br />

den er berauben wollte, konnte er mit dem Hinweis auf Mexicos Not bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigen – ni<strong>ch</strong>t aber<br />

den unbeste<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Hüter des S<strong>ch</strong>atzes.<br />

Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> Könige sind ni<strong>ch</strong>t frei in ihren Ents<strong>ch</strong>eidungen. Wi<strong>ch</strong>tige Ereignisse verkürzten<br />

Moctezumas Fasten und bürdeten dem Zornigen Herrn zusätzli<strong>ch</strong>e Sorgen auf. Do<strong>ch</strong> er gewann<br />

Zeit, die Antastung des fremden Goldes no<strong>ch</strong> einige Tage zaudernd zu erwägen. Der Tempelhüter<br />

war aus Cholula na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán heimgekehrt, unheilvolle Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten im Gepäck. Die Männer<br />

des Ostens weilten in Tlaxcala, setzten die Opfersklaven in Freiheit, vers<strong>ch</strong>wägerten si<strong>ch</strong> mit dem<br />

Adel, verlobten si<strong>ch</strong> mit den Tö<strong>ch</strong>tern der Tetrar<strong>ch</strong>en; die Blaue Feder war in Tlaxcala vor dem<br />

Holzkreuz der Gelbhaarigen niedergekniet. Selbst Prinz Goldmaske willigte ein, dass das Volk den<br />

neuen Glauben annahm. Beunruhigend war au<strong>ch</strong>, was in Cholula vorging. Dort rieten Fur<strong>ch</strong>tsame<br />

bereits, dem Bund der weißen Männer mit den Tlaxcalteken und der Blauen Feder beizutreten; das<br />

Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier, seine Berater und Mitpriester (wenn au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> wie vor geneigt, die Fremdlinge<br />

in den Hinterhalt zu locken und zu verni<strong>ch</strong>ten) erklärten jetzt, die heimli<strong>ch</strong>e Aufforderung<br />

Moctezumas genüge ihnen ni<strong>ch</strong>t; sie erwarteten eine öffentli<strong>ch</strong>e Aufforderung und müssten darauf<br />

bestehen, dass Mexico si<strong>ch</strong> zum Widerstand gegen die Weißen bekennt, die s<strong>ch</strong>werli<strong>ch</strong> Götter<br />

wären.<br />

Der Zornige Herr ließ die hö<strong>ch</strong>sten Würdenträger, den Rat der Alten und sämtli<strong>ch</strong>e Großen<br />

seines Rei<strong>ch</strong>es zu einem Kronrat in den Saal der Dämonen rufen. Er hatte no<strong>ch</strong> einen anderen<br />

Grund. Einige hundert Berater hatten si<strong>ch</strong> eingefunden; in Mänteln, mit farbigen Stammesabzei<strong>ch</strong>en<br />

und grellen Federbüs<strong>ch</strong>en, die Gesi<strong>ch</strong>ter bemalt und mit Edelsteinnasenstäben ges<strong>ch</strong>mückt,<br />

hockten sie auf niedrigen S<strong>ch</strong>emeln im Halbkreis um den König. Die entlaufenen Sklaven Julianillo<br />

und Mel<strong>ch</strong>orejo waren na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán gebra<strong>ch</strong>t worden. Da sie nur die Mayaspra<strong>ch</strong>e und einige<br />

Brocken Spanis<strong>ch</strong> reden konnten, hatte auf Anraten Cuauhtémocs der Gefleckte Berglöwe den<br />

Auftrag erhalten, ihre Aussagen beim Verhör zu übersetzen. S<strong>ch</strong>on vorher hatte Guerrero Gonzalo<br />

den S<strong>ch</strong>lagenden Falken über die wirkli<strong>ch</strong>en Stärken und S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en der Kastilier aufgeklärt, aber<br />

beim Verhör gab er wörtli<strong>ch</strong> und unges<strong>ch</strong>minkt die s<strong>ch</strong>amlosen Übertreibungen Julianillos und<br />

Mel<strong>ch</strong>orejos wieder: Die Weißen seien Feiglinge, untereinander uneins und gering an Zahl, bloß<br />

ein Haufen stelzfüßiger Angeber; sie seien von ents<strong>ch</strong>lossenen Kriegern dur<strong>ch</strong>aus zu besiegen.<br />

Auf Moctezuma und den Edlen Betrübten übten die Aussagen der beiden Sklaven eine befreiende<br />

Wirkung aus. Erwiesen si<strong>ch</strong> die Fremden als ein Häuflein von Krüppeln – wel<strong>ch</strong> eine<br />

S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> war es dann, dass Mexico vor ihnen gezittert hatte! Diese Flecken auf Mexicos Ehre<br />

mussten ras<strong>ch</strong> beseitigt werden.<br />

Do<strong>ch</strong> Cuauhtémoc, der S<strong>ch</strong>lagende Falke, und Cuitlahuac, der Überwinder, Bruder<br />

Moctezumas, ließen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t täus<strong>ch</strong>en. Stills<strong>ch</strong>weigend missbilligten sie, dass Moctezuma den<br />

beiden Prahlern ehrenvolle Behandlung zuteil werden ließ; Sklaven würden das niemals verdienen.<br />

Moctezuma hatte dem Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e den Auftrag erteilt, Mel<strong>ch</strong>orejo<br />

und Julianillo mit Mänteln, S<strong>ch</strong>ambinden und Sandalen zu bes<strong>ch</strong>enken, sie mit Chilipfeffer, Maispasteten<br />

und Honigäpfeln zu beköstigen und ihnen sogar die Freilassung in Aussi<strong>ch</strong>t zu stellen,<br />

falls sie si<strong>ch</strong> weiterer Einzelheiten entsinnen könnten, die geeignet wären, die Fremdlinge ihrer<br />

Göttli<strong>ch</strong>keit zu entkleiden.<br />

Ein Fä<strong>ch</strong>erhalter s<strong>ch</strong>eu<strong>ch</strong>te die Fliegen vom Antlitz des Zornigen Herrn. Aufre<strong>ch</strong>t neben dem<br />

s<strong>ch</strong>weren, silbernen, vom Adlerfitti<strong>ch</strong>balda<strong>ch</strong>in überda<strong>ch</strong>ten Thronsessel standen zwei Axtträger<br />

und der Günstling Tziuacpopocatzin, der Tempelhüter, der dem König ähnli<strong>ch</strong> sah. Na<strong>ch</strong> althergebra<strong>ch</strong>ter<br />

Sitte spra<strong>ch</strong> der König Mexicos nur flüsternd; seine göttli<strong>ch</strong>e Stimme anzustrengen galt<br />

als unvereinbar mit seiner hehren Würde. Es war das Amt des Tempelhüters, die Reden des Königs<br />

laut in den Saal zu rufen.<br />

Na<strong>ch</strong> dem Verhör der Gefangenen kamen die Räte zu Wort. Der zahnlose S<strong>ch</strong>warze Amber


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 159<br />

– der Weibli<strong>ch</strong>e Zwilling – erhob si<strong>ch</strong>.<br />

»Mein Alter verleiht mir das Re<strong>ch</strong>t, zuerst zu reden«, sagte er wie ents<strong>ch</strong>uldigend zu den<br />

Anwesenden. Do<strong>ch</strong> zustimmendes Gemurmel ermunterte ihn, weiterzureden. Warum habe der<br />

König die Väter des mexicanis<strong>ch</strong>en Volkes hergerufen? S<strong>ch</strong>on standen die Gelbhaarigen in<br />

Tlaxcala. Es gälte zu ents<strong>ch</strong>eiden, ob man sie mit Waffengewalt vertreiben oder als Gäste in der<br />

Wasserstadt willkommen heißen solle.<br />

»Ihre geringe Zahl ma<strong>ch</strong>t es unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>«, rief er mit dünner Greisenstimme, »dass das<br />

tapfere Volk der Tlatepoca von ihnen besiegt wurde. Es ist eher anzunehmen, dass die Niederlage<br />

eine S<strong>ch</strong>einniederlage war und der Friedenss<strong>ch</strong>luss eine List. Dies zu ersinnen ist die Blaue Feder<br />

fähig; sein Ziel ist, Mexico zu zertrümmern – ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> die Waffen eines Häufleins Fremder, sondern<br />

dur<strong>ch</strong> den lähmenden S<strong>ch</strong>recken, den die Ankunft der weißen und bärtigen Männer verursa<strong>ch</strong>t.<br />

Wie ein Fadenknüpfer si<strong>ch</strong> der Zauberfäden, so will si<strong>ch</strong> die Blaue Feder der Söhne der<br />

Sonne bedienen. Do<strong>ch</strong> die Götter Mexicos haben uns zwei entlaufene Sklaven ges<strong>ch</strong>ickt; dur<strong>ch</strong><br />

ihre Aussagen hat der Zauber den S<strong>ch</strong>recken eingebüßt. Wir wissen nun, dass die Gelbhaarigen<br />

weder Götter no<strong>ch</strong> unbesiegbar sind.«<br />

Der Alte setzte si<strong>ch</strong>; S<strong>ch</strong>weigen ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> breit. Niemand wagte zu reden. Höfli<strong>ch</strong> forderte<br />

Cacama den Fürsten von Iztapalapá, den Bruder des Zornigen Herrn dazu auf, seine Ansi<strong>ch</strong>t<br />

kundzutun. Cuitlahuac erhob si<strong>ch</strong> und sagte:<br />

»O ihr ho<strong>ch</strong>mä<strong>ch</strong>tigen Herren, erlaubt mir zu sagen, was mein Herz mir eingibt. Diese<br />

Fremdlinge sind wie eine fur<strong>ch</strong>tbare Gifts<strong>ch</strong>lange, die ihren tödli<strong>ch</strong>en Biss aus großer Entfernung<br />

zufügt. Unbeda<strong>ch</strong>t handelt, wer einem so s<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>en Gezü<strong>ch</strong>t an seinem Hausherd eine Wohnstätte<br />

zuweist.«<br />

Und in langer, eindringli<strong>ch</strong>er Rede fuhr der Überwinder fort, vor den Fremden zu warnen.<br />

Man solle ihnen Ges<strong>ch</strong>enke s<strong>ch</strong>icken und die Freunds<strong>ch</strong>aft antragen, sie aber ersu<strong>ch</strong>en, den<br />

Rückweg übers Ostmeer anzutreten. Jeden ihrer Wüns<strong>ch</strong>e könne man erfüllen, do<strong>ch</strong> den einen<br />

ni<strong>ch</strong>t, dass sie die Dammwege der Wasserstadt betreten. Wenn sie si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gutwillig abhalten<br />

ließen, müssten die Adler und Jaguare Mexicos sie abhalten.<br />

Seine Rede wurde zwiespältig, beinahe kühl aufgenommen. Auf den Herzen der Anwesenden<br />

lasteten große Sorgen – wie sollten sie da die mögli<strong>ch</strong>e Gefahr dur<strong>ch</strong> die Tlaxcalteken oder<br />

Beste<strong>ch</strong>ungen der Sonnensöhne von ihren Befür<strong>ch</strong>tungen erlösen? Das spürte au<strong>ch</strong> der Edle Betrübte.<br />

Er meldete si<strong>ch</strong> zu Wort, erhob si<strong>ch</strong> und begann eine leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Rede: »O ihr treuen,<br />

tapferen Räte, was wir bisher vernahmen, war von Angst und Unsi<strong>ch</strong>erheit geprägt. Do<strong>ch</strong> Angst<br />

und Unsi<strong>ch</strong>erheit kränken den mexicanis<strong>ch</strong>en Stolz! Lasst uns die Lage mit nü<strong>ch</strong>terner Klugheit<br />

und Voraussi<strong>ch</strong>t beurteilen.«<br />

Der Edle Betrübte war anderer Meinung als der König von Iztapalapá. Feige wäre es, wollte<br />

man den Söhnen der Sonne, na<strong>ch</strong>dem man sie fast bis vor die Tore der Stadt gelassen habe, den<br />

Eintritt verwehren; und unklug wäre es, weil dann alle Völker glauben würden, das große Mexico<br />

sei vor so wenigen Fremden bange. »Edler und der ruhmvollen Vergangenheit würdiger ist es«,<br />

rief er aus, »wenn Mexico seine Statthalter und Beamten beauftragt, die Gelbhaarigen auf ihren<br />

Wegen und Straßen zu empfangen! Wir wollen sie über den S<strong>ch</strong>ilfsee geleiten, damit sie die unverglei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e<br />

Ma<strong>ch</strong>t und Herrli<strong>ch</strong>keit Teno<strong>ch</strong>titláns und Moctezumas sehen und ers<strong>ch</strong>audernd<br />

erkennen, wie unverglei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und mä<strong>ch</strong>tig Mexico ist! Sie werden erkennen, dass ihre Ma<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t<br />

ausrei<strong>ch</strong>t, uns zum Vasallen ihres Fürsten jenseits des Ostmeeres zu ma<strong>ch</strong>en. Sie werden heimkehren<br />

und ihrem Fürsten das Ges<strong>ch</strong>aute s<strong>ch</strong>ildern. Sollten sie eine Bots<strong>ch</strong>aft zu sagen haben, so<br />

ist mein Oheim Moctezuma ein Zedernbaum, stark genug, den Wind, der ihn umweht, anzuhören.<br />

Sollten sie si<strong>ch</strong> aber anmaßend betragen, wird es an Tapferen ni<strong>ch</strong>t fehlen; i<strong>ch</strong> selbst werde der<br />

Erste sein, der sie dafür mit S<strong>ch</strong>impf zü<strong>ch</strong>tigt.«<br />

Als Cacama seine Rede beendet hatte, wurde er mit zustimmendem Gemurmel belohnt.<br />

Au<strong>ch</strong> Moctezuma, der bis dahin regungslos und mit wä<strong>ch</strong>sern-fahlem Gesi<strong>ch</strong>t wie eine Puppe dagesessen<br />

hatte, nickte sinnend. Da wussten au<strong>ch</strong> die Uns<strong>ch</strong>lüssigen, wohin ihre unsi<strong>ch</strong>ere Meinung<br />

si<strong>ch</strong> wenden müsse.<br />

Die na<strong>ch</strong>folgenden Redner stimmten dem Edlen Betrübten zu; die meisten Anwesenden hatte<br />

er mit seinem Vors<strong>ch</strong>lag gewonnen. Da erhob si<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>lagende Falke. Moctezuma s<strong>ch</strong>aute<br />

ihn mit einem abweisenden Blick an; der junge Feldherr wunderte si<strong>ch</strong>, dass seine Rede beim König<br />

Abneigung weckte, no<strong>ch</strong> ehe er gespro<strong>ch</strong>en hatte. Do<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>lagende Falke ließ si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 160<br />

abhalten zu sagen, was er sagen musste.<br />

»O ihr ho<strong>ch</strong>mä<strong>ch</strong>tigen Väter«, rief er, »öffnet die Augen! S<strong>ch</strong>aut der Wahrheit ins Gesi<strong>ch</strong>t,<br />

blickt ni<strong>ch</strong>t an ihr vorbei! Seht ihr ni<strong>ch</strong>t, dass Mexico si<strong>ch</strong> in einen Abgrund werfen will, wie Tula es<br />

einst tat, die versunkene Toltekenstadt? Ihr kennt die Sage! Trotzdem will i<strong>ch</strong> sie eu<strong>ch</strong> hier no<strong>ch</strong><br />

einmal erzählen: Er, dessen Sklaven sie nun sind, nahte als Bettler den Toren Tulas und begehrte<br />

Einlass. ›I<strong>ch</strong> will den König sehen und ihn spre<strong>ch</strong>en!‹, sagte er zu den Torhütern. ›Hebe di<strong>ch</strong> fort,<br />

Alter‹, antworteten sie ihm, ›der König ist krank und lässt si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t spre<strong>ch</strong>en.‹ Darauf sagte der<br />

Bettler immer wieder: ›I<strong>ch</strong> muss ihn sehen!‹ Da gingen die Torwä<strong>ch</strong>ter und meldeten dem Könige,<br />

dass ein Bettler vor den Toren stehe. ›Wir haben ihn abgewiesen, aber er will si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t entfernen<br />

und sagt, er müsse di<strong>ch</strong> spre<strong>ch</strong>en!‹ Großmütig befahl der König, ihn einzulassen. Ni<strong>ch</strong>t lange aber,<br />

na<strong>ch</strong>dem er, dessen Sklaven sie nun sind, die Stadt betreten hatte, hat er die Friedfertigkeit des<br />

Königs und seines Volkes erkannt, und der Bettler hat die Mildtätigkeit s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t belohnt. Er war<br />

weder milde no<strong>ch</strong> friedfertig.«<br />

Und der S<strong>ch</strong>lagende Falke bes<strong>ch</strong>wor die Väter Mexicos, ni<strong>ch</strong>t in den töri<strong>ch</strong>ten Edelmut der<br />

Tolteken zu verfallen. »Öffnet ni<strong>ch</strong>t die Tore den Allesvers<strong>ch</strong>lingenden! Es soll Mexico ni<strong>ch</strong>t so<br />

ergehen wie Tula! Es soll von den Eindringlingen ni<strong>ch</strong>t sagen müssen: ›Die, deren Sklaven wir nun<br />

sind!‹ Dur<strong>ch</strong> Ges<strong>ch</strong>enke si<strong>ch</strong> loszukaufen, wie der Fürst von Iztapalapá vorges<strong>ch</strong>lagen hat, ist der<br />

Größe Mexicos ebenso unwürdig. Die Gelbhaarigen haben si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> immer ni<strong>ch</strong>t am Gold gesättigt.<br />

Nie werden sie genug haben und immer mehr vom Götterkot verlangen! S<strong>ch</strong>icken wir ihnen<br />

do<strong>ch</strong> die Goldstandarte der Wasserstadt, umringt von jungen Kriegern in Jaguarrüstung und Pfeils<strong>ch</strong>ützen,<br />

die vierhundert Feuersteinspitzen in einer Minute abzus<strong>ch</strong>ießen vermögen! Das wäre<br />

das Ges<strong>ch</strong>enk, das die Nimmersatten verdienen. No<strong>ch</strong> ist Zeit dazu. Bald aber wird es zu spät<br />

sein, wieder gutzuma<strong>ch</strong>en, was ni<strong>ch</strong>t mehr gutzuma<strong>ch</strong>en ist.«<br />

Die Rede des S<strong>ch</strong>lagenden Falkens hinterließ eine no<strong>ch</strong> tiefere Wirkung als die des Edlen<br />

Betrübten. Man wusste, dass Cuauhtémoc und Cacama si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mo<strong>ch</strong>ten; man hatte einen Meinungsstreit<br />

der Prinzen erwartet, do<strong>ch</strong> zu s<strong>ch</strong>wer lastete die Besorgnis auf den Anwesenden. Die<br />

Worte des S<strong>ch</strong>lagenden Falkens waren weder feindselig no<strong>ch</strong> gehässig. Er hatte den Vors<strong>ch</strong>lägen<br />

des Königs von Tezcoco widerspro<strong>ch</strong>en, do<strong>ch</strong> der Augenblick war zu ernst, um an kleinli<strong>ch</strong>en<br />

Zwist zu denken. Ja, er hatte die vornehme Gesinnung Cacamas gewürdigt, wenn er sie au<strong>ch</strong> für<br />

unheilvoll hielt. Wenn seine Ermahnung eine heimli<strong>ch</strong>e Spitze hatte, so ri<strong>ch</strong>tete sie si<strong>ch</strong> gegen den<br />

Zornigen Herrn und die würdelose Bes<strong>ch</strong>enkung der weißen Eroberer.<br />

Moctezuma flüsterte mit dem Tempelhüter, damit dieser die Entgegnung des Königs der<br />

Versammlung bekanntgebe. Da stürzte ein Sklave herein, warf si<strong>ch</strong> vor dem Zornigen Herrn nieder<br />

und meldete, aus Tlaxcala sei der Graue S<strong>ch</strong>akal zurückgekehrt, ein Spion Moctezumas. Der König<br />

ließ ihn in den Saal bitten.<br />

Der Graue S<strong>ch</strong>akal hatte, während er vor der Tür des Dämonensaales wartete, die Reden<br />

ebenfalls vernommen, daher wusste er, dass der S<strong>ch</strong>warze Amber den Sieg über Tlaxcala als<br />

S<strong>ch</strong>einsieg bezei<strong>ch</strong>net hatte und den bes<strong>ch</strong>lossenen Bund als Spiegelfe<strong>ch</strong>terei. Er s<strong>ch</strong>ilderte nun<br />

den wahren Sa<strong>ch</strong>verhalt und wies die ahnungslose Zuversi<strong>ch</strong>t und Unters<strong>ch</strong>ätzung der Gefahr<br />

zurück, die der Weibli<strong>ch</strong>e Zwilling und der Edle Betrübte bekundet hatten. Er habe das blutgetränkte<br />

S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tfeld gesehen und der Bestattung der gefallenen Tlaxcalteken beigewohnt. Zu Hunderten<br />

seien Tlaxcalteken und Otomis von den Feuer speienden Waffen der Weißen mit Donner und<br />

Blitz hingemäht worden. Dem Heer Tlaxcalas, 50 000 gut bewaffnete Krieger, standen nur vierhundert<br />

Söhne der Sonne gegenüber und siegten – ni<strong>ch</strong>t etwa dank glückli<strong>ch</strong>em Zufall, sondern<br />

dank ihrer überlegenen Waffen; sie wären au<strong>ch</strong> gegen einen mä<strong>ch</strong>tigeren Feind Sieger geblieben.<br />

Es stimme, was Mel<strong>ch</strong>orejo und Julianillo über ihre Verletzbarkeit ausgesagt haben: Unverwundbar<br />

und unsterbli<strong>ch</strong> seien sie ni<strong>ch</strong>t, da au<strong>ch</strong> sie Verwundete und Tote hatten, aber dank ihrer zauberis<strong>ch</strong>en<br />

Feuergeräte aus Kupfer und Bronze seien sie kaum zu bezwingen – es sei denn, dass<br />

Mexico seine gesamten Heers<strong>ch</strong>aren gegen sie aufbiete. Der Graue S<strong>ch</strong>akal fügte hinzu, es<br />

mö<strong>ch</strong>te klüger sein, den Feind vor den Toren des Landes als vor den Toren der Hauptstadt oder<br />

gar innerhalb der Stadtmauer zu verni<strong>ch</strong>ten. Abs<strong>ch</strong>ließend sagte er, vernommen zu haben, dass<br />

der Grüne Stein die beiden entlaufenen Sklaven zurückfordere.<br />

Entrüstung ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> im Ratssaal breit. Nun gab es keinen Widerstreit der Meinungen<br />

mehr. Es ging ni<strong>ch</strong>t mehr um Konkurrenzen zwis<strong>ch</strong>en Cacama und Cuauhtémoc, es ging ni<strong>ch</strong>t<br />

mehr darum, ob man die Fremden in die Stadt einladen solle oder ni<strong>ch</strong>t. Jetzt ging es nur no<strong>ch</strong>


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 161<br />

darum, die würdige Antwort zu finden. Die Verwirrungen, die bis dahin geherrs<strong>ch</strong>t hatten, waren<br />

vergessen. Würde Moctezuma nun seine Ratgeber fragen – alle, ohne Ausnahme, wären dafür,<br />

die Adler und Jaguare auf die Gelbhaarigen loszulassen.<br />

Do<strong>ch</strong> Moctezuma fragte ni<strong>ch</strong>t; er sah die Antwort voraus. Seit Monaten kämpfte er gegen<br />

seine Unfähigkeit, einen Ents<strong>ch</strong>luss zu fassen. Aber selbst die Anmaßung des weißen Heerführers<br />

befreite ihn ni<strong>ch</strong>t von der Lähmung. Er, der eben no<strong>ch</strong> zu den Vors<strong>ch</strong>lägen des Edlen Betrübten<br />

genickt hatte, war aufs Neue dur<strong>ch</strong> die Rede des Grauen S<strong>ch</strong>akals verwirrt. Verlorenen Blickes<br />

sann er vor si<strong>ch</strong> hin und flüsterte dann mit dem Tempelhüter. Na<strong>ch</strong> einer Weile spra<strong>ch</strong> Moctezuma<br />

zur Versammlung, und der Tempelhüter wiederholte laut jedes seiner geflüsterten Worte. Der König<br />

teilte seinen Ents<strong>ch</strong>luss mit.<br />

»O ihr meine Oheime und Väter«, sagte Moctezuma, »wir wollen die beiden Sklaven Unserer<br />

Großmutter, der Göttin mit dem Adlerfuß opfern, deren Fest morgen gefeiert wird. Denn weder<br />

kann i<strong>ch</strong> dem Sohn der Sonne den Willen erfüllen, no<strong>ch</strong> werde i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> von ihm dazu zwingen<br />

lassen. Wenn wir aber die Sklaven geopfert haben und man fragt uns na<strong>ch</strong> ihnen, so können wir<br />

sagen, dass die Sklaven im Himmel der Sonne weilen und mittags in Gestalt von Kolibris zur Erde<br />

fliegen. ›Fangt die Kolibris!‹, werden wir ihnen sagen. ›Fangt sie eu<strong>ch</strong>, die eure Sklaven sind‹,<br />

werden wir sagen, wenn man uns fragt. Do<strong>ch</strong> unsere Krieger werden sie in Cholula abfangen; unsere<br />

Tapferen werden wie die Präriewölfe in den Bergen und S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>ten um Cholula heulen und<br />

verhindern, dass man uns fragt. Denn die Könige Cholulas empfingen zwei Goldtrommeln als Ges<strong>ch</strong>enk<br />

von mir, und sie wollen die Tore der heiligen Stadt öffnen und ein Fest den bärtigen Fremden<br />

rüsten und sie auf ihre Tempel hinaufführen, während unsere Adler und Jaguare auf sie lauern.«<br />

Moctezumas Ents<strong>ch</strong>luss war ein zögerndes Auswei<strong>ch</strong>en. Nur drei wagten Widerspru<strong>ch</strong>: der<br />

Überwinder, der Edle Betrübte und der S<strong>ch</strong>lagende Falke. Do<strong>ch</strong> ihre Einwände kamen vergebens.<br />

Der Rat der Alten hatte keine Stimme mehr, na<strong>ch</strong>dem Moctezuma gespro<strong>ch</strong>en hatte.<br />

Mel<strong>ch</strong>orejo und Julianillo starben am anderen Tag. Die gesamte Einwohners<strong>ch</strong>aft Teno<strong>ch</strong>titláns<br />

nahm an dem Fest der Göttin mit dem Adlerfuß teil und drängte si<strong>ch</strong> in den Gassen. Die<br />

fla<strong>ch</strong>en Dä<strong>ch</strong>er waren von S<strong>ch</strong>aulustigen besetzt, denn in den Höfen des kleinen Tempels der Göttin<br />

blieb wenig Raum; die Ehrenplätze dort waren dem Zornigen Herrn, seinem Hofstaat und seinen<br />

Krüppeln und Narren vorbehalten.<br />

Au<strong>ch</strong> die Herrin von Tula und ihre To<strong>ch</strong>ter Perlendiadem hatten si<strong>ch</strong> einfinden müssen, höfli<strong>ch</strong>,<br />

aber unmissverständli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die Königin Acatlan dazu aufgefordert, weil sie annahm, dass<br />

Witwe und To<strong>ch</strong>ter des Herrn des Fastens den blutigen Opferritus missbilligten. Es war ihre Ra<strong>ch</strong>e<br />

für die verweigerte S<strong>ch</strong>ale Kakao. Die beiden Frauen versteckten ihre Empfindungen hinter einem<br />

versteinerten Lä<strong>ch</strong>eln, als sie mit ansehen mussten, wie Mel<strong>ch</strong>orejo und Julianillo – s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zend<br />

und laut heulend – an Armen und Beinen gebunden, von vier Kriegern mit Pfeils<strong>ch</strong>üssen dur<strong>ch</strong>bohrt<br />

und dann auf den S<strong>ch</strong>eiterhaufen gelegt wurden, wo ihre Körper vor Brandblasen ans<strong>ch</strong>wollen,<br />

si<strong>ch</strong> grässli<strong>ch</strong> aufblähten, bis die immer no<strong>ch</strong> Lebenden von Kne<strong>ch</strong>ten aus dem Feuer gezogen<br />

wurden und ein Priester si<strong>ch</strong> über sie beugte, den armen Opfern die Brust aufs<strong>ch</strong>litzte, das<br />

dampfende Herz herausriss und mit triumphierend erhobenen Armen dem Volk zeigte.<br />

Zwei waren beim Opferfest ni<strong>ch</strong>t dabei. Der Edle Betrübte war na<strong>ch</strong> Tezcoco abgereist, wo<br />

eine Revolte drohte, und der Tempelhüter musste neue Weisungen Moctezumas na<strong>ch</strong> Cholula<br />

bringen. Bevor er si<strong>ch</strong> auf den Weg gema<strong>ch</strong>t hatte, war ein längeres Gesprä<strong>ch</strong> mit Moctezuma<br />

vorausgegangen. Glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der Kronratssitzung hatte der König s<strong>ch</strong>on bereut, dass er den<br />

Überfall in Cholula bes<strong>ch</strong>lossen und angeordnet hatte. Ni<strong>ch</strong>t ohne Mühe gelang es dem erfindungsrei<strong>ch</strong>en<br />

Günstling, die Bedenken des Königs wieder zu zerstreuen und seine Zaghaftigkeit<br />

zu bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigen. Gewiss, meinte er, könne der Ans<strong>ch</strong>lag misslingen, und nur klug sei es, au<strong>ch</strong><br />

diese Mögli<strong>ch</strong>keit ins Auge zu fassen. Darum rate er, auf dem Weg von Cholula zum Pass zwis<strong>ch</strong>en<br />

dem Rau<strong>ch</strong>enden Berg und der Weißen Frau Gruben anzulegen und wie Wolfsfallen mit<br />

eingerammten spitzen Pfählen zu versehen, sodass die Söhne der Sonne, wenn sie mit ihren<br />

Hirs<strong>ch</strong>ungeheuern die Straße benutzen, si<strong>ch</strong> selbst aufspießten. Sollte es ihnen aber gelingen,<br />

au<strong>ch</strong> diese Hindernisse zu überwinden, müsse Moctezuma denno<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t für<strong>ch</strong>ten, ihnen zu begegnen.<br />

Denn er, Tempelhüter, erbiete si<strong>ch</strong>, mit allen Insignien des Herrn der Welt gekleidet, mit<br />

der türkisenen Stirnbinde ges<strong>ch</strong>mückt und von Würdenträgern umringt dem Grünen Stein<br />

entgegenzuziehen, seine Bots<strong>ch</strong>aft anzuhören und ihn mit einer Antwort an den Fürsten des Os-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 162<br />

tens zu entlassen. Die Gelbhaarigen und ihre tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Begleiter würden den fals<strong>ch</strong>en Moctezuma<br />

vom e<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t unters<strong>ch</strong>eiden, da ihm do<strong>ch</strong> Ähnli<strong>ch</strong>keit zu seinem Herrn Moctezuma<br />

na<strong>ch</strong>gesagt werde.<br />

Die Vors<strong>ch</strong>läge fanden den Beifall des Zornigen Herrn. Seit seinem Besu<strong>ch</strong> beim alten Zauberer<br />

Sacusín vermied er es, vor seinem Günstling den Namen der Prinzessin Perlendiadem zu<br />

nennen. Jetzt sagte er zum Tempelhüter: »O treuer Berater, du listiger! Gelingt es dir, so wird die<br />

Göttin der Blumen dir und meiner königli<strong>ch</strong>en Ni<strong>ch</strong>te, der Prinzessin Perlendiadem, das Ehebett<br />

weihen!«<br />

*<br />

Im s<strong>ch</strong>önen Chapultepec führte Prinzessin Maisblume ein unglückli<strong>ch</strong>es Leben. Sie vera<strong>ch</strong>tete<br />

ihren Gatten und Bruder, den Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmten. Inzestuöse Ges<strong>ch</strong>wisterehen galten in der<br />

aztekis<strong>ch</strong>en Führungss<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>t als normales Instrument politis<strong>ch</strong>en Ma<strong>ch</strong>terhalts, aber Maisblume<br />

war die Ehe mit dem missratenen Sohn Moctezumas, ihres Vaters, aufgezwungen worden. Sie<br />

hatte keine getrocknete Beutelratte (die Geburten förderte), wie andere junge Frauen unter ihrem<br />

Lager; Maisblume wollte ihrem Gatten kein Kind gebären. Einmal hatte sie si<strong>ch</strong> für kurze Zeit<br />

s<strong>ch</strong>wanger gefühlt. Do<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> wenigen Tagen s<strong>ch</strong>on war sie dur<strong>ch</strong> eine erfahrene und vers<strong>ch</strong>wiegene<br />

weise Frau (die sie ohne Wissen des Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmten in ihr S<strong>ch</strong>loss bestellt hatte)<br />

von der verhassten Bürde befreit worden. Sie versagte si<strong>ch</strong> ihrem Gatten, und es erboste sie, dass<br />

sie eines Tages in der Speise, die ihr gerei<strong>ch</strong>t wurde, eine zerhackte kleine Macas<strong>ch</strong>lange fand,<br />

ein ni<strong>ch</strong>t selten angewandter Liebeszauber. Weder von ihr no<strong>ch</strong> von einer anderen Frau solle er je<br />

ein Kind haben!<br />

Der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte stürzte si<strong>ch</strong> in wilde Vergnügungen, zügelloser no<strong>ch</strong> als vor der<br />

Ehe. Sein nasenloser Freund Purpurkrani<strong>ch</strong> hatte ihm anfangs no<strong>ch</strong> die Dirnen, Tanzmäd<strong>ch</strong>en und<br />

Flötenspieler zu nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Gelagen in das Lusts<strong>ch</strong>loss gebra<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong> seit einiger Zeit war er<br />

vers<strong>ch</strong>wunden, und der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte musste die Hilfe weniger diskreter Handlanger in<br />

Anspru<strong>ch</strong> nehmen. Der Lärm der Orgien war weit über den S<strong>ch</strong>ilfsee zu hören.<br />

*<br />

Eine Weile s<strong>ch</strong>aute Maisblume grollend dem Treiben zu. Dann lehnte sie si<strong>ch</strong> gegen die Auss<strong>ch</strong>weifungen<br />

in ihrem S<strong>ch</strong>loss Chapultepec auf. Eine diskrete, s<strong>ch</strong>öne und kluge Maitresse hätte<br />

sie dem Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmten no<strong>ch</strong> zugestanden, das s<strong>ch</strong>amlose Treiben des Prinzen mit<br />

seinen Huren jedo<strong>ch</strong> empfand sie als Beleidigung ihres gemeinsamen königli<strong>ch</strong>en Blutes! Da zog<br />

er na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán in den Großen Palast und setzte die Gelage dort fort. Keiner der<br />

Tecpanbewohner, keiner der vielen Höflinge bra<strong>ch</strong>te den Mut auf, si<strong>ch</strong> bei Moctezuma über die<br />

Exzesse des Königssohns zu beklagen. Der Palast war so weitläufig, dass Moctezuma von den<br />

anstoßerregenden Vergnügungen ni<strong>ch</strong>ts vernahm; die Baumkronen des S<strong>ch</strong>lossparks raus<strong>ch</strong>ten,<br />

und die Springbrunnen pläts<strong>ch</strong>erten zwis<strong>ch</strong>en dem von ihm bewohnten Palastteil und den entfernten<br />

Gemä<strong>ch</strong>ern des Prinzen.<br />

Maisblume war es ni<strong>ch</strong>t verborgen geblieben, wohin ihr Gemahl die Trinkgelage verlegt hatte<br />

und dass er si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>amlos an den Mägden des Königs vergriff. Wenn Moctezuma diesen<br />

Ärgernissen kein Ende bereitete, so wollte sie es tun. Sie bes<strong>ch</strong>loss, ihren Gatten zu überras<strong>ch</strong>en.<br />

In einer der folgenden Nä<strong>ch</strong>te ließ sie si<strong>ch</strong> in ihrer Sänfte in die Stadt und in den Großen Palast<br />

tragen. Do<strong>ch</strong> die Begegnung mit dem Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmten im blumenges<strong>ch</strong>mückten Papageiensaal<br />

verlief anders, als sie si<strong>ch</strong> ausgemalt hatte. Viellei<strong>ch</strong>t hatte er einen Spion in<br />

Chapultepec, der ihn re<strong>ch</strong>tzeitig von der Absi<strong>ch</strong>t seiner Gemahlin informierte, jedenfalls war der<br />

Prinz an diesem Abend entgegen seiner Gewohnheit von besser beleumdeten Ze<strong>ch</strong>genossen umgeben.<br />

Beim Eintritt Maisblumes verstummte die Runde, und alle starrten die Prinzessin an, nur<br />

die Tanzmäd<strong>ch</strong>en, Dirnen und Mägde steckten tus<strong>ch</strong>elnd die Köpfe zusammen. Au<strong>ch</strong> Maisblume<br />

war überras<strong>ch</strong>t, unter vielen fremden Gesi<strong>ch</strong>tern au<strong>ch</strong> die wohl bekannten Züge des Dur<strong>ch</strong>-<br />

Wohlgestalt-Glänzenden zu erblicken, des jungen Königs von Tacuba, und das weinselige Antlitz<br />

des Träumers, und ihr blieb ni<strong>ch</strong>ts anderes übrig, als freundli<strong>ch</strong> zu lä<strong>ch</strong>eln und das Gesi<strong>ch</strong>t zu


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 163<br />

wahren.<br />

»Setzt Eu<strong>ch</strong> zu uns, hohe Prinzessin«, sagte der König von Tacuba. »Holde Frauen vers<strong>ch</strong>önern<br />

die Stunden.«<br />

Und der Träumer fügte hinzu: »Ni<strong>ch</strong>t nur die Stunde vers<strong>ch</strong>önern sie, sondern unser Leben!«<br />

Sie rückten zusammen, um Platz für Maisblume zu ma<strong>ch</strong>en. Aber die Prinzessin jedo<strong>ch</strong><br />

ma<strong>ch</strong>te keine Anstalten, in der Runde Platz zu nehmen. Der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte rief la<strong>ch</strong>end,<br />

seine Gattin käme ihn auszus<strong>ch</strong>elten.<br />

»Weil sie selber kein Pulque trinkt, mö<strong>ch</strong>te sie's au<strong>ch</strong> uns ni<strong>ch</strong>t gönnen«, rief er und erhob<br />

si<strong>ch</strong>.<br />

Die Gesi<strong>ch</strong>ter der Gäste wandten si<strong>ch</strong> erwartungsvoll der Prinzessin zu, wel<strong>ch</strong>e Antwort sie<br />

wohl geben werde. Und sie gab die Antwort, die von ihr erwartet wurde: »I<strong>ch</strong> vertrage mehr Pulque<br />

als der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte«, rief sie selbstbewusst.<br />

Da bestanden die Gäste darauf, das müsse bewiesen werden. Man ließ Pulque bringen,<br />

große Karaffen wurden verlangt, und eilig s<strong>ch</strong>leppten zwei Sklaven einen riesigen Krug mit dem<br />

Fassungsvermögen einer Fanega heran, dazu zwei Trinkgläser. Einer der Sklaven s<strong>ch</strong>öpfte, der<br />

andere rei<strong>ch</strong>te sie Prinzessin Maisblume und dem Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmten. Abwe<strong>ch</strong>selnd mussten<br />

sie die Gläser in einem Zug leeren. S<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> dem dritten Glas begann Maisblume den<br />

Oberkörper zu wiegen und zu kreisen, ohne si<strong>ch</strong> von der Stelle zu rühren. Der Prinz trank wortlos,<br />

stierte vor si<strong>ch</strong> hin, blieb aber standfest. Na<strong>ch</strong> dem vierten Glas s<strong>ch</strong>wankte sie langsam hin und<br />

her, la<strong>ch</strong>te und hielt eine Hand albern an die Wange. Der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte starrte weiterhin<br />

stumpf. Es war fast still im Saal. Die Gäste, die anfangs no<strong>ch</strong> launige Bemerkungen gema<strong>ch</strong>t hatten,<br />

verfolgten das Duell nun mit spra<strong>ch</strong>losem Erstaunen.<br />

Au<strong>ch</strong> das fünfte Glas überstanden die beiden, do<strong>ch</strong> als der Sklave Maisblume das se<strong>ch</strong>ste<br />

Glas rei<strong>ch</strong>te, sank der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte mit einem lauten Seufzer auf den Steinboden.<br />

Die Menge spendete Beifall. Prinzessin Maisblume hatte ihre Behauptung bewiesen, aber<br />

au<strong>ch</strong> sie war betrunken und redete wirres Zeug. Die Sandalenbinderinnen und Tanzmäd<strong>ch</strong>en<br />

kreis<strong>ch</strong>ten vor Entzücken über die liebreizende, die adelige, die betrunkene Königsto<strong>ch</strong>ter!<br />

Da platzte mitten in das Gelä<strong>ch</strong>ter ein ungeladener Gast. Der S<strong>ch</strong>lagende Falke, dur<strong>ch</strong> das<br />

Flötenspiel und Gekreis<strong>ch</strong> aus dem S<strong>ch</strong>laf geweckt, wollte dem lärmenden Königssohn Vorhaltungen<br />

ma<strong>ch</strong>en, dass er si<strong>ch</strong> am Frauenhaus seines Vaters vergriff. Im S<strong>ch</strong>immer der flackernden<br />

Kienfackeln sah er Maisblume. Betrunken saß sie jetzt unter Trunkenen, erhob si<strong>ch</strong> jedo<strong>ch</strong> und<br />

kam s<strong>ch</strong>wankend auf ihn zu.<br />

»Bring mi<strong>ch</strong> fort von hier«, sagte sie kaum hörbar.<br />

Der S<strong>ch</strong>lagende Falke nahm sie beim Arm und führte sie hinaus.<br />

Auf seinen Befehl bereiteten Sklaven in einem der vielen leer stehenden S<strong>ch</strong>lafräume ras<strong>ch</strong><br />

ein behagli<strong>ch</strong>es Bett.<br />

Maisblume s<strong>ch</strong>ämte si<strong>ch</strong>, wollte ihm erklären. »O starker Held...«, begann sie, do<strong>ch</strong> der<br />

S<strong>ch</strong>lagende Falke unterbra<strong>ch</strong> sie ruhig.<br />

»S<strong>ch</strong>laf erst einmal, wir können später reden.«<br />

Die Prinzessin nickte und ließ si<strong>ch</strong> aufs Bett fallen. Er rief na<strong>ch</strong> den Mägden; sie sollen der<br />

Prinzessin behilfli<strong>ch</strong> sein. Dann wollte er si<strong>ch</strong> entfernen. Sein Blick streifte Maisblume no<strong>ch</strong> einmal.<br />

Er sah, dass ihre Blicke auf ihn geri<strong>ch</strong>tet waren.<br />

»Cuauhtémoc?«<br />

»Ja?«<br />

»Spät, allzu spät hat die Blume der Liebesgöttin mi<strong>ch</strong> berührt«, sagte sie.<br />

Da verließ er ras<strong>ch</strong> den Saal.<br />

*<br />

Als Maisblume tags darauf ihren Raus<strong>ch</strong> ausges<strong>ch</strong>lafen hatte, s<strong>ch</strong>ämte sie si<strong>ch</strong>. Sie hatte ni<strong>ch</strong>t nur<br />

ihren guten Ruf vor den Männern und deren Liebesdienerinnen aufs Spiel gesetzt, sie hatte au<strong>ch</strong><br />

die Götter und S<strong>ch</strong>utzgeister des Pulque beleidigt. Nun wollte sie mit einem Bußgang in den Tempel<br />

der Hasengötter Abbitte leisten. Das aber war in Teno<strong>ch</strong>titlán nur mögli<strong>ch</strong>, wenn Moctezuma<br />

zustimmte. So bes<strong>ch</strong>loss sie na<strong>ch</strong> einigem Zaudern, ihren Vater darum zu bitten.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 164<br />

In ihrer Kolibrisänfte ließ Maisblume si<strong>ch</strong> zum Zornigen Herrn tragen. Do<strong>ch</strong> weder ihre<br />

S<strong>ch</strong>önheit no<strong>ch</strong> ihre Worte hatten diesmal Wirkung auf ihn; er ließ si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t überreden. Entsetzt<br />

wehrte er ab, sein liebstes Kindes in Nacktheit den Blicken des Volkes ausgesetzt zu wissen, wie<br />

es beim Bußgang zu den Hasengöttern vorges<strong>ch</strong>rieben ist. Um den Blicken zu wehren, erwiderte<br />

Maisblume, erbitte sie ja seinen Beistand. Sie könnte es beispielsweise heimli<strong>ch</strong> und des Na<strong>ch</strong>ts<br />

tun, do<strong>ch</strong> Moctezuma wollte ni<strong>ch</strong>ts davon hören und ließ es ni<strong>ch</strong>t zu. Im Übrigen habe er andere<br />

Sorgen...<br />

Enttäus<strong>ch</strong>t verließ Maisblume die Räume des Königs. Draußen wanderte sie dur<strong>ch</strong> endlose<br />

Korridore, die von anderen endlosen Korridoren gekreuzt wurden, vorüber an unzähligen Toren<br />

und Türen und vorbei an lanzenbewehrten Wä<strong>ch</strong>tern, die überall standen und die weiten Treppenhäuser<br />

bewa<strong>ch</strong>ten. Diener und Mägde hus<strong>ch</strong>ten umher, und na<strong>ch</strong> etli<strong>ch</strong>em Treppauf und Treppab<br />

und vielen Abbiegungen wusste sie ni<strong>ch</strong>t mehr, wo im Palast sie si<strong>ch</strong> befand. Sie kam dur<strong>ch</strong> Säle<br />

und Korridore, die sie nie gesehen hatte. Ahnungslos öffnete sie eine Tür; beim Kienfackels<strong>ch</strong>ein<br />

starrte sie dem S<strong>ch</strong>lagenden Falken ers<strong>ch</strong>rocken in die Augen. Er saß dort, als hätte er sie erwartet.<br />

Ras<strong>ch</strong> wollte sie die Tür wieder s<strong>ch</strong>ließen, do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on war er bei ihr und führte sie herein.<br />

Sie standen si<strong>ch</strong> nah gegenüber. Maisblume s<strong>ch</strong>ämte si<strong>ch</strong> wegen des Ze<strong>ch</strong>gelages. Sie war<br />

dem S<strong>ch</strong>lagenden Falken einst als Frau verspro<strong>ch</strong>en worden, und er war es – das wusste sie nun<br />

–, den sie wirkli<strong>ch</strong> liebte.<br />

Sie wollte ihm sagen, warum sie dorthin gegangen war, warum alles anders gekommen war,<br />

als sie vorausbeda<strong>ch</strong>t hatte. Do<strong>ch</strong> er kam ihr zuvor.<br />

»Au<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> hat die Blume der Liebesgöttin berührt«, sagte er leise.<br />

*<br />

Erst gegen Morgen war er einges<strong>ch</strong>lafen. Sie lag wa<strong>ch</strong> und strei<strong>ch</strong>elte ihm Stirn und Haar. Ein<br />

leises, fernes Geräus<strong>ch</strong> ließ sie aufhor<strong>ch</strong>en. Ihr war, als sähe sie im Dämmerli<strong>ch</strong>t, dass ein Kopf<br />

si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> den Korallenvorhang vor der Türöffnung s<strong>ch</strong>ob. Nur dieser Kopf war zu sehen; körperlos<br />

s<strong>ch</strong>ien er dort zu hängen, glei<strong>ch</strong>sam in der Luft s<strong>ch</strong>webend. Dem Gesi<strong>ch</strong>t aber fehlte die Nase.<br />

Und als ihr zum Bewusstsein kam, dass es Xoctemecl sei, der sie hier auf dem Lager des S<strong>ch</strong>lagenden<br />

Falkens erblickte, stieß sie ihren Liebsten an, so dass Cuauhtémoc erwa<strong>ch</strong>te. Do<strong>ch</strong> auf<br />

seine Frage antwortete sie nur traurig, dass sie jetzt Abs<strong>ch</strong>ied nehmen müsse. Sie war selbst ni<strong>ch</strong>t<br />

si<strong>ch</strong>er, ob sie bloß ein Traumgesi<strong>ch</strong>t erblickt hatte.<br />

*<br />

Am Vormittag wurde Cuauhtémoc zu Moctezuma gerufen; er solle si<strong>ch</strong> sofort in den Saal der Bots<strong>ch</strong>aften<br />

begeben. Missgestimmt trat der Prinz vor Moctezuma hin, küsste ihm Füße und Hände<br />

und warf Weihrau<strong>ch</strong>körner in eine Räu<strong>ch</strong>erpfanne. Dann, mit über der Brust gekreuzten Armen,<br />

erwartete er die Befehle des Herrn der Herren.<br />

Der König s<strong>ch</strong>ickte sein Gefolge aus dem Saal. Er wollte ohne Zeugen mit seinem Neffen<br />

reden. Die Ents<strong>ch</strong>eidung war ni<strong>ch</strong>t länger hinauszus<strong>ch</strong>ieben, zu ungeduldig war Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis<br />

Kne<strong>ch</strong>t, zu groß die Fur<strong>ch</strong>t Moctezumas vor einer unsi<strong>ch</strong>eren Zukunft. Die plötzli<strong>ch</strong>e Abreise des<br />

Edlen Betrübten na<strong>ch</strong> Tezcoco ma<strong>ch</strong>te ihm das Gesprä<strong>ch</strong> lei<strong>ch</strong>ter. Nur no<strong>ch</strong> des einen Widerstand<br />

war zu bre<strong>ch</strong>en.<br />

Er erzählte von seinem Besu<strong>ch</strong> im S<strong>ch</strong>langenberg und vom Baumorakel. Er bat ni<strong>ch</strong>t und befahl<br />

ni<strong>ch</strong>t; er sagte nur, dass es sein Wuns<strong>ch</strong> sei, den Sternhimmel am Huitzilopo<strong>ch</strong>tliturm mit einer<br />

S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>t von Edelgestein und Edelmetallen zu überziehen.<br />

»Die Tribute aller Provinzen rei<strong>ch</strong>en dazu ni<strong>ch</strong>t aus«, sagte der S<strong>ch</strong>lagende Falke.<br />

»Die S<strong>ch</strong>atzhäuser Tezcocos sind no<strong>ch</strong> unberührt«, spra<strong>ch</strong> Moctezuma mit unstet flackernden<br />

Augen.<br />

Erregt antwortete der S<strong>ch</strong>lagende Falke: »Der König von Tezcoco setzte einen Flu<strong>ch</strong> zum<br />

Hüter der S<strong>ch</strong>atzhäuser ein. Der Flu<strong>ch</strong> wird den verni<strong>ch</strong>ten, der die Kleinode der Ahnen antastet,<br />

ehe Mexico in Gefahr s<strong>ch</strong>webt!«<br />

»Mexico s<strong>ch</strong>webt in Gefahr«, murmelte Moctezuma.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 165<br />

»Nein. No<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t! Aber bald naht viellei<strong>ch</strong>t die Zeit; und wenn sie da ist, wollen wir mit Gold<br />

und Grünsteinen Waffen kaufen, die Juwele in Speere und Wurfbretter, Pfeile und Pfeilspitzen,<br />

S<strong>ch</strong>ilde und Säges<strong>ch</strong>werter verwandeln, um die Gefahr zu bannen.«<br />

»O großer Krieger, du Tapferer«, sagte Moctezuma mit verletzender Höfli<strong>ch</strong>keit, »ist das<br />

dein Mund, der spri<strong>ch</strong>t: ›Der beste Bes<strong>ch</strong>ützer des Hauses der Tribute bin i<strong>ch</strong>!‹? Dem Hund<br />

glei<strong>ch</strong>st du, der eines Kno<strong>ch</strong>ens wegen seinem Herrn die Zähne zeigt! Aber der S<strong>ch</strong>atz von<br />

Tezcoco hat keinen Hüter!«<br />

»Er hat die Ehrli<strong>ch</strong>keit Mexicos zur Hüterin«, rief der S<strong>ch</strong>lagende Falke.<br />

Von maßloser Wut gepackt s<strong>ch</strong>rie Moctezuma: »Bist du die Ehrli<strong>ch</strong>keit Mexicos? Wirfst du<br />

mir Unehrli<strong>ch</strong>keit vor? Hebe di<strong>ch</strong> fort von hier! Für deine Würde werde i<strong>ch</strong> Würdigere finden! Fort!<br />

Geh mir aus den Augen! I<strong>ch</strong> verbanne di<strong>ch</strong>! Und wenn du ni<strong>ch</strong>t bis morgen wie ein Vogel entfliegen<br />

oder di<strong>ch</strong> wie eine S<strong>ch</strong>lange in die Erde verkrie<strong>ch</strong>en kannst, so stirbst du einen bösen Tod!«<br />

Cuauhtémoc warf einen verä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Blick auf den König und entfernte si<strong>ch</strong> ohne weitere<br />

Antwort aus dem Saal der Bots<strong>ch</strong>aften. Nur eine Stunde später s<strong>ch</strong>ritt der Gefleckte Berglöwe hinter<br />

einer von vier tlamamas getragenen Pra<strong>ch</strong>tsänfte her. Königli<strong>ch</strong> und stolz ließ si<strong>ch</strong> Cuauhtémoc<br />

aus dem Palast tragen, der ihm nun zu betreten verwehrt war. Mit allen Insignien seines fürstli<strong>ch</strong>en<br />

Ranges begab si<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>lagende Falke na<strong>ch</strong> Chapultepec, um von Prinzessin Maisblume Abs<strong>ch</strong>ied<br />

zu nehmen. Vor Ablauf der eintägigen Frist, die Moctezuma ihm setzte, hatte er keine Verfolgung<br />

zu befür<strong>ch</strong>ten. Am Gartentor des S<strong>ch</strong>losses stieg er aus und s<strong>ch</strong>ickte die tlamamas in den<br />

Großen Tecpan zurück. Der Gefleckte Berglöwe bekam den Auftrag, ins Haus des<br />

Obsidianarbeiters zu gehen und Felsens<strong>ch</strong>lange die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t von seiner Verbannung zu überbringen.<br />

Dann stieg er die dunkelrot polierte Steintreppe von Gartenterrasse zu Gartenterrasse empor<br />

und näherte si<strong>ch</strong> dem obersten Garten mit dem weißen S<strong>ch</strong>löss<strong>ch</strong>en und dem kleinen Ballspielhaus.<br />

Da hörte er aus der Grotte Prinzessin Maisblume ein Lied singen.<br />

Do<strong>ch</strong> statt in die s<strong>ch</strong>attige Grotte zu gehen, wandte Cuauhtémoc si<strong>ch</strong> dem Ballspielhaus zu.<br />

Er ließ Maisblume dur<strong>ch</strong> eine Sklavin melden, dass er sie vor dem Tor erwarte. Als sie herbeieilte,<br />

sagte er ihr mit wenigen Worten, warum er gekommen war. Maisblume wollte Fragen stellen, als<br />

plötzli<strong>ch</strong> mit zis<strong>ch</strong>endem Geräus<strong>ch</strong> ein Pfeil von der Lagune her vor ihnen in den Rasen sauste. An<br />

seinem Ende befand si<strong>ch</strong> ein gefaltetes Blatt, darauf drei hastig gemalte Worte: »Xoctemecl, Moctezuma,<br />

fliehe!«<br />

»Felsens<strong>ch</strong>lange!«, sagte er. »Er warnt mi<strong>ch</strong>! S<strong>ch</strong>ade, dass dein Vater so treulos ist.« Ein<br />

hastiger Abs<strong>ch</strong>ied, ein s<strong>ch</strong>neller Kuss, s<strong>ch</strong>on war der S<strong>ch</strong>lagende Falke im Gebüs<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>wunden.<br />

Am Seeufer wurde er von Felsens<strong>ch</strong>lange und dem Gefleckten Berglöwen erwartet und wortlos<br />

ins verbergende Röhri<strong>ch</strong>t gezogen. Alle drei bestiegen ein bereitliegendes Kanu und ruderten<br />

auf die Lagune hinaus. Erst im östli<strong>ch</strong>en <strong>Teil</strong> des S<strong>ch</strong>ilfsees fühlten sie si<strong>ch</strong> vor den Verfolgern<br />

si<strong>ch</strong>er, ließen die Ruder sinken und das Boot treiben. Wohin sollten sie si<strong>ch</strong> wenden? Der S<strong>ch</strong>lagende<br />

Falke, au<strong>ch</strong> Felsens<strong>ch</strong>lange wollten mögli<strong>ch</strong>st in der Nähe Mexicos bleiben; der Anmars<strong>ch</strong><br />

der weißen Götter kündigte große Ereignisse an. Im Augenblick aber hätten sie keine Aussi<strong>ch</strong>t, in<br />

der Wasserstadt einen Unters<strong>ch</strong>lupf zu su<strong>ch</strong>en, der den Häs<strong>ch</strong>ern unbekannt sei. Au<strong>ch</strong> die kleineren<br />

Küstenorte am See waren ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er, weil Moctezuma seine Spione in jedem Fis<strong>ch</strong>erdorf<br />

hatte. Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange s<strong>ch</strong>lug bestimmte Laguneninseln vor, do<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>lagende Falke<br />

meinte, für eine Na<strong>ch</strong>t mo<strong>ch</strong>te die eine oder andere Insel zwar Versteck bieten, ni<strong>ch</strong>t aber für längere<br />

Zeit, da zu viele Fis<strong>ch</strong>er und Krabbenfänger die Inseln besu<strong>ch</strong>ten, um dort Netze zu flicken<br />

oder Reusen zu reparieren<br />

Der Gefleckte Berglöwe hatte bis dahin respektvoll ges<strong>ch</strong>wiegen; er fragte, ob er reden dürfe<br />

und sagte, er kenne eine Grabkammer, die si<strong>ch</strong> als Versteck eignen möge. Sie liege am nordwestli<strong>ch</strong>en<br />

<strong>Teil</strong> des Sees, ihr Zugang sei von hohem Röhri<strong>ch</strong>t verdeckt; wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> ein toltekis<strong>ch</strong>es<br />

oder tepanekis<strong>ch</strong>es Totenhaus. Er habe die Gruft kürzli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Zufall ausfindig gema<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong> da<br />

ihm keine Fackel zur Hand war, habe er ni<strong>ch</strong>t in das finstere Gewölbe eindringen können.<br />

»Wir wollen es uns ansehen«, sagte der S<strong>ch</strong>lagende Falke, und Felsens<strong>ch</strong>lange meinte:<br />

»Gut, dass i<strong>ch</strong> immer einen Feuerbohrer und ein Bündel Kienfackeln im Boot habe«, meinte<br />

er. Der Gefleckte Berglöwe wurde angewiesen, zur Grabkammer zu rudern.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 166<br />

*<br />

Im Norden des Dammes von Tepeyacac war der See vers<strong>ch</strong>lammt und vers<strong>ch</strong>ilft. Der Seeboden<br />

hatte si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> vulkanis<strong>ch</strong>e Tätigkeiten gehoben, zahllose kleine und kleinste Inseln waren entstanden,<br />

von üppiger Vegetation überwu<strong>ch</strong>ert, die an Aussehen und Größe s<strong>ch</strong>wimmenden Gärten<br />

gli<strong>ch</strong>en. Dieser <strong>Teil</strong> der Lagune wurde von Fis<strong>ch</strong>ern wegen des zähen S<strong>ch</strong>lamms gemieden. Nur<br />

Entenjäger wagten si<strong>ch</strong> zuweilen in das Dicki<strong>ch</strong>t, wo sie – bis an den Hals im Wasser stehend und<br />

den Kopf mit S<strong>ch</strong>ilfblättern getarnt – die s<strong>ch</strong>wimmenden Wasservögel mit den Händen fingen. Unzählige<br />

Blauflügelenten, gelbe Baumenten, Rotkappenibisse, S<strong>ch</strong>langenhalsvögel, blaue Reiher,<br />

weiße Si<strong>ch</strong>ler, Moors<strong>ch</strong>nepfen, rosa Löffelreiher und Krani<strong>ch</strong>e flogen und s<strong>ch</strong>wammen, tau<strong>ch</strong>ten<br />

und nisteten, kreis<strong>ch</strong>ten und quakten, balzten und zankten si<strong>ch</strong> hier in diesem Röhri<strong>ch</strong>tparadies.<br />

Es war bereits Abend geworden; der Gefleckte Berglöwe steuerte zwis<strong>ch</strong>en den mit Kolbenrohr,<br />

S<strong>ch</strong>ildkrötenblumen und kleinen Dornakazien bewa<strong>ch</strong>senen Inseln hindur<strong>ch</strong>. Er war erst einmal<br />

hier hindur<strong>ch</strong>gerudert, do<strong>ch</strong> dank seinem guten Ortssinn fand er den Ort, den er su<strong>ch</strong>te, problemlos<br />

wieder. Na<strong>ch</strong> einiger Zeit legte er an einer der größeren Inseln an.<br />

»Hier ist der Eingang«, sagte er.<br />

Aber erst na<strong>ch</strong>dem sie an Land gestiegen und ein paar S<strong>ch</strong>ritte gegangen waren, erkannten<br />

die zwei Begleiter des Gefleckten Berglöwen das Mauerwerk, das si<strong>ch</strong> kaum fußho<strong>ch</strong> erhob, von<br />

S<strong>ch</strong>ilf, S<strong>ch</strong>lingpflanzen und Farnkräutern überwa<strong>ch</strong>sen. Der Gefleckte Berglöwe stemmte ohne<br />

größere Kraftanstrengung einen bemoosten fla<strong>ch</strong>en Stein zur Seite; dahinter wurde ein abgestuft<br />

hinabführender S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>t erkennbar.<br />

Jeder Li<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>ein konnte vom Seeufer aus gesehen werden. Sie nahmen Fackeln und Feuerbohrer<br />

auf und tasteten si<strong>ch</strong> die enge und finstere Treppe hinunter, waren bald von s<strong>ch</strong>warzer<br />

Na<strong>ch</strong>t umfangen. Modergeru<strong>ch</strong> empfing sie, und irgendetwas hus<strong>ch</strong>te an ihnen vorbei – ein Marder<br />

oder ein Iltis –, und eine Wolke von Fledermäusen flü<strong>ch</strong>tete ins Freie. Der s<strong>ch</strong>räg in die Tiefe<br />

führende S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>ien lang und feu<strong>ch</strong>t zu sein. Do<strong>ch</strong> je weiter sie vordrangen, umso mehr wi<strong>ch</strong><br />

die muffige Feu<strong>ch</strong>tigkeit einer erdig-staubtrockenen Kälte. Langsam tasteten sie si<strong>ch</strong> vorwärts. Als<br />

die drei ebenen Boden unter den Füßen fühlten, war die von Ferne gerade no<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>tbare<br />

S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>töffnung nur no<strong>ch</strong> ein kleiner, heller, viereckiger Punkt. Sie konnten einander ni<strong>ch</strong>t sehen<br />

und von der Kammer, in der sie si<strong>ch</strong> befanden, ni<strong>ch</strong>ts erkennen.<br />

»Wir wollen Li<strong>ch</strong>t ma<strong>ch</strong>en«, sagte Felsens<strong>ch</strong>lange. »Gib mir den Feuerbohrer.« Er langte mit<br />

einer Hand in die graue Dunkelheit hinein und berührte kalten, staubigen Stoff.<br />

»Cuauhtémoc? Bist du es?«, fragte er leise.<br />

»Nein«, ertönte die Antwort aus einer anderen Ecke der Totenkammer.<br />

»Au<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> bin es ni<strong>ch</strong>t«, murmelte der Gefleckte Berglöwe hinter ihm.<br />

»Hier steht ein Mann neben mir«, flüsterte Felsens<strong>ch</strong>lange. Er ließ den Mantel fahren und<br />

tastete si<strong>ch</strong> weiter vor.<br />

»Hier steht no<strong>ch</strong> ein Mens<strong>ch</strong>... Und hier steht ein Dritter.«<br />

Der Gefleckte Berglöwe rieb Feuer an.<br />

Als das Flämm<strong>ch</strong>en, aus dem Holzmehl aufzüngelnd, das Kienfackelbündel zu belecken begann,<br />

lief tänzelnd ein rötli<strong>ch</strong> blasser Li<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>ein in sämtli<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tungen des Raumes und bevölkerte<br />

ihn. Da saßen und standen fünfzig Gestalten oder mehr! Die Toten s<strong>ch</strong>ienen in Träumereien<br />

versunken vor si<strong>ch</strong> hinzublicken; in müder Haltung, den Kopf auf die Brust gesenkt oder zur Decke<br />

emporgeri<strong>ch</strong>tet, s<strong>ch</strong>enkten sie den Eindringlingen keine Bea<strong>ch</strong>tung. Erst na<strong>ch</strong>dem die Fackeln<br />

aufgeflammt waren, verdrängte helles Li<strong>ch</strong>t die staubgraue Dunkelheit und zeigte farbenprä<strong>ch</strong>tige<br />

Stoffmuster und blitzende Kleinodien, mit denen die Körper der Mumien ges<strong>ch</strong>mückt waren. Nur<br />

die Gesi<strong>ch</strong>ter der hier Versammelten starrten ins Leere. Es waren Gekrönte des vor Jahrhunderten<br />

unter S<strong>ch</strong>utt und Trümmern versunkenen Tepanekenrei<strong>ch</strong>es, die hier in altertümli<strong>ch</strong>em Fürstenornat<br />

thronten oder einander gegenüberstanden, an die beiden Längswände der Katakombe angelehnt<br />

– in s<strong>ch</strong>ier endloser Reihe: gerade aufre<strong>ch</strong>t die einen, s<strong>ch</strong>ief und s<strong>ch</strong>räg die anderen.<br />

Fleis<strong>ch</strong>, Haar und Haut zeigten keinerlei Verwesung; do<strong>ch</strong> die Haut ihrer Hände und Köpfe wies<br />

Risse auf wie altes und trockenes, von der Zeit zernagtes Leder. Eingesunken waren die Augen<br />

und Nasen, weit geöffnet die Münder mit bleckenden Zähnen, was ihnen ein Aussehen verlieh, als<br />

sängen sie gemeinsam ein Lied. Nur einem der Thronenden war der Halswirbel gebro<strong>ch</strong>en und die


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 167<br />

Halshaut gerissen; sein Kopf war ihm auf den S<strong>ch</strong>oß gefallen und lag grinsend zwis<strong>ch</strong>en den starr<br />

ausgestreckten Armen.<br />

Auf Felsens<strong>ch</strong>lange und den S<strong>ch</strong>lagenden Falken wirkte die Versammlung der Toten ebenso<br />

unerwartet wie ungewohnt. Der aztekis<strong>ch</strong>e Gräberkult s<strong>ch</strong>rieb vor, dass Könige und Prinzen – sofern<br />

man sie ni<strong>ch</strong>t auf S<strong>ch</strong>eiterhaufen verbrannte – in Grabkammern einzeln beigesetzt, mit weißen<br />

Totengewändern und einer Gesi<strong>ch</strong>tsmaske verdeckt und dann eingemauert werden mussten.<br />

Dass frühere Völker andere Bestattungsbräu<strong>ch</strong>e hatten, war ihnen unbekannt. Warum die Toten<br />

hier versammelt waren, in sol<strong>ch</strong>er Anzahl und meist aufre<strong>ch</strong>t stehend, blieb ebenso rätselhaft wie<br />

ihre verhältnismäßige Unversehrtheit. Sie konnten ni<strong>ch</strong>t wissen, dass das Wunder dur<strong>ch</strong> vulkanis<strong>ch</strong>e<br />

Gase bewirkt wurde, die aus der Seetiefe emporstiegen und die Lei<strong>ch</strong>en mumifizierten und<br />

vor Verwesung bewahrten.<br />

Da Felsens<strong>ch</strong>lange und der S<strong>ch</strong>lagende Falke lange kein Wort fanden und stumm umherblickten,<br />

wagte es der Gefleckte Berglöwe als Erster, das lastende S<strong>ch</strong>weigen zu bre<strong>ch</strong>en. Er bemerkte:<br />

»Der Letzte der Toten – dort am Ende der Kammer – ist kein Toter!«<br />

Die Vermutung, ein Lebender leiste diesen fünfzig Toten Gesells<strong>ch</strong>aft, war genauso sonderbar<br />

wie ihr erster Anblick beim Entzünden der Fackel. Pfeils<strong>ch</strong>nell flogen die Blicke der Prinzen in<br />

die angegebene Ri<strong>ch</strong>tung. Dann aber s<strong>ch</strong>üttelte Cuauhtémoc den Kopf.<br />

»Warum glaubst du das?«, fragte er den Sklaven.<br />

»O edler Herr, er hat si<strong>ch</strong> bewegt!«<br />

»Das Li<strong>ch</strong>t bewegt si<strong>ch</strong>. Die alle dort haben tote Augen!«<br />

»O edler Herr, blind ist jener letzte au<strong>ch</strong> – do<strong>ch</strong> er lebt!«<br />

Cuauhtémoc entriss dem Sklaven die Fackel und ging s<strong>ch</strong>nell dur<strong>ch</strong> die Gasse der vertrockneten<br />

Leiber. Felsens<strong>ch</strong>lange und der Gefleckte Berglöwe folgten ihm. Am unteren Ende der langen<br />

Grabkammer befand si<strong>ch</strong> an der S<strong>ch</strong>malseite eine Tür – offen, dahinter gähnte es dunkel in<br />

einen li<strong>ch</strong>tlosen, tiefs<strong>ch</strong>warzen Raum – und neben der Tür stand ein Knabe. Seine Augen waren<br />

ges<strong>ch</strong>lossen, in der Hand hielt er eine kleine grasgrüne Papageienmumie mit einem Halsband aus<br />

roten Karneolperlen.<br />

Der Knabe wandte den Kopf, als der S<strong>ch</strong>lagende Falke mit der grellen Fackel näher kam –<br />

die ges<strong>ch</strong>lossenen Augen spürten das Li<strong>ch</strong>t, öffneten si<strong>ch</strong> jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Er war blind!<br />

Als Cuauhtémoc ihn errei<strong>ch</strong>t hatte, fasste der Knabe ihn bei der Hand.<br />

»Komm«, sagte er, »i<strong>ch</strong> werde di<strong>ch</strong> führen!«<br />

Der S<strong>ch</strong>lagende Falke, der sonst immer Vorsi<strong>ch</strong>tige, ließ si<strong>ch</strong> vom blinden Knaben führen.<br />

Der zog ihn dur<strong>ch</strong> die Tür in den na<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>warzen Raum; Felsens<strong>ch</strong>lange und der Gefleckte<br />

Berglöwe folgten. Der Li<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>immer der Fackel verdrängte die Finsternis und gab den Blick auf<br />

eine große Kammer frei; geräumig, ärmli<strong>ch</strong>, und do<strong>ch</strong> wohnli<strong>ch</strong>. Binsenmatten bedeckten den<br />

Fußboden, Teppi<strong>ch</strong>e hingen an den Wänden. Auf Stühlen saßen zwei Mens<strong>ch</strong>en, ein Greis und<br />

ein Jüngling. Cuauhtémoc erkannte den Träumer und erriet, dass der Alte jener Zauberer Sacusín<br />

sein müsse, von dem jedermann in Teno<strong>ch</strong>titlán wusste, dass er wie eine S<strong>ch</strong>lange in die Erde<br />

ges<strong>ch</strong>lüpft oder wie ein Falke in die Luft geflogen war, als Moctezuma sein armseliges Haus dem<br />

Erdboden hatte glei<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>en lassen.<br />

»Wir haben Eu<strong>ch</strong> erwartet«, begann Sacusín seine Begrüßungsrede, do<strong>ch</strong> das Ungestüm<br />

Prinz Felsens<strong>ch</strong>langes hinderte ihn am Weiterreden. Mit einem Aufs<strong>ch</strong>rei stürzte der Prinz auf ihn<br />

zu, beugte si<strong>ch</strong> vor, küsste die Greisenhände.<br />

»O du Alter«, rief er glückstrahlend. »Du bist der Graue Honigbär, der treue Diener des Königs<br />

von Tezcoco, des Herrn des Fastens, und seiner drei Söhne: des Prinzen Edler Betrübter, der<br />

Blaue Feder und Felsens<strong>ch</strong>lange. Du bist der Einzige unter den Lebenden, der meinen Vater vor<br />

dem Tod gepflegt hat.«<br />

Und so war es. Der Graue Honigbär war na<strong>ch</strong> dem Hins<strong>ch</strong>eiden des Herrn des Fastens na<strong>ch</strong><br />

Teno<strong>ch</strong>titlán übergesiedelt, wo er si<strong>ch</strong> Sacusín nannte und das Zaubergewerbe betrieb: Dur<strong>ch</strong> den<br />

Verkehr mit Arm und Rei<strong>ch</strong> gewann er Einblick in man<strong>ch</strong>erlei verborgene Gespinste des Hofes von<br />

Mexico.<br />

Jetzt erhob er si<strong>ch</strong> hoheitsvoll und spra<strong>ch</strong>:<br />

»O mein Herr, o strahlender Quetzalvogel! I<strong>ch</strong> habe unter Tränen den Aufs<strong>ch</strong>rei deines Herzens<br />

vernommen. Der Herr des Fastens kehrt nie mehr zurück, denn fortgezogen ist er in das


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 168<br />

Speerhaus des Himmels, in den Palast seines Vaters, der Sonne, wo alle ein Dasein der Freude,<br />

Zufriedenheit und Glückseligkeit führen. Do<strong>ch</strong> mag sein Leib au<strong>ch</strong> tot sein – sein Wille lebt no<strong>ch</strong><br />

und wird fortleben. Au<strong>ch</strong> wenn i<strong>ch</strong> unwürdig bin, hat der große König mir seinen Willen anvertraut,<br />

damit i<strong>ch</strong> als treuer Diener ihn hüte und verwahre. I<strong>ch</strong> habe ihn gehütet wie eine kostbare Standarte<br />

und ihn verwahrt wie einen mit Perlen ges<strong>ch</strong>mückten Kno<strong>ch</strong>en. Nunmehr ist die Zeit nahe, dass<br />

i<strong>ch</strong> dir des Toten Wille weitergeben kann. Dann sollst du fortan sein Hüter und Verwalter sein, du<br />

edler Krieger, du Junger! Das Volk Tezcocos aber wird dir überallhin folgen!«<br />

So spra<strong>ch</strong> der Greis, kniete nieder und küsste dem Jüngling die Hände und Füße.<br />

13. Herrs<strong>ch</strong>endes Raubtier<br />

»S<strong>ch</strong>wer lebt si<strong>ch</strong> das Leben. Die Kräfte zehren uns auf. Viel Mühe kostet es, die Güter zu<br />

behalten, die uns von den Göttern ges<strong>ch</strong>enkt werden.«<br />

(Codex Florentino, Bu<strong>ch</strong> XII)<br />

Ein über mehrere S<strong>ch</strong>emel gelegtes Brett diente als Tis<strong>ch</strong>, darauf standen zwei mit Pulque gefüllte<br />

Zinnbe<strong>ch</strong>er. Spanis<strong>ch</strong>en Wein bot die Goldhyazinte längst ni<strong>ch</strong>t mehr feil. Juan García der Aufgeblasene<br />

und der Grobian Luis Paredes hockten auf den niedrigen Sitzs<strong>ch</strong>emeln und rau<strong>ch</strong>ten und<br />

ze<strong>ch</strong>ten in der Marketenderlaube.<br />

Der s<strong>ch</strong>weigsame, stets griesgrämige Paredes war ein Meister im Spucken und traf angebli<strong>ch</strong><br />

auf zehn S<strong>ch</strong>ritt Entfernung eine Fliege an der Wand. Ob es stimmte oder ni<strong>ch</strong>t – jedenfalls<br />

war er ein Könner! Geräus<strong>ch</strong>los spie er im Bogen über die aufre<strong>ch</strong>t stehende Goldhyazinte hinweg<br />

dur<strong>ch</strong> den Henkel eines Kruges. Er war s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t gelaunt, weil er mit Pulque vorlieb nehmen musste.<br />

»Diese süßli<strong>ch</strong>e Jau<strong>ch</strong>e hat einen Na<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>mack wie verwestes Fleis<strong>ch</strong>«, s<strong>ch</strong>impfte er.<br />

Ni<strong>ch</strong>tsdestoweniger trank er den fünften Be<strong>ch</strong>er leer und ließ si<strong>ch</strong> den se<strong>ch</strong>sten füllen, als die<br />

Hauptleute Olíd, Avila und Lugo in die Marketenderlaube traten. Sie kamen von der Sitzung des<br />

Hohen Rates und wollten si<strong>ch</strong> den Staub aus den Kehlen spülen. Und sie hatten Neuigkeiten:<br />

Kriegserklärung an Cholula.<br />

»Na, endli<strong>ch</strong> passiert was«, knurrte Paredes.<br />

Und Juan García meinte grinsend: »Da winken Beute und Weiber!«<br />

»Frohlockt ni<strong>ch</strong>t zu früh«, bemerkte Avila. »Dem Frater traue i<strong>ch</strong> zu, dass er's hintertreibt!«<br />

»Frater Jerónimo de Aguilár ist ein Heiliger – dass Ihr's wisst, Señor«, rief Olíd und s<strong>ch</strong>lug<br />

mit der Faust auf das Brett, dass die Zinnbe<strong>ch</strong>er tanzten.<br />

Lugo wollte vom Gesprä<strong>ch</strong> ablenken, denn s<strong>ch</strong>on auf dem Herweg hatten Olíd und Avila<br />

über Aguilár gestritten. Er wandte si<strong>ch</strong> an Juan García:<br />

»Nun endli<strong>ch</strong> werdet Ihr der Welt zeigen können, Señor, was Euer Zwiehänder vermag«,<br />

sagte er la<strong>ch</strong>end.<br />

Der Aufgeblasene besaß einen Zwiehänder, ein Landskne<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>wert von ungewöhnli<strong>ch</strong>er<br />

Größe, das wegen seines Gewi<strong>ch</strong>ts nur mit beiden Händen ges<strong>ch</strong>wungen werden konnte. Beim<br />

Aufbru<strong>ch</strong> von Cempoala hatte er die unhandli<strong>ch</strong>e Waffe mit anderen Gepäckstücken den<br />

totonakis<strong>ch</strong>en Trägern übergeben. Mo<strong>ch</strong>te es Zufall, mo<strong>ch</strong>te es Absi<strong>ch</strong>t sein – bei den Kämpfen<br />

vor Tlaxcala war das S<strong>ch</strong>wert vers<strong>ch</strong>wunden, und erst na<strong>ch</strong> dem Einzug in die Stadt kam es wieder<br />

zum Vors<strong>ch</strong>ein. Juan García erlebte ni<strong>ch</strong>t zum ersten Mal, dass spöttis<strong>ch</strong> auf sein S<strong>ch</strong>wert<br />

angespielt wurde, dass es für Juan García zu s<strong>ch</strong>wer und zu groß sei, aber weil er si<strong>ch</strong> immer erhaben<br />

über seine Kameraden dünkte, lag es für ihn außerhalb der Mögli<strong>ch</strong>keiten, die Bemerkun-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 169<br />

gen könnten anders als spaßig gemeint sein. Er selbst hatte ja dur<strong>ch</strong> Prahlereien dafür gesorgt,<br />

dass der Zwiehänder im Heer als Wunders<strong>ch</strong>wert gerühmt war. Do<strong>ch</strong> diesmal höhnte ein Hauptmann<br />

– und das s<strong>ch</strong>nitt dur<strong>ch</strong> seinen Panzer der Eitelkeit.<br />

Der Aufgeblasene antwortete auf seine hölzerne Weise: »Mein S<strong>ch</strong>wert vermag einen Mann<br />

vom S<strong>ch</strong>eitel bis zum Nabel zu spalten!«<br />

Lugo bra<strong>ch</strong> in ansteckendes helles Gelä<strong>ch</strong>ter aus. Au<strong>ch</strong> Avila und Olíd vergaßen ihren Streit<br />

und la<strong>ch</strong>ten.<br />

»I<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lage Eu<strong>ch</strong> eine Wette vor«, rief Avila. »Ni<strong>ch</strong>t auf die Waffe, ni<strong>ch</strong>t auf die Sehnen und<br />

Muskeln kommt es an, sondern auf die Eleganz des Hiebes. I<strong>ch</strong> kann, wenn i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> nur ein kurzes<br />

S<strong>ch</strong>wert habe, mit einem einzigen Strei<strong>ch</strong> einen Kopf vom Hals trennen.«<br />

»Ihr meint, das wäre was Besonderes?«, unterbra<strong>ch</strong> ihn der bärenstarke Olíd.<br />

»Könnt Ihr das au<strong>ch</strong>, Señor? Gut, also lasst uns beide nä<strong>ch</strong>ster Tage im Krieg gegen<br />

Cholula die Köpfe zählen, die wir mit einem Hieb abs<strong>ch</strong>lagen. Wohlverstanden, bloß die Köpfe<br />

sollen gelten, die glatt abfliegen. Und Juan García mag zählen, wie viele er bis zum Nabel gespalten<br />

hat. I<strong>ch</strong> gehe die Wette ein, dass i<strong>ch</strong> mehr Köpfe einsammle als Ihr, Olíd – von den Nabeln<br />

Juan Garcías ganz zu s<strong>ch</strong>weigen.«<br />

»Was soll Eure Wette gelten?«, fragte Olíd ernsthaft.<br />

»Fünf indianis<strong>ch</strong>e Jungfrauen aus Cholula!«<br />

»Nein!« Lugo la<strong>ch</strong>te. »Wer die Wette verliert, soll an der Wand stehen wie Sankt Sebastian<br />

am Pfahl und si<strong>ch</strong> von Paredes rundherum spucken lassen!«<br />

»Ihr könnt Eu<strong>ch</strong> umspucken lassen«, sagte Olíd, »i<strong>ch</strong> will fünf Jungfrauen!«<br />

»Gut, fünf Jungfrauen für den Sieger«, gab Lugo na<strong>ch</strong>, dem die Mäd<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong> lieber waren<br />

als der Marterpfahl des heiligen Sebastian.<br />

»Au<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> will wetten«, rief der Narr Cervantes, der s<strong>ch</strong>on seit einer Weile zugehört hatte.<br />

»I<strong>ch</strong> wette, dass Hauptmann Lugo die fünf indianis<strong>ch</strong>en Jungfrauen in Obhut nehmen muss, weil<br />

der Held, dem sie wirkli<strong>ch</strong> zufallen werden, vom jus primae noctis keinen Gebrau<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en<br />

kann.«<br />

»Warum? Von was spri<strong>ch</strong>st du, Narr?«, fragte Lugo, der ni<strong>ch</strong>t verstand.<br />

»Von Eurem Hetzhund, dem Becerrico, dem Hundehelden.« Cervantes grinste. »Er wird<br />

mehr naturales zerfleis<strong>ch</strong>en und zerreißen, als Ihr mit eleganten Hieben köpfen könnt. Wollt Ihr<br />

Eu<strong>ch</strong> mit ihm messen, ihm den Rang ablaufen? Gebt es auf! Becerrico ist ein Bluthund – Ihr<br />

ni<strong>ch</strong>t!«<br />

»Narr bleibt Narr«, sagte Lugo la<strong>ch</strong>end. Die Trinker hatten ni<strong>ch</strong>ts verstanden.<br />

*<br />

Der Priesterkönig von Cholula, das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier, hatte den Rats<strong>ch</strong>lag des Tempelhüters<br />

gutgeheißen und si<strong>ch</strong> einverstanden erklärt, die weißen teules in einen Hinterhalt zu locken und zu<br />

verni<strong>ch</strong>ten. Er hatte Teïcuih, den Federherrn, den neunzehnjährigen Sohn des verstorbenen Mitregenten<br />

in das Weiße Mondgefilde mit der Einladung entsandt, die Sonnensöhne zu Festgelagen,<br />

Ballspielen und Tänzen in die heilige Stadt zu bitten.<br />

In Cholula regierte das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier unums<strong>ch</strong>ränkt und da<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t daran, den bereits<br />

als Na<strong>ch</strong>folger seines Vaters gewählten jungen Prinzen Federherr zum neuen König zu krönen.<br />

Seine Spione hinterbra<strong>ch</strong>ten ihm, dass Moctezuma, beeinflusst dur<strong>ch</strong> die Aussagen<br />

Julianillos, an die Harmlosigkeit der fremden Eindringlinge glaubte und ni<strong>ch</strong>t abgeneigt war, ihnen<br />

die Tore Mexicos zu öffnen, weil er die Fremden ni<strong>ch</strong>t für<strong>ch</strong>te. Aber der Überbringer dieser Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t<br />

erzählte au<strong>ch</strong>, in wel<strong>ch</strong>e Wut Moctezuma geraten war über die Verbrüderung der Weißen mit<br />

den Tlaxcalteken. Somit war eine neue Lage entstanden. Trotzdem wollte das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier<br />

den Mexica gefällig sein und fasste den Plan, Tlaxcala zu beleidigen. Als ein tlaxcaltekis<strong>ch</strong>er<br />

Bote den Besu<strong>ch</strong> der Sonnensöhne anmeldete, ließ er ihn einkerkern und an seinen Händen die<br />

Haut abziehen.<br />

Do<strong>ch</strong> Despoten wissen häufig ni<strong>ch</strong>ts von der wahren Meinung des Volkes. Spei<strong>ch</strong>ellecker<br />

und Profiteure der Ma<strong>ch</strong>t ließen das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier nur wissen, was seine Ohren hören<br />

wollten. In Cholula, der Stadt Quetzalcoatls und der Großen Pyramide, wurden von jeher die Er-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 170<br />

trägnisse des Friedens höher einges<strong>ch</strong>ätzt als die des Krieges. Priester, Kaufherren und Dirnen<br />

bevölkerten die Gassen. Auf ihren Vorteil beda<strong>ch</strong>t, verurteilten die unkriegeris<strong>ch</strong>en Bewohner die<br />

Handlungsweise des Priesterkönigs – ni<strong>ch</strong>t weil sie ein Re<strong>ch</strong>tsbru<strong>ch</strong> war, sondern weil sie ihnen<br />

unklug ers<strong>ch</strong>ien. Die s<strong>ch</strong>roffe Herausforderung der Na<strong>ch</strong>barrepublik Tlaxcala konnte den Handel<br />

und den Besu<strong>ch</strong> der Pilger in der heiligen Stadt beeinträ<strong>ch</strong>tigen und unliebsame Folgen na<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong><br />

ziehen.<br />

Die Adligen und die hohen Würdenträger freili<strong>ch</strong> für<strong>ch</strong>teten Tlaxcala ni<strong>ch</strong>t und vertrauten auf<br />

Mexicos Beistand. Cholulas Hoher Rat war ein williges Werkzeug des Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtiers.<br />

Die wenigen Widersa<strong>ch</strong>er, die es wagten, warnend die Stimme zu erheben, s<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>teten im Kerker.<br />

Umso lebhafter äußerten si<strong>ch</strong> die Mens<strong>ch</strong>en auf den Gassen, Straßen und Plätzen. Das Volk<br />

ließ si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wie die Ratsherren mundtot ma<strong>ch</strong>en, die Erregung konnte ni<strong>ch</strong>t eingedämmt werden,<br />

solange ungewiss blieb, wel<strong>ch</strong>e Gegenmaßnahmen Tlaxcala ergreifen würde.<br />

Da trafen Pimoti und Aguilár in Cholula ein. Niemand hielt es für denkbar, dass ein<br />

Tlaxcalteke si<strong>ch</strong> vor den Priesterkönig wagen könne. Dass es denno<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ah, trug den Waghalsigen<br />

große Bewunderung ein. Das Volk strömte vor dem Königspalast zusammen. Dort saß der<br />

Priesterkönig im Ratssaal unter einem Balda<strong>ch</strong>in aus purpurroten Tangarefedern; Jaguarfelle bedeckten<br />

seinen Silbersessel. Ein zweiter Thron stand leer daneben; der no<strong>ch</strong> ungekrönte Federherr<br />

hockte auf einem niedrigen S<strong>ch</strong>emel wie alle anderen Würdenträger des Hohen Rates. Einige<br />

hundert Bewaffnete in glänzender Kriegertra<strong>ch</strong>t bewa<strong>ch</strong>ten den großen, dunkelrot getün<strong>ch</strong>ten Beratungssaal.<br />

Das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier war no<strong>ch</strong> verhältnismäßig jung, keine vierzig Jahre alt. Aus dem<br />

kno<strong>ch</strong>igen, fla<strong>ch</strong>en Gesi<strong>ch</strong>t sta<strong>ch</strong>en die gewölbte Nase und die vorges<strong>ch</strong>obene, missvergnügt herabhängende<br />

Unterlippe hervor. Halb Priester, halb Fürst, trug er die mit Juwelen übersäten Embleme<br />

und Insignien seines Doppelranges. Die hohe Mitra auf seinem Kopf bestand aus aneinander<br />

gelöteten Goldringen und ähnelte einem kleinen Bienenkorb. An seiner Halskette hing die goldene<br />

Trommel, das Beste<strong>ch</strong>ungsges<strong>ch</strong>enk Moctezumas. Er saß da wie ein Steinbild, hatte die Arme auf<br />

die S<strong>ch</strong>enkel und die Hände auf die Knies<strong>ch</strong>eiben gelegt. Pimoti und Aguilár warteten aufre<strong>ch</strong>t vor<br />

dem Hohepriester, bis der das Zei<strong>ch</strong>en zum Reden gab. Da trat Lanzenträger-Pimoti einen S<strong>ch</strong>ritt<br />

vor.<br />

»O edler König, Herr der goldenen Standarte«, sagte er, »der Hohe Rat von Tlaxcala grüßt<br />

di<strong>ch</strong> und hat uns beauftragt, dir diese Bü<strong>ch</strong>se voll weißer Kreide zu übergeben. Sie ist ein Ges<strong>ch</strong>enk<br />

für di<strong>ch</strong>, und au<strong>ch</strong> diese weißen Daunen, diese Streifen weißen Rindenpapiers, diese<br />

Handfahne, dieser S<strong>ch</strong>ild und diese Federkrone – s<strong>ch</strong>neeblank, wie die Toten sie tragen –, als<br />

Zei<strong>ch</strong>en, dass wir Krieg führen werden und du von uns ers<strong>ch</strong>lagen wirst. Der Hohe Rat Tlaxcalas<br />

gab mir den Befehl, di<strong>ch</strong> zu s<strong>ch</strong>mücken, wie man Tote s<strong>ch</strong>mückt. Und weil du ein Toter bist,<br />

wüns<strong>ch</strong>t Tlaxcala, dass i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> dein Antlitz und deinen Leib weiß bemale, so wie man die bemalt,<br />

die der Adlers<strong>ch</strong>ale geweiht sind!«<br />

Pimoti verstummte, und au<strong>ch</strong> das Geraune erstarb. Bis hinaus auf die Straße pflanzte das<br />

S<strong>ch</strong>weigen si<strong>ch</strong> fort. Pimoti und Aguilár erwarteten ihren Tod – einen Tod unter Folterqualen. Do<strong>ch</strong><br />

das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier tötete die Mutigen ni<strong>ch</strong>t, antwortete ni<strong>ch</strong>t, wies das Ges<strong>ch</strong>enk ni<strong>ch</strong>t zurück.<br />

Er war wie erstarrt vor Bewunderung.<br />

Pimoti ging auf den Priesterkönig zu, um ihn zu s<strong>ch</strong>minken und zu s<strong>ch</strong>mücken. Der saß no<strong>ch</strong><br />

immer regungslos da, die Hände auf die Knies<strong>ch</strong>eiben gedrückt. Und es ges<strong>ch</strong>ah, was den Anwesenden<br />

wie ein Wunder ers<strong>ch</strong>ien. Willig erhob si<strong>ch</strong> das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier und ließ si<strong>ch</strong> entkleiden.<br />

Der Tlaxcalteke nahm ihm die Mitra vom Haupt, den Mantel von den S<strong>ch</strong>ultern, die Goldtrommel<br />

und die Embleme von der Brust, zog ihm das bestickte Hemd vom Leib, wickelte ihm die<br />

Bänder aus Goldble<strong>ch</strong> von den Waden und löste die Sandalen von den Füßen. Nackt, nur die<br />

S<strong>ch</strong>ambinde um die Lenden, stand der Priesterkönig vor seinen Räten und den Bewaffneten und<br />

ließ zu, dass der Feind ihn s<strong>ch</strong>lohweiß s<strong>ch</strong>minkte, von der Stirn bis zu den Zehen. Und als das<br />

Unerhörte ges<strong>ch</strong>ehen war, ließ er si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Totenkrone aufs Haupt setzen und das Totenfähn<strong>ch</strong>en<br />

sowie den Totens<strong>ch</strong>ild in die Hand geben. Dann tanzte Pimoti um den Priester und sang das<br />

Tlaxcaltekenlied. Eine Herausforderung war der Tanz, eine Herausforderung das Lied, der Kriegsgesang<br />

seiner Heimat:<br />

»Was grämt ihr eu<strong>ch</strong>, ihr unsere Freunde, ihr Otomis?


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 171<br />

Jammert ihr, weil ihr trunken wurdet vom Octlitrank?<br />

Kommt her und singt! – Erhebt eu<strong>ch</strong>, ihr Freunde!<br />

Ist es mögli<strong>ch</strong>, dass ihr uns ni<strong>ch</strong>t hört?<br />

Kommt, den weißen Octlitrank zu s<strong>ch</strong>lürfen,<br />

den Trank der S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t!<br />

Trinkt, wo uns der Octlitrank,<br />

süß wie der Tau der Rosen, einges<strong>ch</strong>enkt wird!<br />

Wir werden ins Land der Blumen wandern,<br />

ins Land des ewigen Frühlings!«<br />

Pimoti beendete Tanz und Lied. Im Saal wurde es stumm.<br />

Auf dem kalkigen Antlitz des Hohepriesters zuckte Bewunderung, und Bewunderung las er<br />

au<strong>ch</strong> in den Augen der Räte und Bewa<strong>ch</strong>er. Er musste den Respekt der Umstehenden übertrumpfen,<br />

das wurde ihm sofort klar.<br />

»O mutiger Krieger«, spra<strong>ch</strong> er, ungelenk, steif und ausdruckslos wie eine große Puppe,<br />

»dein Name ist Pimoti, das heißt Lanzenträger! Du bist wahrhaft ein Tapferer! Mit weißer Erde hast<br />

du meine Gliedmaßen bemalt, und alle Tlatepoca jubeln: Nun ist das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier ein<br />

Toter! Do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> stehe i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t am Tor zur Unterwelt! Geh heim zu den Tlatepoca und melde<br />

ihnen: No<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>loss das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier ni<strong>ch</strong>t die Augen! Geh heim! I<strong>ch</strong> erlaube dir die<br />

Heimkehr, weil du ein Tapferer bist. Do<strong>ch</strong> ob mein Volk es dir erlauben wird, und ob du die Speerträger<br />

der Grenzwa<strong>ch</strong>e bewegen kannst, dass sie di<strong>ch</strong> in deine Berge und S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>ten zurückkehren<br />

lassen – das weiß i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t und glaube es au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t.«<br />

Pimoti wandte si<strong>ch</strong> zu Aguilár um und sah ihn mitleidig an; dann s<strong>ch</strong>ritt er stumm aus dem<br />

Tecpan. Ehrfür<strong>ch</strong>tig gab man ihm den Weg frei. Die Mens<strong>ch</strong>enmauern teilten si<strong>ch</strong>, und unbehelligt<br />

konnte er dur<strong>ch</strong> die Menge s<strong>ch</strong>reiten und ungehindert die Stadt verlassen.<br />

Aguilár jedo<strong>ch</strong> musste im Tecpan zurückbleiben. Ihm war kein freier Abzug zugestanden<br />

worden. Und hätte er die Erlaubnis gehabt – er wäre ni<strong>ch</strong>t gegangen, ohne sein Ziel zu errei<strong>ch</strong>en.<br />

Er wollte den Frieden retten.<br />

Beim Anblick des kreideweißen Königs wäre wohl jeder andere zur Einsi<strong>ch</strong>t gekommen,<br />

dass sein Unterfangen aussi<strong>ch</strong>tslos war. Do<strong>ch</strong> Aguilár war von mön<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>em Eifer beseelt und<br />

gab die Hoffnung ni<strong>ch</strong>t auf. Er kniete vor dem Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtier nieder, küsste ihm die kreideweiße<br />

Re<strong>ch</strong>te und begann seine Anspra<strong>ch</strong>e.<br />

Aufmerksam laus<strong>ch</strong>ten die Versammelten. Es war ja der erste Sonnensohn aus Fleis<strong>ch</strong> und<br />

Blut, den man hier sah und spre<strong>ch</strong>en hörte. Die Indianer, für feierli<strong>ch</strong>e Auftritte und große Reden<br />

empfängli<strong>ch</strong>, laus<strong>ch</strong>ten beeindruckt dem ausgemergelten, hohläugigen Asketen. Do<strong>ch</strong> zu seinem<br />

Glück kam er ni<strong>ch</strong>t weit. Er war ein s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ter Redner und beherrs<strong>ch</strong>te die Spra<strong>ch</strong>e der Völker<br />

Anahuacs nur mangelhaft. So blieb ihm eine Enttäus<strong>ch</strong>ung und S<strong>ch</strong>limmeres erspart – der Holzkäfig<br />

und die Opferbluts<strong>ch</strong>ale. Denn s<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> wenigen Sätzen wurde er unterbro<strong>ch</strong>en und am<br />

Weiterreden gehindert. Der Tempelhüter war unerwartet aus Teno<strong>ch</strong>titlán angelangt; über die<br />

Wüns<strong>ch</strong>e Moctezumas, deren Überbringer er war, musste sofort beraten und Bes<strong>ch</strong>luss gefasst<br />

werden. Ein Fremder durfte dabei ni<strong>ch</strong>t zugegen sein. Darum ließ der Priesterkönig Aguilár hinausführen.<br />

Sie begegneten si<strong>ch</strong> am Eingang; flü<strong>ch</strong>tig und denno<strong>ch</strong> einprägsam kreuzten sie ihre Blicke.<br />

*<br />

S<strong>ch</strong>on wieder hatte der Wind gedreht. Erst kürzli<strong>ch</strong> hatte Moctezuma die Weisung erteilt, die Sonnensöhne<br />

auf dem Weg na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán ni<strong>ch</strong>t zu behindern, nun wüns<strong>ch</strong>te er die Ausführung<br />

des früheren Hinterhaltplanes. Der Herr der Welt fragte ni<strong>ch</strong>t, ob Cholula, innerhalb dessen Mauern<br />

der Überfall stattfinden sollte, einverstanden wäre; für ihn war es bes<strong>ch</strong>lossene Sa<strong>ch</strong>e. Er hatte<br />

– so beri<strong>ch</strong>tete der Tempelhüter – beim letzten Kronrat angeordnet: »Die Cholulteken sollen die<br />

Tore der heiligen Stadt öffnen und den Söhnen der Sonne ein Fest rüsten; sie sollen sie zu ihren<br />

Tempeln hinaufführen, während Mexicos Adler und Jaguare in den S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>ten lauern.«<br />

Diesmal jedo<strong>ch</strong> nahm das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier den Wuns<strong>ch</strong> des Lehnsherrn ni<strong>ch</strong>t so erge-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 172<br />

ben hin wie sonst, sondern äußerte Zweifel der Ausführbarkeit. Der Tempelhüter sehe ja, dass<br />

Tlaxcala ihn mit weißer S<strong>ch</strong>minke bes<strong>ch</strong>enkt und ihm den Tod angesagt habe. Das bedeute Krieg<br />

gegen Tlaxcala, und der stehe dem Wuns<strong>ch</strong> des Zornigen Herrn entgegen.<br />

Der Tempelhüter hatte bisher keine Frage gestellt. Wie groß seine Verwunderung au<strong>ch</strong> war,<br />

als er den Priesterkönig wie eine Lei<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>mückt auf dem Thron erblickte – er hatte si<strong>ch</strong> zu<br />

beherrs<strong>ch</strong>en gewusst. Als ihm aber nun das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier die Kriegserklärung Tlaxcalas<br />

mitteilte, und wie sie von Pimoti überbra<strong>ch</strong>t wurde, erhob der Tempelhüter sofort im Namen<br />

Moctezumas die Forderung: Die Kriegsansage müsse rückgängig und der Krieg bis na<strong>ch</strong> der Ausrottung<br />

der weißen Eindringlinge vers<strong>ch</strong>oben werden.<br />

Das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier saß stumm und gläsern da. Mexico verlangte seine Erniedrigung,<br />

verlangte Verzi<strong>ch</strong>t auf Ra<strong>ch</strong>e für die Demütigung dur<strong>ch</strong> die weiße S<strong>ch</strong>minke. Da wagte der junge,<br />

no<strong>ch</strong> ungekrönte Priesterkönig Teïcuih, der Federherr, unaufgefordert seine Meinung zu sagen.<br />

»Wir sollten uns der Ausrottung der Weißen widersetzen. Wehe über Cholula, wenn es das<br />

blutige Fest feiert! Es war Glaube unserer Ahnen, dass die Toten zu Göttern wurden.«<br />

Der Tempelhüter lä<strong>ch</strong>elte überlegen und blickte das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier an. Der Federherr<br />

wurde keiner Antwort gewürdigt. Das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier streifte den Jungen mit einem kurzen,<br />

missbilligenden Blick; er hatte im Rat der Alten no<strong>ch</strong> keine Stimme.<br />

»Spri<strong>ch</strong> weiter«, sagte das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier zum Tempelhüter.<br />

Do<strong>ch</strong> da meldete si<strong>ch</strong> der s<strong>ch</strong>warzgrün ges<strong>ch</strong>minkte Oberpriester der Großen Pyramide und<br />

bat um die Vergünstigung, reden zu dürfen.<br />

»In den alten Götters<strong>ch</strong>riften ist geweissagt«, spra<strong>ch</strong> der Oberpriester, »dass Cholula ni<strong>ch</strong>t<br />

untergehen kann, selbst wenn Feinde in die Paläste der heiligen Stadt eindringen. Und sollten sie<br />

versu<strong>ch</strong>en, hier Blut zu vergießen, wird eine Wasserflut sie daran hindern und sie vers<strong>ch</strong>lingen.<br />

Wir Priester Cholulas können diese Flut jederzeit hervorrufen, indem wir die S<strong>ch</strong>indeln vom Da<strong>ch</strong>first<br />

des Quetzalcoatl-Tempels bre<strong>ch</strong>en und die Kalkbekleidung vom heiligen Turm s<strong>ch</strong>aben – so<br />

ist es in den alten Götterbü<strong>ch</strong>ern geweissagt.«<br />

Der Mehrzahl der Anwesenden war die Prophezeiung ni<strong>ch</strong>t unbekannt, do<strong>ch</strong> war sie dem<br />

Gedä<strong>ch</strong>tnis entrückt, während die Sorge, der Hinterhalt könne misslingen und Cholula zum Verderben<br />

gerei<strong>ch</strong>en, im Mittelpunkt aller Erwägungen stand. Daher wirkten die Worte des Oberpriesters<br />

erlösend. Die Sorgenfalten im Gesi<strong>ch</strong>t des Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtiers glätteten si<strong>ch</strong>. Man konnte<br />

dem Befehl des Zornigen Herrn gehor<strong>ch</strong>en und ein den Himmelsgöttern wohlgefälliges Werk<br />

verrri<strong>ch</strong>ten, ohne dass ein Blutbad für Cholula zu befür<strong>ch</strong>ten war.<br />

Der Tempelhüter nahm den günstigen Augenblick wahr und gab eine weitere Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t bekannt,<br />

die au<strong>ch</strong> die Ängstli<strong>ch</strong>sten bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigen musste. Moctezuma habe seine Adler und Jaguare<br />

entsandt; sie seien s<strong>ch</strong>on auf dem Weg na<strong>ch</strong> Cholula. In den S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>ten vor der Stadt werde<br />

der größte <strong>Teil</strong> des Heeres kampfbereit verborgen lauern; eine kleinere Heeresabteilung aber<br />

müsse – no<strong>ch</strong> vor der Ankunft der Feinde – in den unterirdis<strong>ch</strong>en Räumen der Großen Pyramide<br />

untergebra<strong>ch</strong>t werden, um glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Beginn des Überfalls an der Seite der <strong>ch</strong>olultekis<strong>ch</strong>en Krieger<br />

fe<strong>ch</strong>ten zu können.<br />

Der angebotene Beistand zeugte wenig vom Vertrauen in die Cholulteken und ihre kriegeris<strong>ch</strong>en<br />

Eigens<strong>ch</strong>aften, wurde aber angenommen. Trotzdem kamen Zweifel auf, ob es gelingen<br />

könne, die weißen Eroberer in die Stadt zu locken, wenn der Friede mit Tlaxcala si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wiederherstellen<br />

lasse. Und das sei umso unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>er, als Pimoti – au<strong>ch</strong> wenn ihm gestattet worden<br />

sei, ungestraft zu entwei<strong>ch</strong>en – gewiss den Tod dur<strong>ch</strong> die Krieger der Grenzwa<strong>ch</strong>e erleiden<br />

werde. Dies müsse unverzügli<strong>ch</strong> verhindert werden, erklärte der Tempelhüter erregt. Der Priesterkönig<br />

solle Eilboten an die Grenzwa<strong>ch</strong>e senden, um sol<strong>ch</strong>es zu verhüten. Überdies wäre es ratsam,<br />

ohne Verzug eine Gesandts<strong>ch</strong>aft na<strong>ch</strong> Tlaxcala abzufertigen, um mit Entgegenkommen und<br />

Zugeständnissen den Frieden zu erkaufen und zuglei<strong>ch</strong> die Einladung an die teules zu erneuern.<br />

Wenn Pimoti lebend zurückkehre, werde der Frieden uns<strong>ch</strong>wer zu erhalten sein.<br />

Als wäre Moctezuma selber im Beratungssaal anwesend, so ges<strong>ch</strong>wind und widerstandslos<br />

wurden seine Wüns<strong>ch</strong>e erfüllt. Halb geflüsterte Anordnungen des Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtiers, eiliges<br />

Hin- und Herhus<strong>ch</strong>en von Sklaven – s<strong>ch</strong>on waren S<strong>ch</strong>nellläufer auf dem Weg zur Grenzwa<strong>ch</strong>e und<br />

eine Gesandts<strong>ch</strong>aft unterwegs na<strong>ch</strong> Tlaxcala. Aber was solle mit dem Priester der Gelbhaarigen<br />

ges<strong>ch</strong>ehen, mit Aguilár? Seine Rede sei vorhin unterbro<strong>ch</strong>en worden. Ob man ihn weiterreden<br />

lassen solle? Ob man ihm einen Begleiter mitgeben solle, der ihn na<strong>ch</strong> Tlaxcala zurückführe? Al-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 173<br />

lein und ohne Pimoti werde er ni<strong>ch</strong>t zurückzufinden.<br />

Das Gesi<strong>ch</strong>t des Tempelhüters legte si<strong>ch</strong> in Falten.<br />

»Sein Auge hat mein Antlitz gesehen, und niemals wird sein Auge es vergessen«, sagte der<br />

Doppelgänger Moctezumas sinnend. »Es darf aber keiner der Sonnensöhne mein Antlitz kennen.«<br />

»Warum?«, fragte das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier lauernd.<br />

»Moctezuma weiß es! Und i<strong>ch</strong>, sein Kne<strong>ch</strong>t, weiß es au<strong>ch</strong>! Aber i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>weige.«<br />

»Willst du, dass i<strong>ch</strong> den Sohn der Sonne töte?«<br />

»Nein«, erwiderte der Tempelhüter. »Du sollst ihn ni<strong>ch</strong>t töten und ni<strong>ch</strong>t retten. Lass die Bewohner<br />

Cholulas Zeugen sein, dass er unversehrt blieb. Do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>icke ihn ohne Begleiter heim<br />

na<strong>ch</strong> Tlaxcala!«<br />

*<br />

Über der S<strong>ch</strong>neekuppe der ewig eisigen Gipfel stieg langsam die blinkende Mondsi<strong>ch</strong>el empor. Die<br />

Gewitterwolken, die kürzli<strong>ch</strong> über die Stadt Tlaxcala hinweggezogen waren, wanderten na<strong>ch</strong> Südwesten<br />

davon und entluden si<strong>ch</strong> nun über den Gebirgss<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>ten. Die Dunkelheit wi<strong>ch</strong>. Sternbilder<br />

funkelten, und fris<strong>ch</strong> und blei<strong>ch</strong> standen Bäume und Büs<strong>ch</strong>e im Li<strong>ch</strong>t des zunehmenden Mondes.<br />

Kiefernzweig, Freund des Prinzen Goldmaske, saß mit seiner Lieblingsfrau Sonnenstein auf<br />

der Terrasse vor dem Lusthaus seines Palastgartens. Heute Na<strong>ch</strong>t leerte er s<strong>ch</strong>neller als sonst<br />

eine Trinks<strong>ch</strong>ale na<strong>ch</strong> der anderen. Sein Durst war erhitzt dur<strong>ch</strong> Verzweiflung und Zorn. Der Freistaat<br />

hatte die Taufe bes<strong>ch</strong>lossen, die Bekehrung des ganzen Volkes zum Glauben der Sonnensöhne.<br />

Anstifter, Verräter und Frevler an den se<strong>ch</strong>zehnhundert Göttern und Göttinnen in den dreizehn<br />

Himmeln war kein Geringerer als Prinz Goldmaske, obwohl dieser die Christen bisher ni<strong>ch</strong>t<br />

minder erbittert verabs<strong>ch</strong>eut hatte. Rätselhaft waren au<strong>ch</strong> die Umstände: das eilige Einverständnis<br />

der Tetrar<strong>ch</strong>en und der s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e Widerspru<strong>ch</strong>, den der Vors<strong>ch</strong>lag des Prinzen beim Volk gefunden<br />

hatte.<br />

Kiefernzweig hatte keine Ahnung, warum sein Freund zum Verräter wurde. Er s<strong>ch</strong>impfte über<br />

ihn und trank hastig. Vor seinen se<strong>ch</strong>zig Nebenfrauen hätte er den Kummer ni<strong>ch</strong>t gezeigt, vor<br />

Sonnenstein aber ließ er si<strong>ch</strong> gehen. Er s<strong>ch</strong>impfte, weil er ni<strong>ch</strong>t jammern wollte.<br />

Sonnenstein war von üppiger Gestalt, untersetzt, breithüftig, vollbusig und mit regelmäßigen<br />

Gesi<strong>ch</strong>tszügen. Erst vor kurzem hatte sie si<strong>ch</strong> ins Herz von Kiefernzweig ges<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elt und ihre<br />

s<strong>ch</strong>mä<strong>ch</strong>tige, strahlenäugige Rivalin – die Windende S<strong>ch</strong>lange – ausgesto<strong>ch</strong>en. Allen Frauen hatte<br />

Kiefernzweig bisher die Windende S<strong>ch</strong>lange vorgezogen und ein Jahrzehnt lang ihrer Hinneigung<br />

zum Glauben an den Kreuzträger Quetzalcoatl kein besonderes Gewi<strong>ch</strong>t beigemessen. Erst seit<br />

der Ankunft des Christenheeres war seine Liebe zu ihr erkaltet. Und Sonnenstein hatte die Gunst<br />

der Stunde genutzt, zwis<strong>ch</strong>en den beiden Unfrieden zu stiften. Natürli<strong>ch</strong> hatte sie ihm hinterbra<strong>ch</strong>t,<br />

Windende S<strong>ch</strong>lange sei im Gesprä<strong>ch</strong> mit Mön<strong>ch</strong>en des Quaquile-Ordens gesehen worden. Kiefernzweig<br />

hatte sie zur Rede gestellt und gezü<strong>ch</strong>tigt. Es blieb ni<strong>ch</strong>t das einzige Mal; er misshandelte<br />

sie immer wieder, gereizt dur<strong>ch</strong> ihre s<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>terne Demut. Sie aber ents<strong>ch</strong>uldigte es vor ihren<br />

weinenden Kindern mit seiner Trunkenheit, die ihn der Sinne beraube.<br />

Die se<strong>ch</strong>zig Nebenfrauen des Fürsten waren auf seinem Landgut Atlihuetza und in vers<strong>ch</strong>iedenen<br />

Bergs<strong>ch</strong>lössern untergebra<strong>ch</strong>t. In der Stadt Tlaxcala wohnten nur die beiden re<strong>ch</strong>tmäßigen<br />

Gattinnen mit ihren Sklavinnen. Und da der Tecpan verhältnismäßig eng war, kam man si<strong>ch</strong> lei<strong>ch</strong>t<br />

unter die Augen. Sonnenstein wollte si<strong>ch</strong> der Nebenbuhlerin entledigen; sie hatte einen dreijährigen<br />

Sohn, für dessen Erbbere<strong>ch</strong>tigung sie kämpfte. Sie besta<strong>ch</strong> die Dienerinnen von Windende<br />

S<strong>ch</strong>lange, und man<strong>ch</strong> Belastendes hatte sie in Erfahrung gebra<strong>ch</strong>t, bisher aber für si<strong>ch</strong> behalten.<br />

Mögli<strong>ch</strong>e Zweifel ihres Gatten konnten nur dur<strong>ch</strong> die Fülle von Beweisen erstickt werden. Der<br />

günstige Augenblick s<strong>ch</strong>ien ihr heute Na<strong>ch</strong>t gekommen, da Fürst Kiefernzweig wütend wie ein Kettenhund<br />

war.<br />

Sonnenstein erzählte, was sie über die geheimen Wege von Windende S<strong>ch</strong>lange wusste.<br />

Vor dem Quaquilekloster habe sie mit ihren drei Söhnen auf Cortés gewartet – als er mit Wa<strong>ch</strong>telblut<br />

gesalbt und übergossen wurde – und sofort na<strong>ch</strong> <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>er Taufe verlangt, was ihr zunä<strong>ch</strong>st<br />

jedo<strong>ch</strong> abges<strong>ch</strong>lagen wurde. Seit dem Einzug der Kastilier aber nehme sie mit ihren Kindern heimli<strong>ch</strong><br />

am Religionsunterri<strong>ch</strong>t des Paters Olmedo teil.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 174<br />

Stumm hatte Kiefernzweig zugehört. Der Pulqueraus<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong> einem Raus<strong>ch</strong> von Hass und<br />

Angst. Es handelte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr um sein Weib, das ihm längst entfremdet war, es handelte si<strong>ch</strong><br />

um sein Fleis<strong>ch</strong> und Blut, um seine Söhne, und vor allem um seinen vergötterten Sohn, den dreizehnjährigen<br />

