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Das e-bookin den »kompassrosen« - Beiträge zur Geschichte der ...

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<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011<br />

<strong>Das</strong> e-book in <strong>den</strong> <strong>»kompassrosen«</strong><br />

_____________________________________________________________<br />

Eduard Stucken<br />

Die weissen Götter<br />

Historischer Roman über die Eroberung Mexikos durch Hernándo Cortés.<br />

Unter Verwendung älterer Quellen und Dokumente als<br />

»Der Nopalbaum«<br />

In überarbeiteter Neufassung herausgegeben von<br />

Bernhard Kay<br />

3. Teil: <strong>Das</strong> Ende von Tenochtitlán<br />

»Noche Triste«: Beim Angriff auf eine Dammstraße waren Spanier ins Wasser gestürzt,<br />

ein idianischer Verbündeter versucht sie herauszuziehen<br />

(Aquarell. Kopie einer aztekischen Darstellung aus dem 16. Jahrhun<strong>der</strong>t. Bibliotheque Nationale, Paris)


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 292<br />

I N H A L T S V E R Z E I C H N I S<br />

1. Teil: (erschien 1. März 2011)<br />

00 Vorwort 3<br />

01 Wasserhäuser 5<br />

02 Die Hahnenfe<strong>der</strong> 8<br />

03 Silberpuma 17<br />

04 Schilfrohr 29<br />

05 »Nach Mexico! 42<br />

06 Cempoala 57<br />

07 Schlagen<strong>der</strong> Falke 71<br />

08 Mächtiger Felsen 83<br />

09 Goldmaske 97<br />

10 Tlaxcala 116<br />

11 Weißer Sommervogel 134<br />

2. Teil: (erschien am 1. Juli 2011)<br />

12 Gefleckter Berglöwe 155<br />

13 Herrschendes Raubtier 168<br />

14 Cholula 187<br />

15 Tempelhüter 207<br />

16 Tenochtitlán 221<br />

17 Sengende Glut 233<br />

18 Kiefernzweig 251<br />

19 Moctezuma 265<br />

20 Alvaro 278<br />

3. Teil: (1. November 2011)<br />

21 Noche Triste 293<br />

22 Totengerich 306<br />

23 Otumba 318<br />

24 Olíd 328<br />

25 Isabel 343<br />

26 Tezcoco 354<br />

27 Al<strong>der</strong>ete 370<br />

28 Perlendiadem 380<br />

29 Hinrichtungen 386<br />

30 Maisblume 391<br />

31 Sandoval 407<br />

32 Cuauhtémoc 415<br />

33 Nachwort 433<br />

Auf <strong>der</strong> Index-Seite<br />

kompassrosen<br />

befin<strong>den</strong> sich Links zu<br />

folgen<strong>den</strong> PDF-Dateien:<br />

Zeittafel<br />

Glossar und<br />

Namensverzeichnis<br />

Karte 1:<br />

Der Weg <strong>der</strong> Conquistadoren 1519<br />

Karte 2:<br />

Die Lage von Tenochtitlán<br />

Karte 3:<br />

Tenochtitlán um 1520<br />

Im Archiv (auf <strong>der</strong><br />

Indexseite) befin<strong>den</strong> sich:<br />

Teil 1 vom 01.03.2011<br />

Teil 2 vom 01.07.2011<br />

Aussprache mexikanischer<br />

Wörter: ch und x wie deutsches<br />

sch; z wie s; l am Wortende wird<br />

nicht gesprochen; hu vor Vokal<br />

wie w, z.B. Miahuaxiutl<br />

(Maisblume): Miawaschiut – Es<br />

wer<strong>den</strong> nur historisch verbürgte<br />

Namen wie<strong>der</strong>gegeben.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 293<br />

21. Noche triste<br />

Fortsetzung von <strong>»kompassrosen«</strong> Juli 2011<br />

»Ich bedachte die große Gefahr, in <strong>der</strong> wir uns befan<strong>den</strong>, und <strong>den</strong> großen Scha<strong>den</strong>, <strong>der</strong> uns<br />

Tag um Tag von unseren Fein<strong>den</strong> zugefügt ward, und geriet in Sorge, dass auch <strong>der</strong> letzte<br />

Steindamm, so noch vorhan<strong>den</strong>, zerstört wer<strong>den</strong> könnte, wie die an<strong>der</strong>en schon zerstört<br />

waren. Dann aber wäre uns <strong>der</strong> Hungertod sicher. Dazu mahnten meine Leute mich ohne<br />

Unterlass, ich solle <strong>den</strong> Abzug aus <strong>der</strong> Stadt befehlen...«<br />

(Hernán Cortés, 2. Brief an Kaiser Karl V. vom 30. 10. 1520)<br />

An Munition, Geschützen und Verteidigern fehlte es nicht. Cortés hatte nicht zu wenige Soldaten –<br />

er hatte nun zu viele. Da lag die neue Gefahr, <strong>den</strong>n <strong>der</strong> Tecpan war von je<strong>der</strong> Zufuhr<br />

abgeschnitten. Selbst Moctezuma erhielt kaum noch zu essen. Die königlichen Sklaven, die sich<br />

auf die Gassen o<strong>der</strong> Kanäle hinauswagten, um Nahrungsmittel zu kaufen, wur<strong>den</strong> nie<strong>der</strong>gemacht.<br />

Dieses Los ereilte auch einige hohe Beamte des Königs bei dem Versuch, heimlich Speisen und<br />

Getränke in <strong>den</strong> belagerten Tecpan zu schaffen. Die Kastilier konnten für all ihr Gold kein einziges<br />

Maisbrot mehr erhandeln. Kleinere Vorräte hatten sich noch im Palast befun<strong>den</strong>, doch sie waren<br />

erschreckend schnell zusammengeschmolzen und reichten kaum noch für wenige Tage.<br />

Cortés erließ in Moctezumas Namen eine Auffor<strong>der</strong>ung an die Azteken, Handel mit <strong>den</strong><br />

Christen zu treiben wie zuvor. Aber damit wurde nichts erreicht; die öffentlichen Ausrufer<br />

Moctezumas, welche diese Auffor<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> Stadt verkündeten, fielen <strong>der</strong> Wut des Volkes zum<br />

Opfer.<br />

Da befahl Cortés, Moctezumas Bru<strong>der</strong> Cuitlahuac von <strong>der</strong> Eisenkette zu lösen. Er solle die<br />

Azteken überre<strong>den</strong>, die Feindseligkeiten einzustellen und wie<strong>der</strong> Lebensmittel feilzuhalten; <strong>der</strong><br />

große Markt von Tlatelolco müsse wie<strong>der</strong> geöffnet wer<strong>den</strong>. Die Vorfälle im Tempelhof seien die<br />

Folge eines tragischen Irrtums, und niemand bedauere sie mehr als Cortés. Der Überwin<strong>der</strong><br />

entfernte sich und kehrte nicht <strong>zur</strong>ück. Bald darauf aber wurde bekannt, dass die Azteken neue<br />

Angriffe vorbereiteten und zwei Führer gewählt hatten: <strong>den</strong> Überwin<strong>der</strong> und <strong>den</strong> Schlagen<strong>den</strong><br />

Falken.<br />

Ein Erkundungsvorstoß, <strong>den</strong> Ordás mit vierhun<strong>der</strong>t Mann zum Damm von Tacuba<br />

unternahm, endete als Schlacht; acht seiner Leute wur<strong>den</strong> erschlagen. Der Krieg hatte nach kurzer<br />

Waffenruhe wie<strong>der</strong> begonnen; die Muscheltrompeten und die große Kriegstrommel verstummten<br />

nicht mehr. Die Azteken griffen <strong>den</strong> Tecpan täglich von neuem an. In <strong>den</strong> umliegen<strong>den</strong> Straßen,<br />

auf <strong>den</strong> flachen Hausdächern und auf <strong>der</strong> Plattform <strong>der</strong> Schlangenberg-Pyramide wimmelte es von<br />

Mexica. Sie schleu<strong>der</strong>ten Wurfspeere, Steine, Pfeile und Brände und verwundeten<br />

sechsundvierzig Verteidiger. Voller Hass schlugen sie mit Steinäxten auf die Tore ein, rammten<br />

Balken gegen das Gemäuer, kletterten zu Fenstern o<strong>der</strong> Lichtöffnungen hinauf und krochen vor<br />

die Mündungen <strong>der</strong> Geschütze. Die Kastilier wehrten sich, doch wenn sie Hun<strong>der</strong>t getötet hatten,<br />

kehrten Tausend wie<strong>der</strong>. Die Zahl <strong>der</strong> Feinde nahm nicht ab, sie wuchs zusehends. Dazu kam <strong>der</strong><br />

Hunger.<br />

Da wurde Cortés klar, dass er sich nicht mehr lange halten konnte. Nur seine Feuerwaffen,<br />

die Falkonette, Musketen und Arkebusen bewahrten ihn vor <strong>der</strong> völligen Nie<strong>der</strong>lage. Sein Heer war<br />

verloren, wenn es nicht bald die Stadt verließ. Fast täglich hatten sie Gefallene zu beklagen, und<br />

kaum einer kam heil davon. Angriff auf Angriff <strong>der</strong> Indianer musste abgewehrt wer<strong>den</strong>; sie wur<strong>den</strong>


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 294<br />

von ihren Häuptlingen angefeuert, die Spanier gefangen zu nehmen; als Opfer für die Götter würde<br />

man ihnen das Herz herausreißen und die mit ihnen verbündeten Tlaxcalteken für weitere Opfer in<br />

Käfigen mästen.<br />

Nach mehreren Tagen und Nächten versuchte Cortés noch einmal, einen Trumpf zu spielen.<br />

Er schickte Pater Olmedo mit Cristobál de Olíd zu Moctezuma, damit er <strong>den</strong> Beistand des Königs<br />

erwirke. Moctezuma solle sich <strong>den</strong> Azteken zeigen und sie beschwichtigen, sie überre<strong>den</strong>, die<br />

Feindseligkeiten einzustellen und <strong>den</strong> Christen freien Abzug zu gewähren. Olmedo war ein kluger<br />

Mann. Und weil er seine Aufgabe als Priester ernst nahm, hatte er vor einigen Wochen begonnen,<br />

bei Marina Nahuatl zu erlernen. Er war <strong>der</strong> Meinung, dass die Kirche »in allen Zungen« re<strong>den</strong><br />

müsse. Bald konnte er sich mit beschei<strong>den</strong>em Wortschatz verständlich machen.<br />

Moctezumas lauschte gerade<br />

einem melancholischen Lied,<br />

das sein Musikmeister<br />

Löffelreiherschlange ihm<br />

vortrug, als Olmedo bei ihm<br />

eintrat. Orteguilla saß neben<br />

dem König und schluchzte.<br />

Mocte-zumas Hand strich dem<br />

Knaben über das Haar.<br />

In <strong>der</strong> spanischen Darstellung<br />

von 1522 tritt Kaiser Moctezuma<br />

gerade auf <strong>den</strong> Balkon, um seine<br />

aufrührerischen Untertanen zu<br />

beruhigen, wird aber von ihnen<br />

gesteinigt. (Library of Congres)<br />

Olmedo entledigt sich<br />

seines Auftrags mit<br />

gebühren<strong>der</strong> Untertänigkeit,<br />

aber <strong>der</strong> König sagte:<br />

»Sag dem Grünen Stein,<br />

dass ich nichts mehr mit ihm zu<br />

schaffen haben möchte. Ich<br />

wünschte, ich hätte nie von ihm<br />

gehört! Ich will nur noch<br />

sterben... nur noch sterben...«<br />

Er starrte schwermütig<br />

vor sich hin, atmete immer<br />

schwerer, sprang plötzlich auf<br />

und rief: »Warum lässt man<br />

mich nicht sterben?«<br />

Doch selbst dazu fehlte<br />

ihm die Kraft. Und da Olmedo<br />

nicht abließ, ihn zu bitten,<br />

willigte er schließlich ein.<br />

»Gut, ich werde noch einmal zu <strong>den</strong> Mexica re<strong>den</strong>. Sie wer<strong>den</strong> mich anhören und sagen:<br />

Der große Moctezuma redet zum letzten Mal zu uns!«<br />

Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber es wird nichts nützen. Sie haben meinen Bru<strong>der</strong><br />

Cuitlahuac zum neuen König gewählt!«<br />

Olmedo erschrak. Darum war <strong>der</strong> Überwin<strong>der</strong> nicht <strong>zur</strong>ückgekehrt!<br />

Moctezuma ließ sich das »gol<strong>den</strong>e Gewand« bringen, setzte sich die Königstiara aus<br />

Saphiren aufs Haupt und nahm das silberne Reiherzepter in die Hand. Seit seiner


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 295<br />

Gefangennahme hatte er sich nicht mehr so glanzvoll gekleidet.<br />

Dann stieg er zu <strong>den</strong> Dachterrassen empor, wo spanische Wachmannschaften zu seinem<br />

Schutz postiert waren. Durch eine Tür, die sich auf halber Höhe <strong>der</strong> Terrassen befand, trat er ins<br />

Freie auf einen kleinen vorspringen<strong>den</strong> Altan. Orteguilla, Pater Olmedo, kastilische Wachtposten<br />

und mexicanische Höflinge waren ihm hinauf gefolgt, hielten sich jedoch voller Respekt im<br />

Hintergrund.<br />

Als die Mexica ihn sahen, ließen ihre Befehlshaber sofort <strong>den</strong> Kampf einstellen. »Schaut,<br />

schaut! Der Zornige Herr!«<br />

Der Sturm brach ab. Kampfgeheul und Muschelhörner verstummten. Kein Speer o<strong>der</strong> Pfeil<br />

kam geflogen. <strong>Das</strong> Gewimmel erstarrte. Leichenstille.<br />

Und Moctezuma sprach:<br />

»O ihr tapferen Mexica! Warum habt ihr wie<strong>der</strong> <strong>den</strong> Krieg entfacht? Warum beschwört ihr die<br />

rote Blutschlange vom Himmel herab? Ihr sagtet vielleicht: Der Zornige Herr trägt die<br />

Sklavenfe<strong>der</strong>, lasst uns Speere und Schilde verteilen und ihn aus <strong>der</strong> Versklavung befreien! Ihr<br />

sagtet vielleicht: Er opfert nicht mehr, wir aber wollen ihn rächen! Recht habt ihr getan, o meine<br />

Söhne, meine Brü<strong>der</strong>, meine Oheime, wenn ihr euren König rächen wollt – <strong>den</strong>n die gleiche Wiege<br />

haben Völker und Könige. Den Himmel und die Erde rufe ich als Zeugen an: Ihr irrt, ihr tapferen<br />

Mexica! Freiwillig zog ich in <strong>den</strong> alten Palast. Ihr wolltet sie mit euren Pfeilen vertreiben – doch<br />

schon wur<strong>den</strong> sie vom Speer des Morgensterns getroffen: Sie verlassen die Stadt, und ihr werdet<br />

sie ziehen lassen! Geht, tapfere Krieger, tragt eure Waffen in das Haus <strong>der</strong> Speere <strong>zur</strong>ück... Bald<br />

werde ich wie<strong>der</strong> opfern wie zuvor und Edelsteine aus <strong>den</strong> Brüsten reißen...«<br />

Weiter kam er nicht. Dumpfes Gemurmel hatte seine Rede begleitet und war zu wüstem<br />

Gebrüll angeschwollen:<br />

»Feigling! Verräter! Du bist unser König nicht mehr!«, rief die Menge.<br />

Moctezuma blickte hinunter, erkannte einzelne Gesichter. Da stand Prinzessin Perlendiadem<br />

mit Speer und Schild. Und da stand Cuauhtémoc, sein jugendlicher Neffe, <strong>der</strong> Verbannte...<br />

Plötzlich flog ein Hagel von Steinen und Pfeilen durch die Luft. Sie sausten an Moctezumas<br />

Schläfen vorbei, ohne ihn zu treffen. Er wich nicht aus, blieb wie ein Steinbild stehen und blickte<br />

unverwandt hinunter.<br />

»Du feiger König!«, rief <strong>der</strong> Schlagende Falke. »Entmannt haben dich die Gelbhaarigen,<br />

haben dich zum Weib gemacht, <strong>zur</strong> Schmach Mexicos!«<br />

Wie<strong>der</strong> flogen Steine. Der König wurde dreimal getroffen: am Bein, am Arm und am Kopf.<br />

Moctezuma brach zusammen. Seine Begleiter trugen ihn <strong>zur</strong>ück.<br />

<strong>Das</strong> Volk glaubte, <strong>der</strong> König sei tot. Ein Gott war getötet wor<strong>den</strong>! Die Menge löste sich auf<br />

und schlich schuldbewusst davon. Nur <strong>der</strong> Schlagende Falke stand noch lange auf dem Platz und<br />

blickte hinauf.<br />

�<br />

Mehr als sechs Monate war Moctezuma <strong>der</strong> Gefangene <strong>der</strong> Spanier gewesen. Jetzt hatten sie<br />

auch diese Stütze ihrer Macht verloren. Hatte Cortés bisher stets die Verhandlung und klug<br />

berechnete Schläue <strong>der</strong> Diplomatie je<strong>der</strong> gewaltsamen Auseinan<strong>der</strong>setzung vorgezogen, so<br />

mussten sie sich ab jetzt allein auf die Stärke ihrer Waffen verlassen. Die Lage war unhaltbar<br />

gewor<strong>den</strong>, <strong>den</strong>n selbst wenn zwanzigtausend naturales für je<strong>den</strong> gefallenen Spanier sterben<br />

sollten, wie Cortés sagte, wür<strong>den</strong> seine Truppen <strong>den</strong>noch vernichtet wer<strong>den</strong>. Um aber seine<br />

Streitkräfte aus <strong>der</strong> Stadt hinauszuführen, benötigte er die Kontrolle über <strong>den</strong> kurzen Tacuba-<br />

Damm. Am Tag nach <strong>der</strong> Verwundung Moctezuma versuchte er noch einmal mit vier Kanonen und<br />

mehr als dreitausend Tlatepoca nach Westen vorzustoßen. Nach einem Kampf, <strong>der</strong> <strong>den</strong> ganzen<br />

Vormittag dauerte, mussten sie jedoch <strong>den</strong> Rückzug antreten und wur<strong>den</strong> von <strong>den</strong> Fein<strong>den</strong> bis vor<br />

die Tore ihres Lagers verfolgt.<br />

Der Generalkapitän versuchte auch noch einmal zu verhandeln. Prinzessin Maisblume<br />

wurde aus dem Kerker geholt. Ob sie wisse, dass ihr Vater verwundet wor<strong>den</strong> sei, fragte Cortés.<br />

Sie nickte. Ja, erst jetzt habe sie es erfahren. Maisblume zeigte keine Trauer.<br />

»Der König ist schwer verwundet, sehr schwer! Der Arzt befürchtet, ihn nicht durchbringen<br />

zu können, wenn <strong>der</strong> Kranke nicht Ruhe um sich hat.«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 296<br />

Maisblume schwieg.<br />

»Wünscht Ihr auch <strong>den</strong> Tod Eures Vaters, wie die wahnsinnigen Mexica?«<br />

Die Prinzessin hielt die Hände gefaltet, doch ihre Finger bewegten sich unruhig. »Nein«,<br />

sagte sie nach einer Weile leise. Und lauter: »Nein, ich wünsche ihn nicht.«<br />

»Dann müsst Ihr die Mexica abhalten, weiter gegen uns anzustürmen.«<br />

»Ich bin ein schwaches Weib, noch dazu die Tochter des Königs, <strong>den</strong> sie verachten. Sie<br />

wer<strong>den</strong> nicht auf mich hören; ich werde nichts ausrichten.«<br />

»Doch, Ihr könnt es«, sagte Cortés überzeugt. »Der Schlagende Falke begehrt Euch <strong>zur</strong><br />

Frau.«<br />

»Cuauhtémoc ist keine zwitschernde Schwalbe!«, sagte Maisblume stolz.<br />

»Aber ich weiß es«, beharrte Cortés. »Ich weiß es von Alvarados Gattin Doña María Luisa-<br />

Rabenblume; dadurch habt Ihr auch Einfluss auf <strong>den</strong> Schlagen<strong>den</strong> Falken. Ihr müsst zu ihm gehen<br />

und Waffenruhe und unseren freien Abzug erwirken.«<br />

Maisblume erklärte sich schließlich bereit, zum Schlagen<strong>den</strong> Falken zu gehen.<br />

Als es Abend gewor<strong>den</strong> war und die Mexica sich nach stun<strong>den</strong>langer Schlacht<br />

<strong>zur</strong>ückgezogen hatten, wurde Maisblume aus dem Palast hinaus gelassen. Ohne Schutzwache,<br />

nur von einer Sandalenhin<strong>der</strong>in begleitet, schritt sie durch die mit Leichen bedeckte Straße. Bald<br />

sah sie sich von aztekischen Schildträgern umringt, welche die bei<strong>den</strong> Frauen aus dem Palast<br />

hatten heraustreten sehen und für Kundschafterinnen hielten. Furchtlos gab die Prinzessin sich als<br />

Tochter Moctezumas zu erkennen und ließ sich von Kriegern zum Schlagen<strong>den</strong> Falken führen.<br />

Die Indianer suchten Rache für das Blutbad, das Alvarado fünf Wochen zuvor unter<br />

ihnen angerichtet hatte. Doch nach etlichen blutigen Schlachten behielten die Spanier die Oberhand<br />

(Mexicanische Darstellung, University Library, Uppsala)<br />

Cortés wartete vergeblich auf ihre Rückkehr. Doch er ließ sich nicht entmutigen und<br />

unternahm einen dritten Versuch. Pimoti, <strong>der</strong> seinerzeit die weiße Schminke nach Cholula<br />

gebracht hatte, erbot sich, als Unterhändler Cuauhtémoc aufzusuchen. Mit zwei tlaxcaltekischen<br />

Begleitern gelang es Pimoti, <strong>den</strong> Huei-Tecpan zu erreichen und sich Zutritt zu verschaffen. Der<br />

Schlagende Falke hörte ihn an, lachte und antwortete nicht. Aber er befahl, drei Weiberröcke, drei<br />

befranste Schultergewän<strong>der</strong> und weiblichen Kopfschmuck zu bringen, die drei Tlatepoca als<br />

Frauen zu klei<strong>den</strong> und sie mit gelbem Pu<strong>der</strong> zu schminken. So schickte er sie zu Cortés <strong>zur</strong>ück.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 297<br />

Empört fragte <strong>der</strong>, was <strong>der</strong> Mummenschanz bedeuten solle. Pimoti klärte ihn auf. Es bedeute<br />

Krieg ohne Erbarmen, Ausrottungskrieg.<br />

�<br />

Die Mexica besetzten <strong>den</strong> großen Tempel - »mit fünfhun<strong>der</strong>t Wür<strong>den</strong>trägern«, schreibt Bernal<br />

Diaz, »und über viertausend Kriegern«. Mit seinen Terrassen und seiner hun<strong>der</strong>tvierzehn Stufen<br />

zählen<strong>den</strong> Treppe bildete <strong>der</strong> Tempel eine regelrechte Festung, die <strong>den</strong> ganzen Platz und die<br />

Quartiere <strong>der</strong> Spanier beherrschte. <strong>Das</strong>s die Mexica <strong>den</strong> Tempel nicht schon früher besetzt hatten,<br />

ist auf ihre religiösen Be<strong>den</strong>ken <strong>zur</strong>ückzuführen. Jetzt aber stan<strong>den</strong> sie unter dem Befehl eines<br />

Mannes, <strong>der</strong> nicht für das Priesteramt, son<strong>der</strong>n für <strong>den</strong> Krieg erzogen war.<br />

Cortés handelte unverzüglich, <strong>den</strong>n »neben <strong>den</strong> vielen Verlusten, die sie uns zufügten,<br />

gewannen sie auch frischen Mut, uns anzugreifen«. Als es seinen Truppen nicht gelang, <strong>den</strong><br />

Tempel einzunehmen, warf er sich selbst in <strong>den</strong> Kampf und stürmte, nachdem er die<br />

Tempelmauern hatte umstellen lassen, in einem Frontalangriff die Treppe hinauf. Ein erbittertes<br />

Ringen begann. Die Reiter konnten unten im Vorhof nichts ausrichten, <strong>den</strong>n die Pferde glitten auf<br />

<strong>den</strong> schlüpfrigen Fliesen aus. Die Indianer wur<strong>den</strong> zwar von <strong>den</strong> Kanonen in Gruppen von zehn<br />

bis fünfzehn Mann nie<strong>der</strong>gemäht, waren aber so zahlreich, dass ihre Reihen sich sofort wie<strong>der</strong><br />

schlossen. Es war <strong>der</strong> spanische Stahl, <strong>der</strong> schließlich die Oberhand gewann. In hartem Ringen<br />

Mann gegen Mann kämpften die Spanier sich Stufe um Stufe empor, bis sie die oberste Plattform<br />

erreichten, die »von Blut triefte«. Sie drängten die Verteidiger hinaus und schleu<strong>der</strong>ten sie über die<br />

Terrassen in die Tiefe, so wie es die Priester mit <strong>den</strong> Leichen <strong>der</strong> Opfer taten. Mit Hilfe <strong>der</strong><br />

Tlatepoca steckten sie die Türme, die Götzenräume und auch die Götzen selber in Brand. Es war<br />

ihr erster richtiger Sieg, seitdem Alvarado jenes sinnlose Blutbad unter <strong>den</strong> Tänzern angerichtet<br />

hatte.<br />

Die Mexica waren fest entschlossen, die Spanier zu vernichten. Sie hatten sämtliche<br />

Brücken zerstört, und wenn sie die Spanier schon nicht töten konnten, wollten sie sie aushungern.<br />

In <strong>der</strong> Nacht unternahm Cortés einen erneuten Ausfall, besetzte eine Straße, steckte etwa<br />

dreihun<strong>der</strong>t Häuser in Brand und kehrte dann durch eine an<strong>der</strong>e Straße <strong>zur</strong>ück, wo er noch<br />

weitere Häuser sowie einige Terrassen nie<strong>der</strong>brannte, von <strong>den</strong>en man das Quartier einsehen<br />

konnte. Bei Tagesanbruch war er wie<strong>der</strong> draußen, kämpfte sich zum Damm von Tacuba durch, wo<br />

an Stelle <strong>der</strong> »sehr breiten Brücken« jetzt Lücken klafften, die alle durch Barrika<strong>den</strong> aus Ziegeln<br />

und Lehm geschützt waren. Die Kastilier konnten die Brückenplätze wie<strong>der</strong> einnehmen und die<br />

Kanaldurchstiche mit Schutt auffüllen. Die umliegen<strong>den</strong> Häuser und Terrassen wur<strong>den</strong> in Brand<br />

gesetzt. Bei Einbruch <strong>der</strong> Nacht war Cortés so weit Herr <strong>der</strong> Lage, dass er an <strong>den</strong> zugeschütteten<br />

Lücken Schildwachen aufstellen konnte.<br />

Cortés hatte sich gerade zu einem stärken<strong>den</strong> Mahl nie<strong>der</strong>gesetzt, als ihm gemeldet wurde,<br />

dass die Mexica wie<strong>der</strong> sämtliche Brücken auf dem Damm eingenommen hätten. Sogleich stürmte<br />

Cortés mit einer bewaffneten kleinen Reitertruppe hinaus, gewann alle Brücken im Handstreich<br />

<strong>zur</strong>ück, erreichte das feste Land – und fand sich abgeschnitten. Die Mexica hatten ihm <strong>den</strong><br />

Rückweg verlegt, <strong>den</strong> Schutt aus <strong>den</strong> Lücken weggeräumt und schwärmten nun in Massen über<br />

<strong>den</strong> Damm <strong>zur</strong>ück. Cortés erkämpfte sich <strong>den</strong> Rückweg und setzte über die letzte, zwei Meter<br />

breite Dammlücke. Nur sein Pferd Romo rettete ihn vor dem Tod. Als er sich endlich ins Quartier<br />

durchgekämpft hatte, ging bereits das Gerücht um, er sei gefallen.<br />

Es war höchste Zeit, die Stadt ohne Rücksicht auf Verluste zu räumen. Die Vorräte waren<br />

aufgebraucht. Zum Hunger gesellte sich Durst. Die Mexica hatten <strong>den</strong> Aquädukt zerstört, <strong>der</strong> <strong>den</strong><br />

alten Tecpan mit Trinkwasser versorgte; die Kastilier mussten das brackige Zisternenwasser<br />

trinken. Je<strong>der</strong> Tag brachte <strong>den</strong> Spaniern einen Sieg und führte sie doch dem Verhängnis näher.<br />

Da sah Cortés ein, dass er mit seinen Siegen leere Mägen nicht füllen und brennen<strong>den</strong> Durst nicht<br />

löschen konnte. Nur eine Rettung blieb für sein Heer: Flucht, heimliche Flucht aus <strong>der</strong> Stadt.<br />

Der Astrologe Botello hatte ihm Mut gemacht. Er hatte für die kommende Nacht das<br />

Horoskop gestellt; die Sterne stan<strong>den</strong> ziemlich günstig.<br />

»Um das Wichtigste vorweg zu sagen, Señor Capitán: Ihr und das Heer werdet die Drangsal<br />

überstehen. Ihr werdet Euch durchschlagen können...«<br />

»Mehr will ich nicht wissen!«, sagte Cortés. »Zu viel Wissen lähmt.«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 298<br />

»Ich las aber auch Ungünstiges in <strong>den</strong> Sternen, Señor Capitán...«<br />

»Behaltet es für Euch. Sagt es mir erst, wenn wir am an<strong>der</strong>en Ufer sind!«<br />

Da sagte <strong>der</strong> hagere Italiener tief bewegt: »Ihr, Señor Capitán, werdet an jenes an<strong>der</strong>e Ufer<br />

<strong>der</strong> Lagune gelangen. Ich aber werde an ein an<strong>der</strong>es Ufer verschlagen. Wir sehen uns nicht<br />

wie<strong>der</strong>!«<br />

»Ich hoffe, Ihr irrt Euch«, sagte Cortés, »die Sterne müssen ja nicht immer Recht haben.« Er<br />

umarmte <strong>den</strong> treuen Gefährten und küsste ihm die raue Wange.<br />