Mito, den Kleinen Pfeil. Windende S<strong>ch</strong>lange raubte ihm das Herz des Knaben. Das<br />

musste er verhindern! Sofort wolle er in die Frauengemä<strong>ch</strong>er stürzen und Windende S<strong>ch</strong>lange von<br />

ihrem S<strong>ch</strong>laflager weg an den Haaren dur<strong>ch</strong> die Säle des Tecpans s<strong>ch</strong>leifen. No<strong>ch</strong> hatte er aus<br />

dem Wirbel seiner Gedanken ni<strong>ch</strong>t herausgefunden, als einer Traumers<strong>ch</strong>einung glei<strong>ch</strong> Windende<br />

S<strong>ch</strong>lange hinter Fu<strong>ch</strong>siasträu<strong>ch</strong>ern ers<strong>ch</strong>ien und zu ihm trat. Als sie unerwartet vor ihm stand,<br />

entwaffnete ihn ihre rührende Ers<strong>ch</strong>einung.<br />

»Warum s<strong>ch</strong>läfst du ni<strong>ch</strong>t?«, fuhr er sie an. »Bist du heranges<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en, um zu laus<strong>ch</strong>en?«<br />

Sie war es gewohnt, so von ihm behandelt zu werden, daher fiel ihr sein Zorn ni<strong>ch</strong>t weiter<br />

auf.<br />

»Prinz Goldmaske ist gekommen«, gab sie zur Antwort. »Mit mehreren tlamamas, die<br />

s<strong>ch</strong>were Warenballen tragen.«<br />

»Es ist Mitterna<strong>ch</strong>t. Wer hat den Prinzen eingelassen?«, fragte Kiefernzweig s<strong>ch</strong>einbar no<strong>ch</strong><br />

ruhig.<br />

»I<strong>ch</strong>«, entgegnete sie unbefangen. »Die Diener waren uns<strong>ch</strong>lüssig, als es po<strong>ch</strong>te, und haben<br />

mi<strong>ch</strong> gefragt. Da ließ i<strong>ch</strong> Goldmaske ein. Er ist do<strong>ch</strong> dein Freund...«<br />

»Nein! Er ist mein Feind!«, rief der Häuptling. »I<strong>ch</strong> will ihn ni<strong>ch</strong>t sehen!«<br />

»Goldmaske muss das gewusst haben«, fuhr Windende S<strong>ch</strong>lange fort. »Er hat mi<strong>ch</strong> gebeten,<br />

dass i<strong>ch</strong> seinen Besu<strong>ch</strong> anmelde, ni<strong>ch</strong>t einer der Torhüter. Ni<strong>ch</strong>t deinetwegen muss er di<strong>ch</strong><br />

spre<strong>ch</strong>en, soll i<strong>ch</strong> sagen, sondern wegen Tezcatlipoca.«<br />

Ihre Worte wirkten wie ein Zauber auf Kiefernzweig. Er erhob si<strong>ch</strong> ras<strong>ch</strong> und ging dur<strong>ch</strong> den<br />

Garten zum Tecpan, um mit seinem Freund abzure<strong>ch</strong>nen. Goldmaske war ihm s<strong>ch</strong>on entgegengekommen,<br />

während seine Begleiter beim Tecpan warteten.<br />

Aufgeregt flüsternd s<strong>ch</strong>ritten sie auf und ab. Der Prinz hatte mit Vorwürfen gere<strong>ch</strong>net, ni<strong>ch</strong>t<br />

aber mit der verletzenden Kühle, mit der er empfangen wurde. Er verteidigte si<strong>ch</strong>, obwohl Kiefernzweig<br />

ihn no<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>t angegriffen hatte, und da Kiefernzweig zurückhaltend blieb, erhob Goldmaske<br />

den Vorwurf, Kiefernzweig habe ihn voreilig verurteilt, ohne seine Gründe zu kennen. Mit<br />

einer Beflissenheit, die ein ni<strong>ch</strong>t ganz reines Gewissen verriet, su<strong>ch</strong>te er si<strong>ch</strong> vom Verda<strong>ch</strong>t des<br />

Abfalls reinzuwas<strong>ch</strong>en. Er erzählte von der grünen S<strong>ch</strong>lange, vom Tod der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Jungfrau<br />

Isabella Rodríguez und von dem abgerungenen Eid, dur<strong>ch</strong> den er gezwungen worden sei, wider<br />

seine Überzeugung zu handeln. Er habe zuvor no<strong>ch</strong> versu<strong>ch</strong>t, mit der Trillerpfeife seine bewaffneten<br />

indianis<strong>ch</strong>en Krieger herbeizurufen, do<strong>ch</strong> wie von Zauber gelenkt hätten die Weißen dies vorhergesehen<br />

und mit starken militäris<strong>ch</strong>en Kräften verhindert.<br />

»Du hättest es erleben sollen«, rief Goldmaske aus, »es ist kaum zu glauben! Es sind mä<strong>ch</strong>tige<br />

Götter oder – was i<strong>ch</strong> eher glaube – teules, mä<strong>ch</strong>tige Teufel!«<br />

Kiefernzweig sehnte si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Aussöhnung, konnte der Re<strong>ch</strong>tfertigung seines Freundes<br />

aber ni<strong>ch</strong>t re<strong>ch</strong>t glauben.<br />

»I<strong>ch</strong> sehe, dass du zweifelst. Höre weiter!« Goldmaske erklärte, was ihn zu so später Stunde<br />

hergeführt habe. Seine Begleiter waren keine Lastträger, sondern jene Priester, die man<br />

teomamas nannte, Götterträger. Sie hätten au<strong>ch</strong> keine Warenballen in den Tecpan gebra<strong>ch</strong>t, sondern<br />

einige der wertvollsten und ehrwürdigsten Götterbilder aus den Teocallis der Stadt. Sie müssten<br />

gerettet werden, damit es ihnen so ni<strong>ch</strong>t ergehe wie den Götterbildern in Cempoala kurz vor<br />

der Taufe des Totonakenvolkes. Er selbst habe der Priesters<strong>ch</strong>aft den Vors<strong>ch</strong>lag gema<strong>ch</strong>t, sei<br />

aber außerstande, die Heiligtümer in seinem eigenen Tecpan in Si<strong>ch</strong>erheit zu bringen, weil dort<br />

no<strong>ch</strong> immer eine S<strong>ch</strong>ildwa<strong>ch</strong>e der Weißen patrouilliere.<br />

Nun war Kiefernzweig von der Treue Goldmaskes überzeugt. Er war au<strong>ch</strong> sofort bereit, den<br />

Götterträgern S<strong>ch</strong>utz und Versteck zu gewähren. Zwei Hauserleu<strong>ch</strong>ter zeigten ihnen mit flackernden<br />

Kienspanbündeln den Weg dur<strong>ch</strong> den na<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>warzen Tecpan. An der Tür des Saales, der<br />

die Lasten der teomamas aufnehmen sollte, bemerkte Kiefernzweig die s<strong>ch</strong>mä<strong>ch</strong>tige Knabengestalt;<br />

offenbar war das Kind eben aus dem Bett gestiegen. Er erkannte seinen Sohn, den Kleinen<br />

Pfeil, der wie ein ers<strong>ch</strong>recktes Reh davonzuhus<strong>ch</strong>en versu<strong>ch</strong>te. Er rief ihn herbei, s<strong>ch</strong>alt ihn und<br />

fragte, was er da tue. Der Knabe sagte, er sei dur<strong>ch</strong> das Umherlaufen der Diener und fremde<br />

Stimmen aus dem S<strong>ch</strong>laf geweckt worden und aufgestanden, um na<strong>ch</strong>zusehen. Offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 175<br />

erkannte der Knabe den Zweck des späten Besu<strong>ch</strong>s ni<strong>ch</strong>t. Kiefernzweig s<strong>ch</strong>ickte ihn wieder zu<br />

Bett.<br />

Der Haushofmeister des Tecpans – der Ordner der Teppi<strong>ch</strong>e –, ein kleiner fetter Mann mit<br />

wackelnden Hängebacken und vorquellendem Bonzenbau<strong>ch</strong>, hatte inzwis<strong>ch</strong>en die wartenden<br />

Priester dur<strong>ch</strong> harmlose Wi<strong>ch</strong>tigtuerei und ni<strong>ch</strong>t ohne Neugier unterhalten. Die Aristokraten, meinte<br />

er, pflegten si<strong>ch</strong> zwar Blumentöpfe als Ges<strong>ch</strong>enke zuzusenden, aber do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t so s<strong>ch</strong>were Blumen,<br />

und au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t um die Zeit, wenn die Teponaztlitrommel die Na<strong>ch</strong>t in zwei Hälften teile.<br />

Seine Wissbegier, was die geheimnisvollen Ballen betraf, wurde s<strong>ch</strong>nell gestillt. Sein Herr<br />

trat mit Prinz Goldmaske ein und fragte soglei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> den Götterbildern. Es handelte si<strong>ch</strong>, wurde<br />

ihm geantwortet, vor allem um ein uraltes Bildnis des Totengottes Mictlantecutli, das gänzli<strong>ch</strong> aus<br />

selten großen Stücken Göttertürkis zusammengesetzt sei. Nur den Götterbildern, keinem lebenden<br />

Mens<strong>ch</strong>en war es erlaubt, Göttertürkis als S<strong>ch</strong>muck zu tragen – er sei heilig und unantastbar.<br />

Wenn die Christen des Totengottes habhaft werden sollten, wäre dies ein unvorstellbarer Frevel!<br />

Fürst Kiefernzweig befahl dem Ordner der Teppi<strong>ch</strong>e, Goldmaske und die Priester ins Hausheiligtum<br />

zu führen, eine Kammer mit Altar und Götterbildern, denen an Feiertagen mit Maisku<strong>ch</strong>en<br />

und Wa<strong>ch</strong>telblut geopfert wurde. Sklaven sollten beim Auspacken und Aufstellen der Götterbilder<br />

behilfli<strong>ch</strong> seien. Er selbst werde bald na<strong>ch</strong>kommen und den Eingang ins Heiligtum dur<strong>ch</strong><br />

eine steinerne Türplatte wie ein Grabgewölbe s<strong>ch</strong>ließen lassen.<br />

*<br />

Sie hatten die Bilder geborgen und die Tür der Götterkammer dur<strong>ch</strong> eine Steinplatte vers<strong>ch</strong>lossen.<br />

Kiefernzweig forderte Goldmaske und die Götterträger auf, ihm in den Garten zu folgen, wo im<br />

Ballspielhaus ein Na<strong>ch</strong>tmahl und Getränke für sie bereitständen. Die Götterträger lehnten die Einladung<br />

mit förmli<strong>ch</strong>en Dankesworten ab und verließen den Tecpan, vom Hausherrn bis ans Tor<br />

begleitet. Goldmaske blieb, da er wie Kiefernzweig das Bedürfnis verspürte, seine Trauer mit Reden<br />

zu besänftigen und im Raus<strong>ch</strong> Befreiung von s<strong>ch</strong>limmen Vorahnungen zu su<strong>ch</strong>en. Die Dieners<strong>ch</strong>aft<br />

erhielt die Erlaubnis, si<strong>ch</strong> zurückzuziehen – nur ein Hauserleu<strong>ch</strong>ter musste im Garten bleiben,<br />

um von Zeit zu Zeit neue Pulquegefäße aus der Vorratskammer zu holen und abgebrannte<br />

Harzfackeln zu ersetzen.<br />

Auf der Terrasse redeten und ze<strong>ch</strong>ten die beiden Freunde die ganze Na<strong>ch</strong>t hindur<strong>ch</strong>. Goldmaske<br />

spra<strong>ch</strong> vom Gebäude, das er den Christen auszuliefern verpfli<strong>ch</strong>tet war und das künftig als<br />

Knabenkloster dienen sollte.<br />

»Die Klostergründung ist eine größere Gefahr als die Taufe des Volkes«, meinte er, »denn<br />

Wasser hinterlässt keine Spuren.«<br />

»Du hast Re<strong>ch</strong>t! Worte hinterlassen Spuren, wenn sie die Herzen der Kinder vergiften.«<br />

»Die Christen stehlen uns die Herzen der Kinder! Sie reißen sie ihnen aus der Brust, wie die<br />

Priester sie ihren Opfersklaven entreißen!«<br />

»Moctezuma...«, sinnierte Kiefernzweig vor si<strong>ch</strong> hin. »Nur er kann no<strong>ch</strong> helfen.«<br />

»Moctezuma?« Goldmaske s<strong>ch</strong>aute seinen Freund überras<strong>ch</strong>t an. »Er war stets der Feind<br />

Tlaxcalas. Wie soll er uns helfen?«<br />

»Alleine sind wir zu s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>. Moctezuma – i<strong>ch</strong> weiß es wie du – ist treulos und wankelmütig.<br />

Und do<strong>ch</strong> muss jetzt jeder Tlaxcalteke, wenn er den Freistaat und die Freiheit liebt, seine heimli<strong>ch</strong>e<br />

Hoffnung auf die Tücke und den Verrat des Tyrannen Moctezuma setzen. Und wenn ni<strong>ch</strong>t auf<br />

ihn, so auf sein Volk. Die stolzen Mexica werden ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>icksalergeben alle Kränkungen hinnehmen,<br />

wie die verblendeten Tlatepoca es tun.«<br />

»Wenn die weißen Eroberer si<strong>ch</strong> in Teno<strong>ch</strong>titlán herausnehmen, die Käfige der Opfersklaven<br />

zu öffnen, Kreuze zu erri<strong>ch</strong>ten und Erziehungshäuser für die Söhne des Adels zu gründen, werden<br />

sie hinweggefegt und bis auf den letzten Mann ausgetilgt! Und dann, vom Zwang des Kreuzes und<br />

der Taufe ledig, werden wir unsere Kinder wieder lehren können, dass Mens<strong>ch</strong>enblut die Erde befru<strong>ch</strong>tet<br />

und den Himmel erfreut.«<br />

»So lange können wir ni<strong>ch</strong>t warten«, meinte Kiefernzweig. »Jetzt s<strong>ch</strong>on müssen wir uns weigern,<br />

die Kinder ins Erziehungshaus der Gelbhaarigen zu s<strong>ch</strong>icken. I<strong>ch</strong> jedenfalls werde ni<strong>ch</strong>t dulden,<br />

dass meine Söhne getauft werden, das s<strong>ch</strong>wöre i<strong>ch</strong> beim Andenken meiner Ahnen!«


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 176<br />

*<br />

Der Kleine Pfeil lag wa<strong>ch</strong> und laus<strong>ch</strong>te. Die Sklaven waren zur Ruhe gegangen. Stille lag über<br />

dem Tecpan; nur hin und wieder knackte das Holz einer Truhe oder Diele, das na<strong>ch</strong> des Tages<br />

Wärme abkühlte. Mäuse hus<strong>ch</strong>ten und pfiffen irgendwo auf Marmorfliesen, die vom silbrigen, aus<br />

den Da<strong>ch</strong>luken herabs<strong>ch</strong>einenden Mondli<strong>ch</strong>t erhellt wurden. Mehrmals war von den Weiden im<br />

Garten der Ruf eines Na<strong>ch</strong>tkäuz<strong>ch</strong>ens zu hören; dann war der Vogel verstummt, offenbar vers<strong>ch</strong>eu<strong>ch</strong>t<br />

vom Lärm der beiden nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Trinker. Der Pulque hatte ihre ernsten Gesprä<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong><br />

und na<strong>ch</strong> in das Gegröle Betrunkener verwandelt. Der Knabe vernahm deutli<strong>ch</strong> die Worte eines<br />

Kriegsliedes, das sein Vater sang:<br />

»Erinnert eu<strong>ch</strong>, ihr Tlatepoca, ihr unsere Neffen,<br />

Wie wir die Mexica und ihre Frauen rösteten,<br />

Als man die Sklaven auswählte für den Opferstein.«<br />

Darauf hatte der Kleine Pfeil gewartet. Er stand auf und ertastete an der Wand die steinerne<br />

Axt; sie hing dort, seit er si<strong>ch</strong> entsinnen konnte. Er nahm sie, s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> aus der S<strong>ch</strong>lafkammer und<br />

dur<strong>ch</strong> die angrenzenden Säle. Hin und wieder blieb er stehen und laus<strong>ch</strong>te gespannt. Er s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />

dur<strong>ch</strong> den Garten und von dort zum Vorratshaus. Die Tür fand er offen. Mehrere Stufen führten in<br />

den kühlen, kellerartigen Raum hinunter.<br />

Gerade als er hinabgestiegen war, hörte er S<strong>ch</strong>ritte. Der Sklave kam, um ein neues<br />

Pulquegefäß für die Trinkenden zu holen. Der Knabe versteckte si<strong>ch</strong> hinter einem mannshohen,<br />

mit Mais gefüllten Sack und wartete, bis der Sklave si<strong>ch</strong> wieder entfernt hatte und das S<strong>ch</strong>lurfen<br />

seiner Hirs<strong>ch</strong>ledersandalen si<strong>ch</strong> im Garten verlor. Zwis<strong>ch</strong>en Krügen, Säcken und Körben, die mit<br />

Dörrfis<strong>ch</strong>, Krabben, Wildbret, Hülsenfrü<strong>ch</strong>ten und Obst gefüllt waren, hus<strong>ch</strong>te der Knabe zu den<br />

auf hölzerne Dreifüße gestellten Gefäßen aus porösem, s<strong>ch</strong>witzendem Ton, die netzartig mit Basts<strong>ch</strong>nüren<br />

umsponnen waren. In diesen Gefäßen wurden die beraus<strong>ch</strong>enden Getränke – Zypressenzapfenwein,<br />

Nopalfru<strong>ch</strong>twein, Honigwein, Wermut und Pulque – aufbewahrt und gekühlt. Mit<br />

der Axt s<strong>ch</strong>lug er in den Boden eines jeden Gefäßes ein kleines Lo<strong>ch</strong>, dass der Saft herausrann.<br />

Heimli<strong>ch</strong>, wie er gekommen war, s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> er wieder dur<strong>ch</strong> Garten und Säle, bis er vor dem<br />

Teocalco anlangte, dem Hausheiligtum. Er fand die steinerne Platte vor dem Eingang nur angelehnt;<br />

erst tags darauf sollte sie mit Kalk und Mörtel zugemauert werden. Es gelang ihm, den<br />

s<strong>ch</strong>weren Stein ein wenig wegzus<strong>ch</strong>ieben, sodass er si<strong>ch</strong> hindur<strong>ch</strong>zwängen konnte.<br />

Jetzt befand er si<strong>ch</strong> in der Götterkammer, ro<strong>ch</strong> den süßli<strong>ch</strong>en Kopalduft. Mondli<strong>ch</strong>t fiel dur<strong>ch</strong><br />

eine Li<strong>ch</strong>töffnung in der Decke und ließ das türkisene Skelettgesi<strong>ch</strong>t des Totengottes funkeln.<br />

Re<strong>ch</strong>ts und links von ihm standen, nah zusammengerückt, große Steinbilder der Wassergöttin<br />

Maid-mit-dem-blauen-Hüfttu<strong>ch</strong>, des Regengottes Tlaloc und des Jagd- und Kriegsgottes Camaxtli.<br />

Außer ihnen waren no<strong>ch</strong> die seit seiner Kindheit vertrauten Gestalten der kleinen, fußhohen Hausgötter<br />

versammelt.<br />

Je ein Hieb mit der Axt genügte, um die kleinen Hausgötter in S<strong>ch</strong>erben zu s<strong>ch</strong>lagen. Sie<br />

zerfielen wie Töpferges<strong>ch</strong>irr, beinahe lautlos; sie s<strong>ch</strong>rien ni<strong>ch</strong>t, erhoben keine Anklage und ma<strong>ch</strong>ten<br />

keinen Lärm über ihren Tod. Dann versu<strong>ch</strong>te er die großen Götter zu verni<strong>ch</strong>ten. Er hatte sie<br />

und ihresglei<strong>ch</strong>en immer s<strong>ch</strong>on als Herren über Leben und Tod gefür<strong>ch</strong>tet und stand ihnen au<strong>ch</strong><br />

jetzt ni<strong>ch</strong>t fur<strong>ch</strong>tlos gegenüber, zumal Pater Olmedo ihm erklärt hatte, dass sie demonios seien,<br />

böse Teufel.<br />

Der kalte S<strong>ch</strong>weiß rann ihm über die Stirn; er war si<strong>ch</strong> bewusst, wie ungeheuerli<strong>ch</strong> die Tat<br />

war, die er nun beging. Do<strong>ch</strong> ein Gefühl der Selbstbewunderung stärkte ihm den Mut und half ihm,<br />

seine Angst zu besiegen. Mo<strong>ch</strong>ten die bösen Teufel aus den Steinen hervorspringen und ihn würgen<br />

– was lag an seinem Tod! Viellei<strong>ch</strong>t konnte es ihm gelingen, seinem Vater die Ma<strong>ch</strong>tlosigkeit<br />

der Götzen zu beweisen. Der Mutter wegen hatte er die beraus<strong>ch</strong>enden Getränke verni<strong>ch</strong>tet, indem<br />

er die Gefäße zers<strong>ch</strong>lug, denn wenn der Vater betrunken war, s<strong>ch</strong>lug er die Mutter. Do<strong>ch</strong> was<br />

er jetzt tat, ges<strong>ch</strong>ah um seines Vaters willen, den er trotz allem ni<strong>ch</strong>t weniger liebte als die Mutter,<br />

obwohl er auf die Einflüsterungen der demonios und der Sonnenstein hörte. Ja, er hing an seinem<br />

Vater und wollte ihn retten, wollte ihn heilen, au<strong>ch</strong> wenn er ni<strong>ch</strong>t mit ihm zu spre<strong>ch</strong>en verstand und


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 177<br />

nie das re<strong>ch</strong>te Wort fand, sobald er vom Vater angeredet wurde. Nun wagte er etwas, das den<br />

Vater viellei<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>merzte, ihn viellei<strong>ch</strong>t zur Raserei bra<strong>ch</strong>te – ihn aber au<strong>ch</strong> vom Bann der bösen<br />

Teufel erlösen konnte.<br />

Mit aller Kraft hieb er auf die Götzen ein. Die S<strong>ch</strong>neide der Axt stumpfte ab, wurde s<strong>ch</strong>artig.<br />

Die Granitbildnisse hielten stand und grinsten ihn an; sie wiesen kaum S<strong>ch</strong>rammen auf. Dem Regengott<br />

war ein Stück seiner brillenartigen Augenumrahmung weggebro<strong>ch</strong>en und dem Kriegsgott<br />

einige Perlen seines Saphirhalsbandes, do<strong>ch</strong> der Knabenarm war zu s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>, um die massiven<br />

Steingötter zu spalten.<br />

Da wandte der Kleine Pfeil si<strong>ch</strong> dem mondbes<strong>ch</strong>ienenen Totengott zu. Sein Abbild war ni<strong>ch</strong>t<br />

aus Stein, sondern mosaikartig aus vielen kleinen Göttertürkisen zusammengesetzt. Die Axt traf<br />

den blauen Totenkopf am S<strong>ch</strong>eitel und zersplitterte den S<strong>ch</strong>ädel. Ein zweiter wu<strong>ch</strong>tiger Hieb traf<br />

das S<strong>ch</strong>lüsselbein, dass der Brustkorb auseinanderklaffte. Es knisterte, begann zu rieseln und zu<br />

kra<strong>ch</strong>en. Der Götze bra<strong>ch</strong> in si<strong>ch</strong> zusammen.<br />

Do<strong>ch</strong> der Triumph des Knaben währte nur einen Augenblick, als si<strong>ch</strong> ihm s<strong>ch</strong>wer eine Hand<br />

auf die S<strong>ch</strong>ulter legte. Der fette Ordner der Teppi<strong>ch</strong>e stand vor ihm. Seine Augen quollen aus den<br />

Höhlen wie Fis<strong>ch</strong>augen.<br />

»Mein kleiner Herr«, flüsterte er fassungslos. »Fort, fort, sonst rä<strong>ch</strong>t der Totengott si<strong>ch</strong> an<br />

dir!«<br />

Gutmütig und voller Mitleid sah er, dass das Kind in Todesgefahr s<strong>ch</strong>webte. Er wusste, dass<br />

Kiefernzweig si<strong>ch</strong> vergessen und seinen Sohn wegen des Frevels grausam strafen würde.<br />

»Mein kleiner Herr, fort, fort«, wiederholte er. »Man darf di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t sehen... I<strong>ch</strong> werde die Tür<br />

vor Sonnenaufgang mit Mörtel und weißer Erde zumauern.«<br />

Do<strong>ch</strong> das Kind konnte der Ra<strong>ch</strong>e des Totengottes ni<strong>ch</strong>t mehr entgehen. Der Ordner der<br />

Teppi<strong>ch</strong>e stieß einen leisen S<strong>ch</strong>reckenss<strong>ch</strong>rei aus. Am Eingang zum Heiligtum stand Sonnenstein<br />

mit drei Sandalenbinderinnen. Sie hatte alles gehört. Nun lä<strong>ch</strong>elte sie, sah ihre Hoffnung der Erfüllung<br />

nahe. Draußen erklang der trunkene Gesang Kiefernzweigs, kam näher und näher.<br />

»Erinnert eu<strong>ch</strong>, ihr Tlatepoca, ihr unsere Neffen,<br />

Wie wir die Mexica und ihre Frauen rösteten,<br />

Als man die Sklaven auswählte für den Opferstein.«<br />

Goldmaske war gegangen. S<strong>ch</strong>wankend hatte der Fürst seinen Freund bis ans Haupttor des<br />

Tecpans begleitet. Das erste Frührot färbte bereits den Himmel. Sonnenstein flüsterte einer Sandalenbinderin<br />

einige Worte zu, und eilig entfernte si<strong>ch</strong> die Sklavin.<br />

»Bleib«, befahl Sonnenstein dem Knaben. »Unser Herr Kiefernzweig ers<strong>ch</strong>eint glei<strong>ch</strong> – er<br />

kommt, weil i<strong>ch</strong> ihn rief. Er wird dein Ri<strong>ch</strong>ter sein und di<strong>ch</strong> bestrafen, wie du es verdient hast!«<br />

*<br />

Eine Stunde später trug Windende S<strong>ch</strong>lange ihren sterbenden, aus tiefen Wunden blutenden Sohn<br />

auf den Armen dur<strong>ch</strong> den Tecpan in ihr S<strong>ch</strong>lafgema<strong>ch</strong>, wo sie das Kind s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zend auf ihr Lager<br />

bettete. Vergebens bemühte sie si<strong>ch</strong>, die Wunden zu verbinden und mit Balsam zu kühlen. Verzweifelt<br />

musste sie es aufgeben: Das Kind verblutete.<br />

Der Fürst hatte alle fortgejagt, au<strong>ch</strong> Sonnenstein, na<strong>ch</strong>dem er den zerstörten Türkisgott erblickt<br />

hatte, und hatte den Knaben wortlos in ein angrenzendes Gema<strong>ch</strong> gezogen. Er hatte ihn nur<br />

streng zü<strong>ch</strong>tigen wollen in der Hoffnung, er werde um Verzeihung betteln. Do<strong>ch</strong> der Knabe begann<br />

vom Erlöser der Welt zu reden, Xesu Quilisto, und der Gnadenmutter Malía, und gab entstellte und<br />

missverstandene Phrasen aus dem Religionsunterri<strong>ch</strong>t von si<strong>ch</strong>. Da s<strong>ch</strong>lug der Vater auf ihn ein,<br />

bis sein Arm erlahmte, bis er selbst vor Ermattung zusammenbra<strong>ch</strong> und si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>weißtriefend in<br />

einen Sessel fallen ließ. Vor ihm lag das Kind am Boden, blutüberströmt und am ganzen Körper<br />

voller klaffender Wunden. Kiefernzweig sah die Wunden, sah, was er angeri<strong>ch</strong>tet hatte. Da begann<br />

er laut zu weinen, hielt die Hände vors Gesi<strong>ch</strong>t, ges<strong>ch</strong>üttelt von S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zen, zerrissen von S<strong>ch</strong>am<br />

über si<strong>ch</strong> selbst und Mitleid mit dem Kind, das er liebte.<br />

Im Bett seiner Mutter, gestrei<strong>ch</strong>elt von der tränenlos Weinenden, umringt von den vers<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 178<br />

terten Ges<strong>ch</strong>wistern, musste der Knabe si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> mehrere Stunden lang quälen, ehe der Tod ihn<br />

erlöste.<br />

Kiefernzweig weinte wieder laut, sang die Totenklage und legte dem Kind den Totens<strong>ch</strong>muck<br />

an. Dann trug er die Lei<strong>ch</strong>e in die Götterkammer und begrub sie eigenhändig unterhalb des Hausaltars.<br />

Dana<strong>ch</strong> rief er seine Weiber, Kinder, Hausbeamte, Diener und Sklaven zusammen. Alle<br />

Wei<strong>ch</strong>heit war wieder von ihm gewi<strong>ch</strong>en, und er befahl, das Ges<strong>ch</strong>ehene geheim zu halten. Sollte<br />

es verraten werden, würde er strenge Strafen verhängen.<br />

Den dicken Haushofmeister mit den Hängebacken und dem Bonzenbau<strong>ch</strong> ließ er von vier<br />

vers<strong>ch</strong>wiegenen Kriegern als Opfersklave in einen Tempel Tezcatlipocas bringen.<br />

*<br />

Kein Tlaxcalteke glaubte, dass Pimoti und Aguilár heil zurückkehren würden. Wer die Kriegserklärung<br />

überbra<strong>ch</strong>te, musste sein Leben hingeben und wurde als Held verehrt. Der Krieg war bes<strong>ch</strong>lossen,<br />

eifrig wurde gerüstet. Pfeile und Lanzen waren mit Feuersteinspitzen zu versehen,<br />

S<strong>ch</strong>ilde mussten geflickt, fris<strong>ch</strong> bemalt und gefirnisst, fehlende Waffen dur<strong>ch</strong> neue aus dem<br />

Speerhaus ersetzt werden.<br />

Au<strong>ch</strong> die Kastilier trafen Vorbereitungen. Eine Wo<strong>ch</strong>e vor dem Abmars<strong>ch</strong> ins Feld sollten<br />

Taufe und Ho<strong>ch</strong>zeit stattfinden. Goldmaske hatte den Hohen Rat bewogen, in die Bekehrung der<br />

gesamten Stadtbevölkerung einzuwilligen; dies konnte man aber ni<strong>ch</strong>t an einem Tag dur<strong>ch</strong>führen,<br />

und die Taufhandlungen mussten zwis<strong>ch</strong>en Pater Olmedo, dem Lizentiaten Juan Díaz und Fray<br />

Francisco López de Gómera aufgeteilt werden. Olmedo sollte die Adligen, der Lizentiat und der<br />

Kaplan das Volk taufen. Tagelang nahmen die drei Priester bis zur Ers<strong>ch</strong>öpfung die heilige Handlung<br />

vor.<br />

Vorher war no<strong>ch</strong> das Problem zu lösen, hunderttausend Namen ni<strong>ch</strong>t nur zu finden, sondern<br />

si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> zu merken. Der drohenden Verwirrung wurde dur<strong>ch</strong> ein radikales Mittel abgeholfen: Am<br />

ersten Tag erhielten alle Täuflinge den Namen Juan, am folgenden Tage den Namen Pedro; am<br />

dritten wurden lauter Annas und am vierten lauter Marías getauft. Und so weiter! La Santa Madre<br />

Iglesia hatte wieder verstanden, si<strong>ch</strong> den Umständen anzupassen.<br />

Mit mehr Liebe und Sorgfalt waren den fünf Fürstentö<strong>ch</strong>tern und ihren ho<strong>ch</strong>adligen Sippen<br />

die Taufnamen ausgewählt worden. Für den Morgen ihrer Taufe war au<strong>ch</strong> das Ho<strong>ch</strong>zeitsfest der<br />

Bräute angesetzt, sowie die Einweihung des Klosters.<br />

Am Vorabend des Festes traf ein Otomi in der Stadt Tlaxcala ein. Er kam von einem Posten<br />

an der Großen Mauer, die die Grenze gegen Cholula bildete, und überbra<strong>ch</strong>te der Malintzín einen<br />

auf Agavepapier gemalten Botenbrief. Marina hatte in ihrer Jugend die Erziehung einer Fürstento<strong>ch</strong>ter<br />

genossen und war daher imstande, ohne Beihilfe die Hieroglyphen zu entziffern. Der kurze<br />

Brief enthielt eine Warnung, die Aguilár betraf: Er befinde si<strong>ch</strong> – ebenso wie Pimoti – auf dem<br />

Rückweg, werde dem Ans<strong>ch</strong>lag gedungener Mörder aber kaum entgehen, es sei denn, dass ihm<br />

die Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en Beistand leisteten. Aus dem Brief ging ni<strong>ch</strong>t hervor, wer der S<strong>ch</strong>reiber war,<br />

wohl aber, dass er Marinas wegen warnte und ihren Dank zu verdienen hoffte – viellei<strong>ch</strong>t weil er<br />

den Frater, der wie Marina als Dolmets<strong>ch</strong>er amtete, für ihren Gefährten und Freund hielt.<br />

Marina zeigte Cortés den Brief mit der Befür<strong>ch</strong>tung, es könne si<strong>ch</strong> um eine Kriegslist handeln.<br />

Es sei do<strong>ch</strong> unglaubwürdig, dass Pimoti und Aguilár no<strong>ch</strong> lebten und dass ihnen gestattet<br />

werde, den Heimweg anzutreten. Wären sie wirkli<strong>ch</strong> freigelassen worden, wie widersinnig sei es<br />

dann, dass man sie ermorden wolle? Der Zweck des Briefes sei es wohl, kastilis<strong>ch</strong>e Reiter ins<br />

Verderben zu locken.<br />

Cortés teilte diese Ansi<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t. Er gab den Widerspru<strong>ch</strong> zu, dass Leute hinterrücks getötet<br />

werden sollten, deren öffentli<strong>ch</strong>e Hinri<strong>ch</strong>tung na<strong>ch</strong> der Überbringung der weißen S<strong>ch</strong>minke ni<strong>ch</strong>t<br />

verwundert hätte. Denno<strong>ch</strong> hielte er die Warnung für ehrli<strong>ch</strong>. Niemand anders werde den Brief<br />

abgesandt haben als der Federherr, der junge König von Cholula. S<strong>ch</strong>on damals, als der Federherr<br />

die Einladung na<strong>ch</strong> Cholula überbra<strong>ch</strong>te, habe er bemerkt, dass der junge Mann Marina mit<br />

den Augen vers<strong>ch</strong>lang. Nun zweifle er ni<strong>ch</strong>t, dass er die Kastilier Marinas wegen warnen wolle und<br />

glaube, der gut gemeinte Rat dürfe ni<strong>ch</strong>t in den Wind ges<strong>ch</strong>lagen werden.<br />

Trotz vorgerückter Stunde bat Cortés Diego de Ordás, mit Lugo, Tapia und dem zum Feldob-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 179<br />

risten beförderten Luis Marín na<strong>ch</strong> Cholula aufzubre<strong>ch</strong>en. Sie sollten no<strong>ch</strong> die Kavalleristen<br />

Domínguez und Lares mitnehmen. Er wählte diese Offiziere, weil anderntags Alvarado, Velásquez<br />

de León, Sandoval, Olíd und Avila – die Verlobten der fünf Fürstentö<strong>ch</strong>ter – Ho<strong>ch</strong>zeit halten.<br />

In dieser kleinen Kavalleriebrigade verstand jedo<strong>ch</strong> niemand die Landesspra<strong>ch</strong>e, und da<br />

Cortés Marina ni<strong>ch</strong>t entbehren konnte, ritt Doña Elvira, eine der beiden Ehefrauen des s<strong>ch</strong>önhändigen<br />

Cano, als Dolmets<strong>ch</strong>erin mit. Sie hatte zehn Jahre unter Kariben und Indianern gelebt und<br />

war neben Marina als Dolmets<strong>ch</strong>erin am geeignetsten. Seit der nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Tlaxcaltekens<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t<br />

hatte sie das Pferd der Amazone versorgt und ihr die Waffen geputzt - zuerst um si<strong>ch</strong> erkenntli<strong>ch</strong><br />

zu zeigen, später, weil es ihr Freude ma<strong>ch</strong>te. Als ihr dann der Bergmann und Tanzmeister Ortiz<br />

das Reiten beibra<strong>ch</strong>te, saß sie bald wie ein Mann im Sattel. Für den Ritt na<strong>ch</strong> Cholula lieh Ortiz ihr<br />

seinen Rotfu<strong>ch</strong>s, den Pegasus. Und der Einarmige von Villanueva nahm si<strong>ch</strong> seine Sturmhaube<br />

vom Kopf und stülpte sie ihr auf die spärli<strong>ch</strong>en Locken.<br />

*<br />

Jerónimo de Aguilár verließ Cholula und wandte si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Nordosten in Ri<strong>ch</strong>tung zur<br />

tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Mauer. Bauern und Händler, denen er auf der Landstraße begegnete, musterten<br />

ihn zwar verstohlen und meist finsteren Blickes, ließen ihn aber unbehelligt seines Weges ziehen.<br />

In den Dörfern taten die erwa<strong>ch</strong>senen Bewohner, als sähen sie ihn ni<strong>ch</strong>t; nur Kinder liefen ihm<br />

neugierig hinterher und warfen ihm man<strong>ch</strong>mal Steine na<strong>ch</strong>. Im Anstieg zur Anhöhe, über die si<strong>ch</strong><br />

die Große Mauer s<strong>ch</strong>längelte, wurde er von zwei wandernden mexicanis<strong>ch</strong>en Kaufleuten überholt<br />

und ins Gesprä<strong>ch</strong> gezogen. Ihre Ware – Felle wilder Tiere und man<strong>ch</strong>erlei S<strong>ch</strong>langenhäute – trugen<br />

sie in großen Kiepen auf dem Rücken. Die beiden wanderten so lei<strong>ch</strong>ten S<strong>ch</strong>rittes dahin, dass<br />

Aguilár kaum folgen konnte. Sie hätten heute den Rückweg na<strong>ch</strong> Tlatelolco angetreten,<br />

erzählten sie, weil das Tageszei<strong>ch</strong>en »Eins Affe« besonders günstig für<br />

eine Reise sei. Dann fragten sie ihn über sein Ziel aus und rieten ihm, er möge<br />

si<strong>ch</strong> lieber ihnen ans<strong>ch</strong>ließen und einen Umweg über mexicanis<strong>ch</strong>es Gebiet ma<strong>ch</strong>en,<br />

da die <strong>ch</strong>olultekis<strong>ch</strong>en Grenzwä<strong>ch</strong>ter ihn niemals dur<strong>ch</strong>lassen würden; die<br />

nordwestli<strong>ch</strong>e Grenze aber sei unbewa<strong>ch</strong>t.<br />

Jerónimo de Aguilár<br />

Aguilár ließ si<strong>ch</strong> überreden. Seine Begleiter behandelten ihn anfangs<br />

freundli<strong>ch</strong> und mit Zuvorkommenheit. Aber das Benehmen der beiden änderte<br />

si<strong>ch</strong>, als sie gegen Abend auf mexicanis<strong>ch</strong>es Gebiet we<strong>ch</strong>selten. Sie begannen, leise und erregt<br />

miteinander zu flüstern; wie sehr Aguilár au<strong>ch</strong> hor<strong>ch</strong>te, er war ni<strong>ch</strong>t fähig, dem ras<strong>ch</strong>en Wortwe<strong>ch</strong>sel<br />

zu folgen. Eine ganze Weile ging er s<strong>ch</strong>weigsam und beunruhigt neben ihnen her.<br />

Der Himmel hatte si<strong>ch</strong> allmähli<strong>ch</strong> mit niedrig wallenden grauen Wolken verdüstert. In einer<br />

baumlosen, grasbewa<strong>ch</strong>senen Talmulde begann Regen zu nieseln und kühle, unfreundli<strong>ch</strong>e Fallwinde<br />

stießen böig die Hänge herab. Aguilárs Wandergenossen begannen wieder, halblaut miteinander<br />

zu reden; diesmal s<strong>ch</strong>ienen sie zu streiten, und Aguilár verstand einige Worte, die keinen<br />

Zweifel mehr ließen, dass seine Ermordung bes<strong>ch</strong>lossene Sa<strong>ch</strong>e war. Ni<strong>ch</strong>t ob, sondern wo sie<br />

erfolgen solle, wurde von den beiden Händlern erörtert. Der eine meinte, dass der nahe Wald der<br />

passende Ort sei, der andere wollte die Tat sofort ausführen, da in der Talmulde kein Mens<strong>ch</strong> sei,<br />

der sie stören könne.<br />

Eigentli<strong>ch</strong> erfuhr Aguilár ni<strong>ch</strong>ts Neues, denn s<strong>ch</strong>on seit Stunden hatte er das Verhängnis nahen<br />

gefühlt. Vor dem Priesterkönig in Cholula hatte er mit seinem Leben abges<strong>ch</strong>lossen und einen<br />

grausamen Tod erwartet; nun aber, da ihm das Leben zurückgegeben war, begann er si<strong>ch</strong> zu<br />

für<strong>ch</strong>ten. Er musste si<strong>ch</strong> zusammenreißen, um den beiden seine Angst ni<strong>ch</strong>t zu zeigen und das<br />

Zittern seiner Glieder zu verbergen. Aguilár überlegte fieberhaft. Ihn hier im abgelegenen Ho<strong>ch</strong>land<br />

umzubringen, wäre für Wegelagerer oder gedungene Mörder der beste Ort. Um der zermürbenden<br />

Ungewissheit ein Ende zu ma<strong>ch</strong>en, stellte er die Mexica zur Rede. Unverhofft blieb er stehen und<br />

fragte:<br />

»Warum wollt ihr mi<strong>ch</strong> töten?«


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 180<br />

Der jüngere der beiden, ein kleiner, stämmiger Mann, blickte verlegen zu Boden. Der andere<br />

– groß, s<strong>ch</strong>lank, mit auffallend breiter Nase und vollen Lippen – ma<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t einmal den Versu<strong>ch</strong><br />

zu leugnen.<br />

»Du bist des Todes«, gab er freimütig zu. »Wir haben den Auftrag.«<br />

»Den Auftrag? Das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier gab mi<strong>ch</strong> frei! Wer kann ihm widerspre<strong>ch</strong>en?«<br />

»Das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier befiehlt in Cholula. Hier sind wir in Mexico, da gilt sein Wort<br />

ni<strong>ch</strong>ts mehr.«<br />

»Wer wüns<strong>ch</strong>t denn meinem Tod? Wem nützt er?«, fragte Aguilár eindringli<strong>ch</strong>.<br />

»Er hat di<strong>ch</strong> gesehen, und du hast ihn gesehen. Das war dein Unglück!«, antwortete der<br />

Breitnasige.<br />

»Meinst du den Edlen, der eintrat, als man mi<strong>ch</strong> hinausführte? Ein mexicanis<strong>ch</strong>er Gesandter?«<br />

»Es war der Tempelhüter, der Gesandte des Zornigen Herrn, des großen Moctezuma. Er<br />

gab uns den Befehl, di<strong>ch</strong> auf mexicanis<strong>ch</strong>es Gebiet zu begleiten und dafür zu sorgen, dass dein<br />

Weg hier endet.« Der Mexica löste die Riemen seiner Warentrage.<br />

Aguilár wurde immer mutloser. »Was bekommt ihr dafür, dass ihr mi<strong>ch</strong> tötet?«, fragte er.<br />

Verzweifelt versu<strong>ch</strong>te er, Zeit zu gewinnen und zermarterte si<strong>ch</strong> den Kopf, wie er das Gesprä<strong>ch</strong><br />

weiterführen könne.<br />

»Hundertzwanzig Mäntel – ein angemessener Preis! Und es muss auf mexicanis<strong>ch</strong>em Boden<br />

ges<strong>ch</strong>ehen.« Während er dies sagte, ließ er seine Warenkiste sanft vom Rücken auf den Boden<br />

gleiten.<br />

»Warum hier?«<br />

»Cholula muss s<strong>ch</strong>uldlos ers<strong>ch</strong>einen, um mit Tlaxcala Frieden s<strong>ch</strong>ließen zu können.« Der<br />

Indianer bückte si<strong>ch</strong>, nestelte an den Vers<strong>ch</strong>lussriemen und öffnete die Kiepe. Es waren weder<br />

Felle no<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>langenhäute darin – nur einige Waffen und ein getrocknetes braunes Stück Fleis<strong>ch</strong>.<br />

Der Franziskaner-Frater beugte si<strong>ch</strong> vor und betra<strong>ch</strong>tete den Inhalt. »Drei... nein, vier Dol<strong>ch</strong>e,<br />

ein Säges<strong>ch</strong>wert und... was ist das? Ein gedörrter Fleis<strong>ch</strong>klumpen?«<br />

»Das ist ein Jaguarherz! Es verleiht Mut!« Er wählte das Säges<strong>ch</strong>wert aus der kleinen Waffensammlung<br />

und ging langsam, Jerónimo de Aguilár im Auge behaltend, um den Frater herum,<br />

sodass dieser zwis<strong>ch</strong>en den beiden Männern zu stehen kam. Dann sagte er in ents<strong>ch</strong>uldigendem<br />

Tonfall: »Die Köpfung kann leider ni<strong>ch</strong>t länger hinausges<strong>ch</strong>oben werden.«<br />

Aguilár musste einsehen, dass er weder davonlaufen no<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> wehren könne. Mutlos und<br />

mit zitternder Stimme bat er seine Mörder: »Gebt mir einen kleinen Aufs<strong>ch</strong>ub, eine kurze Zeit, um<br />

ein letztes Gebet zu meinem Gott zu spre<strong>ch</strong>en.«<br />

»Nein. Knie nieder!«<br />

»Wenn ihr sterben müsstet, dürftet ihr dann ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> zuvor mit euren Göttern reden?«<br />

Der Kleine hinter ihm sagte etwas in einer Dialektspra<strong>ch</strong>e. Aguilár verstand ihn ni<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong><br />

der Große knurrte widerwillig: »Gut, aber i<strong>ch</strong> gebe dir nur so viel Zeit, wie i<strong>ch</strong> von eins bis zur heiligen<br />

Zahl 52 zählen kann.«<br />

Aguilár kniete nieder, faltete die Hände und begann zu beten. Seine Mörder entfernten si<strong>ch</strong><br />

einige S<strong>ch</strong>ritte von ihm. Do<strong>ch</strong> so sehr der Franziskaner au<strong>ch</strong> versu<strong>ch</strong>te, si<strong>ch</strong> auf Gott und sein<br />

Sterben zu konzentrieren - in wenigen Augenblicken sollte sein kopfloser Rumpf hier verbluten –,<br />

lenkte Todesangst ihn ab, und die zum Himmel geri<strong>ch</strong>teten, tränengefüllten Augen s<strong>ch</strong>weiften in<br />

die Runde. Nur no<strong>ch</strong> einmal wollte er die liebe Welt betra<strong>ch</strong>ten!<br />

Do<strong>ch</strong> da zuckte er zusammen! Auf dem Kamm des nahen Hügels hoben si<strong>ch</strong> die Silhouetten<br />

dreier Indianer gegen den regengrauen Himmel ab. Die Indianer – in Jägerkleidung, mit<br />

Jaguarfellmützen auf den strähnigen Haaren – äugten aufmerksam her. Plötzli<strong>ch</strong> sprangen zwei<br />

von ihnen eilig in die Talmulde und riefen die Räuber an.<br />

Aguilár betete ni<strong>ch</strong>t, obglei<strong>ch</strong> er in betender Stellung verharrte. Erstaunt beoba<strong>ch</strong>tete er die<br />

Szene. Die fremden Indianer, die eben mit freundli<strong>ch</strong>er Miene seine Begleiter angespro<strong>ch</strong>en hatten,<br />

fielen jählings über die beiden her und ma<strong>ch</strong>ten sie mit Dol<strong>ch</strong>stößen nieder.<br />

Einer der Indianer kam eilig auf Aguilár zu. Der bekreuzigte si<strong>ch</strong> und senkte den Kopf, in sein<br />

S<strong>ch</strong>icksal ergeben und überzeugt, dass sein Stündlein nun ges<strong>ch</strong>lagen habe.<br />

»Ihr habt ni<strong>ch</strong>ts mehr zu befür<strong>ch</strong>ten«, rief der Indianer ihm auf Spanis<strong>ch</strong> zu. »Do<strong>ch</strong> Ihr wart<br />

in einer verteufelt gefährli<strong>ch</strong>en Lage, Aguilár! Hätte der Zufall ni<strong>ch</strong>t ausgere<strong>ch</strong>net mi<strong>ch</strong> hergeführt,


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 181<br />

wer weiß, wie es mit eu<strong>ch</strong> ausgegangen wäre...«<br />

Frater Jerónimo starrte den fremden Indianer verdutzt an, und endli<strong>ch</strong> erkannte er ihn.<br />

»Gonzalo... Gonzalo Guerrero«, flüsterte er ers<strong>ch</strong>üttert und mit tränenerstickter Stimme. Jetzt erst<br />

wusste er, dass er gerettet war. Jetzt erst hatte er seinen Leidensgenossen aus Yucatán wieder<br />

erkannt – wennglei<strong>ch</strong> nur am Tonfall und an den hellblauen Augen, denn sonst war er ni<strong>ch</strong>t mehr<br />

zu erkennen. Der rote Bart war abrasiert, das rote Haar unter s<strong>ch</strong>warzer Perücke versteckt, das<br />

Gesi<strong>ch</strong>t streifig bemalt. Der Gefleckte Berglöwe hatte mit der Bart- und Haartra<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> die Sklavenfeder<br />

und den metallenen Halsring der Sklaven abgelegt und trug jetzt – wie seine beiden Gefährten<br />

– die Kleidung mexicanis<strong>ch</strong>er Jäger.<br />

Über die Ermordung der beiden Mexica verlor Guerrero ni<strong>ch</strong>t viele Worte. Sie hatten ihr Los<br />

verdient. Sein Begleiter hier sei Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange, ein Bruder der Blauen Feder und des Edlen<br />

Betrübten, der beiden verfeindeten Könige von Tezcoco, und oben auf dem Hügel warte sein Herr,<br />

Cuauhtémoc, der S<strong>ch</strong>lagende Falke, dessen Anwarts<strong>ch</strong>aft auf den Thron Mexicos neuerdings in<br />

Frage gestellt sei; er sei in Ungnade gefallen und von Moctezuma verbannt worden.<br />

Aguilár und Gonzalo hätten Stunden gebrau<strong>ch</strong>t, si<strong>ch</strong> gegenseitig zu erzählen, was ihnen seit<br />

ihrer Trennung vor einem Jahr alles zugestoßen war. Do<strong>ch</strong> Guerrero durfte seinen Gebieter ni<strong>ch</strong>t<br />

zu lange warten lassen.<br />

Sie hatten die unterirdis<strong>ch</strong>e Grabkammer im S<strong>ch</strong>ilfsee s<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> wenigen Tagen wieder<br />

verlassen. Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange hatte si<strong>ch</strong> ihm anges<strong>ch</strong>lossen; ihn beunruhigte ein mögli<strong>ch</strong>er<br />

Bürgerkrieg in Tezcoco, und so su<strong>ch</strong>te er na<strong>ch</strong> einer Gelegenheit, seinen jüngeren Bruder Blaue<br />

Feder zu treffen. In drei Nä<strong>ch</strong>ten hatten die drei den weiten Weg zurückgelegt und waren trotz der<br />

ärmli<strong>ch</strong>en Jägerkleidung mehrmals erkannt worden. Der S<strong>ch</strong>lagende Falke aber war bei den<br />

Mexica so beliebt, dass die Entdeckungen keine anderen Folgen hatte, als dass ihnen Speisen,<br />

Getränke und Zuflu<strong>ch</strong>tsstätten angeboten wurden. Außerdem erhielten sie Rats<strong>ch</strong>läge über si<strong>ch</strong>ere<br />

Wege, auf denen sie Moctezumas Spähern ni<strong>ch</strong>t begegnen würden.<br />

Cuauhtémoc war inzwis<strong>ch</strong>en den Hügel heruntergekommen und hatte leise mit Felsens<strong>ch</strong>lange<br />

gespro<strong>ch</strong>en. Jetzt kamen beide auf Aguilár zu. Der S<strong>ch</strong>lagende Falke kannte ihn von<br />

Cempoala her, wo er ihn als Dolmets<strong>ch</strong>er neben Marina gesehen hatte. Mit herablassender Gebärde<br />

begrüßte er den Franziskaner; er war zufrieden, dass er mit der Rettung Aguilárs eine Absi<strong>ch</strong>t<br />

seines Widersa<strong>ch</strong>ers Tempelhüter dur<strong>ch</strong>kreuzt hatte. Außerdem hatte er Gelegenheit, eine<br />

lästige Dankess<strong>ch</strong>uld gegenüber einem Feind zu beglei<strong>ch</strong>en, war er do<strong>ch</strong> von Cortés vor dem Opfertod<br />

bewahrt worden, als die Totonaken ihn in Cempoala gefangen hatten. Gewiss, Aguilár war<br />

ni<strong>ch</strong>t der Grüne Stein; die Rettung des Dolmets<strong>ch</strong>ers wog die Rettung des künftigen Herrn der<br />

Welt ni<strong>ch</strong>t auf. Do<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Aguilár konnte er die Sonnensöhne vom Einmars<strong>ch</strong> der Adler und Jaguare<br />

Moctezumas in Cholula unterri<strong>ch</strong>ten. Sie hatten die Verstecke der Mexica erkundet; sie<br />

wussten, dass auf der Straße von Cholula zum Pass zwis<strong>ch</strong>en dem Rau<strong>ch</strong>enden Berg und der<br />

Weißen Frau Gruben mit spitzen Pfählen angelegt wurden, um die Hirs<strong>ch</strong>ungeheuer aufzuspießen.<br />

Kein mexicanis<strong>ch</strong>er Bote hätte den Weißen diese Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t überbringen können, weil kein Mexica<br />

na<strong>ch</strong> Tlaxcala hineinkam und au<strong>ch</strong>, weil die Bots<strong>ch</strong>aft wie ein Verrat an Anahuac ers<strong>ch</strong>einen<br />

musste und trotz Cuauhtémocs Beliebtheit von keinem Mexica überbra<strong>ch</strong>t worden wäre.<br />

Denno<strong>ch</strong> lag es Cuauhtémoc fern, sein Land zu verraten. Er hatte stets den offenen Krieg<br />

gegen die Fremdlinge gefordert, no<strong>ch</strong> bei der letzten Kronratssitzung in Teno<strong>ch</strong>titlán. Au<strong>ch</strong> heute<br />

da<strong>ch</strong>te er ni<strong>ch</strong>t anders. Sein Gewissen sagte ihm, dass er sein Land ni<strong>ch</strong>t verriet, wenn er die hinterhältigen<br />

Pläne des Oheims aufdeckte und Mexico vor dem Makel des Verrats bewahrte.<br />

Na<strong>ch</strong> der ein wenig kühlen Begrüßung hatte er si<strong>ch</strong> unbewegt den übers<strong>ch</strong>wängli<strong>ch</strong>en Dank<br />

des Fraters angehört und si<strong>ch</strong> dann kurz mit Felsens<strong>ch</strong>lange beraten. Sie sagten ihm, dass man<br />

ihn dur<strong>ch</strong> mexicanis<strong>ch</strong>es Gebiet bis an ein nordwestli<strong>ch</strong>es Tor der Großen Mauer bringen werde.<br />

*<br />

Am Morgen des großen Ho<strong>ch</strong>zeitsfestes war der Himmel grau und verhangen. Die ganze Na<strong>ch</strong>t<br />

waren Regens<strong>ch</strong>auer über die Stadt Tlaxcala hinweggefegt. Do<strong>ch</strong> als si<strong>ch</strong> die ersten Gäste im<br />

Tecpan Wespenrings einfanden, dur<strong>ch</strong>bra<strong>ch</strong> die Sonne das Gewölk. Christen und Heiden begrüßten<br />

dies als Zei<strong>ch</strong>en der Freude und des Glücks.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 182<br />

Die Festordnung des Tages sah zuerst die Taufe vor, dana<strong>ch</strong> sollte die Einweihung des<br />

Klosters folgen und am Na<strong>ch</strong>mittag die Einsegnung der Brautpaare. Öffentli<strong>ch</strong>e Lustbarkeiten und<br />

ein rei<strong>ch</strong>haltiges Ho<strong>ch</strong>zeitsmahl waren für den Abend geplant. Dem hohen Rang der Bräute entspra<strong>ch</strong>en<br />

ihre Verlobten: Alle waren Offiziere. Wie meist bei politis<strong>ch</strong>en Verlöbnissen, war nur der<br />

Rang auss<strong>ch</strong>laggebend; na<strong>ch</strong> <strong>ch</strong>arakterli<strong>ch</strong>en Eigens<strong>ch</strong>aften wurde ni<strong>ch</strong>t gefragt. Zwei der<br />

Kastilier – Olíd und Avila – waren brutale, rohe Gesellen und hatten Seelen wie Henkerskne<strong>ch</strong>te,<br />

au<strong>ch</strong> wenn sie si<strong>ch</strong> für Kavaliere hielten. Freili<strong>ch</strong> unters<strong>ch</strong>ieden si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Besten unter ihren<br />

Kameraden ni<strong>ch</strong>t allzu sehr von ihnen. Niemand nahm Anstoß daran, dass die liebreizende Erbto<strong>ch</strong>ter<br />

des Blutigen S<strong>ch</strong>ilds, eine Prinzessin, die Gattin des einstigen Galeerensträflings Olíd wurde.<br />

Wollring hatte zwei Tö<strong>ch</strong>ter, von denen die jüngere mit Sandoval verlobt war. Die ältere und<br />

s<strong>ch</strong>önste der fünf Bräute war von Cortés dem Velásquez de León zugeda<strong>ch</strong>t worden – viellei<strong>ch</strong>t,<br />

um ihn von der S<strong>ch</strong>wärmerei für Marina zu heilen; viellei<strong>ch</strong>t, weil er der s<strong>ch</strong>limmen Prophezeiung<br />

seines Astrologen Botello Glauben s<strong>ch</strong>enkte und für den Jüngling mehr als ein flü<strong>ch</strong>tiges Glück<br />

erhoffte; viellei<strong>ch</strong>t aber au<strong>ch</strong>, um zu verhindern, dass ihm na<strong>ch</strong> Doña Catalina Suárez Pa<strong>ch</strong>eco<br />

(seiner Ehefrau in Kuba) und der dicken Prinzessin Doña Catalina India (seiner Ehefrau in<br />

Cempoala) no<strong>ch</strong> eine dritte Gemahlin zuteil würde. Allerdings hatte Cortés einige Überredungskunst<br />

aufbringen müssen, seinem Freund - der si<strong>ch</strong> den Mord an seinem Weib und ihrem Liebhaber<br />

Basaltes ni<strong>ch</strong>t verzieh - auszureden, dass er nie wieder eine Frau an sein unseliges Dasein<br />

ketten dürfe. Cortés wies ihn ein wenig verstimmt darauf hin, dass seine Daseinswüns<strong>ch</strong>e in letzter<br />

Zeit ni<strong>ch</strong>t so unselig gewesen seien, wie er es hinstelle. Velásquez de León wusste, dass von Marina<br />

die Rede war.<br />

Das lag nun mehr als a<strong>ch</strong>t Tage zurück. Damals erfolgte au<strong>ch</strong> eine Brautwerbung, die viel<br />

bela<strong>ch</strong>t wurde, wennglei<strong>ch</strong> es dem feinen Sinn Don Hernándos ni<strong>ch</strong>t entging, dass der Anlass zu<br />

dem Gelä<strong>ch</strong>ter weniger harmlos war. Der Narr Cervantes – immer auf der Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> Mögli<strong>ch</strong>keiten,<br />

Unruhe zu stiften - hatte Mansilla den Durstigen auf den phantastis<strong>ch</strong>en Einfall gebra<strong>ch</strong>t, si<strong>ch</strong><br />

als Bräutigam für eine der fünf Fürstentö<strong>ch</strong>ter zu bewerben. »Wenn man Eu<strong>ch</strong> abweist«, hatte<br />

Cervantes gesagt, »wird das Heer viellei<strong>ch</strong>t zur Einsi<strong>ch</strong>t kommen, dass die Tapferkeit der einfa<strong>ch</strong>en<br />

Soldaten wenig belohnt wird. Denn so ist es immer: Rei<strong>ch</strong>tümer fallen nur dem Rei<strong>ch</strong>en zu,<br />

und Glück nur dem Glückli<strong>ch</strong>en.«<br />

Ni<strong>ch</strong>t dass der Durstige si<strong>ch</strong> vom Narren Cervantes überreden ließ, do<strong>ch</strong> allzu gern gefiel er<br />

si<strong>ch</strong> in der Rolle des Tölpels, der die Leute zum La<strong>ch</strong>en bringt, und ni<strong>ch</strong>ts bereitete ihm mehr Vergnügen,<br />

als dur<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>einbar unfreiwillige Komik die Aufmerksamkeit auf si<strong>ch</strong> zu lenken. So bra<strong>ch</strong>te<br />

er sein Anliegen vor, als Cortés und die Feldobristen si<strong>ch</strong> gerade zum Mittagsmahl niedergelassen<br />

hatten. Na<strong>ch</strong>dem er si<strong>ch</strong> als Heiratskandidat angepriesen hatte, herrs<strong>ch</strong>te einen Moment lang<br />

verdutztes S<strong>ch</strong>weigen.<br />

»Ihr sollt eine Braut bekommen, die Eu<strong>ch</strong> lieb ist«, rief Lugo, ergriff eine leere Weinflas<strong>ch</strong>e,<br />

legte sie dem Brautwerber in den Arm und s<strong>ch</strong>ob ihn mit einem Glückwuns<strong>ch</strong> zur Tür hinaus. Die<br />

Freunde des Durstigen draußen grölten vor La<strong>ch</strong>en.<br />

*<br />

Kurz vor Beginn der Taufe, gegen a<strong>ch</strong>t Uhr morgens, klopfte Pater Olmedo an die Tür von Cortés'<br />

Zimmer. Olmedo äußerte Besorgnis wegen seines Lieblingss<strong>ch</strong>ülers, des Kleinen Pfeils. Alle Täuflinge<br />

seien bereits in dem für die Taufhandlung hergeri<strong>ch</strong>teten Tecpansaal versammelt, nur Windende<br />

S<strong>ch</strong>lange und ihre Kinder fehlten no<strong>ch</strong>. Das an si<strong>ch</strong> würde ihn weiter ni<strong>ch</strong>t bekümmern; sie<br />

könnten si<strong>ch</strong> verspätet haben, aber er ma<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> Sorgen, weil der Kleine Pfeil si<strong>ch</strong> seit zwei Tagen<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr habe blicken lassen, au<strong>ch</strong> seine Mutter und Ges<strong>ch</strong>wister ni<strong>ch</strong>t.<br />

»Warum kommt Ihr damit zu mir, Pater?«, fragte Cortés. »Habt Ihr einen bestimmten Verda<strong>ch</strong>t?«<br />

Die kno<strong>ch</strong>igen Finger Olmedos wühlten nervös in seinem grauen Wildmannsbart. »Ein seltsames<br />

Gefühl habe i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on«, antwortete er. »Es ist viellei<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> bekannt, dass der Kazike<br />

Kiefernzweig das Christentum hasst und von der Taufe ni<strong>ch</strong>ts wissen will. Windende S<strong>ch</strong>lange<br />

hat es darum vor ihm geheim gehalten; sie will ihm erst von der Bekehrung erzählen, wenn sie<br />

vollzogen ist. Sollte Kiefernzweig von der beabsi<strong>ch</strong>tigten Taufe seiner Frau und der Kinder erfah-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 183<br />

ren haben, ist es s<strong>ch</strong>on denkbar, dass er sie eingesperrt hat, um die Taufe zu verhindern.«<br />

»Wollt Ihr, dass i<strong>ch</strong> sie holen lasse, Padre?«, fragte Cortés verdrossen.<br />

»Nein, Euer Gnaden, das könnte nur mit Gewalt ges<strong>ch</strong>ehen, und dazu würde i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t raten.<br />

Übrigens nehme i<strong>ch</strong> an, dass der Kazike mit Weib und Kindern die Stadt verlassen und sie auf<br />

einem seiner Landgüter oder Bergs<strong>ch</strong>lösser in Si<strong>ch</strong>erheit gebra<strong>ch</strong>t hat. Wenn ni<strong>ch</strong>t der Taufe wegen,<br />

so no<strong>ch</strong> eher darum, dass seine Kinder ni<strong>ch</strong>t in unser Kloster kämen. I<strong>ch</strong> glaube, es hat keinen<br />

Zweck, die im Saal Versammelten länger warten zu lassen – es wäre vergebens.«<br />

»Ja, das glaube i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong>«, sagte Cortés. »Und i<strong>ch</strong> für<strong>ch</strong>te, Padre, Ihr werdet Eu<strong>ch</strong> damit abfinden<br />

müssen, dass Ihr die Frau und ihre Kinder ni<strong>ch</strong>t mehr zu Gesi<strong>ch</strong>t bekommt.«<br />

Gesang und Predigt leiteten die Tauffeier ein. S<strong>ch</strong>on hatte die Blaue Feder voller Ergriffenheit<br />

den Namen Seiner Apostolis<strong>ch</strong>en Majestät Don Carlos erhalten, und Goldmaske – weniger<br />

bewegt – den Namen Don Vicente. Seine als Kastilierin gekleidete S<strong>ch</strong>wester Rabenblume strahlte<br />

vor Stolz, als sie den Namen Doña María Luisa erhielt, und die s<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tern lä<strong>ch</strong>elnde Braut des<br />

Velásquez de León tauften sie auf den Namen Doña Violante.<br />

In die feierli<strong>ch</strong>e Stille drangen plötzli<strong>ch</strong> die Geräus<strong>ch</strong>e Hereintretender, und die Blicke aller<br />

wandten si<strong>ch</strong> zum Eingang. Festli<strong>ch</strong> gekleidet, trat Fürst Kiefernzweig in den Saal. Ihm folgten seine<br />

beiden Frauen Sonnenstein und Windende S<strong>ch</strong>lange mit ihren zwei jüngeren Kindern. Mit fester<br />

Stimme erklärte Kiefernzweig, er wolle si<strong>ch</strong> und die Seinen taufen lassen.<br />

Staunen wisperte dur<strong>ch</strong> den Saal. Cortés und Olmedo blickten einander stumm an. Was sollte<br />

das bedeuten? Was hatte den Christenfeind gewandelt? Und wo war der Kleine Pfeil?<br />

Cortés beantwortete den fragenden Blick Olmedos mit A<strong>ch</strong>selzucken. Man konnte den ho<strong>ch</strong><br />

angesehenen und einflussrei<strong>ch</strong>en Kaziken ni<strong>ch</strong>t abweisen; aus Rücksi<strong>ch</strong>t auf die feierli<strong>ch</strong>e Handlung<br />

konnte au<strong>ch</strong> kein Verhör angestellt werden. Das sah au<strong>ch</strong> Olmedo ein. Fragend s<strong>ch</strong>aute er<br />

auf den Mann und die beiden Frauen, do<strong>ch</strong> sie ertrugen seinen Blick, s<strong>ch</strong>ienen si<strong>ch</strong> gewappnet zu<br />

haben. Dass Sonnenstein beunruhigt die herausgeputzten Europäer in ihren Galakleidern, das<br />

große Holzkreuz und das steinerne Taufbecken anstarrte, war ni<strong>ch</strong>t zu verwundern. Auffallend<br />

verändert war Kiefernzweig; sein erzwungener Glei<strong>ch</strong>mut verbarg kaum seine innere Unruhe.<br />

Au<strong>ch</strong> Windende S<strong>ch</strong>lange war kaum wieder zu erkennen. Tränen und Trauer hatten ihr Gesi<strong>ch</strong>t<br />

ausdruckslos und die Augen glanzlos werden lassen.<br />

»Wenn du Christ sein willst, darfst du nur ein eheli<strong>ch</strong>es Weib haben«, ließ Olmedo dur<strong>ch</strong> Marina<br />

verkünden. Ein Hau<strong>ch</strong> von Selbstzufriedenheit lag auf dem gebräunten Antlitz des Paters. Er<br />

war stolz darauf, dass ihm der Einwand eingefallen war, der es ihm ermögli<strong>ch</strong>te, ein salomonis<strong>ch</strong>es<br />

Urteil zu fällen. Jetzt würde si<strong>ch</strong> herausstellen, ob es dem Kaziken mit der Bekehrung ernst<br />

war. Unter den Tlaxcalas erregte der Einwand des Paters großes Aufsehen. Der Fürst war ni<strong>ch</strong>t<br />

der Einzige im Lande, der zwei Ehegattinnen besaß. Mit Spannung wurde die Antwort erwartet.<br />

Die Augen Kiefernzweigs ruhten düster auf Sonnenstein.<br />

»I<strong>ch</strong> will nur ein eheli<strong>ch</strong>es Weib«, sagte Kiefernzweig.<br />

»Wel<strong>ch</strong>e von den beiden Frauen soll es sein?«, fragte Olmedo.<br />

»Diese«, entgegnete der Fürst und zeigte auf Windende S<strong>ch</strong>lange.<br />

Niemand hatte das erwartet. Im ersten Augenblick war au<strong>ch</strong> der Priester enttäus<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong><br />

der s<strong>ch</strong>laue Olmedo witterte soglei<strong>ch</strong> eine raffinierte Irreführung und glaubte, der Kazike habe si<strong>ch</strong><br />

gerade dadur<strong>ch</strong> verraten. Was er ihm zur Last legen könnte, hätte Olmedo ni<strong>ch</strong>t zu sagen gewusst.<br />

Es war mehr ein Gefühl.<br />

Die Taufhandlung nahm ihren Fortgang. Fürst Kiefernzweig erhielt den Namen Don Alfonso,<br />

und Windende S<strong>ch</strong>lange sollte fortan Doña Rosalia heißen.<br />

*<br />

Gegen Mittag wurde das Kloster eingeweiht. In den letzten Tagen zuvor hatte man no<strong>ch</strong> ein gewi<strong>ch</strong>tiges<br />

Problem lösen müssen: Wer sollte zum Prior und Erzieher der tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Kinder<br />

ernannt werden? Die Auswahl war klein, denn nur ein Priester oder Mön<strong>ch</strong> kam in Betra<strong>ch</strong>t. Den<br />

Lizentiaten Juan Díaz, den Freund des Gouverneurs von Kuba, wäre Cortés bei dieser Gelegenheit<br />

gern losgeworden. Do<strong>ch</strong> sein Vors<strong>ch</strong>lag s<strong>ch</strong>eiterte am Widerspru<strong>ch</strong> der Feldobristen und<br />

Olmedos: Au<strong>ch</strong> wenn der Pater si<strong>ch</strong> mit dem Lizentiaten ni<strong>ch</strong>t sonderli<strong>ch</strong> verstand, mo<strong>ch</strong>te er auf


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 184<br />

seine Hilfe ni<strong>ch</strong>t verzi<strong>ch</strong>ten. Er hielt Cortés vor, die in Mexico zu erwartenden Aufgaben seien von<br />

ihm und Fray Francisco López de Gómera ni<strong>ch</strong>t zu bewältigen.<br />

Weil der Franziskanerbruder Jerónimo de Aguilár inzwis<strong>ch</strong>en mit Pimoti na<strong>ch</strong> Cholula aufgebro<strong>ch</strong>en<br />

war, kam nur no<strong>ch</strong> Juan de las Varillas in Betra<strong>ch</strong>t, ein einfa<strong>ch</strong>er Soldat, der von seinen<br />

Kameraden el teólogo genannt wurde. De las Varillas war ein entlaufener Priester und Mön<strong>ch</strong> des<br />

Hieronymitenordens; no<strong>ch</strong> vor wenigen Jahren hatte er auf Kuba eine einträgli<strong>ch</strong>e Pfründe. Do<strong>ch</strong><br />

den strengen sittli<strong>ch</strong>-moralis<strong>ch</strong>en Vors<strong>ch</strong>riften seines geistli<strong>ch</strong>en Standes hatte sein heißes Blut<br />

ni<strong>ch</strong>t gehor<strong>ch</strong>en können, und die kleinen Mäd<strong>ch</strong>en waren ni<strong>ch</strong>t so vers<strong>ch</strong>wiegen, wie Juan de las<br />

Varillas es si<strong>ch</strong> gewüns<strong>ch</strong>t hätte. Als man ihn vor das geistli<strong>ch</strong>e Geri<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> Haiti zitierte, wo er<br />

si<strong>ch</strong> gegen die Bes<strong>ch</strong>uldigungen verteidigen sollte, hatte er es vorgezogen, den Priesterrock abzulegen<br />

und bei den Soldaten unterzutau<strong>ch</strong>en. Er hatte si<strong>ch</strong> zuerst von Grijalva und später von Cortés<br />

anwerben lassen. Mit Olmedo und Juan Díaz führte er zuweilen theologis<strong>ch</strong>e Dispute und liebte<br />

es, den Lizentiaten dur<strong>ch</strong> Meinungsäußerungen zu ärgern, die an Ketzerei grenzten.<br />

Olmedo, der ein praktis<strong>ch</strong>er Politiker war, hatte Cortés geraten, den Musketier zum Klostervorsteher<br />

zu ma<strong>ch</strong>en und vor seiner zweifelhaften Moral ein Auge zuzudrücken – viellei<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong><br />

beide. Denn mo<strong>ch</strong>ten die Leute ruhig munkeln, er habe Kinder seines Kir<strong>ch</strong>spiels verführt; diese<br />

dunkle Angelegenheit lag Jahre zurück und ließ si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr aufhellen. Zudem war man auf ihn<br />

angewiesen. Cortés hatte daraufhin Juan de las Varillas zum Prior und Knabenerzieher ernannt.<br />

Ein geistli<strong>ch</strong>es Gewand ließ si<strong>ch</strong> aus einem abgetragenen Ornat des Paters Olmedo zure<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>neidern.<br />

Der bus<strong>ch</strong>ige S<strong>ch</strong>nauzbart, den der Musketier si<strong>ch</strong> hatte stehen lassen, wurde<br />

abrasiert, und die raue Kriegerspra<strong>ch</strong>e abzulegen und dafür frömmelnde Redewendungen hervorzukramen,<br />

konnte dem einstigen Gottesgelehrten ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>wer fallen. Nur dass der Mann kein<br />

Wort der Landesspra<strong>ch</strong>e verstand, bereitete gewisse S<strong>ch</strong>wierigkeiten. Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> darüber setzten<br />

Cortés und Olmedo si<strong>ch</strong> lei<strong>ch</strong>ten Herzens hinweg. Das war Sa<strong>ch</strong>e des neuen Priors, und man<br />

konnte annehmen, dass ein tü<strong>ch</strong>tiger Humanist wie Varillas den Kindern in kurzer Zeit genug Latein<br />

beibringen werde, um si<strong>ch</strong> in dieser Spra<strong>ch</strong>e mit ihnen zu verständigen. Dabei konnte er si<strong>ch</strong><br />

au<strong>ch</strong> genügend Brocken des Tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en aneignen.<br />

Maleris<strong>ch</strong> und unweit der Stelle gelegen, an der Alvarado den Hermaphroditen Weißer<br />

Sommervogel aus den Fluten des Zahuapan-Flusses gerettet hatte, lag das von Prinz Goldmaske<br />

als Klostergebäude zur Verfügung gestellte steinerne Haus. Es war von bes<strong>ch</strong>eidenem Umfang,<br />

galt aber als ehrwürdiges Gebäude, weil in seinem Garten die heilige grüne Quelle von Tlaxcala<br />

entsprang. Nur wenig Gäste waren zur Klostereinweihung geladen worden; es war s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>t zu wenig<br />

Platz für ein volkrei<strong>ch</strong>es Spektakel, das Cortés der Propaganda wegen gerne veranstaltet hätte.<br />

Von den Tlaxcalteken waren nur die Väter ers<strong>ch</strong>ienen, deren Söhne in das Kloster eintreten<br />

sollten. Der neue Hausherr, Prior Juan de las Varillas, begrüßte die Eintretenden und führte sie<br />

persönli<strong>ch</strong> zu ihren Plätzen. Bei der eigentli<strong>ch</strong>en Feier aber musste er bes<strong>ch</strong>eiden beiseite stehen:<br />

Olmedo und der Lizentiat hielten die Anspra<strong>ch</strong>en.<br />

Na<strong>ch</strong> der Einweihung stellte Olmedo an Kiefernzweig die Frage, die ihn s<strong>ch</strong>on seit der Taufe<br />

bedrückte. Er und Cortés nahmen ihn zur Seite und fors<strong>ch</strong>ten ihn aus: Warum der Fürst nur seine<br />

jüngeren Söhne mitgebra<strong>ch</strong>t habe? Wo der Kleine Pfeil sei? Der Hohe Rat habe do<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>lossen<br />

und den Christen zugesi<strong>ch</strong>ert, dass die Söhne des Adels ins Kloster eingeliefert werden müssten.<br />

Ni<strong>ch</strong>ts im Gesi<strong>ch</strong>t des Fürsten verriet, dass die Frage ihn kränken könnte. Offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> war er auf<br />

ein Verhör vorbereitet. Er antwortete dumpf und traurig, er wisse ni<strong>ch</strong>t, wo der Kleine Pfeil si<strong>ch</strong><br />

befinde. Er pflege seinen Söhnen ni<strong>ch</strong>t zu folgen, wenn sie si<strong>ch</strong> von zu Hause entfernten...<br />

Bei si<strong>ch</strong> aber da<strong>ch</strong>te er: Ihr habt mir mein Kind entfremdet, und meine S<strong>ch</strong>uld war, dass i<strong>ch</strong><br />

mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t darum gekümmert habe.<br />

Der Pater wandte si<strong>ch</strong> an Cortés. »I<strong>ch</strong> weiß ni<strong>ch</strong>t, warum die Antwort mi<strong>ch</strong> so seltsam bewegt«,<br />

sagte er. »Irgendetwas stimmt hier ni<strong>ch</strong>t! Und wie traurig die Mutter aussieht. Was mag in<br />

ihr vorgehen? Wel<strong>ch</strong>es Geheimnis verbergen die beiden vor uns?«<br />

Cortés s<strong>ch</strong>üttelte ungläubig den Kopf. Seine Gedanken verirrten si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e<br />

Labyrinthe. Er ärgerte si<strong>ch</strong>, weil ihm die Antwort des Kaziken ein s<strong>ch</strong>laues Auswei<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>ien.<br />

»Das könnt Ihr uns ni<strong>ch</strong>t glauben ma<strong>ch</strong>en«, fuhr er den Fürsten an. »Ihr wisst, wo Euer Sohn<br />

ist, denn Ihr habt ihn versteckt, um zu verhindern, dass er Klosters<strong>ch</strong>üler wird!«<br />

»Wenn man mir ni<strong>ch</strong>t glaubt, soll man Windende S<strong>ch</strong>lange fragen! Sie wird bezeugen, dass<br />

Mito, der Kleine Pfeil, vor zwei Tagen den Tecpan verließ und bisher ni<strong>ch</strong>t zurückkehrte.«


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 185<br />

»Ist das wahr?«, fragte Olmedo die Frau.<br />

»Ja, es ist wahr«, erwiderte Windende S<strong>ch</strong>lange. »Mein Sohn verließ uns – der Herr des<br />

Himmels weiß, wo er weilt!« Tränen rannen über ihre Wagen, die hohl geworden waren.<br />

»Padre, auf die Aussage der Frau ist ni<strong>ch</strong>ts zu geben«, sagte Cortés zornig zu Olmedo. »Sie<br />

zittert vor ihrem Mann und redet, was er ihr beigebra<strong>ch</strong>t hat.«<br />

Zu weiteren Erörterungen kam es ni<strong>ch</strong>t, denn Ordás und Doña Elvira trafen aus Cholula ein.<br />

Cortés und die Feldobristen eilten ihnen entgegen. Die beiden waren vorausgeritten, um Cortés<br />

mögli<strong>ch</strong>st ras<strong>ch</strong> die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t von der Errettung Pimotis zu überbringen. Ordás lag außerdem viel<br />

daran, no<strong>ch</strong> vor Beginn der Trauung ein Wort mit seinem Mündel zu reden, der olivenblei<strong>ch</strong>en Isabel<br />

de Ojeda, und ihr seinen väterli<strong>ch</strong>en Segen zu erteilen. Er wusste, dass Isabel ihr Mäd<strong>ch</strong>entum<br />

ni<strong>ch</strong>t lange hatte beweinen müssen. Unverändert zuvorkommend hatte er dann aber do<strong>ch</strong> darauf<br />

gedrängt, dass die immer wieder hinausges<strong>ch</strong>obene Ho<strong>ch</strong>zeit nun endli<strong>ch</strong> stattfinden müsse.<br />

Und weil er es sehr eilig hatte und darauf erpi<strong>ch</strong>t war, Isabel no<strong>ch</strong> ledig zu sehen, galoppierte<br />

er – als Cortés, Alvarado, Velásquez, Sandoval und Olíd ihm auf der Hauptstraße Tlaxcalas<br />

entgegenkamen – an ihnen vorüber. Doña Elvira sprang lä<strong>ch</strong>elnd vom Pegasus und stand an<br />

Ordás' Stelle dem Generalkapitän Rede und Antwort. Der Ausritt war ohne größere Abenteuer<br />

verlaufen. Glei<strong>ch</strong> hinter der Großen Mauer war ihnen der Lanzenträger heil und gesund begegnet;<br />

über Aguilár freili<strong>ch</strong> hatte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts in Erfahrung bringen lassen.<br />

Inzwis<strong>ch</strong>en war Ordás vor dem Tecpan Wespenrings angelangt. Mit langen S<strong>ch</strong>ritten stelzte<br />

er dur<strong>ch</strong> Gemä<strong>ch</strong>er, wo Damen si<strong>ch</strong> umkleideten und bei seinem Ers<strong>ch</strong>einen aufkreis<strong>ch</strong>ten. Es<br />

war ihm glei<strong>ch</strong>, ob sie ers<strong>ch</strong>raken – ihn jedenfalls ers<strong>ch</strong>reckten sie ni<strong>ch</strong>t –, und unbekümmert ging<br />

er weiter, bis er Isabel de Ojeda fand. Sie saß vor einer zerkratzten Spiegels<strong>ch</strong>erbe und kämmte<br />

si<strong>ch</strong> ihr kastanienbraunes Haar. Der Busen quoll verführeris<strong>ch</strong> aus dem Mieder, und ihre vollen<br />

Arme glänzten wie fahles, matt gemasertes Elfenbein. Er musste den Blick abwenden, wollte er<br />

seinen Verzi<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t bereuen.<br />

Isabel sprang freudig auf, umarmte ihn und sagte: »Es ist ein s<strong>ch</strong>önes Ges<strong>ch</strong>enk, Eu<strong>ch</strong> gesund<br />

wieder zu sehen!«<br />

Ordás s<strong>ch</strong>luckte verlegen. »Und Eu<strong>ch</strong> anzusehen, ist no<strong>ch</strong> viel s<strong>ch</strong>öner«, murmelte er. »I<strong>ch</strong><br />

mö<strong>ch</strong>te Eu<strong>ch</strong>, Isabel, Glück wüns<strong>ch</strong>en, und bringe hier mein Ho<strong>ch</strong>zeitsges<strong>ch</strong>enk.« Es war eine<br />

kleine Kassette mit etli<strong>ch</strong>en Hundert Goldpesos, die er ihr überrei<strong>ch</strong>te – sein ganzes Besitztum. Als<br />

sie Dankesworte vorbra<strong>ch</strong>te, lehnte er den Dank ab.<br />

»Dem unglückli<strong>ch</strong>en Statthalter von Urabá, Eurem braven Vater zum Gedä<strong>ch</strong>tnis bringe<br />

i<strong>ch</strong>'s«, sagte er, wobei er melan<strong>ch</strong>olis<strong>ch</strong> seine langen Gliedmaßen hin und her wiegte. »Der Tote<br />

hat es mir anvertraut, und i<strong>ch</strong> habe es mit den Jahren ein wenig vermehrt. Wenn er will und kann,<br />

so mag er es mir danken, von den Lebenden erwarte i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts. Am wenigsten von Eurem Verlobten!«<br />

»Warum denkt Ihr s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t von Villareal?«<br />

»Als i<strong>ch</strong> ihn kennen lernte, Señora, hieß er no<strong>ch</strong> einfa<strong>ch</strong> Villaroel. Mit jeder Gunst, die Ihr<br />

ihm gewährt habt, änderte er seinen Namen – erst in Villareal und neuerdings in de Villa Real. I<strong>ch</strong><br />

denke, dass er es Eu<strong>ch</strong> zu Gefallen tat, Isabel! Aber hat er si<strong>ch</strong> erst in den Grafen- oder Herzogsrang<br />

erhoben, werdet Ihr ihm viellei<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t mehr genügen!«<br />

Na<strong>ch</strong>dem Ordás seine Pfli<strong>ch</strong>t als Vormund erfüllt hatte, begab er si<strong>ch</strong> zum S<strong>ch</strong>mied Hernán<br />

Martín und erteilte ihm den rätselhaften Auftrag, einen eisernen S<strong>ch</strong>öpfeimer zu s<strong>ch</strong>mieden, dazu<br />

eine dünne eiserne Kette, und ihm ein Hanfseil von einigen hundert Klaftern Länge zu vers<strong>ch</strong>affen.<br />

Die Sa<strong>ch</strong>e müsse geheim gehalten werden.<br />

Der S<strong>ch</strong>mied verspra<strong>ch</strong> es.<br />

Dann erst begab Ordás si<strong>ch</strong> zu Cortés.<br />

»Ihr hättet mi<strong>ch</strong> um ein Haar über den Haufen geritten«, sagte Cortés s<strong>ch</strong>erzend. »I<strong>ch</strong> wusste<br />

ni<strong>ch</strong>t, dass Euer Pferd den Teufel im Leib hat, Señor!«<br />

Ordás stammelte undeutli<strong>ch</strong> eine Ents<strong>ch</strong>uldigung. »I<strong>ch</strong> war aufgeregt...«, stotterte er, »i<strong>ch</strong><br />

musste Hernán Martín einen Auftrag erteilen.«<br />

»Wel<strong>ch</strong>en Auftrag?«<br />

»Mir einen S<strong>ch</strong>öpfeimer und eine Kette zu s<strong>ch</strong>mieden und ein sehr langes Seil zu besorgen.«<br />

»Wozu das, Señor Ordás?«


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 186<br />

»I<strong>ch</strong> bitte Eu<strong>ch</strong>, Don Hernándo, fragt mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. No<strong>ch</strong> kann i<strong>ch</strong> es ni<strong>ch</strong>t sagen. Wenn die<br />

Zeit gekommen ist, werde i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> ins Vertrauen ziehen.«<br />

»Ihr habt mi<strong>ch</strong> neugierig gema<strong>ch</strong>t, und nun wollt Ihr mi<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> neugieriger ma<strong>ch</strong>en!«<br />

»Nein, nein... Ihr werdet's ja bald erfahren. Es handelt si<strong>ch</strong> um ein Geheimnis, das mir einer<br />

der <strong>ch</strong>olultekis<strong>ch</strong>en Grenzwä<strong>ch</strong>ter anvertraut hat.«<br />

»Ein Soldat des Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtiers? Seid Ihr vertrauensselig? Alle Cholulteken sind<br />

Täus<strong>ch</strong>er, behauptet Marina.«<br />

»Dieser ni<strong>ch</strong>t, Euer Gnaden! Er ist ein ernster Mann, abgeklärt und weise. Es regnete stark,<br />

und wir mussten in einer Felsenhöhle unters<strong>ch</strong>lüpfen. Während Lugo, Tapia und Luis Marín s<strong>ch</strong>liefen,<br />

habe i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> die ganze Na<strong>ch</strong>t mit dem Mann unterhalten und Freunds<strong>ch</strong>aft mit ihm ges<strong>ch</strong>lossen.<br />

Aus Dankbarkeit, weil i<strong>ch</strong> meinen Mundvorrat mit ihm teilte, hat er mir das Geheimnis anvertraut<br />

– von einem S<strong>ch</strong>atz!«<br />

»Gegen den die S<strong>ch</strong>ätze Moctezumas gewiss ein Kinderspiel sind«, lä<strong>ch</strong>elte Cortés. »Und er<br />

liegt wohl am Boden eines Sees, weil Ihr ihn mit einem S<strong>ch</strong>öpfeimer heraufholen wollt?«<br />

»Lei<strong>ch</strong>t wird er ni<strong>ch</strong>t zu heben sein«, versetzte Ordás gekränkt.<br />

»Wenn es nur ni<strong>ch</strong>t wieder Silberhäuser wie in Cempoala sind, Don Diego!«<br />

»Sehr ri<strong>ch</strong>tig, Euer Gnaden! Au<strong>ch</strong> darum will i<strong>ch</strong> von der Bes<strong>ch</strong>affenheit des wunderbaren<br />

Horts und von dem Ort, wo er zu su<strong>ch</strong>en ist, keine Silbe sagen und warten, bis i<strong>ch</strong> Gewissheit habe.«<br />

Cortés nahm die Phantasien des s<strong>ch</strong>wermütigen Ritters ni<strong>ch</strong>t ernst und drang ni<strong>ch</strong>t weiter in<br />

ihn.<br />

*<br />

Auf die Ho<strong>ch</strong>zeitsgäste warteten im Tecpan des Wollrings viele rei<strong>ch</strong> gedeckte Tis<strong>ch</strong>e, die unter<br />

der Last der Speisen ä<strong>ch</strong>zten. Als endli<strong>ch</strong> jeder Platz gefunden und si<strong>ch</strong> zum Ho<strong>ch</strong>zeitsmahl niedergelassen<br />

hatte, bra<strong>ch</strong>te der blinde Hundertjährige am lodernden Hausherd ein Opfer dar und<br />

hielt dann zu Ehren seiner Enkelin Doña María-Rabenblume eine s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>te Rede, wie sie seit alter<br />

Zeit in sämtli<strong>ch</strong>en <strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>imekis<strong>ch</strong>en Ländern den neu vermählten Tö<strong>ch</strong>tern von ihrem ältesten Anverwandten<br />

gehalten wurde. Selbst Pater Olmedo konnte ni<strong>ch</strong>t umhin, im Na<strong>ch</strong>hinein die heidnis<strong>ch</strong>-frommen<br />

Formulierungen zu bewundern:<br />

»O du Perlenkind, du S<strong>ch</strong>muckfeder! S<strong>ch</strong>wer lebt si<strong>ch</strong> das Leben. Die Kräfte zehren uns auf.<br />

Viel Mühe kostet es, die Güter zu behalten, die uns von den Göttern ges<strong>ch</strong>enkt werden. Darum,<br />

geliebte To<strong>ch</strong>ter, ergib di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dem Traum und dem Bett und dem Ni<strong>ch</strong>tstun und sei keine<br />

Freundin des kühlenden S<strong>ch</strong>attens; denn der kühlende S<strong>ch</strong>atten ist ein Lehrer der Faulheit und der<br />

Laster, und mit ihm kannst du ni<strong>ch</strong>t ehrbar leben. Wo immer du seiest, gehe gemessen, ni<strong>ch</strong>t<br />

übereilt, ni<strong>ch</strong>t la<strong>ch</strong>end, ni<strong>ch</strong>t hierhin und dorthin blickend; gehe deinen gerade Weg und bea<strong>ch</strong>te<br />

weder die Entgegenkommenden no<strong>ch</strong> sonst jemand. Rei<strong>ch</strong>e deinem Gatten das Wasser zum<br />

Händewas<strong>ch</strong>en und ma<strong>ch</strong>e ihm das Brot s<strong>ch</strong>mackhaft. Und wenn dein Gatte aus der S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t zurückkehrt,<br />

so verlasse dein Gema<strong>ch</strong> mit deinen Frauen und gehe ihm entgegen, ihn liebevoll und<br />

sittsam zu begrüßen - wenn du das tust, wird er di<strong>ch</strong> lieben wie wir, deine Verwandten, di<strong>ch</strong> lieben...«<br />

Marina übersetzte Cortés die Rede Wespenrings.<br />

»Es ist erstaunli<strong>ch</strong>«, sagte Cortés daraufhin zu Velásquez de León. »S<strong>ch</strong>on zu Zeiten Homers<br />

hätte ein Vater so zu seiner To<strong>ch</strong>ter spre<strong>ch</strong>en können.«<br />

Im Festsaal vernahm man den Jubel der Straße. Ganz Tlaxcala war auf den Beinen. Pimoti,<br />

der Totgeglaubte, hatte in Begleitung der Hauptleute Lugo, Tapia und Luis Marín die Stadt errei<strong>ch</strong>t.<br />

Mit ihnen kam eine <strong>ch</strong>olultekis<strong>ch</strong>e Gesandts<strong>ch</strong>aft, die dem Hohen Rat von Tlaxcala das Friedensangebot<br />

des Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtiers sowie den Kastiliern die Einladung überbringen sollte.<br />

Was Pimoti zu beri<strong>ch</strong>ten hatte, musste sofort beraten werden. Pimoti war von Grenzwä<strong>ch</strong>tern<br />

aufgehalten und bedroht, dur<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>gesandte S<strong>ch</strong>nellläufer jedo<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>ützt worden. Dass<br />

das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier die weiße S<strong>ch</strong>minke ni<strong>ch</strong>t zurückgewiesen und die s<strong>ch</strong>impfli<strong>ch</strong>e Herausforderung<br />

mit so unerwarteter Langmut und Großmut beantwortet hatte, begeisterte den ritterli<strong>ch</strong>en<br />

Ordás und gefiel den kastilis<strong>ch</strong>en Hauptleuten, wurde sogar von den Tlatepoca gelobt. Do<strong>ch</strong>


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 187<br />

der Friedenswille Cholulas ers<strong>ch</strong>ien ihnen na<strong>ch</strong> der Kränkung unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>. Die Abgesandten<br />

Cholulas gehörten nur zum niederen Adel. Wenn das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier so geringe Leute als<br />

Gesandts<strong>ch</strong>aft aussende, liege eine Absi<strong>ch</strong>t zugrunde, eine Herabsetzung und Missa<strong>ch</strong>tung der<br />

conquistadores und ihres caudillo. (Sie gebrau<strong>ch</strong>ten diese Ausdrücke ohne Zurückhaltung.) Do<strong>ch</strong><br />

Cortés, der endli<strong>ch</strong> weiter auf Teno<strong>ch</strong>titlán vorrücken wollte, s<strong>ch</strong>lug vor, darüber hinwegzusehen.<br />

Mit Ausnahme von Avila stimmten die Hauptleute darin überein, dass man die Hand ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>lagen<br />

dürfe.<br />

Na<strong>ch</strong> der Beratung wurde den Abgesandten des Priesterkönigs eröffnet, das Friedensangebot<br />

des Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtiers sei vom Hohen Rat und die Einladung von den weißen Göttern<br />

angenommen worden, obglei<strong>ch</strong> diese gewohnt seien, Gesandte vom Range eines Fürsten zu<br />

empfangen.<br />

Aber über das S<strong>ch</strong>icksal Aguilars blieb man weiterhin im Ungewissen.<br />

14. Cholula<br />

»Lasst die Fremden nur kommen! Wir werden sehen, ob sie so mä<strong>ch</strong>tig sind! Unser Gott<br />

Quetzalcoatl ist hier bei uns, und ihn können sie niemals s<strong>ch</strong>lagen! Lasst sie nur kommen,<br />

die S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>linge! Wir warten auf sie, wir la<strong>ch</strong>en vor Hohn über ihren einfältigen Wahn!«<br />

(Diego Muñoz Camargo: Historia de Tlaxcala, Bu<strong>ch</strong> II)<br />

Am nä<strong>ch</strong>sten Morgen bra<strong>ch</strong> das kastilis<strong>ch</strong>-totonakis<strong>ch</strong>e Heer auf. Die Truppen verließen Tlaxcala<br />

dur<strong>ch</strong> das südwestli<strong>ch</strong>e Tor und folgten dem alten Handelsweg na<strong>ch</strong> Cholula. Viel Volk begleitete<br />

die Soldaten und Krieger mit Segenswüns<strong>ch</strong>en und Blumenspenden bis vor die Stadt; man<strong>ch</strong> Auge<br />

war feu<strong>ch</strong>t, und uralte Segenssprü<strong>ch</strong>e wurden ihnen na<strong>ch</strong>gerufen. Auf den fla<strong>ch</strong>en Hausdä<strong>ch</strong>ern<br />

standen Frauen und Kinder, winkten und warfen Blumen herab.<br />

Dreißigtausend tlaxcaltekis<strong>ch</strong>e Krieger, geführt von Pimoti, Goldmaske, Kiefernzweig und<br />

Listiger Marder, wollten si<strong>ch</strong> dem Zug ans<strong>ch</strong>ließen, do<strong>ch</strong> Cortés bes<strong>ch</strong>wor sie, den gerade ges<strong>ch</strong>lossenen<br />

Frieden mit Cholula ni<strong>ch</strong>t aufs Spiel zu setzen. Wespenring sagte beim Abs<strong>ch</strong>ied am<br />

Tor, der Freistaat ma<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> Sorgen um Cortés. Pimoti hatte in der heiligen Stadt, wennglei<strong>ch</strong> er<br />

vom Priesterkönig und seinem Hofstaat ehrerbietig behandelt wurde, auf den Gassen viele Drohungen<br />

gehört: Die Krieger Cholulas für<strong>ch</strong>teten ni<strong>ch</strong>t die abgeri<strong>ch</strong>teten Pumas und Feuer speienden<br />

Blitzwaffen, ni<strong>ch</strong>t die Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en und au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ihre bärtigen Gesi<strong>ch</strong>ter, da in ihren alten<br />

Götterbü<strong>ch</strong>ern ges<strong>ch</strong>rieben stehe, dass sie mit einer Quelle, die in der großen Pyramide entspringe,<br />

die fremden Eindringlinge ersäufen könnten.<br />

Die tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Verbündeten des Cortés waren ni<strong>ch</strong>t frei von der Befür<strong>ch</strong>tung, dass an<br />

den alten Prophezeiungen etwas Wahres sein könnte. Do<strong>ch</strong> der Generalkapitän la<strong>ch</strong>te sie aus,<br />

und sie s<strong>ch</strong>ämten si<strong>ch</strong> ein wenig, beharrten aber darauf, Cortés ni<strong>ch</strong>t ohne tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>utz<br />

weiterziehen zu lassen. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> einigte man si<strong>ch</strong> auf einen Kompromiss: Se<strong>ch</strong>stausend<br />

Tlatepoca unter dem Kommando von Pimoti und König Listiger Marder sollten mit gegen Cholula<br />

ziehen; Goldmaske und Kiefernzweig würden mit dem Rest an der Großen Mauer umkehren.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 188<br />

Die Grenze mit der Großen Mauer lag glei<strong>ch</strong> jenseits der Passhöhe. Der Abstieg war weniger steil<br />

als der Aufstieg und führte in sandiges Fla<strong>ch</strong>land, das offen vor ihnen lag. Weit im Hinterland<br />

säumten hohe Bergketten die Ebene. Wie eine Insel im Meer erhob si<strong>ch</strong> aus der ockergelben<br />

Sandflä<strong>ch</strong>e die Stadt Cholula. Ein grüner Baumgürtel umringte die gewaltige Mauer der Stadt mit<br />

ihren vierhundert Türmen und der<br />

riesenhaften Stufenpyramide.<br />

Cholula, die Stadt am<br />

Kolibriwasser, lag weiß, zartrosa<br />

und no<strong>ch</strong> weit entfernt vor dem<br />

träge vorrückenden Heerwurm.<br />

Eine Gruppe spanis<strong>ch</strong>er Infanteristen<br />

mit ihren Arkebusen in der re<strong>ch</strong>ten und<br />

der Lunte in der linken Hand, an der<br />

Spitze Trommler und Pfeifer und ein<br />

Offizier mit gezogenem Degen<br />

Das Heer kam nur mühsam<br />

voran. Die Artillerie den Pass<br />

hinaufzus<strong>ch</strong>affen war s<strong>ch</strong>wierig<br />

genug, do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wieriger no<strong>ch</strong>, sie<br />

auf s<strong>ch</strong>malen Pfaden<br />

hinabzurollen. Als endli<strong>ch</strong> die<br />

Ebene errei<strong>ch</strong>t war, versank die Singende Na<strong>ch</strong>tigall immer wieder im mahlenden Sandboden. Bei<br />

Sonnenuntergang stand die Vorhut unter den Mauern Cholulas, do<strong>ch</strong> der Hauptteil des Heeres<br />

quälte si<strong>ch</strong> nur langsam heran.<br />

Cortés wollte auf keinen Fall im Dämmerli<strong>ch</strong>t oder gar im Dunkel der Na<strong>ch</strong>t in die Stadt einziehen.<br />

Er ließ zwei kastilis<strong>ch</strong>e Meilen vor der Stadtmauer an einem Ba<strong>ch</strong> das Na<strong>ch</strong>tlager aufs<strong>ch</strong>lagen.<br />

Nur in Decken gewickelt, mussten die Männer unter freiem Himmel s<strong>ch</strong>lafen, die Waffen<br />

griffbereit. Die Feuer für die Ko<strong>ch</strong>stellen sollten klein gehalten und na<strong>ch</strong> der Essenszubereitung<br />

gelös<strong>ch</strong>t werden. Posten seien sofort aufzustellen und die Ablösungen zu organisieren. Hö<strong>ch</strong>ste<br />

Wa<strong>ch</strong>samkeit sei gefordert!<br />

Na<strong>ch</strong> Mitterna<strong>ch</strong>t musste der S<strong>ch</strong>ütze und Trompeter Rodríguez, mit Armbrust und seiner lilienförmigen<br />

Trompete bewaffnet, den Posten vor dem nördli<strong>ch</strong>en <strong>Teil</strong> des Lagers ablösen. Er war ein<br />

s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>ter Soldat ohne viel Phantasie. Vor drei Tagen, bei der Beerdigung seiner S<strong>ch</strong>wester Isabel,<br />

hatte er weder Ra<strong>ch</strong>egelüste no<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>merz geäußert. Do<strong>ch</strong> ihr Tod war ihm näher gegangen, als<br />

er zu zeigen fähig war, und seine Seele hatte no<strong>ch</strong> immer ni<strong>ch</strong>t ihr Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t wieder gefunden.<br />

Ein vorbeitrottendes Gürteltier ließ den sonst so Glei<strong>ch</strong>mütigen zusammenzucken. Der fremdartige<br />

Anblick der s<strong>ch</strong>emenhaft im Mondli<strong>ch</strong>t liegenden vierhundert gipsweißen Türme Cholulas stimmte<br />

ihn melan<strong>ch</strong>olis<strong>ch</strong>. Er starrte dur<strong>ch</strong> die fahle Blei<strong>ch</strong>e zur Stadt hinüber. Da! Etwas bewegte si<strong>ch</strong>!<br />

Ein S<strong>ch</strong>atten kam näher...<br />

Ein s<strong>ch</strong>nell auss<strong>ch</strong>reitender Mann nahte von der Großen Mauer her. Der Trompeter erkannte<br />

Kleidung und Gestalt Aguilárs. Das konnte aber ni<strong>ch</strong>t sein! Aguilár war tot! Rodríguez bra<strong>ch</strong>te ers<strong>ch</strong>rocken<br />

die Armbrust in Ans<strong>ch</strong>lag, do<strong>ch</strong> er zitterte, als stünde ein Spukbild vor ihm.<br />

»Was willst du von mir, Gespenst?«, rief er, und seine Stimme bebte vor Angst.<br />

»I<strong>ch</strong> bin es, Aguilár! Kennst du mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t?«<br />

»Nein«, stieß Rodríguez hervor, »Aguilár ist tot, das weiß i<strong>ch</strong>!«<br />

Aguilár hatte große Mühe, ihn zu beruhigen und ihm zu beweisen, dass er lebe und atme.<br />

Do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lotternd vor Entsetzen erwiderte Rodríguez immer wieder, dass er ein Spukbild sei, ja,<br />

der Satan in Mön<strong>ch</strong>sgestalt! Man habe Aguilár in Cholula ermordet. Cholula aber liege im Westen,<br />

nimmermehr könne der lebende Aguilár von Norden kommen, von Tlaxcala!<br />

»Nimm die Armbrust herunter, Rodríguez, du zitterst ja am ganzen Leib. Da ges<strong>ch</strong>ieht<br />

s<strong>ch</strong>nell ein Unglück. Ers<strong>ch</strong>ieß ni<strong>ch</strong>t einen Freund und Kastilier, i<strong>ch</strong> habe weiß Gott genug Unbill<br />

und Not hinter mir!«<br />

Als der Trompeter endli<strong>ch</strong> die Waffe sinken ließ, kam Aguilár bis auf Armeslänge näher.<br />

»Hier«, sagte er und streckte dem Posten die Hand entgegen. »Fühle – i<strong>ch</strong> bin aus Fleis<strong>ch</strong>


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 189<br />

und Blut, bin Aguilár!«<br />

Endli<strong>ch</strong> war Rodríguez beruhigt, und seine Fur<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>lug in Freude um. Er drückte dem Totgeglaubten<br />

die Hand und umarmte ihn. Dann erzählte ihm Aguilár, wie er von Gonzalo Guerrero<br />

und den beiden mexicanis<strong>ch</strong>en Prinzen gerettet und dur<strong>ch</strong> mexicanis<strong>ch</strong>es Gebiet bis an das westli<strong>ch</strong>e<br />

Tor der Großen Mauer geleitet worden sei. In Tlaxcala habe er Cortés ni<strong>ch</strong>t mehr angetroffen<br />

und si<strong>ch</strong> ohne Rast sofort auf den Weg na<strong>ch</strong> Cholula gema<strong>ch</strong>t. Und er habe dem Generalkapitän<br />

eine äußerst dringli<strong>ch</strong>e Warnung mitzuteilen.<br />

»Eure Rückkehr, Fraile, ist wi<strong>ch</strong>tiger als die Na<strong>ch</strong>truhe des Heeres. I<strong>ch</strong> will die S<strong>ch</strong>läfer wecken,<br />

damit sie Eu<strong>ch</strong> feiern, wie sie den Pimoti gefeiert haben!«<br />

In seiner Naivität nahm er die lilienförmige Trompete von der S<strong>ch</strong>ulter. Do<strong>ch</strong> Aguilár ließ<br />

ni<strong>ch</strong>t zu, dass er sie an den Mund setzte.<br />

»Bleib nur s<strong>ch</strong>ön hier auf deinem Posten, Rodríguez«, sagte er, »i<strong>ch</strong> werde meinen Weg<br />

s<strong>ch</strong>on finden.«<br />

Dann s<strong>ch</strong>ritt Aguilár dur<strong>ch</strong> das s<strong>ch</strong>lafende Heerlager. Die Soldaten s<strong>ch</strong>liefen im wei<strong>ch</strong>en trockenen<br />

Sand, und die wenigsten lagen allein! Der Mön<strong>ch</strong> musste man<strong>ch</strong>mal über sie<br />

hinwegsteigen und stellte Betra<strong>ch</strong>tungen darüber an, wie rei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> das Heer s<strong>ch</strong>on mit Frauen versehen<br />

war. Dank der Freigebigkeit Marinas, die am Siegesturm zweihundertsiebzig Opfermäd<strong>ch</strong>en<br />

vers<strong>ch</strong>enkt hatte, gab es nur wenige Soldaten, die einsam liegen mussten.<br />

Ni<strong>ch</strong>t alle s<strong>ch</strong>liefen. Aguilár kam an Diego de Ordás vorbei, der mit Doña Elvira, dem alten<br />

Heredia und einem <strong>ch</strong>olultekis<strong>ch</strong>en Grenzwä<strong>ch</strong>ter im Sand hockte und si<strong>ch</strong> die Worte des Indianers<br />

übersetzen ließ. Eine andere Gruppe – ein Mann und zwei Frauen – saß an einem Wa<strong>ch</strong>feuer;<br />

sie nähten im Zwieli<strong>ch</strong>t des Monds<strong>ch</strong>eins und der Holzflammen. Der emsige Fleiß zu dieser<br />

Na<strong>ch</strong>tstunde war auffallend, weshalb Aguilár neugierig herantrat. Da erkannte er Leonel de Cerro,<br />

den verrückten Apotheker, mit Ines Florín und Rosita Muños. Während die beiden Frauen aufsprangen<br />

und dem Mön<strong>ch</strong> die Hand küssten, blieb der Physikus in seine Arbeit vertieft sitzen und<br />

ma<strong>ch</strong>te von der unerwarteten Rückkehr des Vers<strong>ch</strong>ollenen kein Aufhebens. Auf die Frage des<br />

Fraters, was sie da ma<strong>ch</strong>ten, antwortete er geheimnisvoll:<br />

»Man darf si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ins Bockshorn jagen lassen, sondern muss andere ins Bockshorn jagen!<br />

Mit Nadel und Zwirn s<strong>ch</strong>mieden wir eine Waffe, die mehr S<strong>ch</strong>recken verbreiten wird als die Singende<br />

Na<strong>ch</strong>tigall. Das S<strong>ch</strong>ießpulver in allen Ehren, aber das s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>ste Kampfinstrument, das<br />

die Welt bisher sah, ist das Gorgonenhaupt!«<br />

»Das Medusenhaupt, das Ungeheuer Gorgo der grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Sage, das unheilabwehrende<br />

weibli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>reckensgesi<strong>ch</strong>t?«, fragte der gebildete Franziskaner ungläubig.<br />

»Ja, das Gorgonenhaupt! Wir sind gerade dabei, zwanzig Medusenhäupter herzustellen!«<br />

»Wie soll das denn aussehen, de Cerro? Meines Wissens trug Medusa keinen Bart.« Aguilár<br />

s<strong>ch</strong>üttelte zweifelnd den Kopf.<br />

»Das kann ja wohl ni<strong>ch</strong>t meine S<strong>ch</strong>uld sein, wenn man alles wörtli<strong>ch</strong> nimmt und dann zur<br />

Bildsäule des Erstaunens wird«, entgegnete Leonel de Cerro. »I<strong>ch</strong> habe ni<strong>ch</strong>t behauptet, dass<br />

Medusa einen langen s<strong>ch</strong>warzen Männerbart trug. Wie Ihr ja sehen könnt, nähen wir – i<strong>ch</strong> und die<br />

beiden ges<strong>ch</strong>ätzten Jungfrauen – an künstli<strong>ch</strong>en Bärten.«<br />

»Und was habt Ihr mit den künstli<strong>ch</strong>en Bärten vor?«, fragte Aguilár.<br />

»Die Stadt Cholula in Stein verwandeln«, erwiderte der Physikus. Er habe von Fürst Pimoti<br />

erfahren, dass die Cholulteken mehr no<strong>ch</strong> als die Feuerwaffen die bärtigen Gesi<strong>ch</strong>ter der Europäer<br />

für<strong>ch</strong>teten. S<strong>ch</strong>wierig freili<strong>ch</strong> sei es gewesen, Haar zu bes<strong>ch</strong>affen. Auf dem Markt zu Tlaxcala habe<br />

man nur Kanin<strong>ch</strong>enhaar kaufen können, aber kein Mens<strong>ch</strong>enhaar. »Do<strong>ch</strong> man muss si<strong>ch</strong> zu helfen<br />

wissen...«, s<strong>ch</strong>loss er vielsagend.<br />

»Und wie habt Ihr Eu<strong>ch</strong> zu helfen gewusst?«, fragte Aguilár.<br />

»Auf dem Weg hierher habe i<strong>ch</strong> einige Dorftempel dur<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>t... Wenn man die Kopfhaut ges<strong>ch</strong>ickt<br />

zu lösen versteht...«<br />

Da eilte Aguilár ras<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>rittes zu Cortés.<br />

Na<strong>ch</strong> der Errettung Pimotis war der caudillo über das Auftau<strong>ch</strong>en Aguilárs zwar erfreut, aber<br />

ni<strong>ch</strong>t überras<strong>ch</strong>t. Als er den Beri<strong>ch</strong>t Aguilárs angehört hatte, ließ er die Hauptleute und die Blaue<br />

Feder in sein Zelt bitten. Aguilár musste no<strong>ch</strong> einmal wiederholen, was der S<strong>ch</strong>lagende Falke ihm<br />

aufgetragen hatte: dass zehntausend mexicanis<strong>ch</strong>e Krieger in Cholula erwartet werden, um das<br />

<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Heer aufzureiben; und dass auf einer der beiden na<strong>ch</strong> Mexico führenden Straßen Gru-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 190<br />

ben mit eingerammten spitzen Pfählen angelegt und streckenweise dur<strong>ch</strong> hohe, übereinander ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tete<br />

Baumstämme ungangbar gema<strong>ch</strong>t wurden.<br />

»Die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t ist ni<strong>ch</strong>t gut«, bemerkte Cortés, »aber eines ist tröstli<strong>ch</strong> – dass sie vom<br />

mexicanis<strong>ch</strong>en Prinzen stammt, wodur<strong>ch</strong> uns wieder einmal bewiesen wird, wie uneins das große<br />

Rei<strong>ch</strong> in si<strong>ch</strong> ist und wie die politis<strong>ch</strong>en, viellei<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> viele persönli<strong>ch</strong>e Interessen auseinander<br />

laufen. Omne regnum in se ipsum divisum desolabitur. Alle Rei<strong>ch</strong>e zerfallen, wenn sie uneins sind<br />

– das war s<strong>ch</strong>on bei den Grie<strong>ch</strong>en und Römern so. Wir haben den Vorteil davon.«<br />

»Vorderhand sehe i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts als Na<strong>ch</strong>teile, Don Hernándo – eine zehnfa<strong>ch</strong>e Überma<strong>ch</strong>t«,<br />

meinte Francisco de Lugo.<br />

»Mir soll's re<strong>ch</strong>t sein, wenn Cholula si<strong>ch</strong> plündern lassen will«, platzte Olíd mit dem Gesi<strong>ch</strong>tsausdruck<br />

eines hungrigen Wolfes heraus.<br />

»Mexicos Adler und Jaguare«, sagte die Blaue Feder, »werden im Umkreis der heiligen<br />

Stadt wie S<strong>ch</strong>akale und Wildkatzen heulen, do<strong>ch</strong> sie werden abwarten, was Cholula tut, ehe sie<br />

si<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t stellen!«<br />

»Das ist au<strong>ch</strong> meine Meinung«, rief Cortés. »Wenn wir jetzt umkehren, könnte es als Eingeständnis<br />

unserer S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e gedeutet werden; dann wären wir verloren. Der Nimbus unserer Unbesiegbarkeit<br />

darf ni<strong>ch</strong>t zerstört werden – er allein ma<strong>ch</strong>t uns unüberwindli<strong>ch</strong>! Wir werden s<strong>ch</strong>einbar<br />

ahnungslos in die Stadt einziehen, werden uns kein Misstrauen anmerken lassen und dem<br />