Dann rief er seine Unterführer und Pater Olmedo zum Kriegsrat zusammen. Cortés schlug<br />

vor, um Mitternacht die Stadt zu verlassen. Keiner wi<strong>der</strong>sprach. Der caudillo teilte ihnen mit,<br />

welchen Weg er gewählt habe: nicht nach Iztapalapá, son<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong> westlichen Dammstraße<br />

zum Ufer von Tacuba, weil bis dort nur drei Dammdurchstiche zu überbrücken seien, nicht sieben<br />

wie beim Dammweg von Iztapalapá. Von Tacuba aus hoffe er – am Nordufer <strong>der</strong> Lagune entlang<br />

ziehend – die Kordilleren zu gewinnen und sich bis nach Tlaxcala durchschlagen zu können. <strong>Das</strong><br />

sei zwar ein Umweg, aber das mexicanische Hinterland sei dünn besiedelt, sodass sie sich gegen<br />

Indianerangriffe wahrscheinlich gut behaupten könnten. Während <strong>der</strong> nächtlichen Flucht solle die<br />

Vorhut von Sandoval, Ordás und Lugo, die Mitte aber von ihm selbst sowie von Olíd und Avila<br />

geführt wer<strong>den</strong>. Dort könnte <strong>der</strong> Transport <strong>der</strong> Geschütze von 200 Tlatepoca mit Hilfe von 50<br />

Soldaten besorgt wer<strong>den</strong>. Die Nachhut unter Alvarado und Velásquez de León sollten mit 300<br />

Tlatepoca und 30 Soldaten die Gefangenen bewachen und nachrückende Mexica abwehren. Die<br />

Mexica wür<strong>den</strong> in dieser Nacht nicht mit einem Ausbruch rechnen und geringen Wi<strong>der</strong>stand<br />

leisten.<br />

»Was machen wir mit <strong>den</strong> vier Gefangenen an <strong>der</strong> Eisenkette?«, fragte Avila. »Schleppen<br />

wir sie mit?«<br />

Niemand antwortete.<br />

»Auch das ist eine Antwort!«, sagte Avila nach einer Weile. »Ich <strong>den</strong>ke genauso. Wir haben<br />

schon <strong>den</strong> Goldschatz mitzuschleppen.«<br />

Ordás fragte: »Was soll mit Moctezuma geschehen?«<br />

Wie<strong>der</strong> wurde es still im Saal.<br />

»Wir nehmen ihn mit!«, sagte Velásquez de León.<br />

»Auf einer Krankenbahre?«, fragte Lugo. »Ich fürchte, er übersteht die Reise nicht.«<br />

»Wir liefern ihn dem Schlagen<strong>den</strong> Falken aus!«, schlug Ordás vor.<br />

»Um <strong>den</strong> Mexica ihr Oberhaupt <strong>zur</strong>ückzugeben?«, fragte Olíd.<br />

»<strong>Das</strong> wäre Wahnsinn!«, bemerkte Avila.<br />

»Ich weiß, woran Ihr <strong>den</strong>kt, Señor Avila!«, rief Pater Olmedo erregt. »Ich hoffe, Don<br />

Hernándo lässt es nicht zu!«<br />

Jetzt äußerte sich auch Cortés.<br />

»Padre, Ihr sprecht meine Gedanken aus. Ich will nichts davon wissen!«<br />

»Ihr sollt davon nichts wissen, Don Hernándo!«, sagte Avila mit höflich-devotem Lächeln.<br />

»Ihr braucht Eure Reputation deswegen nicht...«<br />

Cortés unterbrach ihn. »Merkt Euch, Señor Avila, dass ich meine Einwilligung dazu nicht<br />

gebe!«<br />

»Ich habe auch nicht um Eure Einwilligung gebeten, Don Hernándo«, erwi<strong>der</strong>te Avila. »Aber<br />

ist es nicht seltsam, dass Ihr ihn letzthin nur noch Hund und Feigling nanntet, jetzt aber...«<br />

»Ich verbiete es Euch!«, sagte Cortés schnei<strong>den</strong>d. »Und jetzt will ich kein Wort mehr davon<br />

hören! Wir nehmen Moctezuma und die Gefangenen mit!«<br />

Dann wurde die Verteilung <strong>der</strong> Artillerie und des Trosses besprochen. Dem Zimmermann<br />

Cristóbal de Jaén vertraute Cortés die gefahrvolle Aufgabe an, mit vierzig Mann eine zerlegbare<br />

Holzbrücke <strong>der</strong> Vorhut voranzutragen und die offenen Dammdurchstiche zu überbrücken.<br />

�<br />

Eine Stunde vor Mitternacht. <strong>Das</strong> Schlafgemach Moctezumas wurde vom schwelen<strong>den</strong> Docht<br />

eines Öllämpchens nur matt erhellt. Ines Florin, die Samariterin, saß am Bett des Kranken.<br />

Moctezuma fieberte. Er hatte sich die Verbände, die <strong>der</strong> Apotheker Leonel de Cerro ihm anlegte,<br />

immer wie<strong>der</strong> vom Kopf gerissen und wies Speise und Trank <strong>zur</strong>ück. Er wollte sterben, wollte es


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 299<br />

nicht überleben, dass ihn sein Volk nicht wie üblich auf <strong>den</strong> Knien liegend angehört, son<strong>der</strong>n<br />

verhöhnt und mit Steinen beworfen hatte.<br />

Leise trat Pater Olmedo ein. Er glaubte, dass <strong>der</strong> König sterben würde, weil er sterben<br />

wollte. Olmedo konnte es nicht verhin<strong>der</strong>n. So wollte er wenigstens die Seele des unglücklichen<br />

Königs retten.<br />

Moctezuma ließ ihn re<strong>den</strong>. Der Geistliche sprach eindringlich und schlicht, gab sein Bestes.<br />

Doch es war vergeblich. Als Olmedo geendet hatte, setzte <strong>der</strong> König sich in <strong>den</strong> Kissen aufrecht<br />

und starrte ihn an.<br />

»O Spanier, Ihr habt unsere Wehrufe nicht hören wollen, habt nicht sehen wollen, dass wir<br />

<strong>den</strong> Flammen zu entfliehen suchten und es nicht konnten. Jetzt seid ihr gefangen. Ohne Mitleid<br />

wer<strong>den</strong> wir zusehen, wenn Wasser und Feuer über euch kommen!«<br />

»Majestät!«, rief <strong>der</strong> Pater. »Verscheucht die Rachegedanken! Läutert Eure Seele! Ergreift<br />

die Hand, die <strong>der</strong> Heiland erbarmungsvoll Euch reicht! Auch für Euch ist er am Kreuz gestorben!<br />

Versöhnt Euch mit dem Kreuz, eh es zu spät ist! Küsst das heilige Kreuz!«<br />

Olmedo hielt ihm das Kruzifix dicht an die Lippen.<br />

Die wahre Todesursache Moctezumas wird wohl niemals völlig geklärt wer<strong>den</strong>. Die Indianer klagten die<br />

Spanier an, ihn ermordet zu haben, als er ihnen nicht mehr nützen konnte. Die Spanier ihrerseits behaupteten, er<br />

sei durch Steinwürfe seiner eigenen Leute getötet wor<strong>den</strong>. Später warfen sie <strong>den</strong> oten Kaiser und einige seiner<br />

Häuptlinge in einen Kanal (Biblioteca Laurenziana, Florence)<br />

Noch einmal flackerte Moctezumas Kraft auf. Wild packte er das Messingkreuz und<br />

schleu<strong>der</strong>te es von sich, dass es klirrend in eine Ecke des Gemachs flog.<br />

»Ich bin <strong>der</strong> König <strong>der</strong> Welt! Ich bin ein Gott! Ich will euer Heil nicht – es ist Unheil! Eure<br />

Erlösung ist Lösung aller Bande, ist Auflösung! <strong>Das</strong> Volk Anahuacs wirft Steine nach seinem Gott<br />

– das ist eure Erlösung! Fluch über euch und euer Kreuz!«<br />

Da verließ Pater Olmedo ihn fluchtartig. Fast wäre er mit dem Narren Cervantes<br />

zusammengestoßen, <strong>der</strong> gerade eintreten wollte. Cervantes schaute dem Pater nach und sagte:<br />

»O weh, dem ist wohl <strong>der</strong> Teufel begegnet, dass er so rennt.«<br />

»Nein«, wi<strong>der</strong>sprach Ines Florin sanft, »er hat eine arme Seele verloren.«<br />

»Ich wollte Euch nur Bescheid sagen, Señorita. Kommt, kommt, verpasst die Gelegenheit


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 300<br />

nicht. Solch ein Glück blüht Euch nie wie<strong>der</strong>. Ihr könnt steinreich wer<strong>den</strong>, wenn Ihr mir folgt.«<br />

»Wohin?«<br />

»Auf die Altäre Mexicos, Señorita, o<strong>der</strong> in die Tiefe des Schilfsees! Ihr habt keine an<strong>der</strong>e<br />

Wahl! Seid klug und schließt Euch an. Der Reigen beginnt!«<br />

»Was beginnt?«<br />

»Die Flucht, die heillose Flucht! Schon stopfen sich alle die Taschen voll Gold, so viel sie<br />

tragen können... mehr als sie tragen können! Wohl um schneller in <strong>der</strong> Seetiefe zu versinken o<strong>der</strong><br />

um leichter <strong>den</strong> Tanz <strong>der</strong> dürren Klapperbeine mitzutanzen. Gold ist billig gewor<strong>den</strong>, Señorita!<br />

Je<strong>der</strong> kann sich damit mästen, je<strong>der</strong> <strong>der</strong> Lust hat – und hungrig sind alle danach. Verpasst Euer<br />

Glück nicht, Señorita!«<br />

»O Tezcatlipoca, Gott <strong>der</strong> Götter, König <strong>der</strong> Götter, warum strafst du mich!«, stöhnte<br />

Moctezuma. »Gold! Immerzu rufen sie: Gold! Lass mich sterben und sie ihr Gold mitnehmen.«<br />

Die Tür ging auf und Avila, Olíd und <strong>der</strong> Henker Osorio traten ein. Der Henker hielt einen<br />

kurzen Hanfstrick in <strong>der</strong> Hand. Alle außer dem Kranken müssten das Gemach verlassen,<br />

verkündete Avila schroff.<br />

Ines Florin ahnte, was geschehen sollte, sprang entsetzt auf, wollte re<strong>den</strong>, bitten, doch<br />

Ohnmacht umfing sie, und sie stürzte zu Bo<strong>den</strong>. Osorio trug sie vor die Tür. Da stürzte Orteguilla<br />

an Osorio vorbei zum König und rief ihm zu, man wolle ihn ermor<strong>den</strong>. Olíd packte ihn am Arm und<br />

schleifte <strong>den</strong> heulen<strong>den</strong> Knaben vor die Tür. Der Narr Cervantes sah die Mör<strong>der</strong> verächtlich an,<br />

spuckte zu Bo<strong>den</strong> und schlich wortlos hinaus. Nun waren die drei Männer mit dem König allein.<br />

Mit wun<strong>der</strong>sam jenseitigem Lächeln sah Moctezuma sie an. Er war abgemagert und wirkte<br />

zerbrechlich.<br />

»Es ist gut... Es ist gut...«, sagte er. »Der Gott <strong>der</strong> Götter schickt euch zu mir. Nun wird es<br />

bald Tag! O ihr tapferen Krieger, erlaubt, dass ich euch helfe, die Schlinge zu bin<strong>den</strong>! Erlaubt, dass<br />

ich mir selbst <strong>den</strong> Strick um <strong>den</strong> Hals lege!«<br />

Moctezuma nahm dem Henker <strong>den</strong> Strick aus <strong>der</strong> Hand, wand ihn sich um seinen<br />

schmächtigen Hals und reichte Avila und Olíd die En<strong>den</strong>.<br />

»Nun wird es Tag«, wie<strong>der</strong>holte er. »Ich selbst öffne die Tür zum neuen Tag...«<br />

Avila und Olíd sahen sich unschlüssig an.<br />

»Haben die tapferen Krieger des Grünen Steins keinen Mut, einen König zu töten?«, fragte<br />

Moctezuma. Da nickte Olíd seinem Gefährten zu, und beide zogen an <strong>den</strong> Seilen<strong>den</strong>. Minuten<br />

später lebte <strong>der</strong> große Moctezuma nicht mehr.<br />

Zur gleichen Zeit waren Paredes, Flores, Palma und an<strong>der</strong>e von Avila beauftragte Soldaten<br />

in das unterirdische Schatzhaus eingedrungen und hatten Cacama (<strong>den</strong> Edlen Betrübten) und <strong>den</strong><br />

Weißen Igel (König von Coyoacán) erdrosselt. Durch das Gebrüll <strong>der</strong> Gefangenen angelockt,<br />

waren Tapia und Luis Marín hinzugekommen und hatten die Ermordung des Durch-Wohlgestalt-<br />

Glänzen<strong>den</strong> und Prinz Felsenschlanges verhin<strong>der</strong>t. Sie ließen die bei<strong>den</strong> Gefangenen von <strong>der</strong><br />

Eisenkette lösen und übergaben sie verlässlichen Schutzwachen, um sie bei <strong>der</strong> Flucht mitsamt<br />

einigen an<strong>der</strong>en königlichen Prinzen und Prinzessinnen als Geiseln mitzunehmen.<br />

�<br />

Cortés' Plan war vernünftig. Unvernünftig aber war, dass die Spanier, anstatt möglichst unbelastet<br />

aufzubrechen, sich mit Gold bela<strong>den</strong> auf <strong>den</strong> Weg machten. Der caudillo wollte wenigstens das<br />

Fünftel für <strong>den</strong> Kaiser retten, und zweifellos lag ihm auch daran, seine eigenen Schätze<br />

mitzunehmen, <strong>den</strong>n er wusste, dass er sie brauchte, um <strong>zur</strong>ückkehren und die Eroberung Mexicos<br />

vollen<strong>den</strong> zu können. Die Kostbarkeiten hatten einen Gesamtwert von 700 000 Pesos – ein<br />

Riesenbetrag. Alonso de Avila und Gonzalo Mejía, die bei<strong>den</strong> Schatzmeister, nahmen des Kaisers<br />

Anteil in ihre Obhut, und Cortés stellte ihnen für <strong>den</strong> Transport sieben verletzte Pferde und über<br />

achtzig Tlatepoca <strong>zur</strong> Verfügung, <strong>den</strong>n die Schätze wogen rund acht Tonnen. Aber sobald die<br />

Schatzkammern geöffnet waren, gab es für die Soldateska kein Halten mehr. Je<strong>der</strong> nahm, wonach<br />

ihn gelüstete. Und wessen Augen größer waren als die Erfahrung - was vor allem bei Narváez'<br />

Leuten <strong>der</strong> Fall war –, stopfte sich die Taschen voll Gold. Alte Kämpfer wie Bernal Diaz jedoch<br />

begnügten sich damit, wenige Kostbarkeiten mitzunehmen.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 301<br />

�<br />

10. Juli 1520, kurz vor Mitternacht, begann die Traurige Nacht, die noche triste, wie die Spanier sie<br />

später nannten. Nebelschwa<strong>den</strong> jagten über die Flachdächer <strong>der</strong> Paläste und Häuser; nur auf <strong>der</strong><br />

Plattform des Menschenopfersteins glimmten rote Schatten <strong>der</strong> ewig schwelen<strong>den</strong> Feuer. Wolken<br />

verhüllten die Sterne; es war stockdunkel, und feiner Regen fiel. Windböen pfiffen um die<br />

Straßenecken, fegten über die Plätze und die Lagune.<br />

Dicht gedrängt, wie Vögel im Gewitter, kauerten die Spanier im Hof des alten<br />

Königspalastes. Manchmal jaulte irgendwo ein Hund. Da rückten sie leise, fast geräuschlos aus<br />

einem <strong>der</strong> nördlichen Palasttore. Sie hatten die Rä<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wagen und die Hufe <strong>der</strong> Pferde mit<br />

Tüchern umwickelt, um die Geräusche zu dämpfen, doch das leise Geknarre und Geklapper von<br />

Tross und Geschützen, das dünne Geklirr <strong>der</strong> Panzer und Waffen war nicht zu vermei<strong>den</strong>.<br />

Gespenstisch wie geisterbleiche Schemen wankte <strong>der</strong> lange Truppenzug durch die schlafende<br />

Stadt, dem Dammweg von Tacuba entgegen.<br />

Unter <strong>den</strong> Wagenplanen stöhnten die Verwundeten; Frauen hatten sich mit gezückten<br />

Säbeln eingereiht, und Söldner schleppten sich schwer bewaffnet und bela<strong>den</strong> voran. Sämtliche<br />

Taschen in Hose und Wams waren mit Gold, Edelsteinen und an<strong>der</strong>em wertvollem Beutegut<br />

gefüllt.<br />

An <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Vorhut schlichen vierzig Freiwillige. Sie hatten sich verpflichtet, die<br />

fliegende Brücke voranzutragen und wie ein Heiligtum zu schützen, sie über <strong>den</strong> ersten<br />

Dammdurchstich zu spannen und sie – sobald das Heer darüber hinweggezogen war – wie<strong>der</strong><br />

abzubauen, um dann die an<strong>der</strong>en Dammdurchstiche zu überdecken. Von diesen Männern hing<br />

das Wohl und Wehe des Christenheeres ab.<br />

Unbemerkt gelangten sie in das ärmliche Stadtviertel Cuepopan. Dort wur<strong>den</strong> sie von einer<br />

Wasserträgerin entdeckt, die am Rand eines Kanals Wasser schöpfte. Zuerst erstarrte die Frau,<br />

doch als sie begriff, was sie sah, erhob sie lautes Geschrei.<br />

»Erwacht, ihr Mexica, erwacht! Eure Feinde fliehen!«<br />

Sie rannte zum nächsten Tempel und meldete es atemlos <strong>den</strong> Priestern. Ein Muschelhorn<br />

erschallte. Gleich darauf gab ein zweites Antwort, dann ein drittes. Hell lo<strong>der</strong>te auf <strong>der</strong> obersten<br />

Plattform <strong>der</strong> großen Pyramide die ewige Flamme empor. Von allen Menschenwürgeplätzen <strong>der</strong><br />

siebzig Teocalli Tenochtitláns herab tönten die Muschelhörner. Dann erzitterte die Luft vom<br />

dumpfen Dröhnen <strong>der</strong> großen Kriegstrommel Huitzilopochtlis auf <strong>der</strong> Schlangenberg-Pyramide.<br />

Die schlummernde Wasserstadt wurde geweckt. Bald kreisten purpurne Fackeln in <strong>den</strong> Straßen,<br />

und quirlend spie die Finsternis wild entschlossene Hor<strong>den</strong> aus. Die Mexica bewaffneten sich,<br />

tanzten <strong>den</strong> Kriegstanz. Fe<strong>der</strong>helme wogten über schuppengepanzerten Körpern, Adler und<br />

Jaguare schwangen Bogen, Lanzen und Obsidianschwerter.<br />

Doch die Fliehen<strong>den</strong> erreichten <strong>den</strong> ersten Dammdurchstich, ohne von einem einzigen<br />

bewaffneten Mexica verfolgt zu wer<strong>den</strong>. Cristóbal de Jaéns Männer schlugen in wil<strong>der</strong> Hast die<br />

Brücke, während Sandoval, Ordás und Lugo mit <strong>den</strong> zweihun<strong>der</strong>t Mann <strong>der</strong> Vorhut und zwanzig<br />

Reitern schon zum zweiten Dammdurchstich stürmten. Cortés, Olíd und Avila folgten mit <strong>der</strong><br />

Heeresmitte, und auch Alvarado und Velásquez de León vermochten die Nachhut ungefährdet<br />

über die Brücke zu bringen.<br />

Auch alles an<strong>der</strong>e wäre geglückt, hätte die Holzbrücke sich zum zweiten Dammdurchstich<br />

bringen lassen. Doch das Gewicht <strong>der</strong> Truppen, Pferde und Geschütze, vor allem <strong>der</strong> Singen<strong>den</strong><br />

Nachtigall, hatte die Brücke so fest in <strong>den</strong> aufgeweichten Bo<strong>den</strong> einsinken lassen, dass sie sich<br />

allen Anstrengungen zum Trotz nicht bergen ließ.<br />

Die Wächter beim ewigen Feuer auf <strong>der</strong> großen Pyramide, auch die auf dem Leuchtturm<br />

Unserer-Großmutter-Holz, hatten Öl und trockenes Holz in die Flammen geworfen; hoch lo<strong>der</strong>ten<br />

sie auf und erhellten nun die Lagune im Schleier des Sprühregens. Schatten zuckten gespenstisch<br />

und verloren sich in <strong>der</strong> Dunkelheit über dem See. Da gab es bei <strong>den</strong> Spaniern kein Halten mehr.<br />

Schreiend und lärmend drängten sie weiter voran.<br />

Plötzlich sah sich das zwischen <strong>der</strong> Notbrücke und dem zweiten Durchstich eingezwängte<br />

Christenheer von allen Seiten umringt.<br />

Der unausweichliche Kampf begann!<br />

Von <strong>den</strong> Flanken näherten sich Boote. Pechpfannen lo<strong>der</strong>ten auf und beleuchteten die


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 302<br />

Umgebung taghell. In Hun<strong>der</strong>ten von Einbäumen ru<strong>der</strong>ten mexicanische Schildträger heran,<br />

sprangen ins Wasser und schwammen zum Deich. Während sie die Böschung hinaufkletterten,<br />

zogen die Soldaten blank. Krachend lösten sich die ersten Salven aus <strong>den</strong> Arkebusen und<br />

Musketen und mähten viele Angreifer nie<strong>der</strong>. Die langen Hellebar<strong>den</strong> wur<strong>den</strong> gefällt und zuckten<br />

mit kräftigen Stößen in die Leiber <strong>der</strong> Angreifer. Spanische Eisenhüte und mexicanische<br />

Dämonenmasken quirlten durcheinan<strong>der</strong>. Die Gegner hieben aufeinan<strong>der</strong> ein. Sägeschwerter<br />

trafen auf spanische Brustpanzer; Degen fuhren in indianische Schuppenrüstungen; Speere<br />

flogen, Verwundete und Tote sanken auf bei<strong>den</strong> Seiten dahin. Zahllose Mexica kamen hinzu.<br />

Aufrecht in <strong>den</strong> Pirogen stehend, verschossen sie vom Schilfsee aus ihre Pfeile, schleu<strong>der</strong>ten<br />

Steine und warfen Speere.<br />

Gleichzeitig erfolgte von <strong>der</strong> Landseite her ein weiterer Angriff: Zu Tausen<strong>den</strong> stürmten<br />

mexicanische Krieger über <strong>den</strong> Damm <strong>der</strong> Holzbrücke entgegen, um <strong>der</strong> Nachhut in <strong>den</strong> Rücken<br />

zu fallen und die Brücke zu zerstören. Alvarado erkannte die Gefahr sofort; er ließ Velásquez de<br />

León mit dem Nachtrab kehrt machen, und gemeinsam warfen sie sich <strong>den</strong> Anstürmen<strong>den</strong><br />

entgegen und drängten sie von <strong>der</strong> Brücke bis an <strong>den</strong> Stadtrand <strong>zur</strong>ück.<br />

Tod am Damm: Ein Regen aus Steinen, Speeren und Pfeilen prasselten<br />

auf die fliehen<strong>den</strong> Spanier, viele starben, an<strong>der</strong>e ertranken o<strong>der</strong> wur<strong>den</strong><br />

verwundet (Aztekenzeitung, Sauerlän<strong>der</strong>, Aarau)<br />

An allen Teilen des<br />

Dammes tobte jetzt <strong>der</strong> Kampf.<br />

Auch <strong>der</strong> Regen war heftiger<br />

gewor<strong>den</strong>. <strong>Das</strong> Pulver auf <strong>den</strong><br />

Pfannen zündete nicht mehr;<br />

nur noch matt peitschten<br />

wenige Schüsse. Nutzlos<br />

gewor<strong>den</strong>, wur<strong>den</strong> die<br />

Feuerwaffen fortgeworfen; allein<br />

die Degen zuckten wie blaue<br />

Blitze durch das Chaos. Die<br />

Mexica wollten verhin<strong>der</strong>n, dass<br />

Sandoval das an<strong>der</strong>e<br />

Dammufer erreichte. Der<br />

zwischen bei<strong>den</strong> Dämmen<br />

flutende Wasserarm war<br />

zwanzig Fuß breit und sehr tief;<br />

ohne Brücke schien ein<br />

Hinübersetzen undurchführbar.<br />

Cortés sah sein Heer zusammenschmelzen. Schon sanken viele Männer verwundet o<strong>der</strong> tot<br />

nie<strong>der</strong>, wur<strong>den</strong> ins Wasser gezerrt und ertränkt o<strong>der</strong> als Kriegssklaven in Kanus gestoßen. Die<br />

Lage war verzweifelt; nicht nur die Amazone María de Estrada, auch die Goldhyazinte und alle<br />

an<strong>der</strong>en Frauen hatten Panzer umgelegt und schwangen Schwerter, kämpften wild und beherzt<br />

wie die Männer. Alle fochten um das nackte Leben.<br />

Cortés musste einsehen, dass die Vernichtung bevorstand, wenn <strong>der</strong> Stau vorn nicht<br />

beseitigt wurde. Er hatte keine Zeit, lange nachzu<strong>den</strong>ken. Alle Wagen des Trosses, auch die<br />

Artillerie und <strong>der</strong> Goldschatz, mussten <strong>den</strong> breiten Graben füllen und <strong>den</strong> Bedrängten als<br />

begehbare Furt dienen.<br />

»Alle Wagen nach vorn! Auch die mit dem Goldschatz! Und die Geschütze!«, brüllte er.<br />

Der Befehl wurde ausgeführt. Mit übermenschlicher Anstrengung gelang es, die Wagen<br />

während des Kampfgewühls durch die Menschenmenge zu schaffen. Rä<strong>der</strong> wälzten sich über<br />

Tote; die Vorhut wurde erreicht. Cortés ließ Fahrzeuge und Kanonen ins Wasser werfen, um <strong>den</strong><br />

Durchstich aufzufüllen.<br />

Die Singende Nachtigall und zwanzig an<strong>der</strong>e Kartaunen und Falkonette häuften sich<br />

übereinan<strong>der</strong>. Ihre Bronzerohre starrten aus dem Wasser. Rad und Wagen des Trosses gingen


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 303<br />

unter, auch das Gold Moctezumas sank in die Tiefe, aber <strong>der</strong> Durchstich war erst <strong>zur</strong> Hälfte<br />

aufgefüllt, die Lücke zwischen <strong>den</strong> Dammdurchfahrten längst nicht geschlossen. Um die Flut zu<br />

stoppen, warf man auch noch tote Pferde, Geräte aus Türkismosaik, Ballen mit erbeuteten<br />

Fe<strong>der</strong>mänteln und bemalter Baumwolle hinterher. Krieger kämpften Schritt um Schritt auf <strong>den</strong><br />

Dämmen. Blutrot flackerten noch immer die Feuer durch die Nacht. Beängstigend lärmten<br />

Cuauhtémocs Muschelhörner, rasselten die Becken, dröhnten die Tempelgongs.<br />

Doch ein Fundament für <strong>den</strong> Brückenbau war geschaffen. Die Kastilier warfen<br />

Indianerleichen auf die Geschützrohre. Höher und höher wurde dieser Berg aus Toten. Doch umso<br />

erbitterter wurde auch <strong>der</strong> Ansturm <strong>der</strong> Azteken, umso lauter ihr Kampfgeschrei. Die weiter<br />

<strong>zur</strong>ückstehen<strong>den</strong> Kastilier und Tlaxcalteken glaubten, die Auffüllung des Durchstichs sei gelungen,<br />

und drängten vor. Mit <strong>den</strong> Leibern ihrer eigenen Kampfgenossen vollendeten sie <strong>den</strong> Bau <strong>der</strong><br />

Leichenbrücke. Die Nachdrängen<strong>den</strong> trieben ungewollt die vorne Warten<strong>den</strong> vom Damm ins<br />

Wasser, hörten im Kampflärm nicht die entsetzt-flehen<strong>den</strong> Hilferufe <strong>der</strong> Bedrängten, in äußerster<br />

Not war je<strong>der</strong> nur sich selbst <strong>der</strong> Nächste’, und über das Gezappel ertrinken<strong>der</strong>, sterben<strong>der</strong><br />

Christen und Mexica schritt das Heer und stampften die Pferde ans an<strong>der</strong>e Ufer.<br />

Bald stan<strong>den</strong> Cortés, Sandoval, Ordás und Lugo mit <strong>den</strong> Überresten <strong>der</strong> Vorhut vor dem<br />

dritten Durchstich. Er war schon nahe am Ufer; das Wasser war dort nicht mehr tief. Bald war eine<br />

Furt gefun<strong>den</strong>, und sie konnten hindurchwaten. Viele Soldaten büßten nun für ihre Habgier und<br />

ertranken in <strong>den</strong> Fluten, wur<strong>den</strong> vom Gold hinabgezogen, mit dem sie die Taschen, Ärmel und<br />

Stiefel voll gestopft hatten. Doch auch viele gewannen das rettende Ufer. Cortés hatte große<br />

Verluste hinnehmen müssen, aber sein Heer gerettet! Sandoval, Ordás und Lugo umarmten<br />

einan<strong>der</strong> und beglückwünschten ihren Befehlshaber.<br />

Inzwischen hatten die Mexica gegen die Nachhut Erfolge errungen, konnten Prinz<br />

Felsenschlange und <strong>den</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong> befreien und die Notbrücke zerstören.<br />

Alvarado und Velásquez de León, die mit ihren hun<strong>der</strong>t Mann noch immer die von <strong>der</strong> Stadt<br />

nachdrängen<strong>den</strong> Indianer in Schach hielten, sahen sich plötzlich abgeschnitten. Cortés, <strong>der</strong> eben<br />

noch dankbar die Rettung begrüßt hatte, hörte die Verzweiflungsschreie. Er ritt mit Sandoval und<br />

Ordás die Dammstraße <strong>zur</strong>ück, um zu helfen. Schon war ein großer Teil des Heeres am<br />

Schilfseeufer, nur noch ein kleiner Rest <strong>der</strong> Mitte war in Kämpfe verwickelt – und natürlich die<br />

abgeschnittene Nachhut.<br />

Der Morgen graute bereits. Manchen seiner Getreuen, <strong>den</strong> Cortés für tot gehalten hatte, sah<br />

er heil dem Seeufer zuschreiten. Er sah auch die vom treuen Arteaga beschützte Sänfte Marinas;<br />

sie war unversehrt. Doch erblickte er auch die Leiche Botellos: Von einem Speer durchbohrt lag<br />

sie am Weg. Er sah, wie <strong>der</strong> Narr Cervantes, <strong>der</strong> Bergmann Ortiz und La Bailadora mit dem<br />

kleinen Pancho gefesselt in einem Indianerboot weggebracht wur<strong>den</strong>. Und dort, wo sie die<br />