König und Volk mit ausgesu<strong>ch</strong>ter Höfli<strong>ch</strong>keit begegnen. Do<strong>ch</strong> wir werden wa<strong>ch</strong>sam und für das<br />

S<strong>ch</strong>limmste gerüstet sein.«<br />

*<br />

Die Sonne hatte die vor den Osthimmel getürmten Wolkenberge überwunden, als die lang gestreckte<br />

Staubwolke des Heerzuges di<strong>ch</strong>t vor den Toren der Stadt mit einer anderen Staubwolke<br />

zusammenfloss. Um die Söhne der Sonne willkommen zu heißen, hatte der Priesterkönig diesmal<br />

seine vornehmsten Würdenträger ausges<strong>ch</strong>ickt – Fürsten und Prinzen mit Türkismosaik-<br />

Stirnbinden. Unter den Abgesandten befanden si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> Mitglieder des Hohen Rates, die vor kurzem<br />

no<strong>ch</strong> die Vertilgung der Fremden mit wildem Hass gefordert hatten; jetzt aber kamen sie als<br />

Freunde, überrei<strong>ch</strong>ten Blütenzweige und beweihräu<strong>ch</strong>erten die Ankömmlinge mit Kopal. Flöten<br />

s<strong>ch</strong>rillten, Teponaztlitrommeln dröhnten, und Sklaven trugen Lebensmittel und Frü<strong>ch</strong>te herbei. Ein<br />

würdiger Greis wiederholte feierli<strong>ch</strong> die Einladung, die heilige Stadt zu betreten, und gab die Erklärung<br />

ab, dass Cholula si<strong>ch</strong> unter die Botmäßigkeit des Herrn des Ostens stelle, des großen Fürsten<br />

jenseits des Himmelswassers, und si<strong>ch</strong> verpfli<strong>ch</strong>te, ihm alljährli<strong>ch</strong> Tribut zu senden. Eiligst ließ<br />

Cortés die Unterwerfung vom Notar Godoy zu Papier bringen und mit amtli<strong>ch</strong>en Siegeln versehen.<br />

Na<strong>ch</strong>dem die Cholulteken so viel Entgegenkommen gezeigt hatten, wagten sie eine Bitte<br />

vorzutragen. Sie bedauerten, dass Cortés si<strong>ch</strong> von se<strong>ch</strong>stausend Tlatepoca begleiten ließ, den<br />

Todfeinden Cholulas. Sie spra<strong>ch</strong>en die Besorgnis aus, die Tlatepoca könnten si<strong>ch</strong> wegen früherer<br />

Misshelligkeiten rä<strong>ch</strong>en wollen, und ersu<strong>ch</strong>ten Cortés, ohne seine Bundesgenossen in die heilige<br />

Stadt einzuziehen.<br />

Cortés vers<strong>ch</strong>loss si<strong>ch</strong> diesen Gründen ni<strong>ch</strong>t, obglei<strong>ch</strong> die Unterwürfigkeit, mit der die Bitte<br />

vorgetragen wurde, ihn an die Warnung Cuautemocs gemahnte. Do<strong>ch</strong> er glaubte immer no<strong>ch</strong>, die<br />

jüngsten Untertanen Seiner Katholis<strong>ch</strong>en Majestät wie in Cempoala und Tlaxcala ohne S<strong>ch</strong>wertstrei<strong>ch</strong><br />

beherrs<strong>ch</strong>en zu können. Au<strong>ch</strong> ohne die Bitte Cholulas war es nahe liegend, seine indianis<strong>ch</strong>en<br />

Verbündeten – die tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Krieger mit ihren Heerführern Pimoti und König Listiger<br />

Marder sowie die von Tehu<strong>ch</strong> und Cuhextecatl geführten totonakis<strong>ch</strong>en Truppen - vor den Toren<br />

zu lassen. Und da er es besser fand, au<strong>ch</strong> Olíd, der die Plünderung der Stadt angeregt hatte, fern<br />

zu halten, übertrug er ihm die Oberaufsi<strong>ch</strong>t über die indianis<strong>ch</strong>en Truppen; sie sollten auf einer<br />

Wiese außerhalb der Mauern lagern. Bruder Aguilár blieb als Dolmets<strong>ch</strong>er bei Olíd, und au<strong>ch</strong> die<br />

Blaue Feder zog es vor, si<strong>ch</strong> König Listiger Marder und Pimoti anzus<strong>ch</strong>ließen.<br />

Für den Fall, dass es do<strong>ch</strong> zu Kämpfen käme, wurden drei Musketens<strong>ch</strong>üsse als Zei<strong>ch</strong>en<br />

verabredet. Um Freund und Feind unters<strong>ch</strong>eiden zu können, ordnete Cortés auf Vors<strong>ch</strong>lag<br />

Alvarados an, dass si<strong>ch</strong> die Krieger Tlaxcalas und Cempoalas Grasgirlanden um den Kopfs<strong>ch</strong>muck<br />

binden sollten.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 191<br />

Neben diesen Vorsi<strong>ch</strong>tsmaßregeln verließ si<strong>ch</strong> Cortés auf seinen Charme und seine s<strong>ch</strong>on<br />

oft bewährte Fähigkeit, Mens<strong>ch</strong>en in seinen Bann zu ziehen. Er glaubte zuversi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, dass es ihm<br />

au<strong>ch</strong> diesmal gelingen werde, Feindseligkeiten im Keim zu ersticken.<br />

*<br />

Dumpf klapperten die Sandalen der Sänftenträger Moctezumas im Staub der Straße. Der Tempelhüter<br />

verließ Cholula dur<strong>ch</strong> das südli<strong>ch</strong>e Tor, als die Vorausabteilung der Spanier das nördli<strong>ch</strong>e<br />

Tor errei<strong>ch</strong>te. S<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> zwei Meilen ließ der Tempelhüter die tlamamas anhalten. Er stieg auf<br />

einen kleinen Hügel, von dessen Höhe er die Häuser und Tempel der Stadt überblicken konnte.<br />

Ho<strong>ch</strong> und hager stand er allein dort oben, die Augen mit der re<strong>ch</strong>ten Hand bes<strong>ch</strong>attend. Triumphierend<br />

lä<strong>ch</strong>elnd sah er zu, wie die <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Na<strong>ch</strong>hut allmähli<strong>ch</strong> im Tor vers<strong>ch</strong>wand und si<strong>ch</strong> die<br />

Staubwolke mit dem Kopalrau<strong>ch</strong> innerhalb der Mauern vermis<strong>ch</strong>te. Was er anstrebte, ließ si<strong>ch</strong> gut<br />

an: Hinten, außerhalb der Stadtmauern, lagerten die Tlaxcalteken und Krieger aus Cempoala, insgesamt<br />

siebentausenddreihundert Mann. Die teules aber gingen in die Falle! Cholula rüstete zum<br />

blutigen Festmahl. Cholula und das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier würden vor der Welt die S<strong>ch</strong>uld tragen<br />

– ni<strong>ch</strong>t Mexico!<br />

Der Tempelhüter hatte Grund zum Stolz: Prinzessin Perlendiadem war jetzt sein Lohn! Mit<br />

Vera<strong>ch</strong>tung blickte er auf die vierhundert Türme, als sähe sein inneres Auge sie bereits in Flammen<br />

stehen. Seine Vera<strong>ch</strong>tung für die käufli<strong>ch</strong>en Cholulteken war ebenso tief wie die für die ahnungslosen<br />

Eroberer.<br />

*<br />

Aus den vom Apotheker hergestellten Bärten hatte si<strong>ch</strong> die Amazone María de Estrada den di<strong>ch</strong>testen,<br />

s<strong>ch</strong>wärzesten und längsten ausgesu<strong>ch</strong>t. Mit dem mil<strong>ch</strong>igen Saft eines Gummibaumes klebte<br />

sie ihn an Wangen und Kinn und gli<strong>ch</strong> mit ihrer rosa Gesi<strong>ch</strong>tsfarbe, den grünli<strong>ch</strong>en Augen und<br />

hellblonden Ringellocken eher dem grotesken Abbild eines babylonis<strong>ch</strong>en Königs als einem für<strong>ch</strong>terli<strong>ch</strong>en<br />

weißen Ungeheuer. Au<strong>ch</strong> der bartlose Velásquez de León hatte si<strong>ch</strong> trotz Widerspru<strong>ch</strong><br />

Doña Violantes eine Bartperücke zugelegt, ebenso Sandoval, dessen kleines, herabhängendes<br />

S<strong>ch</strong>nurrbärt<strong>ch</strong>en den Kameraden allzu wenig martialis<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>ien. Die übrigen Bärte waren unter<br />

die jüngeren Soldaten verteilt worden.<br />

Wenn der Physikus später behauptete, dur<strong>ch</strong> diese Maskerade sei das Volk Cholulas betäubt<br />

und gelähmt worden, glei<strong>ch</strong>sam versteinert von lauter Medusenhäuptern, war das stark übertrieben.<br />

Do<strong>ch</strong> mit den ungewohnten und wilden Bärten – kaum weniger unheimli<strong>ch</strong> als das abgeri<strong>ch</strong>tete<br />

Raubtier Becerrico, die vierbeinigen und doppelköpfigen Hirs<strong>ch</strong>ungeheuer und die bläuli<strong>ch</strong><br />

leu<strong>ch</strong>tenden Brustharnis<strong>ch</strong>e, Helme und S<strong>ch</strong>werter aus weißem Kupfer (wie die Indianer das ihnen<br />

unbekannte Metall der Europäer nannten) – ers<strong>ch</strong>ienen die Eroberer<br />

den fast völlig bartlosen Völkern Zentralamerikas wie wilde Fabelwesen.<br />

Quetzalcoatl: »Grüne Feders<strong>ch</strong>lange« oder »Gefiederte S<strong>ch</strong>lange«,<br />

Gott der Weisheit (neben Huitzilopo<strong>ch</strong>tli, Tlaloc und Tezcatlipoca<br />

mexicanis<strong>ch</strong>er Hauptgott)<br />

Trotzdem, wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> gerade deshalb füllten Hunderttausende<br />

von Neugierigen die Straßen und standen di<strong>ch</strong>t gedrängt zwis<strong>ch</strong>en<br />

dem Blättergrün der Gärten auf den fla<strong>ch</strong>en Dä<strong>ch</strong>ern der rei<strong>ch</strong> verzierten,<br />

aus Porphyr und Basalt erbauten Häuser. Die breiten Straßen,<br />

dur<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>e das einziehende Heer geführt wurde, waren mit Blumengirlanden ges<strong>ch</strong>mückt, wie<br />

drei Wo<strong>ch</strong>en zuvor die engen ärmli<strong>ch</strong>en Gassen Tlaxcalas. Do<strong>ch</strong> hier jubelte keine Menge, zeigte<br />

si<strong>ch</strong> aber au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t feindli<strong>ch</strong> gesinnt. Frauen und Mäd<strong>ch</strong>en winkten pfli<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>uldig mit Papierfähn<strong>ch</strong>en<br />

und rei<strong>ch</strong>ten den Kastiliern Begrüßungsges<strong>ch</strong>enke. Die Cholulteken waren Meister der<br />

Verstellungskunst; ihre Höfli<strong>ch</strong>keit und ihr nie versiegendes Lä<strong>ch</strong>eln verriet ni<strong>ch</strong>t, wel<strong>ch</strong>e Gefühle


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 192<br />

sie für ihre Gäste hegten.<br />

Die Kastilier aber wurden wieder verzaubert. Hatte Tlaxcala s<strong>ch</strong>on Cempoala überstrahlt, so<br />

wurde Tlaxcala von Cholula in den S<strong>ch</strong>atten gestellt. Es kam ihnen vor, als hätten sie bis dahin nur<br />

Zerrbilder der mexicanis<strong>ch</strong>en Kultur gesehen. Das Mär<strong>ch</strong>en begann erst jetzt! Von der Pra<strong>ch</strong>t Mexico-Teno<strong>ch</strong>titláns<br />

gab Cholula nun eine Vorahnung! Die Totonaken des dicken Kaziken waren ein<br />

unterentwickeltes Volk, nur oberflä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> zivilisiert dur<strong>ch</strong> ihre Handelsbeziehungen zum fernen Mittelpunkt<br />

der aztekis<strong>ch</strong>en Kultur. Und das Bergvolk der Tlaxcalteken, eigensinnig wie alle Bergvölker,<br />

musste in se<strong>ch</strong>zigjährigem Krieg erkennen, dass es für ein von Feinden bedrohtes Land wi<strong>ch</strong>tiger<br />

war, Brot zu backen als Luxus und Rei<strong>ch</strong>tum anzuhäufen. S<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>t wie die Tra<strong>ch</strong>t waren die<br />

Wohnungen und das Hausgerät der Tlaxcalteken. In Cholula hingegen bekleideten si<strong>ch</strong> selbst die<br />

einfa<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en mit außerordentli<strong>ch</strong> fein gewebten und pra<strong>ch</strong>tvoll gemusterten Kleidern, Röcken<br />

und Mänteln. Hier wetteiferten der vom Handel zuströmende Verdienst, die Pra<strong>ch</strong>t der Tempel<br />

und die Ma<strong>ch</strong>t der Priester mit dem alten Rei<strong>ch</strong>tum der adligen Kriegerkaste; selbst freigelassene<br />

Sklaven prunkten mit ihren Steinpalästen, ihrem s<strong>ch</strong>önen Hausgerät und ihren Kleinodien.<br />

Diego de Ordás musste kein Kampf mit den Blumengewinden ausfe<strong>ch</strong>ten, wie damals in<br />

Tlaxcala. Cortés hatte ihn vorsi<strong>ch</strong>tshalber ersu<strong>ch</strong>t, auf das planlose Drauflosreiten zu verzi<strong>ch</strong>ten.<br />

Die Würdenträger, die im Auftrag des Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtiers die Sonnensöhne vor den Toren<br />

empfangen hatten, geleiteten das Heer auf einem seltsam langen Zickzackweg dur<strong>ch</strong> die Stadt.<br />

Niemand merkte, dass einige Straßen umgangen wurden. Die Länge des Weges hätte die Kastilier<br />

stutzig ma<strong>ch</strong>en müssen, do<strong>ch</strong> sie waren wie beraus<strong>ch</strong>t vom Anblick der Porphyrpaläste, der vierhundert<br />

Teocalli und der wunderbaren Großen Pyramide, des Künstli<strong>ch</strong>en Berges, dessen Spitze –<br />

s<strong>ch</strong>einbar im Blau des Himmels verankert, wie die Glets<strong>ch</strong>erspitzen des Popocatepetl – in jeder<br />

Straße vor den Bes<strong>ch</strong>auern emporragte, gewaltig dur<strong>ch</strong> seine Größe und bewundernswert in seiner<br />

Höhe.<br />

Ein kleiner, dem gelbgesi<strong>ch</strong>tigen Feuergott geweihter Tempel wurde als Quartier zugewiesen.<br />

Das Heiligtum war mit einer hohen Mauer umgeben; vor dem mit mens<strong>ch</strong>engroßen Skorpionen<br />

gezierten Hauptportal der Ummauerung breitete ein Yuccabaum seine gewaltigen Äste aus.<br />

Gegen Mittag erhielt Cortés den Besu<strong>ch</strong> des Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtiers. Mit glänzendem Gefolge,<br />

begleitet von Räu<strong>ch</strong>erpriestern, Fürsten, Prinzen und Beilträgern, trug der Priesterkönig eine<br />

abenteuerli<strong>ch</strong>e Tra<strong>ch</strong>t: Seitwärts und in die Höhe strebende Quetzalvogelfedern umhüllten die<br />

s<strong>ch</strong>lanke Gestalt wie eine riesige Aureole aus roten und goldgrünen Flammen. Das Zei<strong>ch</strong>en der<br />

Königsma<strong>ch</strong>t, die türkisfarbene Binde, zierte seine Stirn. In der Hand hielt er das königli<strong>ch</strong>e Zepter.<br />

Auf der Brust trug er an einer Kette aus Nephritperlen die kleine Trommel aus Gold, wel<strong>ch</strong>e der<br />

Zornige Herr ihm jüngst dur<strong>ch</strong> den Tempelhüter hatte überbringen lassen; sie war der einzige<br />

S<strong>ch</strong>muck. Von der Nase abwärts war die untere Hälfte seines Gesi<strong>ch</strong>ts karminrot, die obere Hälfte<br />

hellgelb ges<strong>ch</strong>minkt, und blaue Sterne zierten die Augenlider. In das bis zu den Knö<strong>ch</strong>eln rei<strong>ch</strong>ende<br />

Gewand waren blaue Kreuze gewirkt.<br />

Er überrei<strong>ch</strong>te Cortés eine voll in Blüte stehende Palmenrispe. Bis vor kurzem no<strong>ch</strong> hatte<br />

das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier si<strong>ch</strong> gesträubt, Cortés – den Sendboten eines fernen, kreuztragenden<br />

Gottes – gastli<strong>ch</strong> aufzunehmen; das war begreifli<strong>ch</strong>, da er selbst der wiedergeborene kreuztragende<br />

Gott war. Seit Mens<strong>ch</strong>engedenken galt bei allen <strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>imekis<strong>ch</strong>en Völkern der ältere der beiden<br />

Priesterkönige von Cholula – der hö<strong>ch</strong>ste Herr – als Inkarnation des Gottes Quetzalcoatl, dessen<br />

Symbol das Kreuz und eine Grüngefiederte S<strong>ch</strong>lange waren. Der Quetzalcoatl Cholulas hatte nur<br />

no<strong>ch</strong> wenig mit dem alten sanften Heilbringer aus vergangener toltekis<strong>ch</strong>er Zeit gemein. Dem<br />

Kreuzträger Cholulas wurden alljährli<strong>ch</strong> einige tausend Kinder ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet. Do<strong>ch</strong> heute trat die<br />

Rivalität der beiden Heilbringer beim kurzen Höfli<strong>ch</strong>keitsbesu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in Ers<strong>ch</strong>einung. Taktvoll<br />

unterließ es Cortés, darauf hinzuweisen, dass er gekommen sei, Cholula zu beglücken. Er begnügte<br />

si<strong>ch</strong>, seiner Freude Ausdruck zu verleihen, dass das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier si<strong>ch</strong> Don Carlos<br />

de Austria unterworfen habe, dem König aller Könige, und erwähnte nur nebenbei, dass ein<br />

Untertan Seiner Majestät die Ehrenpfli<strong>ch</strong>t habe, seine <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Gäste mit Gold, Juwelen und<br />

Lebensmitteln zu versehen. Leider seien seinem Heer beim Einzug mehr Blumen als Speise und<br />

Trank gerei<strong>ch</strong>t worden; von Blumen aber könnten seine Soldaten ni<strong>ch</strong>t leben.<br />

Wieder, wie vor wenigen Tagen, als der Lanzenträger ihn mit Kreide bemalte, blieb das Gesi<strong>ch</strong>t<br />

des Priesterkönigs regungslos. Do<strong>ch</strong> als er zu spre<strong>ch</strong>en begann, tat er es mit gewinnender<br />

Höfli<strong>ch</strong>keit, die zeigen sollte, dass die weiße S<strong>ch</strong>minke seinem Gedä<strong>ch</strong>tnis ents<strong>ch</strong>wunden und die


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 193<br />

Kriegserklärung vergessen war. Ein Räu<strong>ch</strong>erpriester rei<strong>ch</strong>te ihm den Weihrau<strong>ch</strong>löffel und weißes<br />

Harz, und er hüllte Cortés in duftende Wolken. Dann ents<strong>ch</strong>uldigte er si<strong>ch</strong>: Er habe seinem Vorsteher<br />

des Hauses der S<strong>ch</strong>ätze den Auftrag erteilt, den Göttern würdige Ges<strong>ch</strong>enke bereitzustellen;<br />

er selbst brä<strong>ch</strong>te sie bei seinem zweiten Besu<strong>ch</strong> den Sonnensöhnen dar. Der Vorsteher des<br />

Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e aber würde auf einem Holzstoß verbrannt, weil er ni<strong>ch</strong>t genügend für die<br />

Beköstigung der Götter gesorgt hätte und die Götter hungern müssten. Er verspra<strong>ch</strong> ras<strong>ch</strong>e Abhilfe<br />

und verabs<strong>ch</strong>iedete si<strong>ch</strong> mit undur<strong>ch</strong>si<strong>ch</strong>tiger Liebenswürdigkeit.<br />

Marina, die dem Generalkapitän alles übersetzt hatte, traute der Freundli<strong>ch</strong>keit ni<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong><br />

Cortés wollte ihr Misstrauen ni<strong>ch</strong>t wahrhaben. Sie wurden vom jungen Federherr abgelenkt, der<br />

mit seiner Mutter, der Königinwitwe, seine Aufwartung ma<strong>ch</strong>te.<br />

Aus purer Höfli<strong>ch</strong>keit ri<strong>ch</strong>tete er eine kurze Begrüßungsrede an Cortés, wandte si<strong>ch</strong> dann<br />

aber ras<strong>ch</strong> an Marina und erklärte ihr ganz unbefangen, dass er no<strong>ch</strong> nie eine so s<strong>ch</strong>öne Frau<br />

erblickt habe und ents<strong>ch</strong>lossen sei, sie zu eheli<strong>ch</strong>en und zur Königin von Cholula zu ma<strong>ch</strong>en. Cortés<br />

s<strong>ch</strong>wieg verdutzt, und au<strong>ch</strong> die Hauptleute sagten ni<strong>ch</strong>ts, sodass die Stille fast peinli<strong>ch</strong> war.<br />

Marina s<strong>ch</strong>aute hilflos und übersetzte verwirrt. Do<strong>ch</strong> Cortés lag daran, den Jüngling ni<strong>ch</strong>t zu verstimmen,<br />

denn er erkannte blitzartig die Mögli<strong>ch</strong>keit, den jungen Priesterkönig gegen das Herrs<strong>ch</strong>ende<br />

Raubtier auszuspielen. Marina konnte er ihm freili<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t abtreten. So ließ er ihm sagen:<br />

Jeden anderen Wuns<strong>ch</strong> würde er ihm mit Freude erfüllen, do<strong>ch</strong> die Christen könnten auf dem Weg<br />

na<strong>ch</strong> Mexico ni<strong>ch</strong>t auf ihre Dolmets<strong>ch</strong>erin verzi<strong>ch</strong>ten.<br />

Der Federherr murmelte etwas vom Unglückstag, den der Kalenderpriester für ihn gewählt<br />

habe. Seine Augen füllten si<strong>ch</strong> mit Tränen, und die Königinwitwe begann für ihren Sohn zu werben.<br />

Sie gli<strong>ch</strong> eher einem verkleideten Mann als einer Frau (während ihr Sohn einem ges<strong>ch</strong>meidigmageren<br />

Mäd<strong>ch</strong>en ähnelte). Ihre königli<strong>ch</strong>e Frauentra<strong>ch</strong>t aus feinstem, s<strong>ch</strong>leierdünnem Gewebe<br />

hing reizlos am mä<strong>ch</strong>tig-kno<strong>ch</strong>igen Körper und bildete einen grotesken Gegensatz zu ihrem kühnen,<br />

ni<strong>ch</strong>t uns<strong>ch</strong>önen Gesi<strong>ch</strong>t. Sie hatte ein s<strong>ch</strong>warzes, rund ges<strong>ch</strong>nittenes Pflaster auf der linken<br />

Wange, und die Stimme war tief und männli<strong>ch</strong>. Wie eine Drohung trug sie ihre Bitte vor. Sie sei<br />

ni<strong>ch</strong>t gewillt, erklärte sie, nun ihren Sohn zu verlieren, na<strong>ch</strong>dem sie eben erst ihren Gemahl verloren<br />

habe. Die Liebesgöttin Xo<strong>ch</strong>iquetzal, die Weberin, habe das Herz ihres Sohnes umsponnen,<br />

und nun sterbe ihr Sohn an ungestillter Liebessehnsu<strong>ch</strong>t. Als seine Mutter bestehe sie darauf,<br />

dass die Malintzín si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> ein Verspre<strong>ch</strong>en verpfli<strong>ch</strong>te, sein Weib zu werden – wenn au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

jetzt glei<strong>ch</strong>, so do<strong>ch</strong> bald später, da niemand außer ihr den Kranken heilen könne.<br />

Die Situation war grotesk: Marina musste Cortés als Dolmets<strong>ch</strong>erin ganz offiziell die Brautwerbung<br />

übersetzen. Sie tat es mit ausdrucksloser Miene, flo<strong>ch</strong>t aber persönli<strong>ch</strong>e Bekundungen<br />

wie »Lass das ni<strong>ch</strong>t zu, um Gottes willen«, oder »der Knabe tut mir Leid« ein. Um Zeit zu gewinnen,<br />

musste sie erwidern: Marina sei Christin und sein Patenkind – das bedeute, dass er dem<br />

S<strong>ch</strong>öpfer der Welt verantwortli<strong>ch</strong> sei für ihre Seele. Daher müsse er si<strong>ch</strong> erst mit dem Obersten<br />

der Christenpriester beraten, ob es anginge, dass sein Patenkind einen heidnis<strong>ch</strong>en König heirate.<br />

Pater Olmedo weile aber beim Heer, das außerhalb der Stadt lagerte,<br />

um einem sterbenden, von einer giftigen Eide<strong>ch</strong>se gebissenen<br />

Totonaken Zuspru<strong>ch</strong> und die letzte Ölung zu erteilen. Inzwis<strong>ch</strong>en<br />

solle der Federherr Marina und ihn dur<strong>ch</strong> die Stadt führen.<br />

Er wollte dem Jüngling Gelegenheit geben, einige Stunden in Marinas<br />

Gesells<strong>ch</strong>aft zu verbringen, auf dass die Weberin sein Herz<br />

no<strong>ch</strong> mehr umspinne.<br />

Tezcatlipoca: »Rau<strong>ch</strong>ender Spiegel«<br />

(neben Huitzilopo<strong>ch</strong>tli, Tlaloc und Quetzalcoatl<br />

mexicanis<strong>ch</strong>er Hauptgott)<br />

Mutter und Sohn gaben si<strong>ch</strong> damit zufrieden. Auf dem Rundgang erzählte der Federherr die<br />

Legende von Cholula. Velásquez de León hatte si<strong>ch</strong> Cortés und Marina anges<strong>ch</strong>lossen. Cholula<br />

war von den kunstrei<strong>ch</strong>en Tolteken gegründet worden, lange bevor die ersten fellbekleideten<br />

Chi<strong>ch</strong>imeken in Anahuac eingefallen seien. Königin Quetzalblume, die Ehebre<strong>ch</strong>erin, hatte ihren<br />

Gatten verlassen, den Weißen Adler, König von Tula, und war vom Hohepriester verführt worden,


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 194<br />

als sie in Cholula Zuflu<strong>ch</strong>t su<strong>ch</strong>te; ihm hatte sie den Ahnherrn der Könige Cholulas geboren.<br />

Da kam eine große Flut, bei der die meisten der ersten Bewohner den Tod fanden; man<strong>ch</strong>e<br />

jedo<strong>ch</strong> wurden in Fis<strong>ch</strong>e verwandelt. Nur sieben Brüder mit ihren Frauen retteten si<strong>ch</strong> in die Höhlen<br />

eines Berges. Und als die Wasser si<strong>ch</strong> verlaufen hatten, erri<strong>ch</strong>tete einer davon, der Baumeister,<br />

einen künstli<strong>ch</strong>en Berg an dem Ort, an dem später die Stadt Cholula gebaut wurde, zum Andenken<br />

an den Zuflu<strong>ch</strong>tsort, der ihn und seine Brüder beherbergt hatte. Die Brüder, Söhne und<br />

Enkel mussten Ziegel brennen und für den Bau der Großen Pyramide herbeis<strong>ch</strong>leppen, die sie<br />

ihrem Stadtgott Quetzalcoatl weihten, der Grüngefiederten S<strong>ch</strong>lange. Quetzalcoatl war der weißbärtige<br />

Heilbringer, der Gott des Windes, der alle Welten dur<strong>ch</strong>flutenden Luft und daher au<strong>ch</strong> der<br />

Gott des Geistes und des fühlenden Herzens.<br />

Ihm stand das kampflüsterne Prinzip gegenüber, der Gott der Unerbittli<strong>ch</strong>keit, Tezcatlipoca!<br />

Ihm hatte der milde König wei<strong>ch</strong>en müssen. Bevor er ging, versenkte er seine Kostbarkeiten, Bü<strong>ch</strong>er<br />

und Flöten im Quellbrunnen. Am Ufer des östli<strong>ch</strong>en Weltmeeres verbrannte er in einer Steinkiste,<br />

stieg in die Unterwelt hinab, war vier Tage lang ein Kno<strong>ch</strong>en, dann wurde er zum Morgenstern.<br />

Vor seinem Tod hatte er den Völkern Anahuacs das Kreuz als Wahrzei<strong>ch</strong>en der Gesittung<br />

genannt und erklärt, er käme zurück.<br />

Überwältigt vom Anblick der Steinmasse, vom Umfang und der Höhe der Pyramide, die mit<br />

einer S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>t von Porphyrquadern überkleidet war, konnte Cortés ni<strong>ch</strong>t umhin, Ähnli<strong>ch</strong>keiten zur<br />

<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Mythologie zu erkennen. Gut und Böse gab es au<strong>ch</strong> in anderen Religionen, hier aber<br />

drängten die Verglei<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> förmli<strong>ch</strong> auf: Gott und Teufel, Tod und Auferstehung, die Sintflut, das<br />

Kreuz...<br />

Die Pyramide! Am Fundament dreizehnhundertse<strong>ch</strong>sunda<strong>ch</strong>tzig Fuß im Quadrat, verjüngte<br />

sie si<strong>ch</strong> in neun Stufen, stieß fast ans Blau des Himmels. Ein Prozessionsweg s<strong>ch</strong>lang si<strong>ch</strong> wie ein<br />

Band mehrmals um die Pyramide, allmähli<strong>ch</strong> ansteigend, und führte von Terrasse zu Terrasse<br />

hinauf zum Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz auf der obersten Plattform und dem turmartigen Sanktuar mit<br />

dem vergoldeten Kupferda<strong>ch</strong>. Steil führte vom Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz eine doppelte, dur<strong>ch</strong> eine<br />

Blutrinne geteilte Treppe von hundertzwanzig hohen Stufen herunter.<br />

Cortés fragte Velásquez de León, aus wel<strong>ch</strong>em Grund wohl der Teufel die heiligen biblis<strong>ch</strong>en<br />

Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten in die Neue Welt gebra<strong>ch</strong>t habe, denn wer außer dem Teufel konnte es getan<br />

haben? Hatte er do<strong>ch</strong> sogar diese Rothäute gelehrt, ihre Säuglinge bei der Namengebung mit<br />

Wasser zu begießen, also gewissermaßen zu taufen. Die Passion Quetzalcoatls war Verzerrung,<br />

die Stufen des Großen Berges erinnerten an Gethsemane, Jerusalem, den Ölberg und Golgatha.<br />

Do<strong>ch</strong> entgegen den Absi<strong>ch</strong>ten des Teufels – Cortés erklärte dies Marina und Velásquez allen<br />

Ernstes – war gerade dur<strong>ch</strong> diese Entweihung der Boden für die <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Lehre wie au<strong>ch</strong> für den<br />

Sieg ihrer <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Waffen vorbereitet.<br />

Ein eigentümli<strong>ch</strong>er Zufall hatte es gewollt, dass die ersten, auf hohen Wasserhäusern<br />

hersegelnden weißen conquistadores – Francisco Hernández de Córdova 1517, dann Juan de<br />

Grijalva ein Jahr darauf und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> Cortés selbst – in derselben Gegend am östli<strong>ch</strong>en Meeresufer<br />

Tabascos gelandet waren, wo Quetzalcoatl seine Pilgerfahrt beendete. Fast no<strong>ch</strong> wunderbarer<br />

ers<strong>ch</strong>ien ihm das Spiel eines anderen Zufalls. Quetzalcoatl trug den Beinamen Eins-S<strong>ch</strong>ilfrohr;<br />

er war der Überlieferung na<strong>ch</strong> im Jahr Eins-S<strong>ch</strong>ilfrohr – dem Jahre 895 unserer Zeitre<strong>ch</strong>nung –<br />

zum Morgenstern geworden. Für das Jahr Eins-S<strong>ch</strong>ilfrohr war au<strong>ch</strong> seine Rückkehr geweissagt<br />

worden. Und tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>, na<strong>ch</strong> zwölfmaliger Wiederkehr des zweiundfünfzigjährigen Zyklus aztekis<strong>ch</strong>er<br />

Zeitre<strong>ch</strong>nung, fiel das prophezeite Datum Eins-S<strong>ch</strong>ilfrohr auf das Jahr 1519, das Jahr, als<br />

sie in Mexico gelandet waren.<br />

Cortés hatte allen Grund, el demonio, dem Teufel, dankbar zu sein. Hier in Cholula, in der<br />

Stadt des Dulderkönigs, kam es ihm erst voll zum Bewusstsein, dur<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong> eine Kette unerhörter<br />

Fügungen ihm der Weg geebnet worden war. Cortés war alles andere als ein Mystiker, fühlte si<strong>ch</strong><br />

jedo<strong>ch</strong> als Werkzeug Gottes, als Strafer und Heilbringer, wie jener rätselhafte Quetzalcoatl.<br />

»I<strong>ch</strong> will mein Ebenbild sehen«, sagte er plötzli<strong>ch</strong> halb im S<strong>ch</strong>erz zu Velásquez. »Kommt,<br />

lasst uns die Treppe hinaufsteigen. I<strong>ch</strong> will mi<strong>ch</strong> im Spiegel sehen. I<strong>ch</strong> will wissen, wer i<strong>ch</strong> hin.«<br />

Marina sah dem Federherrn an, warum er zögerte. Sein s<strong>ch</strong>euer Blick auf die große Volksmenge,<br />

die neugierig die Fremden umlagerte, sagte genug. Do<strong>ch</strong> als sie ihn au<strong>ch</strong> darum bat,<br />

konnte er ihr die Bitte ni<strong>ch</strong>t abs<strong>ch</strong>lagen.<br />

Die hundertzwanzig ellenhohen Stufen bra<strong>ch</strong>ten sie zum S<strong>ch</strong>witzen, do<strong>ch</strong> auf dem


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 195<br />

Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz wurden sie dur<strong>ch</strong> einen überwältigenden Blick auf die Stadt, die Ebene und<br />

die den Horizont umgürtenden Gebirgsketten belohnt. Im Osten wölbten si<strong>ch</strong> die Berge, die sie<br />

dur<strong>ch</strong>quert hatten; im Norden wurden die düsteren Höhen Tlaxcalas vom Glets<strong>ch</strong>ereis des<br />

Ixtacciuhatl überragt, und im Westen funkelten sonnenbestrahlt die S<strong>ch</strong>neefelder der Weißen Frau<br />

und des Rau<strong>ch</strong>enden Berges. Der Federherr führte die Besu<strong>ch</strong>er an einer großen basaltenen Opferbluts<strong>ch</strong>ale<br />

vorbei in die innere Kultstätte. Das Betreten des Heiligtums war Fremdlingen verboten;<br />

ein Blick des jungen Priesterkönigs indes bewirkte, dass die vor dem Sanktuar aufgestellten<br />

Wä<strong>ch</strong>ter den Eingang freigaben.<br />

No<strong>ch</strong> während sie über den Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz gingen, hatte Cortés la<strong>ch</strong>end zu<br />

Velásquez de León geäußert: »Es soll mi<strong>ch</strong> Wunder nehmen, ob i<strong>ch</strong> ihm ähnli<strong>ch</strong> sehe, diesem<br />

weißen Gott! Man kann si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> in einer Fratze wieder erkennen...« Do<strong>ch</strong> jetzt, da sie davor<br />

standen, wi<strong>ch</strong> die kecke Lustigkeit, die er dem S<strong>ch</strong>icksal abgefordert hatte.<br />

»O Gott«, kam es ihm ungewollt über die Lippen.<br />

Das überlebensgroße, mit Juwelen behängte Götzenbild aus dunkelgrauem Basalt stellte ein<br />

Doppelwesen mit zwei Köpfen auf einem Rumpf dar. Na<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>ts blickte der Löffelreiherkopf<br />

Quetzalcoatls, des Gottes des Lebens und des Atmens; na<strong>ch</strong> links gewandt, mit kreisrundem Augapfel<br />

und ausgestreckter Zunge, blickte der Totens<strong>ch</strong>ädelkopf Mictlantecutlis, des Totengottes. Der<br />

re<strong>ch</strong>te Arm trug ausgestreckt ein mannshohes Zepter mit einer gebogenen S<strong>ch</strong>langenkopfkrücke,<br />

der linke hielt eine Kno<strong>ch</strong>enrassel und war, wie au<strong>ch</strong> das linke Bein, von Ges<strong>ch</strong>würen zerfressen.<br />

Fris<strong>ch</strong>es Blut rann über Fußboden und Wände des Heiligtums. Erst vor wenigen Stunden<br />

waren dem Gott Mens<strong>ch</strong>enopfer dargebra<strong>ch</strong>t worden. S<strong>ch</strong>weigend gingen sie hinaus, s<strong>ch</strong>weigend<br />

stiegen sie die Treppe hinunter.<br />

Endli<strong>ch</strong> befreite si<strong>ch</strong> Velásquez de León und knurrte: »Wel<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>eußli<strong>ch</strong>keit! I<strong>ch</strong> wüns<strong>ch</strong>te,<br />

wir könnten heute s<strong>ch</strong>on diesen Götzen zertrümmern!«<br />

Cortés warf den Kopf in den Nacken<br />

und antwortete: »Nein, heute no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t.<br />

Aber der Tag wird kommen. Gegen Dra<strong>ch</strong>en<br />

kämpft man aus Erbarmen erbarmungslos!«<br />

*<br />

Mens<strong>ch</strong>enopfer<br />

(na<strong>ch</strong>empfundene Darstellung, 19. Jh.)<br />

Die Na<strong>ch</strong>t verging ohne Zwis<strong>ch</strong>enfall; au<strong>ch</strong><br />

der nä<strong>ch</strong>ste Vormittag. Die vom Herrs<strong>ch</strong>enden<br />

Raubtier in Aussi<strong>ch</strong>t gestellten Lebensmittel<br />

wurden dem Heer ni<strong>ch</strong>t gebra<strong>ch</strong>t, nur Holz zum Feuern und Wasser zum Ko<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>leppten<br />

tlamamas herbei. Das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier ließ ihm sagen, er sei krank und könne ni<strong>ch</strong>t kommen.<br />

Au<strong>ch</strong> der Federherr gebrau<strong>ch</strong>te die glei<strong>ch</strong>e Ausrede, als Cortés seine Anwesenheit wüns<strong>ch</strong>te.<br />

Der dem Kaiser geleistete Treueid s<strong>ch</strong>ien bereits vergessen.<br />

Die Cholulteken, die si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> am ersten Tag zu Tausenden einfanden, mieden jetzt das<br />

Quartier der Götter. Die wenigen, die si<strong>ch</strong> in die Nähe der S<strong>ch</strong>ildwa<strong>ch</strong>en wagten, grinsten herausfordernd.<br />

Am Na<strong>ch</strong>mittag trafen drei Boten – S<strong>ch</strong>nellläufer, keine Gesandten! – aus Teno<strong>ch</strong>titlán ein.<br />

Sie su<strong>ch</strong>ten die zwanzig Mann der Palastwa<strong>ch</strong>e aus dem Roten Berg auf, die der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen<br />

den Christen als Begleiter mitgegeben hatte; mit ihnen bespra<strong>ch</strong>en sie si<strong>ch</strong> längere Zeit. Der<br />

Mä<strong>ch</strong>tige Felsen war jener mutige Statthalter Moctezumas in Cuetlaxtlan, der seinerzeit den Hund<br />

Becerrico so fur<strong>ch</strong>tlos gestrei<strong>ch</strong>elt hatte. Dass die Kuriere ni<strong>ch</strong>t zuerst beim Generalkapitän vorspra<strong>ch</strong>en,<br />

war eine Missa<strong>ch</strong>tung seiner Ma<strong>ch</strong>t. Cortés ließ sie vor si<strong>ch</strong> bringen und stellte sie zur<br />

Rede. Ihr Spre<strong>ch</strong>er erwiderte, ihr erster Auftrag habe den Leuten aus dem Roten Berg gegolten;<br />

ihr zweiter aber laute so: Der Zornige Herr rate den Söhnen des Sonnenaufgangs, Teno<strong>ch</strong>titlán zu<br />

meiden, weil die Kornkammern der Inselstadt ni<strong>ch</strong>t genug Mais enthielten, um ein so großes Heer<br />

zu ernähren.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 196<br />

Cortés blitzte den Wortführer zornig an. Wie ist es mögli<strong>ch</strong>, dass ein so ho<strong>ch</strong> gestellter Herr,<br />

der König des mä<strong>ch</strong>tigen Aztekenrei<strong>ch</strong>es, ständig seine Absi<strong>ch</strong>ten ändere? Die Christen könnten<br />

si<strong>ch</strong> selbst beköstigen und zögen aus keinem anderen Grund na<strong>ch</strong> Mexico, als Moctezuma die<br />

Hände zu küssen.<br />

Für seinen Spott hatten die Boten kein Verständnis. S<strong>ch</strong>roff forderten sie den sofortigen Bes<strong>ch</strong>eid,<br />

da sie ohne Verweilen zum Herrn der Welt zurückkehren müssten. Do<strong>ch</strong> Cortés ließ si<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t verleiten. Er bes<strong>ch</strong>enkte sie mit Spiegeln und Messern und bat höfli<strong>ch</strong> um eine kleine Frist,<br />

damit er die Antwort mit seinen Heerführern beraten könne. Die Boten verspra<strong>ch</strong>en, bis zum<br />

nä<strong>ch</strong>sten Morgen zu warten.<br />

Nur wenige Stunden darauf wurde Cortés gemeldet, dass die Boten und alle zwanzig Mexica<br />

aus dem Roten Berg vers<strong>ch</strong>wunden seien. Das waren s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Anzei<strong>ch</strong>en. Cortés bereute s<strong>ch</strong>on,<br />

dass er das Hauptheer der Tlaxcalteken voreilig entlassen hatte. Heimli<strong>ch</strong> sandte er einen der<br />

totonakis<strong>ch</strong>en tlamamas (die die Ges<strong>ch</strong>ütze in die Stadt ges<strong>ch</strong>afft hatten) na<strong>ch</strong> Tlaxcala ab und<br />

ließ Prinz Goldmaske bitten, unverzügli<strong>ch</strong> mit seinen Kriegern zurückzukehren.<br />

*<br />

Am späten Na<strong>ch</strong>mittag s<strong>ch</strong>lenderte der s<strong>ch</strong>öne Namenlose mit seiner kleinen Sklavin dur<strong>ch</strong> die<br />

Straßen Cholulas. Seit der Na<strong>ch</strong>t an der torre de la victoria, wo er si<strong>ch</strong> unter den zweihundertsiebzig<br />

Opfermäd<strong>ch</strong>en dieses s<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>terne Kind ausgewählt hatte, war die Beraus<strong>ch</strong>ende Blume sein<br />

S<strong>ch</strong>atten und wi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t von seiner Seite. Sie war eine Cholultekin, und als er sie dur<strong>ch</strong> Doña Elvira<br />

na<strong>ch</strong> ihren Verwandten fragte, hatte sie ihn vor ein stattli<strong>ch</strong>es Haus geführt. Do<strong>ch</strong> es zeigte si<strong>ch</strong>,<br />

dass fremde Leute darin wohnten. Sie s<strong>ch</strong>ien ni<strong>ch</strong>t sonderli<strong>ch</strong> enttäus<strong>ch</strong>t zu sein. Hätte er es ihr<br />

überlassen, frei sein und in Cholula bleiben zu wollen, sie wäre bei ihm geblieben. Sie war glückli<strong>ch</strong>.<br />

Sie spra<strong>ch</strong> Aztekis<strong>ch</strong> und er Spanis<strong>ch</strong> – na<strong>ch</strong> mehr Verständigung sehnten si<strong>ch</strong> beide ni<strong>ch</strong>t.<br />

Er sah in ihr das Spiegelbild jener anderen, die ihm allzu lieb gewesen war. Die kindli<strong>ch</strong>e Gestalt<br />

der Beraus<strong>ch</strong>enden Blume, ihre or<strong>ch</strong>ideenhaft ges<strong>ch</strong>weiften Lippen erinnerten ihn an ein früheres<br />

Leben. Jener anderen hatte er kein Glück, sondern den Tod gebra<strong>ch</strong>t. Einen Arm hat man ihm<br />

abgehackt; nie wieder wollte er das Feuer entzünden! Die Liebe, die er für dieses Kind empfand,<br />

war ein Li<strong>ch</strong>t ohne Feuer. Ni<strong>ch</strong>t minder hell und umso reiner!<br />

Sie hatten einen kleinen Marktplatz überquert, wo auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> Töpferwaren verkauft wurden<br />

– die in Anahuac so ges<strong>ch</strong>ätzten, s<strong>ch</strong>ön gemusterten Majoliken Cholulas. Der Namenlose<br />

bemerkte, dass feindli<strong>ch</strong>e Augen ihn beoba<strong>ch</strong>teten. Früh am Morgen war Ordás dur<strong>ch</strong> die Stadt<br />

geritten. Seine Graus<strong>ch</strong>immelstute hatte ges<strong>ch</strong>eut, war über den Töpfermarkt gerast und hatte<br />

viele Stände in S<strong>ch</strong>erbenhaufen verwandelt. Davon wusste aber der Namenlose ni<strong>ch</strong>ts; er bog mit<br />

der Beraus<strong>ch</strong>enden Blume in eine mens<strong>ch</strong>enleere Gasse ein, wo ihnen zwei ältere, beleibte Männer<br />

mit roten Sonnens<strong>ch</strong>irmen entgegenkamen. Plötzli<strong>ch</strong> packte die Beraus<strong>ch</strong>ende Blume das<br />

Handgelenk des Namenlosen, krampfte si<strong>ch</strong> an ihn und begann vor Erregung zu zittern. »Mein<br />

Vater«, rief sie <strong>ch</strong>olultekis<strong>ch</strong> aus und sprang auf einen der beiden Männer zu, hing s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zend<br />

und la<strong>ch</strong>end an seinem Hals. Er war zuerst ers<strong>ch</strong>rocken und verwundert, erkannte dann aber seine<br />

To<strong>ch</strong>ter, la<strong>ch</strong>te, liebkoste, strei<strong>ch</strong>elte und küsste sie, während ihm Tränen über die Wangen<br />

liefen. Sein Begleiter bückte si<strong>ch</strong> la<strong>ch</strong>end, um den zu Boden gefallenen roten Sonnens<strong>ch</strong>irm aufzuheben,<br />

und wis<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> verstohlen die Augenwinkel.<br />

Der Vater der Beraus<strong>ch</strong>enden Blume hatte vor einem Jahr sein einziges Kind an Sklavenhändler<br />

verkauft, als er die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t erhalten hatte, dass seine große, na<strong>ch</strong> Yucatán ausgesandte<br />

Handelskarawane von Räubern überfallen und geplündert worden sei. Der rei<strong>ch</strong>e Kaufmann war<br />

über Na<strong>ch</strong>t zum Bettler geworden. Die Gläubiger setzten ihm zu; au<strong>ch</strong> der Verkauf aller Habe genügte<br />

ni<strong>ch</strong>t, seine S<strong>ch</strong>uld zu decken. Ein Kleinod, das vierzig Mäntel wert war, besaß er no<strong>ch</strong> –<br />

sein Kind! Er liebte es, do<strong>ch</strong> seinen ehrli<strong>ch</strong>en Händlernamen liebte er no<strong>ch</strong> mehr. Er war ein Lump,<br />

trotz seines ehrli<strong>ch</strong>en Namens.<br />

Eigenhändig kleidete er die Vierzehnjährige, putzte sie heraus wie eine Prinzessin. Weiße<br />

Dra<strong>ch</strong>en waren in das dunkelgelbe, rockartige Hüfttu<strong>ch</strong> gewebt; ein rei<strong>ch</strong> verziertes rotes S<strong>ch</strong>metterlingsmuster<br />

s<strong>ch</strong>mückte das befranste, mit Glöck<strong>ch</strong>en versehene dreieckige S<strong>ch</strong>ultergewand.<br />

Während er sein Kind vers<strong>ch</strong>önte, verdrängte er die Tränen, und nur mit Mühe gelang es ihm, den<br />

Kummer vor der Lä<strong>ch</strong>elnden zu verbergen. Wohin er sie führen wolle, wagte er ni<strong>ch</strong>t zu sagen. Er


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 197<br />

war ein Lump, und er wusste es.<br />

Na<strong>ch</strong>dem er sie einem Sklavenhändler übergeben hatte, lag er drei Wo<strong>ch</strong>en krank zu Bett.<br />

Ein halbes Jahr darauf kehrte seine Handelskarawane unversehrt und mit großen Gewinn na<strong>ch</strong><br />

Cholula zurück. Die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t, dass die tlamamas ermordet und die Waren geraubt worden seien,<br />

war eine Verwe<strong>ch</strong>slung; nun war er rei<strong>ch</strong>er als vordem. Do<strong>ch</strong> alle Na<strong>ch</strong>fors<strong>ch</strong>ungen na<strong>ch</strong> der Beraus<strong>ch</strong>enden<br />

Blume blieben ergebnislos.<br />

Jetzt endli<strong>ch</strong> - unerwartet und unvorbereitet – hatte sein Kind ihn wiedergefunden!<br />

Der Namenlose wartete abseits. Er hatte ni<strong>ch</strong>ts verstanden, bemerkte aber die Freude und<br />

die Rührung. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> beruhigten sie si<strong>ch</strong>, die Ausrufe wurden seltener, häufiger die Fragen.<br />

Das Mäd<strong>ch</strong>en erzählte, spra<strong>ch</strong> von ihm, zeigte auf ihren Herrn und Retter. Ni<strong>ch</strong>t angerührt hätte er<br />

sie! Betroffen sahen si<strong>ch</strong> Vater und Oheim an, blickten mit Respekt auf den s<strong>ch</strong>önen weißen Mann<br />

mit dem vergoldeten Bronzehelm – einen ähnli<strong>ch</strong>en Helm hatte Quetzalcoatl getragen; im S<strong>ch</strong>atzhaus<br />

Moctezumas wurde das Stück aufbewahrt. Au<strong>ch</strong> keus<strong>ch</strong> war der weiße Mann. Es musste<br />

wohl wahr sein – das Kind beteuerte es ja. Warum? Hatte seine To<strong>ch</strong>ter einen Fehler?<br />

Die beiden beleibten Händler gingen auf den Namenlosen zu und umarmten ihn, küssten<br />

ihm die Hände; knieten mitten auf der Gasse nieder und küssten ihm die Füße. Sie redeten auf ihn<br />

ein, und er verstand, dass sie ihn in ihr Haus einluden. Und weil Beraus<strong>ch</strong>ende Blume ihn anstrahlte,<br />

lehnte er ni<strong>ch</strong>t ab. Es war ni<strong>ch</strong>t weit bis dort. Zuerst bra<strong>ch</strong>ten sie den Göttern zum Dank am<br />

Herdfeuer ein Wa<strong>ch</strong>telopfer dar, dann bewirteten sie den Namenlosen mit Ananas, Kaktusfeigen<br />

und Haselnüssen und tranken mit ihm Octli und Kräutertränke. Er mo<strong>ch</strong>te den etwas fauligen Geru<strong>ch</strong><br />

des Pulque ni<strong>ch</strong>t; dafür kostete er Honigwein, der aus zerquets<strong>ch</strong>ten pflaumengroßen Honigameisen<br />

bereitet wurde – und Tannenzapfenwein, Nopalfru<strong>ch</strong>twein, Palmensirup und Wermut;<br />

außerdem fünferlei aus beraus<strong>ch</strong>enden Giftpilzen gebraute Getränke. Aber weil er kein Trinker<br />

war, nippte er stets nur, um zu kosten. Seine Gastgeber jedo<strong>ch</strong> tranken und tranken, bis ihre Blicke<br />

glasig wurden.<br />

Als der Namenlose aufbre<strong>ch</strong>en wollte, hinderten sie ihn ni<strong>ch</strong>t, sondern ließen es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

nehmen, ihn zu begleiten. Freunds<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> und in trunkener Dankbarkeit hielten sie seine S<strong>ch</strong>ultern<br />

umfasst, s<strong>ch</strong>ritten re<strong>ch</strong>ts und links von ihm, s<strong>ch</strong>wankten und stolperten. Die Beraus<strong>ch</strong>ende<br />

Blume ging sittsam und verlegen hinterher.<br />

Am Yuccabaum vor dem Skorpionentor des Tempels, wo das kastilis<strong>ch</strong>e Heer lagerte, verabs<strong>ch</strong>iedeten<br />

sie si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Sie wollten sehen, ob das Mäd<strong>ch</strong>en gut untergebra<strong>ch</strong>t sei. Der Namenlose<br />

erwirkte ihnen trotz der späten Stunde die Erlaubnis, das Lager zu besi<strong>ch</strong>tigen. Na<strong>ch</strong>dem<br />

er sie umhergeführt hatte, setzte er si<strong>ch</strong> mit ihnen in die Marketenderstube. Die Goldhyazinte servierte<br />

Pulque, und weiter ging die Ze<strong>ch</strong>erei.<br />

Zufällig trat die Gattin des s<strong>ch</strong>önhändigen Cano ein, Doña Elvira. Die beiden fremden<br />

Cholulteken fielen ihr soglei<strong>ch</strong> auf; deshalb laus<strong>ch</strong>te sie ihrer Unterhaltung. Unbefangen und in<br />

dem Glauben, keiner der Anwesenden könne sie verstehen, entwarfen die beiden Trunkenen einen<br />

Plan, Beraus<strong>ch</strong>ende Blume in Si<strong>ch</strong>erheit zu bringen, damit sie beim Überfall ni<strong>ch</strong>t in Gefahr<br />

komme.<br />

Na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> erst begriff Doña Elvira, wie ungeheuerli<strong>ch</strong> es war, was sie erlaus<strong>ch</strong>te. Sie<br />

verließ die Marketenderbude und eilte zu Marina. Diese setzte Cortés sofort in Kenntnis. Der Generalkapitän<br />

ließ si<strong>ch</strong> die beiden Männer vorführen. Die Betrunkenen fühlten si<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elt,<br />

dass der Oberste der Gelbhaarigen sie empfing und mit ihnen plaudern wollte. Er s<strong>ch</strong>enkte ihnen<br />

Glasperlen, die sie für fremdartige, jenseits des Himmelswassers gewa<strong>ch</strong>sene Edelsteine hielten.<br />

Anfangs musste Marina keine Fragen stellen. Die beiden lobten den Namenlosen, dass er so edel<br />

an seiner Sklavin gehandelt habe, die er jetzt dem Vater zurückgeben wolle. Cortés freute si<strong>ch</strong><br />

darüber und s<strong>ch</strong>enkte ihnen zwei Jadesteine; ihm bedeutete es ni<strong>ch</strong>t viel, aber von den Völkern<br />

Anahuacs wurde Jade ebenso ho<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ätzt wie der Smaragd. Wie Wa<strong>ch</strong>s s<strong>ch</strong>molzen die Herzen<br />

der beiden Beraus<strong>ch</strong>ten.<br />

Freundli<strong>ch</strong> behauptete Cortés, alles zu wissen, und bra<strong>ch</strong>te Fals<strong>ch</strong>es und Erdi<strong>ch</strong>tetes vor. Er<br />

für<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t die dreißigtausend mexicanis<strong>ch</strong>en Krieger, die in den Häusern Cholulas untergebra<strong>ch</strong>t<br />

seien, um über die Christen herzufallen. Unsinn, sagte der eine, nur fünftausend Mexica<br />

seien in der heiligen Stadt. Nein, se<strong>ch</strong>stausend! behauptete der andere. Und nur die wenigsten<br />

befänden si<strong>ch</strong> in den Häusern – die meisten hielten si<strong>ch</strong> in den unterirdis<strong>ch</strong>en Kammern der großen<br />

Pyramide auf. Na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> entlockte Cortés ihnen sämtli<strong>ch</strong>e Einzelheiten über den von


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 198<br />

langer Hand vorbereiteten Hinterhalt. Er erfuhr, dass außer den im Künstli<strong>ch</strong>en Berg verborgenen<br />

Kriegern ein mexicanis<strong>ch</strong>es Heer von zehntausend Mann südli<strong>ch</strong> von Cholula in den S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>ten<br />

auf der Lauer lag, um den Kämpfern in der Stadt zu Hilfe zu kommen und die Flu<strong>ch</strong>t der Christen<br />

zu verhindern, falls nötig. Er hörte, dass die Vornehmen ihre Frauen und Kinder in der vergangenen<br />

Na<strong>ch</strong>t heimli<strong>ch</strong> aus der Stadt gebra<strong>ch</strong>t hatten und viele Gassen mit Balken verrammelt, andere<br />

dur<strong>ch</strong> Gräben, Wolfsgruben und eingerammte Pflöcke ungangbar gema<strong>ch</strong>t waren. Häuser seien<br />

in Festungen verwandelt worden, und auf den Hausdä<strong>ch</strong>ern lägen Steine, Pfeile und Wurfspieße<br />

bereit. Moctezuma habe überdies angeordnet, mögli<strong>ch</strong>st alle weißen teules lebend und gefesselt<br />

na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán zu s<strong>ch</strong>affen; zwanzig jedo<strong>ch</strong> dürften in Cholula auf der Adlers<strong>ch</strong>ale ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet<br />

werden.<br />

Freundli<strong>ch</strong> und mit einem Ges<strong>ch</strong>enk von zwanzig totonakis<strong>ch</strong>en Mänteln entließ Cortés die<br />

Kaufherrn. Es ging s<strong>ch</strong>on gegen Mitterna<strong>ch</strong>t. Glei<strong>ch</strong>wohl rief er seine Hauptleute, Fähnri<strong>ch</strong>e und<br />

die verlässli<strong>ch</strong>sten unter seinen Soldaten zu einem nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Kriegsrat in den Tempelsaal zusammen.<br />

Au<strong>ch</strong> Marina war dabei.<br />

Sein Ents<strong>ch</strong>luss stand bereits fest; do<strong>ch</strong> er wollte au<strong>ch</strong> die anderen hinter si<strong>ch</strong> wissen.<br />

Kaum hatte die Beratung begonnen, als sie von drei als Bauern verkleideten Totonaken aus<br />

Olíds Lager unterbro<strong>ch</strong>en wurde. Die drei Männer hatten si<strong>ch</strong> stundenlang in den Straßen und<br />

Gassen herumgetrieben, um herauszufinden, ob irgendwel<strong>ch</strong>e Anzei<strong>ch</strong>en für einen Überfall der<br />

Cholulteken ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> seien. In einigen Straßen sahen sie fris<strong>ch</strong> aufgeworfene, mit Zweigen und<br />

lockerer Erde überdeckte Gräben, die die Reiter zu Fall bringen könnten. Na<strong>ch</strong> Einbru<strong>ch</strong> der Dunkelheit<br />

wären gestern zwanzig drei- oder vierjährige Kinder den bergwärts umlaufenden Weg die<br />

Große Pyramide hinaufgeführt worden; nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Kinderopfer wurden nur am Vorabend großer<br />

Ereignisse dargebra<strong>ch</strong>t!<br />

Während Alvarado und die meisten Hauptleute der Ansi<strong>ch</strong>t waren, die Aussagen der beiden<br />

Kaufleute würden dur<strong>ch</strong> die Beoba<strong>ch</strong>tungen der Totonaken bestätigt, widerspra<strong>ch</strong> Diego de Ordás.<br />

Sein ritterli<strong>ch</strong>er und idealistis<strong>ch</strong> gesinnter Charakter sträubte si<strong>ch</strong>, an die Tücke eines Volkes zu<br />

glauben, das den Überbringer der weißen S<strong>ch</strong>minke unversehrt gelassen und si<strong>ch</strong> den Spaniern<br />

freiwillig dur<strong>ch</strong> einen Lehenseid zur Treue verpfli<strong>ch</strong>tet hatte. Die beiden betrunkenen Händler,<br />

meinte er, seien keine glaubhaften Zeugen; au<strong>ch</strong> einige aufgewühlte Straßen bewiesen ni<strong>ch</strong>ts, und<br />

erst re<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>ts die Prozession der zwanzig Kinder – da müsste man s<strong>ch</strong>on im Tempel Na<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>au<br />

halten.<br />

Weil er so na<strong>ch</strong>drückli<strong>ch</strong> für die Cholulteken eintrat, pfli<strong>ch</strong>teten Sandoval, Velásquez de León<br />

und Luis Marín ihm zögernd bei, dass es tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> besser sei, si<strong>ch</strong> erst mehr Gewissheit zu vers<strong>ch</strong>affen,<br />

ehe man folgens<strong>ch</strong>were Ents<strong>ch</strong>lüsse fasse. Dagegen wollte Alonso de Avila unverzügli<strong>ch</strong><br />

loss<strong>ch</strong>lagen und dem Überfall dur<strong>ch</strong> einen Handstrei<strong>ch</strong> zuvorkommen.<br />

Während er no<strong>ch</strong> spra<strong>ch</strong>, drangen Stimmen aus dem Vorsaal herein. Die Hände der Versammelten<br />

fuhren an die Degengriffe; Alvarado, Bernal Díaz del Castillo und Avila zogen blank.<br />

Cortés nickte in Ri<strong>ch</strong>tung der Tür und sah dabei Avila an. Der riss sie mit S<strong>ch</strong>wung auf. Draußen<br />

bemühten si<strong>ch</strong> a<strong>ch</strong>t Indianer um einen Verletzten; vorsi<strong>ch</strong>tig hatten sie ihn hereingetragen und zu<br />

Boden gelegt. Erlei<strong>ch</strong>tert ließen die Spanier die Waffen ruhen. Die Indianer waren wie einfa<strong>ch</strong>e<br />

Leute gekleidet, wie <strong>ch</strong>olultekis<strong>ch</strong>e Feldarbeiter oder Handwerker, do<strong>ch</strong> sie gaben si<strong>ch</strong> als<br />

Tlatepoca zu erkennen, und Marina fors<strong>ch</strong>te sie aus. Ebenso wie die Totonaken waren sie im Auftrag<br />

Pimotis na<strong>ch</strong> Sonnenuntergang in die Stadt ges<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en, um das S<strong>ch</strong>icksal des Boten zu erkunden,<br />

der vor Tagen mit dem Auftrag losgesandt worden war, den Besu<strong>ch</strong> der weißen Eroberer<br />

anzukündigen. Das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier hatte ihn einkerkern und ihm die Haut von den Händen<br />

s<strong>ch</strong>älen lassen. Kein s<strong>ch</strong>neller Tod hatte ihn von den grauenvollen Qualen erlöst; das Fleis<strong>ch</strong> war<br />

an den Händen faul und brandig, und er sie<strong>ch</strong>te langsam dahin. Au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>dem der Tempelhüter<br />

den Friedenss<strong>ch</strong>luss mit Tlaxcala sowie die Heimkehr Aguilárs und Pimotis erwirkt hatte, musste<br />

der Bote in seinem Holzkäfig verbleiben. No<strong>ch</strong> lebend galt er s<strong>ch</strong>on als tot! Do<strong>ch</strong> die von Pimoti<br />

Ausgesandten haben ihn gefunden und herges<strong>ch</strong>leppt.<br />

Cortés ließ den Physikus rufen, dass er si<strong>ch</strong> um den Verletzten kümmere.<br />

Eine der Dienerinnen Marinas kam in unterwürfiger Haltung herein und flüsterte ihr zu: In ihrem<br />

Gema<strong>ch</strong> warte eine vers<strong>ch</strong>leierte <strong>ch</strong>olultekis<strong>ch</strong>e Dame auf sie und wüns<strong>ch</strong>e sie unter vier Augen<br />

zu spre<strong>ch</strong>en. Sie teilte es Cortés mit, der mit unwilliger Handbewegung sein Einverständnis<br />

gab. »Komm bald zurück«, rief er ihr na<strong>ch</strong>. Die Beratungen gingen weiter.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 199<br />

Marinas Erstaunen war ni<strong>ch</strong>t gering, als sie an der dunklen Stimme und den männli<strong>ch</strong>en Bewegungen<br />

die Mutter des Federherrn erkannte.<br />

»Mein Täub<strong>ch</strong>en«, begann die Königin, »i<strong>ch</strong> komme, di<strong>ch</strong> zu retten, di<strong>ch</strong> vor der für<strong>ch</strong>terli<strong>ch</strong>en<br />

Gefahr zu bewahren. I<strong>ch</strong> habe di<strong>ch</strong> lieb gewonnen, Täub<strong>ch</strong>en. Du tust mir Leid, und i<strong>ch</strong> will<br />

ni<strong>ch</strong>t, dass du stirbst. In meinem Palast sollst du S<strong>ch</strong>utz finden.«<br />

»O meine Mutter«, fragte Marina, »von wel<strong>ch</strong>er Gefahr spri<strong>ch</strong>st du? Wovor willst du mi<strong>ch</strong><br />

bewahren? I<strong>ch</strong> weiß von keiner Gefahr. Bin i<strong>ch</strong> hier ni<strong>ch</strong>t vollkommen si<strong>ch</strong>er in dieser gastfreundli<strong>ch</strong>en<br />

Stadt, wo du und dein Sohn und lauter Freunde wohnen?«<br />

Da erzählte ihr die Königin, dass Moctezuma und das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier bes<strong>ch</strong>lossen<br />

hätten, alle Christen umzubringen – die weißen wie die s<strong>ch</strong>warzen, Männer wie Frauen. Sämtli<strong>ch</strong>e<br />

Einzelheiten, die ihr bekannt waren, gab sie preis; ges<strong>ch</strong>ickt stellte Marina weitere Fragen und<br />

fand die Aussagen des Vaters und Oheims der Beraus<strong>ch</strong>enden Blume bestätigt.<br />

»O meine Mutter«, sagte Marina, »Bes<strong>ch</strong>ütze mi<strong>ch</strong> in deinem Tecpan. Nimm mi<strong>ch</strong> mit, gute<br />

Mutter. I<strong>ch</strong> bin bereit, dir zu folgen.« Sie küsste die Hände der Königin.<br />

»Deine Worte sind süßer Honig für mein Herz, mein Täub<strong>ch</strong>en. I<strong>ch</strong> habe eine Sänfte und<br />

Sesselträger für di<strong>ch</strong> mitgebra<strong>ch</strong>t«, sagte die Königin.<br />

»No<strong>ch</strong> trage i<strong>ch</strong> die Sklavenfeder im Haar und den Sklavenstrick um den Leib, liebe Mutter!<br />

I<strong>ch</strong> muss klug zu Werke gehen, damit die weißen Männer meine Flu<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t bemerken. I<strong>ch</strong> besitze<br />

viele Mäntel und kostbares Ges<strong>ch</strong>meide, Halsketten und Armringe. Die Mäntel kann i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

forts<strong>ch</strong>affen – aber meine Edelsteine und Edelfedern muss i<strong>ch</strong> holen.«<br />

Eilig verließ sie den Raum; Marina befahl ihrem Haushofmeister, die Tür von zwei Posten<br />

bewa<strong>ch</strong>en zu lassen. Dann eilte sie in den Tempelsaal, wo no<strong>ch</strong> immer der Kriegsrat tagte, und<br />

trat atemlos ein. Stimmengewirr s<strong>ch</strong>lug ihr entgegen. Alle redeten dur<strong>ch</strong>einander, die Meinungen<br />

waren geteilt. Mit feuerroten Gesi<strong>ch</strong>tern, fu<strong>ch</strong>telnden Händen und geballten Fäusten stritten sie<br />

über Strategien und Vorgehensweisen. Zwei Vors<strong>ch</strong>läge standen zur Debatte, die si<strong>ch</strong> gegenseitig<br />

auss<strong>ch</strong>lossen.<br />

Avila vertrat die Ansi<strong>ch</strong>t, man dürfe keine Zeit verlieren, sondern müsse sofort loss<strong>ch</strong>lagen<br />

und die s<strong>ch</strong>lafende Stadt überrumpeln. Den verbündeten Tlaxcalteken vor den Toren solle man<br />

den Boten mit den gefolterten Händen s<strong>ch</strong>icken, das würde sie s<strong>ch</strong>on aufwiegeln! Lugo dagegen,<br />

dem in dieser Na<strong>ch</strong>t der Humor ges<strong>ch</strong>wunden war, erklärte, es sei Wahnsinn, in dieser Mausefalle<br />

einem hundertfa<strong>ch</strong> überlegenen Feind die Stirn zu bieten; Cortés solle das Heer sofort na<strong>ch</strong><br />

Tlaxcala zurückführen. Beide Ansi<strong>ch</strong>ten waren ziemli<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong> verteilt, und da keine Mehrheit zustande<br />

kam, wollte der Streit kein Ende nehmen. Cortés, der geduldig zugehört und sie hat toben<br />

lassen, erzwang si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> Gehör und lehnte den Antrag Lugos ab.<br />

»Das ist – jetzt, in der Na<strong>ch</strong>t – unmögli<strong>ch</strong>«, sagte er mit fester Stimme, »und überdies mit<br />

der Ehre Spaniens ni<strong>ch</strong>t vereinbar.«<br />

Avila stimmte re<strong>ch</strong>thaberis<strong>ch</strong> zu. »Jawohl! S<strong>ch</strong>lagen wir los!«<br />

Cortés warf ihm einen strengen Blick zu. »Ni<strong>ch</strong>t so hastig, Hauptmann. Au<strong>ch</strong> Euer Vors<strong>ch</strong>lag<br />

ers<strong>ch</strong>eint mir unbeda<strong>ch</strong>t. Wir sind gut fünfhundert Mann; wie Lugo bemerkt hat, steht uns eine gewaltige<br />

Überma<strong>ch</strong>t gegenüber. Wir sind einges<strong>ch</strong>lossen, daran ändern au<strong>ch</strong> die draußen vor der<br />

Stadt lagernden siebeneinhalbtausend verbündeten naturales ni<strong>ch</strong>ts. Wir werden Vorbereitungen<br />

treffen müssen und wenn mögli<strong>ch</strong> die Dinge zu unseren Gunsten verändern.«<br />

»Viel Zeit bleibt uns ni<strong>ch</strong>t, Don Hernándo«, murrte Avila.<br />

»A<strong>ch</strong> Gott! Wie viel Zeit bleibt uns no<strong>ch</strong>? Zwei Stunden oder drei? Oder nur fünf Minuten?<br />

Was ist Zeit? Zeit ist wie der Wind, der übers Meer weht.«<br />

»Mitterna<strong>ch</strong>t ist lange vorüber! Was befehlt Ihr?«, fragte Sandoval sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>.<br />

Jetzt waren sie wieder ruhig. Sie wussten, dass die Debatte beendet war, nun würde der<br />

caudillo ents<strong>ch</strong>eiden.<br />

Cortés s<strong>ch</strong>aute sie der Reihe na<strong>ch</strong> an. »Die Na<strong>ch</strong>t hindert uns mehr, als dass sie uns nützt.<br />

Unsere Soldaten sollen ruhen, aber ihre Waffen bereithalten; die Pferde warten gesattelt. I<strong>ch</strong> verpfli<strong>ch</strong>te<br />

alle Mann zu äußerster Vorsi<strong>ch</strong>t und Wa<strong>ch</strong>samkeit! Die Wa<strong>ch</strong>en müssen ununterbro<strong>ch</strong>en<br />

in Tempelhöfen und auf den Zinnen patrouillieren, die Posten sind zu verdoppeln!« Er ma<strong>ch</strong>te eine<br />

Pause, überlegte. »Ja, und lasst die Kartaunen auf das Tempelda<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>affen, von wo aus sie die<br />

Straßen und Gassen bestrei<strong>ch</strong>en können.«<br />

Die Offiziere sprangen geräus<strong>ch</strong>voll auf, um die Befehle auszuführen.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 200<br />

»No<strong>ch</strong> einen Augenblick, Señores! Es gibt no<strong>ch</strong> eine gute Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t: I<strong>ch</strong> habe na<strong>ch</strong> Tlaxcala<br />

gesandt. Bald na<strong>ch</strong> Sonnenaufgang wird Prinz Goldmaske mit fünfundzwanzigtausend Kriegern<br />

hier ers<strong>ch</strong>einen.«<br />

»Sollte das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier jetzt zögern, ist es morgen zu spät für ihn«, sagte Alvarado<br />

grinsend.<br />

Und Ordás meinte, man solle den verkrüppelten Boten Pimoti übergeben, da ein Blutvergießen<br />

kaum zu umgehen sei.<br />

Cortés war ni<strong>ch</strong>t dieser Meinung. »Wenn i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> zugeben muss, dass die von Aguilár<br />

überbra<strong>ch</strong>te Warnung des S<strong>ch</strong>lagenden Falkens und die trunkene Ges<strong>ch</strong>wätzigkeit der Händler<br />

merkwürdig übereinstimmen, kann i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t völlig von der S<strong>ch</strong>uld Cholulas überzeugt sein.<br />

Darum ers<strong>ch</strong>eint es mir klüger, mit Vorsi<strong>ch</strong>t abzuwarten.«<br />

Die Rückkehr Marinas war während des Tumults ni<strong>ch</strong>t bea<strong>ch</strong>tet worden. Weil glei<strong>ch</strong> darauf<br />

Cortés redete, war sie abwartend an der Tür stehen geblieben. Jetzt kam sie näher und raunte ihm<br />

etwas zu. Cortés erstarrte. Die Veränderung war so auffallend, dass alle s<strong>ch</strong>wiegen und den Generalkapitän<br />

anblickten. Cortés nickte na<strong>ch</strong>denkli<strong>ch</strong> und bat Marina, den Versammelten die Aussage<br />

der Königinwitwe zu wiederholen.<br />

Nun gab es keine Zweifel mehr. Cortés gab Befehl, die Königin vorzuführen. Sie trat ohne<br />

Verlegenheit in den Beratungssaal und musterte neugierig die Versammelten. Do<strong>ch</strong> als Cortés sie<br />

dur<strong>ch</strong> Marina befragte, verweigerte sie die Auskunft. Luis Marín und der Arkebusier Pedro López<br />

packten sie grob, und Avila hielt ihr einen Dol<strong>ch</strong> vor die Augen. Erst als er sie an der Nase zu ritzen<br />

begann, gab sie alles zu. Cortés ließ die Gefangene abführen und ordnete an, dass sie gut<br />

bewa<strong>ch</strong>t und daran gehindert werde, in Cholula Ges<strong>ch</strong>rei zu ma<strong>ch</strong>en. Während man sie hinausführte,<br />

verflu<strong>ch</strong>te sie die Verräterin Marina.<br />

Marina lä<strong>ch</strong>elte abwesend. Sie war Christin und wollte den Flu<strong>ch</strong>, mit dem die Ra<strong>ch</strong>e des<br />

Kriegsgottes auf ihr Haupt herabbes<strong>ch</strong>woren wurde, ni<strong>ch</strong>t für<strong>ch</strong>ten. Und do<strong>ch</strong> war ihr ni<strong>ch</strong>t wohl.<br />

Nun fingen die erregten Debatten wieder von vorne an. Besonders der dicke Dominikaner<br />

und Lizentiat Juan Díaz ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> bemerkbar. Ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> Tlaxcala, wie es Francisco de Lugo<br />

vorges<strong>ch</strong>lagen hatte, nein, an die Küste na<strong>ch</strong> Veracruz müsse Cortés sein viel zu kleines Heer<br />

zurückführen. Selbst wenn es gelänge, alle Gefahren zu überstehen und na<strong>ch</strong> Mexico zu gelangen<br />

- nie mehr kämen sie wieder aus Mexico heraus! Mexico sei no<strong>ch</strong> viel größer als Cholula und<br />

obendrein von Wasser ums<strong>ch</strong>lossen. Vor Gott und dem Kaiser sei Cortés für fünfhundert Mens<strong>ch</strong>enleben<br />

verantwortli<strong>ch</strong> und habe ni<strong>ch</strong>t das Re<strong>ch</strong>t, sie seinem Ehrgeiz zu opfern.<br />

Cortés erinnerte si<strong>ch</strong> nur allzu gut an den Meutereiversu<strong>ch</strong> in den Dünen bei Veracruz. Au<strong>ch</strong><br />

damals hatte Juan Díaz die Wogen der Erregung ho<strong>ch</strong>gepeits<strong>ch</strong>t. S<strong>ch</strong>nell erhob er si<strong>ch</strong> zu einer<br />

kurzen Entgegnung.<br />

»Von Heimkehr zu spre<strong>ch</strong>en, meine Herren, hatte no<strong>ch</strong> Sinn, bevor wir die S<strong>ch</strong>iffe verbrannten.<br />

Seitdem ist unser Heer wie eine Harpune mit Widerhaken: man kann sie tiefer und tiefer ins<br />

Fleis<strong>ch</strong> stoßen, zurückziehen aber kann man sie ni<strong>ch</strong>t! Auf mein Gewissen: Wenn wir hier wei<strong>ch</strong>en,<br />

verliert Tlaxcala den Glauben an uns. Au<strong>ch</strong> die Totonaken werden über uns herfallen, und<br />

keiner wird an die Küste gelangen. Die Besatzung von Veracruz wird unser S<strong>ch</strong>icksal teilen! Kann<br />

das einer von eu<strong>ch</strong> widerlegen?«<br />

Sie s<strong>ch</strong>wiegen; Cortés hatte au<strong>ch</strong> keine Widerrede erwartet. Mit einigen aufmunternden Worten<br />

s<strong>ch</strong>ickte er sie fort.<br />

*<br />

Es blieb die ganze Na<strong>ch</strong>t ruhig. Bald na<strong>ch</strong> Sonnenaufgang s<strong>ch</strong>ickte Cortés die a<strong>ch</strong>t Tlaxcalteken<br />

mit dem misshandelten Boten an Olíd ab. Es war der 14. Oktober 1519. Cortés wartete bis gegen<br />

sieben Uhr morgens. Die Späher auf dem Turm ihres Tempelquartiers s<strong>ch</strong>auten vergebli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong><br />

Goldmaske und dem zu erwartenden Tlaxcaltekenheer aus. Aber au<strong>ch</strong> die mexicanis<strong>ch</strong>en Krieger,<br />

von denen die Königinwitwe gespro<strong>ch</strong>en hatte, tau<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t auf. Die Stadt s<strong>ch</strong>ien ruhig zu sein.<br />

Die Spannung wurde unerträgli<strong>ch</strong>. Cortés bes<strong>ch</strong>loss, ni<strong>ch</strong>t länger auf Goldmaske zu warten.<br />

Er ließ einen Cholultheken ergreifen, der zufällig am Tempeltor vorbeiging, bes<strong>ch</strong>enkte ihn mit<br />

Glasperlen und sandte ihn mit einem Auftrag zum Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtier. Das unhöfli<strong>ch</strong>e Beneh-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 201<br />

men der beiden Priesterkönige kränke ihn, ließ er ausri<strong>ch</strong>ten. S<strong>ch</strong>on gestern habe er um ihren Besu<strong>ch</strong><br />

gebeten; und da sie ni<strong>ch</strong>tige Ents<strong>ch</strong>uldigungen vorgebra<strong>ch</strong>t hätten, ließ er ihnen hiermit sagen,<br />

dass er heute no<strong>ch</strong> die heilige Stadt verlassen wolle, um Cholula ni<strong>ch</strong>t länger zur Last zu fallen.<br />

Aber dafür müsse man ihm die erforderli<strong>ch</strong>e Anzahl von Lastträgern für den Transport der<br />

großen Feuerwaffen und des Gepäcks zur Verfügung stellen. Die Könige mö<strong>ch</strong>ten es wenigstens<br />

der Mühe wert finden, Abs<strong>ch</strong>ied von ihm zu nehmen. Der große Moctezuma, der ihn erwarte, wäre<br />

andernfalls tief gekränkt!<br />

»O Grüner Stein«, sagte der Cholulteke mit verlegenem Lä<strong>ch</strong>eln, »i<strong>ch</strong> weiß, dass ni<strong>ch</strong>t die<br />

Fur<strong>ch</strong>t sie abhält, dir Blumen zum Abs<strong>ch</strong>ied zu bringen. Zweitausend tlamamas und Krieger stehen<br />

s<strong>ch</strong>nell bereit, di<strong>ch</strong> zu begleiten, mit dir ins Land der Seen zu ziehen. Wenn i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> zu den beiden<br />

Königen begebe und sie herbitte, werden sie di<strong>ch</strong> gewiss besu<strong>ch</strong>en kommen.«<br />

Der Bote entfernte si<strong>ch</strong>. Kaum eine Stunde später nahten die beiden Priesterkönige mit dem<br />

Hohen Rat, den Würdenträgern, Hofbeamten und hohen Adligen Cholulas. Au<strong>ch</strong> die drei kürzli<strong>ch</strong><br />

vers<strong>ch</strong>wundenen mexicanis<strong>ch</strong>en Boten (die S<strong>ch</strong>nellläufer) waren darunter. Den prä<strong>ch</strong>tig Gekleideten<br />

folgten fünfhundert Träger und fünfzehnhundert <strong>ch</strong>olultekis<strong>ch</strong>e Krieger. Das Herrs<strong>ch</strong>ende<br />

Raubtier fühlte si<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>er. Der Tempelhüter hatte gesagt, zehntausend Adler und Jaguare Mexicos<br />

lauerten in den Wäldern vor der Stadt! Was vermo<strong>ch</strong>ten die wenigen Weißen dieser Streitma<strong>ch</strong>t<br />

entgegenzusetzen?<br />

Weit offen stand das Skorpionentor. Cortés, seine Hauptleute und Reiter erwarteten den Zug<br />

ho<strong>ch</strong> zu Pferd vor dem Hauptgebäude. Unter dem S<strong>ch</strong>atten spendenden Yuccabaum hindur<strong>ch</strong> zog<br />

die Prozession in den großen äußeren Tempelhof ein. Kaum befand si<strong>ch</strong> der letzte Mann innerhalb<br />

der Mauern, ließ Cortés das Haupttor und die beiden seitli<strong>ch</strong>en Nebenausgänge s<strong>ch</strong>ließen und<br />

dur<strong>ch</strong> dreißig Hellebardiere besetzen. Auf den Umfassungsmauern tau<strong>ch</strong>ten gerüstete und bewaffnete<br />

Soldaten auf, ri<strong>ch</strong>teten die Arkebusen und Armbrüste auf die Cholulteken, und die Artilleristen<br />

Alonso de Mesa, Bartolomé de Usagre, Juan Catalán und der Levantefahrer Arbenga standen<br />

mit angefa<strong>ch</strong>ten Lunten neben den geladenen Ges<strong>ch</strong>ützen.<br />

Ers<strong>ch</strong>rocken bemerkten die Indianer, dass ihnen eine Falle gestellt worden war. Die Krieger<br />

ergriffen ihre Waffen: Säges<strong>ch</strong>werter, Lanzen und Steins<strong>ch</strong>leudern. Das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier<br />

hob Ruhe heis<strong>ch</strong>end einen Arm. Cortés kam ihm zuvor und erklärte – Satz für Satz von Marina<br />

übersetzt – mit lauter und fester Stimme:<br />

»O weiser König, du Tapferer! Ihr seid viele! Wir sind wenige! Und do<strong>ch</strong> müsst ihr erkennen,<br />

dass wir eu<strong>ch</strong> in der Hand haben. Do<strong>ch</strong> für<strong>ch</strong>tet ni<strong>ch</strong>ts; eures Lebens seid ihr si<strong>ch</strong>er! I<strong>ch</strong> ersu<strong>ch</strong>e<br />

di<strong>ch</strong>, o großer Herrs<strong>ch</strong>er, zusammen mit dem Federherr, dem Rat der Alten und den drei Gesandten<br />

des Zornigen Herrn hier in das Adlerhaus des Tempels zu treten. Dort will i<strong>ch</strong> eu<strong>ch</strong> willkommen<br />

heißen, und gemeinsam wollen wir unseren Weg zum großen S<strong>ch</strong>ilfsee beraten.«<br />

Er wollte ihr Leben s<strong>ch</strong>onen, damit es au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Kampf no<strong>ch</strong> vertragsfähige Leute in<br />

Cholula gäbe, mit denen Frieden, viellei<strong>ch</strong>t gar ein Bündnis ges<strong>ch</strong>lossen werden könnte. Im Saal<br />

des Adlerauges wollte der Federherr aufgeregt wissen, wo seine Mutter sei. Sie sei spurlos vers<strong>ch</strong>wunden,<br />

und mit ihr die Sesselträger, die mit ihr den Tecpan verlassen hatten. Er wisse, dass<br />

sie hier verborgen gehalten werde. Er bes<strong>ch</strong>wor Marina, ihn zu seiner Mutter zu führen.<br />

Marina war uns<strong>ch</strong>lüssig, was zu antworten sei, und fragte Cortés.<br />

»Jetzt haben wir keine Zeit für das Muttersöhn<strong>ch</strong>en«, rief er unwillig und wandte si<strong>ch</strong> an die<br />

drei mexicanis<strong>ch</strong>en Boten.<br />

»Euren großen Moctezuma habe i<strong>ch</strong> bisher für meinen Freund gehalten. Den Worten, die er<br />

mir sagen ließ, habe i<strong>ch</strong> geglaubt. Denn im Lande des Ostens, von wo i<strong>ch</strong> komme, lügen die Könige<br />

ni<strong>ch</strong>t – wie konnte i<strong>ch</strong> annehmen, dass der größte Herrs<strong>ch</strong>er des Westens ein Lügner sei?<br />

Do<strong>ch</strong> seit gestern weiß i<strong>ch</strong> es! Euer Verni<strong>ch</strong>tungsplan wurde entdeckt. Ni<strong>ch</strong>ts entgeht meinen Augen<br />

und Ohren. Moctezuma war es, der mir zum Weg über Cholula riet, sein Wuns<strong>ch</strong> war und ist,<br />

dass Cholula unser Grab werde!«<br />

Die Mexica und Cholulteken wussten, dass die Anklage ihnen allen galt. Sie saßen wie versteinert;<br />

keiner, au<strong>ch</strong> das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier ni<strong>ch</strong>t, versu<strong>ch</strong>te eine Re<strong>ch</strong>tfertigung. Wozu au<strong>ch</strong>,<br />

dem weißen Mann war alles bekannt – mögli<strong>ch</strong>erweise hat es ihm seine Zauberdose verraten! Nur<br />

der Spre<strong>ch</strong>er der drei Boten leugnete, vom Hinterhalt zu wissen; er wies die Annahme empört zurück,<br />

dass Moctezuma die Hand im Spiel habe. Sei do<strong>ch</strong> Cholula von Moctezuma mehrmals aufgefordert<br />

worden, den Grünen Stein und sein Heer aufzunehmen, als wäre er ein König von


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 202<br />

Anahuac, und Moctezuma habe si<strong>ch</strong>eres Geleit bis vor die Tore Teno<strong>ch</strong>titláns verlangt.<br />

»So also ist das«, heu<strong>ch</strong>elte Cortés, »dann hat der Rat Cholulas Böses gegen uns geplant,<br />

gegen den ausdrückli<strong>ch</strong>en Wuns<strong>ch</strong> Moctezumas! Wollt ihr uns die Freunds<strong>ch</strong>aft vergelten, indem<br />

ihr uns umbringt? S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> über eu<strong>ch</strong>! S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> auf Cholula! Die Kunde der Untreue Cholulas<br />

wird von Ort zu Ort, von Land zu Land wandern, und kein ehrli<strong>ch</strong>es Land wird eu<strong>ch</strong> je wieder trauen!«<br />

Zwis<strong>ch</strong>en den drei Mexica und den Cholulteken entbrannte ein Streit. Sie warfen si<strong>ch</strong> gegenseitig<br />

vor, Anstifter des geplanten Hinterhalts zu sein. Empört riss si<strong>ch</strong> das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier<br />

die goldene Trommel vom Hals, das Beste<strong>ch</strong>ungsges<strong>ch</strong>enk Moctezumas, und s<strong>ch</strong>leuderte sie den<br />

Mexica vor die Füße. Streng unterbra<strong>ch</strong> Cortés ihr giftiges Gezänk.<br />

»Womit habe i<strong>ch</strong> euren Verrat verdient?«, herrs<strong>ch</strong>te er das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier und den<br />

Federherrn an. »Keinem eurer Untertanen habe i<strong>ch</strong> ein Leid getan, wie ein Freund habe i<strong>ch</strong> eu<strong>ch</strong><br />

geliebt. Meine tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en und totonakis<strong>ch</strong>en Bundesgenossen ließ i<strong>ch</strong>, weil ihr es wüns<strong>ch</strong>tet,<br />

außerhalb der Tore. I<strong>ch</strong> war bereit, früher als beabsi<strong>ch</strong>tigt weiterzuziehen, um eu<strong>ch</strong> von der Last<br />

der Gastfreunds<strong>ch</strong>aft zu befreien. Do<strong>ch</strong> eure Gastfreunds<strong>ch</strong>aft war nur Hinterlist, euer Lehenseid<br />

Betrug, eure Freunds<strong>ch</strong>aftsversi<strong>ch</strong>erungen Lüge! In Si<strong>ch</strong>erheit wolltet ihr uns wiegen, während ihr<br />

Steine auf die Dä<strong>ch</strong>er eurer Häuser s<strong>ch</strong>leppt, Krieger in der Stadt versteckt, Gassen mit Balken<br />

versperrt, Straßen mit Gräben und eingerammten Pfählen verseht und Häuser mit Stöcken, Lederriemen<br />

und Seilen anfüllt, um uns zu fesseln und dann auf euren Altären das Herz aus der Brust<br />

zu s<strong>ch</strong>neiden!«<br />

Den Plan jetzt no<strong>ch</strong> abzustreiten, wäre sinnlos – das sahen die Cholulteken ein. Sie befanden<br />

si<strong>ch</strong> in der S<strong>ch</strong>linge, die sie selbst gelegt hatten, und ma<strong>ch</strong>ten au<strong>ch</strong> keinen Rettungsversu<strong>ch</strong>.<br />

Do<strong>ch</strong> es empörte sie, dass Moctezuma, der Hauptanstifter, s<strong>ch</strong>uldlos sein sollte. Wütend trat das<br />

Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier mit zwei seiner Ratgeber vor und klagte den Zornigen Herrn an:<br />

»Moctezuma war es, der den Hinterhalt befohlen hat. Dur<strong>ch</strong> einen Gesandten hat er die Vorbereitungen<br />

treffen lassen.«<br />

»Und warum habt ihr eu<strong>ch</strong> zu dieser S<strong>ch</strong>andtat hingegeben?«, fragte Cortés.<br />

»Wir sind in seiner Hand. Cholula ist Moctezumas Vasall, und wir zahlen ihm Tribut! In vielen<br />

Kriegen haben wir uns gegen die Vorherrs<strong>ch</strong>aft Mexicos gewehrt, stets unterlagen wir! Wir wollen<br />

Frieden, verstehst du? Frieden! Ihr werdet viellei<strong>ch</strong>t wieder davonziehen, aber Mexico bleibt!«<br />

Der caudillo wusste, dass das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier die Wahrheit spra<strong>ch</strong>. Cortés wollte<br />

na<strong>ch</strong> Mexico, na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán, in die Stadt der Wunder, der S<strong>ch</strong>ätze, des Goldes! Der Weg dorthin<br />

war von Gefahren flankiert, das hat Cholula wieder gelehrt. Teno<strong>ch</strong>titlán! Einmal am Ziel galt<br />

es, si<strong>ch</strong>er und unbehelligt mit der Beute wieder na<strong>ch</strong> Veracruz, ja na<strong>ch</strong> Spanien zu gelangen. Er<br />

wollte si<strong>ch</strong> den Dank von Kaiser Karl V. selber abholen – der Dank, der au<strong>ch</strong> Ruhm und Titel,<br />

Würden und Rei<strong>ch</strong>tum hieß. Allein dur<strong>ch</strong> Wagnisse kommt man in der Welt voran. Jetzt musste er<br />

die Würfel werfen!<br />

»Ihr hört, was diese Verleumder behaupten«, rief Cortés den drei Boten zu. »Merkt eu<strong>ch</strong> ihre<br />

Worte und wiederholt sie, wenn ihr na<strong>ch</strong> Mexico zurückgekehrt seid, wiederholt sie vor Moctezuma,<br />

damit er wisse, dass die von mir verhängte Strafe streng aber gere<strong>ch</strong>t ist! Jedes Mitgefühl<br />

haben diese Elenden vers<strong>ch</strong>erzt, denn ni<strong>ch</strong>t nur an mir und meinem Heer sind sie Verbre<strong>ch</strong>er,<br />

no<strong>ch</strong> mehr Verbre<strong>ch</strong>er sind sie am Namen des großen Moctezuma, indem sie den edlen Freund<br />

der Christen so s<strong>ch</strong>amlos zu verleumden wagen, ihn dur<strong>ch</strong> fre<strong>ch</strong>e Bezi<strong>ch</strong>tigungen zum Mits<strong>ch</strong>uldigen,<br />

zum Mitwisser zu ma<strong>ch</strong>en versu<strong>ch</strong>en. Könnte i<strong>ch</strong> den Frevel gegen mi<strong>ch</strong> und die Unsrigen<br />

au<strong>ch</strong> vergeben – das Unre<strong>ch</strong>t gegen den König von Mexico kann und darf i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verzeihen! Wer<br />

die Majestät verleumdet, muss na<strong>ch</strong> unserem kastilis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>t hart bestraft werden!«<br />

Cortés ma<strong>ch</strong>te eine bedeutsame Pause, wartete, bis Marina übersetzt hatte und ihn wieder<br />

erwartungsvoll ansah. Dann sagte er – mit einer graziösen Bewegung seiner gepflegten, ringbedeckten<br />

Hand – den unseligen Satz:<br />

»Mit dem Tode aller S<strong>ch</strong>uldigen, und da die ganze Stadt s<strong>ch</strong>uldig ist, mit dem Tod der<br />

Stadt!«<br />

Er winkte dem Soldaten an der Tür, und sein Zei<strong>ch</strong>en wurde na<strong>ch</strong> draußen weitergegeben.<br />

Na<strong>ch</strong> einigen Sekunden Stille kra<strong>ch</strong>ten draußen auf dem großen Tempelhof drei Musketens<strong>ch</strong>üsse<br />

hart und trocken in die Luft. Es war das mit Olíd verabredete Zei<strong>ch</strong>en, der Befehl, die beutegierigen<br />

Totonaken und ra<strong>ch</strong>edurstigen Tlaxcalteken auf die Stadt loszulassen. Bewaffnete Kastilier


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 203<br />

stürmten in den Saal des Adlerhauses. Cortés befahl ihnen, die beiden Könige, die Räte und sämtli<strong>ch</strong>e<br />

versammelten Würdenträger zu fesseln und zu bewa<strong>ch</strong>en, dass keiner entkomme. Dann eilte<br />

er hinaus.<br />

Vor der Tür wartete sein Stallmeister Martín de Gamba mit Romo und hielt Cortés den Steigbügel.<br />

Der Generalkapitän s<strong>ch</strong>wang si<strong>ch</strong> in den Sattel.<br />

*<br />

Das Massaker von Cholula hatte begonnen. Von drei Seiten entluden die Kartaunen blitzend ihre<br />

Feuers<strong>ch</strong>lünde auf die im Tempelhof einges<strong>ch</strong>lossenen Cholulteken, s<strong>ch</strong>leuderten kürbisgroße<br />

Steinkugeln, zerfetzten Mens<strong>ch</strong>enfleis<strong>ch</strong>, rissen Lücken in die zusammengepfer<strong>ch</strong>te Mens<strong>ch</strong>enherde<br />

– glei<strong>ch</strong>mäßig, wie eine Sense im Kornfeld. Von drei Seiten her flammten die<br />

Musketenläufe, sausten die Bolzen der stählernen Armbrüste. Feuer und Eisen versperrten den<br />

Ausweg zum westli<strong>ch</strong>en und zum östli<strong>ch</strong>en Tor. Nur von Süden, vom großen Skorpionentor her<br />

wurde ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>ossen, dort s<strong>ch</strong>ien der Weg frei. Angst und S<strong>ch</strong>recken raubte den Cholulteken<br />

den Mut zum Widerstand. Ihre Könige und Anführer befanden si<strong>ch</strong> im Adlerhaus, wehrlos waren<br />

die Lastträger und Krieger – was nützten ihnen die Speerbündel und Bambuss<strong>ch</strong>ilde? Aussi<strong>ch</strong>tslos<br />

s<strong>ch</strong>ien der Kampf. Die meisten warfen ihre Waffen fort und flohen dem südli<strong>ch</strong>en Ausgang zu.<br />

Do<strong>ch</strong> am Yuccabaum beim Ausgang des Skorpionentores wartete ein Pulk von dreißig Pikenieren<br />

mit gefällten Lanzen auf die Herandrängenden. Die aus den Tempelhof fliehende Menge<br />

stockte und erkannte entsetzt die Gefahr, do<strong>ch</strong> zurückfluten konnte sie ni<strong>ch</strong>t, denn von hinten<br />

drängten die di<strong>ch</strong>t aufeinander flü<strong>ch</strong>tenden Mens<strong>ch</strong>en na<strong>ch</strong> und s<strong>ch</strong>oben die vorderen Reihen den<br />

starrenden Lanzen entgegen.<br />

Die Ges<strong>ch</strong>ütze und Musketen verstummten und überließen es dem S<strong>ch</strong>wert, die blutige Arbeit<br />

zu vollenden. Von allen Seiten stürzte si<strong>ch</strong> das kastilis<strong>ch</strong>e Fußvolk mit gezogenen Degen auf<br />

die Cholulteken und wurde ni<strong>ch</strong>t müde, die Klingen rot zu färben.<br />

»Santiago! Santiago!« Der heilige Jakob hätte taub sein müssen, hätte er den hundertfa<strong>ch</strong>en<br />

Ruf um Beistand überhört...<br />

»Mit Gott und Santiago zum<br />

Sieg!«<br />

Ein Auss<strong>ch</strong>nitt aus einer Leinwandrolle,<br />

die von den Tlascalteken<br />

bemalt worden ist und Szenen aus<br />

der spanis<strong>ch</strong>en Eroberung darstellt.<br />

Das Bild zeigt Tlascalteken<br />

bei dem Gemetzel in Cholula, während<br />

Cortez und Dofia Marina zusehen.<br />

Es wurde für Karl V. als<br />

Beweis für die treuen Dienste der<br />

tlascaltekis<strong>ch</strong>en Verbündeten gemalt.<br />

Lei<strong>ch</strong>enhügel türmten si<strong>ch</strong> auf,<br />

bis an die Knö<strong>ch</strong>el wateten die<br />

Christen - ja, Christen! – in<br />

Blut. Die Feldobristen und Reiter<br />

sprengten in den Mens<strong>ch</strong>enknäuel,<br />

hieben und sta<strong>ch</strong>en<br />

um si<strong>ch</strong>, wo er am di<strong>ch</strong>testen<br />

war. María de Estrada<br />

zei<strong>ch</strong>nete si<strong>ch</strong> aus und fügte ihrem Ruhm neuen hinzu, indem sie treffsi<strong>ch</strong>er na<strong>ch</strong> Indianeraugen<br />

zielte. Alonso de Avila brannte darauf, seine mit Olíd und Juan dem Aufgeblasenen ges<strong>ch</strong>lossene<br />

Wette zu gewinnen: Kerzengerade im Sattel sitzend, ließ er unablässig sein kurzes S<strong>ch</strong>wert auf<br />

kupferbraune Nacken niedersausen; mit jedem Hieb sprang ein Kopf von einem Hals und kullerte<br />

wie eine reife Fru<strong>ch</strong>t zur blutgetränkten Erde, während der kopflose Leib rot aufspritzend zusam-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 204<br />

mensank. Die Eleganz seiner Hiebe weckte den Neid und den Na<strong>ch</strong>ahmungstrieb des ehemaligen<br />

Matrosen und jetzigen Stockmeisters und Henkers Pero Osorio. Die abges<strong>ch</strong>lagenen Köpfe zu<br />

zählen, hatte Avila den Arkebusier Pedro López beauftragt; dieser musste anerkennen, dass Avila<br />

im Henker einen ni<strong>ch</strong>t zu unters<strong>ch</strong>ätzenden Rivalen besaß. Und López stellte überdies fest, dass<br />

Juan der Aufgeblasene mit seinem riesigen Zwiehänder die Cholulteken nur bis zum S<strong>ch</strong>lüsselbein,<br />

niemals aber bis zum Nabel zu spalten vermo<strong>ch</strong>te.<br />

Der Narr Cervantes war für das Kriegshandwerk untaugli<strong>ch</strong>; zu s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> war er mit seiner Hühnerbrust.<br />

Solange gekämpft wurde, blieb er ein müßiger Zus<strong>ch</strong>auer. Später wird er zur Plünderung<br />

bereit sein, do<strong>ch</strong> jetzt konnte er von si<strong>ch</strong>erem Standort auf der Mauer mit Genugtuung beoba<strong>ch</strong>ten,<br />

dass seine Voraussage eintraf: die fünf <strong>ch</strong>olultekis<strong>ch</strong>en Jungfrauen, um die gewettet worden<br />

war, mussten – falls es no<strong>ch</strong> eine Gere<strong>ch</strong>tigkeit auf der Welt gab - keinem der Hauptleute, au<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t dem Henker, sondern einem Bluthund zufallen. Denn man hatte Moro und Becerrico auf die<br />

naturales gehetzt, und besonders Becerrico, der junge Rüde, tat si<strong>ch</strong> hervor. Er stellte alle Kämpfer<br />

in den S<strong>ch</strong>atten und zerriss und zerfetzte einige Dutzend Cholulteken.<br />

»Totentanz, Totentanz«, krähte der bucklige Narr in das ermattende Ges<strong>ch</strong>rei der sterbenden<br />

Cholulteken und s<strong>ch</strong>lug mit seiner dürren Faust immer und immer wieder auf das Gesims.<br />

Aus den Toren des Tempelhofes fluteten die Christen in die Stadt. Stiefel kra<strong>ch</strong>ten, Waffen<br />

klirrten, Harnis<strong>ch</strong> und Eisenplatten klapperten. An die Pferdehufe hatte man kupferne Glöck<strong>ch</strong>en<br />

gebunden, damit die Fußtruppen den Weg fänden, falls si<strong>ch</strong> im Gassengewirr ein Reiter in Gefahr<br />

befand. Polternd rollte die Artillerie hinaus. S<strong>ch</strong>were Tore galt es aufzusprengen, um den Plündernden<br />

die Häuser und Paläste zu öffnen. Neues Klagen und Ges<strong>ch</strong>rei stiegen allenthalben zum<br />

Himmel empor; hilflos baten Frauen, Greise, Männer und Kinder um Gnade. Au<strong>ch</strong> die Tlaxcalteken<br />

hatten ihr Ra<strong>ch</strong>ewerk begonnen. Cholula wurde gemordet!<br />

Als Cortés zum Skorpionentor hinausgeritten war, traf er in einer engen Gasse auf den Vater<br />

und den Oheim der Beraus<strong>ch</strong>enden Blume. Voller Besorgnis um das Leben des Mäd<strong>ch</strong>ens waren<br />

die beiden Alten glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> den ersten Musketens<strong>ch</strong>üssen in die Nähe des Tempels geeilt, hatten<br />

aber keinen Einlass gefunden. Jetzt fluteten Landskne<strong>ch</strong>te im Blutraus<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die Stadt. Cortés<br />

rief dem Reiter Domínguez zu, der vor ihm her trabte:<br />

»Rettet die beiden. Wir s<strong>ch</strong>ulden ihnen Dank!«<br />

Do<strong>ch</strong> es war s<strong>ch</strong>on zu spät, Domínguez konnte dem Befehl ni<strong>ch</strong>t mehr na<strong>ch</strong>kommen. Der<br />

Spieler Lope Márquez dur<strong>ch</strong>bohrte die zwei Händler hinterrücks. S<strong>ch</strong>on kniete er über ihnen und<br />

steckte die beiden Grünsteine in die Wamstas<strong>ch</strong>e, mit denen in der vergangenen Na<strong>ch</strong>t der Verrat<br />

an der Heimat bezahlt worden war. Cortés wandte si<strong>ch</strong> ab und ritt weiter.<br />

*<br />

Wie Cortés angeordnet hatte, sorgte Olíd dafür, dass die Tlaxcalteken und Totonaken si<strong>ch</strong> Kränze<br />

aus Gras um die Köpfe gebunden hatten. Er hatte außerdem dürres Holz und Reisig sammeln<br />

lassen. Die indianis<strong>ch</strong>e Streitma<strong>ch</strong>t war in vier Kampfgruppen mit je tausendfünfhundert Kriegern<br />

aufgeteilt worden, die von der Blaue Feder, Pimoti, König Listiger Marder und dem<br />

Totonakenhäuptling Cuhextecatl angeführt wurden.<br />

Sie warteten vor der Stadt auf das Zei<strong>ch</strong>en. Als die drei Böllers<strong>ch</strong>üsse verhallt waren, führte<br />

er das Indianerheer dur<strong>ch</strong> das westli<strong>ch</strong>e Stadttor; jeder Krieger s<strong>ch</strong>leppte ein großes Bündel Holz<br />

oder Reisig. In der Stadt teilte das Heer si<strong>ch</strong> in die vier Verbände, s<strong>ch</strong>wärmte aus und umstellte<br />

die Große Pyramide, den Zuflu<strong>ch</strong>tsort der Verfolgten. Rei<strong>ch</strong>e und Arme, Vornehme und Adelige,<br />

Kaufleute, Handwerker und Arbeiter – soweit sie dem Gemetzel in der Stadt entrinnen konnten –<br />

hatten si<strong>ch</strong> auf den Künstli<strong>ch</strong>en Berg geflü<strong>ch</strong>tet. Denn hier glaubten die Verängstigten si<strong>ch</strong>er und<br />

geborgen zu sein, von hier musste die Weissagung si<strong>ch</strong> erfüllen, hier musste si<strong>ch</strong> die Sintflut über<br />

die Feinde ergießen...<br />

Olíd hatte das Holz herbeis<strong>ch</strong>affen lassen, um die in den Kellerräumen der Pyramide versteckten<br />

mexicanis<strong>ch</strong>en Krieger auszuräu<strong>ch</strong>ern. Ein s<strong>ch</strong>önes Feuer sollte es werden; kein Mexica<br />

dürfe entkommen, hatte er ges<strong>ch</strong>woren. Merkwürdig und unerklärli<strong>ch</strong> aber war, dass sie ni<strong>ch</strong>t auf<br />

Widerstand trafen, dass kein Mexica Anstalten ma<strong>ch</strong>te, das Aufs<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten des Holzes und die<br />

Brandlegung zu verhindern.<br />

Die Blaue Feder ma<strong>ch</strong>te Olíd darauf aufmerksam. Das Gemetzel in der Stadt, das Ges<strong>ch</strong>rei


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 205<br />

der Flü<strong>ch</strong>tenden und Verfolgenden kann ihnen ni<strong>ch</strong>t entgangen sein; ganz si<strong>ch</strong>er waren sie stets<br />

über die Vorgänge in Cholula im Bild. Warum griffen sie ni<strong>ch</strong>t in den Kampf ein? Kein<br />

mexicanis<strong>ch</strong>er Krieger würde si<strong>ch</strong> so feige verhalten. Er halte es für ausges<strong>ch</strong>lossen, dass si<strong>ch</strong> ein<br />

Heer im Innern der Pyramide aufhalte. Olíd war anderer Ansi<strong>ch</strong>t. Da stieg die Blaue Feder den<br />

Stufengang hinab. Er ging allein, weil er überzeugt war, niemand anzutreffen. S<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> kurzer<br />

Zeit kam er zurück und teilte Olíd mit, dass er keinen Mens<strong>ch</strong>en im Innern der Pyramide angetroffen<br />

habe.<br />

»Ihr habt do<strong>ch</strong> den Brief Don Hernándos gelesen – wie ist das zu erklären?«, fragte Olíd<br />

Aguilár. »Er s<strong>ch</strong>reibt mir von fünftausend Mexica. Er ist do<strong>ch</strong> sonst ein heller Kopf, wie konnte er<br />

si<strong>ch</strong> so in die Irre führen lassen?«<br />

»Wer wie i<strong>ch</strong> lange unter Indianern gelebt hat, kann das ni<strong>ch</strong>t wunderli<strong>ch</strong> finden, Señor! An<br />

der Wahrheit von Gerü<strong>ch</strong>ten pflegen Indianer nie zu zweifeln. Und oft erträumt si<strong>ch</strong> die Angst einen<br />

Grund. Falls die Würdenträger Cholulas die Mögli<strong>ch</strong>keit berieten, fünftausend Mexica in der<br />

Pyramide zu verbergen, so kann das genügt haben, dass ein Laus<strong>ch</strong>er aus der Absi<strong>ch</strong>t eine Tatsa<strong>ch</strong>e<br />

ma<strong>ch</strong>te. A<strong>ch</strong>, Señor, wie können wir irrenden Mens<strong>ch</strong>en andere irrende Mens<strong>ch</strong>en ri<strong>ch</strong>ten,<br />

hinri<strong>ch</strong>ten und eine ganze Stadt zum Ri<strong>ch</strong>tplatz ma<strong>ch</strong>en? Seid barmherzig, Señor, verbrennt ni<strong>ch</strong>t<br />

die Flü<strong>ch</strong>tlinge dort oben...« Der Bruder hatte seit seiner Errettung dur<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>lagenden Falken<br />

eine Verwandlung dur<strong>ch</strong>gema<strong>ch</strong>t. Er war dur<strong>ch</strong> seinen Gang zum Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtier dem<br />

Tode geweiht. Dass er zurückkehren durfte, ers<strong>ch</strong>ien ihm als Wunder. Gott musste no<strong>ch</strong> etwas mit<br />

ihm vorhaben; anders konnte er si<strong>ch</strong> seine Errettung ni<strong>ch</strong>t erklären. War er vorher ein fanatis<strong>ch</strong>er<br />

Glaubenseiferer, hatte ihn das Erlebte zu einem toleranten und verständigen Gläubigen gema<strong>ch</strong>t.<br />

Olíd zuckte nur mit der S<strong>ch</strong>ulter und wandte si<strong>ch</strong> ab. Pfaffen müssen predigen – Soldaten<br />

kämpfen! So ist das nun einmal. Mit der Hölle mo<strong>ch</strong>te man andere s<strong>ch</strong>recken. Er ließ die Pyramide<br />

von drei Seiten in Brand stecken. Nur an der Südseite, wo die steile Doppeltreppe zum<br />

Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz emporführte, züngelte keine Flamme auf. Wollten die auf den oberen Plattformen<br />

zusammengepfer<strong>ch</strong>ten Flü<strong>ch</strong>tlinge si<strong>ch</strong> retten, so mussten sie hier herabkommen.<br />

Oben auf dem Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz, auf dem vergoldeten Bronzeda<strong>ch</strong> wartete der Oberpriester;<br />

er war mit einer goldenen Mitra gekrönt und von zwanzig anderen s<strong>ch</strong>warzbemalten, filzhaarigen<br />

Priestern und Tempelsängern umgeben. Sie beugten si<strong>ch</strong> über die Brüstung des Turmes,<br />

riefen den Hunderten, die auf den obersten drei Plattformen jammernd und händeringend das<br />

Feuer rings auflodern sahen, Trostworte zu: Cholula könne ni<strong>ch</strong>t untergehen, selbst wenn die<br />

Feinde in die Paläste der heiligen Stadt eindringen. Die Wasserflut werde sie daran hindern. Niemand<br />

müsse verzweifeln! Das Wunder werde im letzten Augenblick ges<strong>ch</strong>ehen; die Sintflut werde<br />

das Feuer lös<strong>ch</strong>en und die Feinde fortspülen.<br />

Na<strong>ch</strong> alter Prophezeiung mussten die Himmelsgötter das Wunder gewähren, wenn die Kalkbekleidung<br />

des Turmes abges<strong>ch</strong>abt wurde. In fliegender Eile rieben und s<strong>ch</strong>abten die Priester am<br />

Putzmörtel. Vergebens. Keine Wasserquelle begann zu sprudeln, keine Flut ergoss si<strong>ch</strong> auf die<br />

Eroberer. Nur die Flammen stiegen höher und höher. Außen leckten sie s<strong>ch</strong>on an die Terrassen.<br />

Die Tlatepoca warfen die Reisigbündel nun au<strong>ch</strong> ins Innere der Pyramide und bald züngelten innen<br />

und außen hohe Flammen. Aus den vielen fensterähnli<strong>ch</strong>en Öffnungen zwis<strong>ch</strong>en den neun<br />

Plattformen, quoll beißender Rau<strong>ch</strong>; s<strong>ch</strong>on wurden die Steinfliesen heiß.<br />

Die Tlatepoca riefen den oben si<strong>ch</strong> Drängenden zu, sie sollten si<strong>ch</strong> ergeben. Do<strong>ch</strong> die antworteten<br />

mit aufreizenden Hohnworten, rühmten si<strong>ch</strong>, in früheren Kämpfen Häuptlinge der<br />

Tlatepoca zu Tode gepeinigt zu haben und stürmten plötzli<strong>ch</strong> die große Doppeltreppe herab. Sie<br />

wollten lieber gemordet werden als verbrennen!<br />

Alle wurden niedergemetzelt.<br />

Und immer höher s<strong>ch</strong>ossen die Flammen aufwärts. Vom Da<strong>ch</strong> des Tempels rief der Oberpriester:<br />

»Sättige dein Herz mit Ra<strong>ch</strong>e, o Tlaxcala! Bald ist die Reihe an Moctezuma, sein Herz mit<br />

Ra<strong>ch</strong>e zu sättigen!« Dann sprang er kopfüber vom Da<strong>ch</strong> in die Tiefe, und alle zwanzig Priester<br />

folgten ihm na<strong>ch</strong>. Nur no<strong>ch</strong> wenige Verzweifelte drängten si<strong>ch</strong> auf den oberen Plattformen und<br />

wollten die Turmtreppe emporrennen, um von der Plattform wie ihre Priester in den Tod zu stürzen.<br />

Do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on züngelten die Flammen am Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz. In hö<strong>ch</strong>sten Todesangst begannen<br />

sie, die große Treppe zu den Tlatepoca hinunterzusteigen. Sie kamen nur bis zur Mitte der<br />

Doppeltreppe; weiter unten glühten s<strong>ch</strong>on die Marmorstufen.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 206<br />

*<br />

Das Skorpionentor stand offen. Einige Aasgeier flatterten auf dem Hof herum; niemand war da, der<br />

es ihnen verwehrte. Lei<strong>ch</strong>en lagen im rotbraunen Sand; ihr Blut war im Erdrei<strong>ch</strong> versickert. An die<br />

Außenwand des kleinen Ballspielhauses war no<strong>ch</strong> immer das Ölbild der Muttergottes genagelt, wo<br />

in der vergangenen Na<strong>ch</strong>t die Soldaten vor der Madonna gekniet und von Pater Olmedo das Sakrament<br />

erhalten hatten.<br />

Jetzt kniete eine s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zende Marina vor dem Madonnenbild. Die Todess<strong>ch</strong>reie aus der<br />

Stadt waren no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verstummt. »Ma<strong>ch</strong> ein Ende, Mutter der Barmherzigkeit! Rette die Stadt!<br />

Hilf mir, rette mi<strong>ch</strong> vor der Verzweiflung! Rette ihn vor dem Makel! Er kann das ni<strong>ch</strong>t gewollt haben<br />

– i<strong>ch</strong> kenne sein Herz!«<br />

Seitdem sie mit Cortés und Velásquez vor dem janusköpfigen Heilbringer der Tolteken gestanden<br />

und seit die Königinwitwe den Flu<strong>ch</strong> gespro<strong>ch</strong>en hatte, war sie si<strong>ch</strong> des jähen Abgrundes<br />

bewusst geworden, über den sie s<strong>ch</strong>ritt. Der Nebel vor ihren Augen begann si<strong>ch</strong> zu li<strong>ch</strong>ten. Zum<br />

ersten Mal seit dem Brand der S<strong>ch</strong>iffe musste sie si<strong>ch</strong> zweifelnd die Frage stellen, ob ni<strong>ch</strong>t ihr<br />

strahlendes Kreuzzugsziel eine Verderben bringende Selbsttäus<strong>ch</strong>ung sei.<br />

Sie hörte S<strong>ch</strong>ritte. Aguilár kam dur<strong>ch</strong> das Skorpionentor in den Hof. Er erblickte die betende<br />

Marina, eilte auf sie zu und fasste sie an der S<strong>ch</strong>ulter.<br />

»Steht auf, Doña Marina! Jetzt ist keine Zeit zum Beten, Gott wird warten, aber Ihr müsste<br />

jetzt handeln! Bringt Cortés dazu, diesen Wahnwitz zu beenden. Die Tlaxcalteken hausen wie wilde<br />

Tiere – und unsere sind au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t besser! Es kann uns ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong> sein, dass Cortés' Ruhm<br />

dur<strong>ch</strong> die Wahnsinnigen besudelt wird!«<br />

Marina blickte ihn traurig an. Aguilár, der ihr bisher Widerwillen eingeflößt hatte, tröstete sie<br />

und bat sie um Hilfe? Jetzt hätte sie an der Brust des ausgemergelten Franziskaners weinen mögen.<br />

Sie beide waren mitleidende Mens<strong>ch</strong>en. Und er – unter allen Christen der einzige – fühlte<br />

<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>.<br />

»I<strong>ch</strong> kann ni<strong>ch</strong>ts tun«, sagte sie hilflos zum Frater. »Don Hernándo ist ni<strong>ch</strong>t hier – i<strong>ch</strong> weiß<br />

ni<strong>ch</strong>t, wo er jetzt zu finden wäre. Und er hat mir untersagt, das Quartier zu verlassen!«<br />

»Ja, weil er für Euer Leben für<strong>ch</strong>tet«, rief Aguilár aus. »Für<strong>ch</strong>tet Ihr für Euer Leben, Doña<br />

Marina? Oder für<strong>ch</strong>tet Ihr seinen Zorn? S<strong>ch</strong>on fünf Stunden dauert dieses Blutbad an!«<br />

»I<strong>ch</strong> für<strong>ch</strong>te mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, wenn Ihr mi<strong>ch</strong> zu ihm führen wollt, Aguilár! Mehr als seinen Zorn<br />

für<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> den Zorn Gottes!«<br />

»So kommt, su<strong>ch</strong>en wir Cortés!«<br />

Sie fanden ihn auf dem Marktplatz. An einer Hauswand standen ein gefangener Häuptling<br />

und vier <strong>ch</strong>olultekis<strong>ch</strong>e Krieger. Zwanzig S<strong>ch</strong>ritte vor ihnen warteten zehn Musketiere, die Waffen<br />

im Ans<strong>ch</strong>lag. Cortés saß auf Romo; er wollte sie ers<strong>ch</strong>ießen lassen.<br />

Ein kastilis<strong>ch</strong>er Soldat war von den Cholulteken in Fetzen gerissen worden, einen anderen<br />

hatten sie entmannt und geblendet. Und der kleine Truthahndieb Gregorio Burgueño, der einst auf<br />

Avilas Geheiß hatte gehenkt werden sollen, hatte das Unglück, ein Mäd<strong>ch</strong>en wegzus<strong>ch</strong>leppen und<br />

dabei vom Häuptling und seiner S<strong>ch</strong>ar ergriffen worden zu sein. Sie hatten ihn auf einen der vielen<br />

Teocalli über einen Blutopferstein gelegt, ihn an Händen und Füßen gehalten, während ein Opferpriester<br />

ihn aufs<strong>ch</strong>litzte und ihm das Herz aus der Brust riss. Der arme Burs<strong>ch</strong>e war der Erste, an<br />

dem si<strong>ch</strong> Botellos Horoskop erfüllte.<br />

Cortés hatte ihm ni<strong>ch</strong>t helfen können; nur rä<strong>ch</strong>en konnte er ihn. Der Häuptling und seine Helfer<br />

warteten auf den Tod. Der Häuptling hielt eine letzte Anspra<strong>ch</strong>e, die der Generalkapitän allerdings<br />

ni<strong>ch</strong>t verstand, und sagte zu seinen Gefährten:<br />

»Wisst ihr, meine Freunde, warum diese weißen Männer uns morden und ausplündern, unsere<br />

Götter und Altäre zers<strong>ch</strong>lagen, unsere Frauen und Tö<strong>ch</strong>ter s<strong>ch</strong>änden? Weil sie einen Gott<br />

haben, der mehr vermag als unsere Götter! Und wisst ihr, o meine Freunde, wer ihr Gott ist? I<strong>ch</strong><br />

will ihn eu<strong>ch</strong> zeigen!«<br />

Cortés, au<strong>ch</strong> wenn er ni<strong>ch</strong>ts verstand, war von der mutigen und eindrucksvollen Rhetorik<br />

fasziniert und ließ den Mann gewähren. Der Häuptling riss si<strong>ch</strong> den goldenen Brusts<strong>ch</strong>muck ab<br />

und zeigte das funkelnde Gold umher.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 207<br />

»Das ist der Gott, dem die Christen dienen«, fuhr er fort. »Der Gott der Christen heißt Götterkot!<br />

Nur ihn beten sie an! Ihm opfern sie uns und alle Völker!«<br />

»Feuer«, sagte Cortés ruhig. Die Musketen kra<strong>ch</strong>ten, und die Verurteilten bra<strong>ch</strong>en zusammen.<br />

Als Cortés si<strong>ch</strong> abwendete, sah er Marina und Aguilár.<br />

»Was hat der Mann gesagt?«, fragte er.<br />

Sie übersetzte es. Unwillig wandte Cortés sein Pferd. Jetzt sah sie, dass er an der Stirn blutete.<br />

Au<strong>ch</strong> Romos s<strong>ch</strong>warze Mähne war blutbefleckt.<br />

»Ihr blutet, Don Hernándo!«, rief sie bestürzt.<br />

»Ni<strong>ch</strong>ts... nur ein Stein, von einem Hausda<strong>ch</strong>...« Finster fügte er hinzu: »Mi<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ützt mein<br />

Stern... Wer aber s<strong>ch</strong>ützt di<strong>ch</strong>? I<strong>ch</strong> verbot dir, in die Stadt zu gehen, Marina!«<br />

»Gott befahl mir zu kommen, Don Hernándo«, entgegnete sie hart.<br />

Cortés gab lange Zeit keine Antwort.<br />

»Woran denkst du, Marina?«, fragte er s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong>.<br />

Marina s<strong>ch</strong>loss die Augen. »I<strong>ch</strong> leide, Don Hernándo. Verhüte die Königin des Himmels, was<br />

i<strong>ch</strong> heute denke.«<br />

»Krieg ist kein Ringelreihen, Marina! Krieg ist grausam und heilsam. Das Blut, das den Götzen<br />

geopfert wird, kann nur dur<strong>ch</strong> Blut gesühnt werden!«<br />

Cortés gab Befehl, die Feindseligkeiten einzustellen.<br />

Während die lilienförmige Posaune des Trompeters Sebastián Rodríguez Frieden in Cholula<br />

verkündete, bra<strong>ch</strong> der rot glühende Turm des künstli<strong>ch</strong>en Berges zusammen. Do<strong>ch</strong> unversehrt und<br />

weithin si<strong>ch</strong>tbar konnte man auf dem Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz ho<strong>ch</strong> aufragend das graubasaltene,<br />

überlebensgroße Doppelbildnis des Heil- und Todbringers Quetzalcoatl erblicken.<br />

Unter dem Eindruck des Erlebten s<strong>ch</strong>rieb Bernal Díaz del Castillo später in sein Tagebu<strong>ch</strong>:<br />

»Keine mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Zunge ist imstande, alle die s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>en Dinge zu erzählen, die in<br />

Cholula, einer ansehnli<strong>ch</strong>en Stadt von mehr als 30 000 Einwohnern, begangen worden sind. Die<br />

Hispanier ri<strong>ch</strong>teten dort die ein Blutbad an. Sie luden alle Edelleute ein und verlangten zudem<br />

2000 Indianer, einige davon als Träger. Als diese eintrafen, wurden sie in einen Hof gesperrt. Sie<br />

waren fast nackt ers<strong>ch</strong>ienen und trugen Rucksäcke mit kärgli<strong>ch</strong>en Lebensmitteln auf dem Rücken.<br />

Die Hispanier sperrten die Tore, zogen ihre S<strong>ch</strong>werter und s<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>teten die armen Opfer vom ersten<br />

bis zum letzten Mann ab. Na<strong>ch</strong> einer Weile erhoben si<strong>ch</strong> einige, die no<strong>ch</strong> am Leben waren,<br />

si<strong>ch</strong> aber bluttriefend unter den Toten verkro<strong>ch</strong>en hatten. Sie fielen den Hispaniern weinend und<br />

jammernd zu Füßen und baten flehend, man möge Erbarmen mit ihnen haben und ihnen das Leben<br />

s<strong>ch</strong>enken. Aber die Eroberer wussten ni<strong>ch</strong>ts von Mitleid und Gnade, sondern sta<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong> die<br />

Übriggebliebenen nieder...«<br />

Am späteren Na<strong>ch</strong>mittag trafen Goldmaske und Kiefernzweig mit 20 000 Mann Hilfstruppen<br />

in Cholula ein.<br />

15. Tempelhüter<br />

»Die Spanier fragten ihn: ›Bist du Moctezuma?‹ – ›Ja‹, sagte er, ›i<strong>ch</strong> bin Euer Vasall, i<strong>ch</strong> bin<br />

Moctezuma.‹ Do<strong>ch</strong> die Verbündeten riefen ihm zu: ›Du Narr! Warum versu<strong>ch</strong>st du uns zu<br />

täus<strong>ch</strong>en? Für wen hältst du uns?‹«<br />

(Codex Florentino, Bu<strong>ch</strong> XII)<br />

Cortés ließ López de Gómera rufen. Er solle wieder mit Feder und Tinte die neuen Ruhmestaten<br />

für Kaiser Karl zu Papier bringen. Und Cortés diktierte:<br />

»Eurer Kaiserli<strong>ch</strong>en Majestät habe i<strong>ch</strong> bereits beri<strong>ch</strong>tet, wie wir uns mit dem Kaziken von


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 208<br />

Cempoala verbünden konnten und gegen die Stadt namens ›Roter Berg‹ gezogen sind und von<br />

dort zu einem no<strong>ch</strong> größeren Ort, Tlaxcala genannt. Wir dur<strong>ch</strong>querten ödes Land, und Gott allein<br />

weiß, wel<strong>ch</strong> großen Mangel an Wasser, wel<strong>ch</strong> Hunger und Durst, wel<strong>ch</strong> heftige Kälte und sonst<br />

große Not wir allda erlitten, besonders dur<strong>ch</strong> Hagel und kalten Platzregen, auf dass i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on<br />

vermeinte, es müssten viele von uns erfrieren. Denn obwohl das Land unter dem 20. Breitengrad<br />

liegt, wird man in Europa kaum glauben wollen, dass es hier hohe Berge und Ländereien gibt, wo<br />

erbärmli<strong>ch</strong>e Kälte anzutreffen ist. Die ganze Gegend ist umkränzt von riesenhohen S<strong>ch</strong>neebergen,<br />

wie man sie in Kastilien und Andalusien si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vorzustellen vermag. Aus einigen s<strong>ch</strong>lägt ständig<br />

s<strong>ch</strong>warzer Rau<strong>ch</strong>, und des Na<strong>ch</strong>ts kann man feurigen Widers<strong>ch</strong>ein erkennen.<br />

Wenn wir auf Mens<strong>ch</strong>en trafen, so haben wir sie in Eurer Kaiserli<strong>ch</strong>en Majestät Namen angeredet<br />

und ihnen die Ursa<strong>ch</strong>e unserer Ankunft erzählt. Au<strong>ch</strong> habe i<strong>ch</strong> gefragt, ob sie Untertanen<br />

des Königs Moctezuma seien oder eines anderen Fürsten. Aber meist verwunderte sie meine Fragerei,<br />

und i<strong>ch</strong> erhielt die Antwort: ›Wer ist ni<strong>ch</strong>t Untertan des Königs Moctezuma?‹<br />

I<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>loss mi<strong>ch</strong>, na<strong>ch</strong> Cholula zu gehen. Meine Verbündeten … gaben mir mit 30 000<br />

Mann das Geleit bis zur Grenze, dann sind sie umgekehrt, beließen aber 6000 Mann zu meiner<br />

Begleitung... Am anderen Tag sind uns die Herren, Priester und viele Bürger von Cholula unter<br />

Trommel- und Trompetens<strong>ch</strong>all entgegengezogen, uns zu empfangen, und so geleiteten sie uns in<br />

ihre Stadt... Da meldete mir meine Dolmets<strong>ch</strong>erin, dass sie von einer Tlaxcalerin erfahren habe,<br />

vor der Stadt stünde eine große Streitma<strong>ch</strong>t des Herrn Moctezuma; die Männer brä<strong>ch</strong>ten au<strong>ch</strong> ihre<br />

Weiber und Kinder aus der Stadt, weil sie die Absi<strong>ch</strong>t hätten, uns zu überfallen und umzubringen....<br />

Da habe i<strong>ch</strong> Befehl gegeben, dass mein Kriegsvolk in Wehr und Waffen bereitstehe. Auf ein<br />

bestimmtes Zei<strong>ch</strong>en von mir sollten sie in die feindli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>aren fallen, die si<strong>ch</strong> vor unserem<br />

Quartier und in dessen Hof angesammelt haben... Binnen zweier Stunden sind alsdann 3000 Bürger<br />

erlegt worden... I<strong>ch</strong> ließ au<strong>ch</strong> Feuer werfen... auf diese Weise habe i<strong>ch</strong> in fünf Stunden alles<br />

Volk aus der Stadt vertrieben.«<br />

*<br />

Cholula war niedergebrannt. Wo vorher die Feuerblumen leu<strong>ch</strong>teten und wo die S<strong>ch</strong>metterlinge<br />

geflattert, gehüpft und getanzt hatten, häuften si<strong>ch</strong> As<strong>ch</strong>enhügel und Steintrümmer. Se<strong>ch</strong>stausend<br />

Lei<strong>ch</strong>en und die hohen S<strong>ch</strong>uttberge wegzuräumen und - soweit es mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Händen mögli<strong>ch</strong><br />

war – die heilige Stadt neu zu erri<strong>ch</strong>ten, an deren S<strong>ch</strong>önheit ungezählte Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ter gebaut hatten,<br />

überließen die Christen der dur<strong>ch</strong> die Verheerung verarmten Bevölkerung. Sie selbst hatten<br />

weder Lust no<strong>ch</strong> Zeit dazu.<br />

Au<strong>ch</strong> Mut und Stolz der Cholulteken waren niedergebrannt. Ers<strong>ch</strong>reckt und Freunds<strong>ch</strong>aft<br />

heu<strong>ch</strong>elnd hatten sie von ihren Zu<strong>ch</strong>tmeistern Abs<strong>ch</strong>ied genommen und das abziehende Heer mit<br />

Fellpauken, Flöten und Blütenzweigen bis vor die Tore der Stadt begleitetet. Über den Trümmern,<br />

die si<strong>ch</strong> einst als künstli<strong>ch</strong>er Berg erhoben, reckte si<strong>ch</strong> – einem Galgen auf dem Ho<strong>ch</strong>geri<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t<br />

unähnli<strong>ch</strong> – ein riesenhaftes Holzkreuz empor: das neue Zei<strong>ch</strong>en einer dem Christengott unterworfenen<br />

Stadt. Der Zimmermann Cristóbal de Jaén hatte es aus zwei mä<strong>ch</strong>tigen Zedernstämmen<br />

aufgeri<strong>ch</strong>tet. Dort war au<strong>ch</strong> in einer vom Feuer vers<strong>ch</strong>onten Nis<strong>ch</strong>e das Ölbild der Jungfrau Maria<br />

aufgestellt. Die Gottesmutter wurde von den Cholulteken Tonantzin genannt, Unser Mütter<strong>ch</strong>en;<br />

sie räu<strong>ch</strong>erten und opferten dort wie vorher ihrer alten Göttermutter, der Fros<strong>ch</strong>göttin mit dem blutigen<br />

Maul, die glei<strong>ch</strong>falls Unser Mütter<strong>ch</strong>en hieß.<br />

Die Stadt war der Kir<strong>ch</strong>e gewonnen. In den fünf Tagen, die Cortés na<strong>ch</strong> dem Gemetzel no<strong>ch</strong><br />

in der Stadt verblieb, hatte er es verstanden, Balsam auf die dur<strong>ch</strong> das S<strong>ch</strong>wert ges<strong>ch</strong>lagenen<br />

Wunden zu träufeln, hatte Opfersklaven befreit, hatte die Tlatepoca veranlasst, ihre Kriegsgefangenen<br />

freizulassen, hatte den Huldigungseid für Kaiser Karl V. ein zweites Mal entgegengenommen<br />

und der ges<strong>ch</strong>lagenen Stadt Frieden und ein Bündnis aufgezwungen. Das Herrs<strong>ch</strong>ende<br />

Raubtier freili<strong>ch</strong> war der Lehensherrs<strong>ch</strong>aft des Herrn des Sonnenaufgangs dur<strong>ch</strong> Selbstmord aus<br />

dem Weg gegangen – er hatte si<strong>ch</strong> an einer Zinne seines zertrümmerten Tecpans erhängt. Cortés<br />

musste für die Wahl und Krönung eines neuen Priesterkönigs Sorge tragen. Au<strong>ch</strong> die Königinwitwe<br />

blieb unversöhnli<strong>ch</strong> und fügte ihrem Flu<strong>ch</strong> gegen Marina neue und grimmigere Verwüns<strong>ch</strong>ungen<br />

hinzu. Ihr Sohn aber, der Federherr, ließ keine Gelegenheit vorübergehen, dem Generalkapitän


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 209<br />

dur<strong>ch</strong> die Dolmets<strong>ch</strong>erin auseinanderzusetzen, dass die S<strong>ch</strong>uld am Missverständnis (so bezei<strong>ch</strong>nete<br />

er seines Volkes Untergang) einzig und allein der Tempelhüter trage. Do<strong>ch</strong> Cortés hatte den<br />

Namen des Tempelhüters no<strong>ch</strong> nie gehört und legte daher diesen Anklagen keinerlei Gewi<strong>ch</strong>t bei.<br />

Do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on bald, im bena<strong>ch</strong>barten Huexotzinco, sollte er den Namen wieder hören und Näheres<br />

über diesen s<strong>ch</strong>lau handelnden Mann erfahren.<br />

*<br />

Am Abend vor dem Abzug aus Cholula bat Gasparo Lencero, ein tapferer, s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>ter, stets etwas<br />

versponnener Soldat, um die Vergünstigung, den capitán generál allein spre<strong>ch</strong>en zu dürfen. Cortés<br />

war guter Laune und empfing ihn jovial. Do<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> wenigen Worten Lenceros verging ihm die<br />

Freundli<strong>ch</strong>keit.<br />

»I<strong>ch</strong> komme, um meine Entlassung zu erbitten, Señor Capitán«, sagte Gasparo Lencero.<br />

»I<strong>ch</strong> bin ni<strong>ch</strong>t imstande, fortan Waffen zu tragen.«<br />

»Seid Ihr verwundet?«, fragte Cortés.<br />

»Ni<strong>ch</strong>t von Mens<strong>ch</strong>en, Señor Capitán«, antwortete der mit der Welt zerfallene Grübler. »Gott<br />

hat mi<strong>ch</strong> verwundet. Er s<strong>ch</strong>nitt mir mit wildem S<strong>ch</strong>werthieb in die Seele. Nun bin i<strong>ch</strong> lahm und kann<br />

ni<strong>ch</strong>t mit Eu<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Mexico ziehen.«<br />

»I<strong>ch</strong> verstehe Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Wollt Ihr zurück an die Küste?«<br />

»Nein, Euer Gnaden. I<strong>ch</strong> sah bei Tlaxcala eine Felsenhöhle – dort gedenke i<strong>ch</strong> als Einsiedler<br />

zu leben.«<br />

»Ihr seid ni<strong>ch</strong>t bei Verstand, mein Sohn! Jeder weiße Mann, der eine Waffe halten kann,<br />

zählt in unserem kleinen Heer! Und Ihr seid einer meiner Besten! Was Ihr vorhabt, ist verrückt«,<br />

redete Cortés ihm zu und fügte na<strong>ch</strong> einer kurzen Pause an: »Außerdem ist es Fahnenflu<strong>ch</strong>t!«<br />

»Gottes Trommel ruft mi<strong>ch</strong>, Señor Capitán! Überhöre i<strong>ch</strong> seine Werbetrommel, so ist es erst<br />

re<strong>ch</strong>t Fahnenflu<strong>ch</strong>t!«<br />

Cortés s<strong>ch</strong>üttelte ärgerli<strong>ch</strong> den Kopf. »Bildet Ihr Eu<strong>ch</strong> ein, Señor, dass Ihr Gott so viel mehr<br />

wert seid als mir?«, fragte er spöttis<strong>ch</strong>. »Bildet Ihr Eu<strong>ch</strong> ein, dass der Herr der Heers<strong>ch</strong>aren um<br />

Euretwillen die Trommel rührt? Auf mein Gewissen: Das sind vermessene Reden!«<br />

»So war es ni<strong>ch</strong>t gemeint, Euer Gnaden. I<strong>ch</strong> muss von nun an meine S<strong>ch</strong>uld vor Gott abbüßen.«<br />

»Wel<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>uld, mein Sohn?«<br />

»Die S<strong>ch</strong>uld, Euer Gnaden, dass i<strong>ch</strong> den indianis<strong>ch</strong>en König Blaue Feder und andere seiner<br />

Spießgesellen ni<strong>ch</strong>t sofort niedergestreckt habe, als i<strong>ch</strong> sie die S<strong>ch</strong>eußli<strong>ch</strong>keit begehen sah. Dass<br />

i<strong>ch</strong> mits<strong>ch</strong>uldig wurde, weil mein Auge sah, weil meine Sinne erkannten und mein Arm untätig<br />

blieb...«<br />

»Von wel<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>eußli<strong>ch</strong>keit redet Ihr?«<br />

»I<strong>ch</strong> wüsste von man<strong>ch</strong>er zu reden, Euer Gnaden. Do<strong>ch</strong> die eine meine i<strong>ch</strong>, deren Zeuge i<strong>ch</strong><br />

war. Sie ges<strong>ch</strong>ah beim östli<strong>ch</strong>en Stadttor, wo Ihr ni<strong>ch</strong>t hinkamt, wo der Zufall mi<strong>ch</strong> vorbeigehen<br />

ließ. Die Große Pyramide brannte als riesiges Flammenmeer, da zogen, geführt von der Blauen<br />

Feder, die Tlatepoca dur<strong>ch</strong> die Gassen, um Beute und Ra<strong>ch</strong>e zu su<strong>ch</strong>en. Sie führten se<strong>ch</strong>zig gefangene<br />

Kaufherren mit, rammten hohe, zugespitzte Pfähle in die Erde, rissen den Unglückli<strong>ch</strong>en<br />

die Kleider vom Leib und setzten sie auf die Pfähle: Dann zündeten die Bestien zu Füßen ihrer<br />

Opfer Feuer an. Und während die Pfähle in die Eingeweide und die Leiber der grässli<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>reienden<br />

eindrangen, fraßen die Flammen am Pfahlholz und an der Haut der Mens<strong>ch</strong>en... Als i<strong>ch</strong> das<br />

sah, hasste i<strong>ch</strong> Gott und vera<strong>ch</strong>tete ihn. Warum ließ er das ges<strong>ch</strong>ehen? I<strong>ch</strong> empörte mi<strong>ch</strong> gegen<br />

Gott! O Señor Capitán, das war ein sündiger, ein lästerli<strong>ch</strong>er, ein sträfli<strong>ch</strong>er Gedanke! I<strong>ch</strong> will ihn<br />

für den Rest meines Lebens in der Felsenhöhle abbüßen.«<br />

Cortés konnte ihn ni<strong>ch</strong>t von seinem Vorsatz abbringen. Die Missetaten s<strong>ch</strong>rien zum Himmel,<br />

Cortés wusste es. Er hatte si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Massaker ges<strong>ch</strong>äftig mit der Wahl und Krönung des<br />

neuen Priesterkönigs, der Freilassung der Kriegsgefangenen und Plänen zum Weitermars<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong><br />

Teno<strong>ch</strong>titlán bes<strong>ch</strong>äftigt, um sein Gewissen zu betäuben. Do<strong>ch</strong> die Last wi<strong>ch</strong> erst von seinem Herzen,<br />

als er dur<strong>ch</strong> Lencero erfuhr, dass einer der Indianerfürsten besonders flu<strong>ch</strong>würdig gewütet<br />

hatte. Das gab ihm die Mögli<strong>ch</strong>keit, die Verantwortung für die Gräuel auf die Blaue Feder abzuwäl-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 210<br />

zen.<br />

Cholula war ihm anfangs gar ni<strong>ch</strong>t wi<strong>ch</strong>tig, do<strong>ch</strong> im Lauf der Entwicklung, besonders na<strong>ch</strong>dem<br />

klar wurde, dass Moctezuma ihm eine tödli<strong>ch</strong>e Falle stellen wollte, besann er si<strong>ch</strong> anders: Um<br />

Moctezuma zu strafen, um dur<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>reckensna<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t ganz Anahuac einzus<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tern, hatte<br />

er das Strafgeri<strong>ch</strong>t über die unglückli<strong>ch</strong>e Stadt verhängt. Sein Befehl, Greise, Frauen und Kinder<br />

ni<strong>ch</strong>t anzutasten, war – wie er si<strong>ch</strong> einredete – missa<strong>ch</strong>tet worden. Er musste widerstrebend zugeben,<br />

dass er sein Heer ni<strong>ch</strong>t in der Hand behalten hatte; die Zügel waren ihm entglitten. Es war ein<br />

klägli<strong>ch</strong>es Versagen seiner Feldherrns<strong>ch</strong>aft, auf die er sonst so stolz war. Er war seinen<br />

tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Verbündeten auf den Leim gegangen! Na<strong>ch</strong>trägli<strong>ch</strong> hatte si<strong>ch</strong> herausgestellt, wie<br />

lei<strong>ch</strong>tgläubig er und seine Feldobristen während der nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Beratung auf erfundene und stark<br />

übertriebene Aussagen hin ihre folgens<strong>ch</strong>weren Ents<strong>ch</strong>lüsse gefasst hatten: Nur wenige Gassen<br />

hatte man dur<strong>ch</strong> Balken versperrt gefunden; au<strong>ch</strong> waren keine Mexica in den unterirdis<strong>ch</strong>en Kammern<br />

der Großen Pyramide versteckt; die in den Walds<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>ten außerhalb Cholulas lauernden<br />

Adler und Jaguare Mexicos waren so gering an Zahl, dass sie der überfallenen Stadt ni<strong>ch</strong>t zu Hilfe<br />

eilen und erst re<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t dem heranrückenden Tlaxcaltekenheer die Stirn hätten bieten können.<br />

Zwar stand fest, dass ein Überfall geplant war; aber das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier hatte nur zögernd<br />

die Vorbereitungen treffen lassen – er wollte lieber Ra<strong>ch</strong>e an Tlaxcala wegen der weißen S<strong>ch</strong>minke<br />

nehmen als si<strong>ch</strong> den Weisungen Moctezumas fügen.<br />

Cortés war wütend auf si<strong>ch</strong> selber: Er wusste, dass si<strong>ch</strong> unter seinen Kastiliern man<strong>ch</strong><br />

Spitzbube und Mordbrenner befand, aber er war auf sie angewiesen und konnte sie ni<strong>ch</strong>t samt und<br />

sonders hängen lassen. Die Tlaxcalteken zu strafen, treue Bundesfreunde, kam au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in Frage.<br />

Die Stadt Tlaxcala blieb der wi<strong>ch</strong>tigste Etappenort im Rücken des Christenheeres, und die<br />

freundli<strong>ch</strong>e Haltung seines Hohen Rates konnte er, wenn erst Mexico errei<strong>ch</strong>t war, no<strong>ch</strong> weniger<br />

entbehren: Die Verbindung mit der Küste und na<strong>ch</strong> Spanien ließ si<strong>ch</strong> nur über die Talwege des<br />

Freistaats aufre<strong>ch</strong>terhalten. Als daher Cortés vor den Toren Cholulas von dem nunmehr Don Lorenzo<br />

genannten König Wollring, von Don Vicente-Goldmaske, von Don Alfonso-Kiefernzweig und<br />

ihren zwanzigtausend Kriegern Abs<strong>ch</strong>ied nahm, erwähnte er die begangenen Gräuel ni<strong>ch</strong>t; er ließ<br />

au<strong>ch</strong> kein Wort über das verspätete Eintreffen des Entsatzheeres fallen. Von Pimoti wusste er,<br />

dass Goldmaske und Kiefernzweig die Ankunft in Cholula absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> verzögert hatten; er gab si<strong>ch</strong><br />

keiner Täus<strong>ch</strong>ung hin über die <strong>ch</strong>ristenfeindli<strong>ch</strong>e Gesinnung der beiden, aber es war ni<strong>ch</strong>t nötig,<br />

dass diese es merkten. Im Gegenteil, Cortés übers<strong>ch</strong>üttete sie mit Dank und bes<strong>ch</strong>enkte sie wie<br />

au<strong>ch</strong> ihre Unterführer rei<strong>ch</strong> mit Jades<strong>ch</strong>muck und Papageienfedern, die in Tlaxcala ho<strong>ch</strong> bewertet<br />

waren. Zufrieden zogen die Tlatepoca ab. Bei der Plünderung hatten sie viel Beute ma<strong>ch</strong>en können.<br />

Allerdings hätte der Generalkapitän die beiden getauften Christenfeinde gerne unter den Augen<br />

behalten, do<strong>ch</strong> er konnte es ni<strong>ch</strong>t erzwingen. Die Aufforderung, mit na<strong>ch</strong> Mexico zu ziehen,<br />

lehnten sie ab, wenn au<strong>ch</strong> Prinz Goldmaske in Aussi<strong>ch</strong>t stellte, seine S<strong>ch</strong>wester Doña María Luisa-Rabenblume<br />

in Teno<strong>ch</strong>titlán zu besu<strong>ch</strong>en, sobald Moctezuma dem Kaiser den Treueid geleistet<br />

habe. Cortés kam es vor, dass das Verspre<strong>ch</strong>en ein wenig herausfordernd klang.<br />

König Listiger Marder und Pimoti mit ihren viertausend Kriegern wi<strong>ch</strong>en hingegen ni<strong>ch</strong>t von<br />

Cortés. Sie waren ents<strong>ch</strong>lossen, ihn bis na<strong>ch</strong> Mexico, bis hinter die Mauern der Inselstadt zu begleiten<br />

und alle Gefahren mit ihm zu teilen. Au<strong>ch</strong> die Blaue Feder und seine kleine Gefolgs<strong>ch</strong>aft<br />

zogen mit ihnen den westli<strong>ch</strong>en Gebirgsketten entgegen, wel<strong>ch</strong>e die Ho<strong>ch</strong>ebene Am-Kolibri-<br />

Wasser von Anahuacs Tafelland trennen. Cortés beauftragte Pater Olmedo, dem König ins Gewissen<br />

zu reden. Die Kir<strong>ch</strong>e durfte streng sein, brau<strong>ch</strong>te keine politis<strong>ch</strong>en Rücksi<strong>ch</strong>ten zu nehmen.<br />

Die Blaue Feder tat dann au<strong>ch</strong> zerknirs<strong>ch</strong>t Abbitte und bereute die abs<strong>ch</strong>euli<strong>ch</strong>en Untaten. Aber<br />

au<strong>ch</strong> Olmedo konnte ni<strong>ch</strong>t in sein Herz s<strong>ch</strong>auen.<br />

*<br />

Das erste Na<strong>ch</strong>tlager wurde in einem Weiler des Freistaates Huexotzinco aufges<strong>ch</strong>lagen. Dort<br />

überbra<strong>ch</strong>ten Gesandte aus dem Staat Tepeaca dreißig Sklavinnen und ein Goldges<strong>ch</strong>enk im<br />

Wert von vierhundert Dukaten. Au<strong>ch</strong> aus der Stadt Huexotzinco kam eine Abordnung des Hohen<br />

Rates und s<strong>ch</strong>enkte Cortés einen Edelsteinkasten aus Eisenholz mit rei<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>nitztem Eide<strong>ch</strong>-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 211<br />

senmuster auf dem Deckel und mit s<strong>ch</strong>werem Goldble<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>lagen, bis zum Rand angefüllt mit<br />

Juwelen. Das sei nur ein geringes Ges<strong>ch</strong>enk, beteuerte der Gesandte, do<strong>ch</strong> Mexico habe erst vor<br />

kurzem Huexotzinco überfallen und ausgeraubt, darum möge der weiße Feldherr mehr den guten<br />

Willen als das Ges<strong>ch</strong>enk bewerten. Der Freistaat sei gerne bereit, Hilfstruppen zu stellen.<br />

Wieder konnte Cortés feststellen, wie mä<strong>ch</strong>tig Mexico war und dass die unterjo<strong>ch</strong>ten Völker<br />

si<strong>ch</strong> ihre Freiheit zurückwüns<strong>ch</strong>ten. So nahm er gerne das Ges<strong>ch</strong>enk und das Anerbieten an. Beim<br />

Na<strong>ch</strong>tmahl im Feldherrnzelt, zu wel<strong>ch</strong>em die Fürsten aus Tepeaca und Huexotzinco geladen waren,<br />

warnten sie – wie es s<strong>ch</strong>on der S<strong>ch</strong>lagende Falke dur<strong>ch</strong> Aguilár getan hatte – vor einem drohenden<br />

Ans<strong>ch</strong>lag Moctezumas: Er habe die Wege im Gebirge ungangbar ma<strong>ch</strong>en lassen, damit<br />

die weißen Eroberer in Eis und S<strong>ch</strong>nee versinken und weder weiter no<strong>ch</strong> zurück könnten. Bald<br />

beginne die Straße aus der Ebene aufwärts bis zur ersten Passhöhe zu steigen; dort verzweige sie<br />

si<strong>ch</strong>. Der nördli<strong>ch</strong>e Weg führe na<strong>ch</strong> Chalco, Coatepec und Tezcoco, der andere, südli<strong>ch</strong>e, na<strong>ch</strong><br />

Tlalmanalco, Amaquemecan und Xo<strong>ch</strong>imilco. Die nördli<strong>ch</strong>e, an der Weißen Frau vorüberziehende<br />

Straße sei dur<strong>ch</strong> überhängende Felsblöcke gefährdet, wel<strong>ch</strong>e Moctezuma habe lockern lassen,<br />

um das Christenheer zu zermalmen, falls es dort vorbeizöge; die südli<strong>ch</strong>e, dur<strong>ch</strong> das Gebiet des<br />

Rau<strong>ch</strong>enden Berges führende Straße aber sei unterhöhlt, mit Pfählen versehen, von tiefen Gräben<br />

dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nitten und dur<strong>ch</strong> ho<strong>ch</strong> aufges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tete Baumstämme gesperrt.<br />

Die Frage, ob es keinen dritten Weg gebe, verneinten sie zögernd. Cortés zog die Bussole<br />

hervor, klappte den Deckel auf und s<strong>ch</strong>aute ins Kompassgehäuse. Marina erklärte: »Mein Gebieter<br />

befragt seinen Zauberspiegel, der ihm die Gedanken der Mens<strong>ch</strong>en offenbart.«<br />

Wieder fragte Cortés: »Gibt es keinen dritten Weg?«<br />

Da gaben sie es zu: Ja, es gebe einen zwis<strong>ch</strong>en den beiden Straßen, do<strong>ch</strong> sei das ein enger,<br />

äußerst steiler Pfad, überwu<strong>ch</strong>ert von Dornengestrüpp und wilden Kakteen; die s<strong>ch</strong>weren<br />

Feuerwaffen über die Felshöhen und dur<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>malen S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>ten zu bringen, grenze an Unmögli<strong>ch</strong>keit.<br />

Als Cortés Zweifel über den neuen Hinterhalt und den bösen Willen Moctezumas äußerte,<br />

erzählten ihm die Kaziken vom eigentli<strong>ch</strong>en Anstifter aller dieser Ränke, vom Tempelhüter, dem<br />

s<strong>ch</strong>limmen Ratgeber und Beherrs<strong>ch</strong>er des mexicanis<strong>ch</strong>en Königs. Dass er den berühmten<br />

Otomikrieger Ges<strong>ch</strong>liffenen Obsidian fing; dass er als Held gefeiert und den Ges<strong>ch</strong>liffenen Obsidian<br />

gefesselt na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán bra<strong>ch</strong>te und Moctezuma zum Ges<strong>ch</strong>enk ma<strong>ch</strong>te. Der Ges<strong>ch</strong>liffene<br />

Obsidian sei dann bis zum mexicanis<strong>ch</strong>en Feldherrn aufgestiegen, habe aber später seiner<br />

Heimatstadt zum Bündnis mit dem Grünen Stein geraten. Cortés erfuhr, dass Moctezuma die Ähnli<strong>ch</strong>keit<br />

des Tempelhüters mit ihm bemerkte und ihn als seinen Doppelgänger einlud, im Huei-<br />

Tecpan zu wohnen; und wie allmähli<strong>ch</strong> der König der Welt vom Willen des Tempelhüters gesteuert<br />

wurde. S<strong>ch</strong>on in Cholula waren ihm Ans<strong>ch</strong>uldigungen über diesen Mann zu Ohren gekommen.<br />

Hatte er aber neuli<strong>ch</strong> kaum hingehört, wie der Federherr den Tempelhüter erwähnt hatte, so prägte<br />

er diesmal den Namen und die Taten des Mannes in sein Gedä<strong>ch</strong>tnis ein, der na<strong>ch</strong> so übereinstimmenden<br />

Aussagen die Voraussetzungen für das Blutbad von Cholula ges<strong>ch</strong>affen hatte. Denn<br />

na<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>uldigen su<strong>ch</strong>te er no<strong>ch</strong> immer. S<strong>ch</strong>uldbewusstsein su<strong>ch</strong>t an vielen Orten – nur ni<strong>ch</strong>t bei<br />

si<strong>ch</strong> selbst.<br />

*<br />

Der lange Heereswurm, vergrößert dur<strong>ch</strong> a<strong>ch</strong>thundert Krieger aus Huexotzinco und vierhundert<br />

aus Tepeaca, kro<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> den fru<strong>ch</strong>tbaren westli<strong>ch</strong>en <strong>Teil</strong> der Ho<strong>ch</strong>ebene Am-Kolibri-Wasser und<br />

errei<strong>ch</strong>te, als die Sonne im Meridian stand, den Fuß der Kordilleren. Da traf eine Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t ein, die<br />

einen Aufenthalt erzwang. Der Page Orteguilla und ein Bote Escalantes, der Karibensklave Pedro<br />

aus Manzanilla auf Kuba – jener Läufer, der Cortés vor Cempoala vom Eintreffen des aufgeblasenen<br />

Lackaffen Salcedo unterri<strong>ch</strong>tete –, hatten das Heer eingeholt und überbra<strong>ch</strong>ten ein beunruhigendes<br />

S<strong>ch</strong>reiben des Stadtkommandanten von Veracruz.<br />

S<strong>ch</strong>on von Tlaxcala aus, bald na<strong>ch</strong> der Rückkehr des Reiters Enrico Lares, hatte Cortés Escalante<br />

wissen lassen, dass Orteguilla dem dicken Kaziken abgenommen und in Begleitung eines<br />

verlässli<strong>ch</strong>en Mannes dem Heere na<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>ickt werden müsse. Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> ohne diesen Anlass<br />

hätte Escalante seinen Brief mit dem flinken Läufer an Cortés gesandt; er brau<strong>ch</strong>e dringend Hilfe,


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 212<br />

ehe es zu spät sei. Der mexicanis<strong>ch</strong>e Statthalter Sengende Glut habe den Steuermann Gonzalo<br />

de Umbría und die Mulattin Beatriz de Acevedo gefangen gesetzt und weigere si<strong>ch</strong>, die beiden<br />

herauszugeben. Weder Escalante no<strong>ch</strong> sein Bundesfreund, der dicke Kazike el Gordo, verfügten<br />

über eine ausrei<strong>ch</strong>end starke Streitma<strong>ch</strong>t, den Angriffen der Sengenden Glut auf Dauer standzuhalten.<br />

Ein Kampf auf Leben und Tod s<strong>ch</strong>ien unvermeidli<strong>ch</strong>. Die kleine Besatzung der Hafenfestung<br />

s<strong>ch</strong>webe in hö<strong>ch</strong>ster Gefahr; Cortés solle seine totonakis<strong>ch</strong>en Hilfstruppen entlassen und<br />

ihnen die Heimkehr erlauben.<br />

Cortés las den Brief und fragte Orteguilla und den Kariben aus, um das ziemli<strong>ch</strong> lakonis<strong>ch</strong>e<br />

S<strong>ch</strong>reiben dur<strong>ch</strong> mündli<strong>ch</strong>e Beri<strong>ch</strong>te ergänzt zu bekommen. Orteguilla wusste nur, was der dicke<br />

Kazike ihm anvertraut hatte; der Sklave Pedro dagegen kam von der Küste und hatte die Ereignisse<br />

aus nä<strong>ch</strong>ster Nähe verfolgen können. Anfangs jedo<strong>ch</strong> waren au<strong>ch</strong> aus ihm keine weiteren Informationen<br />

herauszuholen, und er erzählte dem Kommandanten, was au<strong>ch</strong> im Brief stand: dass<br />

die Sengende Glut Hand an einen Weißen und seine Gefährtin gelegt hatte. (Die Tat war in Pedros<br />

Augen ni<strong>ch</strong>t ungere<strong>ch</strong>tfertigt, waren die Weißen für ihn do<strong>ch</strong> Räuber.) Cortés jedo<strong>ch</strong>, der Mens<strong>ch</strong>enkenner,<br />

drang weiter in den Läufer ein und erfuhr na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong>, was si<strong>ch</strong> im Irdis<strong>ch</strong>en Paradies<br />

zugetragen hatte.<br />

An jenem s<strong>ch</strong>önen Herbstmorgen, an dem Escalante und Lares na<strong>ch</strong> Cempoala geritten waren,<br />

hatten der Viels<strong>ch</strong>reiber Alonso de Grado, der Prahlhans ohne Leistungen Pedro Baracoa, der<br />

stelzfüßige Gonzalo de Umbría und die wahnsinnige Beatriz de Acevedo einen Ausflug in die<br />

huaxtekis<strong>ch</strong>en Berge unternommen, um dem Glänzenden Harnis<strong>ch</strong>, dem Sohn des Statthalters<br />

Sengende Glut, seine anmutige Gattin nebst etli<strong>ch</strong>en Nebenfrauen zu rauben. Die Exkursion war<br />

ni<strong>ch</strong>t so glückli<strong>ch</strong> und ertragrei<strong>ch</strong> verlaufen, wie die Raubgesellen es si<strong>ch</strong> erträumt hatten. Von<br />

totonakis<strong>ch</strong>en tlamamas hatten sie si<strong>ch</strong> in die Nähe des Felsens<strong>ch</strong>losses tragen lassen und erklommen<br />

auf Umwegen, um ni<strong>ch</strong>t bemerkt zu werden, eine Felsspitze oberhalb des S<strong>ch</strong>losses.<br />

Dort lagerten sie, verzehrten ihre Mundvorräte und s<strong>ch</strong>liefen mehrere Stunden, um erst bei Sonnenuntergang<br />

ihren Plan auszuführen.<br />

Die Felsplatte, auf der sie lagerten, war dur<strong>ch</strong> eine tiefe Senke vom S<strong>ch</strong>loss getrennt. Früher<br />

hatte eine steinerne Brücke den Eingang des S<strong>ch</strong>losses mit dem Berg verbunden, do<strong>ch</strong> sie war<br />

beim Erdbeben eingestürzt; nun führte eine behelfsmäßig erri<strong>ch</strong>tete Holzbrücke mit einem weinrot<br />

bemalten Holzgeländer über den Abgrund.<br />

Alonso de Grado ging von der Annahme aus, der Glänzende Harnis<strong>ch</strong> und sämtli<strong>ch</strong>e waffenfähigen<br />

S<strong>ch</strong>lossbewohner befänden si<strong>ch</strong> auf der Pumajagd. Die wenigen zum S<strong>ch</strong>utz der Frauen<br />

zurückgebliebenen Sklaven wollte er vom fla<strong>ch</strong>en Da<strong>ch</strong> des S<strong>ch</strong>losses herunters<strong>ch</strong>ießen, wenn<br />

si<strong>ch</strong> dort die Gattinnen des jungen Kaziken zur Abendmahlzeit versammelten. Do<strong>ch</strong> die Sonne<br />

sank, und weder Diener no<strong>ch</strong> Frauen waren auf dem S<strong>ch</strong>lossda<strong>ch</strong> zu sehen.<br />

»Da stimmt etwas ni<strong>ch</strong>t«, knurrte der hinkende Steuermann. »Euer Kuppler, Freund Grado,<br />

hat Eu<strong>ch</strong> und uns alle zum Besten gehalten!«<br />

»Ja, es ist unheimli<strong>ch</strong>. Ni<strong>ch</strong>ts regt si<strong>ch</strong> in diesem Gespensters<strong>ch</strong>loss. Lasst uns na<strong>ch</strong> Veracruz<br />

zurückkehren«, s<strong>ch</strong>lug der einstige Reitkne<strong>ch</strong>t des Grafen von Urueña vor.<br />

Im glei<strong>ch</strong>en Augenblick glitt ein Baumsta<strong>ch</strong>els<strong>ch</strong>wein vom Stamm einer Weißtanne und kullerte<br />

Baracoa vor die Füße, verzweifelt mit dem Greifs<strong>ch</strong>wanz und den s<strong>ch</strong>warzen Krallen um si<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>lagend. Baracoa war ers<strong>ch</strong>rocken aufgesprungen und rannte zum Saumpfad, der zu den Sänften<br />

hinabführte.<br />

»Seht do<strong>ch</strong> den Prahlhans«, höhnte Alonso de Grado. »S<strong>ch</strong>lottert wie Espenlaub, will seine<br />

werte Person in Si<strong>ch</strong>erheit bringen, will abhauen mit seinen zu kurzen Beinen, will seine Gefährten<br />

im Sti<strong>ch</strong> lassen! Ihr seid mir ein prä<strong>ch</strong>tiger Held, Baracoa!«<br />

Bes<strong>ch</strong>ämt und wütend kehrte Baracoa zurück. Mit dem Kolben seiner Muskete s<strong>ch</strong>lug er<br />

na<strong>ch</strong> dem zur Sta<strong>ch</strong>elkugel aufgeplusterten Tier.<br />

»I<strong>ch</strong> will dir ein Geheimnis verraten, mein Bruder«, raunte Beatriz de Acevedo. »Unter dem<br />

S<strong>ch</strong>losstor hausen vier Gespenster: ein toter Hund, ein toter Affe, ein toter Hahn und ein toter<br />

Mens<strong>ch</strong>...«<br />

»I<strong>ch</strong> hoffe sehr, dass wir heute mehr na<strong>ch</strong> Hause bringen als ein Sta<strong>ch</strong>els<strong>ch</strong>wein – wenn's<br />

au<strong>ch</strong> Indianerinnen gibt, die si<strong>ch</strong> wie Sta<strong>ch</strong>els<strong>ch</strong>weine benehmen, sobald man sie strei<strong>ch</strong>eln und<br />

häts<strong>ch</strong>eln will«, brummte der stelzfüßige Steuermann. »Worauf warten wir eigentli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong>, Señor<br />

Grado? Man hat uns hier oben gesehen – das ist klar! Und man will uns und unseren Musketen


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 213<br />

den liebli<strong>ch</strong>en Anblick ni<strong>ch</strong>t gönnen. Eine Mahlzeit lässt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> im Innern des S<strong>ch</strong>losses einnehmen.<br />

Wir sind wohl Manns genug, uns selbst einzuladen, wenn man uns ni<strong>ch</strong>t zu Tis<strong>ch</strong> bitten<br />

will!«<br />

»Und wenn das Tor vers<strong>ch</strong>lossen ist...?« Alonso de Grado zauderte.<br />

»A<strong>ch</strong> was! Tore und Frauen sind dazu da, überwunden zu werden«, erklärte Gonzalo de<br />

Umbría. »I<strong>ch</strong> kenne keinen Mann, der das ni<strong>ch</strong>t wagt! Wir sollten es versu<strong>ch</strong>en – das S<strong>ch</strong>loss ist<br />

nur von Frauen bewa<strong>ch</strong>t.«<br />

Er hatte si<strong>ch</strong> erhoben und stelzte voraus. Die anderen folgten ihm den Steig hinab über die<br />

Holzbrücke. Als sie si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> auf der Brücke, aber s<strong>ch</strong>on nahe am Tor befanden, hörten sie Stimmen<br />

über si<strong>ch</strong>.<br />

»Verdammt«, knirs<strong>ch</strong>te Alonso de Grado und zeigte aufs Da<strong>ch</strong>. Dort stand der Glänzende<br />

Harnis<strong>ch</strong> mit zwanzig speerbewaffneten Kriegern. Der junge Indianer, der in Veracruz den Überfall<br />

erlaus<strong>ch</strong>t hatte, war s<strong>ch</strong>on vor einiger Zeit eingetroffen und hatte den Glänzenden Harnis<strong>ch</strong> gewarnt.<br />

Mit wildem Kriegsges<strong>ch</strong>rei s<strong>ch</strong>leuderten die Krieger ihre Speere auf die Räuber herab. Wie<br />

dur<strong>ch</strong> ein Wunder blieben Alonso de Grado und Pedro Baracoa unversehrt. Beatriz de Acevedo<br />

wurde der Obers<strong>ch</strong>enkel dur<strong>ch</strong>bohrt. Mit irrem La<strong>ch</strong>en zog sie si<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>aft aus der Wunde.<br />

Dann aber verlor sie das Bewusstsein und sank zu Boden. Dem Steuermann, der mit der Re<strong>ch</strong>ten<br />

das Brückengeländer umklammert gehalten hatte, traf ein Speer in die Hand und nagelte sie am<br />

Holz fest. Gonzalo de Umbría s<strong>ch</strong>rie vor S<strong>ch</strong>merzen auf, do<strong>ch</strong> trotz verzweifelter Anstrengungen<br />

vermo<strong>ch</strong>te er den Speer ni<strong>ch</strong>t aus dem Holz zu ziehen. Alonso de Grado und Pedro Baracoa flohen<br />

über die Brücke zum Felsenpfad zurück, wo sie hinter Gestrüpp Deckung su<strong>ch</strong>ten. Die Mexica<br />

waren ni<strong>ch</strong>t mehr zu sehen, do<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong> darauf war das Tap-Tap-Tap ihrer nackten Füße zu vernehmen,<br />

und man hörte sie im S<strong>ch</strong>lossinnern die Treppe herabspringen – näher und näher kommend.<br />

»Ihr Feiglinge«, brüllte der Steuermann den beiden im Gebüs<strong>ch</strong> versteckten Gefährten zu.<br />

»I<strong>ch</strong> will mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t fressen lassen! Kommt zurück und hackt mir die Hand ab! I<strong>ch</strong> würde es selber<br />

tun, do<strong>ch</strong> das kann i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mit dem kurzen Messer... Ers<strong>ch</strong>ießt mi<strong>ch</strong>, ihr feigen Hunde! I<strong>ch</strong> will<br />

ni<strong>ch</strong>t auf ihrem Opferstein enden! Ers<strong>ch</strong>ießt mi<strong>ch</strong>, erweist mir diesen Freunds<strong>ch</strong>aftsdienst!«<br />

Alonso de Grado wagte si<strong>ch</strong> bis auf die Mitte der Brücke vor, wo ihn der Mut verließ. Er<br />

bra<strong>ch</strong>te es ni<strong>ch</strong>t über si<strong>ch</strong>, dem Gefährten die Hand abzuhauen oder ihn zu ers<strong>ch</strong>ießen. Entsetzt<br />

floh er mit Baracoa. Gonzalo de Umbría sah ihnen na<strong>ch</strong>, wie sie den Felsenpfad hinunterjagten ins<br />

Tal, dort, wo die tlamamas mit den Sänften warteten.<br />

Da nahm der Steuermann sein Messer und s<strong>ch</strong>nitt an seiner Hand herum, ohne sie vom Arm<br />

trennen zu können. Vom S<strong>ch</strong>lossda<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>oll helles Frauengelä<strong>ch</strong>ter: die s<strong>ch</strong>öne Frau des Glänzenden<br />

Harnis<strong>ch</strong>es lehnte dort mit ihren Sandalenbinderinnen über der Brustwehr des Söllers. Ihr<br />

junger Gatte und seine Begleiter stürmten glei<strong>ch</strong> darauf aus dem Tor und nahmen den weißen<br />

Mann und die weiße Frau gefangen.<br />

Cortés befahl dem Läufer und Orteguilla Stills<strong>ch</strong>weigen, nur seine Feldobristen ma<strong>ch</strong>te er mit<br />

dem Inhalt von Escalantes Brief bekannt. Die Manns<strong>ch</strong>aft durfte ni<strong>ch</strong>t erfahren, dass es eine Gefahr<br />

im Rücken gab. Denn trotz aller Erfolge war si<strong>ch</strong> Cortés no<strong>ch</strong> immer ni<strong>ch</strong>t seines Heeres si<strong>ch</strong>er.<br />

Neben den treuen und kühnen Draufgängern gab es au<strong>ch</strong> Müde und Satte, die ihren in<br />

Cholula erplünderten Rei<strong>ch</strong>tum in Si<strong>ch</strong>erheit bringen wollten. Heimli<strong>ch</strong>e Widersa<strong>ch</strong>er und Aufwiegler<br />

warteten nur auf die günstigste Gelegenheit, die Funken in der As<strong>ch</strong>e neu anzufa<strong>ch</strong>en. Und<br />

dann waren da no<strong>ch</strong> die Vorsi<strong>ch</strong>tigen und Ängstli<strong>ch</strong>en, denen vor Mexico graute, wenn sie es au<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t offen eingestanden. Je näher das Wunderland in den Gesi<strong>ch</strong>tskreis rückte, je deutli<strong>ch</strong>er die<br />

Anzei<strong>ch</strong>en wurden, dass Cortés tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> dort einfallen würde, umso größer wurde die Zahl der<br />

Zaghaften.<br />

Unter dem Vorwand, die Totonaken litten an Heimweh und das Herannahen der Spanier in<br />

Begleitung so vieler Hilfstruppen könne Moctezuma argwöhnis<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en, s<strong>ch</strong>ickte Cortés<br />

Cuhextecatl, den S<strong>ch</strong>wager des Hauptmanns Tapia, mit dem größten <strong>Teil</strong> des totonakis<strong>ch</strong>en Heeres<br />

an die Küste zurück; nur Tehu<strong>ch</strong> und zweihundert Totonaken behielt er bei si<strong>ch</strong>. Er gab<br />

Cuhextecatl einen Brief an Escalante mit, worin er diesen ermahnte, allen Herausforderungen zum<br />

Trotz Frieden zu wahren und eine Aussöhnung mit der Sengenden Glut herbeizuführen. Sobald<br />

dies ges<strong>ch</strong>ehen sei, solle er ihm Alonso de Grado und Pedro Baracoa ausliefern; er wolle sie vor


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 214<br />

ein Kriegsgeri<strong>ch</strong>t stellen.<br />

Während das Christenheer neben einem s<strong>ch</strong>aumweiß donnernden Gebirgsba<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>roffe<br />

Straße in die Kordilleren aufwärts zog, stolzierte der Kämmerer Rodrigo Rangel neben dem Rappen<br />

Romo einher und stellte, na<strong>ch</strong> Luft s<strong>ch</strong>nappend, folgende Betra<strong>ch</strong>tungen an:<br />

»Euer Liebden haben in Cholula einen ruhmrei<strong>ch</strong>en Sieg errungen und gezeigt, dass unser<br />

Christenheer das Waffenhandwerk versteht. Die Waffenehre geht, wie man weiß, den Hispaniern<br />

über alles, au<strong>ch</strong> ist ihre Ges<strong>ch</strong>ickli<strong>ch</strong>keit und Tapferkeit so groß, dass man si<strong>ch</strong> fragen könne, ob<br />

im Streit die Hispanier oder die überall gefür<strong>ch</strong>teten S<strong>ch</strong>weizer Söldner den Vorzug verdienen.<br />

Do<strong>ch</strong> unsere Hispanier taugen ni<strong>ch</strong>t viel in handwerkli<strong>ch</strong>er Betätigung, denn jedermann hegt die<br />

Einbildung, ein Edelmann zu sein. Man ist lieber bei geringem Einkommen Soldat oder Diener eines<br />

Granden oder gar Wegelagerer, als dass man einer mühseligen Arbeit na<strong>ch</strong>ginge. Do<strong>ch</strong> Euere<br />

Liebden hat den Soldaten in Cholula das geringe Einkommen aufgebessert. Wäre ja au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ade,<br />

wenn all die s<strong>ch</strong>önen Dinge in Feuer und As<strong>ch</strong>e dahingesunken wären. So s<strong>ch</strong>leppen sie nun mit<br />

Lust das Erbeutete über diese steilen Berge. Euer Liebden wissen au<strong>ch</strong>, dass unsere Freunde, die<br />

Totonaken, ihre Beute ni<strong>ch</strong>t aus Cholula fortzus<strong>ch</strong>leppen vermo<strong>ch</strong>ten und si<strong>ch</strong> einige Hundert<br />

Lastträger von den Cholulteken ausbitten mussten. Alle Kriege von den Zeiten der alten Ägypter<br />

bis auf unsere Tage hätten si<strong>ch</strong> verhüten lassen, wäre man stets so human verfahren, die Gegner<br />

um tlamamas zu bitten, damit sie einem die Beute ohne Zerstörungskrieg na<strong>ch</strong> Hause tragen!<br />

S<strong>ch</strong>leppte ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> der Erlöser sein Kreuz selber na<strong>ch</strong> Golgatha? Aber die Völker ma<strong>ch</strong>en's just<br />

umgekehrt: Erst lassen sie si<strong>ch</strong> kreuzigen, und hinterher tragen sie ihr Kreuz!«<br />

So spra<strong>ch</strong> Rodrigo Rangel.<br />

Der Popocatépetl (aztekis<strong>ch</strong>: rau<strong>ch</strong>ender Berg) ist ein heute no<strong>ch</strong> aktiver Vulkan in der »Mesa de Anáhuac« und<br />

befindet si<strong>ch</strong> 65 Kilometer von Mexiko-Stadt entfernt. Mit einer Höhe von 5452 Metern ist er einer der hö<strong>ch</strong>sten<br />

Vulkane der Welt. Der Dur<strong>ch</strong>messer des Kraters beträgt 900 Meter und die Tiefe 150 Meter. Der Popocatépetl ist<br />

zirka 700‘000 Jahre alt. Für die indigene Bevölkerung gilt der Popocatépetl immer no<strong>ch</strong> als ein göttli<strong>ch</strong>es Wesen<br />

und bringen ihm man<strong>ch</strong>mal no<strong>ch</strong> Opfergaben dar (Quelle:Centro Nacional de Prevención de Desastres).<br />

Die Ebene jenseits der ersten Gebirgskette war errei<strong>ch</strong>t. Die beiden s<strong>ch</strong>neebedeckten Riesen, der<br />

Rau<strong>ch</strong>ende Berg und die Weiße Frau, erhoben si<strong>ch</strong> nahe und bedrohli<strong>ch</strong>, standen s<strong>ch</strong>utzbereit vor<br />

Mexico, versperrten den Zugang ins Tal der Verheißung. Do<strong>ch</strong> ein Kampf mit feuers<strong>ch</strong>naubenden<br />

*


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 215<br />

Riesen war genau das unerhörte Abenteuer, wona<strong>ch</strong> es Diego de Ordás verlangte. Dem größeren<br />

der beiden Ungetüme, dem Vulkan Popocatepetl, wollte er den Fuß auf den Nacken setzen und<br />

einen Golds<strong>ch</strong>atz heben, von dem er kürzli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> einen Grenzwä<strong>ch</strong>ter an der Großen Mauer<br />

erfahren hatte.<br />

Ordás verhielt seine Graus<strong>ch</strong>immelstute und wartete, bis Cortés heran war.<br />

»Löst Euer Verspre<strong>ch</strong>en ein, Don Hernándo! Wir stehen am Fuß des Vulkans. Und damals<br />

habt Ihr mi<strong>ch</strong> vertröstet...«<br />

»Ja, i<strong>ch</strong> entsinne mi<strong>ch</strong>. Was erhofft Ihr Eu<strong>ch</strong> eigentli<strong>ch</strong> davon, Don Diego?«<br />

Bisher hatte Ordás sein Geheimnis eifersü<strong>ch</strong>tig gewahrt. Jetzt durfte er es preisgeben.<br />

»Dort oben ist ein See aus flüssigem Gold, Don Hernándo!«<br />

»Den wollt Ihr auss<strong>ch</strong>öpfen? Alle Wetter!«<br />

»I<strong>ch</strong> weiß au<strong>ch</strong>, dass man einen See ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>öpfen kann! Aber einen stattli<strong>ch</strong>en Goldklumpen<br />

hoffe i<strong>ch</strong> als Probe herunter zu bringen. Hernán Martín hat mir einen eisernen Eimer und<br />

eine Eisenkette ges<strong>ch</strong>miedet. Was s<strong>ch</strong>munzelt Ihr? Glaubt Ihr, i<strong>ch</strong> werde auf halbem Weg umkehren?«<br />

»Nein, nein – Ihr ma<strong>ch</strong>t keine halben Sa<strong>ch</strong>en, Don Diego! Versu<strong>ch</strong>t es nur. Es wird Aufsehen<br />

erregen in Mexico, dass ein weißer Krieger si<strong>ch</strong> hinaufgewagt hat, wo die höllis<strong>ch</strong>en Kessel brodeln!<br />

Nehmt ein paar Otomis mit.«<br />

A<strong>ch</strong>t Tlatepoca, geübte Bergsteiger, wählte Ordás als Begleiter. Außerdem nahm er den alten<br />

bocksgesi<strong>ch</strong>tigen Musketier Heredia mit. Und um si<strong>ch</strong> mit den Tlatepoca verständigen zu können,<br />

veranlasste er au<strong>ch</strong> Doña Elvira Cano, des S<strong>ch</strong>önhändigen Gattin, an der Ersteigung des<br />

Vulkans teilzunehmen.<br />

Der Popocatepetl trug unterhalb seiner S<strong>ch</strong>neemütze einen Gürtel aus brands<strong>ch</strong>warzem<br />

Lavakies; darunter ein smaragdgrünes Band leu<strong>ch</strong>tender Alpenmatten; seine unterste Zone aber<br />

war dunkelgoldgrün, ein Wald aus urwü<strong>ch</strong>sigen Zypressen und Zedern.<br />

Ordás hatte seine Ritterrüstung und den Helm zurückgelassen, nur auf die Hieb- und Sti<strong>ch</strong>waffen<br />

wollte er ni<strong>ch</strong>t verzi<strong>ch</strong>ten: die baumlange Ritterlanze benutzte er als Bergstock. Na<strong>ch</strong> einstündigem<br />

Aufwärtsklettern jedo<strong>ch</strong> entledigte er si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> seines ockergelben Mantels,<br />

seines Lederwamses, seines großen Kragens und seines S<strong>ch</strong>wertes mitsamt S<strong>ch</strong>wertgehenk und<br />

bürdete alles den tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Begleitern auf, die s<strong>ch</strong>on die Mundvorräte, den eisernen Eimer<br />

und die Kette s<strong>ch</strong>leppen mussten.<br />

Einer der Tlatepoca ging voraus. Er kannte si<strong>ch</strong> gut aus im Waldgebirge. Der Letzte war der<br />

alte Heredia, der den Bergen wenig abzugewinnen vermo<strong>ch</strong>te; keu<strong>ch</strong>end blieb er immer weiter<br />

hinter den anderen zurück, und als die Waldzone überstiegen war, war er ni<strong>ch</strong>t mehr zu erblicken.<br />

Ordás s<strong>ch</strong>ickte zwei Tlatepoca zurück, ihn zu su<strong>ch</strong>en. Mehr tragend und an den Armen stützend<br />

s<strong>ch</strong>leppten sie ihn wieder vor Ordás. S<strong>ch</strong>weißtriefend erklärte der alte Musketier, er könne ni<strong>ch</strong>t<br />

weiter, er habe seine Kräfte übers<strong>ch</strong>ätzt.<br />

Da es bereits Na<strong>ch</strong>mittag war und der Aufstieg bis zum Kraterrand am selben Tag ni<strong>ch</strong>t<br />

mehr bewältigt werden konnte, bes<strong>ch</strong>loss Ordás, auf einer Wiese das Na<strong>ch</strong>tlager aufzus<strong>ch</strong>lagen.<br />

Glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Sonnenaufgang bra<strong>ch</strong>en sie wieder auf. Die Täler unter ihnen lagen no<strong>ch</strong> im Dunkeln,<br />

aber die S<strong>ch</strong>neespitzen und Felsköpfe über ihnen loderten golden und rot. Der Aufstieg wurde<br />

immer s<strong>ch</strong>wieriger. Geröll und steile, s<strong>ch</strong>roffe Halden mussten überwunden werden. Als endli<strong>ch</strong><br />

der Lavasand errei<strong>ch</strong>t war, bra<strong>ch</strong> Doña Elvira Cano ers<strong>ch</strong>öpft zusammen, und au<strong>ch</strong> Heredia erklärte,<br />

er sei am Ende seiner Kräfte.<br />

Ordás flu<strong>ch</strong>te, do<strong>ch</strong> Heredia sagte grinsend: »Gebt auf, Señor Teniente! Es wäre do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ade...«<br />

»I<strong>ch</strong> bin Capitán, kein Teniente! Was wäre s<strong>ch</strong>ade?«<br />

»Wenn der Teufel Eu<strong>ch</strong> dort oben holen würde!«<br />

»Aha! Das ist es also! Ihr habt Angst«, grollte Ordás.<br />

»I<strong>ch</strong> habe ein junges Weib, Señor. Wollt Ihr viellei<strong>ch</strong>t, dass sie Witwe wird und mi<strong>ch</strong> beweint?«<br />

»Eu<strong>ch</strong>?« Der sonst so ernste Ordás la<strong>ch</strong>te auf. Do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ien er einzusehen, dass er den Alten<br />

nie bis zum Krater bringen würde. So ließ er ihn bei Doña Elvira auf seine Rückkehr warten.<br />

Mit den Tlaxcalteken klomm Ordás weiter hinauf und gelangte zum ewigen S<strong>ch</strong>nee. Die Indianer<br />

banden si<strong>ch</strong> Baumwolltü<strong>ch</strong>er um die Füße und umwickelten au<strong>ch</strong> Ordás' Sohlen, obglei<strong>ch</strong> er


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 216<br />

si<strong>ch</strong> anfangs gesträubt hatte. Der feste, von Sonnenstrahlen verhars<strong>ch</strong>te S<strong>ch</strong>nee hielt stand, blendete<br />

die Augen jedo<strong>ch</strong> mit weiß gleißendem Li<strong>ch</strong>t. Dunkelviolett, fast s<strong>ch</strong>warz ers<strong>ch</strong>ienen die<br />

S<strong>ch</strong>nees<strong>ch</strong>atten.<br />

Na<strong>ch</strong> Westen hin war der Blick unversperrt. Dort lagen das Land der Seen, der Garten<br />

Anahuac, Tezcoco und Teno<strong>ch</strong>titlán. Do<strong>ch</strong> gewahrte man ni<strong>ch</strong>t mehr als ein fernes Flimmern. Und<br />

selbst wenn Ordás hätte sehen können, er hätte ni<strong>ch</strong>ts wahrgenommen: Als Sklave seines Traumziels<br />

war er blind für Naturs<strong>ch</strong>önheiten. Außerdem fraß si<strong>ch</strong> die Kälte des S<strong>ch</strong>nees in die Fußsohlen,<br />

und die Sonne brannte wie ein überhitzter Eisenofen von Himmel. Die Bergkrankheit umnebelte<br />

Ordás' Sinne, brauste in seinen Ohren, dörrte den Gaumen aus und ers<strong>ch</strong>werte das Atmen. In<br />

immer kürzeren Abständen musste der Aufstieg unterbro<strong>ch</strong>en werden, musste das rasend stürmende<br />

Herz si<strong>ch</strong> beruhigen.<br />

Endli<strong>ch</strong> stand Ordás auf dem siebzehntausenda<strong>ch</strong>thundert Fuß hohen Kraterrand. Er blickte<br />

eine Zeit lang in die Tiefe, musste seine Augen jedo<strong>ch</strong> erst wieder daran gewöhnen, Bilder aufzunehmen,<br />

und s<strong>ch</strong>loss die Lider. Na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> verlor si<strong>ch</strong> das rote Flimmern, und endli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lug<br />

er die Augen auf und konnte er in den Krater blicken.<br />

Über die gelbgrünen S<strong>ch</strong>wefelfelsen und grauen Lavaklötze des Kraterrandes hingen<br />

mannsdicke, glets<strong>ch</strong>erblau gefrorene Eiszapfen in die brodelnde Tiefe hinab. Dort unten aber<br />

brandete das erzene Meer. Wie von einem Sturm gepeits<strong>ch</strong>t rollten haushohe Metallwogen, bra<strong>ch</strong>en<br />

si<strong>ch</strong> aufs<strong>ch</strong>äumend und zis<strong>ch</strong>end am Felsenufer. Ein See von mehr als tausend Fuß Dur<strong>ch</strong>messer<br />

leu<strong>ch</strong>tete zu ihnen herauf, obglei<strong>ch</strong> kein Sonnenstrahl zu ihm hinunter drang. Kein irdis<strong>ch</strong>er<br />

S<strong>ch</strong>iffer hätte auf diesen Fluten aus purem ges<strong>ch</strong>molzenem Gold rudern und segeln können.<br />

Ordás war auf diesen Anblick gefasst, do<strong>ch</strong> auf den Gesi<strong>ch</strong>tern seiner indianis<strong>ch</strong>en Begleiter<br />

zeigte si<strong>ch</strong> Entsetzten. Sie fielen auf die Knie und begannen laut zu beten. Ordás bea<strong>ch</strong>tete sie<br />

ni<strong>ch</strong>t; methodis<strong>ch</strong> ging er ans Werk. Na<strong>ch</strong>dem er einen überhängenden Felsen ausfindig gema<strong>ch</strong>t<br />

hatte, ließ er den eisernen Eimer an der langen Eisenkette und dem no<strong>ch</strong> viel längeren Hanfseil<br />

hinunter. Das Hinabgleiten erforderte viel Zeit, ebenso das Emporziehen. Es dauerte so lange,<br />

dass der heiße und kostbare Inhalt des Eimers, der an den säulendicken Eiszapfen entlang<br />

emporgehievt wurde, erkalten konnte. Als der Eimer s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> oben anlangte, hatte si<strong>ch</strong> Gold in<br />

graue Lavas<strong>ch</strong>lacke verwandelt.<br />

Die Tlatepoca s<strong>ch</strong>auten einander verstohlen an: Ihre Götter ließen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t bestehlen!<br />

Ordás aber stieß mit einem Fußtritt den Eimer in den See aus Gold. Die Kastilier werden si<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>ütteln vor La<strong>ch</strong>en! da<strong>ch</strong>te er und zwirbelte bedrückt an seinem langen S<strong>ch</strong>nurrbart. Er war es<br />

gewohnt, dass das S<strong>ch</strong>icksal ihn narrte. Do<strong>ch</strong> ohne Beweis, den Gipfel erklommen zu haben, wollte<br />

er ni<strong>ch</strong>t zurückkehren. Er ließ einen der riesigen Eiszapfen abbre<strong>ch</strong>en, um Cortés wenigstens<br />

etwas Brau<strong>ch</strong>bares mitzubringen. Vier Tlaxcalteken mussten den baumlangen Stalaktiten, in Mäntel<br />

gewickelt, in die Tiefe tragen.<br />

Der Abstieg ging ras<strong>ch</strong>er vonstatten, war aber ni<strong>ch</strong>t weniger anstrengend. Ordás war ni<strong>ch</strong>t<br />

mehr der Jüngste; bei jedem S<strong>ch</strong>ritt verspürte er S<strong>ch</strong>läge im Rücken, die Kniegelenke begannen<br />

zu s<strong>ch</strong>merzen, und allmähli<strong>ch</strong> wurden die Beinmuskeln hart. So war er erlei<strong>ch</strong>tert, als sie den Ort<br />

ihres Na<strong>ch</strong>tlagers errei<strong>ch</strong>ten, wo sie Doña Elvira und den alten Heredia zurückgelassen hatten. Sie<br />

trafen Doña Elvira allein an. Der alte Heredia hatte si<strong>ch</strong> aus dem Staub gema<strong>ch</strong>t. Er hatte vorgegeben,<br />

deutli<strong>ch</strong> ein unterirdis<strong>ch</strong>es Rollen zu hören und erklärt, er habe keine Lust, si<strong>ch</strong> von seinem<br />

jungen Weib betrauern zu lassen.<br />

Ordás brau<strong>ch</strong>te eine Pause. Der lange Eiszapfen wurde ins Gras gelegt, die Mundvorräte<br />

ausgebreitet. Ordás, Doña Elvira und die a<strong>ch</strong>t Tlaxcalteken setzten si<strong>ch</strong> nieder, um das Mittagsmahl<br />

einzunehmen.<br />

Na<strong>ch</strong> der darauf folgenden Siesta war die Sonne vom Meridian weit na<strong>ch</strong> Westen gewandert.<br />

Als Ordás den Abstieg ins Tal fortsetzen wollte, stellte si<strong>ch</strong> heraus, dass der große Eiszapfen<br />

vers<strong>ch</strong>wunden war; nur die nassen Mäntel zeigten no<strong>ch</strong> an, wo er gelegen hatte.<br />

*<br />

Gegen den Rat der Kaziken aus Huexotzinco und Tepeaca hatte Cortés si<strong>ch</strong> für den engen, mittleren<br />

der drei Wege zwis<strong>ch</strong>en der Weißen Frau und dem Rau<strong>ch</strong>enden Berg ents<strong>ch</strong>ieden. Seine


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 217<br />

Kunds<strong>ch</strong>after hatten festgestellt, dass die breite südli<strong>ch</strong>e Straße von übereinander ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>teten<br />

Baumstämmen blockiert war, während große Steinblöcke die nördli<strong>ch</strong>e Passage na<strong>ch</strong> Chalco und<br />

Tezcoco ers<strong>ch</strong>werten. Nur no<strong>ch</strong> ein letzter, allerdings sehr steiler Bergsattel trennte das Heer vom<br />

Tal der Verheißung.<br />

Am S<strong>ch</strong>eideweg verabs<strong>ch</strong>iedete si<strong>ch</strong> die Blaue Feder. Es war ihm ni<strong>ch</strong>t geglückt, Cortés zu<br />

einem Besu<strong>ch</strong> Tezcocos zu überreden. Der junge König hatte im Waldgebirge eine heimli<strong>ch</strong>e Zusammenkunft<br />

mit seinem Bruder Felsens<strong>ch</strong>lange, dem S<strong>ch</strong>lagenden Falken und dem Gefleckten<br />

Berglöwen, die no<strong>ch</strong> immer als Jäger verkleidet dort umherstreiften. Ein Landarbeiter zeigte ihm<br />

den Weg in die Waldhütte, die Felsens<strong>ch</strong>lange als Treffpunkt vorges<strong>ch</strong>lagen hatte.<br />

Seit dem Bruderkrieg vor den Toren Tezcocos war es das erste Wiedersehen der Brüder.<br />

Damals hatte ein mexicanis<strong>ch</strong>er Vermittler den Frieden arrangiert: Dem Edlen Betrübten war die<br />

Hauptstadt Tezcoco und ein Streifen am See, der Blauen Feder das umfangrei<strong>ch</strong>e Gebirgsland<br />

zugeteilt worden.<br />

Jetzt fielen die Brüder si<strong>ch</strong> in die Arme, als hätten sie si<strong>ch</strong> nie mit Speer und S<strong>ch</strong>ild gegenübergestanden.<br />

Aber au<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>lagende Falke und die Blaue Feder wollten si<strong>ch</strong> verbünden,<br />

wurde do<strong>ch</strong> mit jedem Tag die Handlungsweise Moctezumas rätselhafter. Die neueste Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t<br />

aus Teno<strong>ch</strong>titlán besagte, der Zornige Herr habe die Prinzessin Perlendiadem eingekerkert und<br />

wolle sie opfern lassen, falls sie ni<strong>ch</strong>t einwillige, den Verräter Tempelhüter aus Huexotzinco zu<br />

heiraten!<br />

Der S<strong>ch</strong>lagende Falke und sein Sklave trennten si<strong>ch</strong> von den Brüdern und kehrten in ihr<br />

Versteck am S<strong>ch</strong>ilfsee zurück. Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange forderte seinen Bruder im Auftrag ihrer Mutter,<br />

der Herrin von Tula, auf, mit na<strong>ch</strong> Tezcoco zu kommen, und Blaue Feder war sofort bereit dazu.<br />

So nahm er von Cortés und den Hauptleuten Abs<strong>ch</strong>ied. Er verspra<strong>ch</strong>, am Seeufer wieder zum<br />

Heer zu stoßen.<br />

Felsens<strong>ch</strong>lange und die Blaue Feder errei<strong>ch</strong>ten Tezcoco gegen Abend. S<strong>ch</strong>on am Stadttor<br />

bemerkten sie die Veränderung; Tezcoco prangte im S<strong>ch</strong>muck der Lilien und Standarten. Die<br />

Stadt, in deren Mauern no<strong>ch</strong> vor wenigen Tagen ein erbitterter Volksaufstand gewütet hatte, feierte<br />

die Errettung, die glückli<strong>ch</strong>e Flu<strong>ch</strong>t der Prinzessin Perlendiadem aus dem Ort der S<strong>ch</strong>ergen, dem<br />

Gefängnis Teno<strong>ch</strong>titláns. Eilig wandten si<strong>ch</strong> die beiden zum Palast. Dort erfuhren sie, dass Perlendiadem<br />

und die Herrin von Tula si<strong>ch</strong> in Tezcotzinco befänden, dem außerhalb Tezcocos gelegenen<br />

einstigen Lusts<strong>ch</strong>loss des Herrn des Fastens. Ohne weiteren Aufenthalt begaben sie si<strong>ch</strong><br />

zu der felsigen, wie ein Kap in die Lagune ragenden Landzunge von Tezcotzinco am silbrig<br />

s<strong>ch</strong>immernden Ufer des S<strong>ch</strong>ilfsees. Dort, hinter den turmhohen Steinmauern des alten Parks, hatte<br />

der Herr des Fastens das letzte halbe Jahr seines Lebens verbra<strong>ch</strong>t, hatte na<strong>ch</strong>ts Zwiespra<strong>ch</strong>e<br />

mit dem im Sternenglanz strahlenden Himmel gehalten und unter uralten Zypressen die Tage mit<br />

ges<strong>ch</strong>wätzigen Papageien, lärmenden Affen, still daliegenden Fis<strong>ch</strong>tei<strong>ch</strong>en und pläts<strong>ch</strong>ernden<br />

Springbrunnen verbra<strong>ch</strong>t – begleitet von einem gebeugten Greis, dem Grauen Honigbär, der na<strong>ch</strong><br />

des Königs Hingang in Teno<strong>ch</strong>titlán als Zauberer gelebt und si<strong>ch</strong> Sacusín genannt hatte.<br />

Das kleine Lusts<strong>ch</strong>loss wurde von Fackeln erhellt; auf den sanften Wellen des S<strong>ch</strong>ilfsees<br />

spiegelte si<strong>ch</strong> ihr roter, flackernder S<strong>ch</strong>ein. Blaue Feder und Felsens<strong>ch</strong>lange begrüßten Mutter und<br />

S<strong>ch</strong>wester mit Rührung und Freude. Die Herrin von Tula führte sie in den S<strong>ch</strong>langensaal, wo eine<br />

Überras<strong>ch</strong>ung warte, wie sie geheimnisvoll andeutete. Bei ihrem Eintreten erhob si<strong>ch</strong> der Edle<br />

Betrübte. S<strong>ch</strong>on seit geraumer Zeit hatte er si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Verständigung gesehnt; nur sein Stolz hielt<br />

ihn bisher davon ab, den ersten S<strong>ch</strong>ritt zu tun. Der Herrin von Tula jedo<strong>ch</strong> war es ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>wer<br />

gefallen, ihn zur Zusammenkunft mit seinen Brüdern zu überreden.<br />

Die jüngsten Ges<strong>ch</strong>ehnisse in Teno<strong>ch</strong>titlán hatten ihn na<strong>ch</strong>denkli<strong>ch</strong> gestimmt und einen Gesinnungswe<strong>ch</strong>sel<br />

herbeigeführt. Zwar war und blieb er, der die Krone der Stadt Tezcoco trug, ein<br />

Vasall Teno<strong>ch</strong>titláns und fühlte si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> als Mexica, denn zu lange hatte er die Luft des Huei-<br />

Tecpan geatmet. Do<strong>ch</strong> Moctezuma a<strong>ch</strong>tet er ni<strong>ch</strong>t mehr. Oft wandelt si<strong>ch</strong> enttäus<strong>ch</strong>te Liebe in<br />

Hass. Wie Cuauhtémoc war au<strong>ch</strong> der Edle Betrübte um Maisblume betrogen worden, und in seinem<br />

Herzen nagte S<strong>ch</strong>merz. Mit Goldkolibri, der reizlosen zweiten To<strong>ch</strong>ter des Zornigen Herrn,<br />

führte er keine glückli<strong>ch</strong>e Ehe – ni<strong>ch</strong>t um ihretwillen, sondern um Maisblume zu erringen, hatte er<br />

den Hort von Tezcoco na<strong>ch</strong> Mexico gebra<strong>ch</strong>t. Es reute ihn, dass er dem Zornigen Herrn das Gold<br />

seiner Ahnen ausgeliefert hatte, ohne die Geliebte als Preis des Handels zu erringen. Er hatte geglaubt,<br />

den S<strong>ch</strong>atz vor der Blauen Feder retten zu müssen; und nun war er ni<strong>ch</strong>t fähig, das Gold


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 218<br />

Tezcocos vor der Habgier Moctezumas zu retten. Aber er hatte au<strong>ch</strong> erfahren, dass der S<strong>ch</strong>lagende<br />

Falke als Vorsteher des Hauses der Edelsteine si<strong>ch</strong> geweigert hatte, den S<strong>ch</strong>atz anzutasten; er<br />

sei deshalb in Ungnade gefallen und verbannt worden. Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t im S<strong>ch</strong>langenberg<br />

brüstete si<strong>ch</strong> bereits, der Sternenhimmel am Huitzilopo<strong>ch</strong>tliturm werde bald mit Edelsteinen und<br />

Gold überzogen sein. Er deutete an, dass Moctezuma das Erbe des Herrn des Fastens freigegeben<br />

habe, um den Kriegsgott zu besänftigen.<br />

Do<strong>ch</strong> der Edle Betrübte hatte no<strong>ch</strong> andere Gründe, Moctezuma zu zürnen. Der Zornige Herr<br />

hatte seinen missratenen Sohn wegen der Vergewaltigung seiner S<strong>ch</strong>wester bislang ni<strong>ch</strong>t gestraft.<br />

Ni<strong>ch</strong>t vom König, sondern vom S<strong>ch</strong>lagenden Falken war der S<strong>ch</strong>önling Xoctemecl-Purpurkrani<strong>ch</strong>,<br />

der als der Anstifter des Unheils galt, gezü<strong>ch</strong>tigt worden. Cuauhtémoc hatte ihn seiner Nase beraubt<br />

und ihn im Huei-Tecpan gefangen gehalten. Jetzt aber, na<strong>ch</strong> der Verbannung des S<strong>ch</strong>lagenden<br />

Falkens aus der Haft befreit, hatte Xoctemecl den wahren Sa<strong>ch</strong>verhalt aufgedeckt und den<br />

Tempelhüter als den Haupts<strong>ch</strong>uldigen bezei<strong>ch</strong>net – wohl au<strong>ch</strong> in der Hoffnung, dass es dem<br />

S<strong>ch</strong>lagenden Falken zu Ohren kam.<br />

Was heute jeder in der Wasserstadt wusste, musste au<strong>ch</strong> Moctezuma bekannt sein. Do<strong>ch</strong><br />

statt den Tempelhüter zur Verantwortung zu ziehen, hatte er ihm Prinzessin Perlendiadem verspro<strong>ch</strong>en,<br />

des Edlen Betrübten S<strong>ch</strong>wester. Ja, er hatte ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>eut, ihre Einwilligung mit Gewalt<br />

zu erzwingen.<br />

Der Edle Betrübte und Felsens<strong>ch</strong>lange umarmten einander zum Abs<strong>ch</strong>ied. Die Blaue Feder<br />

jedo<strong>ch</strong> wies die dargebotene Hand finster zurück.<br />

»Erst soll mein Bruder unser leeres S<strong>ch</strong>atzhaus wieder füllen!«, rief er und verließ zornig den Saal.<br />

*<br />

Das spanis<strong>ch</strong>e Heer auf dem Mars<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der Stadt Teno<strong>ch</strong>titán, vorne Cortez und Doña Marina,<br />

hinten indianis<strong>ch</strong>e Träger (Bibliothéque Nationale, Paris)


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 219<br />

Auf der Höhe zwis<strong>ch</strong>en dem Rau<strong>ch</strong>enden Berg und der Weißen Frau stand ein riesenhaftes Steinbild<br />

des Gewittergottes aus hellgrauem Bimsstein und blickte ostwärts auf das Land seiner Herrs<strong>ch</strong>aft,<br />

auf das Rei<strong>ch</strong> der Wildbä<strong>ch</strong>e, der Gewitterregen, des S<strong>ch</strong>nees, des Hagels und des krie<strong>ch</strong>enden<br />

Nebels, wo die geringeren Regengötter auf seinen Wink Unwetter hervorriefen.<br />

Diego de Ordás, beim gigantis<strong>ch</strong>en Berggott angelangt, ließ seine Graus<strong>ch</strong>immelstute vers<strong>ch</strong>naufen.<br />

Alonso de Avila, Gonzalo de Sandoval, Francisco de Lugo und die Armbrusts<strong>ch</strong>ützen<br />

der Vorhut sammelten si<strong>ch</strong> hinter ihm und starrten auf das Standbild. Weißgrau verwittert und verwas<strong>ch</strong>en,<br />

zerbröckelte die poröse Lava des Idols; kaum no<strong>ch</strong> erkennbar war der von der Unterlippe<br />

herabhängende S<strong>ch</strong>ilfblätterbart und die brillenähnli<strong>ch</strong>e Augenzier; der linke Arm war abgebro<strong>ch</strong>en<br />

und mit drei großen goldenen Klammern angeflickt. Man konnte zweifeln, ob das Bild ein<br />

mens<strong>ch</strong>enähnli<strong>ch</strong>es Wesen oder ein Tier darstellte, etwa einen zottigen, auf einer viereckigen<br />

Steinplatte sitzenden Bären.<br />

»Das Teufelsbild muss verni<strong>ch</strong>tet werden«, befand Avila und erteilte seine Befehle. Sofort<br />

wurden Vorkehrungen getroffen, die s<strong>ch</strong>weren Goldklammern in Si<strong>ch</strong>erheit zu bringen. Sandoval<br />

und Lugo wollten das ni<strong>ch</strong>t zulassen; zum Mindesten müsse Don Hernándo gefragt werden. Avila<br />

geriet in Wut und behauptete, aus Sandovals Worten den Vorwurf herauszuhören, er wolle die<br />

Goldklammern für si<strong>ch</strong> rauben. Dur<strong>ch</strong> das Gezänk aus seinen Träumereien geweckt, ritt Ordás an<br />

die Statue heran, senkte den Speer und erklärte, den alten Götzen mit seinem Leben verteidigen<br />

zu wollen...<br />

In diesem Augenblick begann es zu s<strong>ch</strong>neien; zuglei<strong>ch</strong> nahten auf dem engen Pfad von<br />

Westen her drei vornehme Mexica. Sie wedelten zum Zei<strong>ch</strong>en des Friedens mit weißen Papierfähn<strong>ch</strong>en<br />

und bra<strong>ch</strong>ten die überras<strong>ch</strong>ende Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t, dass der Herr der Welt, der große Moctezuma<br />

in eigener Person, in der nahen Herberge hinter der Brücke angelangt sei und, umringt von<br />

einem glänzenden Hofstaat, den Enkel Quetzalcoatls erwarte. Dort, wo sonst ers<strong>ch</strong>öpfte Wanderer<br />

S<strong>ch</strong>utz su<strong>ch</strong>ten, an der Grenze Anahuacs, will er ihn willkommen heißen.<br />

Vergessen war der Gewittergott, no<strong>ch</strong> bevor ihn der S<strong>ch</strong>nee zum S<strong>ch</strong>neemann ma<strong>ch</strong>te. Die<br />

unerhörte Kunde musste dem Generalkapitän sofort gemeldet werden. Aber das war unmögli<strong>ch</strong>.<br />

Einzeln hintereinander kletterten die Soldaten den s<strong>ch</strong>malen, steilen Pfad zur Höhe hinauf. Die<br />

Pferde mussten an den Zügeln geführt und alles s<strong>ch</strong>were Material von einheimis<strong>ch</strong>en Trägern ges<strong>ch</strong>leppt<br />

werden. Selbst die Ges<strong>ch</strong>ütze wurden zerlegt und in Einzelteilen bergan befördert. Es war<br />

eine elende Plackerei!<br />

Avila ließ die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t mündli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> hinten weitergeben; sie gelangte von Abteilung zu Abteilung<br />

bis zu Cortés, der an der Spitze der Na<strong>ch</strong>hut Moro den Felsenpfad heraufführte. Der Generalkapitän<br />

erteilte umgehend Befehl, Sandoval solle mit einem <strong>Teil</strong> des Heeres über die Herberge<br />

hinaus mars<strong>ch</strong>ieren und den Weg si<strong>ch</strong>ern; die anderen Hauptleute und Reiter müssten zurückbleiben<br />

und auf ihn warten, damit er mit einer stattli<strong>ch</strong>en Kavalkade vor Moctezuma ers<strong>ch</strong>eine.<br />

Vom großen Götterstandbild bis zur Herberge war es wohl eine halbe Legua; das konnte<br />

normalerweise in einer dreiviertel Stunde zurückgelegt werden. Aber der di<strong>ch</strong>te S<strong>ch</strong>neefall ließ sie<br />

nur langsam vorankommen. Der Felspfad war kaum zu erkennen, und S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t und Bergzacken<br />

vers<strong>ch</strong>wanden im S<strong>ch</strong>neesturm. Hart peits<strong>ch</strong>ten die Eiskristalle in die Gesi<strong>ch</strong>ter und behinderten<br />

die Si<strong>ch</strong>t, Zurufe wurden im messers<strong>ch</strong>arfen Wind unverständli<strong>ch</strong>. Die Männer waren kaum no<strong>ch</strong><br />

imstande, ihre metallenen, frostkalten Waffen in den Händen zu halten.<br />

So s<strong>ch</strong>nell das Unwetter kam, so s<strong>ch</strong>nell war es vorüber. Als sie kurz vor dem Ziel die leise<br />

s<strong>ch</strong>wankende Holzbrücke über eine s<strong>ch</strong>male S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t passierten, waren Mann und Ross zwar von<br />

S<strong>ch</strong>nee und einer Eiskruste bedeckt, do<strong>ch</strong> als Cortés mit seinen Feldobristen und Reitern wenig<br />

später die Herberge errei<strong>ch</strong>te, rissen die Wolken auf und zeigten das Blau des Himmels.<br />

Die Herberge war von Moctezumas Vorgänger König Mol<strong>ch</strong> erbaut worden, um den Handelskarawanen<br />

und Bergwanderern S<strong>ch</strong>utz vor der Kälte und ein Obda<strong>ch</strong> für die Na<strong>ch</strong>t zu gewähren.<br />

Die mexicanis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>utzhütte bestand aus einem einzigen langen Saal mit Rau<strong>ch</strong>fang über<br />

dem Feuerplatz und Matratzen an den Längsseiten. Au<strong>ch</strong> an Matten und Decken fehlte es ni<strong>ch</strong>t.<br />

Ungefähr hundert Mens<strong>ch</strong>en konnten hier Unterkunft finden.<br />

Der Vorplatz war fußho<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>neit. Weil das Eingangstor breit und ho<strong>ch</strong> war, bes<strong>ch</strong>loss


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 220<br />

Cortés mit si<strong>ch</strong>erem Gespür für bühnenreife Wirkungen, mit seinen Feldobristen in den Saal zu<br />

reiten und erst vor Moctezuma abzusteigen, der ihn dort erwartete.<br />

»So werden wir mehr Eindruck auf ihn ma<strong>ch</strong>en, als wenn wir zu Fuß kommen!«, sagte Cortés.<br />

Er war blei<strong>ch</strong> vor Ers<strong>ch</strong>öpfung; trotzdem hatte ihn gespannte Erwartung gepackt. Der große<br />

Augenblick der Erfüllung nahte.<br />

Zwei Soldaten rissen die Torflügel auf, und die Kastilier ritten gemä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> in den Saal. Marina<br />

wurde in ihrer Sänfte hereingetragen. Drinnen loderte ein großes Holzfeuer, und Kienspäne flackerten<br />

in Wandhalterungen. Viele Mens<strong>ch</strong>en drängten si<strong>ch</strong> um einen ho<strong>ch</strong> gewa<strong>ch</strong>senen s<strong>ch</strong>lanken<br />

Mann mit s<strong>ch</strong>ön ges<strong>ch</strong>nittenem, längli<strong>ch</strong>em Gesi<strong>ch</strong>t; auf seiner Stirn prangte ein Türkismosaikdiadem.<br />

Er trug Sandalen aus Türkismosaik und ein goldenes Gewand. In der Hand hielt er den<br />

silbernen Reiherstab, das Zepter der Könige Mexicos. Zwei karminrot ges<strong>ch</strong>minkte Stabträger<br />

standen re<strong>ch</strong>ts und links von ihm. Au<strong>ch</strong> die pra<strong>ch</strong>tvollen Gewänder der Umstehenden glitzerten im<br />

Dunst.<br />

Der Totonakenfürst Tehu<strong>ch</strong>, der mit Aguilár eingetreten war, zeigte auf den Mann mit dem<br />

Reiherstab. Cortés stieg vom Pferd, s<strong>ch</strong>ritt auf den König zu, umarmte ihn und hängte ihm eine<br />

Kette aus Glaskorallen um den Hals. Der König ließ si<strong>ch</strong> die Umarmung des weißen Herrn gefallen,<br />

mo<strong>ch</strong>ten dessen Ärmel au<strong>ch</strong> von ges<strong>ch</strong>molzenem S<strong>ch</strong>nee triefen. Als Gegenges<strong>ch</strong>enk rei<strong>ch</strong>te<br />

er ihm eine Edelsteins<strong>ch</strong>nur und ließ mehrere Lasten Gold und baumwollene Gewänder vor ihm<br />

ausbreiten.<br />

Da sagte Aguilár laut zu Alvarado, obglei<strong>ch</strong> seine Worte an Cortés geri<strong>ch</strong>tet waren:<br />

»Wir müssen auf der Hut sein, Señor! Das ist ni<strong>ch</strong>t der König! I<strong>ch</strong> bin dem S<strong>ch</strong>elm in Cholula<br />

begegnet.« Sein Gedä<strong>ch</strong>tnis trog ihn ni<strong>ch</strong>t. Es war in der Tat der Tempelhüter, dem große Ähnli<strong>ch</strong>keit<br />

mit Moctezuma na<strong>ch</strong>gesagt wurde, ges<strong>ch</strong>mückt mit den Insignien seines Herrn.<br />

Hierauf ließ Cortés den Tempelhüter dur<strong>ch</strong> Marina fragen, ob er Moctezuma sei.<br />

»O Sohn der Sonne, o großer Krieger«, gab der Tempelhüter zur Antwort, »i<strong>ch</strong> bin dein<br />

Kne<strong>ch</strong>t Moctezuma, der seinen Hofstaat inmitten des Wassers hat. I<strong>ch</strong> bin der König von Mexico,<br />

zu dem du gezogen kommst, Auge in Auge eine Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t zu bringen. Sag mir die Bots<strong>ch</strong>aft des<br />

Herrn des Sonnenaufgangs, und wenn dein Auftrag erfüllt ist, kehre um und ziehe heim, dem König<br />

des Ostens meine Ges<strong>ch</strong>enke zu bringen.«<br />

Die Kaziken aus Huexotzinco waren in den Saal getreten und la<strong>ch</strong>ten. Ob der da Moctezuma<br />

sein wolle? fragten sie. Dieser Koyote habe si<strong>ch</strong> ein Pumafell übergezogen und glaube offenbar,<br />

man würde ihn ni<strong>ch</strong>t erkennen; die Kaziken aber kannten ihn: Er stamme wie sie aus Huexotzinco.<br />

Dieser ränkevolle Königsgünstling sei s<strong>ch</strong>uld am Hinterhalt und Blutbad in Cholula!<br />

Ein mexicanis<strong>ch</strong>er Chronist sollte es später so bes<strong>ch</strong>reiben:<br />

»Als sie den Tempelhüter sahen, sagten sie: ›Ist das viellei<strong>ch</strong>t dieser Moctezuma? Das ist<br />

ni<strong>ch</strong>t Moctezuma! Das ist sein Abgesandter Tempelhüter.‹<br />

Die Spanier fragten ihn: ›Bist du Moctezuma?‹<br />

›Ja‹, sagte er, ›i<strong>ch</strong> bin Euer Vasall, i<strong>ch</strong> bin Moctezuma.‹<br />

Do<strong>ch</strong> die Verbündeten s<strong>ch</strong>rien ihm zu: ›Du Narr! Warum versu<strong>ch</strong>st du, uns zu täus<strong>ch</strong>en? Für<br />

wen hältst du uns? Du kannst uns ni<strong>ch</strong>t betrügen. Du kannst uns ni<strong>ch</strong>t zum Narren halten! Du<br />

kannst uns ni<strong>ch</strong>t ers<strong>ch</strong>recken! Du kannst uns ni<strong>ch</strong>t blenden! Du zwingst unsere Augen ni<strong>ch</strong>t zu<br />

Boden, von dir wenden wir sie ni<strong>ch</strong>t ab! Du kannst unsere Augen ni<strong>ch</strong>t behexen, dass wir sie zur<br />

Seite wenden! Du kannst unsere Augen ni<strong>ch</strong>t trüben und ohnmä<strong>ch</strong>tig ma<strong>ch</strong>en! Du kannst sie ni<strong>ch</strong>t<br />

mit Staub füllen oder mit Lehm vers<strong>ch</strong>mieren! Du bist ni<strong>ch</strong>t Moctezuma! Er ist dort in der Stadt. Er<br />

kann si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vor uns verbergen! Wohin soll er gehen? Ist er ein Vogel? Kann er davonfliegen?<br />

Kann er in die Erde krie<strong>ch</strong>en? Kann er si<strong>ch</strong> in einem Berg vergraben? Wir kommen und werden ihn<br />

sehen von Angesi<strong>ch</strong>t zu Angesi<strong>ch</strong>t! Wir kommen, um seine Worte selbst zu hören, aus seinem<br />

eigenen Munde!‹<br />

So s<strong>ch</strong>mähten und verhöhnten sie den Abgesandten.«<br />

Da ges<strong>ch</strong>ah etwas Unerwartetes. Sofort na<strong>ch</strong> dem Eintritt der Leute aus Huexotzinco hatte<br />

der Tempelhüter blitzartig erkannt, dass sein Spiel verloren war. Der Führer der Gelbhaarigen<br />

würde ihn hinri<strong>ch</strong>ten lassen! Aber wenn er s<strong>ch</strong>on sterben musste, dann ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> die Hand der<br />

verhassten teules. Stolz, Ges<strong>ch</strong>ick und Glück hatten ihn bisher nie verlassen.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 221<br />

Im Saal waren alle Feldobristen mit Cortés von den Pferden gestiegen, do<strong>ch</strong> vor der Herberge<br />

saßen Domínguez und Lares no<strong>ch</strong> im Sattel. Mit einem Sprung, wie nur ein Indianer ihn vollbringen<br />

kann, he<strong>ch</strong>tete Tempelhüter hinaus und s<strong>ch</strong>wang si<strong>ch</strong> hinter Enrico Lares aufs Pferd. Mit<br />

der re<strong>ch</strong>ten Hand würgte er Lares und bohrte mit der linken ein Messer in die Wei<strong>ch</strong>en des Pferdes.<br />

Das Tier bäumte si<strong>ch</strong> auf, wieherte s<strong>ch</strong>merzerfüllt und galoppierte der Brücke zu. Jenseits der<br />

S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t standen Kastilier – an ein Entkommen war ni<strong>ch</strong>t zu denken. Mitten auf der Brücke sta<strong>ch</strong><br />

der Tempelhüter wieder auf das Tier ein. No<strong>ch</strong><br />

einmal bäumte es si<strong>ch</strong> auf und dur<strong>ch</strong>bra<strong>ch</strong> das<br />

mors<strong>ch</strong>e Geländer. Ein letztes Siegerla<strong>ch</strong>en<br />

des fals<strong>ch</strong>en Moctezuma erklang, und das<br />

Ross stürzte mit beiden Männern in die Tiefe.<br />

*<br />

Trotz der bald hereinbre<strong>ch</strong>enden Dunkelheit<br />

setzte das Christenheer den Weg fort. Sie wollten<br />

ni<strong>ch</strong>t im S<strong>ch</strong>nee überna<strong>ch</strong>ten; das Hospiz<br />

hätte nur wenig S<strong>ch</strong>utz bieten können. Bevor<br />

sie weiterzogen, erri<strong>ch</strong>tete der Zimmermann<br />

Cristóbal de Jaén an der Brücke dem Enrico<br />

Lares zum Gedä<strong>ch</strong>tnis ein s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>tes Holzkreuz.<br />

Der Abstieg wurde dur<strong>ch</strong> den s<strong>ch</strong>melzenden<br />

S<strong>ch</strong>nee und das s<strong>ch</strong>windende Tagesli<strong>ch</strong>t<br />

ers<strong>ch</strong>wert. Do<strong>ch</strong> sie kamen ras<strong>ch</strong> tiefer.<br />

Bald wurde es wärmer, und kein S<strong>ch</strong>nee behinderte<br />

das Fortkommen. Als die Na<strong>ch</strong>t hereinbra<strong>ch</strong>,<br />

rissen die Wolken auf, der Vollmond<br />

stieg hell und übergroß im Südosten empor und<br />

tau<strong>ch</strong>te den Hohlweg in silbernes Li<strong>ch</strong>t. Die<br />

lang gezogene Klamm hatte si<strong>ch</strong> im unteren<br />

<strong>Teil</strong> immer mehr verbreitert. Die Arkebusiere der Vorhut errei<strong>ch</strong>ten s<strong>ch</strong>on ihr Ende und gelangten<br />

auf offene Wiesenhänge, von wo si<strong>ch</strong> ihnen ein überras<strong>ch</strong>ender Anblick bot. Rufe der Freude und<br />

Erlei<strong>ch</strong>terung waren zu vernehmen. Bisweilen verstummten sie, do<strong>ch</strong> sobald weitere Gruppen aus<br />

der Felss<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t fluteten, erhoben si<strong>ch</strong> die Freudens<strong>ch</strong>reie von neuem. Hinten laus<strong>ch</strong>ten die Herabsteigenden<br />

und konnten si<strong>ch</strong> die Rufe ni<strong>ch</strong>t erklären.<br />

»Was rufen die da vorn?«, fragte Velásquez de León.<br />

»I<strong>ch</strong> glaube, i<strong>ch</strong> weiß es«, sagte Cortés. »Sie rufen Thalassa! Thalassa!«<br />

»Was heißt das?«, fragte Avila.<br />

»Das ist grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>«, klärte Cortés ihn auf. »Xenophon, Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reiber und S<strong>ch</strong>riftsteller,<br />

hat um das Jahr vierhundert vor Christi gelebt und das Ereignis aufges<strong>ch</strong>rieben. Na<strong>ch</strong> der<br />

S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t bei Kunaxa flohen zehntausend grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Söldner führerlos na<strong>ch</strong> Trapezunt an der<br />

Küste des S<strong>ch</strong>warzen Meeres. Als sie na<strong>ch</strong> entbehrungsrei<strong>ch</strong>em Mars<strong>ch</strong> endli<strong>ch</strong> das Meer erblickten,<br />

über das sie zu entkommen hofften, riefen sie ›Thalassa! Thalassa!‹ – das Meer, das Meer!«<br />

»Aber warum sollten unsere Leute das da vorne rufen?« Avila war man<strong>ch</strong>mal begriffsstutzig.<br />

»Weil sie den S<strong>ch</strong>ilfsee von Teno<strong>ch</strong>titlán sehen!«


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 222<br />

16. Teno<strong>ch</strong>titlán<br />

»Herr, Du bist müde! Die Reise hat Di<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>öpft, aber nun bist Du auf der Erde angekommen.<br />

Du bist gekommen, in Deine Stadt, na<strong>ch</strong> Mexico. Du bist hierher gekommen, um<br />

auf Deinem Thron zu sitzen... Die Könige, die s<strong>ch</strong>on dahingegangen sind, Deine Stellvertreter,<br />

haben ihn ges<strong>ch</strong>ützt und bewahrt für Deine Ankunft.«<br />

(Codex Florentino, Bu<strong>ch</strong> XII, aus der Begrüßungsrede Moctezumas II. an Cortés,<br />

8. November 1519)<br />

Das Christenheer lagerte auf der weiten, mit wildem Rhododendron und Azaleen bewa<strong>ch</strong>senen<br />

Alpwiese am Westhang des Gebirgsstocks. Verwirrt, glückli<strong>ch</strong> und au<strong>ch</strong> etwas beklommen blickten<br />

die Männer auf das mondbes<strong>ch</strong>ienene Tal von Anahuac hinunter. Es war der erste Blick in das<br />

Land der Verheißung, auf ein Panorama, wie es auf Erden seinesglei<strong>ch</strong>en su<strong>ch</strong>t. Lockend glänzte<br />

das Ho<strong>ch</strong>tal im vers<strong>ch</strong>leiernden Mondli<strong>ch</strong>t, begehrenswert und bedrohli<strong>ch</strong> zuglei<strong>ch</strong>. Die Männer<br />

wussten: Dort unten erwartete sie hinter Traums<strong>ch</strong>önheit au<strong>ch</strong> die unbeugsame Wehrhaftigkeit<br />

zusammengeraubten Rei<strong>ch</strong>tums. Der Prunk der Pyramiden, Stadtmauern und Türme war auf blutges<strong>ch</strong>wängertem<br />

Boden erbaut. Jetzt kamen die Kastilier von der anderen Seite des Ostmeeres,<br />

um den Mexica den Raub zu rauben!<br />

Sie erblickten fünf große zusammenhängende Landseen; dreißig ummauerte Städte und<br />

tausend und mehr Dörfer lagen di<strong>ch</strong>t beieinander an den Ufern und verstreut auf der Ebene und<br />

verloren si<strong>ch</strong> in den Bergen des Hinterlandes. Sie sahen Gärten und Äcker. Jedes Fleck<strong>ch</strong>en Erde<br />

war genutzt; überall wu<strong>ch</strong>s Getreide, Gemüse und Obst. Ni<strong>ch</strong>t umsonst spra<strong>ch</strong>en die Mexica vom<br />

Garten Anahuac. Habgier und Abenteuerlust erfüllte die meisten Kastilier, die beim Anblick dieser<br />

verzauberten Welt Freudenrufe ausgestoßen hatten; do<strong>ch</strong> es gab au<strong>ch</strong> Verzagtheit.<br />

»Wohin wollt ihr eu<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> führen und verführen lassen?«, rief el <strong>ch</strong>ocarrero, der Narr Cervantes,<br />

erbittert. »Ins gelobte Land, wo die rote Mil<strong>ch</strong> fließt? Ins selige Land, geradenwegs in die<br />

Eingeweide der Azteken? Trottet nur hinterdrein, ihr armen S<strong>ch</strong>afe, wenn eu<strong>ch</strong> ein Hammel ins<br />

S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>thaus führt!«<br />

Wieder drohte Rebellion. Einige Abteilungen wollten umkehren, verweigerten den Offizieren<br />

den Gehorsam, bes<strong>ch</strong>impften andersdenkende Kameraden, stießen Verwüns<strong>ch</strong>ungen aus und<br />

erhoben Anklage: Die wahre Ma<strong>ch</strong>t und Größe Mexicos sei vom Generalkapitän den gemeinen<br />

Soldaten bewusst verheimli<strong>ch</strong>t worden. Man sollte zur Küste zurück und na<strong>ch</strong> Kuba heimkehren.<br />

Si<strong>ch</strong> weiter vorzuwagen, hieße den Kopf in des Löwen Ra<strong>ch</strong>en stecken! Es wäre vermessen und<br />

käme einer Herausforderung Gottes glei<strong>ch</strong>!<br />

Cortés ließ die Männer si<strong>ch</strong> austoben. In der Gefahr muss man vorwärts gehen, überlegte er.<br />

Gib ihnen Gold, und sie werden ihre Meinung ändern!<br />

Der Generalkapitän stand auf einem Steinblock und blickte mit Vera<strong>ch</strong>tung auf die Unzufriedenen.<br />

Er war ein Spieler, aber sie wussten es ni<strong>ch</strong>t! Nur der Glaube kann Wunder tun! So versteckte<br />

er seine Vera<strong>ch</strong>tung, wie er sie stets verborgen hatte. Heiteren Blickes beruhigte er Marina<br />

und seine Hauptleute: Der Anfall von Mutlosigkeit sei eine Folge der ungewohnten Höhenluft, der<br />

Kälte, Nässe und Übermüdung. Dann s<strong>ch</strong>lenderte Cortés unbewaffnet dur<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>ar der S<strong>ch</strong>reier<br />

und verunsi<strong>ch</strong>erte sie dur<strong>ch</strong> seine ungezwungene Leutseligkeit. Er wies mit seiner s<strong>ch</strong>lanken,<br />

hands<strong>ch</strong>uhbedeckten Hand hinunter auf das mondbeglänzte Anahuac. S<strong>ch</strong>on in Tlaxcala, in<br />

Cholula und Huexotzinco hatte man ihm geographis<strong>ch</strong>e Karten auf Agavepapier vorgelegt, auf<br />

denen sämtli<strong>ch</strong>e angrenzenden Berge, alle Seen, Städte und Orts<strong>ch</strong>aften Anahuacs aufgezei<strong>ch</strong>net<br />

waren. Er kannte jeden Namen, wusste Bes<strong>ch</strong>eid über die Lage der Tore und Türme jeder Stadt,<br />

konnte Auskunft geben, dur<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>e Erzeugnisse und Kunstfertigkeiten ihre Bewohner si<strong>ch</strong> her-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 223<br />

vortaten. Meilentief unterhalb der Ho<strong>ch</strong>wiese, wo die Ausläufer des Popocatepetl in der Ebene<br />

zerflossen, funkelten die beiden längli<strong>ch</strong>en, westwärts si<strong>ch</strong> erstreckenden Süßwasserseen von<br />

Chalco und Xo<strong>ch</strong>imilco, getrennt dur<strong>ch</strong> einen breiten Damm. Dort, am Ende des Damms, lag die<br />

von zwei Seiten umspülte Stadt Tlaltenango. Zahllose Pfahldörfer umsäumten die Ufer; und au<strong>ch</strong><br />

in den am Süßwasser gelegenen Städten Chalco, Ayotzinco, Cuitlahuac, Culhuacan und der Blumenstadt<br />

Xo<strong>ch</strong>imilco hatte man ganze Stadtviertel auf Pfählen ins Wasser gebaut. Die Bewohner<br />

waren erst vor einem halben Jahrhundert von den Azteken grausam unterjo<strong>ch</strong>t worden, hieß es;<br />

sie hassten Mexico und le<strong>ch</strong>zten dana<strong>ch</strong>, die Ketten zu sprengen und an den Unterdrückern Ra<strong>ch</strong>e<br />

zu nehmen. Das nordwestli<strong>ch</strong>e Ende des Sees von Xo<strong>ch</strong>imilco erstreckte si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Norden<br />

und floss über in den großen salzigen S<strong>ch</strong>ilfsee von Teno<strong>ch</strong>titlán, an dessen Südufer die Städte<br />

Coyoacán, Mexicatzinco, Huitzilopo<strong>ch</strong>tlo und Iztapalapá lagen, dann Chapultepec, Popotla und<br />

Tacuba am Westufer, Tepeyacac am Nordufer, Chimalhuacan, Tezcoco und die Gärten von<br />