Notbrücke gelegt hatten und wo jetzt wie<strong>der</strong> Wasser gähnte, sah Cortés auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite die<br />

Nachhut kämpfen.<br />

Dann geschah das Schmerzlichste: Sie mussten <strong>den</strong> Tod Velásquez de Leóns mit ansehen.<br />

Aus vielen Wun<strong>den</strong> blutend und schon ermattet, wehrte <strong>der</strong> Freund sich gegen sieben Mexica.<br />

Velásquez erlahmte immer mehr, war mit <strong>der</strong> Degenabwehr nicht mehr schnell genug, da trennte<br />

ein kreisend-zischendes Sägeschwert dem Kamera<strong>den</strong> das Haupt vom Rumpf. Die Mexica<br />

steckten die Trophäe auf einen Speer, jubelten laut und drohten fäusteschwingend zu Cortés<br />

herüber.<br />

»Wohl ihm!«, rief <strong>der</strong> wild kämpfende Alvarado zu ihnen herüber. »Besser so, als auf dem<br />

Adlerstein zu en<strong>den</strong>!«<br />

Sandoval und Ordás fragten Cortés, ob er keinen Rat wisse, doch <strong>der</strong> schüttelte nur stumm<br />

<strong>den</strong> Kopf. Sie schauten noch eine Weile dem hoffnungslosen Scharmützel zu.<br />

»Wir wollen in die Stadt <strong>zur</strong>ück!« – »Ja, dort können wir uns verschanzen!« – »Wir wer<strong>den</strong><br />

uns halten, bis ihr uns befreien kommt!«, schrien einzelne Kastilier herüber.<br />

»Die armen Leute...«, murmelte Cortés.<br />

Da geschah etwas Überraschendes.<br />

»Ich will mich von diesen Hun<strong>den</strong> nicht schlachten lassen!«, rief Alvarado. Mit einer Lanze<br />

bewehrt, nahm er Anlauf, rannte auf <strong>den</strong> Kanal zu, rammte <strong>den</strong> Speer treffsicher in einen von <strong>der</strong><br />

Brücke übrig gebliebenen, aus dem Wasser ragen<strong>den</strong> Holzpfosten und schwang sich über <strong>den</strong><br />

zwanzig Fuß breiten Kanal. Was kein Mensch für möglich gehalten hätte: Er gelangte auf die


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 304<br />

rettende Seite! Selbst die Feinde brachen in Rufe <strong>der</strong> Bewun<strong>der</strong>ung aus.<br />

Noch hun<strong>der</strong>t Jahre später sollte die Stelle »Sprung des Alvarado« genannt wer<strong>den</strong>.<br />

�<br />

Der Nacht <strong>der</strong> Schrecken folgte ein strahlen<strong>der</strong> Tag. Aus dem Eis <strong>der</strong> fernen Kordilleren stieg hell,<br />

vom Morgendunst rot gefärbt, die Sonnenkugel herauf. Die Wolken waren verschwun<strong>den</strong>, und blau<br />

leuchtete das Himmelszelt. Beim kleinen Tepanekendorf Popotla saß Cortés traurig unter einer<br />

Ze<strong>der</strong>. Viertausend Tlatepoca, fünfundvierzig Reiter und fünfhun<strong>der</strong>t Mann seiner kastilischen<br />

Fußtruppe, darunter Bernardino de Coria und Alonso Hernández, Peñalosa und Pero del Corral<br />

(<strong>der</strong> Fahnenträger), waren in dieser Nacht <strong>der</strong> Trauer gefallen o<strong>der</strong> von <strong>den</strong> Mexica gefangen<br />

wor<strong>den</strong>. Er hatte nur noch 23 Pferde. Der Geschliffene Obsidian, <strong>der</strong> ehemalige Gefangene<br />

Moctezumas und Retter Tlaxcalas, war unter <strong>den</strong> Gefallenen; tot waren <strong>der</strong> Zimmermann Alonso<br />

Yáñez und <strong>der</strong> neunzehnjährige Lorenzo Amadori, <strong>der</strong> leichtsinnige junge Ehemann <strong>der</strong> alten<br />

Samano. Auch <strong>der</strong> Scharfschütze Vaeña aus Trinidad (dem <strong>der</strong> caudillo in <strong>den</strong> Sanddünen das<br />

Pferd gegen eine Goldborte »abgekauft« hatte) lebte nicht mehr, und <strong>den</strong> Trommler Canillas hatte<br />

ein Speer durchbohrt. Auch viele Frauen waren umgekommen – nur Marina und ihr Kind, die<br />

Amazone María de Estrada, die olivenbleiche Isabel de Ojeda, die hübsche, rundliche Rosita<br />

Muños (Angetraute des Schwätzers Tarifa de los servicios und Geliebte Juan García des<br />

Aufgeblasenen), Pilar de Elgueta (Gattin des Bogenschützen Pedro de Tirado), die Marketen<strong>der</strong>in<br />

Catalina Márquez (die man die Goldhyazinte nannte), die hagere Rosario (Rodrigo Rangels<br />

Freundin) und Doña María Luisa-Rabenblume<br />

(Gattin von Pedro de Alvarado und Schwester<br />

von Goldmaske) waren mit dem Leben<br />

davongekommen. Eine Gruppe tlaxcaltekischer<br />

Krieger hatte sie gerettet. Und hun<strong>der</strong>t<br />

unglückliche weiße Männer, die vom Heer<br />

abgesprengte Nachhut, waren in die Stadt<br />

<strong>zur</strong>ückgekehrt. Vom Lizentiaten Juan Díaz<br />

fehlte jede Spur, <strong>der</strong> Priester blieb verschollen.<br />

Noche Triste (spätere spanische Darstellung, ca.1540)<br />

Botello und die Sterne hatten nicht<br />

gelogen. Trotz allem – das Heer war gerettet.<br />

Und auch <strong>der</strong> Tod Marinas und ihres Kindes,<br />

<strong>der</strong> ihm bald nach dem Sprung Alvarados<br />

gemeldet wor<strong>den</strong> war, hatte sich als Gerücht erwiesen: Heil und unverletzt hatte er sie an Land<br />

wie<strong>der</strong>gefun<strong>den</strong>. Ja, trotz allem hatte er Grund, <strong>den</strong> Gestirnen zu danken.<br />

Ein Mann ging an <strong>der</strong> Ze<strong>der</strong> vorbei. Cortés erhob sich, blickte in das Morgenglühen und rief<br />

ihn freudig an:<br />

»Señor Martín López! Ihr lebt?«<br />

»Freilich, Señor Capitán. Gott hielt seine Hand über mich.«<br />

»Lob sei dem Herrn!«, sagte Cortés. »Mit Euch kann ich die Scharte auswetzen. Die<br />

Wasserstadt ist nur mit Brigantinen zu bezwingen.«<br />

Der Schiffbaumeister sah ihn verwun<strong>der</strong>t und ungläubig an.<br />

»Lächelt nicht«, sagte Cortés ernst. »Wir wer<strong>den</strong> neue Brigantinen bauen!«<br />

�<br />

<strong>Das</strong> Häuflein <strong>der</strong> abgeschnittenen Spanier hatte sich verschanzt und setzte <strong>den</strong><br />

Verzweiflungskampf fort. Die Krieger Anahuacs unternahmen Angriff auf Angriff, doch die Kastilier<br />

wehrten alle Attacken ab. Sie hofften auf Befreiung durch die Kamera<strong>den</strong> und glaubten, sich halten<br />

zu können. Doch als die Sonne aufging, trat Stille ein.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 305<br />

Bestrahlt vom gol<strong>den</strong>en Licht, greifbar deutlich in <strong>der</strong> dünnen Luft Mexicos, war er gut zu<br />

erkennen. <strong>Das</strong> erste Menschenopfer wurde auf <strong>den</strong> Schlangenberg hinaufgeführt. Es war <strong>der</strong><br />

schöne Namenlose, <strong>den</strong> <strong>der</strong> Feind gefangen hatte, und das war so geschehen: Als die Nachhut<br />

<strong>den</strong> alten Tecpan verließ, hatte Alvarado <strong>den</strong> Namenlosen beauftragt, er solle nachschauen, ob<br />

nicht ein Kranker o<strong>der</strong> Schlafen<strong>der</strong> <strong>zur</strong>ückgeblieben sei. Mit einer Kienfackel in seiner einen Hand<br />

schritt <strong>der</strong> Namenlose durch die Palastsäle. In einem Gemach, das von einem Öllämpchen aus<br />

Zinn erleuchtet war, bedeckte ein Tuch das Gesicht <strong>der</strong> Königsleiche. Eine Sandalenbin<strong>der</strong>in, eine<br />

treue Dienerin Moctezumas, sang Totenlitaneien und flocht Stricke zum Umschnüren des<br />

Mumienbündels. Dem Toten musste ein rotgelber Hund mitgegeben wer<strong>den</strong> (als Begleiter über<br />

<strong>den</strong> neunfachen Strom <strong>der</strong> Unterwelt), doch im Palast war kein Hund zu fin<strong>den</strong>; deshalb hatte <strong>der</strong><br />

alte Musikmeister Löffelreiherschlange seinen Leib rotgelb bemalt und mit einem Pfeil seinen Hals<br />

durchbohrt. Nun lag er tot neben seinem König. Der Namenlose ging weiter, fand einen<br />

schlafen<strong>den</strong> fieberkranken Arkebusier, weckte ihn und brachte ihn auf die Straße. Doch das Heer<br />

war schon weit voraus; die ersten Muschelhörner und Schläge auf die große Kriegstrommel<br />

Huitzilopochtlis ertönten. Die bei<strong>den</strong> Nachzügler wur<strong>den</strong> umzingelt. Der Arkebusier fand kämpfend<br />

<strong>den</strong> Tod; <strong>der</strong> Namenlose aber fiel <strong>den</strong> Fein<strong>den</strong> lebend in die Hände.<br />

Im Morgendämmer hatten sie ihn entkleidet und seinen Körper mit weißen Daunen beklebt.<br />

Auf dem Weg zum Fuß <strong>der</strong> Pyramide drang Freu<strong>den</strong>geschrei an sein Ohr: <strong>Das</strong> Volk bejubelte <strong>den</strong><br />

Überwin<strong>der</strong>, Mexicos neuen König, und seine Gemahlin Maisblume, Mexicos neue Königin.<br />

Nun erklomm <strong>der</strong> Namenlose die hohen Stufen. Die Herzen seiner Kamera<strong>den</strong> krampften<br />

sich zusammen. Wie wun<strong>der</strong>voll aufrecht er sich hielt! Er wusste, dass ganz Tenochtitlán zu ihm<br />

emporsah, dass das Christenheer zu ihm blickte, und das gab ihm die Kraft, so leichten Schrittes<br />

aufwärts zu gehen, als ginge er zu einem Fest.<br />

�<br />

<strong>Das</strong> Glück ist ein Gipfel, schön und nicht ohne Gefahren. Unglück ist eine dunkle Schlucht, doch<br />

wer ganz unten ist, kennt keine Schrecken mehr. Von Gipfeln führen die Wege nur abwärts; aus<br />

tiefer Schlucht aber können Wege emporführen.<br />

Viele Männer hatte Cortés verloren, <strong>den</strong> Goldschatz und die Artillerie hatte er opfern<br />

müssen, und er besaß kaum noch eine Muskete. Doch sogleich war er wie<strong>der</strong> voller Hoffnung. Der<br />

caudillo schaute über die siebzig stolzen Teocalli <strong>der</strong> Königin aller Städte hinweg. Er wusste, <strong>der</strong><br />

Orkan würde kommen, <strong>der</strong> sie nie<strong>der</strong>riss und ihre Trümmer im Schilfsee versenkte. Er selbst<br />

würde <strong>der</strong> Orkan sein, auch wenn er jetzt als Flüchtling ostwärts durch ein von Fein<strong>den</strong><br />

wimmelndes Land ziehen musste. Doch <strong>der</strong> Rückzug würde ihn auch zu neuen Siegen führen.<br />

Cortés ließ <strong>den</strong> Trompeter Sebastián Rodríguez das Marschsignal auf seiner lilienförmigen<br />

Kupfertrompete blasen. Der Liebling des Heeres hatte überlebt.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 306<br />

22. Totengericht<br />

Mais pflanzen<br />

»Nur Blumen und Trauergesänge blieben noch in Mexico und Tlatelolco, wo wir einst<br />

Krieger und Weise sahen. Wir müssen zugrunde gehen, wir wissen es, <strong>den</strong>n wir sind<br />

sterbliche Menschen. Du, <strong>der</strong> du das Leben gibst, hast es verfügt.«<br />

(Cantares de los Mexicanos, 1523 [?])<br />

Die Legende berichtet: Die Göttin Ixuinan, Herrin <strong>der</strong> Lust und <strong>der</strong> Erde, verführte <strong>den</strong> tapferen<br />

Yappan. Als er sie umarmte, wurde sie zu Staub. Nichts behielt er von <strong>der</strong> Berücken<strong>den</strong> <strong>zur</strong>ück als<br />

eine Hand voll grauen Er<strong>den</strong>staubs. Auf dem Grund des Schilfsees hingegen lagen<br />

goldbeschwerte Menschen. Da gab es genug für Barben, Äschen und Seeforellen, für<br />

Schildkröten, Krebse und Wasserschlangen. Doch kaum einen Tag lang war es dem Getier<br />

vergönnt, sich dieses Festmahls zu erfreuen. Die Mexica bargen ihre Ertrunkenen und die<br />

erschlagenen Feinde, um ihre Stadt und ihren See vor Vergiftung zu bewahren. Auch das Fest <strong>der</strong><br />

Totenbestattung lag ihnen so sehr am Herzen, dass sie es zunächst unterließen, <strong>den</strong> kleinen<br />

Haufen flüchten<strong>der</strong> weißer Männer zu verfolgen. Die Toten sollten zuvor bei einem großen<br />

Dankfest für <strong>den</strong> Beistand des wun<strong>der</strong>baren Huitzilopochtli bestattet und die Gassen, Kanäle und<br />

die Lagune von <strong>den</strong> krankmachen<strong>den</strong> Gefahren gesäubert wer<strong>den</strong>. Die Garnison des Drei-Städte-<br />

Bundes in Tacuba würde vollauf genügen, sie auf<strong>zur</strong>eiben. Der junge König Durch-Wohlgestalt-<br />

Glänzen<strong>der</strong> hatte sich eilends zu seiner Hauptstadt hinüberru<strong>der</strong>n lassen; keiner <strong>der</strong> Gelbhaarigen<br />

sollte über Tacuba hinausgelangen.<br />

Nicht nur die Toten musste <strong>der</strong> See wie<strong>der</strong> hergeben. Perlenfischer hoben beim zweiten<br />

Dammdurchstich <strong>den</strong> Goldschatz Moctezumas. Der Überwin<strong>der</strong> selbst, <strong>der</strong> neue Herr <strong>der</strong> Welt,<br />

hatte die Taucher ausgewählt. Sie brachten <strong>den</strong> Reichtum Mexicos wie<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Tiefe ans Licht<br />

und <strong>zur</strong>ück in die königlichen Schatzkammern.<br />

Dann suchte <strong>der</strong> Überwin<strong>der</strong> unter dem Schmuck das kostbarste Geschmeide heraus: Eine<br />

inkrustierte Goldmaske, die <strong>den</strong> Mexica einst aus dem Besitz eines toltekischen Herrschers in<br />

grauer Vorzeit hinterlassen wor<strong>den</strong> war. Er stieg mit ihr <strong>den</strong> Schlangenberg empor und weihte die<br />

Goldmaske dem Kriegsgott als Wahrzeichen <strong>der</strong> wie<strong>der</strong>erlangten Freiheit Mexicos. Nie mehr, so<br />

schwor <strong>der</strong> König, sollte dies Heiligtum vom Altar des Wun<strong>der</strong>samen Huitzilopochtli schwin<strong>den</strong>.<br />

Wer es wagte, die Hand nach <strong>der</strong> Maske auszustrecken, werde mit unvorstellbaren Strafen und<br />

Unheil bringendem Fluch vom König verfolgt. Mexico beweinte seine toten Söhne. An christlichen<br />

Heiligenbil<strong>der</strong>n und Kruzifixen sättigten die Mexica ihre Rachgier. Auch eine Bronzeglocke, die<br />

Cortés von aztekischen Handwerkern für die Pyrami<strong>den</strong>kapelle hatte gießen lassen, wurde mit<br />

steinernen Hämmern zerschlagen und in einen Kanal geworfen. Während sich oben im alten<br />

Tecpan die wenigen <strong>zur</strong>ückgebliebenen Spanier verschanzt hatten, drang unten <strong>der</strong> Pöbel ein, um<br />

sich am toten Freund <strong>der</strong> Fremdlinge zu vergreifen. Die Wehrufe und Verfluchungen <strong>der</strong><br />

Sandalenbin<strong>der</strong>in schreckten die Wüten<strong>den</strong> nicht. Sie schleppten <strong>den</strong> toten König zum Fenster<br />

und stürzten die Leiche auf die Straße. Da lag Moctezuma nun mit zerschmetterten Knochen,<br />

wächsern gelb und ungelenk wie eine zu Bo<strong>den</strong> gefallene Glie<strong>der</strong>puppe. Wenig respektvoll<br />

sammelten sich Neugierige um ihn und lästerten über <strong>den</strong> ermordeten Herrn <strong>der</strong> Welt. Und damit<br />

nicht genug: Unter johlendem Beifall wur<strong>den</strong> <strong>der</strong> Leiche die Hände gefesselt und <strong>der</strong> ehemals<br />

geheiligte Körper vom Mob durch die Gassen geschleift.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 307<br />

Der Drei-Städte-Bund und seine Symbole: Tenochtitlán, Tezcoco und Tlacobán beherrschten alle mexicanischen<br />

Völker. Innerhalb des Dreibundes hatte Tenochtitlán die dominierende Stellung inne. Die unterworfenen<br />

Provinzen wur<strong>den</strong> zentral von Tenochtitlán aus regiert, die Tributzahlungen unter Tenochtitlán, Texcoco und<br />

Tlacopán nach dem Schlüssel 5:3:1 aufgeteilt. Nach verschie<strong>den</strong>en entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Siegen des Cortés zerfiel<br />

das Bündnis (Abbildung aus dem Kodex Osuna)<br />

Ein Trupp <strong>der</strong> königlichen Leibwache machte <strong>der</strong> Entweihung ein Ende. Die Krieger waren<br />

von Purpurkranich gerufen wor<strong>den</strong>, dem Lustgenossen und Schönling des Von-Göttern-<br />

Beschirmten, <strong>den</strong> <strong>der</strong> Schlagende Falke <strong>der</strong> Nase beraubt hatte. Xoctemecl-Purpurkranich ließ<br />

Moctezumas Leiche <strong>zur</strong> Südspitze Tenochtitláns ins Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse tragen. Von kahlen<br />

Mauern umgeben, warteten dort im ö<strong>den</strong> Hof üblicherweise die Leichen <strong>der</strong> Adligen fürstlichen<br />

Geblüts, bevor ein Boot sie zu einer Begräbnisstätte auf <strong>den</strong> Laguneninseln überführte. Lohn für<br />

seine gute Tat einzuheimsen, verschob Purpurkranich auf eine passen<strong>der</strong>e Gelegenheit. Er war<br />

klug genug zu wissen, dass <strong>der</strong> Überwin<strong>der</strong> als neuer König wohl Zeit haben mochte, vor <strong>den</strong><br />

Altären Mexicos zu opfern und mächtige Priester und Adlerkrieger zu empfangen – doch ihm, dem<br />

geringen Höfling, Gehör zu schenken, würde dem König die Zeit fehlen.<br />

Nachdem Moctezuma auf einem herbeigeschafften königlichen Tragsessel neben die bereits<br />

aufgebahrten Mumienbündel <strong>der</strong> Königin Acatlan, des Edlen Betrübten, des Weißen Igels und<br />

vieler Prinzen und Großen nie<strong>der</strong>gesetzt wor<strong>den</strong> war, verließen die Krieger und Xoctemecl das<br />

Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse. Keine Schildwache beschützte die schmuckbehängten Kriegsopfer. Wohl<br />

waren dicke Mäntel über Moctezuma gebreitet, damit nicht Aasvögel seine Glie<strong>der</strong> zerfetzten;<br />

sonst aber lag er unbeschirmt da vor Himmel und Erde. Wirksamer als eine Kriegerwache war <strong>der</strong><br />

Schutz <strong>der</strong> Geister; er hielt Pöbel und Diebe besser fern als jede Schildwache.<br />

Die hallen<strong>den</strong> Schritte <strong>der</strong> Adler und Jaguare hatte einige Vorstadtbewohner aus ihren<br />

Wohnungen gelockt. Vor <strong>der</strong> Tür eines <strong>der</strong> Häuser in <strong>der</strong> Nähe gewahrte Xoctemecl eine ältere<br />

beleibte Frau; ihr breites, plattnasiges Gesicht war sanft und überaus gutherzig; man hätte sie für<br />

die Gemahlin o<strong>der</strong> Witwe eines Kaufherrn halten können, so peinlich sauber war ihre Tracht. Es<br />

war Xohxiquezal, die Kupfergrüne, eine <strong>der</strong> heimlichen Giftmischerinnen Tenochtitláns.<br />

Purpurkranich kannte sie; er blieb stehen, um sie zu begrüßen. Vor einem halben Jahr hatte<br />

sie eines Abends Xoctemecl auf einer Kanalbrücke angeredet und ihn flüsternd in ihr Haus<br />

gela<strong>den</strong>: Sie wolle ihm seine Schönheit <strong>zur</strong>ückgeben! Auf seine Frage, was sie damit sagen wolle,<br />

hatte die Kupfergrüne geantwortet, sie wolle ihm die hässliche Narbe im Gesicht entfernen und auf<br />

die Wunde die Nase eines soeben getöteten Opfersklaven legen und mit einem langen


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 308<br />

Frauenhaar annähen, sodass sie anwachse, als wäre sie sein eigenes Fleisch. Schon einmal sei<br />

ihr eine solche Heilung gelungen.<br />

Doch Xoctemecl hatte damals gezögert. Danach hatte er die Frau nicht wie<strong>der</strong> gesehen.<br />

Die Kupfergrüne lächelte ihr gutherziges Lächeln, als er sie nun unter dem strohgedeckten<br />

Vordach ihrer Hauses ansprach.<br />

»Kommst du, dir deine Schönheit wie<strong>der</strong>geben zu lassen?«, fragte sie.<br />

»Nein«, sagte er, »heute noch nicht, aber ein an<strong>der</strong>mal - sobald die Kriegstrommeln<br />

verstummt sind. Heute habe ich ein an<strong>der</strong>es Anliegen.«<br />

Sie sah ihn gütig lächelnd an. »Nur frei heraus! Sag es mir. Ich helfe gerne, wenn es in<br />

meiner Macht steht!«, ermunterte sie ihn.<br />

»Nein. Auf <strong>der</strong> Gasse kann ich nicht darüber re<strong>den</strong>«, sagte er und wollte in ihr Haus<br />

eintreten, doch die hielt ihn <strong>zur</strong>ück.<br />

»Auch im Haus hat die Luft Ohren. Ich habe eine Verwandte zu Besuch. Warte!« Vorsichtig<br />

schaute die Kupfergrüne sich um. Die königliche Leibwache war abgezogen, die Gasse leer.<br />

»Komm!«, sagte sie und zog ihn am Arm ins Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse. Als sie <strong>den</strong> Hof <strong>der</strong><br />

verwunschenen Stätte betreten hatten, erklärte sie lächelnd:<br />

»Kein Lauscher wagt sich hierher! Die Toten aber lauschen nicht!«<br />

Darstellung eines dem Gott Huitzilopochtli geweihten Tempels mit eine »Tzompantli« genannten Schädelstätte<br />

(Codex Tovar, 1587)<br />

Der Höfling ließ <strong>den</strong> Blick über die Reihen <strong>der</strong> Aufgebahrten wan<strong>der</strong>n, die er vor kurzem erst<br />

verlassen, aber kaum beachtet hatte. Rings um sie her lagen teils noch heile, teils zerfetzte<br />

Mumienbündel, von Geiern zerrupft, von Fliegenwolken umschwirrt und von allerlei lichtscheuem<br />

Getier umraschelt. Ein Tribunal war dieser Ort: Hier wurde Totengericht gehalten. Denn wem durch<br />

<strong>den</strong> Einspruch <strong>der</strong> Priester o<strong>der</strong> des Volkes <strong>der</strong> erbetene Nachen für die Überfahrt ins Land des<br />

Vergessens verweigert wurde, <strong>der</strong> musste bei <strong>den</strong> Aasgeiern und Fle<strong>der</strong>mäusen ausharren und<br />

darauf warten, dass ihm seine Verfehlungen vergeben wür<strong>den</strong>.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 309<br />

Purpurkranichs Blick blieb am Dach des nahen, pittoresk über die Häuserterrassen ragen<strong>den</strong><br />

alten Palasts haften. Dort auf <strong>der</strong> Plattform und <strong>der</strong> steilen Doppeltreppe kämpfte noch immer ein<br />

Häuflein verlorener Christen einen aussichtslosen Verzweiflungskampf – <strong>der</strong> klägliche Überrest <strong>der</strong><br />

abgeschnittenen Begleiter des Velásquez de León. Für ihre Feuerwaffen hatten sie we<strong>der</strong> Pulver<br />

noch Blei, für ihre Armbrüste keine Bolzen; nur mit <strong>den</strong> schartigen Degen erwehrten sie sich <strong>der</strong><br />

unablässigen Attacken <strong>der</strong> Mexica. Purpurkranich wusste: Dort oben leitete jener Mann die<br />

Angriffe, dem er die Verstümmelung im Gesicht zu verdanken hatte, <strong>der</strong> Schlagende Falke.<br />

»Verkauf mir ein Gift, das in die Ferne wirkt!«, sagte er eindringlich <strong>zur</strong> Kupfergrünen.<br />

»So weit wie <strong>der</strong> Adler dort von uns entfernt ist, wirkt kein Gift!«, versetzte sie mit<br />

freundlichem Lächeln. »Nur die furchtbare Schlange, die Der gelbe Fürst genannt wird, kann ihr<br />

Todesgift auf so große Entfernungen hinausschleu<strong>der</strong>n.«<br />

»Dann verschaff mir die Schlange, ich muss sie haben! Eine Speise, die ich reiche, einen<br />

Trank, <strong>den</strong> ich einschenke, wird mein Bedränger nie genießen!«<br />

»Er bedrängt dich nicht mehr. Maisblume musste <strong>den</strong> Überwin<strong>der</strong> heiraten – ihren Onkel. Er<br />

hat sie verloren, und sein Leben gilt ihm nichts mehr. Er wird dich noch mehr vergessen. Gedulde<br />

dich, bis ihm das Leben wertvoller sein wird als jetzt!«<br />

»Der Zornige Herr starb erdrosselt von <strong>den</strong> Gelbhaarigen«, murmelte Xoctemecl. »Und <strong>der</strong><br />

Überwin<strong>der</strong> ist ein kranker Mann. Ja, <strong>der</strong> Schlagende Falke wird Mexicos König! Dann wird meine<br />

Rache nicht mehr lange schlummern müssen! Dann wird das Leben Cuauhtémocs nicht wertlos<br />

sein! Und dann, ja, dann bedarf ich des Giftes, zu dem du mir verhelfen musst!«<br />

Da wandte die Kupfergrüne sich blitzschnell um. Ein kaum hörbares Geräusch – das leise<br />

Scharren von Le<strong>der</strong>sandalen – hatte ihr waches Ohr vernommen. Ein Mädchen war durchs Portal<br />

ins Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse getreten und stand schon seit mehreren Augenblicken unbemerkt im<br />

Hof. Sie mochte vierzehn Jahre alt sein, war schlicht gekleidet, trug nur ein Hemd mit zwei<br />

handbreiten violetten Streifen in <strong>der</strong> Hüftgegend und am unteren silberbefransten Saum. Violett<br />

leuchteten auch unterhalb <strong>der</strong> Silberfransen an <strong>den</strong> schlanken Wa<strong>den</strong> die bis zu <strong>den</strong> Fußknöcheln<br />

reichen<strong>den</strong> Beinklei<strong>der</strong>. <strong>Das</strong> mit Indigo gefärbte Haar rahmte schmal die länglichen<br />

gelbgepu<strong>der</strong>ten Wangen ein. Ihr dunkler Blick und <strong>der</strong> streng gemeißelte Mund verriet sie als<br />

junge Zapotekin.<br />

Der gütige Ausdruck auf dem Gesicht <strong>der</strong> Giftmischerin schwand und wich drohen<strong>der</strong><br />

Strenge.<br />

»Bist du gekommen, um zu horchen?«, fuhr sie das Mädchen an. »Begib dich ins Haus<br />

<strong>zur</strong>ück, Blutfeuerstein!«<br />

Ohne eine Antwort zu geben, wandte das Mädchen sich <strong>zur</strong>ück zum Portal und verließ<br />

gesenkten Hauptes das Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse.<br />

»Wer ist diese Jungfrau?«, fragte Purpurkranich.<br />

»Sie ist meine Nichte«, erwi<strong>der</strong>te die Kupfergrüne.<br />

Spöttisch blickte er die Giftmischerin an.<br />

»Du hast keine solche Nichte. Die ist eine Zapotekin, eine Sklavin...«<br />

»Nun, ich will es nicht leugnen. Sie geht mir <strong>zur</strong> Hand, ist meine Dienerin.«<br />

»Sie ist schön«, sagte Xoctemecl.<br />

»Es ist kein Verdienst, schön zu sein, wenn man jung ist«, antwortete die Kupfergrüne<br />

lakonisch.<br />

»Verkaufe es mir!«, sagte er heiser.<br />

»<strong>Das</strong> Mädchen? Wozu brauchst du eine Sklavin?«<br />

»Nicht das Mädchen. Verkaufe mir das Gift!«<br />

»Du bist nicht reich genug, um es zu bezahlen!«<br />

Purpurkranich schluckte vor Erregung und sagte: »Mein Freund, <strong>der</strong> Sohn Moctezumas, ist<br />

reich genug.«<br />

»Dein Freund wurde als Geisel fortgeschleppt und ist vielleicht schon tot!«<br />

»In Tacuba wird er befreit!«<br />

Doch sie schüttelte <strong>den</strong> Kopf. »Ich erzähle dir jetzt, was ich von einem Otomi erfahren habe.<br />