Tezcotzinco am Ostufer – sie alle gli<strong>ch</strong>en befestigten Vorwerken rings um die Wasserburg Teno<strong>ch</strong>titlán,<br />

deren Leu<strong>ch</strong>tturm Unserer-Großmutter-Holz wie au<strong>ch</strong> die ewigen Feuer ihrer Pyramiden bei<br />

s<strong>ch</strong>arfem Hins<strong>ch</strong>auen auf der Lagune zu erkennen waren. Und no<strong>ch</strong> zwei andere Seen gab es<br />

jenseits der Lagune im Norden, den Xaltocansee und den no<strong>ch</strong> weiter entfernten Zumpangosee,<br />

den See am S<strong>ch</strong>ädelgerüst. In weiter Ferne, an der Kordillerenkette, lag Otumba, das erst kürzli<strong>ch</strong><br />

von der Blauen Feder den Mexica entrissen worden war. In Tezcoco war der Edle Betrübte verhasst,<br />

weil er als Freund Mexicos galt, und alle unterdrückten Völker sehnten si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> den Befreiern.<br />

Cortés verstand es meisterhaft, die Brü<strong>ch</strong>igkeit der auf Gewalt gegründeten und dur<strong>ch</strong> Gewalt<br />

si<strong>ch</strong> erhaltenden Tyrannenma<strong>ch</strong>t deutli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en. Er s<strong>ch</strong>ilderte seinen Soldaten Teno<strong>ch</strong>titlán,<br />

die Stadt im Kolbenrohr, in den verlockendsten Farben, wie au<strong>ch</strong> er sie in seinen Träumen<br />

sah. Teno<strong>ch</strong>titlán war die Königin aller Städte, der großartige mexicanis<strong>ch</strong>e Handelsplatz und Hort<br />

unermessli<strong>ch</strong>er Rei<strong>ch</strong>tümer, der Wohnsitz jenes sagenhaften Mannes, jenes goldenen Königs, den<br />

alle Entdecker seit Kolumbus und Vasco Núñez de Balboa gesu<strong>ch</strong>t hatten, jedo<strong>ch</strong> klägli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>eitert<br />

waren. Jetzt aber – endli<strong>ch</strong>, endli<strong>ch</strong>! – hatte mit Gottes Beistand eine kleine S<strong>ch</strong>ar beherzter<br />

Männer das Tor von Eldorado zu öffnen vermo<strong>ch</strong>t. Nur wenige Tage no<strong>ch</strong> und sie würden<br />

eintreten, würden als von der Welt beneidete conquistadores den Kristallpalast Moctezumas betreten<br />

und seine Zwingherrs<strong>ch</strong>aft beenden, würden Blutaltäre in Kir<strong>ch</strong>en verwandeln und Berge von<br />

Gold gewinnen, wie sie nie zuvor von sieghaften Soldaten erbeutet wurden...<br />

Der Zauberer Cortés s<strong>ch</strong>lug alle mit betörenden, ansta<strong>ch</strong>elnden, umwerbenden, bezaubernden,<br />

Wüns<strong>ch</strong>e erweckenden, Habgier hervorrufenden Worten unwiderstehli<strong>ch</strong> in seinen Bann.<br />

Au<strong>ch</strong> die Übelwollenden und Zaghaften erlagen ihm. Ihr Mut wurde wieder aufgeri<strong>ch</strong>tet; alle wollten<br />

ihm zu den goldenen Zielen folgen, stimmten ihm zu, konnten gar ni<strong>ch</strong>t abwarten. Gegner, die<br />

eben no<strong>ch</strong> einander bedroht hatten, umarmten si<strong>ch</strong> nun.<br />

Das Heer überna<strong>ch</strong>tete auf der Wiese. S<strong>ch</strong>ildwa<strong>ch</strong>en wurden aufgestellt. Als Parole für diese<br />

Na<strong>ch</strong>t wählte Cortés die Worte: Der s<strong>ch</strong>önste Blick der Welt. Gegen Mitterna<strong>ch</strong>t kra<strong>ch</strong>ten plötzli<strong>ch</strong><br />

Musketens<strong>ch</strong>üsse der Wa<strong>ch</strong>tposten. Die Männer griffen zu den Waffen und sprangen, aus dem<br />

S<strong>ch</strong>laf ges<strong>ch</strong>reckt, aufgeregt dur<strong>ch</strong>einander. Do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on wurden sie bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigt: Die S<strong>ch</strong>ießerei<br />

sei ohne Belang; nur fünf Mexica wurden getötet. Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> neugierige Gebirgsbauern! Man<br />

konnte es ni<strong>ch</strong>t aufklären.<br />

Denno<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>webte das kleine Kastilierheer in dieser Na<strong>ch</strong>t in einer Gefahr, gegen die si<strong>ch</strong><br />

alle bisher überstandenen wie ein Kinderspiel ausnahmen. Während die Soldaten ni<strong>ch</strong>ts ahnend<br />

s<strong>ch</strong>lummerten, klomm das Unheil zu ihnen empor, wollte sie verni<strong>ch</strong>ten, wollte sie führerlos und<br />

ratlos den Feinden ausliefern. Do<strong>ch</strong> das Glück blieb Cortés au<strong>ch</strong> in dieser Na<strong>ch</strong>t treu und obsiegte<br />

über das wahllos und blind waltende Ges<strong>ch</strong>ick.<br />

Um drei Uhr, als der Mond untergegangen war und die Sonne den Sternenhimmel no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

blei<strong>ch</strong> färbte, ma<strong>ch</strong>te Cortés die Runde, um die Wa<strong>ch</strong>en zu kontrollieren. Er näherte si<strong>ch</strong> einem<br />

Posten und hörte, kaum drei S<strong>ch</strong>ritte von ihm entfernt, das Spannen eines Hahnes; im selben Augenblick<br />

sah er den Lauf einer Muskete auf seine Brust geri<strong>ch</strong>tet. Es blieb ihm gerade no<strong>ch</strong> Zeit,<br />

die Losung der s<strong>ch</strong>önste Blick zu rufen, aber es wäre s<strong>ch</strong>on zu spät gewesen: Der Wa<strong>ch</strong>tposten<br />

drückte ab! Ein hartes Knacken – das Gewehr versagte, das Pulver war feu<strong>ch</strong>t.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 224<br />

Der Wa<strong>ch</strong>tposten hatte gerade no<strong>ch</strong> die Parole vernommen und au<strong>ch</strong> die Stimme des Generalkapitäns<br />

erkannt, do<strong>ch</strong> zu spät: Er hatte bereits reflexartig abgedrückt. Ers<strong>ch</strong>rocken und an allen<br />

Gliedern zitternd warf er nun die Muskete ins Gras, fiel vor Cortés auf die Knie und küsste ihm bebend<br />

die Hände.<br />

»Gott hat es abgewendet! Gelobt sei<br />

der Allmä<strong>ch</strong>tige!«, s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zte der Mann,<br />

halb irr vor S<strong>ch</strong>recken und Glück, da er<br />

Cortés unversehrt vor si<strong>ch</strong> sah.<br />

»Seid Ihr ni<strong>ch</strong>t Martín López, der<br />

S<strong>ch</strong>iffbaumeister?«, fragte Cortés.<br />

»Ja, Señor capitán, der bin i<strong>ch</strong>! Gebe<br />

Gott, dass i<strong>ch</strong> einst gutma<strong>ch</strong>en kann, was<br />

i<strong>ch</strong> heute getan!«<br />

»Ihr habt nur Eure Pfli<strong>ch</strong>t getan, mein<br />

Sohn. Auf mein Gewissen – die S<strong>ch</strong>uld lag<br />

an mir, dass i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t früher anrief.«<br />

Cortés hatte einen Fehler gema<strong>ch</strong>t und<br />

wusste, dass sein Leben beinahe dur<strong>ch</strong><br />

eigene S<strong>ch</strong>uld ein ruhmloses Ende gefunden<br />

hätte.<br />

Kaiser Moctezuma beeindruckte alle dur<strong>ch</strong> seine würdige Ers<strong>ch</strong>einung. Auf dem Bild, das von einem eingeborenen<br />

Künstlert stammt, trägt er das herkömmli<strong>ch</strong>e Gewand des Aztekenadels: einen rei<strong>ch</strong>verzierten Umhang und<br />

kostbarem Beins<strong>ch</strong>muck. An seinem Rücken befestigt ist die königli<strong>ch</strong>e Standarte aus den grünen S<strong>ch</strong>wanzfedern<br />

des Quetzal-Vogels, der dem Gott Quetzalcoatl geweiht war (Biblioteca Nacional, Madrid).<br />

*<br />

Moctezuma war verwaist. An käufli<strong>ch</strong>en und besoldeten Freunden, Ratgebern und Kunds<strong>ch</strong>aftern<br />

fehlte es dem Zornigen Herrn freili<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t; in diesem Unglücksjahr Eins-S<strong>ch</strong>ilfrohr war ihre Zahl<br />

sogar no<strong>ch</strong> größer geworden. Sie brüsteten si<strong>ch</strong> mit ihren Verdiensten um den Thron, und ihre<br />

stolzen Worte gli<strong>ch</strong>en ausgestreckten Bettlerhänden. Sie widerten ihn an, do<strong>ch</strong> er konnte sie ni<strong>ch</strong>t<br />

entbehren, konnte vor allem ni<strong>ch</strong>t auf die Kunds<strong>ch</strong>after verzi<strong>ch</strong>ten. Dur<strong>ch</strong> sie wurde er über die<br />

Stimmung in den beiden anderen Residenzen des Drei-Städte-Bundes – Tacuba und Tezcoco –<br />

und in den vielen Vasallenstaaten aufgeklärt; au<strong>ch</strong> in den Palästen Teno<strong>ch</strong>titláns lauerten seine<br />

Spione. Moctezuma ließ si<strong>ch</strong> jede missfällige Äußerung, jedes Drohwort des grollenden Adels hinterbringen.<br />

Für Kakaobohnen und Kolibrifedern verklagten Kinder ihre Eltern und Diener ihre Herren.<br />

Kakaobohnen und Kolibrifedern tilgten Liebe, Dankbarkeit und Treue aus.<br />

S<strong>ch</strong>on seit Jahren leistete eine Dienerin der Herrin von Tula, eine frühere Amme und Wärterin<br />

der Prinzessin Perlendiadem, dem König Kunds<strong>ch</strong>afterdienste. Na<strong>ch</strong> der Flu<strong>ch</strong>t von Prinzessin<br />

Perlendiadem aus der königli<strong>ch</strong>en Haft hatte die Wärterin si<strong>ch</strong> sofort na<strong>ch</strong> Tezcoco begeben. Die<br />

ahnungslose Prinzessin kannte kein Geheimnis vor ihr, vertraute ihr wie einer zweiten Mutter und<br />

war allzu sehr geneigt, ihren Rats<strong>ch</strong>lägen Gehör zu s<strong>ch</strong>enken. Sie ließ si<strong>ch</strong> von ihr au<strong>ch</strong> begleiten,<br />

als sie mit ihren Brüdern Felsens<strong>ch</strong>lange und Blaue Feder an den Süßwassersee von Chalco kam,<br />

um Cortés vorgestellt zu werden und die Taufe zu empfangen.<br />

Wenige Tage darauf war die Spionin wieder in Mexico und spra<strong>ch</strong> im Huei-Tecpan vor. Sie<br />

wurde die Treppe hinauf zur Da<strong>ch</strong>terrasse geführt. Na<strong>ch</strong>dem sie, in einen grauen<br />

Agaveblattmantel gehüllt, das königli<strong>ch</strong>e Prunkzelt betreten, Kügel<strong>ch</strong>en aus Kopalharz in ein Kohlenbecken<br />

geworfen und, mit drei Verbeugungen si<strong>ch</strong> nähernd, »Großer Herr! Großer Herr! Erhabener<br />

großer Herr!« gespro<strong>ch</strong>en hatte, entfernte si<strong>ch</strong> das Gefolge, da der Zornige Herr sie ohne<br />

Zeugen anzuhören wüns<strong>ch</strong>te.<br />

»O Herr, o S<strong>ch</strong>wert der Götter!«, sagte die Wärterin. »Prinzessin Perlendiadem hat si<strong>ch</strong> in


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 225<br />

einen s<strong>ch</strong>nellfüßigen Hirs<strong>ch</strong> verwandelt, do<strong>ch</strong> deiner Strafe entlaufen, deinem Zorn entgehen<br />

konnte sie ni<strong>ch</strong>t! Alle gleiten aus vor deinem Goldthron, keiner entkommt dir! Erfreue di<strong>ch</strong> deiner<br />

Herrli<strong>ch</strong>keit! I<strong>ch</strong> habe di<strong>ch</strong> gerä<strong>ch</strong>t und die Prinzessin zur zerknitterten S<strong>ch</strong>muckfeder gema<strong>ch</strong>t!«<br />

Da ließ Moctezuma si<strong>ch</strong> beri<strong>ch</strong>ten, wie Perlendiadem zur verwelkten Quetzalfeder wurde.<br />

Die Wärterin begann ihren Beri<strong>ch</strong>t mit der Aussöhnung der drei Söhne des Herrn des Fastens.<br />

Blaue Feder hatte si<strong>ch</strong> zuerst geweigert, war zornig in den Garten geeilt; do<strong>ch</strong> Perlendiadem,<br />

die ihm gefolgt war, hatte ihn s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> umgestimmt, sodass er zurückkehrte und den Edlen Betrübten<br />

umarmte. Do<strong>ch</strong> die Eintra<strong>ch</strong>t währte nur einen Tag. Na<strong>ch</strong> Cacamas Abreise eröffnete die<br />

Blaue Feder seiner Mutter und den Ges<strong>ch</strong>wistern, was er in Gegenwart des Edlen Betrübten vers<strong>ch</strong>wiegen<br />

hatte: Er habe si<strong>ch</strong> mit dem heiligen Wasser der Eroberer begießen lassen und sei ein<br />

Anhänger des ans Kreuz genagelten Gottes geworden, und er habe dem Führer der Sonnensöhne,<br />

den die Tlaxcalteken den »Grünen Stein« nennen, seine S<strong>ch</strong>wester Perlendiadem als Weib<br />

verspro<strong>ch</strong>en. Außerdem habe er si<strong>ch</strong> verpfli<strong>ch</strong>tet, am Ufer des Chalcosees wieder zum Heer zu<br />

stoßen und seine Mutter, seine S<strong>ch</strong>wester und seinen Bruder mitzubringen, damit au<strong>ch</strong> diese si<strong>ch</strong><br />

taufen ließen.<br />

Mutter und Ges<strong>ch</strong>wister sträubten si<strong>ch</strong> und versetzten dur<strong>ch</strong> ihre Absage die Blaue Feder in<br />

Zorn. Als er einsah, dass er mit Drohungen wenig ausri<strong>ch</strong>tete, versu<strong>ch</strong>te er zu überreden, flehte,<br />

bes<strong>ch</strong>wor und erinnerte an den Herrn des Fastens, seinen Vater – wie sehr er den Blutdurst der<br />

Götter Anahuacs verabs<strong>ch</strong>eute. Verheißung und Hoffnung zuglei<strong>ch</strong> bedeutete die Erwartung, der<br />

weiße bärtige Quetzalcoatl werde wiederkehren und die Opferriten abs<strong>ch</strong>affen. Obglei<strong>ch</strong> Felsens<strong>ch</strong>lange<br />

und Perlendiadem der Blauen Feder im Herzen zustimmten, s<strong>ch</strong>euten sie si<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong>,<br />

dur<strong>ch</strong> ihr offenes Bekenntnis die Herrin von Tula zu kränken. Denn die Witwe des Herrn des Fastens<br />

missbilligte wohl die Opfer und sehnte wie einst der tote König die Rückkehr der milden Herrs<strong>ch</strong>aft<br />

des toltekis<strong>ch</strong>en Gottes zurück, hielt aber denno<strong>ch</strong> den alten heimis<strong>ch</strong>en Göttern die Treue.<br />

Zwei Tage lang währten ihre Meinungsvers<strong>ch</strong>iedenheiten. Der leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Überzeugungskraft<br />

der Blauen Feder gelang es s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong>, den Widerstand seiner Ges<strong>ch</strong>wister zu überwinden.<br />

Perlendiadem und Felsens<strong>ch</strong>lange erklärten si<strong>ch</strong> bereit, an den Chalcosee zu kommen<br />

und den neuen Glauben anzunehmen.<br />

Dann ges<strong>ch</strong>ah etwas Unglaubli<strong>ch</strong>es. Die Erwartung der Ges<strong>ch</strong>wister, die Mutter werde si<strong>ch</strong><br />

ihnen do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> ans<strong>ch</strong>ließen, erfüllte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Die Herrin von Tula floh in einen kleinen Tempel<br />

inmitten der Gärten Tezcotzincos, sperrte si<strong>ch</strong> dort ein und weigerte si<strong>ch</strong>, ihr Asyl zu verlassen. Da<br />

ließ die Blaue Feder, sinnlos vor Wut, Brennholz herbeis<strong>ch</strong>affen und zündete den Tempel an seinen<br />

vier Ecken an. Stolz trat die Königin aus dem s<strong>ch</strong>on brennenden Tor. Sie bes<strong>ch</strong>impfte die<br />

Weißen, nannte sie teules, böse Geister, und fand es erbärmli<strong>ch</strong>, dass ihr Sohn si<strong>ch</strong> von einem<br />

winzigen Häuflein fremder Eindringlinge einfangen und kne<strong>ch</strong>ten ließ. Blaue Feder aber s<strong>ch</strong>rie:<br />

»Wärst du meine Mutter ni<strong>ch</strong>t, i<strong>ch</strong> würde dir für diese Worte den Kopf vom Rumpf trennen lassen!«<br />

Die Herrin von Tula blieb in Tezcotzinco und spra<strong>ch</strong> über Blaue Feder ihren Flu<strong>ch</strong> aus.<br />

Dies alles erfuhr Moctezuma von der Wärterin. Sie war au<strong>ch</strong> zugegen, als alle Könige des<br />

südli<strong>ch</strong>en Wassergaus mit rei<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>enken in die Stadt Ayotzinco gekommen waren, um dem<br />

Grünen Stein ihre Ergebenheit zu versi<strong>ch</strong>ern, ihm mit Kriegstanz-Vorführungen und Gesängen zu<br />

huldigen und über den Zornigen Herrn Klage zu führen. Der König der Stadt war na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán<br />

geflohen, do<strong>ch</strong> die Einwohner Ayotzincos tanzten dem Grünen Stein zu Ehren den Tapir-Reigen.<br />

»Wie hast du es angestellt, Perlendiadem zu verderben?«, unterbra<strong>ch</strong> der Zornige Herr die<br />

weits<strong>ch</strong>weifigen Erzählungen der Wärterin.<br />

»So höre, o großer Herr, du Sonne Mexicos!«, antwortete die Amme und erzählte.<br />

»Der Garten des Palasts, wo der Grüne Stein in Ayotzinco wohnt, ist vom See umspült. Am<br />

Ufer befindet si<strong>ch</strong> eine Basaltgrotte. Im See, di<strong>ch</strong>t vor der Grotte – kaum einen Fuß unter dem<br />

Wasserspiegel – sieht man die liegende Steinfigur einer Seejungfrau. Sie ist ein S<strong>ch</strong>utzgeist des<br />

Seevolkes; an gewissen Festtagen rudern Mäd<strong>ch</strong>en aus den Pfahldörfern der Umgebung auf Booten<br />

herbei und versenken als Opfergaben für die Seejungfrau kleine goldene Eide<strong>ch</strong>sen und Nasenstäbe<br />

aus Edelstein. Unterhalb des Bildwerks befindet si<strong>ch</strong> auf dem Seeboden eine heiße<br />

Quelle, deren Wasser dur<strong>ch</strong> den halb offenen Mund der steinernen Seejungfrau in den See fließt.<br />

Das Volk glaubt, dass jedem, dem es gelänge, den heißen Strahl von den Lippen der Seejungfrau<br />

zu trinken, der sehnli<strong>ch</strong>ste Wuns<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> erfülle. Aus Fur<strong>ch</strong>t, si<strong>ch</strong> zu verbrühen, s<strong>ch</strong>recken die<br />

Meisten jedo<strong>ch</strong> davor zurück.«


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 226<br />

»Komm zur Sa<strong>ch</strong>e«, mahnte Moctezuma ungeduldig.<br />

»Auf diesen Glauben baute i<strong>ch</strong> meinen Plan. Es war ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>wer, Perlendiadem von der<br />

Wunderquelle zu erzählen und ihr in Aussi<strong>ch</strong>t zu stellen, dass ihr sehnli<strong>ch</strong>ster Wuns<strong>ch</strong> in Erfüllung<br />

gehe.«<br />

Als Perlendiadem si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>ts an das mondbes<strong>ch</strong>ienene Gartenufer begeben hatte und si<strong>ch</strong><br />

von zwei Sandalenbinderinnen in der Basaltgrotte entkleiden ließ, eilte die Wärterin zum Grünen<br />

Stein. Und da man wusste, dass sie die Amme der Prinzessin sei, wurde sie soglei<strong>ch</strong> vorgelassen.<br />

Sie sagte zum Grünen Stein: Leuten, die si<strong>ch</strong> eben erst mit heiligem Wasser begießen ließen, opferten<br />

heimli<strong>ch</strong> den Göttern Mexicos. Als der Grüne Stein ihr ni<strong>ch</strong>t glauben wollte, erbot sie si<strong>ch</strong>, es<br />

ihm zu beweisen, wenn er ihr ohne Begleitung – au<strong>ch</strong> ohne Malintzín – in den Garten folge. Der<br />

Grüne Stein befahl der Malintzín zurückzubleiben und kam zur Grotte ans Ufer. Dort kniete die<br />

Prinzessin nackt auf dem Stein der liegenden Seejungfrau. Mit den Händen stützte sie si<strong>ch</strong> auf die<br />

S<strong>ch</strong>ultern des Steinbildes. Das offene s<strong>ch</strong>warzes Haar fiel über ihre Stirn in die Wellen; ihre Brüste<br />

berührten das Wasser, und die Obers<strong>ch</strong>enkel s<strong>ch</strong>auten s<strong>ch</strong>lank und sehnig aus der Flut. Dann<br />

tau<strong>ch</strong>te sie mit dem Kopf langsam hinab und s<strong>ch</strong>lürfte der Seejungfrau den heißen Trank von den<br />

steinernen Lippen. Dana<strong>ch</strong> erhob sie si<strong>ch</strong> und stand aufre<strong>ch</strong>t da in ihrer zauberhaften Blöße. Jetzt<br />

erst erblickte sie den Grünen Stein und stieß einen verzückten S<strong>ch</strong>rei aus, als wäre ihr ein Traumbild<br />

ers<strong>ch</strong>ienen. Die Sklavinnen flohen, und die Wärterin verbarg si<strong>ch</strong> hinter Gestrüpp. Perlendiadem<br />

und der Grüne Stein konnten si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verständigen. Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> Worte hätten ni<strong>ch</strong>ts mehr<br />

verhindert. Mit verzehrenden Blicken gingen sie aufeinander zu. Langsam errei<strong>ch</strong>te Perlendiadem<br />

das Ufer, kniete vor dem Grünen Stein nieder und hob flehend die Hände. Er hob sie auf und trug<br />

sie in die Grotte.<br />

»Und so, o großer König, du Mä<strong>ch</strong>tiger, habe i<strong>ch</strong> Prinzessin Perlendiadem verdorben und<br />

Zwietra<strong>ch</strong>t gesät zwis<strong>ch</strong>en Malintzín und dem Grünen Stein!«, s<strong>ch</strong>loss die Wärterin triumphierend<br />

und in Erwartung rei<strong>ch</strong>en Lohnes.<br />

Moctezuma starrte sie lange an. Dann s<strong>ch</strong>lug er plötzli<strong>ch</strong> auf die goldene Trommel, die neben<br />

seinem Thron stand, und Höflinge stürzten ins Zelt.<br />

»Ergreift diese Kupplerin!«, rief er. »Sie soll der Göttin Siebens<strong>ch</strong>lange geopfert werden!«<br />

Er ließ seine Zauberer, Fadenknüpfer und Gespensterbes<strong>ch</strong>wörer rufen. Da er Sacusín, den<br />

Einzigartigen, den fähigsten aller Eulenmens<strong>ch</strong>en, ni<strong>ch</strong>t herbeirufen konnte, su<strong>ch</strong>te er bei den vielen<br />

Rat und Trost, die si<strong>ch</strong> in S<strong>ch</strong>akale und fliegende S<strong>ch</strong>langen zu verwandeln verstanden. In<br />

seiner Verzweiflung wollte er einen letzten Versu<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en, das Verhängnis dur<strong>ch</strong> Zauberkünste<br />

aufzuhalten. Do<strong>ch</strong> keiner der Magier wagte zu sagen, was er in den Nebeln der Zukunft sah. Nur<br />

einer, ein Alter, den die Not Anahuacs mehr s<strong>ch</strong>merzte als sein eigenes S<strong>ch</strong>icksal, erklärte:<br />

»I<strong>ch</strong> bin der Gefleckte Fros<strong>ch</strong>lur<strong>ch</strong> und sage es dem großen Moctezuma: Wehe uns Armen!<br />

Entfliehen können wir ni<strong>ch</strong>t wie unsere Götter – darum lasst uns mutig dem Verderben entgegensehen,<br />

lasst uns diesen großen Palast festli<strong>ch</strong> zum Empfang des Verderbens s<strong>ch</strong>mücken. Die Azteken,<br />

die mä<strong>ch</strong>tige Herren waren, werden zu Bettlern. Do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t kampflos wollen wir das Los der<br />

Kne<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>aft auf uns nehmen. Einen grausamen Tod werden wir sterben – i<strong>ch</strong> und die meisten<br />

von eu<strong>ch</strong>. Kein ruhmloser Tod soll es sein! Um die Greise, Frauen und Kinder dieses armen Volkes<br />

weine i<strong>ch</strong>, denn freundlos, s<strong>ch</strong>utzlos und heimatlos werden sie sein!«<br />

Da ließ der Zornige Herr für den Empfang der Sonnensöhne Vorbereitungen treffen. Überdies<br />

ordnete er an, das große Speerhaus bis ans Da<strong>ch</strong> mit Pfeils<strong>ch</strong>äften, Lanzen, S<strong>ch</strong>ilden und<br />

Wurfbrettern zu füllen.<br />

*<br />

Das Christenheer zog in Iztapalapá ein und hatte nunmehr die Südspitze der salzigen Lagune und<br />

den Steindamm errei<strong>ch</strong>t. S<strong>ch</strong>on drei Tage zuvor hatten bei Ayotzinco, am Süßwassersee von<br />

Xo<strong>ch</strong>imilco, der Edle Betrübte und der Dur<strong>ch</strong>-Wohlgestalt-Glänzende als Beauftragte Moctezumas<br />

die Enkel Quetzalcoatls im Namen des Drei-Städte-Bundes willkommen geheißen. Hier begrüßte<br />

sie jetzt ni<strong>ch</strong>t minder prunkvoll Moctezumas Bruder Überwinder, König von Iztapalapá, am Tor<br />

seiner Stadt, bes<strong>ch</strong>enkte sie mit Sklavinnen, Federn und Gold und stellte ihnen seinen herrli<strong>ch</strong>en<br />

Tecpan als Wohnung zur Verfügung.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 227<br />

Das kleine Heer der vierhundertfünfzig Freibeuter näherte si<strong>ch</strong> wie im Traum – von der silbernen<br />

S<strong>ch</strong>önheit der im Sonnendunst liegenden Seenlands<strong>ch</strong>aft überwältigt – ihrem letzten<br />

Na<strong>ch</strong>tquartier vor dem Einzug in Teno<strong>ch</strong>titlán. Die Pra<strong>ch</strong>t der zahllosen Orts<strong>ch</strong>aften und Städte an<br />

der Lagune verzauberte die kleine kühne S<strong>ch</strong>ar. Es war ein Mär<strong>ch</strong>en! Sie trauten ihren Augen<br />

ni<strong>ch</strong>t, als sie den einzigartigen Garten des Fürsten von Iztapalapá betraten. Alleen mit vielhundertjährigen<br />

Zypressen bes<strong>ch</strong>atteten die Wege; zierli<strong>ch</strong>e Pfade s<strong>ch</strong>längelten si<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en den von<br />

Hecken immergrüner Myrtengewä<strong>ch</strong>se umgrenzten Blumenbeeten hindur<strong>ch</strong>. In den Kronen der<br />

Bäume kreis<strong>ch</strong>ten Araras und lärmten goldgelbe Rolls<strong>ch</strong>wanzaffen. Die Zweige waren mit parasitis<strong>ch</strong>en<br />

Blüten bedeckt; rosa Or<strong>ch</strong>ideen und Bromeliazeen hingen hernieder, und ein einzeln auf<br />

weitem Rasenplatz stehender gewaltiger Dra<strong>ch</strong>enblutbaum wurde von langges<strong>ch</strong>weiften Silberfasanen<br />

bevölkert. Die Luft funkelte vom Ges<strong>ch</strong>wirr der Honigsauger und handgroßer Falter. Neben<br />

einem Hain von Da<strong>ch</strong>palmen lag ein künstli<strong>ch</strong>er viereckiger Tei<strong>ch</strong>, dessen Grund aus prä<strong>ch</strong>tig gearbeiteten,<br />

grünen und orangen Onyxmarmorquadern mit Perlen und rotem Kristall verziert war.<br />

Und spiegelblank gemeißelt wie das Mauerwerk war die ins Wasser führende Alabastertreppe,<br />

umspielt von S<strong>ch</strong>aren kupfern blitzender Fis<strong>ch</strong>e. Zwis<strong>ch</strong>en den Seerosen aber lärmten und<br />

s<strong>ch</strong>wammen die seltensten Tau<strong>ch</strong>ervögel, S<strong>ch</strong>ilfvögel, Reiher und Ibisse.<br />

Au<strong>ch</strong> Cortés wandelte mit seinen zwei Frauen dur<strong>ch</strong> den Zaubergarten. Ohne Marina konnte<br />

er mit Perlendiadem ni<strong>ch</strong>t reden. Seit jener Na<strong>ch</strong>t in Ayotzinco war Marina die Vermittlerin, die unfreiwillige<br />

Kupplerin und Dienerin seiner Untreue. Re<strong>ch</strong>tlos war sie, eine ges<strong>ch</strong>enkte Sklavin –<br />

wenn er ihr keine Re<strong>ch</strong>te einräumte, hatte sie au<strong>ch</strong> keine zu fordern. Er war der Gott, der Sieger,<br />

dem Völker und Frauen unterlagen, dem alles zufiel, was seinen Augen begehrenswert ers<strong>ch</strong>ien.<br />

Und Marina wunderte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, dass die Königsto<strong>ch</strong>ter Gnade vor seinen Augen gefunden hatte!<br />

Eher war es ein Wunder, dass er seiner Sklavin so lange die Treue gehalten hatte. Da beider Los<br />

ni<strong>ch</strong>t beneidenswert war, hatten sie bald gelernt, einander zu s<strong>ch</strong>ätzen.<br />

Von der Gartenmauer sahen sie über der Lagune die Flammen des Leu<strong>ch</strong>tturms Unserer-<br />

Großmutter-Holz und das Altarfeuer des S<strong>ch</strong>langenbergs. Cortés begeisterte si<strong>ch</strong>. »S<strong>ch</strong>aut, wie<br />

der Regenhimmel blinkt«, rief er aus, »es ist der Widers<strong>ch</strong>ein des Goldes und Silbers von Mexico,<br />

der dort s<strong>ch</strong>immert!«<br />

Die kastilis<strong>ch</strong>en Kavaliere begegneten der Prinzessin mit gunstheis<strong>ch</strong>ender Ehrfur<strong>ch</strong>t. Den<br />

Feldobristen ers<strong>ch</strong>ien ihre strenge S<strong>ch</strong>önheit wie eine Verkörperung aller Herrli<strong>ch</strong>keiten dieses<br />

Seenlandes. Bei der Taufe war ihr von ihrem Paten Don Juan Velásquez de León der Name Doña<br />

Juana gegeben worden, do<strong>ch</strong> im ganzen Heer hieß sie nur la Azteca. Es klang ein wenig wegwerfend,<br />

aber es wurde ihr Ehrenname. Selbst Cortés nannte sie so.<br />

*<br />

Beim Abendessen kam Rodrigo Rangel leise zu Cortés und überrei<strong>ch</strong>te ihm einen Brief. Ein als<br />

Tonwarenhändler verkleideter Totonake sei eben, von Eilmärs<strong>ch</strong>en ers<strong>ch</strong>öpft, aus Veracruz eingetroffen<br />

und habe diesen Brief Escalantes überbra<strong>ch</strong>t. Der Generalkapitän bra<strong>ch</strong> das Siegel auf und<br />

überflog das S<strong>ch</strong>reiben. Der Inhalt war so alarmierend, dass Cortés niemandem außer Marina,<br />

Alvarado und Velásquez de León davon Kenntnis gab.<br />

Escalante hatte na<strong>ch</strong> der Gefangennahme des Steuermannes Gonzalo de Umbría und der<br />

Mulattin Beatriz de Acevedo versu<strong>ch</strong>t, die Herausgabe der Gefangenen von Sengende Glut und<br />

Glänzender Harnis<strong>ch</strong> zu erwirken. Anfangs zwar vergebli<strong>ch</strong>, aber na<strong>ch</strong>dem er ein hohes Lösegeld<br />

geboten hatte, lud Calpopoca ihn und die Honoratioren von Veracruz ein: Sie mö<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> in das<br />

Bergs<strong>ch</strong>loss des Glänzenden Harnis<strong>ch</strong>es begeben – er sei bereit, dort mit ihnen über die Auslieferung<br />

zu verhandeln; er si<strong>ch</strong>ere freies Geleit zu. Mit dem Geri<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reiber der Hafenfestung, dem<br />

Oberri<strong>ch</strong>ter, dem S<strong>ch</strong>atzmeister, dem Büttel und drei Krüppeln, die si<strong>ch</strong> für Hidalgos hielten, traf<br />

Escalante am Ort der Zusammenkunft ein. Dort wurden sie von Sengende Glut, Glänzender Harnis<strong>ch</strong><br />

und einer S<strong>ch</strong>ar vornehmer Mexica freundli<strong>ch</strong> empfangen und in einen Saal geführt, wo ein<br />

Mittagsmahl bereitstand. Man lud sie ein, am Essen teilzunehmen; der Statthalter wüns<strong>ch</strong>e erst<br />

na<strong>ch</strong> genossenem Mahl mit den Verhandlungen zu beginnen. Escalante und seine Begleiter fügten<br />

si<strong>ch</strong> und aßen. Ihre Gastgeber überboten si<strong>ch</strong> vor Höfli<strong>ch</strong>keit und heiterer Zuvorkommenheit. Die<br />

besten Stücke des Bratens legte man ihnen vor und ermunterte sie, tü<strong>ch</strong>tig zuzulangen. Na<strong>ch</strong> dem


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 228<br />

Essen eröffnete die Sengende Glut den Kastiliern, der Steuermann und die Mulattin seien sauber<br />

gewas<strong>ch</strong>en worden, na<strong>ch</strong>dem man sie getötet hatte. Die Christen hätten vom Fleis<strong>ch</strong> Gonzalo de<br />

Umbrías und Beatriz de Acevedos gegessen! Da ihnen si<strong>ch</strong>eres Geleit zugesi<strong>ch</strong>ert worden war,<br />

konnten sie unversehrt na<strong>ch</strong> Veracruz zurückkehren. Seitdem herrs<strong>ch</strong>e offener Krieg – mit fünfzig<br />

kastilis<strong>ch</strong>en Soldaten und tausend Jaguaren des dicken Kaziken war Escalante im Begriff, gegen<br />

den übermä<strong>ch</strong>tigen Feind zu ziehen. Nur no<strong>ch</strong> ein Wunder könnte Veracruz retten.<br />

Cortés war wütend. Wurde ihm Veracruz entrissen, musste sein Unternehmen s<strong>ch</strong>eitern! So<br />

war es nun an ihm, das Wunder zu bewirken, das Escalante bes<strong>ch</strong>wor. Der Gedanke, Moctezuma<br />

gefangen zu nehmen, drängte si<strong>ch</strong> Cortés wieder auf. War die Gefangennahme wirkli<strong>ch</strong> undenkbar?<br />

Escalantes Brief gab ihm einen Vorwand. Denn es war mehr als wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>, dass die<br />

Sengende Glut die S<strong>ch</strong>eußli<strong>ch</strong>keit des kannibalis<strong>ch</strong>en Banketts ni<strong>ch</strong>t ohne Moctezumas Befehl<br />

auszuführen gewagt hätte. Selbst wenn es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t beweisen ließ, konnte Cortés geltend ma<strong>ch</strong>en,<br />

dass der Herr für die Untat eines Dieners verantwortli<strong>ch</strong> ist.<br />

*<br />

Am 8. November 1519 leu<strong>ch</strong>tete na<strong>ch</strong> regneris<strong>ch</strong>er Na<strong>ch</strong>t ein wundervolles Morgenrot am wolkenarmen<br />

Himmel und vergoldete den Felskoloss der Weißen Frau. Glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Tagesanbru<strong>ch</strong> hatte<br />

si<strong>ch</strong> das Christenheer am nördli<strong>ch</strong>en Stadttor Iztapalapás gesammelt. So winzig ers<strong>ch</strong>ien Cortés<br />

plötzli<strong>ch</strong> seine Streitma<strong>ch</strong>t, dass er Alvarado no<strong>ch</strong> einmal in den Tecpan s<strong>ch</strong>ickte, um na<strong>ch</strong>zufors<strong>ch</strong>en,<br />

ob niemand zurückgeblieben sei. Aber es waren keine Na<strong>ch</strong>zügler zu finden.<br />

So mars<strong>ch</strong>ierte das kleine Heer auf dem zwei Meilen langen Steindamm dem südli<strong>ch</strong>en<br />

Stadttor Teno<strong>ch</strong>titláns zu. Der breite Dammweg, auf dem a<strong>ch</strong>t Reiter nebeneinander paradieren<br />

konnten, war von Neugierigen dermaßen überfüllt, dass ein Vorankommen bald unmögli<strong>ch</strong> wurde.<br />

S<strong>ch</strong>on tags zuvor war die Ankunft in Iztapalapá auf der großen Heerstraße dur<strong>ch</strong> die Vielzahl von<br />

Zus<strong>ch</strong>auern um Stunden verzögert worden. Und jetzt staute die Menge si<strong>ch</strong> so sehr, dass der<br />

Totonakenfürst Tehu<strong>ch</strong> herbei eilte und den Mexicanern zurief, dass die Söhne der Sonne jeden<br />

töteten, der si<strong>ch</strong> ihnen in den Weg stelle. So gab die Mens<strong>ch</strong>enmauer eine Gasse frei, warteten<br />

auf beiden Seiten des Dammwegs und ließen die Christen s<strong>ch</strong>nellen S<strong>ch</strong>rittes vorankommen.<br />

Auf dem See s<strong>ch</strong>wammen unzählige Kanus, mit grell bemalten Männern, Frauen und Kindern<br />

besetzt, und am westli<strong>ch</strong>en Seeufer sah man greifbar nahe die Städte Chapultepec und<br />

Coyoacán. Beide Orte bestanden aus mehreren tausend, teils an Land, teils auf Pfahlwerk in den<br />

See gebauten Häusern und pra<strong>ch</strong>tvoll getürmten Tempeln.<br />

Von Chalputepec führte ein anderer Steindamm ebenfalls na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán und traf na<strong>ch</strong> etwa<br />

einer halben Meile, an dem mit hohen Wehrtürmen versehenen Bollwerk Aca<strong>ch</strong>inanco, mit dem<br />

Damm von Iztapalapá zusammen. Dort vers<strong>ch</strong>molzen die beiden Dammwege innerhalb des Bollwerks<br />

und verließen es dur<strong>ch</strong> das Teno<strong>ch</strong>titlán gegenüberliegende Tor. Die langen, aus großen<br />

Granitquadern erri<strong>ch</strong>teten Steindämme waren an mehreren Stellen dur<strong>ch</strong>sto<strong>ch</strong>en; die zwanzig Fuß<br />

breiten Kanäle wurden von zierli<strong>ch</strong> gezimmerten Holzbrücken überwölbt.<br />

Wie im Fieber s<strong>ch</strong>ritten die Eroberer voran. Die Bilder einer unvorstellbaren Exotik ließ ihre<br />

Erregung immer no<strong>ch</strong> anwa<strong>ch</strong>sen und versetzte sie in einen Zustand von Raus<strong>ch</strong> und Taumel,<br />

sodass nur no<strong>ch</strong> wenige die Nü<strong>ch</strong>ternheit besaßen, Betra<strong>ch</strong>tungen darüber anzustellen, wie bequem<br />

es si<strong>ch</strong> zwar na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán hineins<strong>ch</strong>ritt, wie s<strong>ch</strong>wierig aber (angesi<strong>ch</strong>ts der lei<strong>ch</strong>t<br />

entfernbaren Holzbrücken) der Rückweg sein könnte.<br />

»Nun sitzen wir in der Mausefalle!«, knurrte Francisco de Lugo dem an seiner Seite reitenden<br />

Cristobál de Olíd ins Ohr, als sie den ersten Dur<strong>ch</strong>sti<strong>ch</strong> hinter si<strong>ch</strong> hatten.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 229<br />

Ohne Verzug wurden au<strong>ch</strong> die anderen Holzbrücken übers<strong>ch</strong>ritten. Die Vorhut hatte die Festung<br />

Aca<strong>ch</strong>inanco errei<strong>ch</strong>t. Hier jedo<strong>ch</strong> trat eine Verzögerung ein. Die Honoratioren Mexicos wollten<br />

den Grünen Stein begrüßen. Kopalrau<strong>ch</strong>wolken wallten den Christen entgegen; umragt von wehenden<br />

Federwerkstandarten und umtost vom Klang dumpfer Teponaztlitrommeln und s<strong>ch</strong>rillem<br />

Flötengeklage kam der Adel Teno<strong>ch</strong>titláns dem Grünen Stein mit Handfahnen, Zeremonienstäben<br />

und Fä<strong>ch</strong>ern entgegen. Sie meldeten das Herannahen des Weltherrn! Sonnenglanz hüpfte und<br />

wirbelte im s<strong>ch</strong>illernden Geflirr und Gewirr der goldgrünen Federkronen, der s<strong>ch</strong>warzgelben Federbüs<strong>ch</strong>el,<br />

der blutroten Federquasten – von denen jede für einen erlegten Feind stand. Edelsteinriemen,<br />

glitzernder Brusts<strong>ch</strong>muck und Stirnbinden aus Edelmetall funkelten im Li<strong>ch</strong>t; Perlen,<br />

Amethyste, Rubine und<br />

Opale leu<strong>ch</strong>teten auf<br />

den grasgrün, ockergelb<br />

oder kobaltblau<br />

ges<strong>ch</strong>minkten Männerkörpern.<br />

Außer ihren<br />

blitzenden Juwelen<br />

trugen sie nur eine<br />

s<strong>ch</strong>lohweiße oder grellrote<br />

S<strong>ch</strong>ambinde und<br />

einen mit Edelfedern<br />

verbrämten kurzen,<br />

pon<strong>ch</strong>oähnli<strong>ch</strong>en Umhang.<br />

Viertausend Adlige<br />

zogen am Sohn<br />

der Sonne vorbei. Jeder<br />

von ihnen räu<strong>ch</strong>erte<br />

und grüßte, indem er<br />

mit der Hand die Erde<br />

berührte und sie dann<br />

zu den Lippen führte.<br />

Teno<strong>ch</strong>titlán, von Norden<br />

gesehen (Das Aquarell wird<br />

Cortés zuges<strong>ch</strong>rieben).<br />

Cortés ritt an der Spitze seiner Feldobristen dem Heer voraus. Sein Page Juan de Salazar<br />

und sein Stallmeister Martín de Gamba s<strong>ch</strong>ritten links vom s<strong>ch</strong>warzen Romo, Marina, die ihrer<br />

Sänfte entstiegen war, ging re<strong>ch</strong>ts davon, als indianis<strong>ch</strong>e Fürstin gekleidet. Kaum hatte Cortés das<br />

Bollwerk Aca<strong>ch</strong>inanco dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ritten, gewahrte er das diamantenhafte Funkeln des königli<strong>ch</strong>en<br />

Zuges. Do<strong>ch</strong> es dauerte no<strong>ch</strong> eine Weile, bevor sein Auge Einzelheiten erkennen konnte.<br />

Am letzten Dammdur<strong>ch</strong>sti<strong>ch</strong> trafen sie zusammen. Drei Adlige s<strong>ch</strong>ritten voraus und stützten<br />

si<strong>ch</strong> auf mannshohe Goldstäbe. Dann folgten vier große Tragsessel, über und über prunkvoll mit<br />

stilisierten Blumen und Rankenwerk aus reinem Gold, eingearbeiteten Perlen und Edelsteinen verziert.<br />

Im vordersten Tragsessel saß Moctezuma, in den drei anderen die Könige von Tezcoco und<br />

Tacuba, der Edle Betrübte und der Dur<strong>ch</strong>-Wohlgestalt-Glänzende, sowie Moctezumas Bruder, der<br />

Überwinder, Fürst von Iztapalapá. Der Tragsessel Moctezumas ruhte auf den S<strong>ch</strong>ultern von se<strong>ch</strong>s<br />

Adlerprinzen – Adligen der Kriegerkaste –; vier andere Adlerprinzen hielten die silbernen Masten<br />

eines den Weltherrn überda<strong>ch</strong>enden Balda<strong>ch</strong>ins aus metallis<strong>ch</strong> flammenden Kolibrifedern. Die<br />

Träger des Sessels und des Balda<strong>ch</strong>ins gingen barfuß; zu ihnen zählten die hö<strong>ch</strong>sten Staatsbeamten:<br />

der Ordner der Heers<strong>ch</strong>aren, der Vorsteher des Speerhauses, der Vorsteher des S<strong>ch</strong>warzen<br />

Hauses und der königli<strong>ch</strong>e Kanzler Weibli<strong>ch</strong>er Zwilling. Eine zwei Klafter lange Fahne, ein Meisterwerk<br />

der königli<strong>ch</strong>en Federmosaikarbeiter, flatterte neben dem goldenen Tragsessel<br />

Moctezumas. Sie war aus Federn des seltenen s<strong>ch</strong>warzgelben Trupialvogels gearbeitet. In ihrer<br />

Mitte blinkte auf s<strong>ch</strong>warzem Hintergrund ein überlebensgroßer grellgelber Totens<strong>ch</strong>ädel.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 230<br />

Erste Begegnung<br />

Moctezumas mit Cortés<br />

(Genré-Darstellung aus dem<br />

19. Jh., CORBIS).<br />

Moctezuma und die<br />

anderen Könige verließen<br />

ihre Tragsessel. Würdenträger<br />

bückten si<strong>ch</strong> und<br />

breiteten kostbare Teppi<strong>ch</strong>e<br />

aus, damit der Fuß<br />

des Herrn der Welt den<br />

Boden ni<strong>ch</strong>t berühre.<br />

Moctezuma s<strong>ch</strong>ritt Cortés<br />

entgegen und wurde von<br />

den ihm zur Re<strong>ch</strong>ten und<br />

zur Linken barfuss gehenden Mitregenten des Drei-Städte-Bundes, den Königen von Tezcoco und<br />

Tacuba, an den Ellenbogen gestützt. Die Volksmenge fiel nieder und berührte mit den Stirnen den<br />

Boden des Steindamms. Niemand außer den Adligen durfte es wagen, den Blick zum Herrn der<br />

Welt zu erheben. Zweihundert Prinzen, alle ohne S<strong>ch</strong>uhe, do<strong>ch</strong> in mär<strong>ch</strong>enhafter Kleiderpra<strong>ch</strong>t,<br />

folgten je zwei und zwei den Königen; se<strong>ch</strong>s Axtträger mit kupfernen Prunkäxten gingen voran.<br />

Cortés warf seinem Stallmeister die Zügel Romos zu und s<strong>ch</strong>wang si<strong>ch</strong> aus dem Sattel. Mit<br />

kühler Neugier beoba<strong>ch</strong>tete er den Gang, die Gestalt und die Kleidung des Mannes, dem zu begegnen,<br />

den gefangen zu nehmen und dessen Rei<strong>ch</strong> zu besiegen seit so vielen Monaten sein Ziel<br />

war.<br />

Er gli<strong>ch</strong> aufs Haar dem fals<strong>ch</strong>en Moctezuma im vers<strong>ch</strong>neiten Berghospiz, wie Cortés erkannte,<br />

do<strong>ch</strong> sein Körper war no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lanker und ges<strong>ch</strong>meidiger als der des Tempelhüters, und<br />

s<strong>ch</strong>wermütiger war sein Gesi<strong>ch</strong>t. Ihm fiel au<strong>ch</strong> auf, dass der König si<strong>ch</strong> bei weitem phantastis<strong>ch</strong>er<br />

als der fals<strong>ch</strong>e Moctezuma kleidete. Der wahre Herrs<strong>ch</strong>er hatte für die Begegnung mit dem Enkel<br />

Quetzalcoatls eine seiner seltsamen Kriegstra<strong>ch</strong>ten gewählt: Er trug einen westenähnli<strong>ch</strong>en Brusts<strong>ch</strong>muck<br />

aus gelben Papageienfedern und einen glockigen Rock aus blauen Federn, der von den<br />

Hüften bis zu den Knien rei<strong>ch</strong>te. Seine Sandalen, Sandalenriemen und Wadens<strong>ch</strong>ienen bestanden<br />

aus Gold, und an der blauen Diadembinde strahlte als einzige Verzierung ein Türkisvogel, der mit<br />

dem Kopf s<strong>ch</strong>räg na<strong>ch</strong> unten fliegend dargestellt war und mit dem S<strong>ch</strong>nabel die Mitte der Stirn<br />

berührte. Auf dem Rücken Moctezumas war die aus Federn na<strong>ch</strong>gebildete Ungestalt eines Dämons<br />

zu sehen, der Obsidian-S<strong>ch</strong>metterling, ein s<strong>ch</strong>eußli<strong>ch</strong>er Dra<strong>ch</strong>e mit flets<strong>ch</strong>endem, aufgerissenem<br />

Ra<strong>ch</strong>en und langem E<strong>ch</strong>sens<strong>ch</strong>weif. Die Augen, Füße und Krallen bestanden aus Gold,<br />

und an den Rändern der langen S<strong>ch</strong>metterlingsflügel blitzten s<strong>ch</strong>arfe Feuersteinmesser. Eine<br />

Goldspange mit einer taubeneigroßen Kamee, ein »Blutstein«, zierte das linke Handgelenk<br />

Moctezumas, und in der re<strong>ch</strong>ten Hand hielt er einen mit Saphiren besetzten Beinkno<strong>ch</strong>en.<br />

Cortés s<strong>ch</strong>ritt Moctezuma entgegen. Er wollte si<strong>ch</strong> tief vor dem Herrs<strong>ch</strong>er verbeugen und ihn dann<br />

zeremoniell umarmen, wie die Monar<strong>ch</strong>en Europas es zu tun pflegten. S<strong>ch</strong>on stand er di<strong>ch</strong>t vor<br />

dem König. In dem Augenblick aber, als er die Arme ausbreitete, um Moctezumas S<strong>ch</strong>ultern zu<br />

umfangen, stellte der Edle Betrübte si<strong>ch</strong> wie s<strong>ch</strong>ützend vor den Zornigen Herrn und verhinderte die<br />

körperli<strong>ch</strong>e Berührung. Cortés verzog keine Miene, obwohl ihn das unvorhergesehene Verhalten<br />

des Edlen Betrübten einen kaum bemerkten Moment lang verwirrt hatte. Höfli<strong>ch</strong> lä<strong>ch</strong>elte er den<br />

König an, und Moctezuma lä<strong>ch</strong>elte ein wenig gequält zurück. Ihre Augen aber lä<strong>ch</strong>elten ni<strong>ch</strong>t; sie<br />

maßen einander wie Raubtiere, die si<strong>ch</strong> im Urwalddicki<strong>ch</strong>t begegnen.<br />

Moctezuma war si<strong>ch</strong> bewusst, dass Cortés eine unerhörte S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> widerfahren war, do<strong>ch</strong><br />

zu bereuen gab es ni<strong>ch</strong>ts – der Edle Betrübte hatte ihn vor S<strong>ch</strong>limmerem bewahrt: Der König Mexicos<br />

galt als göttli<strong>ch</strong>es Wesen, und wer ihn berührte, war des Todes.<br />

Moctezuma beeilte si<strong>ch</strong>, den peinli<strong>ch</strong>en Augenblick zu überspielen. Er winkte einen seiner<br />

prinzli<strong>ch</strong>en Begleiter heran, einen Blumenträger, streifte den aus Affenleder gefertigten blauen<br />

Hands<strong>ch</strong>uh von der re<strong>ch</strong>ten Hand und entnahm der Jadevase langstielige Or<strong>ch</strong>ideen. Na<strong>ch</strong>dem er<br />

die Hand zur Erde und dann zum Mund geführt hatte, verbeugte er si<strong>ch</strong> und rei<strong>ch</strong>te Cortés die


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 231<br />

Blumen. Der nahm sie mit ebenfalls stummer Verneigung entgegen und gab dem königli<strong>ch</strong>en<br />

S<strong>ch</strong>atzmeisters Mejía ein Zei<strong>ch</strong>en, der si<strong>ch</strong> mit einem roten Samtkissen auf den ausgestreckten<br />

Armen dienernd näherte. Darauf lag ein Halsband aus venezianis<strong>ch</strong>em Talmi, das e<strong>ch</strong>ten Perlen<br />

und Diamanten täus<strong>ch</strong>end na<strong>ch</strong>gebildet war. Cortés überrei<strong>ch</strong>te es dem König mit unna<strong>ch</strong>ahmli<strong>ch</strong>er<br />

Grandezza. Als Gegenges<strong>ch</strong>enk hängte Moctezuma ihm zwei s<strong>ch</strong>were Goldketten um den<br />

Hals; die Kettenglieder bestanden aus s<strong>ch</strong>ön gearbeiteten goldenen Meerkrabben.<br />

Nun begann eine Begrüßungszeremonie dur<strong>ch</strong> zweihundert Prinzen. Als dreißig oder vierzig,<br />

na<strong>ch</strong>dem sie den Boden und dann den Mund mit der Hand berührt hatten, an Cortés vorbei defiliert<br />

waren, wollte Moctezuma die weißen Götter ni<strong>ch</strong>t<br />

länger aufhalten. Er ma<strong>ch</strong>te mit der Re<strong>ch</strong>ten eine einladende<br />

Handbewegung und s<strong>ch</strong>ritt mit Cortés der<br />

Stadt entgegen. Am Stadttor verabs<strong>ch</strong>iedete er si<strong>ch</strong>,<br />

stieg in seine Sänfte und beauftragte seinen Bruder,<br />

den Überwinder, gemeinsam mit dem Edlen Betrübten<br />

die Besu<strong>ch</strong>er dur<strong>ch</strong> die von Neugierigen überfüllte und<br />

vor Erregung wie ein Bienenkorb summende Stadt zum<br />

Tecpan seines Vaters König Wassergeist zu führen.<br />

Einzug der Spanier in Teno<strong>ch</strong>titlán (Glasmalerei)<br />

Der Palast mit seinen Nebengebäuden und Gärten<br />

befand si<strong>ch</strong> im zentralen Stadtviertel Moyotla,<br />

glei<strong>ch</strong> neben dem S<strong>ch</strong>langenberg-Tempel. In seiner<br />

düsteren Pra<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>ien der alte Tecpan vom Geist einer<br />

versunkenen Epo<strong>ch</strong>e umweht, und aus den in Stein<br />

verewigten Mens<strong>ch</strong>enopfern der Wände starrte den<br />

Bes<strong>ch</strong>auer ein Bild ritueller Grausamkeit an.<br />

Glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>dem das Heer angelangt war, befahl<br />

Cortés, den Palast in eine uneinnehmbare Burg zu<br />

verwandeln. Inzwis<strong>ch</strong>en war Mittag geworden. Ein königli<strong>ch</strong>es<br />

Mahl für die Offiziere und Manns<strong>ch</strong>aften wurde<br />

aufgetragen und unter der Aufsi<strong>ch</strong>t von Moctezumas<br />

Tafelmeister von hundert Sklaven und Sklavinnen serviert.<br />

Na<strong>ch</strong> dem Essen wurde gedrehter tabacco gerei<strong>ch</strong>t; alle rau<strong>ch</strong>ten und hielten dann Siesta.<br />

Gegen Abend stattete Moctezuma Cortés einen Besu<strong>ch</strong> ab. Cortés, von seinem kleinen Hofstaat<br />

umgeben, empfing den König am großen Tor des Tecpans und geleitete ihn in den Audienzsaal.<br />

Auf einer Estrade prangten dort zwei mit Halbedelsteinen verzierte und mit Jaguarfellen bedeckte<br />

Thronsessel. Moctezuma hieß seine Begleiter, si<strong>ch</strong> an einer der Längswände aufzustellen.<br />

Der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Hofstaat verhielt gegenüber an der anderen Längswand.<br />

Cortés wartete, bis Moctezuma Platz genommen hatte. Marina übersetzte. Mit Na<strong>ch</strong>denkli<strong>ch</strong>keit<br />

und Trauer ruhten die Blicke Moctezumas auf Marinas s<strong>ch</strong>önem Gesi<strong>ch</strong>t, während sie<br />

lei<strong>ch</strong>t und gewandt seine Worte übertrug. Seit die Wä<strong>ch</strong>ter des Meeres die erste Kunde von den<br />

Wasserhäusern überbra<strong>ch</strong>t und das Mäd<strong>ch</strong>en Malintzín mit der Blumengöttin vergli<strong>ch</strong>en hatten,<br />

war von allen ausgesandten Kunds<strong>ch</strong>aftern, Zauberern und au<strong>ch</strong> von den Gesandten – dem Silberpuma,<br />

der Sengenden Glut, dem S<strong>ch</strong>lagenden Falken, dem Grauen S<strong>ch</strong>akal – immer wieder ihr<br />

Name genannt, ihr Liebreiz bes<strong>ch</strong>rieben, ihre Klugheit mit Bewunderung erwähnt worden. Die<br />

Malintzín sei ein zauberhaftes, aber au<strong>ch</strong> Verderben bringendes Ges<strong>ch</strong>öpf. Die Trauer um sein<br />

Land und um sein eigenes Los verstärkte si<strong>ch</strong> angesi<strong>ch</strong>ts des Glanzes des kühnen Eindringlings<br />

und seiner Gefährtin, die ein Kind Mexicos war und ihr Land und ihn verriet. Trotzdem fühlte er<br />

si<strong>ch</strong> wundersam zu ihr hingezogen.<br />

»O meine To<strong>ch</strong>ter, o Malintzín«, begann Moctezuma, »sag dem Sohn der Sonne, was i<strong>ch</strong> dir<br />

sage.«<br />

Er ri<strong>ch</strong>tete die ersten Worte an Marina, wie es vor ihm die meisten einheimis<strong>ch</strong>en Fürsten<br />

und Gesandten bei Verhandlungen mit Cortés getan hatten. Moctezuma sagte zu Cortés:


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 232<br />

»Herr, du bist müde! Die Reise hat di<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>öpft, aber nun bist du auf der Erde angekommen,<br />

bist in dies Land gekommen, das dein ist, in deine Stadt und deine Behausung Mexico. Du<br />

bist hierher gekommen, um auf deinem Thron zu sitzen, auf deinem Königssitz, auf dem i<strong>ch</strong> selbst<br />

in deinem Namen etli<strong>ch</strong>e Tage gethront habe. I<strong>ch</strong> übernahm das Amt, dein mexicanis<strong>ch</strong>es Volk zu<br />

beherrs<strong>ch</strong>en; die Bürde, für deines Landes Verwaltung und für deine Untertanen zu sorgen, habe<br />

i<strong>ch</strong> getragen. Anderen hinges<strong>ch</strong>wundenen Königen gehörte dieses Land vordem. Weder s<strong>ch</strong>auen<br />

no<strong>ch</strong> wissen meine Vorgänger, was heute ges<strong>ch</strong>ieht. Hätte es den Göttern do<strong>ch</strong> gefallen, dass<br />

einer der verstorbenen Könige no<strong>ch</strong> unter uns weile und erlebt, was unter meiner Herrs<strong>ch</strong>aft ges<strong>ch</strong>ieht!<br />

Do<strong>ch</strong> sie sind dahin, o Sohn der Sonne; und i<strong>ch</strong> träume ni<strong>ch</strong>t, wahrli<strong>ch</strong>, mit eigenen Augen<br />

sehe i<strong>ch</strong> dein Antlitz und deine Gestalt! Wahr ist, was unsere Vorfahren uns als Weissagung hinterlassen<br />

haben: Du werdest wiederkehren, Herr zu sein über diese Königrei<strong>ch</strong>e, du werdest deinen<br />

Thron und Königssitz wieder einnehmen. I<strong>ch</strong> sehe jetzt, dass sie wahr gespro<strong>ch</strong>en haben. So<br />

sei willkommen und erfreue di<strong>ch</strong> in deinen Palästen an meinem Gold und Silber, an meinen Juwelen<br />

und den kostbaren Federn, denn deinetwegen habe i<strong>ch</strong> sie gesammelt und aufbewahrt!«<br />

Zwei große Tränen glitzerten an Moctezumas Wimpern, rollten über die hohlen Wangen.<br />

In seiner Antwort dankte Cortés für die übers<strong>ch</strong>wängli<strong>ch</strong>e Freigebigkeit.<br />

»Wir haben ni<strong>ch</strong>t des Goldes und des Silbers wegen den mühseligen Weg na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán<br />

zurückgelegt«, sagte er. »Mein hoher Gebieter, der große Herr des Sonnenaufgangs, Don Carlos<br />

de Austria, fühlt tiefes Mitleid mit dem Herrs<strong>ch</strong>er Mexicos und seinen Völkern. Ihr dient fals<strong>ch</strong>en<br />

Göttern, die eure Seelen verdorben haben. Deshalb seid ihr der ewigen Höllenstrafe verfallen, in<br />

flammenumloderten Kesseln, in Pfuhlen voll Mens<strong>ch</strong>enkot, in glühenden Bleisärgen oder im Eise<br />

des untersten Höllenringes werdet ihr einst für euren Irrglauben büßen müssen, von Höllengabeln<br />

und Zangen der Diener Beelzebubs zerfleis<strong>ch</strong>t – es sei denn, dass eu<strong>ch</strong> das Heil gebra<strong>ch</strong>t werde<br />

und ihr es ni<strong>ch</strong>t von eu<strong>ch</strong> weist.«<br />

Moctezuma hatte aufmerksam zugehört. »O Herr des Sonnenaufgangs, du Strahlender, bist<br />

du derjenige, der uns das Heil bringt?«, fragte er lauernd.<br />

Cortés erwiderte: »So ist es! Mein Herr, Seine Majestät König Carlos von Kastilien, der<br />

mä<strong>ch</strong>tigste Herrs<strong>ch</strong>er des Ostens, hat mi<strong>ch</strong> aus seinem Rei<strong>ch</strong> jenseits des Ozeans hergesandt,<br />

auf dass i<strong>ch</strong> den Völkern Anahuacs Kunde bringe vom wahren Heil des <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Glaubens. Er<br />

gab mir den Befehl, den großen Moctezuma aufzusu<strong>ch</strong>en und die Völker Mexicos aus der Finsternis<br />

zu befreien.«<br />

Marina übersetzte die Worte des caudillo auf ihre Weise: »Der erbarmungsvolle gnädige<br />

Kaiser Don Carlos hat mi<strong>ch</strong> und mein Heer entsandt, das Friedensrei<strong>ch</strong> der Gefiederten S<strong>ch</strong>lange<br />

– die Herrs<strong>ch</strong>aft des über allen Mens<strong>ch</strong>en und Königen thronenden Quetzalcoatl – wieder zu erri<strong>ch</strong>ten.<br />

Und jetzt, da i<strong>ch</strong> dem großen König Anahuacs, Moctezuma, von Angesi<strong>ch</strong>t zu Angesi<strong>ch</strong>t<br />

gegenüberstehe und sehe, wel<strong>ch</strong> ein freigebiger Fürst er ist, zweifle i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr, dass die Völker<br />

Mexicos den Dienern Satans entrinnen werden, gerettet dur<strong>ch</strong> Moctezuma!«<br />

»Und i<strong>ch</strong>? Muss i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> gerettet werden? Wovor und warum? I<strong>ch</strong> bin Moctezuma, der König<br />

von Teno<strong>ch</strong>titlán! Meine Worte und mein Handeln stehen über allem Gesetz!«<br />

Cortés blickte dem König streng in die Augen und erwiderte: »Au<strong>ch</strong> du musst gerettet werden!<br />

Du musst di<strong>ch</strong> der göttli<strong>ch</strong>en Gere<strong>ch</strong>tigkeit unterordnen und zu einem Fürsten der Gere<strong>ch</strong>tigkeit<br />

in den Ländern des Westens werden, wie Don Carlos es in den Ländern des Ostens ist. Eure<br />

Völker haben bisher in der Finsternis gelebt. Auf meinem Zug über die S<strong>ch</strong>neeberge habe i<strong>ch</strong> von<br />

den Totonaken, Tlaxcalteken und Cempoalanern man<strong>ch</strong>erlei Klagen gehört über die Blutgier der<br />

Götter, der Könige und der Völker des Drei-Städte-Bundes. I<strong>ch</strong> lege den Ans<strong>ch</strong>uldigungen kein<br />

großes Gewi<strong>ch</strong>t bei; Kriege vergiften die Seelen, sodass fremdes Unre<strong>ch</strong>t aufgebaus<strong>ch</strong>t und das<br />

eigene Unre<strong>ch</strong>t gern übersehen wird. Do<strong>ch</strong> viellei<strong>ch</strong>t muss i<strong>ch</strong> bei anderer Gelegenheit auf die<br />

Anklagen zurückzukommen, denn i<strong>ch</strong> werde als S<strong>ch</strong>iedsri<strong>ch</strong>ter keinem anderen Leitstern folgen<br />

als dem der heiligen Gere<strong>ch</strong>tigkeit.«<br />

Moctezuma antwortete ni<strong>ch</strong>t. Die Erwähnung der Tlatepoca hatte ihm die Tränen getrocknet.<br />

Dass mit den Kastiliern viertausend Rebellen na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán gekommen waren, empörte jedes<br />

mexicanis<strong>ch</strong>e Herz. Mit heiterem Antlitz und überaus höfli<strong>ch</strong> erkundigte er si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Rang der<br />

Unterfeldherren. Cortés stellte ihm seine Feldobristen, seine Fähnri<strong>ch</strong>e und einige seiner besten<br />

Soldaten vor und au<strong>ch</strong> die Anführer der Hilfstruppen: Tehu<strong>ch</strong>, Pimoti und die Blaue Feder. Der<br />

Kriegsruhm des Totonaken und besonders des verwegenen Pimoti, der in Cholula dem Herr-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 233<br />

s<strong>ch</strong>enden Raubtier die weiße S<strong>ch</strong>minke überbra<strong>ch</strong>t hatte, war Moctezuma bekannt, und – mo<strong>ch</strong>ten<br />

sie au<strong>ch</strong> Feinde sein – er ehrte sie dur<strong>ch</strong> ein flü<strong>ch</strong>tiges Neigen des Kopfes. Dass aber der Erzrebell<br />

Blaue Feder, der Überwinder des Feldherrn die Rose und Brands<strong>ch</strong>atzer vieler mexicanis<strong>ch</strong>en<br />

Städte si<strong>ch</strong> unter dem S<strong>ch</strong>utz der Gelbhaarigen im alten Tecpan aufhielt, empfand Moctezuma als<br />

unverzeihli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>. Finster wandte er si<strong>ch</strong> ab und bea<strong>ch</strong>tete ni<strong>ch</strong>t, dass der junge König si<strong>ch</strong><br />

ans<strong>ch</strong>ickte, ihm die Hände und die Füße zu küssen. Blaue Feder erstarrte.<br />

Der Zornige Herr lies seine Ges<strong>ch</strong>enke hereintragen und<br />

an die Feldobristen verteilen – Gold, Silber, Edelsteinges<strong>ch</strong>meide,<br />

fünftausend baumwollene Mäntel. Der hellblonde blauäugige<br />

Alvarado fiel dem Zornigen Herrn auf und wurde dur<strong>ch</strong> die<br />

Frage geehrt, ob er Tonatiuh sei, der Sonnenheld. Alvarado<br />

verneinte verlegen. Beim Abs<strong>ch</strong>ied ließ Cortés den Knaben<br />

Orteguilla als Pagen beim König zurück – ni<strong>ch</strong>t als Ges<strong>ch</strong>enk,<br />

sondern als ein Pfand seiner Freunds<strong>ch</strong>aft und ehrfür<strong>ch</strong>tigen<br />

Ergebenheit, wie er si<strong>ch</strong> ausdrückte. Es lag ihm daran, vom<br />

ersten Tag an einen Spion in der Umgebung Moctezumas zu<br />

haben. Der Knabe war genau unterri<strong>ch</strong>tet worden, wie er si<strong>ch</strong><br />

zu verhalten habe.<br />

Ein eleganter und stattli<strong>ch</strong>er Höfling, das war Pedro de Alvarado, als er<br />

im Alter von vierundzwanzig Jahren 1519 mit Cortez na<strong>ch</strong> Mexiko fuhr.<br />

Zuerst s<strong>ch</strong>ätzte Moctezuma den rotblonden Hauptmann so sehr, daß er<br />

ihn »Die Sonne« nannte. Als aber Alvarado mit dem Oberbefehl in<br />

Teno<strong>ch</strong>titlän beauftragt wurde, vers<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terte si<strong>ch</strong> die gute<br />

Zusammenarbeil zwis<strong>ch</strong>en ihm und dem Kaiser und führte s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />

zur Katastrophe. Auf dem na<strong>ch</strong> seinem Tode angefertigten Bild trägt<br />

Alvarado das rote Armband des spanis<strong>ch</strong>en Ordens von Santiago<br />

(Museo Nacional de Historia, Chpultepec, Merxiko)<br />

Na<strong>ch</strong> Sonnenuntergang ließ der Generalkapitän die Kartaunen,<br />

Felds<strong>ch</strong>langen, Musketen und Hakenbü<strong>ch</strong>sen abfeuern – wenn au<strong>ch</strong> diesmal nur zur Begrüßung,<br />

wie Cortés s<strong>ch</strong>erzhaft meinte. Aber sie versetzten die Bewohner Mexicos in Angst und S<strong>ch</strong>recken.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 234<br />

17. Sengende Glut<br />

Adler und Jaguare<br />

»Da kam i<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> fleißigem Erwägen zu der Meinung, es wäre wohl ratsam und nützli<strong>ch</strong> zur<br />

Mehrung der Ma<strong>ch</strong>t Eurer Kaiserli<strong>ch</strong>en Majestät, uns aber zu S<strong>ch</strong>utz und S<strong>ch</strong>irm, dass wir<br />

die Person des Herrn Moctezuma in unsere Gewalt brä<strong>ch</strong>ten.«<br />

(Hernán Cortés, <strong>2.</strong> Brief an Kaiser Karl V. vom 30. Oktober 1520)<br />

Die Na<strong>ch</strong>t und der S<strong>ch</strong>laf hatten si<strong>ch</strong> auf Teno<strong>ch</strong>titlán herabgesenkt. Die Stille wurde nur selten<br />

dur<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>ifferrufe in den engen s<strong>ch</strong>warzen Kanälen, dur<strong>ch</strong> Wä<strong>ch</strong>terrufe der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Posten<br />

auf der Umfassungsmauer des alten Tecpans oder dur<strong>ch</strong> Lockrufe der Süßduftenden im großen<br />

Freudenhaus Tlatelolcos gestört.<br />

Kurz vor der Morgendämmerung lief ein Bote aus dem Huaxtekenland atemlos auf dem<br />

Steindamm von Iztapalapá der Wasserstadt entgegen. Er trug eine kleine Holzkiste auf dem Rücken;<br />

das Abzei<strong>ch</strong>en des Wiesels verriet die Bedeutsamkeit seiner Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten. Von der Besatzung<br />

des Bollwerks Aca<strong>ch</strong>inanco und des südli<strong>ch</strong>en Stadttors wurde er ohne Verzug dur<strong>ch</strong>gelassen.<br />

Im Huei-Tecpan trat ihm der Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e im ersten Palastsaal entgegen,<br />

fragte ihn aus, von wo und von wem er komme, und begab si<strong>ch</strong>, na<strong>ch</strong>dem er erfahren hatte,<br />

dass der Läufer von Sengender Glut Bots<strong>ch</strong>aft bringe, ins königli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>lafgema<strong>ch</strong>, den S<strong>ch</strong>lummer<br />

des Weltherrn zu stören.<br />

Wie damals vor a<strong>ch</strong>t Monaten, als der Silberpuma na<strong>ch</strong>ts ers<strong>ch</strong>ien, um über die blutlose Opferhandlung<br />

unter freiem Himmel, den Wettlauf der Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en auf den Dünen, die Donnerwaffen,<br />

die Trunkenheit der weißen Frau und die mit Goldkörnern zu füllende Sturmhaube des<br />

Namenlosen Beri<strong>ch</strong>t zu erstatten und das Hirs<strong>ch</strong>hautpergament seines Mens<strong>ch</strong>enmalers vorzulegen<br />

– so wollte au<strong>ch</strong> diesmal der Zornige Herr die nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>reckensna<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t in seinem<br />

S<strong>ch</strong>lafgema<strong>ch</strong> entgegennehmen und ließ den Läufer in den Saal der Bots<strong>ch</strong>aften führen. Wie damals<br />

fünf nackten, mit Kreide geweißten Opfersklaven den Edelstein aus der Brust s<strong>ch</strong>neiden zu<br />

lassen, gab es diesmal jedo<strong>ch</strong> keinen Grund, denn der Läufer hatte ni<strong>ch</strong>t im Angesi<strong>ch</strong>t der Götter<br />

geweilt, hatte ni<strong>ch</strong>t mit Göttern Reden gewe<strong>ch</strong>selt und musste daher ni<strong>ch</strong>t mit Blut übergossen<br />

werden. Der Glaube an die Göttli<strong>ch</strong>keit der weißen Männer war ges<strong>ch</strong>wunden.<br />

Mit S<strong>ch</strong>metterlingsbemalung im Gesi<strong>ch</strong>t und in einem Prunkkleid, auf das skelettköpfige<br />

Waldkatzen gestickt waren, begab si<strong>ch</strong> Moctezuma in den Saal der Bots<strong>ch</strong>aften und nahm auf<br />

dem Thron unter dem Balda<strong>ch</strong>in aus Adlerdaunen Platz. Er trug eine Krone aus ges<strong>ch</strong>uppten Silberplatten<br />

– eine Wangen und Stirn einrahmende Haube, aus deren be<strong>ch</strong>erförmiger Spitze ein<br />

grüngoldener Bus<strong>ch</strong> Quetzalfedern emporwu<strong>ch</strong>s. Ein Ohrens<strong>ch</strong>muck in Gestalt silberner Maisähren<br />

hing ihm von den Ohrläpp<strong>ch</strong>en bis zu den S<strong>ch</strong>ultern.<br />

Kienfackeln, von Haus-Erleu<strong>ch</strong>tern gehalten, füllten den weiten Saal mit Rau<strong>ch</strong>streifen.<br />

S<strong>ch</strong>ummrig beleu<strong>ch</strong>tet von gaukelnden Flammen hüpften die blank polierten Götzenskulpturen der<br />

Jaspiswände, und ni<strong>ch</strong>t weniger geisterhaft ers<strong>ch</strong>ienen die Mens<strong>ch</strong>en im unwirkli<strong>ch</strong>en Feuers<strong>ch</strong>ein.<br />

Moctezuma vernahm die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten von den Ges<strong>ch</strong>ehnissen an der Meeresküste wie<br />

eine Fortsetzung seiner bösen Träume. Mit verängstigtem Blick starrte er auf die kleine Kiste aus<br />

Sandelholz, die ihm vom Boten gerei<strong>ch</strong>t wurde. Er nahm die Kiste ni<strong>ch</strong>t entgegen, ließ sie au<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t öffnen.<br />

»Erzähle zuerst!«, sagte er zum Läufer.<br />

Und der Bote erzählte. Mit vierzig Gelbhaarigen und tausend Totonaken war der Befehlshaber<br />

der Hafenfestung ins Feld gezogen, um die Sengende Glut wegen des Gastmahls zu bestrafen.<br />

Do<strong>ch</strong> die Sengende Glut nahm die S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t an. Sein Sohn Glänzender Harnis<strong>ch</strong> lockte<br />

mit seinen Adlern und Jaguaren die Feinde ins Landesinnere. Zur glei<strong>ch</strong>en Zeit zog die Sengende


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 235<br />

Glut mit dem Hauptteil der mexicanis<strong>ch</strong>en Truppen na<strong>ch</strong> Cempoala und verlangte den seit der<br />

Gefangensetzung Cuauhtémocs verweigerten Tribut. Als der dicke Kazike si<strong>ch</strong> auf das Verbot der<br />

Weißen berief, erklärte Sengende Glut, die weißen Verbre<strong>ch</strong>er seien bereits als Opfersklaven in<br />

Teno<strong>ch</strong>titlán gefangen; ihr Edelsteinwasser werde in den nä<strong>ch</strong>sten Tagen über die Tempeltreppen<br />

herabfließen. Er drohte mit der Zerstörung der Stadt Cempoala, wenn die Totonaken bei ihrer<br />

Weigerung blieben. Der Tribut wurde gezahlt. Nun wandte si<strong>ch</strong> die Sengende Glut gegen das Heer<br />

der Weißen. Als die S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t begann, ließen die tausend totonakis<strong>ch</strong>en Krieger auf Befehl ihres<br />

Königs die Weißen im Sti<strong>ch</strong>. Trotz ihrer Blitzwaffen wurden die Weißen in die Flu<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>lagen;<br />

sieben fanden den Tod. Der tödli<strong>ch</strong> verwundete Anführer und eines der Hirs<strong>ch</strong>ungeheuer gerieten<br />

in die Gewalt der Mexica.<br />

»Öffne die Kiste!«, sagte Moctezuma zum Boten. »I<strong>ch</strong> will das Ges<strong>ch</strong>enk der Sengenden<br />

Glut sehen!«<br />

Der Bote hob den Deckel. In farbige und parfümierte Tü<strong>ch</strong>er gewickelt lag dort ein kugelförmiger<br />

Gegenstand.<br />

»Entferne die Tü<strong>ch</strong>er!«, befahl Moctezuma.<br />

Der Bote entnahm der Kiste das Ges<strong>ch</strong>enk der Sengenden Glut, s<strong>ch</strong>älte die Hüllen ab und<br />

hielt es mit ausgestreckten Armen Moctezuma entgegen. Es war das Haupt Escalantes. Pergamenten<br />

leu<strong>ch</strong>tete die runzlige Haut des eingefallenen Gesi<strong>ch</strong>ts. Die s<strong>ch</strong>arfe Adlernase trat unnatürli<strong>ch</strong><br />

weit hervor. In den halb offenen Augen glomm ein Widers<strong>ch</strong>ein des Kienfackelli<strong>ch</strong>tes. Welk<br />

und vergilbt blinkte der weiße Knebelbart.<br />

Moctezuma warf einen kurzen s<strong>ch</strong>euen Blick auf das abges<strong>ch</strong>nittene Haupt, voller Grausen<br />

und Triumph. Jetzt sah er mit eigenen Augen, dass die teules ni<strong>ch</strong>t unsterbli<strong>ch</strong>, ni<strong>ch</strong>t unbesiegbar,<br />

ni<strong>ch</strong>t allwissend waren. Alle seine Pläne – der Hinterhalt in Cholula, die Entsendung des fals<strong>ch</strong>en<br />

Moctezuma und die gelockerten Felsen an der beim Popocatepet1 vorbeiführenden Straße – waren<br />

dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>aut und hintertrieben worden. Der Anführer der Gelbhaarigen war ni<strong>ch</strong>t nur rücksi<strong>ch</strong>tslos<br />

und mutig, er war au<strong>ch</strong> listenrei<strong>ch</strong> und erfahren. Moctezumas Spione hatten ihm hinterbra<strong>ch</strong>t,<br />

dass der Grüne Stein eine Zauberdose besäße, die ihm die Gedanken der Mens<strong>ch</strong>en offenbare.<br />

Do<strong>ch</strong> die Zauberdose hatte ihm ni<strong>ch</strong>t das s<strong>ch</strong>aurige Gastmahl verraten: das Herauslocken<br />

der Besatzung, den Tod des weißen Anführers, den Verrat der Totonaken. Zum ersten Mal<br />

seit der Ankunft des teules waren die Himmelsgötter auf der Seite Mexicos. Durfte er es als Zei<strong>ch</strong>en<br />

auffassen, dass ihm fortan ihr Beistand zuteil werde?<br />

Do<strong>ch</strong> selbst im Tod übte der weiße Mann einen Zauber aus, eine magis<strong>ch</strong>e Kraft. Moctezuma<br />

hatte Escalantes Kopf ergreifen wollen, do<strong>ch</strong> seine Hände zitterten, und s<strong>ch</strong>eu senkte er den<br />

Blick.<br />

»Bringt das Haupt den Göttern Mexicos«, sagte er.<br />

Der Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e fragte: »Auf wel<strong>ch</strong>em Altar und wel<strong>ch</strong>em der Götter<br />

Mexicos soll der Kopf dargebra<strong>ch</strong>t werden?«<br />

Da besann si<strong>ch</strong> der Zornige Herr und widerrief seinen Befehl. Es würde bald ru<strong>ch</strong>bar werden,<br />

wenn das Haupt in einem der Gotteshäuser Teno<strong>ch</strong>titláns liege. Die weißen Männer könnten<br />

versu<strong>ch</strong>en, es zurückzuholen, darum wüns<strong>ch</strong>e er, dass das Haupt heimli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Tacuba gebra<strong>ch</strong>t<br />

und dort Tezcatlipoca geweiht werde.<br />

Moctezuma war zu erregt, si<strong>ch</strong> wieder s<strong>ch</strong>lafen zu legen, zumal die Sonne s<strong>ch</strong>on hinter der<br />

Weißen Frau im Osten emporstieg. Um sein wallendes Blut zur Ruhe zu bringen, rief er seine<br />

Krüppel und Narren. Fade waren ihre Späße, ni<strong>ch</strong>t des Hinhörens wert na<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong> einer Na<strong>ch</strong>t. Da<br />

ließ er die s<strong>ch</strong>önsten Mäd<strong>ch</strong>en aus dem Haus der Vierhundert Frauen kommen, setzte si<strong>ch</strong> in ihre<br />

Mitte und laus<strong>ch</strong>te dem Musikmeister Löffelreihers<strong>ch</strong>lange und dessen Chor. Zwei Stunden lang<br />

ließ er si<strong>ch</strong> von den Gesängen in ein müdes Wuns<strong>ch</strong>land entführen.<br />

Dann nahm er früher als sonst den mit Vanille und Honig gesüßten Kakaotrank ein. Mit einem<br />

ges<strong>ch</strong>liffenen, stielförmigen und in Gold gefassten Quarzstein rührte er in der bunt bemalten<br />

Kakaos<strong>ch</strong>ale. Unversehens entglitt der Quarzsteinlöffel seiner immer no<strong>ch</strong> zitternden Hand, fiel auf<br />

den marmornen Boden und bra<strong>ch</strong> in zwei Hälften. Tränen stürzten dem Zornigen Herrn aus den<br />

Augen. Ihm war, als sei der in zwei Stücke gebro<strong>ch</strong>ene Stab ein Bild von ihm, als wäre er selbst<br />

der Quarzsteinlöffel – eine zerstörte, entwertete Kostbarkeit.<br />

Lange starrte er melan<strong>ch</strong>olis<strong>ch</strong> vor si<strong>ch</strong> hin. Es musste etwas ges<strong>ch</strong>ehen. Er musste etwas<br />

unternehmen! Aber was? Moctezuma ließ Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t, den Hohepriester von Mexico,


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 236<br />

und seinen Bruder Überwinder sowie den Edlen Betrübten zu si<strong>ch</strong> bitten und empfing sie im Audienzsaal.<br />

Beim letzten Kronrat hatte sein Bruder gefordert, dem Grünen Stein die Tore Mexicos zu<br />

vers<strong>ch</strong>ließen; der König von Tezcoco aber hatte es als der Größe Mexicos für unwürdig erklärt,<br />

ihm die Gastfreunds<strong>ch</strong>aft zu verweigern. Sie waren die Exponenten zweier entgegengesetzter Ans<strong>ch</strong>auungen<br />

unter den adligen Kriegern; Moctezuma wollte, dass beide Parteien zu Worte kämen,<br />

falls im Gesprä<strong>ch</strong> mit dem Hohepriester (wie zu erwarten war) die Ges<strong>ch</strong>ehnisse in der<br />

huaxtekis<strong>ch</strong>en Provinz und die Frage erörtert würde, was mit dem Grünen Stein und seinem Heer<br />

nunmehr ges<strong>ch</strong>ehen müsse.<br />

Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t, der ho<strong>ch</strong> gewa<strong>ch</strong>sene hagere Greis mit den düsteren Gesi<strong>ch</strong>tszügen,<br />

hatte Moctezuma, als dieser no<strong>ch</strong> ein Knabe war, oft Härte und Strenge fühlen lassen, und<br />

no<strong>ch</strong> immer war er si<strong>ch</strong> der Ma<strong>ch</strong>t über den König bewusst. Er wollte, dass der König von den Göttern<br />

gestraft werde, weil er sein Verspre<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t gehalten hatte, den Sternhimmel am<br />

Huitzilopo<strong>ch</strong>tliturm mit Ges<strong>ch</strong>meide zu überdecken. Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t war von der Allgewalt<br />

des mexicanis<strong>ch</strong>en Kriegsgottes überzeugt; die von den teules drohende Gefahr brau<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t<br />

ernst genommen zu werden. Die lä<strong>ch</strong>erli<strong>ch</strong> kleine S<strong>ch</strong>ar der Gelbhaarigen hatte er gestern beim<br />

Einzug gesehen und gezählt, ein Wort Moctezumas würde genügen, sie zu zermalmen. Vorläufig<br />

jedo<strong>ch</strong> kam es ihm darauf an, dass Moctezuma das Wort ni<strong>ch</strong>t zu früh ausspre<strong>ch</strong>e. Es lag ihm<br />

daran, Moctezuma in Angst zu halten. Er sollte si<strong>ch</strong> von den Göttern verlassen und von den Wahrsagern<br />

im Sti<strong>ch</strong> gelassen vorkommen, bis er reumütig den S<strong>ch</strong>atz Tezcocos für den Sternhimmel<br />

herausgab und si<strong>ch</strong> des Wunderbaren Huitzilopo<strong>ch</strong>tli Verzeihung und Gunst erkauft hatte. Darum<br />

wollte er ihn heute demütigen, erniedrigen, ihm die Abhängigkeit von der hohen Geistli<strong>ch</strong>keit zum<br />

Bewusstsein bringen. Mit unterwürfiger Körperhaltung und krie<strong>ch</strong>eris<strong>ch</strong>en Worten fragte er den<br />

Zornigen Herrn:<br />

»Warum, o strahlender Herrs<strong>ch</strong>er, hast du das abges<strong>ch</strong>nittene Haupt des Gelbhaarigen dem<br />

Tezcatlipoca von Tacuba ges<strong>ch</strong>enkt? Es gehört dem Huitzilopo<strong>ch</strong>tli von Teno<strong>ch</strong>titlán! Ihm ist es zu<br />

verehren.«<br />

Moctezuma ents<strong>ch</strong>uldigte si<strong>ch</strong>: »I<strong>ch</strong> habe die kostbare Trophäe aus Teno<strong>ch</strong>titlán entfernt,<br />

damit sie von den weißen Männern ni<strong>ch</strong>t entdeckt und entwendet wird.«<br />

Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t funkelte ihn an und verlangte mit s<strong>ch</strong>arfer Stimme: »Im Namen der<br />

gekränkten Götter Mexicos fordere i<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong> auf, den Kopf unverzügli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>nellläufer zurückholen<br />

zu lassen.«<br />

»I<strong>ch</strong> lasse ihn feierli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán zurückbringen, sobald die Fremden verni<strong>ch</strong>tet sind.<br />

Das kann viellei<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on in wenigen Tagen ges<strong>ch</strong>ehen sein!«, antwortete Moctezuma kleinlaut.<br />

Der Überwinder sagte: »In wenigen Tagen wird es wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on zu spät sein. Mehr<br />

als einmal habe i<strong>ch</strong> gewarnt, der Zornige Herr soll die Fremden ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán einladen,<br />

weil sie ihn aus seinem eigenen Haus vertreiben könnten. Meine Rats<strong>ch</strong>läge wurden ni<strong>ch</strong>t bea<strong>ch</strong>tet,<br />

aber i<strong>ch</strong> kann ni<strong>ch</strong>t aufhören, die Stimme zu erheben. So rate i<strong>ch</strong> nun, no<strong>ch</strong> heute die Gelbhaarigen<br />

zu überfallen, sie zu opfern und den Kriegsgott dur<strong>ch</strong> ihr Blut zu ehren!«<br />

»Das geht ni<strong>ch</strong>t«, jammerte Moctezuma, »wir müssen zuerst und vorsi<strong>ch</strong>tig die notwendigen<br />

Vorbereitungen treffen. Das brau<strong>ch</strong>t ein paar Tage Zeit.«<br />

»Es ist s<strong>ch</strong>on alles vorgesehen!«, rief der Überwinder. »Die Pfeile, Speere und S<strong>ch</strong>ilde werden<br />

bereits verteilt, die Adler und Jaguare stehen bereit und warten nur auf das Wort des Zornigen<br />

Herrn. Heute müssen wir uns ents<strong>ch</strong>ließen, morgen kann die Tat viellei<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on undur<strong>ch</strong>führbar<br />

sein.«<br />

Der Edle Betrübte widerspra<strong>ch</strong>. Ritterli<strong>ch</strong> trat er für die Heiligkeit des Gastre<strong>ch</strong>ts ein.<br />

»Beim letzten Kronrat habe au<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> bereit erklärt, bei der Ausrottung der Fremden<br />

ni<strong>ch</strong>t abseits zu stehen; aber erst, wenn sie si<strong>ch</strong> anmaßend benehmen oder si<strong>ch</strong> eines Übergriffs<br />

s<strong>ch</strong>uldig ma<strong>ch</strong>en. Das ist bisher ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>ehen.«<br />

Erregt entgegnete der Überwinder: »Wir haben s<strong>ch</strong>on zu lange gewartet. Alle S<strong>ch</strong>ildträger<br />

le<strong>ch</strong>zen na<strong>ch</strong> Ra<strong>ch</strong>e für Cholula. Heute, spätestens morgen muss es ges<strong>ch</strong>ehen, sonst kann i<strong>ch</strong><br />

für das Gelingen ni<strong>ch</strong>t einstehen. Sol<strong>ch</strong>e günstigen Voraussetzungen wie jetzt werden sobald ni<strong>ch</strong>t<br />

wiederkehren. Au<strong>ch</strong> die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten der Sengenden Glut beweisen, dass die Unbesiegbarkeit der<br />

Sonnensöhne eine Fabel ist. Damit haben si<strong>ch</strong> die Himmelsgötter den Kindern Mexicos wieder in<br />

Liebe und Huld zugewandt.«<br />

»Nein! Das ist ein Irrtum«, unterbra<strong>ch</strong> ihn Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t. »Die Götter grollen no<strong>ch</strong>


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 237<br />

immer; die Orakel, die i<strong>ch</strong> tägli<strong>ch</strong> befragen lasse, sind ni<strong>ch</strong>t günstig. Das Los von Cholula beweist,<br />

wie unklug es ist, die Orakel zu missa<strong>ch</strong>ten. Der Edle Betrübte hat Re<strong>ch</strong>t, man darf jetzt no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

loss<strong>ch</strong>lagen. Ein zers<strong>ch</strong>nittener Wurm ist ni<strong>ch</strong>t tot, solange sein Kopf no<strong>ch</strong> lebt. Wir müssen abwarten,<br />

bis si<strong>ch</strong> die Tlaxcaltekenführer Goldmaske und Kiefernzweig mit ihren Kriegern in der<br />

Stadt der drei Steindämme eingefunden haben – dann wird der S<strong>ch</strong>impf ihres unerbetenen Einzugs<br />

wettgema<strong>ch</strong>t und die Geduld der empörten Bevölkerung Teno<strong>ch</strong>titláns belohnt.«<br />

Der Überwinder widerspra<strong>ch</strong>: »Es ist wi<strong>ch</strong>tig, den Männern des Ostens zuvorzukommen. Die<br />

Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t, dass sie an der Küste eine Niederlage einstecken mussten, wird ihnen ni<strong>ch</strong>t lange verborgen<br />

bleiben; dann werden sie viellei<strong>ch</strong>t eine Verzweiflungstat unternehmen. Aber leider s<strong>ch</strong>eint<br />

die Zerstörung Cholulas einigen Mexica den Mut genommen zu haben, und sie jammern wie alte<br />

Weiber!« Zornig blickte er auf Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t und den Edlen Betrübten.<br />

Bisher hatte Moctezuma ges<strong>ch</strong>wiegen. Jetzt sagte er seine Meinung. Die mit leiser Stimme,<br />

fast zaghaft vorgebra<strong>ch</strong>te Meinung war ein unumstößli<strong>ch</strong>er Bes<strong>ch</strong>luss, der keine Widerrede mehr<br />

duldete.<br />

»Solange der Grüne Stein ni<strong>ch</strong>ts vom abges<strong>ch</strong>nittenen Haupt weiß, halte i<strong>ch</strong> es für klug, ihm<br />

und allen Eindringlingen das Leben zu fristen. Au<strong>ch</strong> wird es ni<strong>ch</strong>t von Mens<strong>ch</strong>en, sondern vom<br />

Himmel abhängen, wie lange diese Frist dauert und über wessen Ges<strong>ch</strong>ick sie wie eine Wolke<br />

s<strong>ch</strong>webt. Inzwis<strong>ch</strong>en sind die Gäste wie Gäste zu behandeln und dur<strong>ch</strong> Freundli<strong>ch</strong>keit und Huldbeweise<br />

in Si<strong>ch</strong>erheit zu wiegen.«<br />

Der Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e trat ein und meldete Malintzín. Moctezuma bat Marina<br />

herein. Sie war von Cortés ges<strong>ch</strong>ickt worden, beim König anzufragen, ob ihm seine Aufwartung<br />

im Laufe des Vormittags angenehm sei. Sie wurde von ihrem Hofmeister Pérez de Arteaga,<br />

ihrem Pagen Santa Clara und zwei Musketieren begleitet. Der König gab seine Zustimmung und<br />

Marina wollte si<strong>ch</strong> wieder entfernen, do<strong>ch</strong> Moctezuma hielt sie zurück. Er ließ ihr und ihren Begleitern<br />

Sessel bringen und zog sie in ein Gesprä<strong>ch</strong>. Um Cortés ni<strong>ch</strong>t warten zu lassen, s<strong>ch</strong>ickte sie<br />

Santa Clara in den Tecpan des Königs Wassergeist mit dem Auftrag, Moctezumas Antwort auszuri<strong>ch</strong>ten<br />

und zu erklären, warum ihre Rückkunft verzögert werde.<br />

Berühmt wie ihre S<strong>ch</strong>önheit war die Legende ihres Lebens. Allein die Tatsa<strong>ch</strong>en ihrer absonderli<strong>ch</strong>en<br />

Vergangenheit muteten s<strong>ch</strong>on wie ein Mär<strong>ch</strong>en an. Seit einem Jahr war von den Bewohnern<br />

Anahuacs an diesem Mär<strong>ch</strong>en weitergedi<strong>ch</strong>tet und zu einem grotesken Mythos umgedi<strong>ch</strong>tet<br />

worden. Tonantzin, Unser Mütter<strong>ch</strong>en, wurde sie angeredet, wie die Fros<strong>ch</strong>göttin mit dem<br />

blutigen Maul. Sie sei die To<strong>ch</strong>ter eines Königs, behaupteten die einen; sie sei die To<strong>ch</strong>ter eines<br />

Gottes, behaupteten andere. Man munkelte, dass sie bei einer Seejungfrau unter dem Wasser ihre<br />

Jugend verlebt habe und dort mit Weisheit und Zauberkunst bes<strong>ch</strong>enkt worden sei. Man<strong>ch</strong>e wiederum<br />

wollten wissen, sie sei als S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>topfer den Göttern geweiht gewesen, habgierige Priester<br />

aber hätten sie an Mens<strong>ch</strong>enhändler verkauft.<br />

Alle diese Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten fanden am Hof Mexicos willige Hörer und waren au<strong>ch</strong> dem Zornigen<br />

Herrn zu Ohren gekommen. Sein Interesse für das seltsame Mäd<strong>ch</strong>en hatte si<strong>ch</strong> seit der ersten<br />

Begegnung tags zuvor no<strong>ch</strong> gesteigert, do<strong>ch</strong> wusste er selbst ni<strong>ch</strong>t, was ihn zu ihr hinzog.<br />

Malintzín war do<strong>ch</strong> eine Feindin und Verräterin! Ihre S<strong>ch</strong>önheit – so außergewöhnli<strong>ch</strong> sie war -<br />

konnte ihn, den Herrn des Hauses der Vierhundert Frauen, ni<strong>ch</strong>t betören, und mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e<br />

S<strong>ch</strong>icksale (sein eigenes ausgenommen) hatten bisher no<strong>ch</strong> nie Mitgefühl in ihm geweckt. Jetzt<br />

forderte er sie auf, ihm die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te ihrer Jugend zu erzählen. Sie tat es, und als sie geendet<br />

hatte, fragte er:<br />

»Ist deine böse Mutter no<strong>ch</strong> am Leben?«<br />

»Das weiß i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t«, antwortete sie. »Do<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> flehe zu Gott, dass sie no<strong>ch</strong> lebt.«<br />

»O Malintzín«, sagte Moctezuma, »willst du, dass i<strong>ch</strong> deine böse Mutter töten lasse?«<br />

Wie zur Abwehr streckte Marina beide Arme aus und rief: »O Herr, o König! Das Zei<strong>ch</strong>en<br />

deiner Augenbrauen ist der Blitz; was du befiehlst, ges<strong>ch</strong>ieht sofort. Do<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> mö<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t, dass<br />

du das befiehlst!«<br />

»Oder willst du«, fuhr der König fort, »dass i<strong>ch</strong> das s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Weib, das di<strong>ch</strong> verkauft hat,<br />

na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán s<strong>ch</strong>affen lasse, damit du di<strong>ch</strong> an ihr rä<strong>ch</strong>en kannst? Meine S<strong>ch</strong>nellläufer können<br />

Oaxaca in einem Tag errei<strong>ch</strong>en. Deine Mutter wird morgen Abend im Huei-Tecpan sein.«<br />

Das Antlitz Marinas erstrahlte. »O Herr, o König, dessen Ma<strong>ch</strong>t ohne Grenzen ist«, rief sie<br />

freudestrahlend, »ja, das will i<strong>ch</strong>! Lass meine Mutter herkommen, dass i<strong>ch</strong> sie wieder sehe!«


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 238<br />

Moctezuma sagte s<strong>ch</strong>lau: »I<strong>ch</strong> werde soglei<strong>ch</strong> meine Boten loss<strong>ch</strong>icken. Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> du<br />

musst mir einen Gefallen tun.«<br />

»Rede, Herr, gern will i<strong>ch</strong> deinen Wuns<strong>ch</strong> erfüllen, wenn es in meiner Ma<strong>ch</strong>t steht.«<br />

»Bring mir den Zauberspiegel des Grünen Steins!«<br />

Marina ers<strong>ch</strong>rak. »O großer König, o Zorniger Herr, das kann i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t tun. Wie könnte i<strong>ch</strong><br />

den Grünen Stein bestehlen?«<br />

»Bringe ihn mir! Dann kannst du di<strong>ch</strong> an deiner Mutter rä<strong>ch</strong>en.«<br />

Sie hob den Blick zum König. »I<strong>ch</strong> würde sie gerne wieder in die Arme s<strong>ch</strong>ließen. Gewiss<br />

bereut sie längst, was sie mir antat. Darum werde i<strong>ch</strong> meinen Herrn bitten, dass er Eu<strong>ch</strong> seine<br />

Zauberbü<strong>ch</strong>se überlässt«, sagte sie. »Aber rä<strong>ch</strong>en will i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> an meiner Mutter ni<strong>ch</strong>t, denn mein<br />

Gott Xesu Quilisto hat mir befohlen, die zu lieben, die mir S<strong>ch</strong>limmes zugefügt haben.«<br />

Die letzten Worte ma<strong>ch</strong>ten auf den König und seine Umgebung keinen günstigen Eindruck.<br />

Es war bekannt, dass au<strong>ch</strong> Cortés sol<strong>ch</strong>e Reden führte – in Cholula aber hatte er keine Liebe zu<br />

seinen Feinden bewiesen. Warum spra<strong>ch</strong> das Mäd<strong>ch</strong>en ihm sol<strong>ch</strong>e Heu<strong>ch</strong>eleien na<strong>ch</strong>? Es ist ni<strong>ch</strong>t<br />

wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>, dass man lieben könnte, was man hassen musste. So blickte Moctezuma unwillig<br />

Marina an. Ehe er jedo<strong>ch</strong> eine zure<strong>ch</strong>tweisende Antwort fand, sprang Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t auf<br />

und fau<strong>ch</strong>te:<br />

»Wehe dir, du Unheil Mexicos, dass du ni<strong>ch</strong>t als Kind starbst! Wehe dir, dass du herangewa<strong>ch</strong>sen<br />

bist! Nun kommst du in Blut gekleidet! Die Sterne zittern! Eine S<strong>ch</strong>lange bist du und warst<br />

do<strong>ch</strong> eine Königsto<strong>ch</strong>ter! Du heißt ni<strong>ch</strong>t Malintzín, dein Name ist die Brandende Welle!«<br />

Moctezuma sah ers<strong>ch</strong>rocken auf. Seine linke Hand fuhr zum Herzen, mit der Re<strong>ch</strong>ten ma<strong>ch</strong>te<br />

er eine abwehrende Bewegung zu Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong> der war in seinem Zorn ni<strong>ch</strong>t zu<br />

bremsen.<br />

»Mexico verlangte na<strong>ch</strong> deinem Edelstein!«, rief er »Weh mir Unglückli<strong>ch</strong>em, dass i<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong><br />

retten half, da du als Wiegenkind den Göttern verspro<strong>ch</strong>en warst. Nun wird statt deiner Mexico<br />

sein Blut vergießen! Bald wird der Komet bei Tagesli<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>einen, die Sonne wird erblei<strong>ch</strong>en und<br />

si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wärzen! O ihr Söhne Mexicos, kämpft gegen die rote Bluts<strong>ch</strong>lange, wehrt eu<strong>ch</strong> gegen die<br />

Brandende Welle!«<br />

Alle waren von ihren Sitzen emporges<strong>ch</strong>nellt. Marina erblasste. Moctezuma zwang si<strong>ch</strong> zur<br />

Ruhe und sagte zu Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t: »Es ist gut, wir haben deine Worte vernommen, beruhige<br />

di<strong>ch</strong>.«<br />

Dann stützte er das Kinn auf die Hand und s<strong>ch</strong>wieg lange, in Gedanken verloren. Die Brandende<br />

Welle war ein Kind, das einst eine seiner Nebenfrauen geboren hatte. Als vor Jahren die<br />

große Dürre Anahuac heimsu<strong>ch</strong>te, hatten die Priester das kleine Wesen für den Regengott gefordert.<br />

Und um sein Volk zu retten, gab Moctezuma sein eigen Fleis<strong>ch</strong> und Blut her. An der Opferhandlung<br />

konnte er ni<strong>ch</strong>t teilnehmen – das bra<strong>ch</strong>te er ni<strong>ch</strong>t über si<strong>ch</strong>. Seither jedo<strong>ch</strong> lebte er in<br />

dem Glauben, die Brandende Welle sei dem Regengott dargebra<strong>ch</strong>t worden.<br />

Als er den Blick wieder hob, trafen seine Blicke auf die lauernden Augen des Hohepriesters.<br />

Man müsste Na<strong>ch</strong>fors<strong>ch</strong>ungen über die Geburt Marinas anstellen, überlegte er und s<strong>ch</strong>aute voller<br />

Liebe auf die verloren lä<strong>ch</strong>elnde Marina.<br />

Da wurde die Ankunft des Cortés gemeldet.<br />

In Galakleidern traten der capitán generál, Velásquez de León, Alvarado, Ordás und Sandoval<br />

ein. Fünf Soldaten als Leibwa<strong>ch</strong>e begleiteten sie.<br />

Na<strong>ch</strong>dem man si<strong>ch</strong> begrüßt und Platz genommen hatte, ma<strong>ch</strong>te Cortés seinen zweiten Bekehrungsversu<strong>ch</strong><br />

– hatte er do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on im alten Tecpan dem König nahe gelegt, dur<strong>ch</strong> Taufwasser<br />

die Qualen der Hölle abzuwenden. Während er spra<strong>ch</strong>, zählte er die Türen des Saales. Marina,<br />

no<strong>ch</strong> verwirrt von den Worten des Dieners Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis, hatte Mühe, die <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Mystik in<br />

mexicanis<strong>ch</strong>e Worte zu kleiden. Denn Cortés nahm die Gelegenheit wahr, die Entfernung von<br />

Moctezumas Thronsitz bis zur nä<strong>ch</strong>sten Tür zu messen, während er redegewandt in Gegenwart<br />

des finster dreins<strong>ch</strong>auenden Hohepriesters die Lehre des Christentums entwickelte, mit der Erbsünde<br />

begann und mit dem Jüngsten Geri<strong>ch</strong>t aufhörte. Er spra<strong>ch</strong> wie ein Theologe von der Trinität,<br />

der Fleis<strong>ch</strong>werdung Jesu, der Passion und Wiederauferstehung und überlegte dabei, wie groß die<br />

S<strong>ch</strong>ar bewaffneter Besu<strong>ch</strong>er sein müsste, um den König gefangen zu nehmen. Do<strong>ch</strong> so sehr Marina<br />

au<strong>ch</strong> bestrebt war, das Überirdis<strong>ch</strong>e fassli<strong>ch</strong>, das Unverständli<strong>ch</strong>e verständli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en –<br />

es gelang ni<strong>ch</strong>t, Moctezuma zu überzeugen, dass der Christengott au<strong>ch</strong> für ihn am Kreuz gestor-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 239<br />

ben sei.<br />

Wie am Tag zuvor lehnte Moctezuma das dargebotene Heil ab. Freundli<strong>ch</strong> und höfli<strong>ch</strong> bra<strong>ch</strong>te<br />

er dieselben Argumente vor, mit denen si<strong>ch</strong> früher s<strong>ch</strong>on die Tlaxcalteken und Totonaken gegen<br />

die Bekehrung vers<strong>ch</strong>anzt hatten: Der Christengott möge gut sein, die Götter Anahuacs wären<br />

au<strong>ch</strong> gut. Ges<strong>ch</strong>ickt lenkte er das Gesprä<strong>ch</strong> auf die unsinnigen Gerü<strong>ch</strong>te, die an so vielen Missverständnissen<br />

s<strong>ch</strong>uld seien und bewirkt hätten, dass Mexico si<strong>ch</strong> vor den Söhnen der Sonne<br />

für<strong>ch</strong>tete, sodass er si<strong>ch</strong> veranlasst gesehen habe, ihnen vom Besu<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titláns abzuraten.<br />

Jetzt wisse er, dass die Männer aus dem Land des Sonnenaufgangs keine Ungeheuer mit Hirs<strong>ch</strong>füßen<br />

seien und au<strong>ch</strong> keine bösen Götter, wie erzählt wurde, sondern gütige, freundli<strong>ch</strong>e, die Gere<strong>ch</strong>tigkeit<br />

liebende Mens<strong>ch</strong>en von Fleis<strong>ch</strong> und Blut, Mens<strong>ch</strong>en mit hellerer Haut. Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> sie<br />

sollten den fals<strong>ch</strong>en Gerü<strong>ch</strong>ten über ihn und den Verleumdungen der Tlaxcalteken keinen Glauben<br />

s<strong>ch</strong>enken; au<strong>ch</strong> er sei kein Gott, sondern Fleis<strong>ch</strong> und Blut; er sei weder habgierig no<strong>ch</strong> grausam,<br />

sondern verwurzelt im Glauben der Vorfahren. Und sein Tecpan sei ni<strong>ch</strong>t aus gelbem und weißem<br />

Götterkot erbaut, sondern aus Stein und Mörtel – davon könnten sie si<strong>ch</strong> ja überzeugen. Das Wenige,<br />

was er an Götterkot besitze, pflege er zu vers<strong>ch</strong>enken. Er habe ihnen s<strong>ch</strong>on einiges gegeben<br />

und hoffe sie no<strong>ch</strong> oft damit zu erfreuen.<br />

Moctezuma ließ Goldges<strong>ch</strong>enke für Cortés und die Feldobristen hereintragen. Au<strong>ch</strong> jedem<br />

der gemeinen Soldaten hängte er eine Goldkette um den Hals.<br />

Cortés erbat für sein Heer die Erlaubnis, den Huei-Tecpan und die Gärten Moctezumas zu<br />

besi<strong>ch</strong>tigen. Der Wuns<strong>ch</strong> wurde ihm gewährt. Do<strong>ch</strong> als er au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> die Bitte äußerte, die S<strong>ch</strong>langenberg-Pyramide<br />

zu ersteigen, zögerte Moctezuma, bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigte mit einer Handbewegung den<br />

aufbegehrenden Überwinder, no<strong>ch</strong> ehe dieser etwas sagen konnte, winkte Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t<br />

heran und sagte, na<strong>ch</strong>dem er mit dem Hohepriester eine Weile im Flüsterton geredet hatte, er<br />

werde am Na<strong>ch</strong>mittag den Grünen Stein auf dem Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz erwarten und ihm das Heiligtum<br />

zeigen.<br />

*<br />

Nur Velásquez de León war die Erregung Marinas aufgefallen. Als sie in den alten Tecpan zurückkehrten,<br />

ging er neben ihr. Leise fragte er sie, was ges<strong>ch</strong>ehen sei. Da erzählte sie von ihrer Unterhaltung<br />

mit Moctezuma, von seinem Wuns<strong>ch</strong> und von den Drohungen des Dieners Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis.<br />

Ein wenig spöttis<strong>ch</strong> sagte Velásquez de León: »Spuk- und Blutges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten füllen ihre Köpfe.<br />

Ihr solltet die Andeutungen und den Flu<strong>ch</strong> des Opferpriesters ni<strong>ch</strong>t ernst nehmen!«<br />

»Haltet Ihr es ni<strong>ch</strong>t für mögli<strong>ch</strong>, dass i<strong>ch</strong> seine To<strong>ch</strong>ter bin?«, fragte Marina zweifelnd.<br />

»Viellei<strong>ch</strong>t gibt es da einen S<strong>ch</strong>atten in Moctezumas Vergangenheit. Do<strong>ch</strong> für den Oberpriester<br />

wird es unmögli<strong>ch</strong> sein, Eu<strong>ch</strong> in Gewalt zu bekommen. Das ist der Einfall eines Kranken! Seid<br />

also beruhigt.«<br />

Marina antwortete: »Für mi<strong>ch</strong> wär’s Freude, morgen Abend meiner Mutter gegenüberzustehen,<br />

wenn mein Herr seine Zauberbü<strong>ch</strong>se dem König der Mexica überlässt.«<br />

»Das kann i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>fühlen, Marina. Aber ob das mit dem Kind wahr ist oder unwahr«,<br />

bemerkte Velásquez, »wenn Moctezuma es für mögli<strong>ch</strong> hält, kann uns das viellei<strong>ch</strong>t von Vorteil<br />

sein. I<strong>ch</strong> wüns<strong>ch</strong>te, i<strong>ch</strong> könnte es au<strong>ch</strong> Don Hernándo glauben ma<strong>ch</strong>en.«<br />

»Warum, Don Juan?«, fragte sie erstaunt<br />

Velásquez gab keine Antwort. Zu unglaubli<strong>ch</strong> war der Gedanke, als dass er ihn hätte ausspre<strong>ch</strong>en<br />

dürfen. Ni<strong>ch</strong>t zum ersten Mal bes<strong>ch</strong>äftigte ihn die Zukunft Mexicos. In seinem Ehrgeiz –<br />

denn politis<strong>ch</strong> war er ehrgeiziger als Cortés – da<strong>ch</strong>te er au<strong>ch</strong> an das, was später nötig war, na<strong>ch</strong><br />

den Eroberungen. No<strong>ch</strong> war der Untergang des Christenheeres ebenso wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> wie sein<br />

Triumph. Do<strong>ch</strong> wenn das tollkühne Wagnis gelang, sollte dann Kardinal Fonseca, der Bis<strong>ch</strong>of von<br />

Burgos und Leiter der Casa de Contratación, die Frü<strong>ch</strong>te einheimsen, wie er es na<strong>ch</strong> der Pazifizierung<br />

in Haiti und Kuba getan hatte? Sollte Cortés betrogen werden, wie der große Admiral Colón<br />

betrogen wurde? Wenn er der große Mann war, für den sein Freund ihn hielt, durfte er si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

wie ein Hofnarr abspeisen lassen, sondern musste si<strong>ch</strong> seinen Lohn selbst nehmen. Darum sollte<br />

er die Hand na<strong>ch</strong> der Krone ausstrecken!