Die am Ufer des Schilfsees wohnen<strong>den</strong> Otomis haben vor, <strong>den</strong> fliehen<strong>den</strong> Christen und Tlatepoca<br />

heimlich Beistand zu leisten.«<br />

»<strong>Das</strong> glaube ich nicht. Jetzt, wo die Gelbhaarigen geschlagen sind, wer<strong>den</strong> die Otomis es


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 310<br />

nicht wagen...«<br />

»In die Falle von Tacuba wer<strong>den</strong> die Gelbhaarigen je<strong>den</strong>falls nicht gehen!«, sagte sie. Doch<br />

es gelang ihr nicht, Xoctemecl zu überzeugen.<br />

Ungläubig war er davongegangen. Als er durch die Gassen heimwärts wan<strong>der</strong>te, erfasste ihn<br />

Unruhe. Er sagte sich, dass diese Frau, die überall ihre Informanten hatte, Gefahren wohl<br />

erkennen und zu beurteilen vermochte, von <strong>den</strong>en <strong>den</strong> neuen Machthabern am Königshof noch<br />

nichts zu Ohren gekommen war. Plötzlich schien es ihm nicht mehr unglaubwürdig, dass die<br />

Otomis Verrat begehen könnten. Weil sie sich gern bunt herausputzten, wur<strong>den</strong> sie verhöhnt, als<br />

arbeitsscheu verachtet und kaum höher geschätzt als Affen. Als Menschen sah man sie eigentlich<br />

nur an, wenn es galt, die Götter mit ihrem Blut zu tränken. Otomi war zu einem Schimpfwort<br />

gewor<strong>den</strong>.<br />

Xoctemecl musste Gewissheit haben, wie es um Tacuba bestellt war. An <strong>der</strong> Landungsstelle<br />

eines Kanals mietete er bei einem Kahnführer <strong>den</strong> leichtesten Einbaum und ru<strong>der</strong>te hinaus zum<br />

nordwestlichen Teil <strong>der</strong> Lagune.<br />

�<br />

Dunkelviolett und drohend wuchs die Wolkenwand hinter <strong>den</strong> Tempeln Tenochtitláns empor.<br />

Rasch verfärbte sich die Lagune milchiggrün. Fischerboote wur<strong>den</strong> hastig ans nächste Ufer<br />

geru<strong>der</strong>t, und von weitem winkten die Insassen Xoctemecl zu, dass er sich nicht auf <strong>den</strong> See<br />

hinauswagen und umkehren solle. Auf dem sonst eher friedlichen See wuchsen immer höhere<br />

Wogen, wur<strong>den</strong> aber bald wie<strong>der</strong> von nie<strong>der</strong>prasseln<strong>den</strong> Regenschauern gedämpft. Doch <strong>der</strong><br />

stürmische Wind jagte weiter über das Gewässer.<br />

Purpurkranich war kein Feigling und ließ sich nicht beirren. Bald war er allein auf <strong>der</strong><br />

gepeitschten Wasserfläche und ru<strong>der</strong>te so kräftig, wie er es vermochte, in seinem winzigen Boot<br />

durch hellgrüne Wasserberge und schwarzgrüne Wellentäler. Als er sich <strong>der</strong> Stadt Tacuba<br />

näherte, gewahrte er ein zweites Boot, das ebenfalls im Unwetter ausharrte. Bald kam Xoctemecl<br />

dem an<strong>der</strong>en Boot nahe genug, um die vier Insassen zu erkennen. Es waren <strong>der</strong> Graue Honigbär<br />

(auch Zauberer Sacusín genannt), Weißer Mondstein, <strong>der</strong> Träumer und <strong>der</strong> Gefleckte Berglöwe.<br />

Der Zauberer und <strong>der</strong> weiße Sklave hatten ihr Versteck auf <strong>der</strong> Toteninsel nur selten<br />

verlassen. Über die Geschehnisse im Huei-Tecpan waren sie durch <strong>den</strong> Annalenschreiber Weißer<br />

Mondstein unterrichtet wor<strong>den</strong>, <strong>der</strong> sie oft heimlich aufgesucht hatte und jetzt mit seinem Freund,<br />

dem Dichter, nach <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken zu ihnen hinausgeru<strong>der</strong>t war. Aber sein Boot, vom<br />

Sturm an ein Riff geschlagen, war leck gewor<strong>den</strong>; darum hatten er und <strong>der</strong> Träumer im Einbaum<br />

des Zauberers Platz genommen, als dieser – von <strong>der</strong> gleichen Sorge getrieben wie Xoctemecl –<br />

seinen Freun<strong>den</strong> <strong>den</strong> Vorschlag gemacht hatte, die Vorgänge um Tacuba zu erkun<strong>den</strong>.<br />

Purpurkranich war zu spät gekommen, die Entscheidung war bereits gefallen. Der Zauberer<br />

schlug vor, an einer <strong>der</strong> nächstgelegenen Schilfinseln zu lan<strong>den</strong> und abzuwarten, bis das Unwetter<br />

vorüber war. So geschah es. Xoctemecl erfuhr, was sich an Land abgespielt hatte. Der Bericht<br />

Weißer Mondsteins war zwar lückenhaft, weil <strong>den</strong> vier Beobachtern im Boot wegen <strong>der</strong> weißen<br />

Regenschleier etliches Verborgen geblieben war, doch eins schien gewiss: Der größte Teil des<br />

Christenheeres war <strong>der</strong> Gefahr entronnen. Während die Vorhut – drei Reiter und fünfundvierzig<br />

Mann Fußvolk – durch das südliche Tor in die Stadt einmarschierte, sprangen aus einem Maisfeld<br />

Otomis hervor und warnten <strong>den</strong> Hauptteil des Heeres mit dem Grünen Stein und Malintzín. Gleich<br />

darauf ertönten Hornsignale, und <strong>der</strong> Rest des Heeres zog nicht mehr in die Stadt ein, son<strong>der</strong>n<br />

bog nach Nordwesten in die ansteigen<strong>den</strong> Hügelreihen ab. Die Vorhut schien in <strong>der</strong> Stadt<br />

gefangen zu sein.<br />

Doch bald darauf wurde das südliche Stadttor von neuem geöffnet. Adler und Jaguare des<br />

Drei-Städte-Bundes stürmten hinaus, <strong>den</strong> abziehen<strong>den</strong> Christen nach. Im Hügelgelände kam es<br />

zum Scharmützel. Während die Christen kaum Tote zu beklagen hatten, starben von <strong>den</strong><br />

Jaguaren und Adlern wohl mehr als siebzig. <strong>Das</strong> feindliche Heer zog nach Westen ab und<br />

verschwand hinter sanft gewellten Bergen.<br />

Als Weißer Mondstein so weit berichtet hatte, unterbrach ihn Xoctemecl und fragte: »Ist <strong>der</strong><br />

Von-Göttern-Beschirmte noch am Leben?«<br />

Ȇber <strong>den</strong> Sohn Moctezumas wissen wir nichts. Vieles konnten wir nur undeutlich erkennen,


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 311<br />

es war zu weit weg. Und als <strong>der</strong> Regen kam, sahen wir noch weniger.«<br />

Purpurkranichs Hoffnung, mit Hilfe des Prinzen das geheimnisvolle und mächtige Gift von<br />

<strong>der</strong> Kupfergrünen zu erwerben, schien zunichte gemacht. Doch er wollte es nicht wahrhaben und<br />

gab die Hoffnung noch nicht auf. Er wollte nach Tacuba ru<strong>der</strong>n, um über das Los des Von-Göttern-<br />

Beschirmten Erkundigungen einzuziehen. Die an<strong>der</strong>en wi<strong>der</strong>setzten sich. Sobald das Wetter es<br />

zuließe – sagte <strong>der</strong> Graue Honigbär -, müsse das eine Boot nach Tenochtitlán geru<strong>der</strong>t wer<strong>den</strong>,<br />

um dem neuen Herrn <strong>der</strong> Welt die Unheilsbotschaft zu überbringen; das an<strong>der</strong>e Boot aber müsse<br />

Weißer Mondstein und <strong>den</strong> Träumer am nördlichen Seeufer absetzen, wo sie sich als Otomis<br />

verkleidet <strong>der</strong> Vorhut <strong>der</strong> Gelbhaarigen als Führer anbieten und sie in die Irre führen sollten. Es<br />

galt zu verhin<strong>der</strong>n, dass sie sich wie<strong>der</strong> mit dem Grünen Stein vereinten.<br />

Erstaunt fragte Xoctemecl, ob die Vorhut <strong>den</strong>n nicht in Tacuba gefangen sei.<br />

Der Träumer lachte bitter auf. »O edler Tecpanbewohner, du unwissen<strong>der</strong>«, sagte er, »die<br />

Mexica hatten noch keine Zeit, die kampfgeschwächten Christen völlig zu schlagen. Sie mussten<br />

mit Netzen die gol<strong>den</strong>en Schätze, Perlen und eine türkisene Schädelmaske aus dem See bergen,<br />

während die Gelbhaarigen ihre Wun<strong>den</strong> pflegten, davonzogen und die schon gefangene Vorhut<br />

durch das nördliche Stadttor entwich.«<br />

�<br />

Eine grelle Morgensonne stieg über <strong>den</strong> Gletscherhorizont des Hochtals. Schon Stun<strong>den</strong><br />

zuvor, beim ersten Morgendämmer, war die Bevölkerung <strong>der</strong> Wasserstadt zum Haus <strong>der</strong><br />

Fle<strong>der</strong>mäuse geströmt. Auch <strong>der</strong> hohe und nie<strong>der</strong>e Klerus, <strong>der</strong> Adel und <strong>der</strong> Königshof hatten sich<br />

eingefun<strong>den</strong>. Denn heute saß Tenochtitlán über seine Toten zu Gericht.<br />

Vor <strong>den</strong> Mumienbündeln des aufgebahrten Moctezuma, <strong>der</strong> Königin Acatlan, Cacamas und<br />

des Weißen Igels waren edle Teppiche hingebreitet und drei mit Jaguarfellen bedeckte Sessel für<br />

<strong>den</strong> Überwin<strong>der</strong>, Königin Maisblume und Königin Goldkolibri, die Witwe des Edlen Betrübten,<br />

hingestellt wor<strong>den</strong>. Klageweiber knieten neben <strong>den</strong> Leichen, junge und steinalte, bückten sich<br />

ständig wiegend <strong>zur</strong> Erde und schlugen sich laut jammernd auf die entblößten Brüste. Vierzig<br />

Totenrichter, je<strong>der</strong> ein Fürst Anahuacs, hockten ringsum auf niedrigen Schemeln. Die Priester und<br />

die an<strong>der</strong>en Großen des Reiches – auch <strong>der</strong> königliche Kanzler Weiblicher Zwilling und<br />

Huitzilopochtlis Knecht – stan<strong>den</strong> hinter ihnen. <strong>Das</strong> Volk drängte sich scheu am steinernen Portal<br />

des Leichenhofes und füllte alle Dachterrassen <strong>der</strong> benachbarten Häuser.<br />

Der neue Herr <strong>der</strong> Welt sah krank und vergrämt aus. Er hatte die Nacht kaum geschlafen.<br />

Nachdem er bei einbrechen<strong>der</strong> Dunkelheit seines Bru<strong>der</strong>s Leiche im Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse<br />

besichtigt und eine würdige Einschnürung in einem Mumienbündel befohlen hatte, war er zu Bett<br />

gegangen, ermattet von <strong>den</strong> vielen Opferhandlungen. Doch <strong>der</strong> Vorsteher des Hauses <strong>der</strong><br />

Teppiche hatte ihn schon nach kurzer Zeit wie<strong>der</strong> geweckt. Die Botschaften, die er ihm<br />

überbrachte, waren Grund genug, alle Adlerfürsten – seine Militärkommandanten – zu einer<br />

nächtlichen, bis in die Morgenstun<strong>den</strong> währen<strong>den</strong> Kriegsratsitzung zu versammeln. Der Graue<br />

Honigbär und Xoctemecl-Purpurkranich waren nicht die ersten, die die böse Kunde brachten; die<br />

Schnellläufer des Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong> hatten auf dem Landweg Tenochtitlán schon<br />

früher erreicht. Sie konnten über <strong>den</strong> misslungenen Überfall in Tacuba genauere Angaben machen<br />

als <strong>der</strong> Graue Honigbär. Der junge König von Tacuba sei verwundet, <strong>der</strong> Gefangennahme jedoch<br />

von Prinzessin Perlendiadem bewahrt wor<strong>den</strong>. Perlendiadem kämpfe als Adlermädchen und sei<br />

durch diese kühne Tat nunmehr von ihrer Schmach befreit.<br />

Fast gleichzeitig hatte <strong>der</strong> Überwin<strong>der</strong> bedrohliche Nachrichten aus Chalco erhalten. Prinz<br />

Goldmaske hatte die bei<strong>den</strong> Brigantinen in Brand gesteckt und war mit etwa tausend seiner<br />

tlaxcaltekischen Anhänger wenige Tage vor <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken aus Tenochtitlán entwichen.<br />

Er war auf seinem Heimweg nach Tlaxcala über Iztapalapá unweit <strong>der</strong> letzten Ausläufer <strong>der</strong><br />

Weißen Frau in die Stadt Chalco eingerückt. Die Bewohner haben ihn überaus freundlich<br />

aufgenommen – in dem Glauben, er sei nach wie vor ein Freund des Cortés.<br />

Der Überwin<strong>der</strong> erteilte dem Schlagen<strong>den</strong> Falken <strong>den</strong> Auftrag, mit einer größeren Abteilung<br />

in Eilmärschen vor die Mauern von Chalco zu rücken, durch Kundschafter Verhandlungen mit<br />

Goldmaske zu knüpfen und ein Bündnis anzubahnen. Nur im Fall schroffer Ablehnung sollte von<br />

<strong>den</strong> Waffen Gebrauch gemacht wer<strong>den</strong>.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 312<br />

Schließlich wurde noch ein weiterer Beschluss gefasst. Die Christen wür<strong>den</strong> versuchen, ihre<br />

Meeresfestung Veracruz zu erreichen; dazu müssten sie aus dem Gebiet um Tacuba und<br />

Azcapotzalco nördlich um das mexicanische Seengebiet und dann nach Südosten in Richtung<br />

Tlaxcala marschieren. Deshalb war es strategisch vorteilhafter, die mexicanischen Heerscharen<br />

<strong>den</strong> Flüchten<strong>den</strong> nicht nachzusen<strong>den</strong>, son<strong>der</strong>n entgegenzuschicken. Die Truppen – mehr als<br />

hun<strong>der</strong>ttausend Mann – müssten sofort in Booten ans Ostufer <strong>der</strong> Lagune gebracht wer<strong>den</strong>, damit<br />

sie die Gelbhaarigen nördlich von Tezcoco vor <strong>der</strong> Grenze zu Tlaxcala vernichten konnten.<br />

Nach altem Herkommen musste <strong>der</strong> neue König an<br />

<strong>der</strong> Spitze seines Heeres einen Kriegszug unternehmen,<br />

um an seinem Krönungsfest <strong>den</strong> Durst Huitzilopochtlis zu<br />

stillen. Doch vorher duldete die Gerichtssitzung über die<br />

Toten keinen Aufschub. Ohne <strong>den</strong> König und seine<br />

Adlerfürsten konnte sie nicht vonstatten gehen.<br />

Nun gab er <strong>den</strong> Dienern und Dienerinnen das<br />

Zeichen, die Mumienbündel Moctezumas und seiner<br />

Gemahlin zu öffnen, <strong>der</strong> Königin Acatlan. Der dumpfe Klang<br />

<strong>der</strong> Trommeln wurde übertönt von <strong>den</strong> entsetzten Schreien<br />