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 240<br />

*<br />

Zu Marinas Erstaunen hatte Cortés ihr die Bussole für Moctezuma ohne Widerstand ausgehändigt.<br />

Wenn er den Herrs<strong>ch</strong>er mit einem Spielzeug bei Laune halten konnte, würde er es ihm überlassen.<br />

Er war si<strong>ch</strong>er, dass es nur vorübergehend seinen Besitzer we<strong>ch</strong>seln würde. Dafür hatte er die Besi<strong>ch</strong>tigung<br />

des Huei-Tecpans und der Gärten Moctezumas erbeten, um unauffällig seine Soldaten<br />

mit den Innenräumen, dem Grundriss, der Gliederung, den Treppen, Fenstern und Türen im Großen<br />

Palast vertraut zu ma<strong>ch</strong>en. Er wollte die Besu<strong>ch</strong>e über mehrere Tage dehnen, denn er zweifelte,<br />

ob er den Ans<strong>ch</strong>lag bald wagen könnte. Als er nun in den alten Tecpan zurückkehrte, gab er<br />

Weisung, dass si<strong>ch</strong> tägli<strong>ch</strong> nur etwa ein halbes Hundert Soldaten in die Stadt begeben, in kleinen<br />

Gruppen zu zwölf Mann den Huei-Tecpan besu<strong>ch</strong>en und si<strong>ch</strong> herumführen lassen sollten. Dabei<br />

sollten sie si<strong>ch</strong> anständig und gesittet aufführen.<br />

S<strong>ch</strong>on am frühen Na<strong>ch</strong>mittag wanderte die erste Gruppe der Besu<strong>ch</strong>er dur<strong>ch</strong> das Labyrinth<br />

der Jaspissäle, besi<strong>ch</strong>tigte Moctezumas Thronsessel, seine Rüstkammern, sein Haus der Trauer,<br />

sein Ballspielhaus und die Werkstätten der königli<strong>ch</strong>en Federarbeiter. Sie bestaunten den von<br />

dreihundert Wä<strong>ch</strong>tern betreuten Tierpark mir den zehn Tei<strong>ch</strong>en und den vielen exotis<strong>ch</strong>en Fis<strong>ch</strong>arten,<br />

die zwei Tierhäuser mit unterirdis<strong>ch</strong>en Raubtierzwingern, die S<strong>ch</strong>langenterrarien, die Adlerkäfige<br />

und Häuser für Kolibris und S<strong>ch</strong>metterlinge, und bewunderten die berühmten Zypressen<br />

Moctezumas, deren Stämme se<strong>ch</strong>zig Fuß im Umfang maßen. Nur die königli<strong>ch</strong>en Privatgemä<strong>ch</strong>er<br />

durften sie ni<strong>ch</strong>t betreten.<br />

Indessen ritten Cortés, Alvarado, Andrés de Tapia, Olíd, Lugo und eine Leibwa<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong><br />

Tlatelolco. Marina folgte in einer Sänfte na<strong>ch</strong>. Beim Marktplatz s<strong>ch</strong>lossen sie si<strong>ch</strong> einer S<strong>ch</strong>ar hoher<br />

Palastbeamter an, die auf Befehl Moctezumas bereitstanden, den Söhnen der Sonne die Herrli<strong>ch</strong>keiten<br />

des Marktes zu zeigen.<br />

Der bea<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> große Platz war von pra<strong>ch</strong>tvollen Säulengängen aus rotem Porphyr umgeben.<br />

In der Mitte des Platzes erhob si<strong>ch</strong> der Altar – ein ungewohnt s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>tes und kleines Heiligtum<br />

Tezcatlipocas: ein grauer Lehmziegelbau; se<strong>ch</strong>s Stufen nur führten auf eine kleine Plattform und<br />

dem Sanktuar aus geflo<strong>ch</strong>tenem Maisstroh. Rings um diese alte Gebetsstätte für gefahrvoll reisende<br />

Händler führten Hunderte enger Gassen dur<strong>ch</strong> die hölzernen Stände und Buden. Buntes<br />

Mens<strong>ch</strong>engetümmel belebte den ganzen Markt; es war ein ständiges Kommen und Gehen, Kaufen<br />

und Verkaufen; Rufe, Gelä<strong>ch</strong>ter und Ges<strong>ch</strong>wätz erfüllten die Luft. Außer Mexica waren Angehörige<br />

aller Völker Zentralamerikas vertreten. Die unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en und merkwürdigsten Tra<strong>ch</strong>ten wimmelten<br />

dur<strong>ch</strong>einander. Trotz des bunten Wirrwarrs herrs<strong>ch</strong>te eine übers<strong>ch</strong>aubare Ordnung. Sämtli<strong>ch</strong>e<br />

Waren hatten ihre besonderen Standplätze. Marktordner gingen von Stand zu Stand, prüften<br />

Maße und Gewi<strong>ch</strong>te, setzten den Wert der Waren fest und a<strong>ch</strong>teten darauf, dass die Käufer ni<strong>ch</strong>t<br />

übervorteilt wurden. Sie waren mit ri<strong>ch</strong>terli<strong>ch</strong>er Gewalt ausgestattet und bestraften Diebstähle,<br />

Streit und Betrügereien auf der Stelle.<br />

Viele Tausend Mens<strong>ch</strong>en füllten den Marktplatz. Die Kastilier wurden des S<strong>ch</strong>auens ni<strong>ch</strong>t<br />

müde. Erstaunt sahen sie die Mens<strong>ch</strong>enware, verwunderten si<strong>ch</strong> über die rei<strong>ch</strong>e Auswahl der<br />

Sklavenhändler sowie den s<strong>ch</strong>wermütigen Gesang und Tanz der Gutgewas<strong>ch</strong>enen. Hier, auf dem<br />

allen Leuten zugängli<strong>ch</strong>en Markt, prangten Kostbarkeiten in den Auslagen der Goldarbeiter, Steins<strong>ch</strong>neider<br />

und Federmosaikhändler, wir sie in Spanien in s<strong>ch</strong>wer bewa<strong>ch</strong>ten Gewölben der Goldund<br />

Juwelenhändler nur wenige Auserwählte zu sehen bekamen. Lebende Raubtiere wurden feilgeboten<br />

– und ni<strong>ch</strong>t einmal teuer: Für eine Last von se<strong>ch</strong>zig Baumwollmänteln konnte man einen<br />

Puma oder einen Jaguar erstehen. Bü<strong>ch</strong>er, Bilders<strong>ch</strong>riften, gemalte Chroniken und Liedersammlungen<br />

sowie Kunstwerke berühmter S<strong>ch</strong>öns<strong>ch</strong>reiber lagen zum Verkauf aus; dazu Streifen von<br />

Hirs<strong>ch</strong>hautpergament, Agavepapier, weißes Rindenpapier, Zypressenharz zum S<strong>ch</strong>reiben, Purpur<br />

aus dem Blut der Sta<strong>ch</strong>els<strong>ch</strong>necke, Indigo, Rötel, Ockerfarbe und ein weißer Lack, mit dem die<br />

Bilder untermalt wurden; außerdem Retorten zum Mis<strong>ch</strong>en der Farben und Terpentinsalben.<br />

Bei einem der Bü<strong>ch</strong>erhändler konnten sie die Lands<strong>ch</strong>aftsbilder hervorragender Maler bewundern.<br />

Kohle wurden verkauft; Bausteine aus dem Steinbru<strong>ch</strong> der Laguneninsel Topeapulco;<br />

Onyxmarmor aus Oaxaca; Gips, Blei, Zinn, Kupfer und Entenfederspulen; kostbare Mus<strong>ch</strong>eln (die<br />

von Mäd<strong>ch</strong>en als Symbol der Jungfräuli<strong>ch</strong>keit getragen wurden); Werkzeuge; kupferne Nähnadeln,<br />

kupferne Äxte und Pflugpfähle. In zwei Gassen reihten si<strong>ch</strong> die Stände der Lackarbeiter Bude an


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 241<br />

Bude. Bei den Töpfern fielen groteske Gesi<strong>ch</strong>tsurnen und Majolikas<strong>ch</strong>alen mit Goldrand auf. Alles,<br />

was zum Kleiden und S<strong>ch</strong>mücken diente, war in riesiger Auswahl vorhanden – sauber geordnet<br />

und gestapelt. Fast ein Drittel des großen Marktplatzes nahmen die Stände der Lebensmittelverkäufer<br />

ein. Außer vielen Gemüsen und Grünwaren lagen Wild, Haselnüsse, Kakaofett, Austern,<br />

Wasserkäfer, geröstete Heus<strong>ch</strong>recken, essbare Blumen des Yuccabaumes und allerlei ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tete<br />

Tiere aus.<br />

Den nordwestli<strong>ch</strong>en <strong>Teil</strong> des Marktes zeigten die Führer Cortés und seinen Begleitern nur<br />

aus der Ferne. Dort war der Trödelmarkt und hieß Ort des Niedrigen. Unter anderem werde dort<br />

mit Mens<strong>ch</strong>enkot gehandelt, wel<strong>ch</strong>en die mexicanis<strong>ch</strong>en Kürs<strong>ch</strong>ner zum Gerben verwendeten.<br />

»Wo wird diese kostbare Ware gesammelt?«, fragte Cortés belustigt.<br />

Da führten ihn die Hausbeamten Moctezumas dur<strong>ch</strong> zwei Nebengassen an ein von niedrigen<br />

Fä<strong>ch</strong>erpalmen und Palisaden umfriedetes Axixcalli – einen öffentli<strong>ch</strong>en Abort. In Europa kannte<br />

man derglei<strong>ch</strong>en no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, aber im di<strong>ch</strong>t bevölkerten Teno<strong>ch</strong>titlán gab es mehrere Hundert zu<br />

jedermanns Gebrau<strong>ch</strong>.<br />

Ein Tag hätte kaum genügt, alle Sehenswürdigkeiten des Großen Marktes zu besi<strong>ch</strong>tigen,<br />

do<strong>ch</strong> ein Höfling erinnerte Cortés na<strong>ch</strong> drei Stunden daran, dass es Zeit sei, zum großen Tempel<br />

aufzubre<strong>ch</strong>en, da Moctezuma ihn dort erwarte.<br />

Am Südtor der S<strong>ch</strong>langenmauer wurden Cortés und sein Stab über den mit weißen Marmorplatten<br />

bedeckten Tempelhof zum Fuß der Pyramide geführt. Tlamamas und mehrere Diener<br />

Moctezumas standen bereit, die Christen auf ihren S<strong>ch</strong>ultern die hundertundvierzehn Stufen<br />

emporzutragen. Cortés lehnte für si<strong>ch</strong> und seine Hauptleute ab; nur Marina wurde auf den Rücken<br />

eines der Träger gesetzt.<br />

Auf dem Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz wartete Moctezuma in Federbekleidung; sein blau ges<strong>ch</strong>minktes<br />

Gesi<strong>ch</strong>t zierten kleine goldene Sterne. Ein kleines Gefolge umgab ihn. Vor den beiden kapellenähnli<strong>ch</strong>en<br />

Sanktuaren im Hintergrund wartete mit blutigen Händen Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t am<br />

Adlerstein sowie der höhere Klerus in Ornaten aus gegerbter Mens<strong>ch</strong>enhaut. Mit höfli<strong>ch</strong>en Verbeugungen<br />

begrüßten si<strong>ch</strong> Cortés und Moctezuma. Der König fragte:<br />

»Warum hat der Grüne Stein si<strong>ch</strong> von meinen Dienern bei dem ermüdenden Aufstieg ni<strong>ch</strong>t<br />

helfen lassen?«<br />

Cortés erwiderte mit Freibeuterstolz: »Wir Christen kennen keine Ermüdung, wenn es gilt,<br />

dem Himmel näher zu kommen!«<br />

Moctezuma wandte si<strong>ch</strong> an Marina.<br />

»O Unser Mütter<strong>ch</strong>en, o Malintzín«, sagte er, »i<strong>ch</strong> habe Boten na<strong>ch</strong> Oaxaca gesandt. Morgen<br />

wird das böse Weib im Großen Palast sein.«<br />

»Lebe viele Jahre, o edler Herr und König!«, sagte Marina dankbar.<br />

Sie hatte ihm den Kompass ausgehändigt. Nun würde Moctezuma sein Verspre<strong>ch</strong>en erfüllen.<br />

Marina wusste ni<strong>ch</strong>t, dass der König, na<strong>ch</strong>dem er alle aus dem Thronsaal ges<strong>ch</strong>ickt, die geheimnisvolle<br />

Dose lange voller Ehrfur<strong>ch</strong>t angestarrt hatte. Endli<strong>ch</strong> hatte er si<strong>ch</strong> überwunden und<br />

zaghaft den Deckel geöffnet. Was er sah, blieb ihm ein Rätsel: eine S<strong>ch</strong>eibe mit dem Abbild eines<br />

vielzackigen Sterns und zwei Blumenranken drehte si<strong>ch</strong> träge unter Glas und kam na<strong>ch</strong> einiger<br />

Zeit zur Ruhe. Die große Lilie zeigte na<strong>ch</strong> Norden, genau auf ihn! Moctezuma ers<strong>ch</strong>rak. Warum<br />

zeigt die Blume auf mi<strong>ch</strong>? überlegte er. Ja, i<strong>ch</strong> bin das Ziel des Grünen Steins – i<strong>ch</strong>, Moctezuma,<br />

der König des mä<strong>ch</strong>tigsten Rei<strong>ch</strong>es der Erde!<br />

Er hatte in die Dose gestarrt, und tiefe Mutlosigkeit hatte ihn überflutet wie eine mä<strong>ch</strong>tige<br />

Woge. Da hatte er na<strong>ch</strong> seinen Wä<strong>ch</strong>tern gerufen und befohlen: »Bringt dieses Zaubermittel fort,<br />

i<strong>ch</strong> will es ni<strong>ch</strong>t mehr sehen!«<br />

Die Wä<strong>ch</strong>ter fielen vor ihm auf ihr Angesi<strong>ch</strong>t. »O mä<strong>ch</strong>tiger König, wohin befiehlst du, dass<br />

wir es bringen sollen?«, fragte der Anführer.<br />

»Bringt es in Tezcatlipocas Tempel na<strong>ch</strong> Tacuba und legt es neben das abges<strong>ch</strong>nittene<br />

Haupt des bärtigen Mannes.«<br />

Und wie um die Demütigung no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>limmer zu ma<strong>ch</strong>en, musste nun er den Grünen Stein<br />

auf dem großen Tempel empfangen.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 242<br />

Cortés' Blick s<strong>ch</strong>weifte über das Dä<strong>ch</strong>ermeer und die wie Inseln darin emporragenden a<strong>ch</strong>tundsiebzig<br />

weißen Teocalli. Ein besonderer Reiz ging von der kanaldur<strong>ch</strong>aderten Wasserstadt<br />

aus. Das Funkeln der Wellen im Sonnenli<strong>ch</strong>t spiegelte si<strong>ch</strong> an allen Häuserwänden und leu<strong>ch</strong>tete<br />

die kreidegetün<strong>ch</strong>ten Tempeltürme hinauf; ja, es strahlte überall. Do<strong>ch</strong> Cortés war ni<strong>ch</strong>t heraufgekommen,<br />

um den s<strong>ch</strong>önen Anblick zu genießen. Er befand si<strong>ch</strong> in einer Festung, musste si<strong>ch</strong> ein<br />

Bild von der strategis<strong>ch</strong>en Lage ma<strong>ch</strong>en und Mögli<strong>ch</strong>keiten des Angriffs und der Abwehr abwägen.<br />

Während er mit Moctezuma spra<strong>ch</strong>, sah er si<strong>ch</strong> unauffällig um und prägte si<strong>ch</strong> Straßenzüge und<br />

Kanalbrücken ein.<br />

S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> blieb<br />

sein Blick weiter im<br />

Südosten am<br />

Tempel Unseres<br />

Herrn des Ges<strong>ch</strong>undenenhaften;<br />

das Da<strong>ch</strong> bestand<br />

aus geblei<strong>ch</strong>tenMens<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>ädeln.<br />

Die Abbildung aus einem<br />

spanis<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tsbu<strong>ch</strong><br />

über den Eroberungsfeldzug<br />

zeigt den<br />

riesigen Aztekentempel<br />

von Teno<strong>ch</strong>titlán. Breite<br />

Treppen führten zu der<br />

Opferplattform hinauf.<br />

Cortez versu<strong>ch</strong>te vergebli<strong>ch</strong>,<br />

Moctezuma von der<br />

Darbringung der Mens<strong>ch</strong>enopfer<br />

abzuhalten.<br />

»S<strong>ch</strong>aut dort hinüber, Señores«, sagte er auf Spanis<strong>ch</strong> zu seinen Begleitern. »Die Stadt verdient<br />

das S<strong>ch</strong>icksal Sodoms und ist keines Erbarmens wert.«<br />

Er wusste, dass Moctezuma ihn beoba<strong>ch</strong>tete; deshalb behielt er seinen freundli<strong>ch</strong>en Gesi<strong>ch</strong>tsausdruck<br />

bei. Er bat Marina, beim König die Erlaubnis zum Betreten der beiden Sanktuare zu<br />

erbitten. Na<strong>ch</strong> kurzer Beratung mit Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t willigte Moctezuma ein und führte die<br />

Christen in die Heiligtümer.<br />

S<strong>ch</strong>on an der S<strong>ch</strong>welle der Huitzilopo<strong>ch</strong>tlikapelle s<strong>ch</strong>lug den Eintretenden ein infernalis<strong>ch</strong>er<br />

Gestank entgegen. Seit der Erbauung des Tempels vor zweihundert Jahren hat man hier ungezählte<br />

Mens<strong>ch</strong>enopfer ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet, und der Raum durfte nie vom Blut der Opfer gesäubert werden.<br />

Zu dicken Klumpen verhärtet, hing es s<strong>ch</strong>warzbraun vom Altar herab und bedeckte die Wände.<br />

Fris<strong>ch</strong>es Blut triefte hell über das Gallert älterer versteinerter Blutla<strong>ch</strong>en. Auf einem Altar<br />

brannte, aus einem Feuertopf auflodernd, das Ewige Feuer; sein Widers<strong>ch</strong>ein hüpfte rot auf den<br />

blaugrünen Stahlharnis<strong>ch</strong>en der Kastilier, und ein Rau<strong>ch</strong>fang in der Decke entließ weißgrauen<br />

Qualm in den Himmel Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis.<br />

Auf dem Altar lagen Obsidianmesser, Feuerbohrer, allerlei Tempelgerät und – fünf no<strong>ch</strong> zuckende<br />

Mens<strong>ch</strong>enherzen!<br />

Alvarado erblei<strong>ch</strong>te, Andrés de Tapia stieß ein ers<strong>ch</strong>rockenes »O Gott!« aus, und selbst die<br />

hartgesottenen Kämpen Olíd und Lugo s<strong>ch</strong>luckten s<strong>ch</strong>wer. Nur Cortés wahrte seine ausdruckslose<br />

Ruhe und bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigte damit die anderen. Seitli<strong>ch</strong> neben dem Altarstein stand die zwei Klafter<br />

lange, aus einem ausgehöhlten Yuccastamm ges<strong>ch</strong>nitzte und mit S<strong>ch</strong>langenhaut überspannte<br />

Trommel des Kriegsgottes – sie wurde nur selten gerührt, nur in s<strong>ch</strong>icksalss<strong>ch</strong>wangeren Stunden.<br />

Weiter hinten erhob si<strong>ch</strong> in einer vergoldeten Nis<strong>ch</strong>e das überlebensgroße Bildnis des Wunderbaren<br />

Huitzilopo<strong>ch</strong>tli aus spiegelblank geglättetem, s<strong>ch</strong>warzem Basalt. Der Gott war als kauernder<br />

Jüngling dargestellt; eine über und über mit Juwelen besetzte S<strong>ch</strong>lange wand si<strong>ch</strong> um seinen


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 243<br />

nackten Körper, den goldenen S<strong>ch</strong>langenstab hielt er in der re<strong>ch</strong>ten, eine weiße Blume und vier<br />

goldene Pfeile ohne Spitze in der linken Hand. Über seinem Rücken kro<strong>ch</strong> ein großer Dra<strong>ch</strong>e und<br />

ragte über die S<strong>ch</strong>ultern empor. Als Halsband trug der Gott aneinander gereihte goldene und silberne<br />

Herzen. Blau übermalt war sein Gesi<strong>ch</strong>t; darüber verliefen gelbe Querstreifen, die Kinderkot<br />

versinnbildli<strong>ch</strong>ten.<br />

In die Kapelle des Wassergottes nebenan blickten die Kastilier nur flü<strong>ch</strong>tig. Der Gestank war<br />

unerträgli<strong>ch</strong>. Der basaltene Gott Tlaloc entspra<strong>ch</strong> genau dem basaltenen Götzenbild auf dem<br />

Kordillerenpass, nur dass er hier ein goldenes Blitzbündel in der Hand hielt. Und vor ihm, auf dem<br />

Steintis<strong>ch</strong>, zuckten drei soeben erst entrissene Edelsteine.<br />

Na<strong>ch</strong>dem sie wieder ins Freie getreten waren und tief atmend die reine Höhenluft einsogen,<br />

bemerkte Cortés:<br />

»Bevor wir heraufstiegen, hat dieser teuflis<strong>ch</strong>e König eine Opferhandlung vornehmen lassen,<br />

um seine Götzen mit unserem Besu<strong>ch</strong> auszusöhnen!«<br />

»Wir sollten diesen Barbaren die S<strong>ch</strong>ädel eins<strong>ch</strong>lagen!«, rief Olíd wütend.<br />

»No<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t!«, warnte Cortés. »Wir werden hier weder dem König no<strong>ch</strong> seinen blutgierigen<br />

Priestern Vorhaltungen ma<strong>ch</strong>en. Wir müssen auf seine Gefühle Rücksi<strong>ch</strong>t nehmen – was uns als<br />

Gräuelstätte ers<strong>ch</strong>eint, ist ihm das Heiligste seiner Heiligtümer.«<br />

Andrés de Tapia wollte etwas erwidern, do<strong>ch</strong> Alvarado rief: »Dort kommt Sandoval mit Riesens<strong>ch</strong>ritten.<br />

Da s<strong>ch</strong>eint etwas ges<strong>ch</strong>ehen zu sein!«<br />

Gonzalo de Sandoval stürmte atemlos die große Pyramidentreppe hinauf. Cortés ging ihm<br />

entgegen.<br />

»Was bringt Ihr, Sandoval?«<br />

»Zwei Briefe. Einen von Alonso de Grado und einen vom Ri<strong>ch</strong>ter Moreno Madrano. Es ist ein<br />

Wunder, dass sie no<strong>ch</strong> eingetroffen sind. Der verkleidete Tlaxcalteke, der sie überbra<strong>ch</strong>te, sagte,<br />

er habe auf dem Steindamm bemerkt, dass die Mexica bereits Vorbereitungen treffen, die hölzernen<br />

Dammbrücken zu entfernen.«<br />

Cortés entsiegelte zuerst den Brief des Viels<strong>ch</strong>reibers. Jede Zeile war eine Hiobsbots<strong>ch</strong>aft:<br />

der Verrat des dicken Kaziken... Niederlage... Escalante und se<strong>ch</strong>s Weiße ers<strong>ch</strong>lagen... eins der<br />

Pferde getötet. Hinzu kam, dass Alonso de Grado si<strong>ch</strong> zum Stadtkommandanten von Veracruz<br />

hatte wählen lassen. Denn der Brief des Ri<strong>ch</strong>ters enthielt Klagen über die S<strong>ch</strong>reckensherrs<strong>ch</strong>aft de<br />

Grados.<br />

Moctezuma erriet, was Cortés las. Sein Herz verhärtete si<strong>ch</strong>.<br />

»O mein Oheim und Vater«, spra<strong>ch</strong> er leise zu Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t. »Die Frist, die i<strong>ch</strong><br />

dem Verhängnis gewähren wollte, hat der Himmel kurz bemessen. Heute Na<strong>ch</strong>t muss es ges<strong>ch</strong>ehen.«<br />

»O du von aller Welt geliebter Sohn«, flüsterte der Hohepriester. »In deinen Händen hältst<br />

du das Leben und den Tod. Do<strong>ch</strong> spri<strong>ch</strong> das Wort der Verni<strong>ch</strong>tung no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, solange das Rätsel<br />

der Brandenden Welle ni<strong>ch</strong>t gelöst ist. Warte bis morgen Abend, bis das Weib aus Oaxaca das<br />

Geheimnis offenbart, das sie in ihren Eingeweiden verbarg.«<br />

Cortés hingegen hatte s<strong>ch</strong>on den Ents<strong>ch</strong>luss gefasst, am folgenden Morgen das Äußerste zu<br />

wagen. Moctezuma durfte ihm ni<strong>ch</strong>ts anmerken; er wollte ihn auf eine fals<strong>ch</strong>e Fährte führen. Eine<br />

freimütige Äußerung über die Götzen müsste den König kränken. Mo<strong>ch</strong>te er au<strong>ch</strong> taktlos und wie<br />

ein unbeirrbarer S<strong>ch</strong>wärmer ers<strong>ch</strong>einen, so hoffte er gerade dadur<strong>ch</strong> den Ans<strong>ch</strong>ein zu erwecken,<br />

als bes<strong>ch</strong>äftige ihn kein anderer Gedanke, als wäre die Bekehrung sein einziges Ziel.<br />

»Eure königli<strong>ch</strong>e Majestät verzeihe mir die Kühnheit«, ließ er Marina übersetzen. »Die Götter,<br />

die die Mexica anbeten, sind stinkende Diener des Teufels. Wenn Eure Majestät gestatten<br />

würde, hier oben das Bild der wahren Mutter des Allmä<strong>ch</strong>tigen aufzuri<strong>ch</strong>ten – es würde bald offenbar,<br />

wie ma<strong>ch</strong>tlos diese elenden Götzen sind!«<br />

»Vergesst ni<strong>ch</strong>t, wo wir uns befinden, Don Hernándo!«, murmelte Alvarado.<br />

»Ihr solltet wissen, Don Pedro, dass i<strong>ch</strong> kein Narr bin!«, versetzte Cortés. »Solange Ihr den<br />

Inhalt der beiden Briefe ni<strong>ch</strong>t kennt, vertraut meiner Taktik.«<br />

Der König hatte mit dem Hohepriester funkelnde Blicke gewe<strong>ch</strong>selt.<br />

»O Sohn der Sonne, o Grüner Stein«, antwortete Moctezuma mit verhaltenem Zorn. »Hätte<br />

i<strong>ch</strong> vorausgesehen, dass sol<strong>ch</strong>e Worte im Angesi<strong>ch</strong>t meiner Götter aus deinem Munde kommen,<br />

niemals hätte i<strong>ch</strong> dir erlaubt, zum Altar des Sternenhimmels emporzusteigen! Begebt eu<strong>ch</strong> in eure


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 244<br />

Wohnung! I<strong>ch</strong> werde no<strong>ch</strong> hier bleiben, i<strong>ch</strong> muss die Götter tränken, muss ihnen die Fru<strong>ch</strong>t darbringen,<br />

die der Adler vers<strong>ch</strong>lingt! I<strong>ch</strong> muss beim s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>en Huitzilopo<strong>ch</strong>tli um Vergebung flehen,<br />

dass i<strong>ch</strong> dir hier Zugang gewährte!«<br />

Der König war zornig. Cortés erkannte mit Zufriedenheit, dass Moctezuma ohne Argwohn<br />

war. Höfli<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>uldigte er si<strong>ch</strong>: Das Mitleid mit der Seele des Königs habe ihn dazu verleitet,<br />

rücksi<strong>ch</strong>tsloser zu reden, als man vor einem so berühmten und mä<strong>ch</strong>tigen Herrs<strong>ch</strong>er reden dürfe.<br />

Er bat den König, ihm seinen Eifer – der ni<strong>ch</strong>ts anderes als ein Zei<strong>ch</strong>en seiner Verehrung und Liebe<br />

sei – ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>zutragen. Dann verabs<strong>ch</strong>iedete er si<strong>ch</strong> mit einer tiefen, ehrerbietigen Verbeugung.<br />

Moctezuma aber ging auf die Edelsteins<strong>ch</strong>ale zu, wo der Herr des S<strong>ch</strong>warzen Hauses und<br />

der Blutvergießer auf ihn warteten.<br />

*<br />

Auf dem Rückweg erzählte Cortés den Feldobristen vom Tod Escalantes. Er ritt neben Sandoval.<br />

»Ma<strong>ch</strong>t Eu<strong>ch</strong> bereit, Sandoval. Ihr müsst sofort zur Küste aufbre<strong>ch</strong>en. Veracruz ist das<br />

Rückgrat unserer Unternehmung. So jung Ihr au<strong>ch</strong> seid, i<strong>ch</strong> habe großes Vertrauen zu Eu<strong>ch</strong>. I<strong>ch</strong><br />

habe mi<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>lossen, Eu<strong>ch</strong> zum Na<strong>ch</strong>folger Escalantes zu ernennen!«<br />

Sandoval dankte, do<strong>ch</strong> Cortés lehnte jeden Dank ab.<br />

»Es ist keine lei<strong>ch</strong>te Aufgabe, mein Sohn! I<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>icke Eu<strong>ch</strong> in den Stall des Augias – viellei<strong>ch</strong>t<br />

in den Tod. Do<strong>ch</strong> den Tod haben wir alle zum Gastgeber, au<strong>ch</strong> hier.«<br />

Im Tecpan des Königs Wassergeist bat Cortés die Blaue Feder, in einem Kanu unauffällig<br />

den südli<strong>ch</strong>en Steindamm entlang bis na<strong>ch</strong> Iztapalapá zu rudern und si<strong>ch</strong> zu vergewissern, ob die<br />

hölzernen Brücken s<strong>ch</strong>on entfernt würden.<br />

Dann diktierte Cortés dem Notar Diego de Godoy den Text einer Urkunde, worin die Absetzung<br />

des Don Alonso de Grado und die Bestallung Sandovals als Oberri<strong>ch</strong>ter und Befehlshaber<br />

der Meeresfestung verfügt wurde. Sandoval bra<strong>ch</strong> ans<strong>ch</strong>ließend sofort mit einer Eskorte von<br />

zwanzig Tlatepoca zur Küste auf. Seine junge Frau, Doña Ximena, die Enkelin des Wollrings, saß<br />

hinter ihm auf der Kruppe des Pferdes: Motilla war kräftig genug, beide zu tragen.<br />

Drei Stunden später meldete die Blaue Feder, die Holzbrücken stünden no<strong>ch</strong>; gewisse Vorkehrungen<br />

deuteten aber darauf hin, dass sie in der kommenden Na<strong>ch</strong>t entfernt würden.<br />

Cortés wanderte im großen, leeren Saal ruhelos auf und ab. No<strong>ch</strong> nie hatte ihn ein Vorhaben<br />

in sol<strong>ch</strong>e Zweifel gestürzt. Auf der Plattform der Pyramide glaubte er, si<strong>ch</strong> ents<strong>ch</strong>ieden zu haben,<br />

do<strong>ch</strong> seit er wieder unten war, war sein Ents<strong>ch</strong>luss ins Wanken geraten. Die Bedenken wu<strong>ch</strong>sen;<br />

zwar war er immer no<strong>ch</strong> gewillt, das Spiel der Ma<strong>ch</strong>t zu wagen, zweifelte aber plötzli<strong>ch</strong> am Gelingen.<br />

Cortés war so sehr in Gedanken versunken, dass er zusammenfuhr, als er im Fackelli<strong>ch</strong>t den<br />

Zimmermann Cristóbal de Jaén vor si<strong>ch</strong> stehen sah.<br />

»Wie kommt Ihr hier herein?«, fuhr er ihn an. »Was wollt Ihr?«<br />

»Euer Gnaden wissen, dass i<strong>ch</strong> Zimmermann und Maurer bin. Daher habe i<strong>ch</strong> etwas gesehen,<br />

was andere Leute ni<strong>ch</strong>t gesehen haben.«<br />

»Wollt Ihr damit sagen, Señor, dass Ihr etwas wisst, was i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t weiß?«<br />

»Viellei<strong>ch</strong>t. Oder ist es Euer Gnaden bekannt, dass si<strong>ch</strong> in diesem Saal eine verborgene Tür<br />

befindet?«<br />

»Nein! Wo?«<br />

»Als i<strong>ch</strong> heute früh dur<strong>ch</strong> diesen Saal ging, sah i<strong>ch</strong> es sofort. Do<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wieg, um es Euer<br />

Gnaden allein mitzuteilen. Hier an der Wand ist die Tür. Seht Ihr sie jetzt?«<br />

Der Generalkapitän tastete die Wand mit den Augen ab. »Nein«, gestand er.<br />

»Diese Mexica haben tü<strong>ch</strong>tige Werkleute, Euer Gnaden! Die Tür ist zugemauert, mit Mörtel<br />

vers<strong>ch</strong>miert und mit Tapeten überklebt.«<br />

Der Zimmermann erhielt den Auftrag, den Dur<strong>ch</strong>gang zu öffnen. Das Gehämmere und der<br />

Lärm des Stemmeisens lockte die Hauptleute und mehrere Soldaten in den S<strong>ch</strong>langensaal. Als die<br />

Mauer dur<strong>ch</strong>bro<strong>ch</strong>en war, zeigte si<strong>ch</strong> eine enge Treppe. Cortés und die Feldobristen ließen si<strong>ch</strong><br />

Fackeln rei<strong>ch</strong>en. Vier Soldaten mussten sie begleiten. Die Männer stiegen hinab und gelangten<br />

unten in einen Gang, der si<strong>ch</strong> im Dunkeln verlor. Zu beiden Seiten sah man Türen. Cortés ließ die


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 245<br />

erste Tür von einem Soldaten öffnen: heller Glanz s<strong>ch</strong>immerte ihnen im Fackels<strong>ch</strong>ein entgegen.<br />

Der Golds<strong>ch</strong>atz des Königs Wassergeist lag ausgebreitet vor ihnen! S<strong>ch</strong>atzkammer reihte si<strong>ch</strong> an<br />

S<strong>ch</strong>atzkammer. Neben Goldbarren standen Edelsteinkisten, Hausgötzen aus Porphyr, goldene<br />

Trinkgefäße und offene Kisten voll goldener Ketten, Armbändern und Diademen, prä<strong>ch</strong>tig gearbeiteten<br />

Goldrüstungen, Bros<strong>ch</strong>en, Gemmen und anderem Ges<strong>ch</strong>meide.<br />

In den drei letzten Kammern lagerte der S<strong>ch</strong>atz von Tezcoco.<br />

»Es ist, als s<strong>ch</strong>ritten wir dur<strong>ch</strong> das S<strong>ch</strong>atzhaus des Priamos«, bemerkte Velásquez de León<br />

zu Cortés.<br />

»Ja«, antwortete der, »und das Leben am Königshof Trojas wird kaum anders gewesen sein<br />

als am Königshof zu Teno<strong>ch</strong>titlán. Gold erworben dur<strong>ch</strong> Krieg, Raub und Unterdrückung. Eine goldene<br />

und blutige Herrli<strong>ch</strong>keit. Das S<strong>ch</strong>icksal der Troer sei Warnung au<strong>ch</strong> für uns! I<strong>ch</strong> werde die<br />

Tür wieder zumauern lassen und dem Glück das Ges<strong>ch</strong>enk vor die Füße werfen, mit dem es mi<strong>ch</strong><br />

überlisten will!«<br />

Sie kehrten zum Eingang zurück. Als er in die erste Kammer blickte, sah er, dass Juan<br />

García der Aufgeblasene einen Adler aus Gold im Arm hielt.<br />

»Stellt das zurück!«, rief Cortés ärgerli<strong>ch</strong>. »Dieses S<strong>ch</strong>atzhaus gehört Moctezuma! I<strong>ch</strong> lasse<br />

jeden hängen, der einen Gegenstand entwendet!«<br />

Die Neugierigen durften si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> kurze Zeit am Funkeln und Strahlen der Kostbarkeiten<br />

weiden. Dann befahl Cortés allen, si<strong>ch</strong> zu entfernen. Murrend gehor<strong>ch</strong>ten die Soldaten. Au<strong>ch</strong> die<br />

Feldobristen stiegen die Treppe hinauf. Nur Avila rührte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Von Begehrli<strong>ch</strong>keit gepackt,<br />

bekam er wieder einen Tobsu<strong>ch</strong>tsanfall wie damals bei den Sanddünen. Gekrümmt und raubtierhaft<br />

stand er vor dem Rei<strong>ch</strong>tum und wollte ni<strong>ch</strong>t zulassen, dass die Tür wieder vermauert werde.<br />

»Nein!«, rief er. »Nein! Das gehört uns! Endli<strong>ch</strong>, endli<strong>ch</strong>! Jetzt nehmen wir uns, weswegen<br />

wir hergekommen sind! Hier liegt unsere Zukunft – in Spanien oder Kuba! Hier liegen prä<strong>ch</strong>tige<br />

Hazienden, Gestüte, Baumwoll- und Zuckerrohrplantagen. Hier gibt es die s<strong>ch</strong>önsten Frauen! Alles,<br />

was wir brau<strong>ch</strong>en – hier ist es!« Und er begann, die S<strong>ch</strong>ätze zusammenzuraffen.<br />

»Legt augenblickli<strong>ch</strong> wieder alles zurück und verlasst den Raum!«, befahl Cortés mit s<strong>ch</strong>arfer<br />

Stimme.<br />

Avila geriet in Panik. »Nein, es gehört uns! Kameraden«, wandte er si<strong>ch</strong> an die anderen,<br />

»nehmt! Es gehört uns!« Er raffte weiter an si<strong>ch</strong>, was er tragen konnte.<br />

»Bringt ihn hinaus!«, befahl Cortés. Olíd, Luis Marín und Alvarado gelang es nur mit Mühe,<br />

den Wütenden zu bändigen und ihn aus der S<strong>ch</strong>atzkammer zu s<strong>ch</strong>leppen.<br />

Der Zimmermann Cristóbal de Jaén mauerte ans<strong>ch</strong>ließend die Tür wieder zu.<br />

Eine Stunde später versammelte Cortés die Hauptleute zum Kriegsrat. Seine Bedenken waren<br />

nun beseitigt: er durfte ni<strong>ch</strong>t warten, bis Moctezuma von der Entdeckung des Golds<strong>ch</strong>atzes<br />

erfuhr. Und sein Heer – das hatte die Goldgier Avilas ihm gezeigt – tanzte und taumelte ahnungslos<br />

einen Abgrund entlang.<br />

Während sie das Für und Wider diskutierten, trat der Page Orteguilla ein. Er war aus dem<br />

Huei-Tecpan entflohen, weil er für<strong>ch</strong>tete, verspeist oder geopfert zu werden. Wie einst in<br />

Cempoala ging er auf Türkissandalen, war bis auf einen Lendens<strong>ch</strong>urz und seine Edelmarderdecke<br />

auf dem Rücken unbekleidet, trug aber au<strong>ch</strong> die mäd<strong>ch</strong>enhafte Perücke aus lang<br />

herabwallenden ockergelben Papageienfedern.<br />

Der Knabe hatte allerlei Gesprä<strong>ch</strong>e belaus<strong>ch</strong>t. Die Höflinge redeten von einem Opferfest –<br />

sämtli<strong>ch</strong>e Christen sollten ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet werden. Nur Marinas wegen zögerte Moctezuma no<strong>ch</strong> und<br />

habe den Überfall auf den übernä<strong>ch</strong>sten Tag vers<strong>ch</strong>oben. Orteguilla beri<strong>ch</strong>tete au<strong>ch</strong> von<br />

Escalantes Haupt; Höflinge hatten die s<strong>ch</strong>aurige Na<strong>ch</strong>tszene in Orteguillas Gegenwart beredet.<br />

Der Bes<strong>ch</strong>luss, Moctezuma am nä<strong>ch</strong>sten Morgen gefangen zu nehmen oder ihn zu töten,<br />

falls er Widerstand leistete, erfolgte einstimmig.<br />

*<br />

Im Huei-Tecpan gingen Kunds<strong>ch</strong>after ein und aus. Moctezuma erfuhr, dass Cacama, der Edle Betrübte,<br />

bisher ein Verfe<strong>ch</strong>ter des heiligen Gastre<strong>ch</strong>ts, nunmehr wegen des beleidigenden Verhaltens<br />

des Grünen Steins auf dem Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz die Streitlust der Kampfbegierigen s<strong>ch</strong>ürte.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 246<br />

Er und Cuitlahuac, der Überwinder, würden die Gelbhaarigen um Mitterna<strong>ch</strong>t angreifen; sie besäßen<br />

das stills<strong>ch</strong>weigende Einverständnis Moctezumas.<br />

Moctezuma ließ den Vorsteher des Hauses der Speere kommen und widerrief sämtli<strong>ch</strong>e Befehle<br />

seines Bruders und seines Neffen. Er untersagte die Entfernung der Dammbrücken und jede<br />

Herausforderung der Christen. Auf die Einwände des Feldherrn, dass die Wut der Adler und Jaguare<br />

si<strong>ch</strong> kaum no<strong>ch</strong> zügeln lasse, fuhr er ihn an:<br />

»Wem s<strong>ch</strong>uldest du Gehorsam? Deinen S<strong>ch</strong>ildträgern oder deinem König?«<br />

»Dir, o Unsterbli<strong>ch</strong>er, o Weiser«, gab der Überwinder kleinlaut zu.<br />

»Hiermit ma<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong> für die Ruhe in dieser Na<strong>ch</strong>t verantwortli<strong>ch</strong>.«<br />

Ni<strong>ch</strong>t nur Marinas wegen hatte der Aztekenherrs<strong>ch</strong>er den Angriff in dieser Na<strong>ch</strong>t untersagt.<br />

Er war s<strong>ch</strong>on immer ein Zauderer, jetzt aber – uns<strong>ch</strong>lüssig, melan<strong>ch</strong>olis<strong>ch</strong> und voller Ergebenheit<br />

in ein als unabänderli<strong>ch</strong> hinzunehmendes S<strong>ch</strong>icksal – sah er das Verhängnis immer näher kommen.<br />

Dem S<strong>ch</strong>icksal kann man ni<strong>ch</strong>t entrinnen! Moctezuma redete si<strong>ch</strong> ein, dass er zuerst die<br />

Frau aus Oaxaca spre<strong>ch</strong>en müsse. Wenn er einer verlorenen To<strong>ch</strong>ter wegen die Ents<strong>ch</strong>eidung<br />

hinauss<strong>ch</strong>ob, konnte er sein Gewissen beruhigen. Wenn die Vermittlerin des Verhängnisses das<br />

geweihte Kind war, hätte es, von ihm preisgegeben, nur mit überirdis<strong>ch</strong>er Hilfe als Rä<strong>ch</strong>erin wiederkehren<br />

können. So re<strong>ch</strong>tfertigte er sein Zögern, das eigentli<strong>ch</strong> Feigheit war.<br />

Moctezuma empfand wie alle Mexica eine abergläubis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>eu vor Marina. S<strong>ch</strong>on die<br />

Wä<strong>ch</strong>ter des Meeres hatten viel Wesens von ihr gema<strong>ch</strong>t. Ihr Name war bereits in aller Munde, als<br />

no<strong>ch</strong> niemand den ihres Herrn kannte. Auf der Pyramide in Cempoala war das rosenumrankte Bild<br />

einer weißen Göttin aufgestellt worden, und das Gerü<strong>ch</strong>t behauptete, es sei ein Bild der Malintzín.<br />

Au<strong>ch</strong> in Tlaxcala und Cholula hatten die Christen Bilder ihrer Göttin hinterlassen, die vom Volk als<br />

Unsere Mutter angebetet wurde. Und der Überbringer des Hauptes Escalantes hatte auf die Frage,<br />

wieso bloß sieben der Gelbhaarigen getötet worden seien, geantwortet: Eine weiße Göttin habe in<br />

den Reihen der Gelbhaarigen gekämpft und ihnen den Rückzug gedeckt!<br />

Der Gedanke, das müsse Malintzín gewesen sein, verfolgte Moctezuma; s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> gab es<br />

au<strong>ch</strong> Eulenmens<strong>ch</strong>en, deren Nebelbild meilenweit flog, während ihr Leib im S<strong>ch</strong>lummer lag. Wenn<br />

sie zudem seine To<strong>ch</strong>ter und eine Göttin war, seine von den Göttern zur Göttin erhobene To<strong>ch</strong>ter?<br />

Dann wäre Widerstand aussi<strong>ch</strong>tslos. Dann könnte nur ihre Gunst ihn retten – wenn es ihm gelänge,<br />

ihr Wohlwollen zu gewinnen. In seinem Selbstbetrug freute si<strong>ch</strong> Moctezumas auf den kommenden<br />

Tag, der den S<strong>ch</strong>leier ihrer Herkunft lüften und eine Brücke s<strong>ch</strong>lagen würde zwis<strong>ch</strong>en ihm<br />

und den Söhnen der Sonne...<br />

*<br />

Auf der kurzen Verbindungsstraße zwis<strong>ch</strong>en dem alten und dem neuen Palast patrouillierten<br />

S<strong>ch</strong>ildwa<strong>ch</strong>en. Seit dem frühen Morgen füllten Soldaten, einzeln oder in kleinen Trupps, die Gärten<br />

und Prunksäle Moctezumas. Ihre Zahl wu<strong>ch</strong>s no<strong>ch</strong> immer; alle wollten sie den Huei-Tecpan besi<strong>ch</strong>tigen.<br />

Als die Sonne höher stieg, ers<strong>ch</strong>ien au<strong>ch</strong> Cortés in Begleitung von dreißig geharnis<strong>ch</strong>ten<br />

Reitern; fünfundzwanzig Mann mussten am Haupteingang Posten beziehen, er aber betrat mit<br />

Marina, Alvarado, Ordás, Velásquez, Avila, Olíd und Pater Olmedo den S<strong>ch</strong>langensaal. Der Rest<br />

des Heeres wartete kampfbereit unter dem Befehl von Lugo und Tapia im Tecpan des Königs<br />

Wassergeist.<br />

Moctezuma empfing den Generalkapitän und seine Eskorte auf seinem Thron, über dem juwelenfunkelnd<br />

zwei Jaguarfelle mit weit aufgerissenen Ra<strong>ch</strong>en ausgebreitet lagen. Die Augen der<br />

Tiere glänzten als s<strong>ch</strong>warze Perlen, die Reißzähne waren aus weißem A<strong>ch</strong>at naturgetreu na<strong>ch</strong>gebildet.<br />

Der König s<strong>ch</strong>ien vergessen zu haben, dass er Cortés vom Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz fortgewiesen<br />

hatte, und war si<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> bestrebt, die Erinnerung an den Zwis<strong>ch</strong>enfall auszumerzen. Freundli<strong>ch</strong><br />

erkundigte er si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Helden, der den Tanz der Steine im Bau<strong>ch</strong> des Rau<strong>ch</strong>enden Berges<br />

gesehen habe. Der Generalkapitän stellte ihm Ordás vor. Der König s<strong>ch</strong>erzte mit dem Ritter und<br />

fragte heiter na<strong>ch</strong> dem Eiszapfen, von dem man ihm erzählt habe. Hatte er tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> die Größe<br />

einer fünfjährigen Tanne gehabt? War der Eiszapfen wirkli<strong>ch</strong> davongelaufen, s<strong>ch</strong>nell wie ein Windhund,<br />

aus Fur<strong>ch</strong>t vor der Sonne? Und belustigt erkundigte er si<strong>ch</strong>, wie Ordás die S<strong>ch</strong>neehalde<br />

hinabgeglitten sei – stehend oder sitzend, liegend oder auf dem Rücken ruts<strong>ch</strong>end? Viellei<strong>ch</strong>t gar


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 247<br />

auf dem Bau<strong>ch</strong>, mit dem Kopf voraus? Oder seitwärts wie ein rollender Baumstamm?<br />

Das Gefolge des Königs la<strong>ch</strong>te zu seinen S<strong>ch</strong>erzen. Do<strong>ch</strong> plötzli<strong>ch</strong> befiel Moctezuma wieder<br />

das Gefühl grenzenloser Trauer; er sah die Bewaffnung der Sonnensöhne und wurde si<strong>ch</strong> seiner<br />

Unentrinnbarkeit bewusst. Unvermittelt fragte er Cortés, ob dieser eine seiner Tö<strong>ch</strong>ter zur Gemahlin<br />

wüns<strong>ch</strong>e.<br />

Die fals<strong>ch</strong>e Fröhli<strong>ch</strong>keit der Unterhaltung hatte Cortés s<strong>ch</strong>on zu lange gedauert, sie ers<strong>ch</strong>werte<br />

es ihm, die Vorwürfe vorzubringen. Jetzt ergriff er die Gelegenheit, einen Streit vom Zaun<br />

zu bre<strong>ch</strong>en. Ernst, beinahe s<strong>ch</strong>roff erwiderte er:<br />

»Wir Christen heiraten nur getaufte Mäd<strong>ch</strong>en!«<br />

Do<strong>ch</strong> Moctezuma hatte einen S<strong>ch</strong>utzwall von Heiterkeit um si<strong>ch</strong> erri<strong>ch</strong>tet und wollte si<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t hervorlocken lassen. Lä<strong>ch</strong>elnd sagte er:<br />

»I<strong>ch</strong> weiß es no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mit Bestimmtheit, aber es ist mögli<strong>ch</strong>, dass eine meiner Tö<strong>ch</strong>ter das<br />

Kreuz anbetet! No<strong>ch</strong> heute werde i<strong>ch</strong> es erfahren...«<br />

Cortés unterbra<strong>ch</strong> ihn. »I<strong>ch</strong> bitte die Aufmerksamkeit Eurer Majestät auf ernsthaftere Vermutungen<br />

lenken zu dürfen«, sagte er. »Es ist jetzt ni<strong>ch</strong>t die Zeit, Ho<strong>ch</strong>zeitsfeste zu planen, während<br />

an der Küste meine Kampfgenossen für sieben weiße Männer ein Lei<strong>ch</strong>enbegängnis feiern –<br />

Männer, die auf Befehl eines Dieners Eurer Majestät umgebra<strong>ch</strong>t wurden!«<br />

Marina übersetzte Wort für Wort. Moctezumas La<strong>ch</strong>en gefror. Mit s<strong>ch</strong>reckhaft aufgerissenen<br />

Augen starrte er Cortés an. »Davon weiß i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts«, sagte er leise.<br />

»Ist Eure Majestät au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts vom Gastmahl der Sengenden Glut bekannt?«, fuhr Cortés<br />

fort. »Weiß der König der Wasserstadt ni<strong>ch</strong>t, dass ein weißer Mann und eine weiße Jungfrau verspeist<br />

wurden?«<br />

Moctezuma s<strong>ch</strong>üttelte den Kopf. »Die Tlatepoca sind Lügner!«, flüsterte er.<br />

Da zog Cortés den Brief Alonso de Grados aus seinem Wams und s<strong>ch</strong>lug mit der Faust auf<br />

das Papier.<br />

»Dieses S<strong>ch</strong>reiben aber ist kein Lügner, Majestät!«, rief er laut. »Dieses Papier ist ein untrügli<strong>ch</strong>er<br />

Zeuge! Dieses Papier sagt: ›Wir hielten Frieden, do<strong>ch</strong> die Sengende Glut bra<strong>ch</strong> diesen<br />

Frieden! Widerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> nahm er zwei der Unseren gefangen!‹ Dieses Papier sagt: ›Die Sengende<br />

Glut hat die weißen Männer eingeladen, um Frieden zu s<strong>ch</strong>ließen, und hat sie bewirtet. Do<strong>ch</strong> als<br />

das Mahl beendet war, sagte er ihnen, dass sie unwissend das Fleis<strong>ch</strong> ihres weißen Bruders und<br />

ihrer weißen S<strong>ch</strong>wester gegessen haben!‹ Dieses Papier sagt: ›Von den weißen Männern, die<br />

auszogen, das s<strong>ch</strong>eußli<strong>ch</strong>e Gastmahl zu strafen, sind sieben ni<strong>ch</strong>t in ehrli<strong>ch</strong>em Kampf gefallen,<br />

sondern hinterrücks ers<strong>ch</strong>lagen worden.‹ Dieses Papier sagt au<strong>ch</strong>: ›Der abges<strong>ch</strong>nittene Kopf des<br />

Anführers wurde dem König Moctezuma zugesandt!‹ Und dieses Papier sagt endli<strong>ch</strong>: ›Gefangene<br />

Mexica haben unter der Folter gestanden, sie hätten aus dem Munde der Sengenden Glut gehört:<br />

ni<strong>ch</strong>t er sei für das Gastmahl und seine Folgen verantwortli<strong>ch</strong>, denn er habe nur ausgeführt, was<br />

ihm von Eurer Majestät befohlen worden sei!‹«<br />

Moctezuma griff langsam in die offenen Raubtierra<strong>ch</strong>en an seinem Thronsitz. Die Finger verkrampften<br />

si<strong>ch</strong> in den s<strong>ch</strong>arfen Fangzähnen, Blut lief ihm über die Hände. Do<strong>ch</strong> er bea<strong>ch</strong>tete es<br />

ni<strong>ch</strong>t; niemand bea<strong>ch</strong>tete es.<br />

»Das sind alles Lügen!«, rief er finster.<br />

»Au<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> glaube, dass es Lügen sind«, sagte Cortés höfli<strong>ch</strong>. »Und i<strong>ch</strong> hoffe, dass es Eurer<br />

Majestät gelingt, si<strong>ch</strong> von diesem Verda<strong>ch</strong>t reinzuwas<strong>ch</strong>en. Deshalb s<strong>ch</strong>lage i<strong>ch</strong> vor, dass Majestät<br />

die Sengende Glut na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán bestellt. Wenn der Statthalter uns Rede und Antwort<br />

steht, wird die Uns<strong>ch</strong>uld Eurer Majestät offenbar!«<br />

Moctezuma streifte von seinem linken Handgelenk die Spange mit der goldgefassten, taubeneigroßen<br />

Kamee ab. Er winkte einen seiner Höflinge heran. S<strong>ch</strong>nell wie ein Falke solle er ins<br />

Tlaxcaltekenland fliegen und die Spange der Sengenden Glut vorzeigen; er und sein Sohn, der<br />

Glänzende Harnis<strong>ch</strong>, hätten unverzügli<strong>ch</strong> vor dem Angesi<strong>ch</strong>t Moctezumas zu ers<strong>ch</strong>einen.<br />

Der Höfling zog die s<strong>ch</strong>on ausgestreckte Hand entsetzt zurück. »O Herr, o König, Blut an<br />

deinem Bild!«<br />

»Ja, Blut ist an mir«, murmelte Moctezuma. »Wis<strong>ch</strong> es ni<strong>ch</strong>t ab – es soll bleiben, bis i<strong>ch</strong> es<br />

selbst abwas<strong>ch</strong>e! Und nun nimm mein Bild und eile!«<br />

Der Höfling ergriff den Armring und stürmte hinaus.<br />

Marina riss einen Stoffstreifen aus ihrem S<strong>ch</strong>ultergewand, kniete vor dem König nieder und


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 248<br />

wollte ihm die Wunden verbinden. Do<strong>ch</strong> er wehrte ab und s<strong>ch</strong>üttelte traurig den Kopf. Als er den<br />

feu<strong>ch</strong>ten Glanz in ihren Augen sah, stri<strong>ch</strong> er ihr übers Haar und färbte, ohne es zu wollen, ihre<br />

Stirn mit seinem Blut.<br />

»Die Eile, mit der Eure Majestät geruht, die S<strong>ch</strong>uldigen zur Verantwortung zu ziehen«, begann<br />

Cortés von neuem, »beweist mir, dass Eure Majestät den Verbre<strong>ch</strong>ern fern steht, woran i<strong>ch</strong><br />

nie gezweifelt habe. Wie könnte es au<strong>ch</strong> anders sein, da Eure Majestät ein so treuer Freund meines<br />

kaiserli<strong>ch</strong>en Herrn ist. Leider jedo<strong>ch</strong> genügt meine Überzeugung ni<strong>ch</strong>t, meine Soldaten zu<br />

bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigen. Aus Rücksi<strong>ch</strong>t auf die erregte Stimmung im Heer sehe i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> zu meinem Bedauern<br />

gezwungen, Eure Majestät zu ersu<strong>ch</strong>en, bis zur Ankunft der Sengenden Glut in den Palast<br />

des Königs Wassergeist überzusiedeln.«<br />

Nur mit Mühe gelang es Marina, Haltung zu wahren, während sie übersetzte. Den König gefangen<br />

zu nehmen ers<strong>ch</strong>ien selbst ihr als frevelhafte Tat. Die unbewaffneten Höflinge stießen leise<br />

S<strong>ch</strong>reckenss<strong>ch</strong>reie aus und wollten si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ützend vor Moctezuma stellen, da s<strong>ch</strong>nellten die Degen<br />

der Feldobristen aus den S<strong>ch</strong>eiden. Einige der Mexica stürzten zu den Türen – do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> dort<br />

starrten ihnen Hellebarden entgegen.<br />

Unbeirrt fuhr Cortés fort:<br />

»I<strong>ch</strong> gebe Eurer Majestät die Zusi<strong>ch</strong>erung als Edelmann und Gesandter des mä<strong>ch</strong>tigsten<br />

Fürsten der Welt, dass si<strong>ch</strong> Eure Majestät bei uns ebenso frei bewegen kann wie in diesem Palast,<br />

bedient von eigenen Dienern, und dass Eure Majestät no<strong>ch</strong> dazu den Vorteil genießt, au<strong>ch</strong> von<br />

Kastiliern bedient zu werden. Ni<strong>ch</strong>ts wollen wir unterlassen, den Aufenthalt Eurer Majestät in unserer<br />

Umgebung so angenehm zu gestalten, dass es Eurer Majestät einst s<strong>ch</strong>wer fallen wird, si<strong>ch</strong><br />

von uns zu trennen! Fürsten pflegen ja oft aus einem Palast in den anderen zu ziehen. So rate i<strong>ch</strong><br />

Eurer Majestät, mit uns zu kommen, ohne Lärm zu s<strong>ch</strong>lagen. Unser Zusammenwohnen wird ein<br />

Zei<strong>ch</strong>en gegenseitigen Vertrauens sein. Und der Verda<strong>ch</strong>t meines Heeres wird mit der Ankunft<br />

Eurer Majestät in unserem Quartier widerlegt sein.«<br />

»I<strong>ch</strong> bin ein König!«, rief Moctezuma zornblei<strong>ch</strong> und s<strong>ch</strong>nellte von seinem Jaguarfellsitz auf.<br />

»Wer wagt es, vor dem Angesi<strong>ch</strong>t eines Königs so zu reden? Wer untersteht si<strong>ch</strong>, einen König in<br />

den Käfig zu sperren? Sind Könige dazu ges<strong>ch</strong>affen, in Käfigen zu vers<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>ten? Seht mi<strong>ch</strong> an<br />

– seht ihr ni<strong>ch</strong>t, dass i<strong>ch</strong> meinem Volk heilig bin wie die Himmelsgötter? Mein Volk, das gefür<strong>ch</strong>tet<br />

zwis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ilf und Röhri<strong>ch</strong>t wohnt, wird niemals erlauben, dass i<strong>ch</strong> mit eu<strong>ch</strong> gehe! Und wenn i<strong>ch</strong><br />

bereit wäre, mit eu<strong>ch</strong> zu gehen, wird mein Volk eu<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>lingen, wie der Jaguar den Hasen vers<strong>ch</strong>lingt!«<br />

»Majestät will mir drohen?«, fragte Cortés mit eisiger Ruhe. Ohne eine Antwort abzuwarten,<br />

fuhr er fort: »Ihr solltet inzwis<strong>ch</strong>en erkannt haben, dass Männer wie wir, die si<strong>ch</strong> zu sol<strong>ch</strong>er Tat<br />

ents<strong>ch</strong>lossen haben, dur<strong>ch</strong> Drohungen ni<strong>ch</strong>t einzus<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tern sind!«<br />

Pater Olmedo drängte si<strong>ch</strong> neben Cortés. »Das könnt Ihr ni<strong>ch</strong>t tun, capitán«, rief er erregt.<br />

»Er ist ein Gesalbter seines Volkes! Sie werden zu Hunderttausenden über uns herfallen. Warum<br />

setzt Ihr stets alles aufs Spiel?«<br />

Cortés musterte ihn kalt. »Mir s<strong>ch</strong>eint, Pater, dass Ihr mir ständig abratet. I<strong>ch</strong> da<strong>ch</strong>te, Ihr hättet<br />

einen Auftrag der Kir<strong>ch</strong>e zu erfüllen. Aber ständig wollt Ihr warten, warten und warten.«<br />

»Warum nehmt Ihr den König gefangen?«, fragte Olmedo. »Es ginge do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> diskreter.<br />

Lasst ihn ständig bewa<strong>ch</strong>en, als wäre es zu seinem S<strong>ch</strong>utz.«<br />

»Nein! Wer ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> die Vordertür eintritt, ist ein Dieb und ein Räuber!«<br />

»Ihr seid gefühllos.«<br />

»Ihr irrt, Pater. Aber i<strong>ch</strong> bin au<strong>ch</strong> der Kir<strong>ch</strong>e und dem König zu Diensten!«<br />

»Wozu der gesalbte Ton und die vielen Umstände?«, platzte Olíd bars<strong>ch</strong> heraus. »Hier geht<br />

es für uns um Leben und Tod! Na<strong>ch</strong>dem wir so weit gegangen sind, können wir ni<strong>ch</strong>t mehr einlenken.<br />

Also, entweder er kommt mit, oder wir ma<strong>ch</strong>en ihn kalt!«<br />

Moctezuma, der kein Wort verstanden hatte, ließ si<strong>ch</strong> von Marina die Worte Olíds übersetzen.<br />

Dann starrte er entgeistert auf die Spanier. Die Mexica im Saal, das wusste er, würden si<strong>ch</strong><br />

für ihn hinmetzeln lassen, do<strong>ch</strong> er musste erkennen, dass es zwecklos wäre. Ohne Gnade sahen<br />

die Kastilier ihn an; nur Marinas Augen waren tränenfeu<strong>ch</strong>t. Der große Moctezuma, vor dem seine<br />

Welt zitterte, fragte Marina mit kindli<strong>ch</strong>er Hilflosigkeit, was sie ihm rate, was er tun solle? S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zend<br />

küsste sie ihm die Hände und riet ihm, si<strong>ch</strong> zu fügen.<br />

»So werde i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> krümmen. I<strong>ch</strong> muss mi<strong>ch</strong> mit s<strong>ch</strong>warzer Farbe s<strong>ch</strong>minken! Die Gold-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 249<br />

ble<strong>ch</strong>fahne Mexicos ist niedergeworfen, das Hemd aus violetten Federn und der blaue Königsmantel<br />

liegen am Boden«, sagte Moctezuma flüsternd. Dann befahl er den Höflingen, den Tragsessel<br />

zu bringen.<br />

Die Bewohner des Palasts s<strong>ch</strong>arten si<strong>ch</strong> um das Haupttor, und drohend drängten die se<strong>ch</strong>shundert<br />

Krieger des Tecpans heran. Do<strong>ch</strong> Moctezuma verbat si<strong>ch</strong> ihren S<strong>ch</strong>utz. Er folge den Söhnen<br />

der Sonne freiwillig, rief er den Kriegern und der Volksmenge auf der Straße zu. Freiwillig besu<strong>ch</strong>e<br />

er die Männer des Sonnenaufgangs; es sei eigener Wuns<strong>ch</strong>, für kurze Zeit ihr Gast zu sein!<br />

*<br />

Cortés hatte Velásquez de León die Oberaufsi<strong>ch</strong>t über den Wa<strong>ch</strong>dienst beim gefangenen König<br />

übertragen. Moctezuma lebte nun im Tecpan des Königs Wassergeist und hielt im streng bewa<strong>ch</strong>ten<br />

Palast Hof wie immer. Er badete tägli<strong>ch</strong>, bra<strong>ch</strong>te seinen Hausgöttern Wa<strong>ch</strong>telopfer und<br />

Rau<strong>ch</strong>werk dar, erledigte unbehindert Regierungsges<strong>ch</strong>äfte, wobei der Weibli<strong>ch</strong>e Zwilling und andere<br />

Berater ihm wie zuvor zur Seite standen. Er empfing Besu<strong>ch</strong>e aus dem hohen Adel, dem Klerus,<br />

die Königin Acatlan und seine Kinder, ließ si<strong>ch</strong> in den Erholungsstunden des Na<strong>ch</strong>mittags von<br />

seinen Krüppeln und Narren erheitern oder saß inmitten der s<strong>ch</strong>önsten seiner vierhundert Frauen,<br />

während sein Musikmeister Löffelreihers<strong>ch</strong>lange die Trommel s<strong>ch</strong>lug. Er aß, wie er immer gegessen<br />

hatte, denn mit der Dieners<strong>ch</strong>aft und dem gesamten Haushalt war au<strong>ch</strong> die königli<strong>ch</strong>e Kü<strong>ch</strong>e<br />

übergesiedelt; und wenn er unter den von jungen Dienerinnen in fünfzig goldenen S<strong>ch</strong>üsseln servierten<br />

Geri<strong>ch</strong>ten gewählt hatte, was der Laune seines Appetits entspra<strong>ch</strong>, vers<strong>ch</strong>enkte er mit den<br />

Speisen bisweilen au<strong>ch</strong> ihre liebreizenden Bedienerinnen an seine Kerkermeister, die zwanzig<br />

kastilis<strong>ch</strong>en Soldaten, die ihn bewa<strong>ch</strong>ten.<br />

Vom Pagen Orteguilla erfuhr Cortés, was Moctezuma den mexicanis<strong>ch</strong>en Adligen zu antworten<br />

pflegte, wenn sie um die Erlaubnis flehten, ihn mit Waffengewalt zu befreien. Er sei ni<strong>ch</strong>t ein<br />

Gefangener der Christen, sagte er, sondern ein Gefangener Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis; das Volk müsse dem<br />

Adel, der Adel dem König, der König dem Gott gehor<strong>ch</strong>en. Solange der Gott ni<strong>ch</strong>t befohlen habe,<br />

zu den Waffen zu greifen, dürfe au<strong>ch</strong> er, der König, es ni<strong>ch</strong>t befehlen und müsse warten, bis<br />

Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t ihm günstige Weissagungen aus dem S<strong>ch</strong>langenberg melde. In Wirkli<strong>ch</strong>keit<br />

wartete er sehnli<strong>ch</strong> auf die Ankunft der Sengenden Glut, denn Cortés hatte ihm in Aussi<strong>ch</strong>t gestellt,<br />

dass seine Gefangens<strong>ch</strong>aft ein Ende habe, sobald der Statthalter eingetroffen sei, und dass es<br />

ihm dann freistehen werde, in den Huei-Tecpan zurückzukehren. Dann wolle er das Zei<strong>ch</strong>en zum<br />

Verni<strong>ch</strong>tungskampf geben und grausam Ra<strong>ch</strong>e üben. Auf Marinas Mutter hoffte und wartete er<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr. Die Boten waren ohne sie zurückgekehrt: Die Frau war vor Jahren aus Oaxaca fortgezogen.<br />

Da er der Gefangene der teules war, interessierte<br />

ihn ihr und Marinas S<strong>ch</strong>icksal ni<strong>ch</strong>t mehr.<br />

S<strong>ch</strong>on zwei Wo<strong>ch</strong>en lebte Moctezuma im alten<br />

Tecpan, als die Sengende Glut, der Glänzende<br />

Harnis<strong>ch</strong> und fünfzehn Adlige – alles <strong>Teil</strong>nehmer<br />

am kannibalis<strong>ch</strong>en Mahl – in Teno<strong>ch</strong>titlán anlangten.<br />

Hohe Staatsbeamte und Rei<strong>ch</strong>sfürsten zogen<br />

ihnen auf dem Damm von Iztapalapá bis zum Bollwerk<br />

Aca<strong>ch</strong>inanco entgegen, begrüßten sie ehrfur<strong>ch</strong>tsvoll<br />

und begleiteten die Ankömmlinge dur<strong>ch</strong><br />

die Straßen Teno<strong>ch</strong>titláns bis zum Tecpan des Kö<br />

Azteken essen vom Fleis<strong>ch</strong> der den Gottheiten<br />

rituell geopferten Gefangenen.<br />

In grauem Hanfmantel über der Prunkrüstung, trat die Sengende Glut vor den Zornigen<br />

Herrn. Dem König sein Leben zu opfern, war dem Statthalter so selbstverständli<strong>ch</strong>, wie es dem<br />

König selbstverständli<strong>ch</strong> war, das Opfer anzunehmen. Das Gesprä<strong>ch</strong> der beiden währte mehr als<br />

eine Stunde. Moctezuma weinte; der sonst immer so s<strong>ch</strong>wermütige Statthalter jedo<strong>ch</strong> blieb heiter.<br />

»O großer König, o Zorniger Herr«, sagte er, »i<strong>ch</strong> bin dein Kne<strong>ch</strong>t! Und ins Land, wo die nie


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 250<br />

welkenden Blumen blühen, will i<strong>ch</strong> den Namen mitnehmen, den du mir einst als Kne<strong>ch</strong>t verliehen<br />

hast!«<br />

Moctezuma s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zte und nahm vom Freund Abs<strong>ch</strong>ied wie von einem Toten. Darauf versammelte<br />

er seinen Hofstaat um si<strong>ch</strong>, ließ die Kastilier in den Saal bitten und sagte zu Cortés:<br />

»O du S<strong>ch</strong>wert der Götter, es ist so, wie i<strong>ch</strong> vermutet habe. Die Sengende Glut bekennt si<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>uldig. Die Sengende Glut hat ni<strong>ch</strong>t nur eigenmä<strong>ch</strong>tig gehandelt, sondern gegen meinen ausdrückli<strong>ch</strong>en<br />

Befehl, die Söhne der Sonne im Küstenland unangetastet zu lassen. Anstatt sie wie<br />

aztekis<strong>ch</strong>e Prinzen zu behandeln, hat er sie heimtückis<strong>ch</strong> überfallen und mi<strong>ch</strong>, seinen Herrn, ins<br />

Unre<strong>ch</strong>t gesetzt.«<br />

Die Sengende Glut bestätigte die Worte des Königs und nahm alle S<strong>ch</strong>uld auf si<strong>ch</strong>.<br />

»So ist es!«, sagte er. »I<strong>ch</strong> habe dem Befehl meines Herrn zuwider gehandelt und bin des<br />

Todes.«<br />

Das hatte Cortés erwartet. Er ließ die Sengende Glut, den Glänzenden Harnis<strong>ch</strong> und ihre<br />

Begleiter in Ketten legen. Am nä<strong>ch</strong>sten Tag trat das Kriegsgeri<strong>ch</strong>t zusammen. S<strong>ch</strong>on vorher hatte<br />

Olíd das spöttis<strong>ch</strong>e Wort geprägt: Die Sengende Glut müsse brennen – der Name sei sein S<strong>ch</strong>icksal!<br />

Cortés, Velásquez de León und Ordás s<strong>ch</strong>lugen als Strafe die Enthauptung vor; die Folter habe<br />

die S<strong>ch</strong>uldigen s<strong>ch</strong>on genug leiden lassen. Do<strong>ch</strong> sie wurden überstimmt; der Geri<strong>ch</strong>tshof bes<strong>ch</strong>loss<br />

den Feuertod von Vater und Sohn, weil Avila geltend gema<strong>ch</strong>t hatte, die Strafe werde den<br />

Vers<strong>ch</strong>wiegenen si<strong>ch</strong>erli<strong>ch</strong> den Mund öffnen.<br />

So kam es dann au<strong>ch</strong>. Als den Gefangenen das Verdikt bekannt gegeben wurde, fragte einer<br />

der fünfzehn Begleiter des Statthalters: Ob das Urteil ni<strong>ch</strong>t gemildert werden könne, wenn die<br />

Uns<strong>ch</strong>uld seines Herrn dargetan sei. Die Frage wurde von Cortés bejaht. Und obglei<strong>ch</strong> die Sengende<br />

Glut und der Glänzende Harnis<strong>ch</strong> ihrem Gefolgsmann untersagten, au<strong>ch</strong> nur no<strong>ch</strong> ein Wort<br />

zu reden, erklärte der Mann, der Statthalter opfere si<strong>ch</strong> für den König, denn er habe ledigli<strong>ch</strong> ausgeführt,<br />

was Moctezuma angeordnet hatte. Die Aussage wurde zu Protokoll genommen. Sie gab<br />

Cortés den gewüns<strong>ch</strong>ten Anlass, au<strong>ch</strong> Moctezuma zu strafen und ein für allemal zu entma<strong>ch</strong>ten.<br />

Das Urteil über die fünfzehn Unterführer fiel milder aus: Die Gefangenen sollten als Sklaven verkauft<br />

werden. Aber das Todesurteil für die Sengende Glut und den Glänzenden Harnis<strong>ch</strong> blieb<br />

bestehen.<br />

Marina, Ordás und Pater Olmedo protestierten. »Er war nur das Werkzeug Moctezumas!«,<br />

rief der Pater aus. »Ihr ri<strong>ch</strong>tet den Fals<strong>ch</strong>en! Ihr wisst um die Hörigkeit der Vasallen gegenüber<br />

ihrem Gottkönig.«<br />

»Trotzdem. Wenn i<strong>ch</strong> den König s<strong>ch</strong>on ni<strong>ch</strong>t hinri<strong>ch</strong>ten kann, will i<strong>ch</strong> ihn vor allem Volk demütigen,<br />

indem i<strong>ch</strong> sein Werkzeug verni<strong>ch</strong>te.«<br />

»Aber die Sengende Glut hatte keine andere Wahl! Er musste dem Befehl des Königs gehor<strong>ch</strong>en!«<br />

»Keine Diskussion mehr!« Der caudillo ri<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong> ho<strong>ch</strong>mütig auf. »I<strong>ch</strong> habe Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t um<br />

Rat gefragt! Es bleibt dabei: I<strong>ch</strong> kann den König ni<strong>ch</strong>t verurteilen, aber er soll meinen Willen zu<br />

spüren bekommen. Escalante und die anderen sollen ni<strong>ch</strong>t vergebli<strong>ch</strong> gemordet worden sein.«<br />

Die Hinri<strong>ch</strong>tung fand auf dem Platz zwis<strong>ch</strong>en dem alten Tecpan und der S<strong>ch</strong>langenmauer<br />

statt. Cortés ließ zwei hohe Pfähle in den Boden rammen. Die Soldaten s<strong>ch</strong>leppten sämtli<strong>ch</strong>e Bogen,<br />

Pfeile und Lanzen aus dem Haus der Speere und s<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>teten die Waffen säuberli<strong>ch</strong> zu einem<br />

hohen Haufen um die Pfähle. Dann wurden die Sengende Glut und der Glänzende Harnis<strong>ch</strong> in<br />

Ketten an die beiden Pfosten gefesselt. Bevor der Henker Osorio das Feuer anlegte, begab si<strong>ch</strong><br />

Cortés zu Moctezuma und eröffnete ihm, dass einer der Verurteilten die S<strong>ch</strong>uld des Königs am<br />

Tod des Hauptmanns Escalante, des Steuermanns Gonzalo de Umbría, der Mulattin Beatriz de<br />

Acevedo und se<strong>ch</strong>s anderer weißer Männer gestanden habe. Die göttli<strong>ch</strong>e Gere<strong>ch</strong>tigkeit und die<br />

Gesetze Kastiliens verlangten, dass Mord mit dem Tod gesühnt werde. Do<strong>ch</strong> er wolle in Anbetra<strong>ch</strong>t<br />

der Freunds<strong>ch</strong>aft, die Moctezuma dem König Don Carlos de Austria stets gezeigt habe, davon<br />

absehen, die Todesstrafe über Moctezuma selbst zu verhängen. Eine Sühne könne ihm freili<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t erlassen werden: Er müsse gefesselt zugegen sein, während die Sengende Glut und der<br />

Glänzende Harnis<strong>ch</strong> an seiner statt den Feuertod erlitten.<br />

Moctezuma s<strong>ch</strong>rie auf wie ein verwundetes Tier.<br />

»Tötet mi<strong>ch</strong>!«, rief er. »Warum tötet ihr mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, ihr Blutsauger?«<br />

Sein Hofstaat konnte ihn ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>ützen; die Höflinge waren unbewaffnet wie er. Sie


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 251<br />

s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zten und s<strong>ch</strong>rien, als derbe Landskne<strong>ch</strong>tshände den unantastbaren Herrn der Welt packten<br />

und vor das große Tor des Tecpans zerrten. Dort, angesi<strong>ch</strong>ts seines entsetzten Volkes, wurden<br />

ihm an Händen und Füßen klirrende Eisenketten angelegt.<br />

Moctezuma starrte tränenlos. Das Grauen vers<strong>ch</strong>leierte ihm den Blick. Er sah ni<strong>ch</strong>t das waffenstarrende<br />

Christenheer um den züngelnden S<strong>ch</strong>eiterhaufen, er sah ni<strong>ch</strong>t den qualvollen Tod<br />

der beiden treuen Dulder, er sah ni<strong>ch</strong>t die Zehntausende weinender Mexica, er bemerkte au<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t die um ihn knienden Rei<strong>ch</strong>sfürsten, die ihre kostbaren Gewänder zerrissen, um mit den Fetzen<br />

das raue Eisen von seinem heiligen Leib fern zu halten. Er sah nur si<strong>ch</strong> selbst und bejammerte<br />

si<strong>ch</strong> in seinem maßlosen Leid. Die Gelbhaarigen hatten ihn von der hö<strong>ch</strong>sten Stufe irdis<strong>ch</strong>er Herrli<strong>ch</strong>keit<br />

gestürzt. Einst ein Gott, war er nur no<strong>ch</strong> ein armes Mens<strong>ch</strong>enkind. Jener Mens<strong>ch</strong>ensohn<br />

kam ihm in den Sinn, von dem Marina ihm erzählt hatte – der Mann, der ein Gott war und sein eigenes<br />

Kreuz zur S<strong>ch</strong>ädelstätte tragen musste...<br />

Eine Stunde später nahm Cortés dem König der Azteken eigenhändig die Ketten ab. Nun<br />

stehe es ihm frei, in den Huei-Tecpan zurückzukehren, sagte er zu ihm. Do<strong>ch</strong> Moctezuma s<strong>ch</strong>üttelte<br />

nur stumm den Kopf und würdigte Cortés keiner Antwort.<br />

Moctezuma wusste, dass er na<strong>ch</strong> dieser S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> nie mehr zurückkehren konnte.<br />

18. Kiefernzweig<br />

»... Da vereinbarte Cacama ein Treffen mit den Herrs<strong>ch</strong>ern von Tezcoco, Coyoacan,<br />

Tacuba, Iztapalapá und Matlatzinco, um den Sturz Moctezumas und die Verni<strong>ch</strong>tung der<br />

Kastilier zu planen.«<br />

(H. Thomas: Die Eroberung Mexikos)<br />

In Tlaxcala herrs<strong>ch</strong>te Jubel. Der Erzfeind lag am Boden! Tlaxcala hat ri<strong>ch</strong>tig ents<strong>ch</strong>ieden; der Triumph<br />

des Kreuzes war au<strong>ch</strong> der Triumph über das mexicanis<strong>ch</strong>e Jo<strong>ch</strong>! Die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten überstürzten<br />

si<strong>ch</strong>: Hinri<strong>ch</strong>tung der Sengenden Glut und des Glänzenden Harnis<strong>ch</strong>s! Gefangennahme<br />

Moctezumas! Der Herr der Welt in Ketten! Nun war die Grenze offen, Tlaxcala ni<strong>ch</strong>t mehr der Vasall<br />

Moctezumas. Jedem Tlatepoca stand es frei, si<strong>ch</strong> unbehindert in mexicanis<strong>ch</strong>em Gebiet zu<br />

bewegen, auf den Märkten Anahuacs Handel zu treiben und in der Königin aller Städte und allen<br />

anderen Orten des Drei-Städte-Bundes zu verweilen, die bislang nur tlaxcaltekis<strong>ch</strong>e Opfersklaven<br />

betreten durften.<br />

Merkwürdigerweise hatte der gefangene Moctezuma den Fürsten Goldmaske und Kiefernzweig<br />

eine Einladung gesandt, um das Ende der jahrelangen Feinds<strong>ch</strong>aft zwis<strong>ch</strong>en Mexico und<br />

Tlaxcala am Hof von Teno<strong>ch</strong>titlán zu feiern. Goldmaske hatte na<strong>ch</strong> einer erregten Ausspra<strong>ch</strong>e mit<br />

Kiefernzweig zugesagt, aber sein Freund sah in der Aufforderung eine Falle der Gelbhaarigen: Der<br />

gefangene Weltherr würde si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>werli<strong>ch</strong> aus eigenem Antrieb um einen Besu<strong>ch</strong> seiner ärgsten<br />

Widersa<strong>ch</strong>er. Goldmaske hielt die Vorsi<strong>ch</strong>t Kiefernzweigs für unbegründet und reiste na<strong>ch</strong><br />

Anahuac.<br />

Kiefernzweig blieb in Tlaxcala. Verbittert mied er die Sitzungen des Altenrats, wo Wespenring<br />

und Wollring Lobreden auf den Grünen Stein hielten; er nahm au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an den Festen des<br />

Volkes auf dem großen Marktplatz teil, denn er wusste, dass Tlaxcala wie Teno<strong>ch</strong>titlán dem Untergang<br />

geweiht war. Einsam saß er in seinem Tecpan und s<strong>ch</strong>lürfte weißen Pulque, um den Jubel<br />

der Stadt und die mahnenden Stimmen in seinem Innern ni<strong>ch</strong>t zu hören. Der Pulqueraus<strong>ch</strong> ließ ihn<br />

au<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>uldgefühle vergessen, die ihn seit dem Tod seines Sohnes Mito quälten. Der Anblick


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 252<br />

der Windenden S<strong>ch</strong>langen, der Mutter des Kleinen Pfeils, war ihm eine ständige Anklage. Ihre Nebenbuhlerin<br />

Sonnenstein lag ihm in den Ohren, Windende S<strong>ch</strong>lange frohlocke über die Erfolge der<br />

Sonnensöhne und trage si<strong>ch</strong> mit der Absi<strong>ch</strong>t, für den Tod des Kleinen Pfeiles die Bestrafung Kiefernzweigs<br />

zu fordern. Da s<strong>ch</strong>ickte er dem treuesten seiner beiden Diener ein getrocknetes<br />

Jaguarherz, wie es Leute, die töten mussten, bei si<strong>ch</strong> zu tragen pflegten. Windender S<strong>ch</strong>lange<br />

befahl er, in einer Sänfte zu ihrem an der Südostgrenze gelegenen Wassers<strong>ch</strong>loss zu reisen. Sie<br />

kam nie dort an.<br />

*<br />

Ho<strong>ch</strong> ragten die Felswände zu beiden Seiten des breiten Hohlwegs; nahe der Felsflanke s<strong>ch</strong>äumte<br />

ein Fluss zu Tal. Fast unsi<strong>ch</strong>tbar wand si<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>ts ein Klettersteig empor, und nur der aufmerksame<br />

Beoba<strong>ch</strong>ter konnte oben in der Felswand den Eingang zur Höhle entdecken.<br />

Drinnen brannte im Hintergrund eine Kerze. Ein Einsiedler kniete im Gebet versunken vor einem<br />

roh ges<strong>ch</strong>nitzten Holzkreuz. Er war kahlköpfig und hatte einen langen grauen Bart; ein Strick<br />

umgürtete die rauhaarige Kutte. Es war die Eremitenklause des ehemaligen Soldaten Gasparo<br />

Lencero. Lencero lebte erst wenige Wo<strong>ch</strong>en in der Abges<strong>ch</strong>iedenheit; no<strong>ch</strong> hatte er si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t völlig<br />

an das Eremitenleben gewöhnen können. Wenn er au<strong>ch</strong> der Welt entsagt hatte, so wüns<strong>ch</strong>te er<br />

si<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> bisweilen, mit jemandem reden zu können. Lencero stand inmitten seiner besten Jahre;<br />

in seiner Einsamkeit lag er oft ganze Nä<strong>ch</strong>te s<strong>ch</strong>laflos und starrte mit offenen Augen ins Dunkel.<br />

Berückende Bilder bedrängten seine Phantasie: Verlockend ers<strong>ch</strong>ien ihm die Santissima Virgén<br />

mit s<strong>ch</strong>lanker Figur und zerzaustem Haar, das die Wangen ums<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elte; seitwärts flatterte der<br />

Rock und ließ die feinen Linien der S<strong>ch</strong>enkel, des Knies und der wohlgeformten Waden verführeris<strong>ch</strong><br />

erahnen. Er hatte Satans Ma<strong>ch</strong>t unters<strong>ch</strong>ätzt – sie raubte ihm den S<strong>ch</strong>laf.<br />

Was ihn im Fiebertraum der Na<strong>ch</strong>t zu lustvollen Handlungen verleitete, musste er am Tag<br />

reuevoll und s<strong>ch</strong>merzhaft austreiben. Dann kniete er bei Tagesanbru<strong>ch</strong> vor dem Kreuz und zü<strong>ch</strong>tigte<br />

seinen Rücken mit Geißelhieben. Der Satan hatte in seinem Körper Wohnung genommen.<br />

Gasparo Lencero aber würde ihm widerstehen! Do<strong>ch</strong> in anderen Nä<strong>ch</strong>ten bedrängten ihn wieder<br />

selbstquäleris<strong>ch</strong>e Begierden.<br />

Der Felspfad zur Höhle wand si<strong>ch</strong> weiter na<strong>ch</strong> oben und mündete na<strong>ch</strong> wenigen S<strong>ch</strong>ritten in<br />

einen Wiesenhang. Dort sprudelte eine Quelle und speiste einen Tümpel. Gasparo Lencero pflegte<br />

si<strong>ch</strong> dort tägli<strong>ch</strong> zu was<strong>ch</strong>en. Und dort vernahm er eines Morgens knirs<strong>ch</strong>ende Geräus<strong>ch</strong>e von der<br />

gegenüber liegenden Felswand. Gasparo duckte si<strong>ch</strong> hinter einen Strau<strong>ch</strong> und spähte angestrengt<br />

hinüber. Er gewahrte eine Frau, flankiert von zwei Männern, die auf s<strong>ch</strong>malem Steig emporstiegen.<br />

Er erkannte die Frau. Es war Windende S<strong>ch</strong>lange, die Gemahlin des Fürsten Kiefernzweig. Und es<br />

hatte den Ans<strong>ch</strong>ein, dass die beiden Männer die Fürstin zwangen, den Pfad zu erklimmen.<br />

Der Eremit ahnte Unheil. Er s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> in die Höhle zurück, gürtete die Kutte mit dem Degen,<br />

nahm die Armbrust und den Jagdspieß. Als er heraustrat, konnte er gerade no<strong>ch</strong> sehen, wie die<br />

beiden Mörder Windende S<strong>ch</strong>lange in den Abgrund stießen. Zwei-, dreimal prallte der Körper an<br />

Felsnasen ab, fiel hinter Baumgruppen in die Tiefe und s<strong>ch</strong>lug, für Lencero unsi<strong>ch</strong>tbar, mit dumpfem<br />

Klats<strong>ch</strong> am Grund der S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t auf.<br />

Gasparo Lencero rief die Mörder an, spannte die Armbrust und s<strong>ch</strong>oss einen Bolzen auf die<br />

beiden ab. Do<strong>ch</strong> die Entfernung war zu groß; die Männer vers<strong>ch</strong>wanden hinter den Tannen.<br />

Es war unmögli<strong>ch</strong>, die Lei<strong>ch</strong>e der Windenden S<strong>ch</strong>langen zu bergen; die S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t war hier<br />

unzugängli<strong>ch</strong>. Viellei<strong>ch</strong>t hatte der Fluss sie mitgerissen.<br />

*<br />

Zwei Tage später erwa<strong>ch</strong>te Gasparo Lencero von dumpfem Geklapper. Er s<strong>ch</strong>aute vorsi<strong>ch</strong>tig aus<br />

der Höhe zum Talboden hinunter und sah Soldaten näherkommen; es waren Kastilier und indianis<strong>ch</strong>e<br />

Träger auf dem Weg na<strong>ch</strong> Westen. Eilig kletterte er den Pfad hinab, um den Mord an Windende<br />

S<strong>ch</strong>lange zu melden. Sie war von allen Bewohnern Tlaxcalas die Erste, die si<strong>ch</strong> hatte taufen<br />

lassen. Pater Olmedo hatte für diese Frau und ihre drei Kinder – vor allem für den Kleinen Pfeil<br />

- stets eine besondere <strong>Teil</strong>nahme an den Tag gelegt.<br />

Lencero erkannte den alten Ri<strong>ch</strong>ter Moreno Madrano aus Veracruz sowie zwei Gefangene


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 253<br />

inmitten einer Eskorte von zehn Musketieren: Alonso de Grado und Pedro Baracoa. Der Ri<strong>ch</strong>ter<br />

hatte von Sandoval, dem neu ernannten Stadtkommandanten der Hafenfestung, den Auftrag erhalten,<br />

die beiden Übeltäter na<strong>ch</strong> Mexico zu bringen. Cortés wollte sie zur Re<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>aft ziehen. Zwei<br />

S<strong>ch</strong>miede und hundert tlamamas zogen mit ihnen ins Land der Seen. Cortés plante, zwei Brigantinen<br />

zu bauen. Er würde mit den S<strong>ch</strong>iffen Transportmittel für sein Heer besitzen und könnte feindli<strong>ch</strong>e<br />

Heere au<strong>ch</strong> zu Wasser bekämpfen. Moctezuma hatte er erklärt, die Brigantinen sollten zu seinem<br />

Vergnügen dienen. Der König könne auf den S<strong>ch</strong>iffen, deren Größe seine königli<strong>ch</strong>e Galeere<br />

um ein Zehnfa<strong>ch</strong>es überträfe, Lustfahrten unternehmen und seine S<strong>ch</strong>lösser an der Lagunenküste<br />

besu<strong>ch</strong>en. Da hatte Moctezuma mexicanis<strong>ch</strong>e Werkmeister, Zimmerleute und Holzs<strong>ch</strong>nitzer zur<br />

Verfügung gestellt. Sie s<strong>ch</strong>ufen na<strong>ch</strong> den Anweisungen des S<strong>ch</strong>iffbaumeisters Martín López – des<br />

Wa<strong>ch</strong>tpostens, der Cortés auf dem Kordillerenpass beinahe ers<strong>ch</strong>ossen hätte – die mä<strong>ch</strong>tigen<br />

S<strong>ch</strong>iffsgerippe. S<strong>ch</strong>neller, als er am Rau<strong>ch</strong>enden Berg geahnt hatte, erfüllte si<strong>ch</strong> nun dem S<strong>ch</strong>iffbaumeister<br />

der Wuns<strong>ch</strong>, dur<strong>ch</strong> eine verdienstvolle Tat sein nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Missges<strong>ch</strong>ick wettzuma<strong>ch</strong>en.<br />

Die Brigantinen mussten, sobald sie vom Stapel liefen, ausgerüstet und segelklar gema<strong>ch</strong>t<br />

werden. Darum hatte Cortés zwei an der Küste zurückgebliebene S<strong>ch</strong>miede na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán<br />

beordert und das Takelwerk der elf in Brand gesteckten Karavellen verlangt. Die tlamamas<br />

s<strong>ch</strong>leppten Ambosse, Blasebälge, Anker, Kompasse, Segel, Werg, Pe<strong>ch</strong>, Trossen, s<strong>ch</strong>were<br />

S<strong>ch</strong>iffsketten und allerlei Ausrüstungsgegenstände na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán.<br />

Der Eremit begrüßte den Ri<strong>ch</strong>ter und erzählte ihm vom Mord an Windender S<strong>ch</strong>lange.<br />

Madrano meinte, ein mä<strong>ch</strong>tiger Fürst wie Kiefernzweig werde si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t freiwillig dem Geri<strong>ch</strong>t stellen.<br />

Wolle man ihn zur Re<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>aft ziehen, müsse er überrumpelt werden, wenn er keinen Angriff<br />

erwarte. Do<strong>ch</strong> das könne nur Cortés. Im Augenblick ließe si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts anderes ma<strong>ch</strong>en, als<br />

Cortés und Pater Olmedo zu bena<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>tigen.<br />

*<br />

Die Reise verlief ohne Zwis<strong>ch</strong>enfall. Kaum waren sie in Teno<strong>ch</strong>titlán eingetroffen, baten de Grado<br />

und Baracoa um die Erlaubnis, si<strong>ch</strong> vor Cortés zu re<strong>ch</strong>tfertigen. Do<strong>ch</strong> der zürnende Generalkapitän<br />

ließ sie zuerst einmal einkerkern. Vergebli<strong>ch</strong> verfasste der Viels<strong>ch</strong>reiber Alonso de Grado Bitts<strong>ch</strong>rift<br />

auf Bitts<strong>ch</strong>rift.<br />

Cortés ließ Pater Olmedo rufen und in seinem Beisein vom kleinen Geri<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reiber Guillén<br />

de la Loa die Beoba<strong>ch</strong>tung Lenceros zu Protokoll nehmen. Als der S<strong>ch</strong>reiber wieder gegangen<br />

war, sagte Olmedo zu Cortés:<br />

»Don Hernándo, i<strong>ch</strong> hatte s<strong>ch</strong>on bei der Taufe in Tlaxcala den Verda<strong>ch</strong>t, dass der Kleine<br />

Pfeil ni<strong>ch</strong>t mehr lebt. Sein Vater hat ihn getötet und nun ein zweites Verbre<strong>ch</strong>en auf si<strong>ch</strong> geladen,<br />

aus Fur<strong>ch</strong>t, dass die erste Untat dur<strong>ch</strong> die Mutter des Kindes verraten werde.«<br />

»Ihr mögt Re<strong>ch</strong>t haben, Padre«, erwiderte Cortés. »Wir werden der Sa<strong>ch</strong>e auf den Grund<br />

gehen, wenn die re<strong>ch</strong>te Zeit gekommen ist.«<br />

Cortés erörterte au<strong>ch</strong> mit Moreno Madrano den Mord an der Windenden S<strong>ch</strong>lange. Der Alkalde<br />

wiederholte, was er s<strong>ch</strong>on zum Eremiten gesagt hatte: Ein mä<strong>ch</strong>tiger Fürst wie Kiefernzweig<br />

werde si<strong>ch</strong> dem <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Geri<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t stellen. Tlaxcalteken könne man gegen ihn ni<strong>ch</strong>t einsetzen,<br />

nur Kastilier wären imstande, ihn gefangen zu nehmen. Man müsse ihn überrumpeln, bevor er<br />

Zeit fand, seine Stammesgenossen zu den Waffen zu rufen. Die Verhaftung ließe si<strong>ch</strong> also nur<br />

vornehmen, wenn Cortés einen <strong>Teil</strong> seines Heeres in Teno<strong>ch</strong>titlán entbehren könne. Die Angelegenheit<br />

müsse außerdem geheim gehalten werden, damit Kiefernzweig keine Gegenmaßnahmen<br />

treffe.<br />

Der Befehlshaber trug si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on länger mit dem Gedanken, die mexicanis<strong>ch</strong>en Provinzen<br />

na<strong>ch</strong> Edelmetallen und Edelsteinen untersu<strong>ch</strong>en zu lassen. Er hatte den Tanzmeister und Bergmann<br />

Ortiz, den Gönner La Bailadoras, zurate gezogen und ihn beauftragt, einen Plan auszuarbeiten<br />

und si<strong>ch</strong> bei den Einheimis<strong>ch</strong>en umzuhören, wel<strong>ch</strong>e Länder für eine Exploration besonders in<br />

Betra<strong>ch</strong>t kämen. Er beabsi<strong>ch</strong>tigte, Velásquez de León mit hundertfünfzig Soldaten na<strong>ch</strong> Cholula zu<br />

s<strong>ch</strong>icken; Velásquez sollte der heiligen Stadt wegen des Hinterhalts eine Kontribution auferlegen.<br />

Da Cholula an Tlaxcala grenze, würde es kein Aufsehen erregen, wenn bei dieser Gelegenheit<br />

hundertfünfzig Mann dem verbündeten Land einen Besu<strong>ch</strong> abstatteten.<br />

»I<strong>ch</strong> werde mir Euren Vors<strong>ch</strong>lag dur<strong>ch</strong> den Kopf gehen lassen«, sagte er zu Moreno.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 254<br />

*<br />

Grado und Baracoa blieben ni<strong>ch</strong>t lange im Kerker. Für die Freilassung des Aufs<strong>ch</strong>neiders ohne<br />

Leistung waren seine Jugendfreunde Sandoval und Luis Marín eingetreten. Ri<strong>ch</strong>ter Moreno<br />

Madrano hatte aus Veracruz einen Brief mitgebra<strong>ch</strong>t, in dem Sandoval Cortés daran erinnerte, wie<br />

sehr ihn das Abenteuer Baracoas mit der To<strong>ch</strong>ter des Grafen de Urueña belustigt hatte; und au<strong>ch</strong><br />

jetzt verdiene der einstige Reitkne<strong>ch</strong>t eher Spott als Strafe. Luis Marín unterstützte mündli<strong>ch</strong> das<br />

Gesu<strong>ch</strong> Sandovals. Cortés mo<strong>ch</strong>te so verdienstvollen Fürspre<strong>ch</strong>ern keinen abs<strong>ch</strong>lägigen Bes<strong>ch</strong>eid<br />

geben, besonders, da ihm zwei einsatzfähige Soldaten lieber waren als zwei nutzlose Sträflinge.<br />

Da er aber gegen Baracoa Milde walten ließ, konnte er de Grado ni<strong>ch</strong>t verurteilen. So verzieh er<br />

beiden und begnügte si<strong>ch</strong> damit, ihnen einen Verweis zu erteilen.<br />

Kaum war Alonso de Grado aus dem Kerker entlassen, ges<strong>ch</strong>ah ihm das Unglück, dass er<br />

Maisblume begegnete, die mit ihrem Gefolge in den Tecpan des Königs Wassergeist gekommen<br />

war, um ihren Vater zu besu<strong>ch</strong>en. Sie wohnte ni<strong>ch</strong>t mehr jenseits des Sees im s<strong>ch</strong>önen S<strong>ch</strong>loss<br />

Chapultepec; seit der Gefangennahme des Königs war sie na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán in den Huei-Tecpan<br />

übergesiedelt, um ihrem Vater nahe zu sein. Tägli<strong>ch</strong> ließ sie si<strong>ch</strong> zu ihm tragen, bra<strong>ch</strong>te ihm Blumen<br />

und Trost. Alonso de Grado sah ihre auf goldenen Sandalen s<strong>ch</strong>webende S<strong>ch</strong>önheit und<br />

wurde halb wahnsinnig vor Verliebtheit und Gier. Seitdem lag er Cortés mit dem Heiratswuns<strong>ch</strong> in<br />

den Ohren. Er erhielt kaum eine Antwort, do<strong>ch</strong> das s<strong>ch</strong>reckte ihn ni<strong>ch</strong>t ab. Er wusste, dass ni<strong>ch</strong>ts<br />

so si<strong>ch</strong>er zum Erfolg führt, als eine Reihe von Misserfolgen.<br />

Um Moctezuma bei guter Laune zu halten, sorgten die Kastilier für Abwe<strong>ch</strong>slung. Er durfte<br />

nie allein sein und musste immerzu dur<strong>ch</strong> Vergnügungen und Spiele abgelenkt werden. Es war<br />

Cortés ni<strong>ch</strong>t entgangen, dass au<strong>ch</strong> seinen Soldaten das Wohlleben ni<strong>ch</strong>t gut bekam. So ordnete er<br />

an, wieder tägli<strong>ch</strong> Waffenübungen dur<strong>ch</strong>zuführen und lud Moctezuma zum Zus<strong>ch</strong>auen ein. Die<br />

Pikeniere, Musketiere und Artilleristen mars<strong>ch</strong>ierten in Reih und Glied, exerzierten vor<br />

Moctezumas Augen und fällten Lanzen; Befehle gellten, und Landskne<strong>ch</strong>thaufen formierten si<strong>ch</strong> –<br />

laut mit den Füßen stampfend – zu Verteidigungskarrees, s<strong>ch</strong>wärmten zangenförmig zum Angriff<br />

aus; Armbrüste wurden gespannt, Musketen in Ans<strong>ch</strong>lag gebra<strong>ch</strong>t; Säbel blitzten im Sonnenli<strong>ch</strong>t<br />

und klirrten gegen die Brustharnis<strong>ch</strong>e der Übenden. Der König begeisterte si<strong>ch</strong> für den Drill und<br />

erteilte Lob und Tadel. Au<strong>ch</strong> sein Interesse am Bau der zwei Brigantinen wurde wa<strong>ch</strong> gehalten. In<br />

Begleitung eines der Feldobristen besu<strong>ch</strong>te er oft das Dock am Ufer des Palastgartens, wo die<br />

Spanten aus Zedernholz wie Walfis<strong>ch</strong>skelette emporragten. Ungeduldig erkundigte er si<strong>ch</strong>, wann<br />

er seine erste Lustfahrt auf dem See unternehmen könne. Moctezuma s<strong>ch</strong>ien nur no<strong>ch</strong> Sinn für<br />

Vergnügungen zu haben. Seine Tage im alten Tecpan gli<strong>ch</strong>en einem immer währenden Fest; allzu<br />

bald hatte er gelernt, die Gitterstäbe seines goldenen Käfigs zu übersehen.<br />

Do<strong>ch</strong> falls die Mexica es ihm verübelten – die Christen verehrten und ehrten ihn umso mehr.<br />

Seiner Leutseligkeit wegen war er im Heer überaus beliebt. Die Soldaten nahmen in seiner Gegenwart<br />

stets höfli<strong>ch</strong> die Sturmhauben ab, und selbst Cortés bedeckte sein Haupt nur, wenn er<br />

von ihm dazu aufgefordert worden war.<br />

Freili<strong>ch</strong> gab es au<strong>ch</strong> Ausnahmen, flegelhafte Gesellen ohne Mitgefühl, ohne Ehrfur<strong>ch</strong>t vor<br />

dem tragis<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>ick des gefangenen Königs. Für ihre derben Seelen war seine wehmütige<br />

Freundli<strong>ch</strong>keit ein zu feines Gespinst. Den heidnis<strong>ch</strong>en Hund nannten sie ihn; seinetwegen war<br />

keinem der Wa<strong>ch</strong>tdienst erlassen.<br />

Eines na<strong>ch</strong>ts hielt Luis Paredes, der große Spuckkünstler, vor dem S<strong>ch</strong>lafzimmer<br />

Moctezumas Wa<strong>ch</strong>e. Er hatte zuviel Fladenbrot gegessen, der Darm drückte, und so furzte er laut<br />

und ungeniert, um si<strong>ch</strong> zu erlei<strong>ch</strong>tern. Am nä<strong>ch</strong>sten Morgen beklagte si<strong>ch</strong> Moctezuma bei Cortés.<br />

Der wollte Paredes sofort ins Gefängnis bringen lassen, aber der König erwirkte ni<strong>ch</strong>t nur seine<br />

Begnadigung, er bes<strong>ch</strong>enkte ihn au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> mit einem Perlenhalsband. Als er wieder das<br />

S<strong>ch</strong>lafgema<strong>ch</strong> des Königs bewa<strong>ch</strong>en musste, war der Rüpel s<strong>ch</strong>amlos genug, die Unflätigkeit zu<br />

wiederholen – in der Annahme, es werde ihm eine zweite Perlenkette eintragen. Aber diesmal<br />

wurde er von Cortés bestraft: Er musste zusätzli<strong>ch</strong> zu seinem Dienst zehnmal den Pferdestall<br />

ausmisten.<br />

*


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 255<br />

Im Ballspielhaus des alten Tecpans spielten die Kastilier mit des Königs Gefolge oder au<strong>ch</strong> mit ihm<br />

selbst das Ballspiel. Sie bea<strong>ch</strong>teten die strengen Regeln des Spiels, entkleideten si<strong>ch</strong>, hüllten ihre<br />

nackten Körper in Lederpanzer, trugen<br />

Masken vor dem Gesi<strong>ch</strong>t und Hirs<strong>ch</strong>lederhands<strong>ch</strong>uhe<br />

an den Händen.<br />

Die Spiele der Azteken hatten kultis<strong>ch</strong>en<br />

Charakter. So wurde beim Ballspiel der Platz<br />

als Himmel und der Ball als Sonne interpretiert.<br />

Es galt, den Ball dur<strong>ch</strong> das Lo<strong>ch</strong> in der<br />

Wandhalterung zu s<strong>ch</strong>lagen.<br />

Seit seiner Gefangennahme<br />

s<strong>ch</strong>ien Moctezuma kein Glück mehr im<br />

Spiel zu haben. Es ma<strong>ch</strong>te ihm Freude,<br />

die Christen seine hohen Einsätze<br />

– Goldbarren im Wert von fünfzig Dukaten<br />

– gewinnen zu lassen. Zuweilen<br />

verlor er hintereinander bis zu vierzig<br />

Goldbarren. Wenn aber die Kastilier verloren, zahlten sie ein Stück Jadeït, das wertlos für sie war.<br />

Ordás hatte si<strong>ch</strong> bisher vom Spiel fern gehalten, weil es seinem erhabenen Stolz widerstrebte,<br />

zum Ziel des Spottes zu werden (das er sowieso meist war). Eines Tages fragte Moctezuma<br />

Ordás, warum er, der fur<strong>ch</strong>tlose Besu<strong>ch</strong>er des Rau<strong>ch</strong>enden Berges, sol<strong>ch</strong>e Fur<strong>ch</strong>t vor dem Ball<br />

habe. Zum Erstaunen der Anwesenden erklärte Ordás si<strong>ch</strong> bereit, mit Moctezuma zu spielen. Da<br />

er aber keine Übung im Balls<strong>ch</strong>lagen hatte und wusste, dass er kaum den Ball dur<strong>ch</strong> das Lo<strong>ch</strong> in<br />

der Wand werfen könnte, unterließ er den Versu<strong>ch</strong> und erbat si<strong>ch</strong> Olíds Beistand. Er stieg auf<br />

Olíds S<strong>ch</strong>ultern, sodass er an die Decke rei<strong>ch</strong>en konnte, und statt den Ball zu werfen, steckte er<br />

ihn gemä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> das Steinlo<strong>ch</strong>. Kastilier und Mexicaner la<strong>ch</strong>ten lauthals. Au<strong>ch</strong> Moctezuma<br />

la<strong>ch</strong>te und ließ es großzügig als Sieg gelten. Als er wieder mit Ges<strong>ch</strong>meide bezahlen wollte, erbat<br />

Ordás si<strong>ch</strong> stattdessen die Gewährung einer Bitte: Er wolle erfahren, wie und wo er den Brunnen<br />

der Verjüngung finden könne, von dem er gehört habe. An den Juwelenberg glaube er inzwis<strong>ch</strong>en<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr.<br />

Moctezuma verspra<strong>ch</strong> Ordás, ihm Führer zum Brunnen der Verjüngung zu stellen und beauftragte<br />

den Annalens<strong>ch</strong>reiber Weißer Mondstein – seinen Vorsteher des Hauses der Bü<strong>ch</strong>er – im<br />

alttoltekis<strong>ch</strong>en Göttli<strong>ch</strong>en Bu<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>zus<strong>ch</strong>lagen, wo der Brunnen zu su<strong>ch</strong>en sei.<br />

Seitdem kam die Gewohnheit auf, ni<strong>ch</strong>t um Goldbarren oder Ges<strong>ch</strong>meide zu spielen, sondern<br />

um die Gewährung von Bitten. Au<strong>ch</strong> beim Patolli war es so. Patolli war eine Art Würfelspiel:<br />

Auf zwei kreuzweise übereinander gelegte, in Felder geteilte Bretter mussten große Bohnen geworfen<br />

werden. Moctezumas Bohnen waren aus Gold. Wenn sie vers<strong>ch</strong>wanden – und sie pflegten<br />

immer zu vers<strong>ch</strong>winden –, ließ er neue<br />

bringen. Wenn der blonde Alvarado beim<br />

Spiel betrog, tat er, als sähe er es ni<strong>ch</strong>t,<br />

oder er klopfte ihm, wenn er es zu toll<br />

trieb, gutmütig auf die S<strong>ch</strong>ulter und sagte<br />

mit feinem Lä<strong>ch</strong>eln: »O Tonatiuh, du<br />

Goldverstecker!«<br />

Das Patolli ist eines der ältesten Spiele Mittelamerikas<br />

und war bei den Tolteken, Azteken und<br />

Maya beliebt. Das magis<strong>ch</strong>e Spiel hatte einen<br />

engen Bezug zur Religion und zum Kalender.<br />

Aus dem Spielverlauf deuteten die Mens<strong>ch</strong>en<br />

ihre Zukunft. 1521 verboten die spanis<strong>ch</strong>en<br />

Eroberer das heidnis<strong>ch</strong>e Spiel, aber das Patolli<br />

wurde heimli<strong>ch</strong> weitergespielt und überlebte bis<br />

heute.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 256<br />

Beim Patolli erspielte si<strong>ch</strong> der Zungendres<strong>ch</strong>er und Wüstling Alonso de Grado die Prinzessin<br />

Maisblume. Moctezuma vers<strong>ch</strong>enkte seine liebste To<strong>ch</strong>ter, wie er alles vers<strong>ch</strong>enkte. Er hätte die<br />

Sterne des Himmels vers<strong>ch</strong>enkt, wäre er darum gebeten worden. Wertlos war ihm, was Wert besaß.<br />

Im Stillen aber wartete er auf das Wunder, das den Kränkungen, die er von den teules erdulden<br />

musste, einen Riegel vors<strong>ch</strong>ob. Er wartete auf das Orakel von Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t und<br />

darauf, seine Ges<strong>ch</strong>enke mit blutigen Zinsen zurückzufordern.<br />

*<br />

»I<strong>ch</strong> wüns<strong>ch</strong>te, der Teufel dreht diesem heidnis<strong>ch</strong>en Hund den Hals ab, sonst tue i<strong>ch</strong> es, damit die<br />

verdammten Na<strong>ch</strong>twa<strong>ch</strong>en aufhören!«, flu<strong>ch</strong>te der Arkebusier Pedro López, der Günstling des<br />

Hauptmanns Avila, als er eines Morgens vom Wa<strong>ch</strong>dienst abgelöst wurde. Moctezuma konnte die<br />

Worte ni<strong>ch</strong>t verstehen, do<strong>ch</strong> Ton und Gebärde waren deutli<strong>ch</strong> genug. Er teilte Cortés dur<strong>ch</strong> den<br />

Pagen Orteguilla den Vorfall mit. Um ein Exempel zu statuieren, ließ Cortés dem Arkebusier dreißig<br />

Stocks<strong>ch</strong>läge verabrei<strong>ch</strong>en. Avila, bei dem Pedro López si<strong>ch</strong> beklagte, geriet in Wut und stieß<br />

ebenfalls im Beisein Moctezumas Verwüns<strong>ch</strong>ungen und Todesdrohungen aus.<br />

Der König war einges<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tert und versu<strong>ch</strong>te, Avila zu versöhnen. Er bot ihm s<strong>ch</strong>ön gestickte<br />

Mäntel und hübs<strong>ch</strong>e Mäd<strong>ch</strong>en an, do<strong>ch</strong> Avila gab ni<strong>ch</strong>t einmal Antwort. Da lud er ihn zum<br />

Patollispiel ein und verspra<strong>ch</strong>, ihm jeden Wuns<strong>ch</strong> zu erfüllen, falls er gewänne. Avila gewann. Was<br />

sein Wuns<strong>ch</strong> sei, ließ der König ihn dur<strong>ch</strong> Orteguilla fragen.<br />

»Mein Wuns<strong>ch</strong> ist: öffne das S<strong>ch</strong>atzhaus, dessen Tür du hast zumauern lassen!«<br />

»Ihr könnt die Tür ohne mi<strong>ch</strong> öffnen.«<br />

»Nein, du musst die Erlaubnis geben, dass der Golds<strong>ch</strong>atz an uns verteilt wird!«<br />

Moctezuma hatte sein Wort verpfändet. Es hätte ihm au<strong>ch</strong> wenig genützt, zu behalten, was<br />

ihm ni<strong>ch</strong>t mehr gehörte.<br />

»Nehmt den S<strong>ch</strong>atz meines Vaters!«, sagte er. »Bringt den S<strong>ch</strong>atz meines Vaters dem großen<br />

Herrn des Ostens als Tribut seines Kne<strong>ch</strong>tes Moctezuma!«<br />

Die anwesenden Kastilier entblößten ihre Häupter zum Dank. Sie waren ergriffen wie in einer<br />

Kir<strong>ch</strong>e. Als hätte ein Priester den Tabernakel geöffnet. Segen rieselte auf sie nieder, Goldsegen...<br />

Vom S<strong>ch</strong>atz aus Tezcoco aber hatte Moctezuma ni<strong>ch</strong>ts erwähnt. Als er mit Cortés allein war,<br />

bat er darum, den Hort des Herrn des Fastens ni<strong>ch</strong>t anzutasten.<br />

»I<strong>ch</strong> habe ihn als Tempels<strong>ch</strong>atz dem Mond geweiht«, sagte er.<br />

»Gut«, sagte Cortés, »wir werden den Wuns<strong>ch</strong> Eurer Majestät respektieren.«<br />

Die vermauerte Tür wurde wieder aufgebro<strong>ch</strong>en. Albornoz, der Säckelmeister Seiner Majestät,<br />

bu<strong>ch</strong>te das Kronfünftel. Er ließ die Goldbarren und Ges<strong>ch</strong>meide heraustragen und zu drei<br />

mannshohen Pyramiden s<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten. Als Cortés mit Moctezuma und dessen Höflingen die drei<br />

Goldhaufen besi<strong>ch</strong>tigte, ma<strong>ch</strong>te die Blaue Feder ihn darauf aufmerksam, dass einer davon der<br />

S<strong>ch</strong>atz seines Vaters sei. Wie Moctezuma bat au<strong>ch</strong> die Blaue Feder darum, der Staatss<strong>ch</strong>atz von<br />

Tezcoco möge ges<strong>ch</strong>ont werden.<br />

Cortés hatte seinen Feldobristen ausdrückli<strong>ch</strong> einges<strong>ch</strong>ärft, si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t daran zu vergreifen.<br />

Ärgerli<strong>ch</strong> fuhr er den Re<strong>ch</strong>nungsführer an: »Wer hat das angeordnet, Señor?«<br />

»Der Hauptmann Avila, Euer Gnaden!«<br />

Avila war ni<strong>ch</strong>t zugegen. Cortés ents<strong>ch</strong>uldigte si<strong>ch</strong> bei Moctezuma und der Blauen Feder<br />

und sorgte dafür, dass der S<strong>ch</strong>atz von Tezcoco unverzügli<strong>ch</strong> in die unterirdis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>atzkammern<br />

zurückgetragen wurde. Ein Posten bewa<strong>ch</strong>te fortan die aufgebro<strong>ch</strong>ene Tür.<br />

Die Männer murrten. Einer re<strong>ch</strong>nete laut vor, dass der Anteil eines der vierhundertfünfzig<br />

Soldaten au<strong>ch</strong> nur der vierhundertfünfzigste <strong>Teil</strong> von zwei Goldhaufen und somit ein gar kleiner<br />

Hügel sein werde. S<strong>ch</strong>nell kam das Gerü<strong>ch</strong>t auf, Cortés wolle das zurückgetragene Gold für si<strong>ch</strong><br />

verwenden und habe s<strong>ch</strong>on goldenes Tafelges<strong>ch</strong>irr bei mexicanis<strong>ch</strong>en Golds<strong>ch</strong>mieden bestellt.<br />

*


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 257<br />

Die Teponaztlitrommel auf der S<strong>ch</strong>langenbergpyramide hatte Mitterna<strong>ch</strong>t verkündet. Im großen<br />

Audienzsaal des alten Tecpans flackerte an der Wand ein harziger Kienspan, dessen mattgelber<br />

S<strong>ch</strong>ein nur wenige S<strong>ch</strong>ritte im Umkreis weit rei<strong>ch</strong>te. An der Tür zur Treppe, die zu den S<strong>ch</strong>atzkammern<br />

hinunter führte, stand Galleguillo, der kleine Galicier, als Wa<strong>ch</strong>tposten; von Zeit zu Zeit<br />

ersetzte er den herabgebrannten Kienspan dur<strong>ch</strong> einen neuen. Galleguillo blickte unruhig um si<strong>ch</strong>,<br />

aber das Dunkel der Umgebung s<strong>ch</strong>ien undur<strong>ch</strong>dringli<strong>ch</strong>. Ihm war, als befände si<strong>ch</strong> jemand im<br />

Saal, und er glaubte, Atemzüge zu hören. Er hatte umhergeleu<strong>ch</strong>tet, do<strong>ch</strong> vergebens: Galleguillo<br />

war es unheimli<strong>ch</strong> zumute. Do<strong>ch</strong> als er ni<strong>ch</strong>ts mehr vernahm, beruhigte er si<strong>ch</strong> wieder und glaubte,<br />

si<strong>ch</strong> getäus<strong>ch</strong>t zu haben.<br />

Do<strong>ch</strong> jetzt hörte er wieder S<strong>ch</strong>ritte, diesmal lauter als zuvor. Ein Mann tau<strong>ch</strong>te aus der Finsternis<br />

auf und wurde als kastilis<strong>ch</strong>er Soldat erkennbar, während er in den Li<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>ein trat. Es war<br />

Pedro López, Avilas Günstling, dem Cortés dreißig Stocks<strong>ch</strong>läge hatte verabrei<strong>ch</strong>en lassen. López<br />

s<strong>ch</strong>wankte; er s<strong>ch</strong>ien s<strong>ch</strong>limm betrunken zu sein und hielt eine mit Pulque gefüllte S<strong>ch</strong>ale in der<br />

Hand. Bis jetzt, lallte er, habe er in der Marketenderei mit Luis Paredes getrunken. Dann habe ihn<br />

Mitleid mit seinem Kameraden erfasst, der um diese Stunde S<strong>ch</strong>ildwa<strong>ch</strong>e stehen müsse; darum<br />

bringe er ihm einen S<strong>ch</strong>luck zur Stärkung.<br />

Der kleine Galicier s<strong>ch</strong>lug den so freundli<strong>ch</strong> gerei<strong>ch</strong>ten Trank ni<strong>ch</strong>t aus und plauderte no<strong>ch</strong><br />

eine Weile mit Pedro, bis dieser si<strong>ch</strong> entfernte. Aber er blieb ni<strong>ch</strong>t lange allein. Seltsame Gestalten<br />

sah er aus dem Dunkeln auf si<strong>ch</strong> zukommen: plattnasige, kürbisköpfige Zwerge; spindeldürre<br />

Greisinnen, die wie Frös<strong>ch</strong>e hüpften; grauenvolle Krüppel und Missgestalten, am Rücken zusammengewa<strong>ch</strong>sen,<br />

im Ringkampf mit si<strong>ch</strong> selbst; das weiße Skelett eines Windspiels, das umherlief<br />

und mit dem Kno<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>wanz wedelte und hüpfte. Do<strong>ch</strong> der kleine Galicier ers<strong>ch</strong>rak ni<strong>ch</strong>t einmal.<br />

Er war viel zu müde; bald konnte er si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr aufre<strong>ch</strong>t halten, legte si<strong>ch</strong> auf die Marmorfliesen<br />

und s<strong>ch</strong>lief ein. Dem Pulque war ein betäubender Pilztrank beigemis<strong>ch</strong>t.<br />

Glei<strong>ch</strong> darauf s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Alonso de Avila und Pedro López heran und näherten si<strong>ch</strong> der Tür.<br />

Da tau<strong>ch</strong>te eine Gestalt auf, sprang auf den S<strong>ch</strong>lafenden zu und riss dem Galicier das S<strong>ch</strong>wert<br />

aus der S<strong>ch</strong>eide. Es war Prinzessin Perlendiadem, die To<strong>ch</strong>ter des Herrn des Fastens, die von<br />

den Soldaten la Azteca genannt wurde.<br />

Avila prallte zurück. Ritterli<strong>ch</strong>e Gefühle waren ihm fremd und er s<strong>ch</strong>eute si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, eine Frau<br />

niederzuste<strong>ch</strong>en. Aber jetzt wagte er es ni<strong>ch</strong>t. La Azteca war die Geliebte des Cortés; und mo<strong>ch</strong>te<br />

au<strong>ch</strong> Marina in letzter Zeit wieder die Oberhand gewonnen haben, so war si<strong>ch</strong> Avila do<strong>ch</strong> bewusst,<br />

dass es ni<strong>ch</strong>t ungefährli<strong>ch</strong> war, die Prinzessin zu beseitigen. Er wollte es gütli<strong>ch</strong> versu<strong>ch</strong>en.<br />

»Was tut Ihr hier, Señora, und um diese Zeit? Überlasst es uns, das Gold zu bewa<strong>ch</strong>en! Ihr<br />

seht, i<strong>ch</strong> bin auf dem Rundgang – und verlasst Eu<strong>ch</strong> darauf, i<strong>ch</strong> werde für die Bestrafung des<br />

pfli<strong>ch</strong>tvergessenen Postens Sorge tragen! Begebt Eu<strong>ch</strong> ruhig in Eure Kammer, Señora – Pedro<br />

López soll Eu<strong>ch</strong> begleiten.«<br />

Avila war ein hübs<strong>ch</strong>er Kerl und konnte, wenn ihm daran lag, artig spre<strong>ch</strong>en und bestrickend<br />

lä<strong>ch</strong>eln. Do<strong>ch</strong> la Azteca verstand nur wenige spanis<strong>ch</strong>e Worte, Avilas Rede begriff sie ni<strong>ch</strong>t. Sie<br />

ließ das erhobene S<strong>ch</strong>wert niedersausen und s<strong>ch</strong>litzte ihm den linken Ärmel auf. Avila packte die<br />

Wut. Ges<strong>ch</strong>ickt entwand er ihr das S<strong>ch</strong>wert und würgte sie, bis sie wie leblos am Boden lag. Dann<br />

zündete er zwei Fackeln an und stieg mit seinem Begleiter ins S<strong>ch</strong>atzhaus hinab.<br />

Na<strong>ch</strong> einer Weile kam la Azteca wieder zu si<strong>ch</strong> und eilte in die Kammer Orteguillas, rüttelte<br />

ihn und erzählte ihm in fliegender Hast, was ges<strong>ch</strong>ehen war; denn Cortés im S<strong>ch</strong>laf zu stören,<br />

wagte sie ni<strong>ch</strong>t. Orteguilla eilte los, weckte den Re<strong>ch</strong>nungsführer Albornoz, und kehrte bald darauf<br />

mit ihm und dem Notar Godoy zurück. Sie eilten in den S<strong>ch</strong>langensaal und warteten. Albornoz<br />

untersagte dem Pagen, den Saal zu erleu<strong>ch</strong>ten, damit die Diebe keinen Verda<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>öpften.<br />

Avila und Pedro López stiegen goldbeladen die Treppe hinauf. Als Avila in der Tür stand, trat<br />

Albornoz ihm entgegen.<br />

»Señor, um kein Aufsehen zu erregen, ersu<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong>, das Gold zurückzutragen.«<br />

»I<strong>ch</strong> lasse mir von Eu<strong>ch</strong> keine Vors<strong>ch</strong>riften ma<strong>ch</strong>en!«, antwortete Avila bars<strong>ch</strong> und stellte<br />

seine wertvolle Last zu Boden.<br />

»I<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>e keine Vors<strong>ch</strong>riften, sondern gebe Eu<strong>ch</strong> einen wohl gemeinten Rat, weil i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>onen mö<strong>ch</strong>te.«<br />

»Mi<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>onen? Seid Ihr no<strong>ch</strong> bei Sinnen? Wollt Ihr damit sagen, dass i<strong>ch</strong> ein Dieb bin?«<br />

»I<strong>ch</strong> sage, dass Ihr genommen habt, was Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gehört!«<br />

Da zog Avila blank und drang auf Albornoz ein. Au<strong>ch</strong> Pedro López zog den Degen, in der<br />

Absi<strong>ch</strong>t, den Notar Godoy anzugreifen. Do<strong>ch</strong> der kaiserli<strong>ch</strong>e Sekretarius floh und ma<strong>ch</strong>te ein lau-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 258<br />

tes Ges<strong>ch</strong>rei, das bis in die fernsten S<strong>ch</strong>lafsäle vernommen wurde. Bald füllte si<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>langensaal<br />

mit Soldaten. Au<strong>ch</strong> die Feldobristen und Cortés eilten herbei. Der Generalkapitän trennte die<br />

Fe<strong>ch</strong>tenden und verurteilte beide zu Gefängnisstrafen. Avila und Albornoz wurden abgeführt.<br />

Avila war ni<strong>ch</strong>t besonders beliebt, do<strong>ch</strong> seine Gefangensetzung ma<strong>ch</strong>te böses Blut. Pedro<br />

López verstand es, den Vorfall so darzustellen, als habe Avila das von Cortés veruntreute Gold<br />

zum Besten des Heeres retten wollen, sei aber von la Azteca, der Geliebten des Cortés, daran<br />

gehindert worden. Der Groll des Heeres ri<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong> nun vornehmli<strong>ch</strong> gegen la Azteca. Und<br />

Galleguillo, der kleine Galicier, konnte no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts aussagen, da er no<strong>ch</strong> immer ni<strong>ch</strong>t von seinem<br />

Pilzraus<strong>ch</strong> erwa<strong>ch</strong>t war.<br />

*<br />

Tag konnte Galleguillo endli<strong>ch</strong> erzählen, was vorgefallen war. Cortés entließ den Re<strong>ch</strong>nungsführer<br />

Albornoz sofort aus der Haft; er musste beaufsi<strong>ch</strong>tigen, wie die zwei Haufen Ges<strong>ch</strong>meide von<br />

Golds<strong>ch</strong>mieden aus Teno<strong>ch</strong>titlán einges<strong>ch</strong>molzen und gestempelt wurden. Bei der ans<strong>ch</strong>ließenden<br />

Verteilung des Goldes stellte si<strong>ch</strong> heraus, dass auf jeden gemeinen Soldaten ni<strong>ch</strong>t mehr als hundert<br />

Pesos kamen. Da bra<strong>ch</strong> der Aufruhr los.<br />

Die Meuterer stürmten zum Ballspielhaus, wo sie Cortés vermuteten. Do<strong>ch</strong> sie trafen nur Alvarado<br />

und Moctezuma an. Alvarado versu<strong>ch</strong>te, im Vertrauen auf seine Beliebtheit, die Tobenden<br />

zu beruhigen, errei<strong>ch</strong>te aber ni<strong>ch</strong>ts und bra<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> selbst in Gefahr. Moctezuma rettete ihn, indem<br />

er dur<strong>ch</strong> Orteguilla den Aufständis<strong>ch</strong>en mitteilen ließ, er s<strong>ch</strong>enke dem Heer den S<strong>ch</strong>atz des<br />

Herrn des Fastens. Die Meuterer aber waren no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zufrieden und verlangten Sühne für das<br />

vermeintli<strong>ch</strong>e Unre<strong>ch</strong>t, das Avila widerfahren war. Sie su<strong>ch</strong>ten weiter na<strong>ch</strong> Cortés und fanden ihn<br />

am Seeufer, wo er Prinz Goldmaske die halb fertigen Brigantinen zeigte.<br />

»Was wollt ihr? Warum tobt ihr hier herum?«, herrs<strong>ch</strong>te er sie an.<br />

»Gib uns la Azteca heraus!«, s<strong>ch</strong>rien die einen. »Gib Avila frei!«, riefen die anderen.<br />

Cortés wollte sie beruhigen, do<strong>ch</strong> seine s<strong>ch</strong>önen Reden verfingen diesmal ni<strong>ch</strong>t.<br />

»Lasst uns die Brigantinen in Brand stecken! Das wird ihn zwingen!«, brüllte einer der Aufwiegler.<br />

Cortés war in einer Zwickmühle. Den Brigantinen durfte ni<strong>ch</strong>ts ges<strong>ch</strong>ehen. Von den ihnen<br />

hing alles Heil ab, falls das Unheil hereinbra<strong>ch</strong>...<br />

»Also gut«, sagte Cortés, »i<strong>ch</strong> werde Avila freilassen, wenn ihr Ruhe gebt.«<br />

»Die rote Hure, la Azteca, wollen wir au<strong>ch</strong>!«<br />

»Nein, la Azteca werdet ihr ni<strong>ch</strong>t bekommen. Sie untersteht meinem S<strong>ch</strong>utz! Wer sie anrührt,<br />

ist des Todes. Und wer no<strong>ch</strong> einmal ›Hure‹ sagt, den lasse i<strong>ch</strong> aufhängen!«<br />

»Sie hat Avila angegriffen. Gilt für sie ni<strong>ch</strong>t, was für uns alle gilt?«<br />

Aus ihrer Si<strong>ch</strong>t hatten die Männer Re<strong>ch</strong>t. Cortés musste unbedingt die Ruhe wieder herstellen;<br />

au<strong>ch</strong> die Mexica durften ni<strong>ch</strong>t merken, wie tief die von Raffgier erzeugte Uneinigkeit der Weißen<br />

oft ging.<br />

»Kommt morgen wieder«, sagte er, »i<strong>ch</strong> muss darüber na<strong>ch</strong>denken.« Er erbat si<strong>ch</strong> Bedenkzeit.<br />

Den Meuterern genügte das; sie verliefen si<strong>ch</strong>. Cortés hatte Zeit gewonnen. Er ließ die Blaue<br />

Feder und la Azteca rufen, um mit ihnen zu bespre<strong>ch</strong>en, wie die Gefahr zu bannen sei. Do<strong>ch</strong> bei la<br />

Azteca stieß er auf Widerstand; finster forderte sie die Bestrafung Avilas. Die aber konnte er ni<strong>ch</strong>t<br />

gewähren.<br />

Do<strong>ch</strong> la Azteca war eine stolze Königsto<strong>ch</strong>ter. Sie hatte si<strong>ch</strong> Cortés in selbstloser Liebe hingegeben,<br />

hatte die Vera<strong>ch</strong>tung ihrer Brüder und ihrer Mutter in Kauf genommen. Und nun verweigerte<br />

Cortés die Bestrafung Avilas, des Räubers des Golds<strong>ch</strong>atzes von Tezcoco, politis<strong>ch</strong>er Vorteile<br />

wegen! Und Avila, der Dieb und Betrüger, stellte la Azetca als Lügnerin hin. Er s<strong>ch</strong>ien Cortés<br />

wertvoller zu sein als ihre Ehre.<br />

*<br />

Liebe und Hass sind unglei<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>wister. Bei Anbru<strong>ch</strong> des Abenddunkels verließen die Blaue<br />

Feder und la Azteca den Tecpan des Königs Wassergeist. Der Prinz ruderte mit seiner S<strong>ch</strong>wester<br />

über den See na<strong>ch</strong> Tezcotzinco, dem nahe Tezcocos gelegenen einstigen Lusts<strong>ch</strong>loss des Herrn


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 259<br />

des Fastens. Als sie am Fuß des felsigen Kaps anlangten, sahen sie viele Boote und Galeeren mit<br />

zähnebleckenden Dämonenhäuptern am Bug vor der Landungsstelle s<strong>ch</strong>aukeln, gewahrten aber<br />

kein Li<strong>ch</strong>t im ho<strong>ch</strong> gelegenen S<strong>ch</strong>loss. Die Blaue Feder wusste, dass Mutter und Brüder in letzter<br />

Zeit mehrere Male die unzufriedenen Fürsten Anahuacs empfangen hatten. Wenn er si<strong>ch</strong> bisher<br />

den Vers<strong>ch</strong>wörern ni<strong>ch</strong>t anges<strong>ch</strong>lossen hatte, so aus Hass gegen Mexico, ni<strong>ch</strong>t aus Treue zu Cortés.<br />

Nun aber hatte die Verteilung des Staatss<strong>ch</strong>atzes und die Bedrohung seiner S<strong>ch</strong>wester dur<strong>ch</strong><br />

<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Soldaten eine Sinnesänderung bewirkt. Er hatte die S<strong>ch</strong>iffe gesehen, hatte die Goldgier<br />

und den Ma<strong>ch</strong>thunger der Weißen erlebt – dur<strong>ch</strong> sie würde Unglück über Anahuac hereinbre<strong>ch</strong>en!<br />

Und dass Cortés Perlendiadem, la Azteca, preisgegeben hatte, die ihn so aufopferungsvoll liebte,<br />

empfand er umso mehr als S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>, da er selbst die S<strong>ch</strong>wester dem weißen Anführer angeboten<br />

und zugeführt hatte.<br />

Am Garteneingang wurden sie von einem Torhüter angehalten; die Herrin von Tula habe jedermann<br />

den Zutritt verboten. Blaue Feder stieß den Wä<strong>ch</strong>ter beiseite und dur<strong>ch</strong>querte mit der<br />

Prinzessin den Garten zum Portal des S<strong>ch</strong>losses. Dort aber standen zehn Bewaffnete. Da ließ<br />

Blaue Feder na<strong>ch</strong> seinem Bruder Felsens<strong>ch</strong>lange s<strong>ch</strong>icken.<br />

Glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der Hinri<strong>ch</strong>tung der Sengenden Glut und des Glänzenden Harnis<strong>ch</strong>es hatten die meisten<br />

der am Hof von Teno<strong>ch</strong>titlán lebenden Könige und Fürsten die Wasserstadt verlassen, weil sie<br />

si<strong>ch</strong> dort ni<strong>ch</strong>t mehr si<strong>ch</strong>er fühlten und es ni<strong>ch</strong>t ertrugen, Zeugen der S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> Moctezumas zu<br />

sein. Grollend und von der Welt abges<strong>ch</strong>lossen hauste Moctezumas Bruder, der Überwinder, in<br />

seinem S<strong>ch</strong>loss Iztapalapá. Der Dur<strong>ch</strong>-Wohlgestalt-Glänzende lebte in seiner Königsstadt Tacuba<br />

und zerstreute si<strong>ch</strong> mit Wasserwildjagd. Der Edle Betrübte aber war mit seinem Bruder Felsens<strong>ch</strong>lange<br />

na<strong>ch</strong> Tezcoco gekommen und s<strong>ch</strong>ürte seitdem die Feinds<strong>ch</strong>aft gegen die <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en<br />

Unterdrücker. Wu<strong>ch</strong>s die Erbitterung gegen die fremden Eindringlinge au<strong>ch</strong> von Tag zu Tag,<br />

mo<strong>ch</strong>ten die Azteken denno<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t handeln, solange der Zornige Herr ni<strong>ch</strong>t handelte: Au<strong>ch</strong> in<br />

Gefangens<strong>ch</strong>aft war er no<strong>ch</strong> immer Herr der Welt. Solange Moctezuma das Zei<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t gab,<br />

mussten die Waffen ruhen. In den Traditionen gefangen, sträubten si<strong>ch</strong> die Verunsi<strong>ch</strong>erten, der<br />

Realität ins Gesi<strong>ch</strong>t zu sehen. Wie der Zornige Herr hoffte au<strong>ch</strong> der Adel Teno<strong>ch</strong>titláns auf ein<br />

Wunder.<br />

Das Volk war und blieb stumpf und glei<strong>ch</strong>gültig. An den Mühen des Alltags hatte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts geändert.<br />

Irgendwo unsi<strong>ch</strong>tbar lebte der König, war in einen anderen Tecpan übergesiedelt, und auf<br />

den Kanälen wimmelten es wie stets von Booten. Die Handelsherren gingen ihren Ges<strong>ch</strong>äften<br />

na<strong>ch</strong>, und die armen Federmosaikarbeiterinnen, Wasserträgerinnen und Entenjäger fanden wie eh<br />

und je nur ein kärgli<strong>ch</strong>es Auskommen. Eine Kne<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>aft war dur<strong>ch</strong> eine andere<br />

ersetzt worden – was ging es sie an? Was gingen sie die Streitigkeiten der<br />

Herren an, solange es ni<strong>ch</strong>t am tägli<strong>ch</strong>en Mais fehlte?<br />

Azteke,<br />

Mais stampfend<br />

Nur der Adel hatte si<strong>ch</strong> vom Sammelruf Cacamas aus der Lethargie reißen lassen. S<strong>ch</strong>on<br />

seit Jahren waren die Fürsten si<strong>ch</strong> der sträfli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e Moctezumas bewusst und führten<br />

alles Übel darauf zurück. Wenn also ni<strong>ch</strong>t mit dem Zornigen Herrn, wollten sie ohne ihn kämpfen!<br />

Ein König war ni<strong>ch</strong>t unersetzli<strong>ch</strong> wie die Ehre des Landes. Starb ein König, s<strong>ch</strong>ritt man zur Königswahl.<br />

Und der Zornige Herr war tot, seit er der Hinri<strong>ch</strong>tung der Sengenden<br />

Glut in Ketten zuges<strong>ch</strong>aut hatte. Aus Feigheit hielt er mit den weißen Eroberern<br />

Frieden. Die Fürsten waren ents<strong>ch</strong>lossen, ihn dur<strong>ch</strong> einen neuen König ersetzen!<br />

Azteken,<br />

Mais einlagernd<br />

Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange gab Befehl, Blaue Feder und Perlendiadem einzulassen.<br />

Blaue Feder teilte seinem Bruder in Eile mit, warum er und Perlendiadem<br />

zurückkehrten: Der Staatss<strong>ch</strong>atz Tezcocos war einges<strong>ch</strong>molzen, der Pöbel im<br />

Christenheer verlangte den Tod der Prinzessin.<br />

»Cacama und i<strong>ch</strong> haben di<strong>ch</strong> seit langem erwartet!«, sagte Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange. »Eine


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 260<br />

Versammlung der Mä<strong>ch</strong>tigen berät gerade, wie wir uns behaupten wollen.«<br />

»Wer nimmt an der Versammlung teil?«, fragte Blaue Feder.<br />

»Alle Könige und Fürsten Anahuacs. Sie legen deiner Feinds<strong>ch</strong>aft gegen Moctezuma mehr<br />

Gewi<strong>ch</strong>t bei als deiner Zuneigung zu den Sonnensöhnen. Sie haben daher ni<strong>ch</strong>ts gegen deine<br />

Anwesenheit einzuwenden – sofern du di<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> heiligen Eid verpfli<strong>ch</strong>test, die Beratung geheim<br />

zu halten.«<br />

»I<strong>ch</strong> werde den Eid leisten«, erklärte Blaue Feder.<br />

»Das habe i<strong>ch</strong> erwartet«, antwortete Felsens<strong>ch</strong>lange zufrieden und fuhr fort, an die S<strong>ch</strong>wester<br />

gewandt: »Begib di<strong>ch</strong> in die inneren Gemä<strong>ch</strong>er zur Herrin von Tula. Sie sitzt um diese Zeit no<strong>ch</strong><br />

am Webstuhl, um wa<strong>ch</strong> zu bleiben, falls einer ihrer Söhne ihres Rats bedarf. Spri<strong>ch</strong> ein Gebet,<br />

S<strong>ch</strong>wester. Seit du dem weißen Hund gefolgt bist, grollt sie dir sehr!«<br />

Felsens<strong>ch</strong>lange führte Blaue Feder in den Versammlungssaal.<br />

*<br />

Perlendiadem trat in die Kammer, wo ihre Mutter webte. Zwei dreiarmige kupferne Kerzenhalter<br />

mit fingerdünnen Harzfackeln erhellten den mit Kolibrifederteppi<strong>ch</strong>en verhängten Raum. Rings um<br />

die webende Königinwitwe saßen fünf junge Mäd<strong>ch</strong>en mit langen offenen Haaren. Die Königin von<br />

Tula unterbra<strong>ch</strong> ihre Arbeit ni<strong>ch</strong>t. Mit dem Webemesser s<strong>ch</strong>lug sie glei<strong>ch</strong>mäßig die von der Spindel<br />

in den Webekamm gefügten S<strong>ch</strong>ussfäden fest. Der Anblick der heimgekehrten To<strong>ch</strong>ter ließ sie<br />

unberührt. Kalt wies sie die Prinzessin wieder hinaus. Perlendiadem aber blieb. »Mutter!«, flehte<br />

sie. Da warf die Herrin von Tula das Webmesser na<strong>ch</strong> ihr.<br />

»Fort mit dir, unglückli<strong>ch</strong>e To<strong>ch</strong>ter!«, rief sie zornig.<br />

Perlendiadem s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> traurig hinaus, kniete draußen vor dem Perlenvorhang nieder, jammerte,<br />

s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zte und s<strong>ch</strong>lug si<strong>ch</strong> mit der Hand auf den offenen Mund.<br />

Na<strong>ch</strong> einer Stunde ließ die Herrin von Tula ihr von einer alten Sklavin eine vers<strong>ch</strong>lossene<br />

Majolikas<strong>ch</strong>üssel bringen. Perlendiadem hob den Deckel, und Gestank breitete si<strong>ch</strong> aus. In der<br />

S<strong>ch</strong>üssel befanden si<strong>ch</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Exkremente.<br />

Dur<strong>ch</strong> den Perlenvorhang ers<strong>ch</strong>oll die s<strong>ch</strong>neidende Stimme der Mutter:<br />

»Nähre di<strong>ch</strong> von Unrat, To<strong>ch</strong>ter – du dienst der Göttin des Unrats, du bist eine Kotfresserin!«<br />

Die Prinzessin weinte vor S<strong>ch</strong>am. Na<strong>ch</strong> einer Weile erhob sie si<strong>ch</strong> und s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> hinaus in den<br />

Garten und hinunter zum Landungsplatz, wo sie in ihr Boot stieg und zurück na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán<br />

ruderte.<br />

*<br />

Im hell erleu<strong>ch</strong>teten Saal waren die Fensteröffnungen s<strong>ch</strong>warz verhängt. Die Vers<strong>ch</strong>wörer saßen<br />

im Kreis um die heiligen drei Herdsteine in der Mitte des Saales: Cacama, der Edle Betrübte, König<br />

von Tezcoco; der Überwinder, König von Iztapalapá; der Dur<strong>ch</strong>-Wohlgestalt-Glänzende, König<br />

von Tacuba; Adlerkralle, König von Matlatzinco; Weißer Igel, König von Coyoacán; ferner Prinz<br />

Felsens<strong>ch</strong>lange, die Blaue Feder und der S<strong>ch</strong>lagende Falke. Es war Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange gelungen,<br />

eine Versöhnung zwis<strong>ch</strong>en dem Überwinder und dem S<strong>ch</strong>lagenden Falken zu vermitteln.<br />

Beim Flackern der heiligen Flamme legten die Vers<strong>ch</strong>wörer den Eid ab, nie die Geheimnisse ihrer<br />

nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Zusammenkünfte zu verraten, und warfen zur Bekräftigung Maiskörner in den Feuermund<br />

des gelbgesi<strong>ch</strong>tigen Feuergottes. Au<strong>ch</strong> die <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong> auf den Namen Hernándo getaufte<br />

Blaue Feder s<strong>ch</strong>wor und streute Körner ins Feuer.<br />

Die Beratung in dieser Na<strong>ch</strong>t führte zu keinem Ergebnis, und die Meinungsvers<strong>ch</strong>iedenheiten<br />

wurden bald zu einem offenen Streit. Einig waren si<strong>ch</strong> zwar alle, dass Mexico ohne König sei<br />

und eines neuen Herrs<strong>ch</strong>ers bedürfe, do<strong>ch</strong> die Vers<strong>ch</strong>wörer gönnten einander die Krone Mexicos<br />

ni<strong>ch</strong>t. Der König von Matlatzinco, ein großer, dicker, allzu selbstbewusster Herr, geriet in Streit mit<br />

dem Edlen Betrübten und bes<strong>ch</strong>uldigte ihn, er wolle si<strong>ch</strong> zum Anführer aufs<strong>ch</strong>wingen, jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t,<br />

weil ihm die Rettung Mexicos am Herzen liege, sondern weil er glaube, ein Anre<strong>ch</strong>t auf die Türkismosaikbinde<br />

der Könige Mexicos zu haben. Do<strong>ch</strong> es gebe andere, die mehr Vorre<strong>ch</strong>te besäßen.<br />

Das Königtum sei ja ni<strong>ch</strong>t erbli<strong>ch</strong>, und darum kam der Sohn des Zornigen Herrn, der Von-<br />

Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte, als Na<strong>ch</strong>folger ni<strong>ch</strong>t infrage; er wäre ein s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>er Herrs<strong>ch</strong>er! Als Blutsver-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 261<br />

wandter der männli<strong>ch</strong>en Linie käme zuerst er, Adlerkralle, als Thronanwärter in Betra<strong>ch</strong>t. Er dürfe<br />

wohl behaupten, dass er mehr Anre<strong>ch</strong>t habe als sein S<strong>ch</strong>wager Cacama, der bloß ein Verwandter<br />

mütterli<strong>ch</strong>erseits war.<br />

Freili<strong>ch</strong> hatte no<strong>ch</strong> niemand in Adlerkralle den künftigen Weltherrn gesehen, außer er selbst;<br />

weder der Adel no<strong>ch</strong> das Volk hatte je an ihn oder Cacama geda<strong>ch</strong>t. Der Adel s<strong>ch</strong>ätzte den stillen<br />

tatkräftigen Überwinder, der wohl au<strong>ch</strong> ihre Interessen am besten fördern würde. Des Volkes<br />

Sehnsu<strong>ch</strong>t hingegen ri<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong> auf den S<strong>ch</strong>lagenden Falken, den grundlos Verbannten, auf<br />

dessen Name s<strong>ch</strong>on lange die Hoffnungen der Unterprivilegierten und Unzufriedenen lagen.<br />

Adlerkralle, König von Matlatzinco, sagte offen, dass er si<strong>ch</strong> für den würdigsten Na<strong>ch</strong>folger<br />

Moctezumas halte; für seine weitere <strong>Teil</strong>nahme an der Vers<strong>ch</strong>wörung ma<strong>ch</strong>te er zur Bedingung,<br />

dass ihm die Führers<strong>ch</strong>aft zugebilligt werde. Do<strong>ch</strong> seine Vorwürfe gegen Cacama, den Edlen Betrübten,<br />

waren ungere<strong>ch</strong>t: Er hatte die Fürsten ohne eigensü<strong>ch</strong>tige Hintergedanken na<strong>ch</strong><br />

Tezcotzinco geladen. Mehr als die andern litt er unter der S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> Mexicos und sehnte die Verni<strong>ch</strong>tung<br />

oder Vertreibung der räuberis<strong>ch</strong>en Eindringlinge herbei. Wenn er leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> den<br />

Verni<strong>ch</strong>tungskrieg forderte, so tat er es, um seine S<strong>ch</strong>uld an den Bewohnern Anahuacs gutzuma<strong>ch</strong>en,<br />

war er es do<strong>ch</strong> gewesen, der bei den letzten Kronratssitzungen in Teno<strong>ch</strong>titlán stets ritterli<strong>ch</strong><br />

für die Weißen eingetreten war. Er war zu stolz, die maßlosen Angriffe seines S<strong>ch</strong>wagers abzuwehren,<br />

zu stolz, si<strong>ch</strong> rein zu was<strong>ch</strong>en. Der S<strong>ch</strong>ein spra<strong>ch</strong> gegen ihn. Au<strong>ch</strong> der Überwinder, der<br />

S<strong>ch</strong>lagende Falke und Blaue Feder verhielten si<strong>ch</strong> zurückhaltend und zeigten ihre Gedanken ni<strong>ch</strong>t;<br />

sie missbilligten das Gesprä<strong>ch</strong> über die Thronfolge, solange Moctezuma no<strong>ch</strong> am Leben war. Der<br />

Weiße Igel, König von Coyoacán, stimmte dem König von Matlatzinco zu. Felsens<strong>ch</strong>lange und der<br />

junge König von Tacuba wiederum verteidigten Cacama; man erhitzte si<strong>ch</strong> und reizte die jeweiligen<br />

Gegner zu immer neuen Ausfällen. Gegen Morgen trennten die Vers<strong>ch</strong>wörer si<strong>ch</strong> ohne Einigung,<br />

wenn au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> außen hin versöhnt.<br />

*<br />

Der Garten des Huei-Tecpan grenzte an die Lagune. Ein s<strong>ch</strong>maler Kanal führte zum Hafen der<br />

königli<strong>ch</strong>en Boote. Drei Tage später s<strong>ch</strong>ritt Prinzessin Maisblume mit ihren Begleiterinnen dur<strong>ch</strong><br />

den S<strong>ch</strong>lossgarten. Sie sangen das uralte Blumenlied.<br />

»Auf die Erde herab fiel die Blume,<br />

Auf die Erde bra<strong>ch</strong>te Tezcatlipoca sie herab,<br />

Die s<strong>ch</strong>öne Blume, die gelbe Blume...«<br />

Ein junger Ruderkne<strong>ch</strong>t rief die Prinzessin an, als sie mit den Mäd<strong>ch</strong>en am Bootshafen vorbeikam.<br />

Er stand aufre<strong>ch</strong>t im Boot und blickte zu Maisblume auf. Sie kannte ihn; er gehörte zu ihrem<br />

Haushalt und war mit ihr von Chapultepec in den Huei-Tecpan übergesiedelt. Als sie no<strong>ch</strong><br />

unverheiratet gewesen war, hatte er sie mehrmals auf den See gerudert. Seit sie ihres Bruders<br />

Gattin war, musste der junge Mann au<strong>ch</strong> ihm dienen. Er war Maisblume ergeben, vera<strong>ch</strong>tete jedo<strong>ch</strong><br />

seinen neuen Herrn, den Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmten, weil er ständig dessen Untreue erlebte.<br />

Maisblume blieb stehen. Er habe ihr Wi<strong>ch</strong>tiges mitzuteilen, sagte der junge Mann ents<strong>ch</strong>uldigend,<br />

woraufhin Maisblume die Mäd<strong>ch</strong>en anwies, si<strong>ch</strong> zu entfernen. Dann setzte sie si<strong>ch</strong> auf die<br />

Steinbrüstung am Hafenbecken und senkte den Kopf herab, um deutli<strong>ch</strong>er zu hören, was der junge<br />

Mann ihr zuflüsterte. Ihr offenes Haar fiel auf die Mauer nieder, und vom Wind gebläht streiften<br />

zuweilen einzelne Strähnen sein s<strong>ch</strong>önes Knabengesi<strong>ch</strong>t.<br />

Er wolle Maisblume von einem Gesprä<strong>ch</strong> beri<strong>ch</strong>ten, sagte der junge Mann leise, das er zwis<strong>ch</strong>en<br />

ihrem Brudergemahl, dem Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmten, und dem nasenlosen Xoctemecl belaus<strong>ch</strong>t<br />

hatte.<br />

»Spri<strong>ch</strong>«, flüsterte Maisblume.<br />

»Es gibt eine Vers<strong>ch</strong>wörung!«, wisperte der Ruderkne<strong>ch</strong>t.<br />

»Weißt du, was du da sagst? Wenn du etwas erfindest oder vers<strong>ch</strong>weigst, wartet der Opferstein<br />

auf di<strong>ch</strong>!«<br />

»O Herrin, du edle, nie würde i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> belügen.«<br />

»Dann rede, und i<strong>ch</strong> werde di<strong>ch</strong> belohnen.«<br />

»Adlerkralle, der König von Matlatzinco, der Edle Betrübte, der Überwinder, der Dur<strong>ch</strong>-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 262<br />

Wohlgestalt-Glänzende, der Weiße Igel von Coyoacán, au<strong>ch</strong> Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange, der S<strong>ch</strong>lagende<br />

Falke und die Blaue Feder haben si<strong>ch</strong> in Tezcotzinco getroffen, um den Herrn der Welt abzusetzen<br />

und einen neuen König zu wählen.«<br />

»Und der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte hat mit Purpurkrani<strong>ch</strong> darüber gespro<strong>ch</strong>en?«<br />

»Ja. Ein Diener hat es ihm verraten, damit der Zornige Herr es erfahre. Aber der Von-<br />

Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte hat no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mit Moctezuma gespro<strong>ch</strong>en; es s<strong>ch</strong>eint, er hat au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t viel<br />

Lust dazu.«<br />

»Woraus s<strong>ch</strong>ließt du das?«, fragte Maisblume atemlos.<br />

»Er würde Cacama und die anderen Fürsten seinem Vater und damit den teules ausliefern.<br />

Xoctemecl aber hetzt den Prinzen auf. Er hält ihm vor...« Der Junge stockte verlegen.<br />

»Was hält er ihm vor? Spri<strong>ch</strong> ohne Fur<strong>ch</strong>t.«<br />

Er sah die Prinzessin s<strong>ch</strong>eu an; man konnte sehen, dass er seinen ganzen Mut zusammennahm.<br />

»Er hält ihm die Liebe des S<strong>ch</strong>lagenden Falkens zu Eu<strong>ch</strong> vor, Prinzessin Maisblume, und<br />

erinnert ihn ständig an seinen Ra<strong>ch</strong>es<strong>ch</strong>wur. Wenn er Cuauhtémoc verderben wolle, könne er<br />

au<strong>ch</strong> die anderen ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>onen. Und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigt er des Prinzen Bedenken mit einem<br />

Plan, wie er Prinzessin Perlendiadem, die er liebe, erlangen könne.«<br />

Maisblumes Herz po<strong>ch</strong>te bis zum Hals. »Wie lautet der Plan?«, fragte sie leise.<br />

»Der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte soll dem Anführer der Sonnensöhne, dem Grünen Stein, vors<strong>ch</strong>lagen,<br />

dass er, der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte, einige aufständis<strong>ch</strong>e Fürsten fangen würde. Als<br />

Lohn erwarte er Perlendiadem.«<br />

Der Ruderkne<strong>ch</strong>t hatte seinen Beri<strong>ch</strong>t beendet. Maisblume überlegte und sah ihn mit seltsam<br />

flackerndem Blick an. Dann lä<strong>ch</strong>elte sie und sagte freundli<strong>ch</strong>:<br />

»I<strong>ch</strong> will di<strong>ch</strong> rei<strong>ch</strong> belohnen! Du darfst mi<strong>ch</strong> küssen!«<br />

Sie beugte si<strong>ch</strong> tiefer über die Brüstung, legte ihren linken Arm um seine nackte braune<br />

S<strong>ch</strong>ulter, näherte ihre Lippen seinem s<strong>ch</strong>reckgelähmten Gesi<strong>ch</strong>t. Mit der re<strong>ch</strong>ten Hand aber tastete<br />

sie na<strong>ch</strong> ihrem Obsidiandol<strong>ch</strong>. Und während sie si<strong>ch</strong> küssten, s<strong>ch</strong>nitt sie ihm mit ras<strong>ch</strong>er Bewegung<br />

die Kehle dur<strong>ch</strong>.<br />

Entsetzt riss der Junge die Augen auf und stürzte rö<strong>ch</strong>elnd in seinen Kahn. Er hatte zu viel<br />

gewusst; darum durfte er ni<strong>ch</strong>t leben. Do<strong>ch</strong> weil er s<strong>ch</strong>ön und jung war, hatte Maisblume ihm das<br />

Sterben versüßt.<br />

Maisblume rief ihre Mäd<strong>ch</strong>en herbei und sagte: »I<strong>ch</strong> musste ihn töten. Er hat si<strong>ch</strong> mir ungebührli<strong>ch</strong><br />

genähert und meine Frauenehre verletzt. Bringt die Lei<strong>ch</strong>e auf den S<strong>ch</strong>ilfsee hinaus und<br />

versenkt sie dort.«<br />

Sie rief ihre Sänftenträger und ließ si<strong>ch</strong> in die Wohnung des Annalens<strong>ch</strong>reibers Weißer<br />

Mondstein tragen, von dem sie s<strong>ch</strong>on öfter Bots<strong>ch</strong>aften vom S<strong>ch</strong>lagenden Falken erhalten hatte.<br />

*<br />

Weißer Mondstein saß mit seinen Freunden, dem Grauen Honigbär (der in Teno<strong>ch</strong>titlán als Zauberer<br />

Sacusín gelebt hatte) und dem Träumer, dem jungen Di<strong>ch</strong>ter, inmitten seiner Altertümer, Chroniken,<br />

Sammlungen heiliger Gesänge und astronomis<strong>ch</strong>er Werke. Düster philosophierten sie über<br />

den Untergang ihres Volkes.<br />

»Wird ni<strong>ch</strong>ts von dem bleiben, was wir liebten?«, fragte der Träumer.<br />

»Ni<strong>ch</strong>ts!«, sagte Weißer Mondstein. »Alles wird s<strong>ch</strong>winden wie einst, als der Jaguar die<br />

Sonne fraß.«<br />

»Au<strong>ch</strong> die herrli<strong>ch</strong>e Adlerpforte, der Stolz Mexicos?«, fragte der Träumer zaghaft.<br />

»Sie wird im See versinken!«<br />

»Au<strong>ch</strong> die Bü<strong>ch</strong>er, die du ges<strong>ch</strong>rieben hast?«<br />

»Ni<strong>ch</strong>ts wird bleiben!«<br />

»Au<strong>ch</strong> die Lieder, die i<strong>ch</strong> gedi<strong>ch</strong>tet habe...? Wenn alles vers<strong>ch</strong>lungen wird, warum stieg Mexicos<br />

S<strong>ch</strong>önheit dann aus dem See empor?«<br />

»O Di<strong>ch</strong>ter«, sagte der Graue Honigbär, »au<strong>ch</strong> die Wasserrose steigt aus dem See und blüht<br />

nur drei Tage lang.«<br />

Da s<strong>ch</strong>lug Weißer Mondstein eine no<strong>ch</strong> unfertige Bilderhands<strong>ch</strong>rift auf, sein Lebenswerk,<br />

und las vor:<br />

»Unser Herr Quetzalcoatl wurde von einem seiner Jünger gefragt: ›O Unser Herr, wozu ist


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 263<br />

die Welt da?‹<br />

›Um vom Dasein erlöst zu werden‹, erwiderte die Grüngefiederte S<strong>ch</strong>lange.<br />

›O Unser Herr, erkläre es mir!‹, bat der Jünger.<br />

Da sagte Quetzalcoatl: ›Alles Etwas ruht im Ni<strong>ch</strong>ts. Die Welt ist ni<strong>ch</strong>t endlos, die Welt grenzt<br />

an die Ni<strong>ch</strong>t-Welt. Und au<strong>ch</strong> die Zeit hat Anfang und Ende und ist von der Ni<strong>ch</strong>t-Zeit begrenzt.‹<br />

›Verzeih, o Herr‹, unterbra<strong>ch</strong> ihn der Jünger. ›Mein Herz kann es ni<strong>ch</strong>t fassen. Was ist die<br />

Ni<strong>ch</strong>t-Welt?‹<br />

›Die Ni<strong>ch</strong>t-Welt‹, fuhr Quetzalcoatl fort, ›ist das nie Gewandelte, das no<strong>ch</strong> Ungewordene, das<br />

Gestaltlose. Die Ni<strong>ch</strong>t-Welt ist wie Wasser, und die Welt ist wie Eis, das im Wasser s<strong>ch</strong>wimmt. Die<br />

Erlösung des Eises aber ist das Wasser.‹<br />

›Wozu gerinnt das Eis, wenn es do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>melzen muss!‹, rief der Jünger.<br />

›Sieh dort das Wölk<strong>ch</strong>en am blauen Himmel!‹, sagte Quetzalcoatl. ›Keine Wolke ist der Tränen<br />

wert. Mag sie wie Perlmutt s<strong>ch</strong>immern oder wie Gold im Abends<strong>ch</strong>ein strahlen, ehe sie zerrinnt.<br />

Wolken bilden si<strong>ch</strong> immer neu. Wenn du Tränen hast, vergieße sie um die Ameisen, die dein<br />

Fuß zertritt!‹«<br />

Weißer Mondstein s<strong>ch</strong>wieg. Au<strong>ch</strong> die beiden anderen sagten ni<strong>ch</strong>ts und hingen ihren Gedanken<br />

na<strong>ch</strong>. Ein Sklave hus<strong>ch</strong>te in die Stille und flüsterte mit seinem Herrn. Der Annalens<strong>ch</strong>reiber<br />

erhob si<strong>ch</strong> und ging hinaus. Na<strong>ch</strong> einer Weile kehrte er mit Maisblume zurück. Der Graue<br />

Honigbär und der Träumer hatten si<strong>ch</strong> erhoben und wollten si<strong>ch</strong> entfernen. Do<strong>ch</strong> Weißer Mondstein<br />

bat sie, zu bleiben. Was die Prinzessin zu sagen habe, ginge sie beide ni<strong>ch</strong>t weniger an als<br />

ihn.<br />

Maisblume hatte s<strong>ch</strong>on früher dur<strong>ch</strong> Weißer Mondstein erfahren, dass der S<strong>ch</strong>lagende Falke<br />

in der unterirdis<strong>ch</strong>en Mumienkammer der S<strong>ch</strong>ilfinsel beim Grauen Honigbär und dem Träumer<br />

Zuflu<strong>ch</strong>t gefunden hatte. Sie wusste, dass es Freunde ihres Geliebten waren und dass sie offen<br />

vor ihnen reden durfte – umso mehr, als ihnen das Ziel der nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Bootfahrt Cuauhtémocs<br />

ni<strong>ch</strong>t unbekannt sein konnte, mo<strong>ch</strong>ten sie selbst au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an den Zusammenkünften der Fürsten<br />

teilgenommen haben.<br />

Maisblume nahm auf einem hölzernen S<strong>ch</strong>emel Platz, di<strong>ch</strong>t neben den in engem Kreis sitzenden<br />

Männern. Flüsternd und in fiebernder Hast erzählte sie vom Verrat des Königs von<br />

Matlatzinco und vom Ra<strong>ch</strong>eplan des nasenlosen Xoctemecl, der, um den S<strong>ch</strong>lagenden Falken zu<br />

verderben, au<strong>ch</strong> die anderen Fürsten ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>onen wollte. Ihr Bruder-Gatte war dabei ni<strong>ch</strong>t nur<br />

das Werkzeug des Nasenlosen, der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte erwarte als Lohn die Prinzessin Perlendiadem!<br />

Sie, Maisblume, wäre ein weiteres Mal erniedrigt.<br />

Als sie geendet hatte, erhoben si<strong>ch</strong> alle eilig. Der Graue Honigbär drängte. S<strong>ch</strong>on senke si<strong>ch</strong><br />

die Sonne; in der kommenden Na<strong>ch</strong>t wollten die Vers<strong>ch</strong>wörer wieder im S<strong>ch</strong>loss von Tezcotzinco<br />

zusammentreffen. Weißer Mondstein solle si<strong>ch</strong> ras<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Iztapalapá begeben, um Blaue Feder<br />

und den Überwinder zu warnen. Glei<strong>ch</strong>zeitig sollten der Edle Betrübte und Felsens<strong>ch</strong>lange vom<br />

Träumer veranlasst werden, Ruderer auf den See hinauszus<strong>ch</strong>icken, um den Dur<strong>ch</strong>-Wohlgestalt-<br />

Glänzenden und den König von Coyoacán abzufangen und an der Landung in Tezcotzinco zu hindern.<br />

Er selbst wollte unverzügli<strong>ch</strong> seine unterirdis<strong>ch</strong>e Wohnung aufsu<strong>ch</strong>en, wo er den S<strong>ch</strong>lagenden<br />

Falken no<strong>ch</strong> anzutreffen hoffte, da dieser erst na<strong>ch</strong> Sonnenuntergang aufbre<strong>ch</strong>en wollte.<br />

Aber sie konnten nur zwei der Vers<strong>ch</strong>wörer retten. Der Träumer hatte si<strong>ch</strong>, seit er bei den<br />

Mumien hauste, immer nur na<strong>ch</strong>ts auf den See oder in die dunklen Kanäle Teno<strong>ch</strong>titláns gewagt,<br />

wenn er seinen Freund, den Annalens<strong>ch</strong>reiber, besu<strong>ch</strong>en wollte. Wie der Graue Honigbär blieb er<br />

den Tag über in der Gelehrtenwohnung und ruderte stets erst in der darauf folgenden Na<strong>ch</strong>t zurück.<br />

Aber diesmal, wo Höheres als ihr Leben oder ihre Freiheit auf dem Spiel stand, ließen beide<br />

die Vorsi<strong>ch</strong>t außer a<strong>ch</strong>t. Der Graue Honigbär errei<strong>ch</strong>te no<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>tzeitig die Toteninsel und hielt den<br />

S<strong>ch</strong>lagenden Falken zurück. Weißer Mondstein konnte die Blaue Feder von der Gefahr bena<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>tigen;<br />

der Überwinder jedo<strong>ch</strong> befand si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on weit draußen auf dem See und war ni<strong>ch</strong>t mehr<br />

einzuholen.<br />

Der Träumer war ni<strong>ch</strong>t so vom Glück begünstigt wie der Graue Honigbär. Er hatte gehofft,<br />

unbehelligt im Mens<strong>ch</strong>engewühl untertau<strong>ch</strong>en und si<strong>ch</strong> hindur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>lei<strong>ch</strong>en zu können. Do<strong>ch</strong> Moctezuma<br />

hatte einen Preis für seine Auffindung ausgesetzt; er wurde erkannt und festgenommen.<br />

Der Zornige Herr war ho<strong>ch</strong>erfreut, den oft Vermissten wieder zu sehen. Er bes<strong>ch</strong>enkte ihn und<br />

befahl ihm, mit Gedi<strong>ch</strong>tvorträgen bei Pulquegelagen seine Sorgen zu vertreiben.<br />

In der glei<strong>ch</strong>en Na<strong>ch</strong>t setzten siebzig conquistadores, befehligt von Olíd, in Kanus über den<br />

See, drangen in Tezcotzinco ein, metzelten die Palastwä<strong>ch</strong>ter und S<strong>ch</strong>ildträger nieder und nahmen


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 264<br />

den Edlen Betrübten, Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange, den Überwinder, den Dur<strong>ch</strong>-Wohlgestalt-Glänzenden<br />

und den Weißen Igel gefangen. Trotz verzweifelter Gegenwehr wurden sie von der Überma<strong>ch</strong>t<br />

überwältigt. Die Herrin von Tula und Königin Goldkolibri, die Frau des Edlen Betrübten, beoba<strong>ch</strong>teten<br />

mit finsterer Wut, wie die Gefangenen, an Händen und Füßen gefesselt und aus vielen Wunden<br />

blutend, zu den Booten gebra<strong>ch</strong>t wurden. Die Geharnis<strong>ch</strong>ten hatten Pe<strong>ch</strong>fackeln entzündet;<br />

sie flackerten im Sturmwind, und gespenstis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>atten zuckten im Rau<strong>ch</strong> und den Flammen.<br />

»Diese Gelbhaarigen«, rief die Herrin von Tula ihrem Sohn Cacama<br />

zu, »greifen wie Affen na<strong>ch</strong> dem funkelnden Gold! S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> über meine<br />

Söhne, dass sie si<strong>ch</strong> von Affen fangen ließen!«<br />

Der Edle Betrübte s<strong>ch</strong>wieg. Sein Bruder Felsens<strong>ch</strong>lange antwortete für<br />

ihn:<br />

»Von deinem liebsten Sohn, Mutter, ließen wir uns fangen! Melde unserem<br />

Bruder, der Blauen Feder, dass wir dem Verräter no<strong>ch</strong> am Kreuzweg<br />

der Unterwelt für diese S<strong>ch</strong>andtat flu<strong>ch</strong>en werden!«<br />

Au<strong>ch</strong> die anderen Gefangenen waren überzeugt, dass niemand anders<br />

als die Blaue Feder Cortés die Vers<strong>ch</strong>wörung verraten haben konnte.<br />

Cristobal de Olíd<br />

In Teno<strong>ch</strong>titlán übergab Olíd die Gefangenen den Häs<strong>ch</strong>ern Moctezumas. Im Triumph wurden<br />

die blutüberströmten Könige dur<strong>ch</strong> die Stadt zum Tecpan des Königs Wassergeist ges<strong>ch</strong>leppt.<br />

Dort verlangte der Edle Betrübte, vor den Zornigen Herrn geführt zu werden. Do<strong>ch</strong> Moctezuma<br />

lehnte ab, ihn zu sehen. Er wurde mit seinen Mitgefangenen zu Cortés gebra<strong>ch</strong>t. Umgeben von<br />

den Feldobristen und Marina, saß der capitán generál auf dem Jaguarfellthron, als wäre er nun<br />

Herr der Welt.<br />

»Du hast die Azteken zum Krieg aufgehetzt!«, ließ Cortés dem Edlen Betrübten dur<strong>ch</strong> Marina<br />

mitteilen.<br />

Der s<strong>ch</strong>wieg.<br />

»Krieg zu entfa<strong>ch</strong>en ist lei<strong>ch</strong>t, ihn zu beenden ist s<strong>ch</strong>wer. Hast du vergessen, dass es deine<br />

Pfli<strong>ch</strong>t ist, dem mä<strong>ch</strong>tigen König des Sonnenaufgangs ein treuer Freund zu sein?«<br />

Trotzig entgegnete der leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Jüngling: »Von deinem mä<strong>ch</strong>tigen König weiß i<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>ts und will i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts wissen! Wenn der endlose Krieg ni<strong>ch</strong>t entfa<strong>ch</strong>t werden soll, wie du forderst,<br />

musst du Anahuac verlassen. Sonst werden andere tun, was wir tun wollten und für Mexico<br />

die Ehre zurückerobern, die von eu<strong>ch</strong> Räubern entwendet wurde!«<br />

Mehr war aus ihm und den anderen Gefangenen ni<strong>ch</strong>t herauszubringen. Da gab Cortés den<br />

S<strong>ch</strong>mieden Juan García und Hernán Martín (dem Mann der Goldhyazinte) den Befehl, die Könige<br />

von Tezcoco, Tacuba, Iztapalapá, Coyoacán und Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange gemeinsam an eine Eisenkette<br />

zu s<strong>ch</strong>mieden. Die li<strong>ch</strong>tlose unterirdis<strong>ch</strong>e Kammer, in der bis vor kurzem der S<strong>ch</strong>atz des<br />

Herrn des Fastens lagerte, wurde in einen Kerker verwandelt. Soldaten rissen den verwundeten<br />

Gefangenen die königli<strong>ch</strong>en Gewänder vom Leib und s<strong>ch</strong>lossen sie nackt mit der Eisenkette an die<br />

Mauer des S<strong>ch</strong>atzhauses.<br />

Dunkelheit umhüllte die Gefangenen. Ratten ras<strong>ch</strong>elten im Stroh, und Skorpione kro<strong>ch</strong>en an<br />

den Wänden. Nur Ines Florín, die gutherzige Samariterin, kam zuweilen, bra<strong>ch</strong>te Wasser und Brot,<br />

ersetzte das stinkende Stroh dur<strong>ch</strong> fris<strong>ch</strong>es und verband die eiternden Wunden.<br />

*<br />

Die Gefahr einer Erhebung war im Keim erstickt worden. Cortés konnte nun einen <strong>Teil</strong> seiner<br />

Truppen entbehren. Er s<strong>ch</strong>ickte eine kleine Abteilung unter Alonso de Barrientos na<strong>ch</strong> Süden, um<br />

die Gegend um Oaxaca zu erkunden, und Velásquez de León zog mit hundertfünfzig kastilis<strong>ch</strong>en<br />

Soldaten na<strong>ch</strong> Cholula, um der heiligen Stadt zur Strafe für den Überfall eine Kontribution aufzuerlegen<br />

und von dort aus im bena<strong>ch</strong>barten Tlaxcala den Fürsten Kiefernzweig wegen Mord an der<br />

Windenden S<strong>ch</strong>lange dem S<strong>ch</strong>arfri<strong>ch</strong>ter zu überantworten.<br />

Cortés fühlte si<strong>ch</strong> gegenüber la Azteca s<strong>ch</strong>uldig. Er hatte keinen Hehl daraus gema<strong>ch</strong>t, dass


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 265<br />

ihm die Brigantinen wi<strong>ch</strong>tiger waren als sie. S<strong>ch</strong>limmer no<strong>ch</strong>, er hatte dem Von-Göttern-<br />

Bes<strong>ch</strong>irmten die Prinzessin ni<strong>ch</strong>t abges<strong>ch</strong>lagen, als dieser la Azteca zum Lohn für die Auslieferung<br />

der Vers<strong>ch</strong>wörer gefordert hatte.<br />

La Azteca war ins kastilis<strong>ch</strong>e Quartier zurückgekehrt, na<strong>ch</strong>dem ihre Mutter sie davongejagt<br />

hatte. Sie wollte sterben, hatten do<strong>ch</strong> die Landskne<strong>ch</strong>te ihren Tod verlangt. Do<strong>ch</strong> in jener Na<strong>ch</strong>t<br />

hatte Cortés Gold verteilen lassen; daraufhin erlos<strong>ch</strong> die Meuterei wie ein Strohfeuer. Keiner der<br />

S<strong>ch</strong>reier entsann si<strong>ch</strong> mehr, dass er den Kopf der Prinzessin gefordert hatte. La Azteca wurde<br />

ni<strong>ch</strong>t behelligt und kaum bea<strong>ch</strong>tet. Fortan war ihr Leben ohne Ziel. Dann aber vernahm sie von<br />

Maisblume, dass den Christen nur ein Eheweib gestattet sei. Der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte war<br />

bereits mit Maisblume verheiratet!<br />

La Azteca fragte Cortés, ob es mögli<strong>ch</strong> sei, dass er sie an den jämmerli<strong>ch</strong>en Sohn<br />

Moctezumas vers<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>ert habe. Er wi<strong>ch</strong> ihrem Betrübten Blick ni<strong>ch</strong>t aus. »Hat der Prinz dir das<br />

erzählt?«, fragte er.<br />

»Nein, i<strong>ch</strong> weiß es von Prinzessin Maisblume, der To<strong>ch</strong>ter Moctezumas.«<br />

»So, Maisblume war es...« Cortés' Augen wurden hart. »Sie ist eine Christenfeindin wie ihr<br />

Vater. Sie lä<strong>ch</strong>elt immerzu und ist im Herzen verstockt wie er, denn sie hat si<strong>ch</strong> geweigert, die<br />

Taufe zu empfangen. Was hast du mit dieser Heidin zu s<strong>ch</strong>affen? Wie kannst du ihren Worten<br />

Glauben s<strong>ch</strong>enken?«<br />

»Maisblume ist zu stolz, als dass sie zur Lüge fähig wäre!«, sagte la Azteca.<br />

Cortés war weniger stolz und log aus S<strong>ch</strong>am. »Nun, das dem Prinzen gegebene Verspre<strong>ch</strong>en<br />

ist ohnehin ungültig. Um die Namen der Vers<strong>ch</strong>wörer zu erfahren, habe i<strong>ch</strong> ihm guten Gewissens<br />

die Erfüllung seines Wuns<strong>ch</strong>es in Aussi<strong>ch</strong>t gestellt. Aber mir war sofort klar, dass no<strong>ch</strong> andere<br />

unüberwindli<strong>ch</strong>e Hindernisse dem Vollzug der Ehe entgegenstehen.«<br />

»Wel<strong>ch</strong>e Hindernisse?«, fragte la Azteca.<br />

»Der Prinz hat die Taufe empfangen«, erklärte Cortés. »Und die <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Religion verdammt<br />

die Tat des Prinzen, die Verführung der eigenen S<strong>ch</strong>wester, als Todsünde. Dass der Prinz<br />

in eheli<strong>ch</strong>er Gemeins<strong>ch</strong>aft mit seiner S<strong>ch</strong>wester lebt, ist ein so unsühnbares Verbre<strong>ch</strong>en, dass nur<br />

der Heilige Vater in Rom ihn davon losspre<strong>ch</strong>en kann. Die Ges<strong>ch</strong>wisterehe muss ges<strong>ch</strong>ieden werden,<br />

dafür werde i<strong>ch</strong> sorgen.«<br />

»Um mi<strong>ch</strong> an ihn zu vers<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>ern!«, sagte la Azteca bitter.<br />

»Nein, i<strong>ch</strong> will ihn ni<strong>ch</strong>t mit dir verheiraten. I<strong>ch</strong> werde ihn auf einem kastilis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>iff na<strong>ch</strong><br />

Europa senden, na<strong>ch</strong> Rom zum Papst! Mir ers<strong>ch</strong>eint allerdings fragli<strong>ch</strong>, ob er bis na<strong>ch</strong> Rom gelangen,<br />

den Papst spre<strong>ch</strong>en und die Vergebung seiner Todsünde erlangen kann. Sollte ihm das wirkli<strong>ch</strong><br />

gelingen, werden Jahre darüber vergehen, und bis dahin wirst du längst eines anderen Mannes<br />

Weib sein.«<br />

»Deine Soldaten nannten mi<strong>ch</strong> ›rote Hure‹. Und wie eine Hure willst du mi<strong>ch</strong> weitergeben.<br />

I<strong>ch</strong> war die Geliebte des Grünen Steins«, erwiderte die Prinzessin, »darum bin i<strong>ch</strong> zu ho<strong>ch</strong> und zu<br />

niedrig für einen re<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>affenen Mann. Außerdem irrst du, wenn du glaubst, du könntest die Ges<strong>ch</strong>wisterehe<br />

lösen. Maisblume wird si<strong>ch</strong> weigern, ihren Gatten freizugeben.«<br />

»Die To<strong>ch</strong>ter Moctezumas wird si<strong>ch</strong> fügen, wenn i<strong>ch</strong> befehle!«, sagte Cortés.<br />

Do<strong>ch</strong> Cortés erfuhr bald, dass der Trotz der Prinzessin Maisblume härter war als sein Wille.<br />

Dur<strong>ch</strong> Pater Olmedo ließ er feierli<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>eidung verkünden, errei<strong>ch</strong>te damit aber nur wenig. Die<br />

Prinzessin blieb bei ihrer Weigerung; die Allma<strong>ch</strong>t des weißen Gottes endete am Lä<strong>ch</strong>eln dieses<br />

Mäd<strong>ch</strong>ens. Da traf es si<strong>ch</strong> gut, dass Cortés eine der zahllosen Bitts<strong>ch</strong>riften des s<strong>ch</strong>reibseligen<br />

Querulanten Alonso de Grado in die Hände gelangte, in dem er die To<strong>ch</strong>ter Moctezumas einforderte,<br />

da er sie beim Patollispiel dem König abgewonnen habe. Alonso de Grado war ein S<strong>ch</strong>napphahn<br />

und Wüstling, do<strong>ch</strong> Cortés fiel es ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>wer, ihn mit der To<strong>ch</strong>ter Moctezumas zu verloben.<br />

*<br />

Velásquez de León ers<strong>ch</strong>ien na<strong>ch</strong> nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>em Mars<strong>ch</strong> mit einem kleinen Heer überras<strong>ch</strong>end vor<br />

dem Wassers<strong>ch</strong>loss Atlihuetza, umzingelte die Burg und stürmte sie. Kiefernzweig wurde überwältigt<br />

und in Ketten gelegt; au<strong>ch</strong> die zwei Diener, die Windende S<strong>ch</strong>lange in die S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t gestoßen<br />

hatten, wurden ergriffen. Sonnenstein entwi<strong>ch</strong> während des Kampfes aus der Burg. Die Gefangenen<br />

wurden na<strong>ch</strong> Tlaxcala gebra<strong>ch</strong>t. Dort ließ Velásquez de León Kiefernzweig den Prozess ma<strong>ch</strong>en.<br />

Die Leitung des Prozesses lag in den Händen des Ri<strong>ch</strong>ters Moreno Madrano. Er kam aus


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 266<br />

Teno<strong>ch</strong>titlán und bra<strong>ch</strong>te das Protokoll der Aussagen Lenceros mit. Man hatte inzwis<strong>ch</strong>en die vom<br />

Eremiten bezei<strong>ch</strong>nete Stelle aufgesu<strong>ch</strong>t und dort eine weibli<strong>ch</strong>e Lei<strong>ch</strong>e gefunden; Gesi<strong>ch</strong>t und<br />

Körper waren von Geiern zerhackt, der Rest halb verwest, do<strong>ch</strong> Kleider und S<strong>ch</strong>muck wurden als<br />

Eigentum der Windende S<strong>ch</strong>lange erkannt. Auf Grund dieser Tatsa<strong>ch</strong>e befahl Moreno Madrano,<br />

die zwei Diener zu foltern. Sie legten ein Geständnis ab und gaben an, Kiefernzweig habe sie mit<br />

dem Mord beauftragt. Als man ihnen sagte, Kiefernzweig leugne seine S<strong>ch</strong>uld, klagten sie ihn an,<br />

außer seiner Gattin au<strong>ch</strong> seinen ältesten Sohn, den Kleinen Pfeil, getötet zu haben; man müsse<br />

nur im fürstli<strong>ch</strong>en Tecpan in der Götterkammer na<strong>ch</strong>graben, dort werde man die Überreste des<br />

Kindes finden.<br />

Der Ri<strong>ch</strong>ter veranlasste nun den Prior des <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Klosters in Tlaxcala, Juan de las<br />

Varillas, die jüngeren Brüder des Kleinen Pfeils, die mit anderen Adelskindern eine spanis<strong>ch</strong>katholis<strong>ch</strong>e<br />

Erziehung erhielten, auszufragen, ob sie vom Kindesmord wüssten. Do<strong>ch</strong> die Knaben<br />

s<strong>ch</strong>wiegen; niemand konnte von ihnen verlangen, ihren eigenen Vater zu verraten. Als die Kastilier<br />

in der Götterkammer des Tecpans na<strong>ch</strong>gruben, stießen sie auf den vers<strong>ch</strong>arrten Knaben. Die Lei<strong>ch</strong>e<br />

war kaum verwest; Olmedo und Juan de las Varillas deuteten es als ein Wunder des Himmels,<br />

aber es war wohl dem vulkanis<strong>ch</strong>en Boden zuzus<strong>ch</strong>reiben, dass die Lei<strong>ch</strong>e kaum eine Spur von<br />

Vermoderung aufwies. Beim Lei<strong>ch</strong>enbegängnis in der Kapelle des Klosters nannte der Prior ihn<br />

»den ersten Blutzeugen der Neuen Welt«.<br />

Der Fürst wurde zum Tod dur<strong>ch</strong> den Strang verurteilt. Er nahm die Urteilsverkündigung mit<br />

Glei<strong>ch</strong>mut hin. Velásquez de León erri<strong>ch</strong>tete den Galgen inmitten der Stadt Tlaxcala. Prinz Goldmaske<br />

weilte in Teno<strong>ch</strong>titlán; seine und des Fürsten Kiefernzweig Anhänger waren führerlos. Seit<br />

Moctezumas Gefangennahme triumphierten die Christenfreunde Tlaxcalas. Und selbst die Tetrar<strong>ch</strong>en<br />

und die anderen Stammeshäupter im Hohen Rat billigten die Hinri<strong>ch</strong>tung des stolzen<br />

Tlaxcaltekenfürsten.<br />

Unter dem Galgen hielt Kiefernzweig eine Rede an die Zus<strong>ch</strong>auer:<br />

»O ihr tapferen Tlatepoca, ihr meine Oheime und Brüder! Seid ihr gekommen, um zuzus<strong>ch</strong>auen,<br />

wie der letzte Tlaxcalteke stirbt? Oder seid ihr gekommen, mi<strong>ch</strong> mit euren Tränen in den<br />

Tod zu begleiten? Denn Feiglinge seid ihr, sonst stünde i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t hier! Sonst stünde i<strong>ch</strong> an der<br />

Spitze eurer Adler und Jaguare und würde mit S<strong>ch</strong>nabel und Klaue das Fleis<strong>ch</strong> der Gelbhaarigen<br />

zerhacken! Do<strong>ch</strong> wo sind eure Adler und Jaguare? Ist dies no<strong>ch</strong> Tlaxcala? So s<strong>ch</strong>aut denn zu, wie<br />

der letzte Tlaxcalteke stirbt, und erzählt euren Enkeln, dass er la<strong>ch</strong>end ins Land der Sonne ging,<br />

froh im Herzen, die S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> Tlaxcalas ni<strong>ch</strong>t mehr zu sehen!«<br />

Velásquez de León gab das Zei<strong>ch</strong>en. Der Henkerskne<strong>ch</strong>t öffnete die Falltür. Kiefernzweig<br />

stürzte in die Tiefe, und das Seil straffte si<strong>ch</strong>. Der Körper zuckte und zappelte no<strong>ch</strong> kurze Zeit,<br />

do<strong>ch</strong> Kiefernzweig war na<strong>ch</strong> dem Sturz s<strong>ch</strong>on tot: Man hatte das Knacken der Genickwirbel deutli<strong>ch</strong><br />

hören können.<br />

19. Moctezuma<br />

»Inzwis<strong>ch</strong>en hatte Velásquez, der Gobernador von Kuba, der seine Angelegenheit in Spanien<br />

dur<strong>ch</strong> Fonseca gut vertreten wusste und selbst in Westindien mit größerer Ma<strong>ch</strong>tbefugnis<br />

ausgestattet worden war, den Ents<strong>ch</strong>luss gefasst, eine Kriegsflotte an die aztekis<strong>ch</strong>e Küste<br />

zu senden, um Ra<strong>ch</strong>e an Cortés zu nehmen.«<br />

(M. León-Portilla/R. Heuer, Rückkehr der Götter)<br />

Die Verlobung der Prinzessin Maisblume mit Alonso de Grado erfüllte ganz Mexico mit Entsetzen.<br />

Dass die To<strong>ch</strong>ter des Herrn der Welt mit einem Soldaten des Eroberer das Bett teilen sollte, war<br />

eine ru<strong>ch</strong>lose Entweihung, eine S<strong>ch</strong>ändung!


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 267<br />

Der Graue Honigbär hatte Maisblume bena<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>tigen lassen. Als ihn sein blinder Knabe ans<br />

Gartenufer gerudert hatte, erwartete sie ihn bereits. In einem kleinen Lorbeerhain konnten sie<br />

unbelaus<strong>ch</strong>t reden.<br />

»O Prinzessin«, sagte der Greis. »Einst kamst du, Rat von mir zu holen, su<strong>ch</strong>test mi<strong>ch</strong> auf in<br />

meiner armseligen Wohnung. Der Zornige Herr hat meine Wohnung niederreißen lassen bis auf<br />

den letzten Stein, sodass das Wasser des Sees dort flutet, wo einst die Grundmauern standen. Du<br />

könntest mein Haus ni<strong>ch</strong>t finden, selbst wenn du zu den Wasserjungfrauen hinabstiegst. I<strong>ch</strong> lebe<br />

im Versteck und bin meines Lebens ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er. Aber da i<strong>ch</strong> weiß, dass du in Not bist, komme i<strong>ch</strong><br />

zu dir.«<br />

»O Zauberer«, sagte die Prinzessin. »Bald werde i<strong>ch</strong> zu den Wasserjungfrauen hinabsteigen,<br />

dass sie mi<strong>ch</strong> retten vor dem Gelbhaarigen, dem der Grüne Stein mi<strong>ch</strong> angelobt hat. No<strong>ch</strong><br />

vor dem Tag der Ho<strong>ch</strong>zeit werde i<strong>ch</strong> sterben.«<br />

»Au<strong>ch</strong> damals sagtest du, du müsstest sterben. Dann aber hast du meinen Rat befolgt.«<br />

»Weißt du denn wieder einen Rat für mi<strong>ch</strong>, Alter? Die Blume der Liebesgöttin hat den S<strong>ch</strong>lagenden<br />

Falken und mi<strong>ch</strong> berührt. Ihm bin i<strong>ch</strong> verloren, wenn der weiße Hund mi<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ändet!«<br />

»Mein Rat ist derselbe wie damals: Vollbringe eine S<strong>ch</strong>reckenstat, die deine Reinheit vor aller<br />

Welt enthüllt!«<br />

»Mein Tod wird sie enthüllen!«<br />

»Nein, sein Tod! Du hast einen starken Willen.«<br />

»Ja, und mein Messer ist s<strong>ch</strong>arf – meine linke Brust bezeugt es. Do<strong>ch</strong> wie vermag i<strong>ch</strong>, ein<br />

Weib, ein wildes Tier zu töten? Der Gelbhaarige geht nie ohne Waffen aus, und seine Brust deckt<br />

ein Panzer. Nie könnte mein Messer den Weg zu seinem Herzen finden.«<br />

»Wilde Tiere fängt man in Fallen, o edle Prinzessin. Locke ihn in ein S<strong>ch</strong>witzbad. Sobald er<br />

si<strong>ch</strong> dort entkleidet und si<strong>ch</strong> seiner Waffen entledigt hat, kannst du ihn töten.«<br />

»O kluger Zauberer, einst sagtest du, die Weisheit der Sterne habe keinen Preis. Und du<br />

hast mi<strong>ch</strong> gebeten, meine Dankbarkeit zu verwahren und für di<strong>ch</strong> aufzuheben.«<br />

»Das habe i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vergessen, Prinzessin. Und jetzt will i<strong>ch</strong> den Dank von dir fordern.«<br />

»Was begehrst du?«<br />

»Sag dem Zornigen Herrn, dass i<strong>ch</strong> bereit bin, seinem Ruf zu folgen. Den Träumer soll er zu<br />

Sacusín senden, wenn er einen Weg aus den S<strong>ch</strong>wierigkeiten su<strong>ch</strong>t oder meines Rates bedarf.«<br />

Maisblume verspra<strong>ch</strong>, es ihrem Vater auszuri<strong>ch</strong>ten, und der Graue Honigbär stieg ins Boot<br />

und ließ si<strong>ch</strong> vom blinden Knaben heim zur Toteninsel rudern.<br />

S<strong>ch</strong>on am Tag darauf sandte Moctezuma den Träumer zum alten Zauberer. Cortés verlangte,<br />

der König und seine aztekis<strong>ch</strong>en Vasallen müssten dem großen König des Ostens den Lehenseid<br />

leisten und er solle die Fürsten Anahuacs zur feierli<strong>ch</strong>en Ablegung des S<strong>ch</strong>wurs in den<br />

alten Tecpan laden. Moctezuma hatte zugestimmt, wie er jedem Wuns<strong>ch</strong> seiner Peiniger zustimmte.<br />

Do<strong>ch</strong> heimli<strong>ch</strong> sträubte er si<strong>ch</strong>, sein Wort einzulösen, da er erkannte, dass der letzte S<strong>ch</strong>ein<br />

seiner Herrs<strong>ch</strong>aft damit s<strong>ch</strong>winden würde. So ri<strong>ch</strong>tete er 0seine letzte s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e Hoffnung auf die<br />

Klugheit des alten Zauberers, den Geä<strong>ch</strong>teten, den er für<strong>ch</strong>tete, hasste und beinahe liebte.<br />

Am Na<strong>ch</strong>mittag ers<strong>ch</strong>ien der Zauberer. Der Zornige Herr empfing ihn ohne Zeugen in seinem<br />

S<strong>ch</strong>lafgema<strong>ch</strong>.<br />

»O großer Zauberer, du kluger, einst habe i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t auf di<strong>ch</strong> gehört, als du mi<strong>ch</strong> hinab ins<br />

Land der Nebeltoten zu Huemac führtest. Nun aber, o Greis, will i<strong>ch</strong> auf di<strong>ch</strong> hören, wie man dem<br />

S<strong>ch</strong>icksalsspru<strong>ch</strong> der Götter laus<strong>ch</strong>t.« Und er legte ihm dar, was sein Herz bedrückte.<br />

»O großer König, o Herrs<strong>ch</strong>er«, sagte der Graue Honigbär. »Sende heute no<strong>ch</strong> Boten an die<br />

Fürsten Anahuacs und lade sie als Eideshelfer in den alten Tecpan ein, damit die weißen Eroberer<br />

keinen Verda<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>öpfen. Do<strong>ch</strong> den Treueid wirst du ni<strong>ch</strong>t leisten!«<br />

»O Zauberer«, sagte Moctezuma bitter, »i<strong>ch</strong> wohne bei Freunden. Freiwillig zog i<strong>ch</strong> zu ihnen<br />

als Gast. Wie kann man Freunden eine Bitte abs<strong>ch</strong>lagen?«<br />

»O großer König, o Herrs<strong>ch</strong>er! Heute Na<strong>ch</strong>t wirst du in den Huei-Tecpan zurückkehren!«<br />

Freude und S<strong>ch</strong>recken spiegelten si<strong>ch</strong> auf dem Gesi<strong>ch</strong>t Moctezumas. Entgeistert starrte er<br />

dem Zauberer in die Augen. »Was redest du, o Greis! Vermagst du die Pforte zu öffnen?«<br />

»Nein«, sagte der Graue Honigbär. »Ni<strong>ch</strong>t die Tore des Tecpans werden si<strong>ch</strong> dir auftun.<br />

Aber öffnen werde i<strong>ch</strong> die Mauer dieses S<strong>ch</strong>lafgema<strong>ch</strong>s – an jener Wand dort, die an die Straße<br />

grenzt. Mit meinen Freunden werde i<strong>ch</strong> gegen Mitterna<strong>ch</strong>t die Steine herausbre<strong>ch</strong>en. Wo pflegt der


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 268<br />

Krieger zu stehen, der di<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>ts bewa<strong>ch</strong>t?«<br />

»Auf dem Gang draußen vor der Tür.«<br />

»Von dort aus kann er die Wand hinter dem Bettvorhang ni<strong>ch</strong>t sehen. Und er kann draußen<br />

au<strong>ch</strong> das Geräus<strong>ch</strong> der ausbre<strong>ch</strong>enden Steine ni<strong>ch</strong>t hören. Lass ihn ni<strong>ch</strong>t in dein Gema<strong>ch</strong>, sonst<br />

ist die Mühe von Wo<strong>ch</strong>en vertan! Seit vielen Nä<strong>ch</strong>ten lockerten meine Freunde und i<strong>ch</strong> die Mauersteine<br />

– du hast es in deinem S<strong>ch</strong>lummer nur ni<strong>ch</strong>t vernommen.«<br />

*<br />

Moctezuma war beim Patollispiel mit den kastilis<strong>ch</strong>en Kavalieren überaus gesprä<strong>ch</strong>ig und aufgeräumt,<br />

und er vergeudete no<strong>ch</strong> mehr Goldbohnen als gewöhnli<strong>ch</strong>. Je näher die Na<strong>ch</strong>t heranrückte,<br />

umso ausgelassener war seine Heiterkeit, umso quälender aber au<strong>ch</strong> seine heimli<strong>ch</strong>e Rastlosigkeit.<br />

Früher als übli<strong>ch</strong> begab er si<strong>ch</strong> zur Ruhe, s<strong>ch</strong>erzte dabei wie gewöhnli<strong>ch</strong> mit dem Pagen<br />

Orteguilla und den Sklaven, die ihm beim Auskleiden halfen. Er entließ sie bald. Kaum allein, band<br />

er si<strong>ch</strong> die Türkissandalen wieder an die Füße, kleidete und s<strong>ch</strong>mückte si<strong>ch</strong> von neuem. Uns<strong>ch</strong>lüssig<br />

ging er auf und ab. Dann fiel ihm ein, dass der S<strong>ch</strong>ildwa<strong>ch</strong>e draußen seine unruhige<br />

Wanderung auffallen könnte, und legte si<strong>ch</strong> angekleidet aufs Bett.<br />

Fiebernd und s<strong>ch</strong>reckhaft jagten si<strong>ch</strong> seine Gedanken. Er sah die Befreiung missglückt, sah<br />

si<strong>ch</strong> auf der Flu<strong>ch</strong>t, verfolgt, eingeholt, wieder eingefangen. Angsts<strong>ch</strong>weiß trat ihm auf die Stirn.<br />

Eintönig hallte der s<strong>ch</strong>were Tritt des Wa<strong>ch</strong>tpostens draußen vor der Tür. Alonso de Ojeda,<br />

der Bruder der olivenblei<strong>ch</strong>en Isabelle, hatte in dieser Na<strong>ch</strong>t Wa<strong>ch</strong>tdienst. Moctezuma kannte ihn<br />

und mo<strong>ch</strong>te ihn gut leiden. Jüngst hatte er eine seidene Geldbörse mit vielen kleinen Täs<strong>ch</strong><strong>ch</strong>en in<br />

den Händen des jungen Soldaten gesehen, hatte sie si<strong>ch</strong> zeigen lassen, hatte sie bewundert und<br />

sie si<strong>ch</strong> ausgebeten. Und da Ojeda ni<strong>ch</strong>t gezögert hatte, si<strong>ch</strong> mit<br />

artigen Worten von dem hübs<strong>ch</strong>en Seidenbeutel aus Sevilla zu<br />

trennen, hatte Moctezuma ihm als Entgelt zwei außerordentli<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>öne Mäd<strong>ch</strong>en aus dem Haus der Vierhundert Frauen und eine<br />

Fuhre Kakao zum Ges<strong>ch</strong>enk gema<strong>ch</strong>t.<br />

Moctezuma laus<strong>ch</strong>te, do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> rührte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts. Seine<br />

Aufregung wu<strong>ch</strong>s, wurde beinahe unerträgli<strong>ch</strong>. Do<strong>ch</strong> eine halbe<br />

Stunde vor Mitterna<strong>ch</strong>t fiel die Spannung von ihm ab, und er fragte<br />

si<strong>ch</strong>: Wozu no<strong>ch</strong> hoffen? Wozu si<strong>ch</strong> ängstigen? Daliegen, tot sein<br />

– nur das wäre Befreiung, nur das!<br />

In seiner Mutlosigkeit empörte er si<strong>ch</strong> gegen die unerbetenen<br />

Befreier. Ein Feind war der Zauberer immer gewesen; Gutes konnte<br />

von ihm au<strong>ch</strong> jetzt ni<strong>ch</strong>t kommen. Unheimli<strong>ch</strong> wie er mo<strong>ch</strong>ten<br />

au<strong>ch</strong> seine ungenannten Helfer sein. Wer waren sie? Warum vers<strong>ch</strong>wieg<br />

der Zauberer ihre Namen? War der S<strong>ch</strong>lagende Falke<br />

dabei? Und andere Verbannte, die in geheimen S<strong>ch</strong>lupflö<strong>ch</strong>ern<br />

hausten...? Hatten sie vor, si<strong>ch</strong> seiner zu bemä<strong>ch</strong>tigen, um ihn<br />

ni<strong>ch</strong>t minder zum S<strong>ch</strong>attenkönig zu ma<strong>ch</strong>en, als die Christen es<br />

taten...? Nein, lieber im Ballspielhaus mit krankem Herzen Tag für<br />

Tag la<strong>ch</strong>en, als eine s<strong>ch</strong>einbare Freiheit dur<strong>ch</strong> Vers<strong>ch</strong>wörer zu<br />

erlangen, deren Marionette er dann sein würde!<br />

Dann wieder verwarf er seinen Kleinmut. Für die Mexica,<br />

selbst wenn sie ihn hassten, war er der Herr der Herren, ein Gott aus Fleis<strong>ch</strong> und Blut. Wieder frei<br />

sein, egal dur<strong>ch</strong> wen, nur wieder frei sein! Herrs<strong>ch</strong>en würde er, strafen, si<strong>ch</strong> rä<strong>ch</strong>en... Stolz überkam<br />

ihn, dass sie ihn retten wollten. Moctezuma malte si<strong>ch</strong> seine Rückkehr in den Huei-Tecpan<br />

aus, und dass alles so sein werde wie früher.<br />

Wieder laus<strong>ch</strong>te er gespannt. No<strong>ch</strong> war kein Laut zu hören. Da erkannte er plötzli<strong>ch</strong>, dass<br />

ni<strong>ch</strong>ts mehr sein konnte wie früher; dass es Selbstbetrug war, wenn er bisher auf das Orakel des<br />

S<strong>ch</strong>langenbergs gehofft und gewartet hatte. Ihm wurde klar, dass er niemals in den Huei-Tecpan<br />

zurück konnte, dass sein Leben an das der Christen gebunden war. Nur no<strong>ch</strong> mit ihnen konnte er<br />

Herrs<strong>ch</strong>er sein – und mit ihnen musste er untergehen. Nein, er durfte ni<strong>ch</strong>t fort, das S<strong>ch</strong>icksal hatte<br />

ihn in einem unzerreißbaren Netz gefangen. Ein Fis<strong>ch</strong> kann im Netz leben, solange es im Wasser


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 269<br />

bleibt. Wer das Netz ans Land zieht, tötet den Fis<strong>ch</strong>.<br />

Moctezuma erhob si<strong>ch</strong>, ging zur Tür und rief den Wa<strong>ch</strong>tposten ins S<strong>ch</strong>lafgema<strong>ch</strong>. Erstaunt<br />

sah Ojeda, dass Moctezuma angekleidet war. Ihm fiel au<strong>ch</strong> auf, wie fieberhaft des Königs Augen<br />

flackerten, wie seine Hände bebten. Ob Majestät aus einem bösen Traum erwa<strong>ch</strong>t sei? fragte Ojeda<br />

in fehlerhaftem Mexicanis<strong>ch</strong>.<br />

Ja, er habe einen fur<strong>ch</strong>tbaren Traum gehabt, log Moctezuma. Ein riesenhafter Adler habe<br />

si<strong>ch</strong> auf seinem Bett niedergelassen, habe ihn gepackt und dur<strong>ch</strong> die Lüfte in eine Grotte getragen,<br />

habe ihn wie einen Lei<strong>ch</strong>nam auf den Boden.<br />

Er hatte kaum zu reden begonnen, da vernahm er das längst erwartete Geräus<strong>ch</strong> an der<br />

Wand – endli<strong>ch</strong>! Ganz leise bröckelte und rieselte der gelockerte Mörtel. Moctezuma spra<strong>ch</strong> immer<br />

s<strong>ch</strong>neller, immer lauter; er wollte das Geräus<strong>ch</strong> übertönen. Kalter S<strong>ch</strong>weiß glänzte in seinem Gesi<strong>ch</strong>t.<br />

Er hatte Ojeda ins S<strong>ch</strong>lafgema<strong>ch</strong> gerufen, um si<strong>ch</strong> selbst die Flu<strong>ch</strong>t unmögli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en,<br />

do<strong>ch</strong> er für<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> vor dem Augenblick, da das Geräus<strong>ch</strong> deutli<strong>ch</strong>er wurde und von Ojeda<br />

gehört wurde. Darum s<strong>ch</strong>rie er wie ein Kranker im Fiebers<strong>ch</strong>auer – um plötzli<strong>ch</strong> mitten im Satz zu<br />

verstummen. Ojeda starrte ihn an. In die jähe Stille hinein hörte man dumpf und unverkennbar das<br />

Rieseln sandigen Mörtels.<br />

Ojeda hob die Hand, wies mit dem Zeigefinger auf die Wand. Flüsternd sagte er:<br />

»Das muss i<strong>ch</strong> dem capitán generál melden, Majestät!«<br />

Er eilte zur Tür, do<strong>ch</strong> ehe er sie errei<strong>ch</strong>te, sah er das kleine Lo<strong>ch</strong> in der Wand. Ojeda blieb<br />

stehen. Unsi<strong>ch</strong>tbare Hände rissen Steine heraus, und das Lo<strong>ch</strong> vergrößerte si<strong>ch</strong> ras<strong>ch</strong>. Länger<br />

durfte Ojeda ni<strong>ch</strong>t warten. Er stürmte davon.<br />

Dur<strong>ch</strong> die nur wenige Fuß hohe Öffnung kro<strong>ch</strong> der Zauberer herein.<br />

»O großer König! Warum hast du meinen Rat ni<strong>ch</strong>t befolgt, warum hast du den Gelbhaarigen<br />

hereingelassen? Do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> ist Zeit – s<strong>ch</strong>nell, s<strong>ch</strong>nell, komm! Der Huei-Tecpan erwartet di<strong>ch</strong>!«<br />

»Nein! Fliehe ohne mi<strong>ch</strong>!«, rief Moctezuma. »Glei<strong>ch</strong> werden sie hier sein und den Palast<br />

umstellen. Rettet euer Leben. I<strong>ch</strong> bleibe. In den Huei-Tecpan kann i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zurück!«<br />

»O Unser Herr, warum ni<strong>ch</strong>t?«<br />

Da ri<strong>ch</strong>tete Moctezuma si<strong>ch</strong> kraftvoll auf, als würde er si<strong>ch</strong> ein letztes Mal seiner einstigen<br />

Herrli<strong>ch</strong>keit bewusst. Und mit stolzer Feigheit sagte er:<br />

»Ein König s<strong>ch</strong>reitet dur<strong>ch</strong> offene Tore. I<strong>ch</strong> bin kein S<strong>ch</strong>akal, der dur<strong>ch</strong> Lö<strong>ch</strong>er s<strong>ch</strong>lei<strong>ch</strong>t!«<br />

Da kro<strong>ch</strong> der alte Zauberer in das Lo<strong>ch</strong> zurück und verließ ihn. Und in das Knirs<strong>ch</strong>en seiner<br />

S<strong>ch</strong>ritte im geheimen Gang vernahm Moctezuma die Stimme seines verbannten Neffen<br />

Cuauhtémoc, des S<strong>ch</strong>lagenden Falkens:<br />

»Von jetzt an hofft Mexico ni<strong>ch</strong>t mehr auf di<strong>ch</strong>, verlorener König!«<br />

*<br />

Den Kastiliern gelang es ni<strong>ch</strong>t, der Eindringlinge habhaft zu werden. Moctezuma wurde fortan<br />

strenger bewa<strong>ch</strong>t. Fähnri<strong>ch</strong> Rodrigo Alvarez Chico bewa<strong>ch</strong>te ab sofort mit vierzig Mann die Rückseite<br />

und die Seitenflügel des Tecpans, Leutnant Andrés de Monjaráz wa<strong>ch</strong>te mit zwanzig Mann<br />

über die Vorderseite.<br />

Das Ablegen des Eides verlief so eindrucksvoll, wie von Cortés geplant. Mit Ausnahme des<br />

Königs von Matlatzinco, der seinem S<strong>ch</strong>wiegervater eine fre<strong>ch</strong>e Absage ges<strong>ch</strong>ickt hatte, waren die<br />

Fürsten Anahuacs und der hohe Adel Mexicos gehorsam dem Ruf ihres Oberherrn gefolgt. Tausende<br />

von Federkronen wehten und s<strong>ch</strong>immerten im S<strong>ch</strong>langensaal - dem großen Audienzsaal,<br />

wo jüngst la Azteca mit Avila gefo<strong>ch</strong>ten hatte. Neben den Quetzalbüs<strong>ch</strong>en ers<strong>ch</strong>ienen die kastilis<strong>ch</strong>en<br />

Stahlhelme dunkelgrau und nü<strong>ch</strong>tern.<br />

Mit leiser Stimme hielt Moctezuma eine Rede an die Versammelten; ein Höfling, der ihm zur<br />

Seite stand, rief die Worte des Königs in den Saal. Moctezuma setzte seinen Vasallen auseinander,<br />

weshalb er sie gerufen habe.<br />

»Alle Beherrs<strong>ch</strong>er Anahuacs, bis herab zu mir, waren ledigli<strong>ch</strong> Stellvertreter Quetzalcoatls,<br />

unseres Urkönigs. Au<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> habe die Goldkrone Mexicos nur als sein Vertreter getragen. Nun aber<br />

haben die weißen Sonnensöhne uns kundgetan, dass der wahre Na<strong>ch</strong>folger Quetzalcoatls jenseits<br />

des Himmelswassers lebt. Seine Re<strong>ch</strong>te müssen wir anerkennen. So bin i<strong>ch</strong> gewillt, dem Herrn<br />

des Ostens Treue zu s<strong>ch</strong>wören, und i<strong>ch</strong> bitte eu<strong>ch</strong>, meine Vasallen, es mir glei<strong>ch</strong> zu tun.«


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 270<br />

Moctezuma spra<strong>ch</strong> lange und mit tränenerstickter Stimme; mehrmals unterbra<strong>ch</strong> er vor Ergriffenheit<br />

seine Rede. Im Saal war es still, do<strong>ch</strong> hier und da war ein vers<strong>ch</strong>lucktes Räuspern zu<br />

vernehmen. Nur zwanzig im Vordergrund stehende Kaziken wahrten eiserne Mienen und zeigten<br />

keine Gefühlsregung.<br />

Cortés, der alles beoba<strong>ch</strong>tete, für<strong>ch</strong>tete ein Ums<strong>ch</strong>lagen der gedrückten Stimmung. Ras<strong>ch</strong><br />

ließ er Marina verkünden, dass König Don Carlos de Austria vom Lehensre<strong>ch</strong>t nie Gebrau<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en<br />

werde. Es handle si<strong>ch</strong> nur um die Anerkennung einer von niemand angezweifelten Tatsa<strong>ch</strong>e<br />

– die viellei<strong>ch</strong>t aber na<strong>ch</strong> Jahrhunderten in Vergessenheit geraten könne. Darum müsse sie eidli<strong>ch</strong><br />

festgelegt werden; aus keinem anderen Grund habe sein Herr ihn über das Weltmeer na<strong>ch</strong><br />

Anahuac gesandt. Sei der Eid erst abgelegt, sei seine Aufgabe in diesem Land erledigt; dann werde<br />

er Teno<strong>ch</strong>titlán mit seinem Christenheer friedli<strong>ch</strong> und zufrieden verlassen und zu seinem Kaiser<br />

zurückkehren, um ihm die Kunde vom Lehenseid zu überbringen.<br />

Wie Cortés wussten au<strong>ch</strong> Moctezuma, die Fürsten und Häuptlinge, dass die Christen die<br />

Wasserstadt nie aus freien Stücken verlassen würden. Denno<strong>ch</strong> hor<strong>ch</strong>ten sie auf, als hätte die<br />

Hoffnung mit Zauberstimme gelockt und getröstet. Sie seien einverstanden, riefen einige der Anwesenden;<br />

der Zornige Herr solle für sie alle s<strong>ch</strong>wören. Die Mehrzahl der Versammelten äußerte<br />

keinen Widerspru<strong>ch</strong>. Nur einer der zwanzig Kaziken im Vordergrund rief: »Erst sollen die gelbhaarigen<br />

teules abziehen, dann wollen wir s<strong>ch</strong>wören!«<br />

»Bringt die Gefangenen!«, sagte Cortés halblaut. Cristóbal de Olíd eilte mit lauten S<strong>ch</strong>ritten<br />

davon. Stille breitete si<strong>ch</strong> aus. Alle warteten. Na<strong>ch</strong> kurzer Zeit hörte man entfernte, s<strong>ch</strong>eppernde<br />

Geräus<strong>ch</strong>e, die allmähli<strong>ch</strong> lauter wurden und ans<strong>ch</strong>wollen. Dann öffnete ein Soldat die Tür, die den<br />

Zugang zu den leeren S<strong>ch</strong>atzkammern versperrte. Klirrend s<strong>ch</strong>lurften Kettenringe über Steinstufen.<br />

Ges<strong>ch</strong>leppt und gezerrt von kastilis<strong>ch</strong>en Landskne<strong>ch</strong>ten wankten fünf mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Wesen<br />

herein – der Edle Betrübte, Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange, der Überwinder, der Dur<strong>ch</strong>-Wohlgestalt-<br />

Glänzende und der Weiße Igel -, nackt, verwahrlost, s<strong>ch</strong>mutzstarrend und mit eitrigen Wunden am<br />

ganzen Körper. Sie waren mit Händen und Füßen an eine lange, von rotem Rost bedeckte Eisenkette<br />

ges<strong>ch</strong>miedet. Könige waren diese Ärmsten einst gewesen! Ausgezehrt vom Hunger, dem<br />

Wundfieber und der Verzweiflung gli<strong>ch</strong>en sie nun kaum no<strong>ch</strong> mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Wesen...<br />

Ein Seufzen ging dur<strong>ch</strong> die Zus<strong>ch</strong>auer und verstummte wieder. Alle waren entsetzt über dieses<br />

Bild des Jammers. Cacamas wegen hatte Cortés die Ges<strong>ch</strong>undenen heraufholen lassen. Für<br />

diesen einen Tag sollte der Edle Betrübte no<strong>ch</strong> einmal König von Tezcoco sein, um mit dem Zornigen<br />

Herrn und dem glei<strong>ch</strong>falls anges<strong>ch</strong>miedeten Dur<strong>ch</strong>-Wohlgestalt-Glänzenden, dem jungen König<br />

von Tacuba, das Imperium des Drei-Städte-Bundes vertreten.<br />

Als Marina die Eidesformel spra<strong>ch</strong>, die im Namen des Drei-Städte-Bundes und der versammelten<br />

Fürsten und Adligen Moctezuma na<strong>ch</strong>zuspre<strong>ch</strong>en hatte, fuhr der Edle Betrübte den König<br />

verä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> an:<br />

»Du Aasgeier Mexicos! Gib deinen eigenen Lei<strong>ch</strong>nam den fremden S<strong>ch</strong>akalen zu fressen!<br />

Wirf ihnen ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> Mexico vor, das du s<strong>ch</strong>on halb erwürgt, zerhackt und zerfetzt hast!«<br />

In seine letzten Worte hinein begannen die anderen vier Gefangenen wie Wahnsinnige zu<br />

brüllen und hoben rasselnd die anges<strong>ch</strong>miedeten Fäuste. Do<strong>ch</strong> sie konnten ni<strong>ch</strong>t verhindern, dass<br />

der Zornige Herr den Lehenseid s<strong>ch</strong>wor.<br />

Als dies ges<strong>ch</strong>ehen war, versu<strong>ch</strong>ten die zwanzig vor Moctezuma stehenden Häuptlinge<br />

Selbstmord zu begehen. Mit Kno<strong>ch</strong>endol<strong>ch</strong>en bra<strong>ch</strong>ten sie si<strong>ch</strong> fur<strong>ch</strong>tbare Wunden bei. Palastdiener<br />

eilten herbei und entrissen ihnen die Waffen. Do<strong>ch</strong> drei der Verletzten erlagen ihren Wunden.<br />

*<br />

Ende April war der Bau der beiden Brigantinen abges<strong>ch</strong>lossen. Geteert und kalfatert wurden die<br />

S<strong>ch</strong>iffe vom Stapel gelassen und mit Takelwerk und Segel versehen. Jedes konnte mehr als zweihundert<br />

Mann aufnehmen. Die Offiziere feierten das Ereignis mit einem Festbankett, und Lugo<br />

erklärte zufrieden, dass Teno<strong>ch</strong>titlán von nun an keine Mausefalle mehr sei – ni<strong>ch</strong>t einmal eine<br />

Fis<strong>ch</strong>reuse, weil man aus ihr herauss<strong>ch</strong>wimmen könne!<br />

Es war zu befür<strong>ch</strong>ten, dass die Azteken bei einer Volkserhebung zuerst die S<strong>ch</strong>iffe zerstören<br />

würden, deshalb ließ Cortés einen Kanal und einen kleinen Hafen im Palastgarten anlegen, der<br />

Tag und Na<strong>ch</strong>t bewa<strong>ch</strong>t wurde. Als Moctezuma in Begleitung von Cortés und vieler, allzu vieler


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 271<br />

Musketiere und Hellebardiere seine erste Ausfahrt über den S<strong>ch</strong>ilfsee unternahm, wunderte er<br />

si<strong>ch</strong>, dass die »Wasserhäuser« – die do<strong>ch</strong> zu seinem Vergnügen erbaut sein sollten – je zwei Kanonen<br />

an Bord hatten. Marina bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigte sein Misstrauen: die Monar<strong>ch</strong>en Europas pflegten<br />

dur<strong>ch</strong> Böllers<strong>ch</strong>üsse dem Volk bekannt zu geben, dass der König an Bord gegangen sei.<br />

Wie im Ballspielhaus und beim Patollispiel vergnügte si<strong>ch</strong> nun Moctezuma mit den Feldobristen<br />

auf den Brigantinen. Lustfahrt reihte si<strong>ch</strong> an Lustfahrt. Laut donnerten die Böllers<strong>ch</strong>üsse, und<br />

ni<strong>ch</strong>t minder unbändig dröhnte Moctezumas Gelä<strong>ch</strong>ter. Seine Krüppel und Narren, der greise<br />

Weibli<strong>ch</strong>e Zwilling und andere Würdenträger wurden seekrank, do<strong>ch</strong> Moctezuma la<strong>ch</strong>te. Seine<br />

Konkubinen zuckten beim Donner der Ges<strong>ch</strong>ütze zusammen und hielten si<strong>ch</strong> die Ohren zu – Moctezuma<br />

aber la<strong>ch</strong>te. Fis<strong>ch</strong>erboote wurden überfahren – Moctezuma la<strong>ch</strong>te. An einem windigen Tag<br />

erhielten die königli<strong>ch</strong>en Galeeren den Befehl, mit den Brigantinen um die Wette zu fahren; nur mit<br />

Ruderern bemannt, blieben sie weit hinter den Seglern zurück. Moctezuma la<strong>ch</strong>te. Merkte er, dass<br />

die aztekis<strong>ch</strong>en Ruderer si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t besonders anstrengten? Dass an windarmen Tagen die Galeeren<br />

gewiss ras<strong>ch</strong>er über den See zu bewegen wären? Er stand auf dem erhöhten Poopdeck am<br />

Heck und blickte den azurblauen, s<strong>ch</strong>äumenden Wasserfur<strong>ch</strong>en na<strong>ch</strong>, wie sie fortglitten und si<strong>ch</strong><br />

erweiterten. Graue Möwen umkreisten ihn lärmend. Und la<strong>ch</strong>end überlegte er: Ein Sprung, und<br />

verstummen würde mein s<strong>ch</strong>reiendes Herz!... Do<strong>ch</strong> dann da<strong>ch</strong>te er weiter: Die Gelbhaarigen würden<br />

mir na<strong>ch</strong>springen, mi<strong>ch</strong> herausfis<strong>ch</strong>en, mi<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> strenger bewa<strong>ch</strong>en als zuvor!<br />

Meist nahm er den Träumer mit auf die Lustfahrten, zuweilen au<strong>ch</strong> den alten Musikmeister<br />

Löffelreihers<strong>ch</strong>lange und seinen Sänger<strong>ch</strong>or. Ein großes Segel war über das Deck gespannt, um<br />

die sengenden Sonnenstrahlen abzuhalten. Inmitten einer S<strong>ch</strong>ar zartgliedriger S<strong>ch</strong>önen aus dem<br />

Haus der Vierhundert Frauen hockte er auf seinem S<strong>ch</strong>emel, ließ si<strong>ch</strong> vom Di<strong>ch</strong>ter neue Lieder<br />

oder vom Musikmeister alte, bekannte Gesänge vortragen. Ans<strong>ch</strong>ließend belohnte Moctezuma die<br />

Sänger – und la<strong>ch</strong>te.<br />

Dann aber hatten die Vergnügungen ein Ende. Eines Tages ließ Moctezuma si<strong>ch</strong> mit seinen<br />

aztekis<strong>ch</strong>en Hofjägern von den Brigantinen an das südöstli<strong>ch</strong>e Ufer bringen, um in einem seiner<br />

bewaldeten Jagdgärten eine Pumahatz zu veranstalten. Treiber hatten die Raubtiere von den Abhängen<br />

der Weißen Frau hinab ins Ho<strong>ch</strong>tal und bis in die Forste am See ges<strong>ch</strong>eu<strong>ch</strong>t; jetzt trieben<br />

sie die Tiere Moctezuma zu. Der König allein hatte das Re<strong>ch</strong>t, einen Puma zu erlegen. Cortés und<br />

Alvarado, die Moctezuma begleiteten, wollten ihm dieses Vorre<strong>ch</strong>t lassen. So warteten sie neben<br />

Moctezuma, als aus dem Unterholz ein ausgewa<strong>ch</strong>sener Puma auf sie zu kam. Moctezuma hob<br />

den Speer, zielte, lä<strong>ch</strong>elte und warf den Speer ho<strong>ch</strong> über den Rücken des Pumas hinweg. Das<br />

Tier, das si<strong>ch</strong> von allen Seiten umstellt sah, fau<strong>ch</strong>te, brüllte, duckte si<strong>ch</strong> und tat einen Sprung auf<br />

den König zu. Im selben Augenblick warf si<strong>ch</strong> ein indianis<strong>ch</strong>er Jäger vor den König. Das Tier<br />

s<strong>ch</strong>lug seine Pranken in den Leib des Mannes, zerfleis<strong>ch</strong>te seine Armkno<strong>ch</strong>en, verbiss si<strong>ch</strong> in ihn.<br />

Tier und Mens<strong>ch</strong> wälzten si<strong>ch</strong> am Boden. Der Puma wurde niedergema<strong>ch</strong>t, der Indianer verstarb<br />

no<strong>ch</strong> an Ort und Stelle.<br />

Cortés bestand darauf, dass die Jagd abgebro<strong>ch</strong>en wurde. Während der Rückfahrt teilte er<br />

Moctezuma mit, dass er in Zukunft keine Raubtierjagden mehr gestatten könne, da ihm das Leben<br />

des Königs zu wertvoll sei.<br />

*<br />

Einige Tage später beklagte si<strong>ch</strong> Moctezuma, er werde von Albträumen geplagt; nur der Aufenthalt<br />

auf den Da<strong>ch</strong>terrassen des Tecpans könne ihn davor s<strong>ch</strong>ützen. Cortés hatte ni<strong>ch</strong>ts dagegen einzuwenden,<br />

dass das Königszelt auf dem Da<strong>ch</strong> aufges<strong>ch</strong>lagen wurde; nur die zwanzig Wa<strong>ch</strong>tposten<br />

murrten, dass sie si<strong>ch</strong> droben von der Junisonne Anahuacs dörren lassen mussten. Da unternahm<br />

Moctezuma erneut den Versu<strong>ch</strong>, seinen Gefängniswärtern zu entfliehen. Er ging mit Marina,<br />

die bereits ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>wanger war, s<strong>ch</strong>erzend auf und ab. Natürli<strong>ch</strong> hatte er die wa<strong>ch</strong>sende Wölbung<br />

ihres Leibes s<strong>ch</strong>on seit Wo<strong>ch</strong>en beoba<strong>ch</strong>ten können, do<strong>ch</strong> bisher hatte er dem nie Bea<strong>ch</strong>tung ges<strong>ch</strong>enkt.<br />

Nun aber fragte er unvermittelt:<br />

»Was wä<strong>ch</strong>st da in deinem Leib? Ein Bastard des Grünen Steins?«<br />

Marina sah ihn gelassen an. »Der zukünftige Herrs<strong>ch</strong>er Mexicos!«, gab sie kalt zurück.<br />

»Das glaubst du viellei<strong>ch</strong>t. I<strong>ch</strong> aber sage dir, dass er deiner überdrüssig sein wird, wenn er<br />

sein Ziel – die Zerstörung des Landes – errei<strong>ch</strong>t hat!«


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 272<br />

Moctezuma kränkte Marina ganz bewusst. Er musste sie ablenken, während sie beide si<strong>ch</strong><br />

dem Da<strong>ch</strong>rand näherten. Zehn Klafter ho<strong>ch</strong> ragte der Tecpan. Moctezuma hatte si<strong>ch</strong> vorgenommen,<br />

ni<strong>ch</strong>t in die Tiefe zu s<strong>ch</strong>auen; stattdessen blickte er Marina in die Augen. Wie großäugig sie<br />

mi<strong>ch</strong> ansieht! da<strong>ch</strong>te er. S<strong>ch</strong>ön ist meine Feindin! Klug ist sie, do<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> bin klüger!<br />

Na<strong>ch</strong> Moctezumas Worten begann Marinas Herz heftig zu po<strong>ch</strong>en, do<strong>ch</strong> sie behielt si<strong>ch</strong> in<br />

der Gewalt. Er will mi<strong>ch</strong> bloß verärgern, da<strong>ch</strong>te sie, mi<strong>ch</strong> reizen und herausfordern, aber es wird<br />

ihm ni<strong>ch</strong>t gelingen.<br />

»Warum dienst du ihm?«, bohrte der König weiter. »Du bist von unserem Blut und unserer<br />

Hautfarbe. Wie kannst du uns verraten? Die weißen Männer werden uns alle verni<strong>ch</strong>ten -– au<strong>ch</strong><br />

di<strong>ch</strong>!«<br />

Marina erstarrte. »Warum sollte i<strong>ch</strong> für Mexico sein? Warum sollte i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> mit eu<strong>ch</strong> gemein<br />

ma<strong>ch</strong>en? I<strong>ch</strong> gehöre ni<strong>ch</strong>t mehr zu eu<strong>ch</strong>! Meine Mutter, eine Mexica, hat mir mein Erstgeburtsre<strong>ch</strong>t<br />

gestohlen; meinem Halbbruder, dem Sohn ihres zweiten Mannes, wollte sie die Ma<strong>ch</strong>t über unser<br />

Volk si<strong>ch</strong>ern. Seinetwegen verkaufte sie mi<strong>ch</strong> in die Sklaverei. Do<strong>ch</strong> was mir zuerst als grausames<br />

S<strong>ch</strong>icksal ers<strong>ch</strong>ien, war in Wirkli<strong>ch</strong>keit göttli<strong>ch</strong>e Fügung. Jetzt bin i<strong>ch</strong> frei und besitze Ma<strong>ch</strong>t!«<br />

»Frei? Ma<strong>ch</strong>t? Was meinst du damit?«<br />

»Du bist der König der Mexica, mä<strong>ch</strong>tiger Herrs<strong>ch</strong>er, aber du zitterst vor mir, wo i<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> vor<br />

dir im Staub liegen müsste und es ni<strong>ch</strong>t wagen dürfte, dein erhabenes Antlitz zu s<strong>ch</strong>auen! Stattdessen<br />

laus<strong>ch</strong>st du meinen Worten, als könnten sie dir das Unheimli<strong>ch</strong>e ents<strong>ch</strong>leiern, von dem du<br />

di<strong>ch</strong> bedroht fühlst.«<br />

In einer plötzli<strong>ch</strong>en Anwandlung heißen Zorns fuhr Moctezuma sie an: »Warum hast du unsere<br />

Götter verraten?«<br />

»I<strong>ch</strong> habe die Götter ni<strong>ch</strong>t verraten, im Gegenteil!«<br />

»Du hast die Eisenmänner hierher geführt.«<br />

»Ja, da hast du Re<strong>ch</strong>t, großer König.«<br />

»Ohne di<strong>ch</strong> hätten sie den Weg niemals gefunden.«<br />

»Au<strong>ch</strong> das stimmt. I<strong>ch</strong> habe sie erwartet, und du au<strong>ch</strong>. I<strong>ch</strong> weiß es!«<br />

Moctezuma sah Marina ers<strong>ch</strong>rocken an. »Ist er Quetzalcoatl?«<br />

Marina zögerte mit der Antwort. »I<strong>ch</strong> werde dir ein Glei<strong>ch</strong>nis erzählen, erhabener Herr. Dann<br />

magst du selber urteilen.«<br />

»Rede!«, befahl Moctezuma. »Aber der Grüne Stein, den sie Cortés nennen, kann die Gefiederte<br />

S<strong>ch</strong>lange ni<strong>ch</strong>t sein. Denn er redet von seinem Friedensbringer, will Anahuac aber dur<strong>ch</strong> Krieg<br />

unterjo<strong>ch</strong>en.«<br />

Während ihres Wortgefe<strong>ch</strong>ts waren sie gemä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> auf und ab<br />

gegangen; Moctezuma lenkte seinen S<strong>ch</strong>ritt immer wieder vorsi<strong>ch</strong>tig<br />

in Ri<strong>ch</strong>tung der Da<strong>ch</strong>kante. Marina bemerkte es mit Sorge.<br />

Soll i<strong>ch</strong> die Wa<strong>ch</strong>e rufen? überlegte sie. Kann i<strong>ch</strong> ihn alleine zurückzuhalten,<br />

oder kann es dem Kind S<strong>ch</strong>aden bringen? I<strong>ch</strong> muss ihn<br />

ablenken! Und Marina erzählte: »Pater Olmedo beri<strong>ch</strong>tete mir von<br />

Xesu Quilisto, den die Mens<strong>ch</strong>en jenseits des großen Ostmeeres verehren.<br />

Xesu Quilisto war arm. Er zog vor vielen hundert Jahren dur<strong>ch</strong><br />

sein Land und predigte, dass man seinen Feinden vergeben solle,<br />

dass man die Hungrigen speisen, die Durstigen tränken und die<br />

Nackten kleiden müsse. Man darf ni<strong>ch</strong>t töten und muss immer die<br />

Wahrheit sagen. Und man soll dem Kaiser geben, was des Kaisers<br />

ist. Aber au<strong>ch</strong> er, Xesu Quilisto, sei ein König, do<strong>ch</strong> sein Rei<strong>ch</strong> sei<br />

ni<strong>ch</strong>t von dieser Welt...«<br />

Adler und Jaguar


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 273<br />

»Mär<strong>ch</strong>en!«, s<strong>ch</strong>naubte Moctezuma verä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>.<br />

»Warte es ab«, entgegnete Marina. »Wer si<strong>ch</strong> an diese Gebote hält, sagte Xesu Quilisto,<br />

dem wird im Jenseits das ewige Leben zuteil. Immer mehr Mens<strong>ch</strong>en folgten ihm na<strong>ch</strong>. Da begannen<br />

die Mä<strong>ch</strong>tigen seines Landes um ihre Ma<strong>ch</strong>t zu für<strong>ch</strong>ten. ›Er ist ein Aufrührer‹, sagten sie, ›ein<br />

Aufständis<strong>ch</strong>er! Er behauptet, ein König zu sein, aber wenn sein Rei<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t von dieser Welt ist,<br />

wo ist es dann zu finden? Seine Anhänger werden immer zahlrei<strong>ch</strong>er; bald werden ihm so viele<br />

na<strong>ch</strong>laufen, dass er si<strong>ch</strong> gegen uns erheben kann.‹ So ließen sie ihn gefangennehmen, verurteilten<br />

ihn wegen Aufruhrs und nagelten ihn an ein Kreuz. Da starb er. Seine Gefolgsleute legten ihn<br />

in ein Grab, do<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> drei Tagen stand er auf, zeigte si<strong>ch</strong> seinen Anhängern und ents<strong>ch</strong>webte<br />

vor ihren Augen gen Himmel, wo er seither bei seinem Vater wohnt. Do<strong>ch</strong> zuvor verkündete er<br />

no<strong>ch</strong>, er werde eines Tages zurückkommen, um sein Friedensrei<strong>ch</strong> zu erri<strong>ch</strong>ten.«<br />

»Mär<strong>ch</strong>en«, wiederholte Moctezuma.<br />

»Höre weiter. Du kennst das S<strong>ch</strong>icksal unseres weißbärtigen Gottes Quetzalcoatl, der uns<br />

die Weisheit bra<strong>ch</strong>te und uns gelehrt hat, die Äcker zu bebauen. Er, dem au<strong>ch</strong> der Wind gehor<strong>ch</strong>te,<br />

musste vor der Ra<strong>ch</strong>e Huizilopo<strong>ch</strong>tlis und Tezcatlipocas fliehen. Am Ufer des östli<strong>ch</strong>en Weltmeeres<br />

verbrannte er in einer Steinkiste und stieg in die Unterwelt hinab. Dann wurde er zum Morgenstern<br />

und ents<strong>ch</strong>wand na<strong>ch</strong> Osten übers Meer. Zuvor aber hatte er den Völkern Anahuacs das<br />

Kreuz als Wahrzei<strong>ch</strong>en genannt und erklärt, er werde im Jahre Eins-S<strong>ch</strong>ilfrohr zurückkommen, das<br />

si<strong>ch</strong> alle 52 Jahre wiederholt – so wie jetzt! Und wie Xesu Quilisto verabs<strong>ch</strong>eute au<strong>ch</strong> Quetzalcoatl<br />

das Töten! Und beide waren hellhäutig, beide liebten den Frieden! Jetzt urteile selber, o mä<strong>ch</strong>tiger,<br />

weiser König.«<br />

»Frieden!«, höhnte Moctezuma. »Die Mexica sind ein Volk von Kriegern! Unsere Ma<strong>ch</strong>t beruht<br />

auf der Tapferkeit unserer Adler und Jaguare! Sie bringen Gefangene und versorgen<br />

Huizilopo<strong>ch</strong>tli und Tezcatlipoca mit dem Blut, das sie am Leben erhält.«<br />

»Aber einmal muss der Blutzoll enden!«<br />

»Der Grüne Stein, dieser Cortés, wird au<strong>ch</strong> kein Friedensrei<strong>ch</strong> erri<strong>ch</strong>ten.«<br />

»An dem Tag, an dem die weißen Männer an der Küste Anahuacs eintrafen, trugen sie<br />

s<strong>ch</strong>warze Kleidung. Es war der Jahrestag des Todes ihres Herrn Xesu Quilisto, und s<strong>ch</strong>warz ist die<br />

Farbe ihrer Trauer. S<strong>ch</strong>warz ist aber au<strong>ch</strong> die Farbe Quetzalcoatls! Der Grüne Stein und die meisten<br />

seiner Männer haben Bärte; au<strong>ch</strong> Quetzalcoatl trug einen Bart, im Gegensatz zu den Mexica,<br />

die bartlos sind oder nur einen dünnen Flaum auf Kinn und Wangen haben. Wie viele Hinweise<br />

brau<strong>ch</strong>st du no<strong>ch</strong>, gelehrter König, o Herrli<strong>ch</strong>er?«<br />

»Mit Feuer und S<strong>ch</strong>wert bri<strong>ch</strong>t er in Anahuac ein, gierig na<strong>ch</strong> ›Götterkot‹! Grausam und gnadenlos<br />

walzen die Eindringlinge uns nieder. Wie soll er den Frieden bringen?«<br />

»Er wird Huizilopo<strong>ch</strong>tli, Tezcatlipoca und Tlaloc stürzen. Wer dauerhaften Frieden will, muss<br />

zuerst die blutrünstigen Götzen verni<strong>ch</strong>ten. Erst wenn der endlose Blutstrom versiegt, kann das<br />

Rei<strong>ch</strong> des Friedens erri<strong>ch</strong>tet werden. Quetzalcoatl wollte, dass i<strong>ch</strong> helfe, sein Rei<strong>ch</strong> wieder zu erri<strong>ch</strong>ten.<br />

Das ist meine Aufgabe.«<br />

Der König sah ein, dass er so ni<strong>ch</strong>t ans Ziel kam. Er bra<strong>ch</strong> die Diskussion ab und bat Marina<br />

in versöhnli<strong>ch</strong>em Tonfall, ihm sein Sehwerkzeug zu holen, das er auf einem Sessel liegen gelassen<br />

hatte – er wolle die Türme Teno<strong>ch</strong>titláns betra<strong>ch</strong>ten, denn no<strong>ch</strong> nie sei ihm die Stadt inmitten<br />

des Kolbenrohrs berückender ers<strong>ch</strong>ienen als heute. Das Sehwerkzeug war eine tellerähnli<strong>ch</strong>e<br />

kreisrunde Silberplatte mit einem winzigen Lo<strong>ch</strong> in der Mitte, dur<strong>ch</strong> das man ins grelle Sonnenli<strong>ch</strong>t<br />

blicken konnte.<br />

Do<strong>ch</strong> Marina wandte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ab, sondern rief einem Posten zu, er solle das Sehwerkzeug<br />

bringen. Da wusste Moctezuma, dass sie ihn dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>aut hatte. Wennglei<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> immer ein Lä<strong>ch</strong>eln<br />

auf seinen Lippen lag, stieg Hass gegen seine Kerkerhüterin in ihm auf. Es musste jetzt sofort<br />

ges<strong>ch</strong>ehen, bevor der Posten kam! Wollte sie es hindern – umso s<strong>ch</strong>limmer für sie!<br />

Er gab ihr einen Stoß, dass sie zur Seite taumelte, und eilte an den Da<strong>ch</strong>rand. Do<strong>ch</strong> Marina<br />

war ges<strong>ch</strong>winder, als er erwartet hatte. S<strong>ch</strong>on hatte sie seinen Mantel gepackt, seinen Arm umklammert.<br />

Sie rang mit ihm, ges<strong>ch</strong>meidig, als wäre sie ein Jüngling, der mit einem alten Mann<br />

kämpft, wobei sie verzweifelt an das Kind in ihrem Leib da<strong>ch</strong>te. Durfte, musste sie das Kind des<br />

Cortés opfern, um den König zu retten? Oder durfte sie den König opfern, um das Kind zu retten?<br />

Moctezuma hörte die S<strong>ch</strong>ritte des Postens, hörte eilige Sprünge mehrerer Soldaten.<br />

»Du Kojotin sollst mit hinab!«, rief er und zerrte sie zum Abgrund.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 274<br />

Do<strong>ch</strong> da packten kräftige Soldatenfäuste zu und rissen die beiden vom Da<strong>ch</strong>rand fort.<br />

*<br />

Rodrigo Rangel hielt an Cortés diese Anspra<strong>ch</strong>e:<br />

»Die Herrs<strong>ch</strong>aft Euer Liebden in diesem gesegneten Land ist wie ein Siebenmonatskind –<br />

aber das muss man ihr lassen: Sie ist ein ausgewa<strong>ch</strong>sener, kräftiger und pausbackiger Säugling!<br />

Im November 1519 zogen wir her und ri<strong>ch</strong>teten uns häusli<strong>ch</strong> ein. Jetzt s<strong>ch</strong>reiben wir den 8. Juni<br />

Anno Domini 1520, und no<strong>ch</strong> ward hier keiner von uns totges<strong>ch</strong>lagen! Wie ist das mögli<strong>ch</strong>? Geht<br />

das mit re<strong>ch</strong>ten Dingen zu? Nein, sage i<strong>ch</strong>! Das Todges<strong>ch</strong>lagenwerden ist unter feindli<strong>ch</strong>er Überma<strong>ch</strong>t<br />

do<strong>ch</strong> das Natürli<strong>ch</strong>e – Euer Liebden brau<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong> das ni<strong>ch</strong>t weiter zu erläutern. Wir aber legen<br />

alles darauf an, totges<strong>ch</strong>lagen zu werden, es will uns ni<strong>ch</strong>t gelingen. Unsere braven Soldaten<br />

pilgern allnä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ins große Freudenhaus von Tlatelolco und holen si<strong>ch</strong> dort allerlei, nur ni<strong>ch</strong>t den<br />

Tod. La Bailadora tanzt öffentli<strong>ch</strong> vor den s<strong>ch</strong>amhaften Mexica und wird ni<strong>ch</strong>t einmal verprügelt.<br />

Der Seemann Alvaro (der s<strong>ch</strong>on auf Kuba dreißig Kinder gezeugt hatte) wandert unbewaffnet<br />

dur<strong>ch</strong> die Dörfer Anahuacs, um Spuren seiner Tätigkeit zu hinterlassen. Diego de Soto hat mit einem<br />

<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Räuberhaufen die Getreidespei<strong>ch</strong>er Moctezumas geplündert und trägt seinen<br />

Kopf no<strong>ch</strong> immer auf den S<strong>ch</strong>ultern, weil Alvarado ein stiller <strong>Teil</strong>haber des Unternehmens war.<br />

Und Euer Liebden haben in einem der beiden Heiligtümer auf der S<strong>ch</strong>langenberg-Pyramide ein<br />

Kreuz und ein Bild der heiligen Jungfrau aufgestellt, sodass jetzt das Te Deum Laudamus und das<br />

›Heil dir Vitzliputzli‹ zum Himmel s<strong>ch</strong>webend si<strong>ch</strong> vermählen, ein hö<strong>ch</strong>st unglei<strong>ch</strong>es Paar. Und<br />

denno<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lagen die Azteken uns ni<strong>ch</strong>t tot! Wie ist das mögli<strong>ch</strong>? Ignotus (ein sehr berühmter<br />

Mann!) hat gesagt: Die Ma<strong>ch</strong>t ist eine kleine Nähnadel. Zwängt sie si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> ein Lo<strong>ch</strong>, zieht sie<br />

den längsten Faden na<strong>ch</strong>.«<br />

So spra<strong>ch</strong> Rodrigo Rangel.<br />

*<br />

Mit der Erri<strong>ch</strong>tung der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Kapelle auf dem großen Teocalli hatte Cortés die Mexica<br />

beleidigt. Ihm, dem Hellhörigen, war das unterirdis<strong>ch</strong>e Grollen wohl vernehmbar. Häufiger als bisher<br />

kamen hohe Adelige in den alten Tecpan und hielten Beratungen mit dem gefangenen König<br />

ab. Orteguilla sagte zu Rabenblume, er fühle, dass Böses im Gange sei, gewiss werde er bald<br />

verspeist.<br />

Caravelle, von den Azteken »Wasserhaus» genannt<br />

Eines Tages vers<strong>ch</strong>affte der Vorsteher des<br />

Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e einem Reisenden Zutritt zum<br />

Zornigen Herrn. Es war ein von der östli<strong>ch</strong>en Meeresküste<br />

na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán zurückgekehrter Steuereinnehmer.<br />

Na<strong>ch</strong> heimli<strong>ch</strong>em Zwiegesprä<strong>ch</strong> mit ihm<br />

war Moctezuma wie verwandelt. A<strong>ch</strong>tzehn große<br />

Wasserhäuser, bemannt mit Gelbhaarigen, erzählte<br />

ihm der Steuereinnehmer, seien eine Tagereise<br />

südli<strong>ch</strong> der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Hafenfestung an der Küste ers<strong>ch</strong>ienen. Und er zeigte ein von einem Mens<strong>ch</strong>enmaler<br />

bemaltes Hirs<strong>ch</strong>hautpergament vor. Er habe au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>gefors<strong>ch</strong>t, wer die Ankömmlinge<br />

seien, und habe si<strong>ch</strong> an das Wasserhaus des Anführers heranrudern lassen. Dort habe er zwei<br />

Gelbhaarige wieder erkannt, die er vor weniger als einem halben Jahr in Teno<strong>ch</strong>titlán gesehen<br />

hatte. Der eine trage Buckel auf Rücken und Brust.<br />

»Er wird ›der Narr‹ genannt«, unterbra<strong>ch</strong> ihn Moctezuma.<br />

»Der andere, hasens<strong>ch</strong>artig, kropfig und einbeinig, ist der hässli<strong>ch</strong>ste Mens<strong>ch</strong>, den i<strong>ch</strong> jemals<br />

sah«, fuhr der Steuereinnehmer fort.<br />

»Er heißt Heredia. Ihm wurde von den Totonaken der Name Großer Zauberer von Tzimpantzinco


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 275<br />

verliehen«, unterbra<strong>ch</strong> Moctezuma von neuem. »Der Grüne Stein hat beide ins Zapotekenland<br />

ges<strong>ch</strong>ickt, das an die Tabascoküste grenzt, wo sie na<strong>ch</strong> weißem und gelbem Götterkot fors<strong>ch</strong>en<br />

sollen.«<br />

Der Steuereinnehmer setzte seinen Beri<strong>ch</strong>t fort. Der Bucklige und der Hässli<strong>ch</strong>e hätten si<strong>ch</strong><br />

ihm als Dolmets<strong>ch</strong>er angeboten, und der Oberfeldherr, ein großer stämmiger Mann, habe ihn<br />

überaus freundli<strong>ch</strong> empfangen und ihm dur<strong>ch</strong> die Dolmets<strong>ch</strong>er ausri<strong>ch</strong>ten lassen, dass er ein Abgesandter<br />

des mä<strong>ch</strong>tigen Königs sei, der in der östli<strong>ch</strong>en Welt herrs<strong>ch</strong>e; er sei gekommen, Moctezuma<br />

zu befreien und die Verbre<strong>ch</strong>er, die ihn wider jedes Re<strong>ch</strong>t gefangen hielten, in Ketten zu<br />

legen und zu zü<strong>ch</strong>tigen. Der Grüne Stein habe keinerlei Befehl vom östli<strong>ch</strong>en König; den lügneris<strong>ch</strong>en<br />

Anmaßungen dieses Räubers werde er nun bald ein Ende bereiten, denn er habe auf seinen<br />

a<strong>ch</strong>tzehn S<strong>ch</strong>iffen dreizehnhundertfünfzig weiße Soldaten – fast dreimal so viele wie der Grüne<br />

Stein –, dazu a<strong>ch</strong>tzig Hirs<strong>ch</strong>ungeheuer und zwölf große Donnerwaffen. Sobald er sein Heer<br />

ausges<strong>ch</strong>ifft habe, werde er na<strong>ch</strong> Cempoala ziehen, den Totonakenkönig zwingen, die Oberherrs<strong>ch</strong>aft<br />

Moctezumas wieder anzuerkennen, und gemeinsam mit den Totonaken dem Grünen Stein<br />

eine S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t liefern – falls dieser so dumm sein sollte, si<strong>ch</strong> darauf einzulassen.<br />

Der Steuereinnehmer überrei<strong>ch</strong>te Moctezuma eine Halskette aus brillantierten Glasperlen.<br />

Der fremde Feldherr hatte sie ihm mit der Bitte gegeben, sie eilends dem König Mexicos zu bringen<br />

und ihm auszuri<strong>ch</strong>ten, er solle ni<strong>ch</strong>t verzweifeln – die Erlösung sei nahe!<br />

Moctezuma s<strong>ch</strong>ickte den Steuereinnehmer umgehend an die Meeresküste zurück. Do<strong>ch</strong> er<br />

solle Seitenpfade eins<strong>ch</strong>lagen, damit der Grüne Stein ni<strong>ch</strong>ts erfahre. Moctezuma gab ihm au<strong>ch</strong><br />

Lastträger mit, die Goldges<strong>ch</strong>enke s<strong>ch</strong>leppten.<br />

*<br />

Mehrere Tage hütete Moctezuma sein Geheimnis. Nur einem Mann, Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t, verriet<br />

er die ungeheuerli<strong>ch</strong>e Kunde. Glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der Abreise des Steuereinnehmers hatte er den<br />

Hohepriester zu si<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>ieden und mit erstaunli<strong>ch</strong>er Willenskraft darauf bestanden, dass endli<strong>ch</strong><br />

das Götter-Orakel spre<strong>ch</strong>en solle.<br />

Der Hohepriester war bedrückt und kleinlaut. Längst hatte er eingesehen, dass sein Wuns<strong>ch</strong>,<br />

den Sternhimmel des Huitzilopo<strong>ch</strong>tliturms mit Edelsteinen zu verkleiden, am Niedergang der Aztekenma<strong>ch</strong>t<br />

mits<strong>ch</strong>uldig war. Er hatte den Groll des Himmels gegen den König verkündet, worauf<br />

viele Untertanen si<strong>ch</strong> vom Herrs<strong>ch</strong>er abgewandt hatten. Jetzt war der König ein Gefangener – aber<br />

au<strong>ch</strong> die Götter Mexicos waren Gefangene. Und <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Gesänge ers<strong>ch</strong>ollen auf dem S<strong>ch</strong>langenberg!<br />

Nun aber konnte er neue Hoffnung s<strong>ch</strong>öpfen – dank dem Geheimnis, das niemand in<br />

Teno<strong>ch</strong>titlán außer dem König und ihm selbst kannte. Er wüns<strong>ch</strong>te, dass Moctezuma in den<br />

S<strong>ch</strong>langenberg komme und bei der Befragung des heiligen Nopalbaumes zugegen sei. Moctezuma<br />

sagte, er werde von Cortés die Genehmigung fordern und si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t abweisen lassen...<br />

Hundertfünfzig Kastilier unter Olíd, Lugo und Tapia begleiteten tags darauf den König und<br />

den königli<strong>ch</strong>en Hofstaat in den Haupttempel Mexicos. Es war das erste Mal, dass Moctezuma seit<br />

seiner Gefangennahme das Gelände der großen Pyramide betrat. Cortés hatte ihm anfangs den<br />

Wuns<strong>ch</strong>, den S<strong>ch</strong>langenberg zu besu<strong>ch</strong>en, nur unter der Bedingung gewährt, dass kein Mens<strong>ch</strong>enopfer<br />

dargebra<strong>ch</strong>t werde. Aber er hatte seinen Offizieren au<strong>ch</strong> strenge Zurückhaltung auferlegt;<br />

er wolle keine Konflikte.<br />

Als die Spanier mit dem König die Pyramidentreppen emporstiegen, hörten sie bereits die<br />

Todess<strong>ch</strong>reie vom Mens<strong>ch</strong>enwürgeplatz. Sie stürmten hinauf und sahen die fur<strong>ch</strong>tbaren Spuren<br />

der Opferhandlung: Rot troff es vom Adlerstein, und Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t hatte no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal<br />

die Zeit gefunden, sein weißes S<strong>ch</strong>lä<strong>ch</strong>tergewand und seine weiße Haube abzulegen. Die Lei<strong>ch</strong>en<br />

jedo<strong>ch</strong> waren s<strong>ch</strong>on fortges<strong>ch</strong>afft worden.<br />

Die Kastilier konnten das S<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t mehr verhindern. Sollte der capitán generál ents<strong>ch</strong>eiden.<br />

Im Sanktuar des Kriegsgottes räu<strong>ch</strong>erte Moctezuma. Dann stieg er wieder in den Tempelhof<br />

hinab und begab si<strong>ch</strong> mit Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis Kne<strong>ch</strong>t und dem Orakelkünder in die Kapelle des heiligen<br />

Nopalbaumes.<br />

Den Feldobristen war der Eintritt verwehrt worden. Wartend standen sie vor dem Mittelpunkt<br />

der blauen Erds<strong>ch</strong>eibe, dem heiligsten der Heiligtümer, dessen weiß getün<strong>ch</strong>tes Gemäuer den von


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 276<br />

der Zeit versteinerten Orakelbaum umgab. Deutli<strong>ch</strong> hörten sie das Wimmern eines einjährigen<br />

Kindes.<br />

»Was tun sie da?«, fragte Olíd. »Die drei hatten kein Kind dabei...«<br />

»Es muss vorher hineingebra<strong>ch</strong>t worden sein«, bemerkte Tapia.<br />

»Moctezuma wird do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t das Kind verspeisen?«, fragte Lugo sarkastis<strong>ch</strong>, wie er immer<br />

tat, wenn er empört war.<br />

»Nein«, versetzte Olíd. »Marina sagte, dass ein Adler das Kind frisst. Das sei die Weissagung.«<br />

»Dieser S<strong>ch</strong>uft von König«, stieß Lugo leise hervor, »hält seine Verspre<strong>ch</strong>en, wie ein Besoffener<br />

die Ri<strong>ch</strong>tung. I<strong>ch</strong> werde diese Hunde lehren...« Lugos Hand fuhr zum Degen.<br />

Olíd und Tapia hielten ihn zurück. »Beherrs<strong>ch</strong>t Eu<strong>ch</strong>! Wir können jetzt ni<strong>ch</strong>ts unternehmen.«<br />

Lugo ballte die Fäuste. »Der Besu<strong>ch</strong> dieser prunkstarrenden Fleis<strong>ch</strong>bänke wurde ihm nur<br />

gestattet, wenn heute ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet wird!«, rief er aus.<br />

»Vorhin, als wir über den Tempelhof gingen«, sagte Olíd, »s<strong>ch</strong>aute i<strong>ch</strong> in eins der kleineren<br />

Höllenhäuser dieser Teufelspriester. Da brutzelte es auf dem Herd. Lauter volle S<strong>ch</strong>üsseln dampften!<br />

In der einen war ein geko<strong>ch</strong>ter Mens<strong>ch</strong>enfuß, in der anderen ein ges<strong>ch</strong>morter Mens<strong>ch</strong>enkopf,<br />

in der dritten ein gebratener Mens<strong>ch</strong>enarm. Und einige s<strong>ch</strong>warz ges<strong>ch</strong>minkte Pfaffen kauerten<br />

ringsum, knabberten und s<strong>ch</strong>matzten.«<br />

»Angebli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>meckt es wie S<strong>ch</strong>weinefleis<strong>ch</strong>. Ein S<strong>ch</strong>iffbrü<strong>ch</strong>iger, der es wissen muss, erzählte<br />

es mir... da! Jetzt kreis<strong>ch</strong>t das Kind, hört ihr's?«, flüsterte Lugo.<br />

»Was s<strong>ch</strong>ert es uns? Don Hernándo hat uns angewiesen, in dieser Hölle ni<strong>ch</strong>ts zu hören und<br />

ni<strong>ch</strong>ts zu sehen«, knurrte Tapia und spuckte wütend auf den Boden, als wollte er si<strong>ch</strong> damit Luft<br />

ma<strong>ch</strong>en.<br />

»Don Hernándo ist eines daheim geblieben und hat es lei<strong>ch</strong>ter als wir, blind zu sein!«<br />

Da trat Moctezuma mit den beiden Priestern strahlend aus dem Heiligtum. Er s<strong>ch</strong>ien mit der<br />

Bots<strong>ch</strong>aft seiner Götter zufrieden zu sein: Der Wunderbare Huitzilopo<strong>ch</strong>tli hatte den Verni<strong>ch</strong>tungskrieg<br />

gegen die Söhne der Sonne befohlen.<br />

*<br />

Orteguilla weinte. Er war wie ein Vogel, der vor Beginn eines Erdbebens hin und her flattert und<br />

selbst ni<strong>ch</strong>t weiß, was ihn ängstigt. Er fühlte die Veränderung und hätte do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t sagen können,<br />

was es war – außer dass Moctezuma ihn ni<strong>ch</strong>t mehr verhäts<strong>ch</strong>elte, ihn ni<strong>ch</strong>t mehr bes<strong>ch</strong>enkte,<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr so herzli<strong>ch</strong> mit ihm spra<strong>ch</strong> wie zuvor.<br />

Bald na<strong>ch</strong> dem Besu<strong>ch</strong> im S<strong>ch</strong>langenberg sagte Moctezuma zum Vorsteher des Hauses der<br />

Teppi<strong>ch</strong>e, es sei sein Wuns<strong>ch</strong>, dass das große Freudenhaus von Tlatelolco zerstört werde. Der<br />

Befehl wurde umgehend ausgeführt, das Gebäude niedergerissen, die Freudenmäd<strong>ch</strong>en im S<strong>ch</strong>ilfsee<br />

ertränkt. Na<strong>ch</strong>dem dies ges<strong>ch</strong>ehen war, führte Moctezuma ein ernstes Gesprä<strong>ch</strong> mit Cortés.<br />

Die Zeit sei um. Na<strong>ch</strong> dem Lehenseid habe Cortés mit dem Christenheer in das Land jenseits<br />

des Meeres zurückkehren wollen. Das müsse er jetzt tun. Er habe die Söhne der Sonne lieb<br />

gewonnen und trenne si<strong>ch</strong> nur ungern von ihnen. Do<strong>ch</strong> der Kriegsgott Huitzilopo<strong>ch</strong>tli verlange jetzt<br />

die Ausrottung der Sonnensöhne.<br />

Cortés erwiderte missmutig: »Euer Kriegsgott sagt, was Eu<strong>ch</strong> die Priester einflüstern. Und<br />

den Mund Eurer Priester könnte Eure Majestät wohl stopfen. I<strong>ch</strong> habe unseren Aufenthalt in Mexico<br />

stets als vorübergehend betra<strong>ch</strong>tet und werde in meine Heimat zurückkehren. Do<strong>ch</strong> so lei<strong>ch</strong>t,<br />

wie Majestät anzunehmen s<strong>ch</strong>eint, geht das ni<strong>ch</strong>t. Die elf großen S<strong>ch</strong>iffe, die uns übers Meer<br />

bra<strong>ch</strong>ten, sind ein Raub der Flammen geworden. I<strong>ch</strong> muss erst an der Küste elf neue große S<strong>ch</strong>iffe<br />

bauen lassen, ehe i<strong>ch</strong> an die Rückreise denken kann, frühestens na<strong>ch</strong> einem Jahr. I<strong>ch</strong> werde<br />

meinen S<strong>ch</strong>iffbaumeister umgehend na<strong>ch</strong> Veracruz senden und ersu<strong>ch</strong>e Eure Majestät, mir aztekis<strong>ch</strong>e<br />

Zimmerleute zur Verfügung zu stellen.«<br />

Moctezuma spürte den Hohn so deutli<strong>ch</strong>, dass er für<strong>ch</strong>tete, unbeda<strong>ch</strong>t aufzubrausen. Mit<br />

Mühe zwang er si<strong>ch</strong>, sein Lä<strong>ch</strong>eln und seinen Glei<strong>ch</strong>mut zu wahren. Er verspra<strong>ch</strong>, die Zimmerleute<br />

zur Verfügung zu stellen. Diese Zusage beruhigte ihn, da er wusste, was an der Meeresküste<br />

vor si<strong>ch</strong> ging. Fast hätte er hell aufgela<strong>ch</strong>t.<br />

Martín López, der S<strong>ch</strong>iffbaumeister, bra<strong>ch</strong> mit mehreren Hundert aztekis<strong>ch</strong>en Zimmerleuten


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 277<br />

und Arbeitern na<strong>ch</strong> Veracruz auf – no<strong>ch</strong> bevor Cortés von Sandoval den Brief erhielt, der ihn aus<br />

dem Himmel seiner Ahnungslosigkeit riss.<br />

*<br />

Der S<strong>ch</strong>iffbaumeister hatte bereits den Popocatepetl hinter si<strong>ch</strong>, als er in einer engen S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t<br />

einer indianis<strong>ch</strong>en Trägerkarawane begegnete. Se<strong>ch</strong>s gefesselte Europäer, unfähig, ein Glied zu<br />

rühren, hockten wie Warenballen auf Tragsesseln. Ein siebenter ungefesselter Kastilier wurde hinterdrein<br />

getragen; in ihm erkannte Martín López einen gewissen Ruy de Venegas, einen Untergebenen<br />

Sandovals.<br />

In der Enge der S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t mussten die Träger ihren Lauf unterbre<strong>ch</strong>en und si<strong>ch</strong> im S<strong>ch</strong>ritttempo<br />

am langen Zug der aztekis<strong>ch</strong>en Arbeiter vorbeidrängen. Die Zungen der lebenden Warenballen<br />

waren ni<strong>ch</strong>t gefesselt, und eine Flut von S<strong>ch</strong>impfworten und Flü<strong>ch</strong>en ergoss si<strong>ch</strong> über den<br />

erstaunten S<strong>ch</strong>iffbaumeister. Als er an Ruy de Venegas vorbeikam, fragte er na<strong>ch</strong> Ursa<strong>ch</strong>e und<br />

Zweck des merkwürdigen Transports.<br />

»Wer sind die Leute?«, fragte er.<br />

»Die ersten Ra<strong>ch</strong>eengel des Gobernadors von Kuba, Vorboten einer größeren S<strong>ch</strong>ar!«<br />

»Wo kommen sie her?«<br />

»Aus Cempoala.«<br />

»Was...?«<br />

»Ja. Pánfilo de Narváez, der Neffe des Diego Velásquez, hat im Süden von Veracruz dreizehnhundertfünfzig<br />

Mann aus a<strong>ch</strong>tzehn Karavellen ausges<strong>ch</strong>ifft, ist ins Totonakenland gezogen,<br />

hat Freunds<strong>ch</strong>aft mit unserem dicken Kaziken ges<strong>ch</strong>lossen und residiert nun in Cempoala. Dort<br />

hat er eine Geri<strong>ch</strong>tssitzung gehalten – seine eigenen Soldaten verla<strong>ch</strong>ten die Afferei –, und hat<br />

Cortés zum Tode verurteilt!«<br />

»Zum Teufel! Das weiß der caudillo no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t!«<br />

»Inzwis<strong>ch</strong>en wird er es dur<strong>ch</strong> einen Eilboten Sandovals erfahren haben. Erst vor drei Tagen<br />

zog Narváez in Cempoala ein. Wir hörten es von einem totonakis<strong>ch</strong>en Kunds<strong>ch</strong>after und au<strong>ch</strong>,<br />

dass Narváez Absi<strong>ch</strong>ten auf die Hafenfestung habe. Unsere kleine Manns<strong>ch</strong>aft bes<strong>ch</strong>loss, Cortés<br />

die Treue zu halten. Wir ließen uns ni<strong>ch</strong>t blicken, als se<strong>ch</strong>s Mann angerückt kamen.«<br />

»Nur se<strong>ch</strong>s? Warum ni<strong>ch</strong>t mehr?«<br />

»Don Pánfilo glaubte vermutli<strong>ch</strong>, seine Aufforderung sei wie die Trompeten von Jeri<strong>ch</strong>o und<br />

reiße Mauern ohne S<strong>ch</strong>wertstrei<strong>ch</strong> nieder. Als Herold seines Willens hatte er einen Geistli<strong>ch</strong>en<br />

namens Guevara, ferner einen gewissen Amaya, einen Geri<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reiber namens Vergera und<br />

drei Zeugen gesandt. Wir haben diese Narren, die uns Verrat zumuteten, gehörig abblitzen lassen.<br />

Daher sahen sie, als sie herankamen, bloß s<strong>ch</strong>aufelnde Indianer an den Festungswerken. Sie kamen<br />

dur<strong>ch</strong>s Tor in die Stadt und s<strong>ch</strong>ritten dur<strong>ch</strong> die Gassen, ohne einer Mens<strong>ch</strong>enseele zu begegnen.<br />

Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> glaubten sie, in einer verhexten Stadt zu sein! Am Marktplatz sahen sie<br />

die Kir<strong>ch</strong>entür offen stehen. Sie traten ein, knieten nieder und beteten – und dann überlegten sie,<br />

wel<strong>ch</strong>es wohl das Haus des Kommandanten sein möge, denn niemand war da, den sie hätten fragen<br />

können. Weil es ihnen am größten s<strong>ch</strong>ien, gingen sie geradewegs in Sandovals Haus. Dort<br />

hatten wir auf der Lauer gelegen, hatten uns im Sitzungszimmer versammelt und dur<strong>ch</strong>s Erkerfenster<br />

die Großspurigen beoba<strong>ch</strong>tet. Herablassend rief uns der Geistli<strong>ch</strong>e ein ›Wohl ergehe es<br />

eu<strong>ch</strong>‹ zu, und s<strong>ch</strong>munzelnd erwiderten wir den Gruß. Do<strong>ch</strong> als er si<strong>ch</strong> darüber ausließ, wie viel<br />

Geld Don Diego Velásquez in die Ausrüstung der von Cortés verbrannten S<strong>ch</strong>iffe gesteckt habe,<br />

und als er Cortés einen Dieb nannte, der das ihm anvertraute Gut s<strong>ch</strong>mähli<strong>ch</strong> veruntreut habe,<br />

wurde es uns zu bunt. Einige von uns hätten den Verleumder übel zugeri<strong>ch</strong>tet, wäre Sandoval<br />

ni<strong>ch</strong>t dazwis<strong>ch</strong>en gegangen. Sandoval verbot dem clérigo die Lügen und sagte, nur aus Rücksi<strong>ch</strong>t<br />

auf seinen geistli<strong>ch</strong>en Rock wolle er von einer Bestrafung absehen.<br />

Aber au<strong>ch</strong> Pater Guevara geriet in Wut und drohte uns den Galgen an, falls wir uns Narváez<br />

ni<strong>ch</strong>t ergeben wollten. Er befahl seinem Sekretarius, ein S<strong>ch</strong>riftstück zu verlesen. ›Das verbiete<br />

i<strong>ch</strong>!‹, rief Sandoval, und wir erkannten an seinem Stottern, dass er si<strong>ch</strong> aufregte. ›Zeigt den Wis<strong>ch</strong><br />

meinetwegen in Mexico vor! Wer ihn hier verliest, erhält hundert Stocks<strong>ch</strong>läge!‹ Guevara wiederholte<br />

den Befehl des Narváez, und Sandoval wiederholte sein Verbot. So ging es eine Weile, bis<br />

Sandoval alle se<strong>ch</strong>s Kerle auf Tragsesseln festbinden ließ und mir den Auftrag erteilte, sie na<strong>ch</strong>


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 278<br />

Teno<strong>ch</strong>titlán zu bringen und die tlamamas an allen Rastorten zu we<strong>ch</strong>seln, damit wir im Laufs<strong>ch</strong>ritt<br />

Tag und Na<strong>ch</strong>t reisend am vierten Tag bei Cortés sind.«<br />

»Cortés versteht es, fliegenden Pfeilen auszuwei<strong>ch</strong>en«, sagte Martín López. »Sogar fliegende<br />

Musketenkugeln vermag er aus der Bahn zu lenken. Do<strong>ch</strong> ob diesmal seine Waffensalbe stark<br />

genug sein wird?«<br />

»Wollt Ihr ni<strong>ch</strong>t umkehren, Señor?«<br />

»Nein. Sandoval kann Leute gebrau<strong>ch</strong>en.«<br />

»Lasst Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t von Narváez abfangen!«<br />

»Es gibt viele Wege na<strong>ch</strong> Veracruz!«<br />

Sie trennten si<strong>ch</strong>. Martín López s<strong>ch</strong>wenkte na<strong>ch</strong> Nordosten ab, um Cempoala zu umgehen.<br />

*<br />

Cortés und Moctezuma spielten Patolli und verkehrten freundli<strong>ch</strong> miteinander. In ihren Blicken aber<br />

versu<strong>ch</strong>ten sie einander zu ergründen: Weißt du's oder weißt du's ni<strong>ch</strong>t? fors<strong>ch</strong>ten die Augen des<br />

Cortés. Weißt du's oder weißt du's ni<strong>ch</strong>t? rätselte Moctezuma.<br />

Moctezuma hatte eine s<strong>ch</strong>laflose Na<strong>ch</strong>t. Je später Cortés das Geheimnis erfährt, überlegte<br />

er, umso verni<strong>ch</strong>tender muss der unerwartete S<strong>ch</strong>lag ihn treffen. Allzu spät wiederum darf er es<br />

au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t erfahren, sonst rä<strong>ch</strong>t er si<strong>ch</strong> für die Verheimli<strong>ch</strong>ung.<br />

Als Cortés am nä<strong>ch</strong>sten Morgen mit Offizieren Moctezumas Gemä<strong>ch</strong>er betrat und si<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>einbar ahnungslos na<strong>ch</strong> seinem Befinden erkundigte, bra<strong>ch</strong> Moctezuma in sein helles, krankhaftes<br />

La<strong>ch</strong>en aus und war längere Zeit ni<strong>ch</strong>t imstande, es niederzukämpfen. Cortés besaß genug<br />

Humor, si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gekränkt zu fühlen.<br />

»Es freut mi<strong>ch</strong>, dass Majestät so munter ist. I<strong>ch</strong> darf wohl mit Re<strong>ch</strong>t annehmen, dass Majestät<br />

einen besonderen Grund zur Heiterkeit hat...?«<br />

»Ja i<strong>ch</strong> habe Grund, mi<strong>ch</strong> zu freuen!«, sagte Moctezuma und wurde plötzli<strong>ch</strong> ernst. Er ließ<br />

si<strong>ch</strong> vom Weibli<strong>ch</strong>en Zwilling ein Hirs<strong>ch</strong>hautpergament rei<strong>ch</strong>en.<br />

»O Grüner Stein«, sagte er vorwurfsvoll und entfaltete das Pergament. »Warum bist du ni<strong>ch</strong>t<br />

offen zu mir! Warum hast du die Neuigkeit vor mir verborgen! Eben habe i<strong>ch</strong> es dur<strong>ch</strong> einen Boten<br />

erfahren: Ni<strong>ch</strong>t weit von deiner Meeresfestung sind a<strong>ch</strong>tzehn große Wasserhäuser an der Küste<br />

ers<strong>ch</strong>ienen, und viele eurer Brüder und Hirs<strong>ch</strong>ungeheuer sind an Land gegangen. Das musst du<br />

s<strong>ch</strong>on lange gewusst haben!« Moctezuma rei<strong>ch</strong>te ihm lä<strong>ch</strong>elnd die Bilderhands<strong>ch</strong>rift hin, auf der<br />

die a<strong>ch</strong>tzehn S<strong>ch</strong>iffe und deren Bemannung gemalt waren.<br />

»O großer Krieger, o weißer Gott!«, fuhr Moctezuma mit unverhohlenem Hohn fort, »i<strong>ch</strong> hätte<br />

wohl Grund, gekränkt zu sein. Do<strong>ch</strong> mehr Grund habe i<strong>ch</strong>, froh zu sein. Wir werden ni<strong>ch</strong>t mehr<br />

ein Jahr lang Wasserhäuser bauen müssen an der Meeresküste. Du und sämtli<strong>ch</strong>e Söhne der<br />

Sonne werdet nun bald auf den Wasserhäusern eurer Brüder ins Land des Sonnenaufgangs zurückkehren!«<br />

Cortés sagte lä<strong>ch</strong>elnd zum König: »Dank sei dem Allmä<strong>ch</strong>tigen, der im re<strong>ch</strong>ten Augenblick<br />

hilft!« Und an einen Soldaten gewandt befahl er: »Geht, und verkündet den Kameraden die Freudenbots<strong>ch</strong>aft!«<br />

Der kastilis<strong>ch</strong>e Soldat eilte zum Saal hinaus, um seinen Kameraden die Glücksna<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t zu<br />

verkünden, dass Kaiser Don Carlos ihnen ein Hilfsheer gesandt habe. Alle <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Soldaten,<br />

Lagerdirnen und Tlaxcalteken jubelten freudig. Und während draußen Freudens<strong>ch</strong>üsse aus Musketen-<br />

und Felds<strong>ch</strong>langenrohren dröhnten, sank Moctezuma verunsi<strong>ch</strong>ert auf seinem Thron zusammen.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 279<br />

20. Alvarado<br />

»Sie stürmten mitten unter die Tänzer, erzwangen si<strong>ch</strong> einen Weg dorthin, wo die Pauken<br />

ges<strong>ch</strong>lagen wurden. Sie griffen den Mann an, der trommelte, und s<strong>ch</strong>lugen ihm die Arme ab.<br />

Dann s<strong>ch</strong>lugen sie ihm den Kopf ab, und er rollte weithin über den Boden.«<br />

(Codes Florentino, Bu<strong>ch</strong> XII, über das Blutbad des Alvarado)<br />

Wuts<strong>ch</strong>naubend kam der Priester Guevara in Teno<strong>ch</strong>titlán an. Luis Marín war ihm von Cortés<br />

entgegenges<strong>ch</strong>ickt worden, um ihn und seine fünf Leidensgefährten von den Tragsesseln zu befreien<br />

und im Namen des Generalkapitäns Ents<strong>ch</strong>uldigungen vorzubringen. Do<strong>ch</strong> die Ents<strong>ch</strong>uldigungen<br />

hatten die Wut nur angefa<strong>ch</strong>t. Geduldig ließ Cortés den Zorn über si<strong>ch</strong> ergehen. Er wartete,<br />

bis die heiße Wut des Strafpredigers si<strong>ch</strong> ein wenig abgekühlt hatte und der Mann wieder fähig<br />

war, die Umwelt wahrzunehmen. Dann s<strong>ch</strong>lug er ihm einen Rundgang dur<strong>ch</strong> die Stadt vor.<br />

Die Pra<strong>ch</strong>t Teno<strong>ch</strong>titláns tat ihre Wirkung. Verdutzt und ein wenig beklommen gab Guevara<br />

zu, dass es kein Kinderspiel gewesen sein kann, ein so mä<strong>ch</strong>tiges Rei<strong>ch</strong> der spanis<strong>ch</strong>en Krone<br />

anzugliedern.<br />

»Wenn nun alles Errei<strong>ch</strong>te in Frage gestellt wird, Padre, glaubt Ihr, dass der Kaiser Don<br />

Pánfilo dafür loben wird? Ihr seid do<strong>ch</strong> ein kluger Mann – wie denkt Ihr darüber?« Cortés konnte<br />

bestrickend liebenswürdig sein.<br />

Guevara gab keine Antwort, sein S<strong>ch</strong>weigen war beredt genug. Zudem ma<strong>ch</strong>te ihn die<br />

Freundli<strong>ch</strong>keit des Generalkapitäns befangen. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> wurde er vor die angehäuften Golds<strong>ch</strong>ätze<br />

geführt.<br />

»No<strong>ch</strong> ist das Gold Eigentum unseres Kaisers...«, sagte Cortés.<br />

»Gott verhüte, dass es verloren gehe!«, rief Guevara ers<strong>ch</strong>reckt aus.<br />

Sie hatten si<strong>ch</strong> verstanden.<br />

»Gott hat es in Eure Hand gelegt, Señor«, sagte Cortés. »Vergesst au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t das Kreuz,<br />

das wir auf der großen Tempelpyramide erri<strong>ch</strong>tet haben. Wir haben den Auftrag Kaiser Karls getreuli<strong>ch</strong><br />

ausgeführt; was bedeutet dagegen die Meinung eines Gobernadors?«<br />

Er ließ an Guevara und dessen Begleiter großzügige Goldges<strong>ch</strong>enke verteilen. In weniger<br />

als vierundzwanzig Stunden waren aus Feinden Freunde geworden.<br />

Guevara verspra<strong>ch</strong>, bevor er wieder na<strong>ch</strong> Cempoala aufbra<strong>ch</strong>, Narváez' Heer günstig zu beeinflussen.<br />

Cortés gab ihm drei Briefe mit: einen an Narváez, einen an Lucas Vázquez de Aillón,<br />

Auditor beim Hieronymitenorden auf Haiti, und einen an den Sekretär des Gobernadors von Kuba,<br />

Andrés del Duero, der einst seine Bestallung zum capitán generál mit bester Tinte – de muy buen<br />

tinta – ges<strong>ch</strong>rieben hatte. Im Brief an Narváez erinnerte Cortés an ihre einstige Freunds<strong>ch</strong>aft und<br />

ihre gemeinsam erlittenen Strapazen bei der Pazifizierung der Insel Kuba; er ma<strong>ch</strong>te freunds<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e<br />

Vorwürfe, dass Narváez keinen Brief gesandt, dass er ihn ni<strong>ch</strong>t von seiner Ankunft und seinen<br />

Absi<strong>ch</strong>ten verständigt habe, und dass er si<strong>ch</strong> den Titel capitán generál beigelegt habe und in<br />

den Kaiser Karl gewonnenen Provinzen s<strong>ch</strong>alte und walte und friedli<strong>ch</strong>e Völker zum Kampf aufsta<strong>ch</strong>le.<br />

Cortés bes<strong>ch</strong>wor Narváez, das glückli<strong>ch</strong> begonnene Werk der Bekehrung dieser Heidenvölker<br />

ni<strong>ch</strong>t zu zerstören, sondern vereint mit ihm dieses Werk zu fördern, auf dass sie beide es zu<br />

Gottes und des Kaisers Ruhm und Vorteil zu Ende führen könnten.<br />

Pater Olmedo s<strong>ch</strong>loss si<strong>ch</strong> Guevara an und nahm ein paar s<strong>ch</strong>were Kisten mit na<strong>ch</strong><br />

Cempoala.<br />

*<br />

Drei Tage später - na<strong>ch</strong> langem Abwägen, denn das gärende Teno<strong>ch</strong>titlán gerade jetzt zu verlas-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 280<br />

sen, war ein Risiko ohneglei<strong>ch</strong>en – zog Cortés mit nur siebzig Mann Narváez entgegen. Den Rest<br />

des Heeres, hundertfünfzig Soldaten, Beamte und Handwerker, ließ Cortés unter dem Oberbefehl<br />

Alvarados zur Bewa<strong>ch</strong>ung Moctezumas und der Golds<strong>ch</strong>ätze in Teno<strong>ch</strong>titlán zurück.<br />

Cortés hatte no<strong>ch</strong> in Teno<strong>ch</strong>titlán von Velásquez de León einen Brief erhalten, dem ein<br />

S<strong>ch</strong>reiben des Narváez beigefügt war. Im Brief Don Pánfilos wurde Velásquez de León an seine<br />

Verwandts<strong>ch</strong>aft mit der Familie Velásquez gemahnt und aufgefordert, vom »Rebellen und Piraten<br />

Cortés« abzufallen und si<strong>ch</strong> dem Heer des Gobernadors von Kuba anzus<strong>ch</strong>ließen. In seinem Brief<br />

an Cortés jedo<strong>ch</strong> versi<strong>ch</strong>erte ihn Velásquez de León seiner Freunds<strong>ch</strong>aft und Treue. Wenn Cortés<br />

na<strong>ch</strong> Cempoala ziehe, werde er in Cholula mit ihm zusammenzutreffen und ihm seine hundertfünfzig<br />

Mann zuführen.<br />

Beim Lesen dieser Briefe war ein S<strong>ch</strong>atten von Misstrauen auf Cortés' Seele gefallen, hatte<br />

aber sofort klarer Einsi<strong>ch</strong>t wei<strong>ch</strong>en müssen. Auf wen war Verlass, wenn ni<strong>ch</strong>t auf den Treuesten<br />

der Treuen? Und denno<strong>ch</strong>... der S<strong>ch</strong>atten hatte eine unsi<strong>ch</strong>tbare Spur zurückgelassen. León war<br />

ein Velásquez! Er war einst an den Sanddünen ein erbitterter Gegner gewesen. Und seit Marina<br />

am Südwassersee von Xo<strong>ch</strong>imilco wegen la Azteca Tränen vergossen hatte, herrs<strong>ch</strong>te zwis<strong>ch</strong>en<br />

ihm und Cortés eine lei<strong>ch</strong>te Verstimmung.<br />

Cortés ließ Marina in Teno<strong>ch</strong>titlán zurück. Sie litt na<strong>ch</strong> dem Ringkampf mit Moctezuma häufig<br />

an Leibs<strong>ch</strong>merzen und musste das Bett hüten. Zum ersten Mal verließ er sie voller böser Ahnungen,<br />

da sie ihrer s<strong>ch</strong>weren Stunde entgegensah.<br />

Als er si<strong>ch</strong> von Moctezuma verabs<strong>ch</strong>iedete, sagte er: »I<strong>ch</strong> ziehe na<strong>ch</strong> Cempoala, aus keinem<br />

anderen Grund, als unsere Brüder zu begrüßen und zu verhindern, dass sie mexicanis<strong>ch</strong>es<br />

Land verwüsten. I<strong>ch</strong> werde sie au<strong>ch</strong> veranlassen, mi<strong>ch</strong> und mein Heer – sobald sie die Rückreise<br />

antreten – mit auf ihre S<strong>ch</strong>iffe zu nehmen. In wenigen Wo<strong>ch</strong>en werde i<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán zurückkehren<br />

und hoffe, dass Eure Majestät in der Zwis<strong>ch</strong>enzeit die Azteken zügelt und eine Kränkung<br />

der zurückbleibenden, dem Alvarado unterstellten Christen ni<strong>ch</strong>t dulden wird.«<br />

Moctezuma verspra<strong>ch</strong> es.<br />

Zweimal s<strong>ch</strong>on – vor bald einem Jahr – hatte Cortés si<strong>ch</strong> während kurzer Abwesenheit von<br />

Alvarado vertreten lassen, und beide Male musste er es bereuen: Der Tod des alten Suárez in der<br />

Tonne und langwierige Zwistigkeiten mit Avila waren die Folgen gewesen. Denno<strong>ch</strong> hatte er Alvarado<br />

jetzt wieder zu seinem Stellvertreter ernannt, weil niemand besser mit Indianern umzugehen<br />

verstand. Den Tlaxcalteken wie den Azteken war er Tonatiuh, die Sonne; eine funkelnde, s<strong>ch</strong>öne,<br />

wenn au<strong>ch</strong> sengende Sonne. Und bei Moctezuma stand er so sehr in der Gunst, dass er fordern<br />

und erwirken konnte, was er wollte. Vor der Abreise hatte Cortés ihm eindringli<strong>ch</strong> einges<strong>ch</strong>ärft, um<br />

jeden Preis Frieden mit den Azteken zu halten. Und nun, bei einem letzten Gesprä<strong>ch</strong>, sagte er:<br />

»Wir alle sind in größter Gefahr! Würde i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t die Fehler und S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en Don Pánfilos<br />

kennen, i<strong>ch</strong> müsste verzweifeln. I<strong>ch</strong> hoffe auf die Klugheit Pater Olmedos und das Gold in seinen<br />

Koffern. Fast no<strong>ch</strong> größere Gefahr droht eu<strong>ch</strong> Zurückbleibenden. Geht der Gefahr geflissentli<strong>ch</strong><br />

aus dem Weg! Sollten die Azteken si<strong>ch</strong> denno<strong>ch</strong> erheben, rettet mein Heer und den Golds<strong>ch</strong>atz<br />

auf die Brigantinen! Dass wir diese S<strong>ch</strong>iffe gebaut haben, ist mein größter Trost. Ohne die Brigantinen<br />

könnte i<strong>ch</strong> es ni<strong>ch</strong>t wagen, Narváez entgegen zu ziehen!«<br />

*<br />

In Eilmärs<strong>ch</strong>en wurde die erste Kordillerenkette überwunden. Als Cortés si<strong>ch</strong> mit seinem Häuflein<br />

der heiligen Stadt näherte, po<strong>ch</strong>te sein Herz und ließ si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zur Ruhe zwingen. Alles war verloren,<br />

wenn León ihn im Sti<strong>ch</strong> ließ. Kein Bote hatte bisher die Ankunft des Hauptmanns gemeldet. Je<br />

näher sie kamen, umso unerträgli<strong>ch</strong>er wurde die Spannung. Do<strong>ch</strong> Cortés hatte seinem Freund<br />

Unre<strong>ch</strong>t getan. Am Stadttor Cholulas kam León ihm entgegen geritten. Sie umarmten si<strong>ch</strong>, drückten<br />

si<strong>ch</strong> die Hände und versu<strong>ch</strong>ten beide, ihre Verlegenheit zu verbergen.<br />

Dann zogen sie gemeinsam ostwärts. S<strong>ch</strong>on hatten sie Tlaxcala und die Große Mauer hinter<br />

si<strong>ch</strong>, als ihnen in einer von tlamamas getragenen Sänfte Pater Olmedo entgegenkam. Er bra<strong>ch</strong>te<br />

gute Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten. Narváez war bei seinen eigenen Leuten unbeliebt. Kaum jemand nahm seine<br />

Prahlereien und Großmannssü<strong>ch</strong>te ernst. Guevara hatte den Leuten mit seiner Bes<strong>ch</strong>reibung der<br />

Herrli<strong>ch</strong>keiten Mexicos den Mund wässerig gema<strong>ch</strong>t. So konnten die Worte und Gaben Olmedos<br />

auf fru<strong>ch</strong>tbaren Boden fallen. Leider war sein Versu<strong>ch</strong>, Narváez selbst für den Frieden zu gewin-


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 281<br />

nen, vergebli<strong>ch</strong> gewesen, wennglei<strong>ch</strong> der Hieronymiten-Auditor Lucas Vásquez de Aillón seine<br />

Bitten und Ermahnungen unterstützt hatte. Der heißspornige Auditor hatte si<strong>ch</strong> sogar hinreißen<br />

lassen, Narváez den Tod und die Bes<strong>ch</strong>lagnahme seiner Güter anzudrohen, da er dur<strong>ch</strong> einen<br />

frevelhaften Krieg, nur um Diego Velásquez zu rä<strong>ch</strong>en, die Bekehrung der Heiden verhindern und<br />

Gott und Kaiser s<strong>ch</strong>ädigen wolle. Narváez hatte Velásquez de Aillón auf eines der a<strong>ch</strong>tzehn S<strong>ch</strong>iffe<br />

bringen lassen und na<strong>ch</strong> Kuba zurückges<strong>ch</strong>ickt. Von Olmedos bereits bes<strong>ch</strong>lossener Einkerkerung<br />

war Narváez dur<strong>ch</strong> den Sekretär Andrés del Duero abgebra<strong>ch</strong>t worden. Do<strong>ch</strong> wurde Olmedo<br />

aus Cempoala fortgewiesen und überbra<strong>ch</strong>te nun dem caudillo einen fre<strong>ch</strong>en Brief Don Pánfilos.<br />

Cortés sandte eine höfli<strong>ch</strong>e Antwort zurück und setzte den Weg na<strong>ch</strong> Osten fort.<br />

Beim Weißen Mondgefilde stieß Sandoval mit se<strong>ch</strong>zig Mann aus Veracruz zu ihm. Zwei seiner<br />

Leute, Alfonso Palanco und Bernardo Mendez, die ausgezei<strong>ch</strong>net Mexicanis<strong>ch</strong> spra<strong>ch</strong>en, hatten<br />

si<strong>ch</strong> vor wenigen Tagen als indianis<strong>ch</strong>e Fru<strong>ch</strong>thändler verkleidet und bemalt in Cempoala einges<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />

und die Lage ausgekunds<strong>ch</strong>aftet. Unter anderem hatten sie in Erfahrung gebra<strong>ch</strong>t,<br />

dass Narváez vom Narren Cervantes und dem alten Heredia fals<strong>ch</strong> unterri<strong>ch</strong>tet worden war. Die<br />

beiden hatten si<strong>ch</strong> auf das Flaggs<strong>ch</strong>iff begeben, wo ihnen Narváez gutes Essen und no<strong>ch</strong> besseren<br />

Wein vorsetzen ließ. Essend und trinkend hatten sie – sei es aus Dankbarkeit, sei es aus<br />

Großspre<strong>ch</strong>erei – die Bewirtung und den Gastgeber in den Himmel gehoben und über die s<strong>ch</strong>male<br />

Kost, Hungerleiderei und Plackerei in Mexico geklagt: Die Soldaten des Cortés ernährten si<strong>ch</strong> fast<br />

auss<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> von Mais und Mehlwürmern, und Wein bekämen sie überhaupt ni<strong>ch</strong>t zu sehen. Ein<br />

Hundeleben müssten sie führten! Cortés gönne ihnen keine freie Stunde, bestrafe die geringsten<br />

Vergehen mit dem Tod und habe siebenhunderttausend Dukaten in die eigene Tas<strong>ch</strong>e wandern<br />

lassen. Darum verabs<strong>ch</strong>euten ihn seine Soldaten und würden Don Pánfilo als Befreier begrüßen.<br />

In Cempoala bewohnte Narváez den Haupttempel, wie Cortés vor einem Jahr. Ohne<br />

S<strong>ch</strong>wertstrei<strong>ch</strong> hatte der dicke Kazike die Stadt übergeben, na<strong>ch</strong>dem ihm der Narr Cervantes als<br />

Gesandter des Narváez auseinandergesetzt hatte, dass Cortés ein Räuber sei. Eifriger als<br />

Narváez betrieb el Gordo seitdem den Krieg gegen Cortés, dessen Räubertum er von jeher dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>aut<br />

zu haben behauptete. Und er bedauerte, keine zweite dicke Prinzessin zu haben, die er<br />

Narváez zur Ehefrau geben könne. Die dicke Prinzessin aber war Mutter geworden und glaubte,<br />

ihrem Vater zum Trotz, an die göttli<strong>ch</strong>e Abstammung ihres Sprösslings.<br />

Lustiges wussten die Kunds<strong>ch</strong>after au<strong>ch</strong> vom besten Freund des Narváez zu beri<strong>ch</strong>ten,<br />

Hauptmann Salvatierra. Dieser Eisenfresser nannte Cortés nie anders als Cortésillo, den »kleinen,<br />

unbedeutenden Cortés«. Salvatierra s<strong>ch</strong>wor, Cortés die Ohren abzus<strong>ch</strong>neiden, sie zu braten und<br />

zu essen. Als die beiden Kunds<strong>ch</strong>after Cempoala verlassen wollten, sahen sie das Pferd<br />

Salvatierras unbewa<strong>ch</strong>t vor einem Haus und nahmen es mit ritt Salvatierra ritt den vermeintli<strong>ch</strong>en<br />

Indianern na<strong>ch</strong> und erwies si<strong>ch</strong> als erbärmli<strong>ch</strong>er Feigling: Alfonso Palanco und Bernardo Mendez<br />

setzten si<strong>ch</strong> zur Wehr, verjagten ihn und bra<strong>ch</strong>ten das Pferd na<strong>ch</strong> Veracruz.<br />

*<br />

Die letzten Höhenzüge wurden überwunden, das Irdis<strong>ch</strong>e Paradies errei<strong>ch</strong>t. Cortés nahm eine<br />

Inspektion seines Heeres vor. Er zählte zweihundertse<strong>ch</strong>sundse<strong>ch</strong>zig Mann und fünf Pferde.<br />

Der Sekretär Andrés del Duero hatte mit einiger Mühe von Narváez die Erlaubnis erwirkt,<br />

Cortés aufzusu<strong>ch</strong>en. No<strong>ch</strong> kurze Zeit zuvor hätte Cortés si<strong>ch</strong> ungern daran erinnern lassen, dass<br />

er dem Sekretär einst auf Kuba für seine Ernennung zum Generalkapitän eine Beteiligung an den<br />

Erträgen des Unternehmens verspro<strong>ch</strong>en hatte. Jetzt aber freute er si<strong>ch</strong>, Andrés del Duero wieder<br />

zu sehen, dessen Eigennützigkeit au<strong>ch</strong> ihm Vorteil bringen konnte. In langem Gesprä<strong>ch</strong> erörterten<br />

sie die Mögli<strong>ch</strong>keiten einer friedli<strong>ch</strong>en Lösung. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> nahm der Sekretär den Hauptmann<br />

Velásquez de León – der si<strong>ch</strong> erst weigerte und von Cortés überredet werden musste – mit zu<br />

Narváez.<br />

Narváez saß mit seinen Hauptleuten Salvatierra, Gamarra, Juan Juste und anderen beim<br />

Mittagsmahl, als León und Duero eintrafen. Jovial lud Don Pánfilo seinen Vetter zu Tis<strong>ch</strong>; bei ihm<br />

gebe es no<strong>ch</strong> Wein und gepökeltes Fleis<strong>ch</strong>. Dass Don Pánfilo und seine Tis<strong>ch</strong>genossen dem Wein<br />

s<strong>ch</strong>on ordentli<strong>ch</strong> zugespro<strong>ch</strong>en hatten, war an ihren geröteten Gesi<strong>ch</strong>tern und ihrem derben Gelä<strong>ch</strong>ter<br />

zu erkennen. León ents<strong>ch</strong>uldigte si<strong>ch</strong>, seine Zeit sei kurz bemessen; er sei nur gekommen,<br />

seinen Verwandten zu begrüßen und na<strong>ch</strong> einer Lösung zu su<strong>ch</strong>en, den Streitfall beizulegen.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 282<br />

»Kommt, esst und trinkt mit uns, Don Juan, und su<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t den Stein der Weisen!«, rief<br />

Narváez la<strong>ch</strong>end. »Den Streitfall werde i<strong>ch</strong> auf dem S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tfeld beilegen – das wird die einfa<strong>ch</strong>ste<br />

Lösung sein!«<br />

Die anderen la<strong>ch</strong>ten beifällig.<br />

»Wenn es Eu<strong>ch</strong> glückt!«, bemerkte León.<br />

»Oho! Wir haben die vierfa<strong>ch</strong>e Überma<strong>ch</strong>t!«<br />

»Die hatte au<strong>ch</strong> Goliath, und do<strong>ch</strong> blieb David Sieger!«<br />

»Er hält zum Cortésillo, zu diesem Ni<strong>ch</strong>ts, zu diesem Weniger als Ni<strong>ch</strong>ts!«, feixte Salvatierra.<br />

»Für unsereins lohnt's ja gar ni<strong>ch</strong>t, den Fuß zu heben, sol<strong>ch</strong> ein Insekt, sol<strong>ch</strong> eine Milbe zu zertreten<br />

wie den Cortésillo – der kleine Finger genügt! Da, s<strong>ch</strong>aut: So wis<strong>ch</strong>t man's weg, und ni<strong>ch</strong>t einmal<br />

ein Fleck bleibt auf dem Tis<strong>ch</strong>tu<strong>ch</strong>!«<br />

»Seid vernünftig, Don Juan, bleibt bei uns! Ihr wisst ni<strong>ch</strong>t, dass Cortés verloren ist, aber i<strong>ch</strong><br />

weiß es!«<br />

»Was wisst Ihr...?«<br />

»Warum soll i<strong>ch</strong> es Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t sagen?« Narváez la<strong>ch</strong>te. »Fünf Tage, bevor Cortés von unserer<br />

Ankunft erfuhr, stand i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on mit Moctezuma in Verbindung!«<br />

»Das kann ni<strong>ch</strong>t sein, Don Pánfilo. Moctezuma erfuhr später als wir von Eu<strong>ch</strong>! Und er ma<strong>ch</strong>te<br />

Cortés Vorwürfe, dass er es ihm vers<strong>ch</strong>wiegen hatte.«<br />

»Moctezuma ist gerissener als Ihr glaubt! Wir sandten uns gegenseitig mehrmals Boten zu,<br />

und dreimal s<strong>ch</strong>ickte er mir kostbare Goldges<strong>ch</strong>enke. Wir sind Bundesgenossen. Seinetwegen darf<br />

i<strong>ch</strong> auf Friedensvors<strong>ch</strong>läge ni<strong>ch</strong>t eingehen.«<br />

»Seinetwegen? Wie meint Ihr das?«, fragte León.<br />

»Weil i<strong>ch</strong> ihn ni<strong>ch</strong>t im Sti<strong>ch</strong> lassen will! Wir haben einen Pakt ges<strong>ch</strong>lossen. Während i<strong>ch</strong> mit<br />

Cortés kämpfe, wird er mit Alvarado kämpfen. Ihr könnt Eu<strong>ch</strong> selbst ausre<strong>ch</strong>nen, was das heißt!«<br />

León s<strong>ch</strong>wieg eine Zeit lang niederges<strong>ch</strong>lagen. Do<strong>ch</strong> als Narváez ihn weiterhin zu überreden<br />

versu<strong>ch</strong>te, vom Ho<strong>ch</strong>verräter Cortés abzulassen, brauste León auf und verbat si<strong>ch</strong>, dass Cortés in<br />

seiner Gegenwart mit sol<strong>ch</strong>en Ausdrücken beda<strong>ch</strong>t werde. Das La<strong>ch</strong>en verstummte. Salvatierra<br />

und die anderen Trinkkumpane Don Pánfilos hetzten: León verdiene für seine Freimütigkeit den<br />

Kerker. Andrés del Duero und ein alter Oberri<strong>ch</strong>ter bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigten. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lug Narváez<br />

vor, seine Truppen vor León exerzieren zu lassen. Aber der verabs<strong>ch</strong>iedete si<strong>ch</strong>. Einer seiner Vettern<br />

rief ihm na<strong>ch</strong>:<br />

»Ihr seid ein s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ter Velásquez, Don Juan, wenn Ihr zu den S<strong>ch</strong>napphähnen zurückkehrt!«<br />

León antwortete, seine Kameraden seien ehrli<strong>ch</strong>e Männer, und er sei kein s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>terer<br />

Velásquez als andere Velásquez und er würde die Wahrheit seiner Worte gerne mit der Klinge<br />

beweisen. Do<strong>ch</strong> Salvatierra gab León den Rat, si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>leunigst zu entfernen; andernfalls würde er<br />

Specksalat aus ihm ma<strong>ch</strong>en.<br />

Wütend ritt Velásquez de León davon.<br />

»Moctezuma, dieser Hund, hat mi<strong>ch</strong> an der Nase herumgeführt!«, rief Cortés, als León ihm<br />

alles beri<strong>ch</strong>tet hatte.<br />

»Viellei<strong>ch</strong>t hat Narváez gelogen!«, meinte León.<br />

»Nein, er lügt ni<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong> er irrt! Er irrt, weil er Moctezumas Feigheit ni<strong>ch</strong>t kennt. Erst wenn<br />

wir besiegt sind, wird Moctezuma den Überfall wagen. Aber wir sind ni<strong>ch</strong>t besiegt und werden es<br />

niemals sein!«<br />

»Ja, wir müssen siegen, weil wir Verzweifelte sind!« Velásquez de León s<strong>ch</strong>aute Cortés in<br />

die Augen. »Und wenn Narváez do<strong>ch</strong>...? I<strong>ch</strong> habe seine Armee gesehen!«<br />

»Aber León! Es ist vorgesorgt. Alvarado hat die Brigantinen...!«<br />

*<br />

Velásquez de León hatte Cempoala s<strong>ch</strong>on verlassen, als der dicke Kazike mit kleinem Gefolge vor<br />

Narváez' Ze<strong>ch</strong>tafel trat. Der Narr Cervantes wurde gerufen, die Reden des Königs zu dolmets<strong>ch</strong>en.<br />

»O großer Krieger, o Sohn der Sonne!«, sagte der dicke Kazike. »Du trinkst Wein, do<strong>ch</strong> Cortés<br />

trinkt keinen!«


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 283<br />

Die Günstlinge des Narváez bra<strong>ch</strong>en in grölendes Gelä<strong>ch</strong>ter aus.<br />

»Armer Cortésillo!«, rief Salvatierra. »Armer Wassertrinker! Hat ni<strong>ch</strong>t mal Wein, die Sorgen<br />

hinunterzus<strong>ch</strong>wemmen! Ist nü<strong>ch</strong>tern wie sein leerer Magen!«<br />

»O Sohn der Sonne!«, sagte der dicke Kazike zu Narváez. »Du lebst unbekümmert, do<strong>ch</strong><br />

Cortés kümmert si<strong>ch</strong> um alles, weiß alles dur<strong>ch</strong> Kunds<strong>ch</strong>after.«<br />

»Das glauben wir dir gern, Dickwanst«, hohnla<strong>ch</strong>te Salvatierra. »Wir glauben dir, dass Cortés<br />

bekümmert lebt! Er für<strong>ch</strong>tet um seine Ohren!«<br />

»O Sohn der Sonne!«, sagte der dicke Kazike. »Am anderen Ufer des Flusses Nahutla steht<br />

Cortés s<strong>ch</strong>on bereit! Zieh ihm entgegen, bevor er eine Brücke baut oder eine Furt findet! Sonst<br />

wird er plötzli<strong>ch</strong> wie ein Sturmwind hier sein und uns alle seiner weißen Göttin Malía opfern!«<br />

Wieder riefen seine Worte dröhnendes Gelä<strong>ch</strong>ter hervor, sodass der dicke Kazike si<strong>ch</strong> einges<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tert<br />

zurückzog. Do<strong>ch</strong> der Narr Cervantes blieb und flüsterte in ernstem Tonfall mit<br />

Narváez, während Salvatierra für neue La<strong>ch</strong>salven sorgte, indem er seinen Ze<strong>ch</strong>kumpanen versi<strong>ch</strong>erte,<br />

er zittere wie Espenlaub vor Cortés.<br />

Überredet von Cervantes, den Rat des dicken Kaziken ni<strong>ch</strong>t in den Wind zu s<strong>ch</strong>lagen, ma<strong>ch</strong>te<br />

Narváez dem Trinkgelage ein Ende und gab bekannt, er wolle das Heer an den kaum eine<br />

Stunde von Cempoala entfernten Nahutla-Fluss führen. Die Hauptleute widersetzten si<strong>ch</strong> zuerst:<br />

Ein Ni<strong>ch</strong>ts wie der Cortésillo sei so viel Bea<strong>ch</strong>tung ni<strong>ch</strong>t wert. Denno<strong>ch</strong> blieb Narváez bei seinem<br />

Ents<strong>ch</strong>luss und gab Befehl, zur S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t zu rüsten.<br />

Der Abend dunkelte, bevor das Heer mars<strong>ch</strong>bereit war. Als Narváez seine Truppen dur<strong>ch</strong><br />

das Stadttor Cempoalas führte, begann es zu nieseln, und als das bewaldete, morastige Ufer des<br />

Nahutla errei<strong>ch</strong>t war, fiel starker Regen auf die na<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>warze Lands<strong>ch</strong>aft. Kunds<strong>ch</strong>after des dicken<br />

Kaziken hatten sie geführt und versi<strong>ch</strong>erten, die Streitma<strong>ch</strong>t des Feindes befinde si<strong>ch</strong> gegenüber<br />

am anderen Ufer. Do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts regte si<strong>ch</strong> drüben, ni<strong>ch</strong>ts ließ si<strong>ch</strong> in der Dunkelheit erkennen.<br />

Alles war still, nur der Regen raus<strong>ch</strong>te eintönig. Narváez s<strong>ch</strong>ickte Leute aus, na<strong>ch</strong> einer Furt zu<br />

su<strong>ch</strong>en, do<strong>ch</strong> sie kehrten unverri<strong>ch</strong>teter Dinge zurück: Der Fluss war anges<strong>ch</strong>wollen und wegen<br />

der Regengüsse ni<strong>ch</strong>t zu dur<strong>ch</strong>queren.<br />

Die Truppe, ni<strong>ch</strong>t an Strapazen gewöhnt, murrte; die Offiziere und Hauptleute waren unzufrieden,<br />

und selbst Narváez hatte im anhaltenden Platzregen bald die Nase voll. Na<strong>ch</strong> einer Stunde<br />

Aufenthalt führte Don Pánfilo sein Heer wieder heim in das wirtli<strong>ch</strong>e Cempoala und ließ am<br />

Fluss – als S<strong>ch</strong>ildwa<strong>ch</strong>e und Beoba<strong>ch</strong>tungsposten – seinen Kämmerer Hurtado und einen gewissen<br />

Carrasco zurück.<br />

*<br />

Der Astrologe Botello hatte ein gutes Horoskop erstellt. Cortés wollte dem na<strong>ch</strong>helfen und in der<br />

Na<strong>ch</strong>t den ents<strong>ch</strong>eidenden S<strong>ch</strong>lag führen. Er hatte eine Furt ausfindig ma<strong>ch</strong>en können und war<br />

dur<strong>ch</strong> Kunds<strong>ch</strong>after über das Anrücken Don Pánfilos und sein unüberlegtes Zurückwei<strong>ch</strong>en informiert.<br />

Er teilte sein Heer in drei Truppen: Sandoval unterstellte er Velásquez de León und Ordás<br />

mit siebzig Mann und erteilte ihm den Auftrag, Don Pánfilo zu fangen oder zu töten. Den Oberbefehl<br />

über das Gros des Heeres übertrug er Olíd und gesellte ihm Avila, Tapia und Lugo als Unterführer<br />

hinzu. Er selbst behielt si<strong>ch</strong> die Führung einer dritten, kleinen Abteilung von fünfundzwanzig<br />

Hellebardieren vor.<br />

In nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er Finsternis, bei strömendem Regen und peits<strong>ch</strong>endem Wind las Pater Olmedo<br />

die Messe. Cortés, die Feldobristen und sämtli<strong>ch</strong>e Soldaten bei<strong>ch</strong>teten, nahmen das Abendmahl<br />

und erhielten Absolution.<br />

Dann bra<strong>ch</strong>en sie in disziplinierter Ordnung auf. Ohne Trompetensignal, ohne Rufe und Ges<strong>ch</strong>rei<br />

stapften die S<strong>ch</strong>werbewaffneten über den Trampelpfad dur<strong>ch</strong> Urwaldgestrüpp zur Furt. Das<br />

Wasser rei<strong>ch</strong>te bis an die S<strong>ch</strong>ultern; sie mussten ihre Musketen und Pulverhörner ho<strong>ch</strong> über den<br />

Kopf heben. Do<strong>ch</strong> das andere Ufer wurde ohne Zwis<strong>ch</strong>enfall errei<strong>ch</strong>t. Dort stand ein Mann. Fast<br />

wäre er ers<strong>ch</strong>ossen worden. Es war der alte, halb erblindete Juan Torrés, der Einsiedler Unserer<br />

Frau der blutroten Rosen auf der Pyramide von Cempoala. Man bra<strong>ch</strong>te ihn vor Cortés.<br />

Torrés war von Doña Catalina India gesandt worden, der dicken Prinzessin Freundli<strong>ch</strong>es<br />

Wasser. Sie habe si<strong>ch</strong> in der Nähe versteckt, meldete er, und sie für<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong>, vor Cortés hinzutreten,<br />

da ihr Vater ihn verraten habe. Do<strong>ch</strong> sie lasse ihm sagen, dass der Vater ihres Kindes es ni<strong>ch</strong>t


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 284<br />

bereuen werde, wenn er sie gnädig anhöre.<br />

Cortés hatte eigentli<strong>ch</strong> kein großes Verlangen, seine zweite Gemahlin so plötzli<strong>ch</strong> wieder zu<br />

sehen. Aber die dicke Prinzessin s<strong>ch</strong>ien zu ihm zu halten, also konnte sie von Nutzen sein.<br />

»Sie soll kommen«, ließ er ihr ausri<strong>ch</strong>ten, »i<strong>ch</strong> freue mi<strong>ch</strong>, Doña Catalina zu begrüßen.«<br />

Aus ihrer Sänfte hervorquellend, hielt sie ihm ihren Sprössling entgegen. Der kleine rundli<strong>ch</strong>e<br />

Bub krähte freundli<strong>ch</strong>, sah Cortés mit großen Kulleraugen an und streckte ihm seine Ärm<strong>ch</strong>en entgegen.<br />

Für Vaterfreuden fehlte es Cortés jedo<strong>ch</strong> an Zeit. Verlegen strei<strong>ch</strong>elte er dem Kleinen das<br />

Köpf<strong>ch</strong>en und fragte glei<strong>ch</strong>zeitig die dicke Prinzessin, warum sie si<strong>ch</strong> in Gefahr begebe und hierher<br />

komme.<br />

Sie erwiderte: »O Grüner Stein, o mein Herr und Gemahl, i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>äme i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> so sehr des<br />

Verrats meines Vaters. Da ist es nur gere<strong>ch</strong>t, wenn i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> helfe, die Gefahr zu besiegen. Ein<br />

unterirdis<strong>ch</strong>er Gang verbindet den Tecpan meines Vaters mit den Kellerräumen des Teocalli – den<br />

Weg kann i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> zeigen; und aus den Kellerräumen führen Treppen zur Spitze hinauf. Den Weg<br />

könnte Juan Torrés Eu<strong>ch</strong> zeigen. Stehen Eure Leute erst auf dem Gipfel des Teocalli, können sie<br />

ihre Feuerrohre auf die Feinde hinabblitzen lassen und si<strong>ch</strong> der a<strong>ch</strong>tzehn Donnerwaffen bemä<strong>ch</strong>tigen,<br />

die Narváez auf die zweite Plattform des Tempels hinaufs<strong>ch</strong>affen ließ.«<br />

Cortés fand den Vors<strong>ch</strong>lag einleu<strong>ch</strong>tend. Der alte Torrés aber s<strong>ch</strong>üttelte traurig den Kopf.<br />

»Señor Capitán, das tue i<strong>ch</strong> ungern...«<br />

»Was?«<br />

»Zu meinen Vögeln droben sag i<strong>ch</strong> immer: Liebt einander! I<strong>ch</strong> sage niemals, hasst einander!«<br />

»Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> Vögel kämpfen mitunter, guter Mann! Und wir haben jetzt Krieg!«<br />

»Gewiss, gewiss. Wer so ho<strong>ch</strong> wohnt wie i<strong>ch</strong>, muss ja au<strong>ch</strong> Falken füttern können... Der liebe<br />

Gott ist ni<strong>ch</strong>t nur Taube, er ist au<strong>ch</strong> Falke. Er wird s<strong>ch</strong>on wissen, wozu er die Raubvögel ers<strong>ch</strong>affen<br />

hat!«<br />

»Also gut. Voran denn!«<br />

Der Generalkapitän ritt in der Mitte seiner im Gänsemars<strong>ch</strong> mars<strong>ch</strong>ierenden Truppe. Er ließ<br />

sie langsam vorrücken; sie sollte ni<strong>ch</strong>t ermüdet in Cempoala eintreffen, wenn sie Narváez' Leute –<br />

die ihn heute Na<strong>ch</strong>t wohl ni<strong>ch</strong>t mehr erwarteten – aus sorglosem S<strong>ch</strong>laf ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>recken würde.<br />

Aber beinahe wäre sein Plan ni<strong>ch</strong>t aufgegangen. Na<strong>ch</strong> einer halben Stunde gab es Unruhe an der<br />

Spitze seines Zuges. Zwei Soldaten, die einen Dritten gepackt hielten, eilten na<strong>ch</strong> hinten zum<br />

caudillo. Die beiden von Narváez zurückgelassenen S<strong>ch</strong>ildwa<strong>ch</strong>en waren entdeckt worden; sie<br />

hatten Carrasco festgenommen, do<strong>ch</strong> Hurtado, Don Pánfilos Kämmerer, konnte entkommen. Aus<br />

Carrasco ließ si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts herausholen; als er von Olíd, der ihn s<strong>ch</strong>recken wollte, an einen Baumast<br />

gehängt und von Rodrigo Rangel aus der peinli<strong>ch</strong>en Lage befreit worden war, blieb er sogar seinem<br />

Befreier gegenüber vers<strong>ch</strong>wiegen.<br />

Na<strong>ch</strong> der Flu<strong>ch</strong>t Hurtados durfte Cortés ni<strong>ch</strong>t<br />

mehr darauf hoffen, den Feind unversehens zu überras<strong>ch</strong>en.<br />

An eine Überrumpelung im Dunkel der<br />

Sturmna<strong>ch</strong>t war ni<strong>ch</strong>t zu denken. Und dass Hurtado<br />

na<strong>ch</strong> Cempoala lief und dort Lärm s<strong>ch</strong>lug, war gewiss.<br />

Trotzdem änderte Cortés seinen Plan ni<strong>ch</strong>t,<br />

sondern mars<strong>ch</strong>ierte nun im Eils<strong>ch</strong>ritt auf die Stadt<br />

zu. Er würde einen vom Alarm verwirrten, unvorbereiteten<br />

Feind überfallen.<br />

Sieg über Narváez (Spanis<strong>ch</strong>e Darstellung)<br />

Das Glück blieb ihm treu, weil Narváez und Salvatierra<br />

Hurtado ausla<strong>ch</strong>ten, der gegen Mitterna<strong>ch</strong>t<br />

atemlos in Cempoala eintraf. Sie verspotteten ihn als<br />

gespenstersi<strong>ch</strong>tigen Feigling. Cortés sei ihm auf den<br />

Fersen, hatte Hurtado ges<strong>ch</strong>rien. Trotzdem brau<strong>ch</strong>te er große Überredungskünste, damit die Diener<br />

ihn in die Gemä<strong>ch</strong>er zu Narváez vorließen. Don Pánfilo, im Na<strong>ch</strong>tgewand, la<strong>ch</strong>te, flu<strong>ch</strong>te und<br />

putzte seine Diener herunter, weil sie es gewagt hatten, ihn wegen sol<strong>ch</strong>em Firlefanz zu wecken.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 285<br />

Wie sollte Cortésillo es mit seinem winzigen Häuflein riskieren, eine viermal so große Überma<strong>ch</strong>t<br />

anzugreifen! Unglaubli<strong>ch</strong>!<br />

Do<strong>ch</strong> es gab au<strong>ch</strong> erfahrene Soldaten in Don Pánfilos Heer. Sie wussten, dass alles mögli<strong>ch</strong><br />

war. Diese Männer hatten si<strong>ch</strong> angekleidet und bewaffnet; andere liefen bei strömendem Regen in<br />

der Dunkelheit dur<strong>ch</strong>einander, während Sturmböen heulten und Trompetensignale erklangen.<br />

Do<strong>ch</strong> Narváez bekam einen Tobsu<strong>ch</strong>tsanfall, untersagte den Alarm und befahl den Männer, si<strong>ch</strong><br />

wieder s<strong>ch</strong>lafen zu legen. Do<strong>ch</strong> der Regen und die Sturmböen gehor<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t, und au<strong>ch</strong> einige<br />

Soldaten widersetzten si<strong>ch</strong>. Und Hurtado gab keine Ruhe. Er sei weder ein Feigling no<strong>ch</strong> ein Spinner!<br />

Carrasco sei Don Hernándo in die Hände gefallen, und gewiss würde Cortés glei<strong>ch</strong> hier sein!<br />

Von einigen Einsi<strong>ch</strong>tigen begleitet, erzwang Hurtado si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> einmal Zutritt bei Narváez<br />

und bemühte si<strong>ch</strong>, seinen Herrn zu überzeugen, dass er ni<strong>ch</strong>t geträumt habe, dass seine Meldung<br />

ernst zu nehmen sei.<br />

Do<strong>ch</strong> Narváez sagte: »Das ist S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>sinn! Undenkbar! Cortés kann unmögli<strong>ch</strong> den Fluss<br />

übers<strong>ch</strong>reiten!«<br />

»Do<strong>ch</strong>, Euer Ehren, glaubt mir!« Hurtado spreizte zwei Finger und hielt sie si<strong>ch</strong> vors Gesi<strong>ch</strong>t.<br />

»Mit diesen Augen habe i<strong>ch</strong> es gesehen! Plötzli<strong>ch</strong> standen sie da: Carrasco wurde zu Boden geworfen<br />

und gefesselt, aber i<strong>ch</strong> hab mi<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>nell in der Dunkelheit davongema<strong>ch</strong>t. Es waren Spanier,<br />

Leute des Cortés!«<br />

Narváez erhitzte si<strong>ch</strong>: »I<strong>ch</strong> bin kein Narr, der si<strong>ch</strong> Ammenmär<strong>ch</strong>en aufbinden lässt! Vers<strong>ch</strong>windet<br />

jetzt! Geht s<strong>ch</strong>lafen, oder i<strong>ch</strong> rufe den Profos!«<br />

So zogen sie murrend ab. Kaum waren sie draußen, begann eine wilde S<strong>ch</strong>ießerei. Sandovals<br />

siebzig Mann stürmten mitten unter die nur zum <strong>Teil</strong> bekleideten und kaum bewaffneten Soldaten.<br />

»Ergebt eu<strong>ch</strong>!«, riefen sie.<br />

»Wir sind au<strong>ch</strong> Spanier!«<br />

»Ergebt eu<strong>ch</strong>!«<br />

»Wir sind eure Brüder!«<br />

Einzelne S<strong>ch</strong>üsse peits<strong>ch</strong>ten dur<strong>ch</strong> die Na<strong>ch</strong>t. Sebastián Rodríguez blies das Sturmsignal<br />

auf seiner lilienförmigen Kupfertrompete, und der Tambour Canillas rührte die Trommel. Hurtado<br />

hatte ni<strong>ch</strong>t gelogen: Cortesillo griff an.<br />

S<strong>ch</strong>on donnerten die Ges<strong>ch</strong>ütze auf dem Teocalli; ihre Feuers<strong>ch</strong>lünde zuckten aufblitzend<br />

ins Dunkel, s<strong>ch</strong>ossen über die Köpfe der Anrückenden hinweg und ma<strong>ch</strong>ten mit ihrem Getöse die<br />

Verwirrung no<strong>ch</strong> größer. Narváez fand gerade no<strong>ch</strong> Zeit, gepanzert und behelmt die Pyramidentreppe<br />

hinauf zu eilen. Mit nur neunzehn Mann wehrte er si<strong>ch</strong> gegen Sandoval, der ihm sofort mit<br />

seinen Leuten gefolgt war. Auf der s<strong>ch</strong>malen Treppe, auf der kaum zwei Mann nebeneinander<br />

fe<strong>ch</strong>ten konnten, hätte Narváez si<strong>ch</strong> längere Zeit halten können, do<strong>ch</strong> Cortés stürmte mit seinen<br />

fünfundzwanzig Hellebardieren von der obersten Plattform auf Narváez herab. Narváez erkannte<br />

Cortés und warf si<strong>ch</strong> ihm entgegen. Da traf ihn die Hellebarde des s<strong>ch</strong>önhändigen Lope Cano ins<br />

linke Auge.<br />

»Santa Maria!«, s<strong>ch</strong>rie er, taumelte und stürzte ohnmä<strong>ch</strong>tig zu Boden.<br />

Eine Zeit lang tobte no<strong>ch</strong> der Kampf. Vier von Narváez neunzehn Mitstreitern auf der Plattform<br />

bezahlten den Versu<strong>ch</strong>, ihn zu bergen, mit dem Leben, die anderen ergaben si<strong>ch</strong>. Ras<strong>ch</strong> war der<br />

Sieg Cortés zugefallen.<br />

Der Ohnmä<strong>ch</strong>tige wurde die Treppe der Pyramide hinuntergetragen. Bei seinem Anblick –<br />

man hielt ihn für tot – streckte au<strong>ch</strong> der Rest seiner am Fuße des Tempels kämpfenden Truppen<br />

die Waffen. Das Triumphges<strong>ch</strong>rei der Sieger übertönte den Orkan.<br />

Inzwis<strong>ch</strong>en hatte Olíd zwei bena<strong>ch</strong>barte Teocalli gestürmt und vom Feind gesäubert. Im Heiligtum<br />

eines dritten Teocalli hielt si<strong>ch</strong> Salvatierra vers<strong>ch</strong>anzt. Velásquez de León hatte ihn von Terrasse<br />

zu Terrasse na<strong>ch</strong> oben gedrängt. Salvatierra wollte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ergeben. Erst als León das<br />

Binsenda<strong>ch</strong> des Sanktuars in Brand stecken ließ, gab Salvatierra mit seiner kleinen Manns<strong>ch</strong>aft<br />

auf und ließ si<strong>ch</strong> gefangen nehmen. Bei ihm war au<strong>ch</strong> jener Neffe, der Velásquez de León einen<br />

s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten Velásquez genannt hatte. León ließ ihm die Wunde verbinden, die er am Arm davongetragen<br />

hatte.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 286<br />

Au<strong>ch</strong> den no<strong>ch</strong> immer bewusstlosen Narváez hatten sie verbunden, dann aber – wie<br />

Hauptmann Salvatierra – in Ketten gelegt. So wurde er am anderen Tag vor Cortés geführt.<br />

Obwohl ein tü<strong>ch</strong>tiger und pfli<strong>ch</strong>tbewußter<br />

Soldat, war Narváez do<strong>ch</strong> kein ebenbürtiger<br />

Gegner für Cortez. Die Abbildung aus einem<br />

Werk des 18. Jahrhunderts zeigt ihn, das geblendete<br />

Auge verbunden, während ihn Cortez'<br />

Leute in Fesseln legen Biblioteca<br />

Nacional, Madrid).<br />

»Ihr könnt Eurem Glück danken, Señor<br />

Cortés!«, sagte er.<br />

»Mein Dank gebührt Gott!«, entgegnete<br />

der. »Ihr habt Eu<strong>ch</strong> Eurer Überma<strong>ch</strong>t gerühmt<br />

und auf die große Zahl Eurer Männer vertraut,<br />

aber auf mein Gewissen, Don Pánfilo: Von<br />

allen meinen Siegen in diesem Land war dies<br />

der lei<strong>ch</strong>teste!«<br />

Narváez und Salvatierra wurden na<strong>ch</strong><br />

Veracruz gebra<strong>ch</strong>t und in Haft gehalten.<br />

In seinem Beri<strong>ch</strong>t an den Kaiser ließ<br />

Cortés seinen Chronisten López de Gómera<br />

erklären: »Wahrhaftig, hätte der Allmä<strong>ch</strong>tige<br />

seine gewohnte Güte und Barmherzigkeit in<br />

diesem Handel ni<strong>ch</strong>t so augens<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> bewiesen und hätte Narváez triumphiert, so musste<br />

S<strong>ch</strong>ad' und S<strong>ch</strong>ande daraus erwa<strong>ch</strong>sen, wie sie den Hispaniern no<strong>ch</strong> nie begegnet. Dieses<br />

ganze Land wäre Eurer Kaiserli<strong>ch</strong>en Majestät verloren gewesen...«<br />

*<br />

In Teno<strong>ch</strong>titlán hatte Alvarado na<strong>ch</strong> Cortés' Abreise tägli<strong>ch</strong> mit Moctezuma Ball und Patolli gespielt<br />

oder war mit ihm auf einer der Brigantinen auf dem S<strong>ch</strong>ilfsee gesegelt. Er konnte keinerlei Veränderung<br />

im Verhalten des Königs, des Adels und des Volkes feststellen. Alvarado, dem beliebten<br />

Sonnenherrn, begegneten alle mit unverminderter Freundli<strong>ch</strong>keit. Do<strong>ch</strong> er war auf der Hut, ahnte<br />

ein Wetterleu<strong>ch</strong>ten, wenn er au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t sagen konnte, von wo die Wolken heranziehen würden.<br />

Moctezuma zauderte wieder. Zwar hatten seine Gesandten einen Pakt mit Narváez ges<strong>ch</strong>lossen,<br />

do<strong>ch</strong> er hatte zu wenig Selbstvertrauen und wollte erst abwarten, ob das Waffenglück<br />

si<strong>ch</strong> Narváez oder Cortés zuneigte. Das Bild vom Fis<strong>ch</strong> im Netz, der nur so lange lebt, als das<br />

Netz im Wasser blieb, war ihm wieder in den Sinn gekommen. Er wusste, dass er an Cortés gebunden<br />

war, dessen Untergang er herbeisehnte und glei<strong>ch</strong>zeitig für<strong>ch</strong>tete.<br />

Eine Wo<strong>ch</strong>e, na<strong>ch</strong>dem Cortés die Wasserstadt verlassen hatte, spra<strong>ch</strong>en zwei vornehme<br />

Azteken bei Alvarado vor und baten im Namen des Adels von Mexico um die Erlaubnis, das<br />

Toxcatlfest des Fur<strong>ch</strong>tbaren Huitzilopo<strong>ch</strong>tli (das mexicanis<strong>ch</strong>e Neujahrsfest) mit Aufzügen und<br />

feierli<strong>ch</strong>en Reigen im großen Tanzhof des S<strong>ch</strong>langenberg-Tempels begehen zu dürfen. Alvarado<br />

hatte ni<strong>ch</strong>ts einzuwenden, stellte aber zwei Bedingungen: das Fest müsse ohne die übli<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>enopfer<br />

gefeiert werden, und die Tanzenden dürften keine Waffen tragen.<br />

Prinz Goldmaske hatte si<strong>ch</strong> neuerdings wieder in auffallender Weise dem Alvarado anges<strong>ch</strong>lossen.<br />

Seit dieser den capitán generál vertrat, wi<strong>ch</strong> der Prinz kaum von seiner Seite. Als die<br />

beiden Würdenträger si<strong>ch</strong> nun entfernten, ma<strong>ch</strong>te er seinem S<strong>ch</strong>wager Vorhaltungen wegen der<br />

allzu s<strong>ch</strong>nell erteilten Erlaubnis.<br />

»Das Fest ist nur ein Vorwand!«, warnte er<br />

»Das glaube i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Au<strong>ch</strong> bei uns gibt es jedes Jahr ein Neujahrsfest. I<strong>ch</strong> kann ni<strong>ch</strong>t verbieten,<br />

das Fest zu feiern!«<br />

Goldmaske widerspra<strong>ch</strong>. »Sie werden si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an das das Verbot halten, Waffen in den


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 287<br />

Tanzhof zu bringen. Sie wollen si<strong>ch</strong> unauffällig in großer Zahl versammeln. Da wird etwas vorbereitet!<br />

I<strong>ch</strong> bin si<strong>ch</strong>er, dass die Tänze mit eurer Niedermetzelung enden werden, falls du den bösen<br />

Plan ni<strong>ch</strong>t verbietest.«<br />

Während sie no<strong>ch</strong> darüber spra<strong>ch</strong>en, ob die Erlaubnis zurückgenommen werden solle, kam<br />

Rabenblume hinzu, des Prinzen Goldmaske S<strong>ch</strong>wester und Gattin Alvarados. Sie misstraute ihrem<br />

Bruder und seinen Rats<strong>ch</strong>lägen. Sein Freund Kiefernzweig war hingeri<strong>ch</strong>tet worden, do<strong>ch</strong> Goldmaske<br />

hatte bis jetzt keine Ra<strong>ch</strong>e genommen. Weil Goldmaske si<strong>ch</strong> gegen die Mexica wandte,<br />

spra<strong>ch</strong> Rabenblume nun für sie. Dank ihres Einflusses auf Alvarado setzte sie si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>.<br />

Goldmaske sagte, er werde Beweise bringen. Einen Tag vor dem Fest führte er einen aztekis<strong>ch</strong>en<br />

Steins<strong>ch</strong>neider vor Alvarado. Der Mann behauptete, in der vergangenen Na<strong>ch</strong>t seien Tausende<br />

von Säges<strong>ch</strong>wertern, Speeren und S<strong>ch</strong>ilde in den S<strong>ch</strong>langenberg ges<strong>ch</strong>afft worden. Au<strong>ch</strong><br />

seien die Frauen aufgefordert worden, ihre S<strong>ch</strong>üsseln bereit zu halten, da es viel Fleis<strong>ch</strong> zu ko<strong>ch</strong>en<br />

gäbe in den nä<strong>ch</strong>sten Tagen...<br />

Do<strong>ch</strong> wieder flüsterte Rabenblume Alvarado ins Ohr, der Mann sei besto<strong>ch</strong>en worden. Sie<br />

stellte dem Steins<strong>ch</strong>neider die Frage, ob er die Waffen im Tempel mit eigenen Augen gesehen<br />

habe. Da musste der Mann gestehen, dass er es auf der Straße von einer Frau gehört habe, die er<br />

ni<strong>ch</strong>t näher kenne. Alvarado bra<strong>ch</strong> in sein helles, sorgloses Knabenla<strong>ch</strong>en aus und s<strong>ch</strong>ickte den<br />

Angeber heim.<br />

In der Na<strong>ch</strong>t vor dem Fest stimmte ein Ereignis Alvarado plötzli<strong>ch</strong> um. Die Ho<strong>ch</strong>zeit Alonso<br />

de Grados mit Prinzessin Maisblume war vers<strong>ch</strong>oben worden, weil Cortés gegen Narváez ziehen<br />

musste. Seitdem litt de Grado Tantalusqualen. Er kam si<strong>ch</strong> wie ein Fastender vor, dessen Fastenzeit<br />

wider jedes Re<strong>ch</strong>t verlängert worden war – und er war es do<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>t gewohnt zu fasten!<br />

Maisblume verbarg ihre Abneigung, lä<strong>ch</strong>elte rätselhaft und ließ ihn s<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>ten. Do<strong>ch</strong> Grado war<br />

immer fordernder geworden und sagte s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> unumwunden, er wolle sein Glück vor der Ho<strong>ch</strong>zeit<br />

genießen. Maisblume hatte das erwartet. Demütig sagte sie:<br />

»Du bist der Herr, und i<strong>ch</strong> bin die Sklavin. Komm gegen Abend in das kleine Badehaus im<br />

Garten des Huei-Tecpan.«<br />

Er kam zur verabredeten Stunde. Sie hatte das S<strong>ch</strong>witzbad für ihn ri<strong>ch</strong>ten lassen. Unterwürfig<br />

ließ sie ihn vorangehen und s<strong>ch</strong>loss eilig, kaum dass er eingetreten war, die Tür hinter ihm.<br />

Damit saß er in der Falle! Wie sehr er au<strong>ch</strong> an der Tür rüttelte, er vermo<strong>ch</strong>te sie ni<strong>ch</strong>t aufzubre<strong>ch</strong>en.<br />

Maisblume rief ihre Mäd<strong>ch</strong>en, die in der Nähe mit Reisigbündeln warteten. Die Heizung befand<br />

si<strong>ch</strong> unterhalb des S<strong>ch</strong>witzbades. S<strong>ch</strong>on war der Ofen überhitzt; immer mehr Holz wurde<br />

na<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>oben. Bald begann der steinerne Fußboden des Bades glühend heiß zu werden. Alonso<br />

de Grado bettelte, jammerte, drohte, flu<strong>ch</strong>te und s<strong>ch</strong>rie. Do<strong>ch</strong> die Mäd<strong>ch</strong>en hatten Flöten und<br />

Trommeln, stimmten laute Gesänge an und übertönten die S<strong>ch</strong>reie des Eingesperrten. Als s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong><br />

Höflinge aus dem Palast herbeieilten, lebte Alonso de Grado ni<strong>ch</strong>t mehr.<br />

No<strong>ch</strong> am selben Abend eilte die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> die ganze Stadt. Alvarado befahl, Maisblume<br />

festzunehmen. Er wollte sie verhören, do<strong>ch</strong> sie s<strong>ch</strong>wieg beharrli<strong>ch</strong>. Da ließ er sie in den<br />

Tecpan des Königs Wassergeist in eine der unterirdis<strong>ch</strong>en Kammern bringen, wo einst der S<strong>ch</strong>atz<br />

Tezcocos gelegen hatte.<br />

»Geh mit«, befahl er Orteguilla, der übersetzt hatte, »und melde mir Vollzug.« Hellebardiere<br />

führten die Prinzessin zum Kerker. Da kam ihnen im großen Audienzsaal Moctezuma entgegen.<br />

»O Zorniger Herr, o mein Vater«, rief Maisblume ihm zu. »Der S<strong>ch</strong>lagende Falke soll es erfahren:<br />

I<strong>ch</strong> habe meine Reinheit vor aller Welt verteidigt!«<br />

»O meine S<strong>ch</strong>muckfeder, mein Edelstein!«, sagte Moctezuma. »Meine Augen sind voller<br />

As<strong>ch</strong>e! Du hast dir und mir Verderben gebra<strong>ch</strong>t!«<br />

»Nein, Zorniger Herr, nein, mein Vater! Denn nun wirst du bald das Wort spre<strong>ch</strong>en, das di<strong>ch</strong><br />

und mi<strong>ch</strong> befreit!«<br />

Moctezuma entfernte si<strong>ch</strong> kopfs<strong>ch</strong>üttelnd. Er ma<strong>ch</strong>te au<strong>ch</strong> später bei Alvarado keinen Versu<strong>ch</strong>,<br />

die Freilassung seiner To<strong>ch</strong>ter zu erbitten.<br />

Orteguilla beri<strong>ch</strong>tete Alvarado die Begegnung Moctezumas mit Maisblume Wort für Wort. Alvarado<br />

legte si<strong>ch</strong> den Sinn so zure<strong>ch</strong>t: Maisblume habe die Ermordung des weißen Mannes gewagt,<br />

weil ihr bekannt war, dass der kommende Tag Mexico die Freiheit bringen werde. Au<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>ien ihm die Zurückhaltung des Königs ein übles Zei<strong>ch</strong>en zu sein.


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 288<br />

Das Pulver war angehäuft, die Lunte glimmte.<br />

*<br />

Als das Tanzfest begann, begannen au<strong>ch</strong> Marinas Wehen.<br />

Die Blüte des mexicanis<strong>ch</strong>en Adels, tausend jugendli<strong>ch</strong>e Tänzer, alle ohne Gewänder, aber<br />

mit Perlen, Juwelen und Edelsteinen behangen, das Haar zu Zöpfen geflo<strong>ch</strong>ten und mit s<strong>ch</strong>illernden<br />

Federbüs<strong>ch</strong>en ges<strong>ch</strong>mückt, hatten früh am Morgen aus dem Dornentempel das aus Maisteig<br />

geknetete Idol Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis abgeholt, in feierli<strong>ch</strong>er Prozession dur<strong>ch</strong> die Hauptstraße Teno<strong>ch</strong>titláns<br />

getragen und im Haupthof des S<strong>ch</strong>langenberg-Tempels niedergestellt. Rasselstäbe s<strong>ch</strong>wingend<br />

hatten sie den heiligen Reigen begonnen, während Trommeln s<strong>ch</strong>lugen, Mus<strong>ch</strong>elhörner,<br />

Trompeten und Kno<strong>ch</strong>enpfeifen dröhnten. Die eingeladenen fünfzig Kastilier – alle bewaffnet, da<br />

sie ja nie anders als bewaffnet ausgingen – blickten von der untersten Plattform der Pyramide auf<br />

den Tanz hinab. Da hob Alvarado die Hand. Ein Musketens<strong>ch</strong>uss dröhnte. Hellebardiere ers<strong>ch</strong>ienen<br />

an den Toren des Tanzhofes und versperrten alle Ausgänge. Die Kastilier warfen si<strong>ch</strong> auf die<br />

Wehrlosen. Es war kein Kampf, es war ein Gemetzel wie in Cholula, und wie in Cholula verwandelte<br />

si<strong>ch</strong> der Tanzhof in einen karminroten Tei<strong>ch</strong>, wie in Cholula starben viele der flü<strong>ch</strong>tenden Mens<strong>ch</strong>en<br />

dur<strong>ch</strong> die Lanzen der Hellebardiere. Keinem der Azteken gelang es, die glatte S<strong>ch</strong>langenmauer<br />

zu erklimmen. Und wie in Cholula blieb kein einziger der tausend Tänzer am Leben.<br />

Ein indianis<strong>ch</strong>er Chronist s<strong>ch</strong>ilderte später das Massaker:<br />

»Sie rannten mitten unter die Tänzer und erzwangen si<strong>ch</strong> einen Weg zu dem Platz, wo die<br />

Trommeln ges<strong>ch</strong>lagen wurden. Sie fielen über den Trommler her und s<strong>ch</strong>nitten ihm die Arme ab.<br />

Dann s<strong>ch</strong>lugen sie ihm den Kopf ab, der über den Boden rollte. Sie fielen alle Tanzenden an, ersta<strong>ch</strong>en<br />

sie mit Dol<strong>ch</strong>en und Spießen oder ers<strong>ch</strong>lugen sie mit ihren S<strong>ch</strong>wertern. Sie griffen man<strong>ch</strong>e<br />

von hinten an, und diese fielen sofort zu Boden. Anderen s<strong>ch</strong>nitten sie die Köpfe ab oder zerstückelten<br />

sie. Sie s<strong>ch</strong>lugen auf die S<strong>ch</strong>ultern, dass die Arme vom Körper herabfielen. Sie verwundeten<br />

man<strong>ch</strong>e am Obers<strong>ch</strong>enkel und man<strong>ch</strong>e an der Wade. Anderen s<strong>ch</strong>litzten sie den Bau<strong>ch</strong> auf,<br />

und ihre Eingeweide fielen zu Boden. Man<strong>ch</strong>e versu<strong>ch</strong>ten wegzulaufen, do<strong>ch</strong> ihre Därme s<strong>ch</strong>leppten<br />

dabei na<strong>ch</strong>, ihre Füße s<strong>ch</strong>ienen si<strong>ch</strong> in ihren Eingeweiden zu verfangen. Was sie au<strong>ch</strong> taten,<br />

um si<strong>ch</strong> zu retten, sie konnten ni<strong>ch</strong>t entkommen.«<br />

No<strong>ch</strong> entsetzli<strong>ch</strong>er war das Na<strong>ch</strong>spiel. Die Mörder wurden zu Plünderern, zu Lei<strong>ch</strong>enfledderern.<br />

Aasvögeln glei<strong>ch</strong> beugten sie si<strong>ch</strong> über die Getöteten, berei<strong>ch</strong>erten si<strong>ch</strong> an Golds<strong>ch</strong>muck und<br />

Edelsteinen.<br />

Nun war das Maß voll. Allzu viel hatte Mexico s<strong>ch</strong>weigend ertragen; nun war es aufgerüttelt,<br />

und sein Zorns<strong>ch</strong>rei gellte zum Himmel. Das Volk erhob si<strong>ch</strong>.<br />

Zwis<strong>ch</strong>en dem Großen Tempel und dem alten Palast lag der Große Platz der Steinernen<br />

S<strong>ch</strong>ildkröte. Do<strong>ch</strong> selbst diese kurze Wegstrecke konnte Alvarado seine Manns<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t mehr<br />

ungefährdet zurückführen. Als die Kastilier aus dem westli<strong>ch</strong>en Tempeltor traten, wurden sie mit<br />

einem Hagel von Ges<strong>ch</strong>ossen übers<strong>ch</strong>üttet. Tausende von Bewaffneten versperrten ihnen den<br />

Weg. Kämpfend gelangten die Kastilier in ihr Quartier.<br />

Zur glei<strong>ch</strong>en Stunde gebar Marina Cortés einen Sohn. Sie la<strong>ch</strong>te und weinte und kannte<br />

do<strong>ch</strong> ihres Sohnes Zukunft ni<strong>ch</strong>t. Sie gaben ihm den Namen Martín. Er sollte stets im S<strong>ch</strong>atten<br />

seines großen Vaters leben, und das Wissen um sein S<strong>ch</strong>icksal ging im Strudel der Zeit verloren...<br />

*<br />

Alvarado war mit den Kastiliern im alten Tecpan einges<strong>ch</strong>lossen, ein Belagerter in einer<br />

kaum zu haltenden Festung. Angriff folgte auf Angriff. Die beiden Brigantinen, die ihn und sein<br />

kleines Heer mitsamt allen erbeuteten S<strong>ch</strong>ätzen aus der Wasserstadt hätten hinausretten können,<br />

waren zerstört. Er erfuhr es, als er glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der Straßens<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t die Truppen eins<strong>ch</strong>iffen wollte,<br />

um na<strong>ch</strong> Tezcoco zu entkommen. Moctezuma sollte als wertvolle Geisel mitgenommen werden.<br />

Goldmaske hatte si<strong>ch</strong> für den Tod des Fürsten Kiefernzweig gerä<strong>ch</strong>t. Als das Gemetzel im<br />

S<strong>ch</strong>langenberg-Tempel begann, war er mit einigen seiner tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Adler und Jaguare über<br />

die bei den Brigantinen postierten <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ildwa<strong>ch</strong>en hergefallen, hatte sie niedergema<strong>ch</strong>t<br />

und die S<strong>ch</strong>iffe in Brand gesteckt. Dann war er spurlos vers<strong>ch</strong>wunden. Und nahezu tausend


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 289<br />

Tlatepoca – Anhänger des Prinzen Goldmaske – hatten heimli<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán verlassen.<br />

Fünf Kastilier waren bei den Kämpfen gefallen. Es war den Azteken geglückt, ein Munitionslager<br />

im S<strong>ch</strong>lossgarten dur<strong>ch</strong> Brandpfeile in die Luft zu sprengen. Weiteren Angriffen würden die<br />

Belagerten ni<strong>ch</strong>t mehr lange standhalten können.<br />

Na<strong>ch</strong>dem Alvarado und seine Leute einen Überfall auf die Azteken unternommen hatten, mußten sie vor deren<br />

wütenden Angriffen in ihr Quartier fliehen. Auf der Zei<strong>ch</strong>nung aus der Chronik des Diego Durán verteidigen sie<br />

si<strong>ch</strong> mit Arkebusen und Armbrüsten gegen die aztekis<strong>ch</strong>en Krieger, von denen die Adler- und die Jaguarkrieger<br />

zu den gefür<strong>ch</strong>teten Eliteeinheiten der Azteken gehörten (Biblioteca Nacional, Madrid).<br />

*<br />

Cortés kehrte mit einem dur<strong>ch</strong> die Truppen des Narváez vergrößerten Heer na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán zurück.<br />

Die Mexica hatten s<strong>ch</strong>on dur<strong>ch</strong> Kunds<strong>ch</strong>after erfahren, dass er zum Entsatz der Belagerten<br />

heranrückte. Sie unternahmen ni<strong>ch</strong>ts, um es zu verhindern, ja, sie ließen sogar die Holzbrücken<br />

auf den Dammdur<strong>ch</strong>sti<strong>ch</strong>en stehen. Es war gut, dass der Grüne Stein kam, dass er in die Falle<br />

ging; je größer sein Heer, umso s<strong>ch</strong>neller würde es si<strong>ch</strong> aushungern lassen, umso größer würde<br />

die Zahl der Huitzilopo<strong>ch</strong>tli und Tezcatlipoca dargebra<strong>ch</strong>ten weißen Opfersklaven sein!<br />

Während Cortés und sein Heer in die Stadt einrückten, ließ si<strong>ch</strong> kein Azteke sehen, au<strong>ch</strong><br />

kein Weib und kein Kind. Laut ä<strong>ch</strong>zten die Räder der Ges<strong>ch</strong>ütze, klirrten Harnis<strong>ch</strong>e und Waffen,<br />

dröhnten s<strong>ch</strong>weren Soldatenstiefel und stampften Pferdehufe dur<strong>ch</strong> eine mens<strong>ch</strong>enleere, tote<br />

Stadt. Die ungepflasterten Straßen waren vom Regen aufgewei<strong>ch</strong>t. Di<strong>ch</strong>t beim Stadttor glitt Romo<br />

aus und warf Cortés ab. Do<strong>ch</strong> sofort, no<strong>ch</strong> während das Pferd si<strong>ch</strong> aufri<strong>ch</strong>tete, saß der Generalkapitän<br />

s<strong>ch</strong>on wieder im Sattel.<br />

»Señor Capitán, nehmt es für ein gutes Omen!«, sagte der Italiener Botello, der nebenher<br />

ging. »Was au<strong>ch</strong> kommen mag, Ihr werdet immer wieder fest im Sattel sitzen!«<br />

An der Spitze des Heeres gelangte Cortés vor den Tecpan des Königs Wassergeist. Kein<br />

Bote hatte sein Herannahen gemeldet. Und die Belagerten waren so abges<strong>ch</strong>lossen und ahnungslos,<br />

dass Alvarado vom fla<strong>ch</strong>en Da<strong>ch</strong> des Tecpans herab die anrückenden Reiter anrief und fragte,<br />

ob sie die Leute des Narváez oder des Cortés seien. Als er Cortés erkannte, eilte er hinunter und<br />

öffnete mit seiner jubelnden Manns<strong>ch</strong>aft das verrammelte Tor. Er küsste Cortés die Hände und<br />

überrei<strong>ch</strong>te ihm die S<strong>ch</strong>lüssel des zur Festung gewordenen Palastes.<br />

Au<strong>ch</strong> Cortés war bewegt. Unerhörtes hatten beide erlebt. Do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on bald, als die erste<br />

Freude verklungen war, begann Cortés na<strong>ch</strong> den Ursa<strong>ch</strong>en des Aufstands zu fors<strong>ch</strong>en. Und sowie<br />

er von der Niedermetzelung der Tanzenden erfuhr, geriet er in maßlose Wut. Er s<strong>ch</strong>rie Alvarado


»<strong>kompassrosen</strong>« Juli 2011 - Der Nopalbaum Seite 290<br />

an, nannte ihn einen s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>sinnigen Narren, der si<strong>ch</strong> von der Hinterlist seines S<strong>ch</strong>wagers, eines<br />

ra<strong>ch</strong>sü<strong>ch</strong>tigen Tlaxcalteken, habe aufhetzen und zum Angriff verleiten lassen. Si<strong>ch</strong> selbst s<strong>ch</strong>alt er<br />

einen no<strong>ch</strong> größeren Dummkopf, weil er Alvarado vertraut und ihn zu seinem Stellvertreter gema<strong>ch</strong>t<br />

habe. Alvarado verfiel – na<strong>ch</strong> einigen s<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tern gestammelten Worten der Re<strong>ch</strong>tfertigung,<br />

er habe so gehandelt, um einem Angriff zuvorzukommen – s<strong>ch</strong>uldbewusst in Selbstanklage.<br />

»Lasst mi<strong>ch</strong> hinri<strong>ch</strong>ten, Don Hernándo!«, sagte er. »Viellei<strong>ch</strong>t wird mein Tod die Azteken beruhigen.<br />

I<strong>ch</strong> bin bereit, den Kopf auf den Block zu legen, wenn Ihr meint, dass meine Bestrafung<br />

das Blut unserer Kameraden retten kann.«<br />

Cortés ließ es bei den Vorwürfen bewenden; er brau<strong>ch</strong>te Alvarado.<br />

Moctezuma hatte Cortés sofort zu si<strong>ch</strong> bitten lassen, aber der wollte ihn ni<strong>ch</strong>t sehen. Da bat<br />

der König Pater Olmedo, dem capitán generál mitzuteilen, er wolle ihm ein Pferd in Lebensgröße<br />

und aus purem Gold s<strong>ch</strong>enken – nur kommen solle er. Do<strong>ch</strong> Cortés blieb bei seiner Weigerung.<br />

Und als Moctezuma ihn aufsu<strong>ch</strong>en wollte, empfing er ihn ni<strong>ch</strong>t.<br />

»Dieser Hund von König ist der einzige S<strong>ch</strong>uldige«, rief er erregt. »Er hat mit Narváez verhandelt!<br />

I<strong>ch</strong> hasse den Feigling!«<br />

Zum ersten Mal seit seiner Landung an der Küste bei Veracruz hatte Cortés<br />

die Fassung verloren. In se<strong>ch</strong>s Monaten hatte er seine Armee hierher gebra<strong>ch</strong>t<br />

und si<strong>ch</strong> gegen eine riesige Überma<strong>ch</strong>t einheimis<strong>ch</strong>er Indianer behauptet.<br />

Seine Stellung war dur<strong>ch</strong> den Tölpel Narváez bedroht worden, und er<br />

musste zweihundertfünfzig Meilen über heiße Straßen der tierra caliente mars<strong>ch</strong>ieren,<br />

um ihn in einem lä<strong>ch</strong>erli<strong>ch</strong>en Kampf zu besiegen. Dann kehrten sie in<br />

Eilmärs<strong>ch</strong>en binnen kurzer Zeit zurück, um hier in Mexico das Werk eines Jahres<br />

zertrümmert vorzufinden. Cortés war ers<strong>ch</strong>öpft – trotzdem organisierte er<br />

sofort die Verteidigung.<br />

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Fortsetzung in der »kompassrose« vom 1. November 2011<br />

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