<strong>der</strong> vierhun<strong>der</strong>t Frauen Moctezumas, seiner Krüppel und<br />

Narren beim Anblick <strong>der</strong> bei<strong>den</strong> grässlich entweihten<br />

Leichen: Der Königin Acatlan hatte ein mexicanischer<br />

Obsidianpfeil <strong>den</strong> Nabel durchbohrt, und die linke<br />

Gesichtshälfte war vom Huf eines Pferdes zertreten; <strong>der</strong><br />

Körper des Zornigen Herrn – <strong>den</strong> tags zuvor das<br />

Straßengesindel durch die Gassen geschleift hatte – wies<br />

große Schürfwun<strong>den</strong> auf; deutlich waren die Würgemale an<br />

seinem Hals zu sehen und ließen über die Art seines Todes<br />

keinen Zweifel. Königin Maisblume hielt <strong>den</strong> Blick starr auf<br />

die entstellte Leiche ihres Vaters gerichtet und wagte nicht,<br />

<strong>den</strong> Schlagende Falke anzuschauen, auf <strong>den</strong> sie im<br />

Glauben, sein Steinwurf habe <strong>den</strong> Zornigen Herrn getötet,<br />

verzichtet hatte.<br />

Kostbare aztekische<br />

Gesichtsmaske aus Holz und und<br />

mit Türkisen besetzt in Form eines<br />

Jaguarkopfes, eine Gottheit<br />

darstellend (wahrscheinlich<br />

Huizilopochtli o<strong>der</strong> Tezcatlipoca).<br />

(National Museum, Copenhagen)<br />

Huitzilopochtlis Knecht trat feierlich an die bei<strong>den</strong><br />

Leichen heran. <strong>Das</strong> Gewinsel <strong>der</strong> Klageweiber verstummte.<br />

Der Hohepriester steckte dem Toten einen großen<br />

Smaragd zwischen die Zähne und redete ihn an:<br />

»O göttliche Edelsteinschnur, erwache!«<br />

Auch <strong>der</strong> Königin gab <strong>der</strong> Hohepriester einen<br />

schönen Smaragd in <strong>den</strong> Mund und sprach zu ihr:<br />

»O dunkle Schmuckfe<strong>der</strong>, erwache!«<br />

Dann fuhr er fort, wobei er beide anredete:<br />

»Erwacht, Gemahl und Gemahlin, Gott und Göttin! Schon hat die Morgenröte sich blutig<br />

gefärbt! Schon redet das flammengelbe Feuerhuhn, schon redet die flammengelbe Schwalbe!<br />

Schon flattern die gelben Schmetterlinge!«<br />

Nach Huitzilopochtlis Knecht trat Prinz Felsenschlange als ernannter, wenn auch noch nicht<br />

gekrönter König von Tezcoco und Vertreter des verwundeten Königs von Tacuba zu <strong>den</strong> Leichen.<br />

Er überbrachte Grabgeschenke: zehn Sklaven als Totenbegleiter, Kleinodien und goldgefleckten<br />

Kolibrife<strong>der</strong>schmuck, zwei Sterbeklei<strong>der</strong> und zwanzig schwarz und weiß gestreifte Mäntel für die<br />

Krüppel und Narren Moctezumas, <strong>den</strong>n diese mussten mitsamt <strong>den</strong> zehn Totenbegleitern zum Ort


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 313<br />

<strong>der</strong> Würmer wan<strong>der</strong>n, um <strong>den</strong> toten König dort zu erheitern – vorausgesetzt, das Leichengericht<br />

sprach ihn von aller Schuld frei und verweigerte ihm nicht <strong>den</strong> Nachen <strong>zur</strong> Überfahrt.<br />

Dann kleideten Diener und Dienerinnen die bei<strong>den</strong> Toten in die Sterbegewän<strong>der</strong>, behängten<br />

sie mit Juwelen und schmückten sie mit gol<strong>den</strong> flammen<strong>den</strong> Edelfe<strong>der</strong>n, damit die Bewohnern <strong>der</strong><br />

Unterwelt sie als König und Königin erkennen und begrüßen konnten.<br />

Danach traten die tributpflichtigen Fürsten <strong>der</strong> Provinzen und Städte heran und brachten<br />

gleichfalls Kleinodien und Mäntel als Grabgeschenke dar, mit <strong>den</strong>en die zehn Totenbegleiter, die<br />

Krüppel und Narren zu schmücken seien. Sogleich wur<strong>den</strong> die Leichen damit behängt. Als das<br />

geschehen war und alle wie<strong>der</strong> ihre Plätze eingenommen hatten, begann Felsenschlange, mit<br />

einem Kupferbeil die übrigen Grabgeschenke - Onyxvasen, Obsidianspiegel, Räucherlöffel,<br />

Schalen, Flöten aus Jadeït und Kristall – entzwei zu schlagen. Was auf Er<strong>den</strong> nicht mehr<br />

brauchbar war, das war brauchbar im Lande des Vergessens!<br />

Als Felsenschlange die Zerstörung vollendet hatte, legten untergeordnete Priester die<br />

Trümmer in Kästchen und übergaben sie <strong>den</strong> zehn Totenbegleitern, auf dass diese sie mitnahmen<br />

in die Unterwelt.<br />

Stille trat ein. Nur das verhaltene Schluchzen einiger Frauen war zu hören. Da hob <strong>der</strong><br />

Überwin<strong>der</strong> seine müde Hand und richtete einige Worte an die vierzig Totenrichter – so leise, dass<br />

selbst die Umstehen<strong>den</strong> sie kaum verstehen konnten. Ein Hofbeamter, <strong>der</strong> hinter dem Überwin<strong>der</strong><br />

stand, wie<strong>der</strong>holte <strong>den</strong> Satz des Königs mit weit schallen<strong>der</strong> Stimme:<br />

»Der abgeschie<strong>den</strong>e Zornige Herr, einst ein König <strong>der</strong> Stadt im Kolbenrohr, <strong>der</strong> Stadt im<br />

Wasser, bittet um ein Boot <strong>zur</strong> Überfahrt über <strong>den</strong> Schilfsee!«<br />

Stille zitterte diesen Worten nach. <strong>Das</strong> Schweigen lastete schwer auf <strong>den</strong> Versammelten.<br />

Nach einer Weile begann <strong>der</strong> Überwin<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> leise zu re<strong>den</strong>; sein Herold wie<strong>der</strong>holte die Worte<br />

mit lauter Stimme:<br />

»O ihr Götter, ihr ewigen, im Himmel seid ihr Richter. Und du, Herr <strong>der</strong> Nebeltoten, bist<br />

Richter in einem Land, in dem es nicht Straßen, nicht Gassen, nicht Fußpfade und nicht<br />

Wegweiser gibt. Doch auf Er<strong>den</strong> ist es das Amt <strong>der</strong> vierzig Totenrichter, <strong>den</strong> Zornigen Herrn,<br />

meinen erhabenen Bru<strong>der</strong>, freizusprechen o<strong>der</strong> zu verurteilen. Sagt jetzt, ihr Totenrichter, ob ihr<br />

meinem Bru<strong>der</strong> das Boot <strong>zur</strong> Überfahrt über <strong>den</strong> Schilfsee gewährt!«<br />

Wie aus einem Munde erscholl die Antwort <strong>der</strong> vierzig Totenrichter – ein leises, doch<br />

unerschütterliches: »Nein.«<br />

Schmerzlich verzog Königin Maisblume das Gesicht. Auch <strong>der</strong> Überwin<strong>der</strong>, <strong>der</strong> neue König<br />

<strong>der</strong> Könige, wagte nicht, für seinen gerichteten Bru<strong>der</strong> um Gnade zu bitten und fügte sich mit<br />

düsterer Miene in das Unabwendbare. Zusammengesunken saß er da. Maisblume aber thronte<br />

regungslos, mit erstarrter Miene und in königlicher Haltung neben ihm, <strong>den</strong> schönen Kopf hoch<br />

erhoben.<br />

Der Schlagende Falke ertrug ihren Schmerz nicht. Er trat vor und richtete an niemand und an<br />

alle die Frage:<br />

»Wie lange wird <strong>der</strong> Zornige Herr unbestattet im Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse weilen?« Die Leute<br />

errieten, dass er <strong>den</strong> Urteilsspruch missbilligte. Leises Murren erklang in <strong>der</strong> Menge.<br />

Huitzilopochtlis Knecht beantwortete Cuauhtémocs Frage:<br />

»Bis seine Schuld getilgt ist, wird er unbestattet bleiben!«<br />

»Und wann ist seine Schuld getilgt?«<br />

»Wenn die Götter das Blut seiner Wun<strong>den</strong> grün färben und in Smaragd verwandeln! Wer <strong>den</strong><br />

Toten früher zu bestatten versucht, stirbt auf <strong>der</strong> Opferblutschale des Schlangenberges!«<br />

Tezcatlipoca jedoch sagte: »Wir haben das Wort des Hohepriesters vernommen. Aber noch<br />

vernahmen wir nicht das Wort des Herrn <strong>der</strong> Welt!«<br />

Die Auffor<strong>der</strong>ung galt dem Überwin<strong>der</strong>; er sollte sich durch ein Gelübde bin<strong>den</strong>, die<br />

Bestattung seines Bru<strong>der</strong>s nicht zu erlauben, obgleich Moctezumas Tochter sein Weib war. Der<br />

Überwin<strong>der</strong> wusste, dass er die Seele <strong>der</strong> Königin verlieren würde, wenn er sich band; <strong>den</strong>noch<br />

wie<strong>der</strong>holte die Worte des Hohepriesters:<br />

»Wer <strong>den</strong> Zornigen Herrn bestattet, bevor sein Blut sich grün färbt und sich in Smaragd<br />

verwandelt, soll auf <strong>der</strong> Adlerschale des Schlangenberges en<strong>den</strong>!«<br />

Der Königin Acatlan jedoch, dem Edlen Betrübten und <strong>den</strong> an<strong>der</strong>en Toten wurde die<br />

Überfahrt nicht verweigert. Sie wur<strong>den</strong> mit heiligem Erdpech einbalsamiert, mit blauen Stirnbin<strong>den</strong>


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 314<br />

gekrönt und, nachdem sie so in <strong>den</strong> Rang von Gottheiten erhöht waren, von <strong>den</strong> Großen des<br />

Reiches auf Tragsesseln aus dem Leichenhof hinaus und durch die Stadt getragen, zu Füßen des<br />

Huitzilopochtlibildes auf dem Menschenwürgeplatz <strong>der</strong> Großen Pyramide nie<strong>der</strong>gestellt und mit<br />

Kopalharz beräuchert. Hier wur<strong>den</strong> die Totenbegleiter erdrosselt und von <strong>den</strong> Bestattern <strong>zur</strong><br />

Lagune getragen, wo <strong>der</strong> Totennachen ihrer harrte.<br />

Doch Moctezumas Krüppel und Narren entgingen dank seiner Verurteilung dem Tod.<br />

�<br />

Tlaxcaltekische Träger schleppten die Schwerverletzten auf Bahren, an<strong>der</strong>e waren an die Kruppen<br />

<strong>der</strong> Pferde geschnallt. <strong>Das</strong> Heer des Generalkapitäns war kläglich zusammengeschmolzen; erst<br />

kürzlich war es um dreizehnhun<strong>der</strong>t Mann und achtzig Pferde des Pánfilo de Narváez vergrößert<br />

wor<strong>den</strong>. Nun aber, wie vor Jahresfrist, als Cortés die Sanddünen verließ, um <strong>den</strong> Weg über<br />

Cempoala ins Eldorado zu suchen, verfügte er wie<strong>der</strong> nur über ein Häuflein von kaum fünfhun<strong>der</strong>t<br />

Landsknechten, dreiundzwanzig Pfer<strong>den</strong> und weniger als tausend indianischen Bundesgenossen.<br />

Keiner war unter ihnen, <strong>der</strong> nicht blutigen Zoll gezahlt hatte, sei es in <strong>der</strong> Schlacht gegen Narváez,<br />

sei es bei <strong>den</strong> Kämpfen am Hauptportal des alten Tecpans o<strong>der</strong> an <strong>den</strong> Dammdurchstichen.<br />

Diego de Ordás zog, wie üblich an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Vorhut, in die Stadt Tacuba ein, wo er mit<br />

Hauptmann Francisco de Lugo, dem Hund Becerrico, Fähnrich Antonio Villareal und dessen Frau<br />

Isabel de Ojeda sowie weiteren vierundvierzig Begleitern vom Gros des Heeres abgeschnitten<br />

wurde. Er schlug sich nach Nor<strong>den</strong> durch.<br />

Inzwischen hatte Cortés, von einigen aus einem Maisfeld aufgetauchten Otomis gewarnt,<br />

einen seitlichen, ins Hügelland führen<strong>den</strong> Weg eingeschlagen. Beim Scharmützel mit <strong>den</strong> Adlern<br />

und Jaguaren Tacubas vor <strong>den</strong> Toren <strong>der</strong> Stadt war Moctezumas ältester Sohn, <strong>der</strong> Von-Göttern-<br />

Beschirmte, tödlich verwundet wor<strong>den</strong>. Auch drei Kastilier waren gefallen, und Cortés selbst trug<br />

eine tiefe Kopfwunde davon; es sollte einige Zeit dauern, bis sie verheilt war. Cortés bemerkte<br />

bald, dass die Zahl seiner Verfolger lawinenartig anwuchs, je länger sie unterwegs waren. Um sein<br />

kleines Heer nicht noch mehr dezimieren zu lassen, beschloss er, nur noch bei Dunkelheit zu<br />

marschieren, <strong>den</strong>n die Indianer kämpften nachts aus abergläubischer Scheu nur ungern.<br />

Otomis führten <strong>den</strong> angeschlagenen spanischen Haufen zu einem otomischen Flecken, wo<br />

Cortés das Nachtlager aufschlagen ließ. Die freundlichen Otomis bewirteten ihre tlaxcaltekischen<br />

Landsleute und <strong>der</strong>en christliche Freunde mit Maiskuchen, gebratenen Truthennen und kühlen<br />

Getränken. Um die Azteken irrezuführen, untersagte Cortés, die Lagerfeuer zu löschen, als das<br />

Heer gegen Mitternacht weiterzog. Die Otomis klagten über die schweren Abgaben und<br />

Kriegslasten, doch Cortés tröstete sie: »Nur für kurze Zeit verlasse ich euch. Wenn ich in einigen<br />

Monaten <strong>zur</strong>ückkehre, werde ich euch von <strong>der</strong> Last Mexicos befreien. Ich werde Mexico zerstören!<br />

Dann werdet ihr selbst die Herrschen<strong>den</strong> sein und müsst keinem Mexica mehr gehorchen!« Cortés<br />

glaubte schon wie<strong>der</strong> fest an sein Kriegsglück, und seine Zuversicht wuchs umso mehr, je größer<br />

die Not wurde.<br />

Der Weg durch die Hügelkette zog sich weit nach Westen. Erst in <strong>der</strong> dritten Nacht<br />

gelangten die Christen wie<strong>der</strong> in die Ebene und übernachteten in <strong>der</strong> dicht beim nördlichen<br />

Xaltocán-See gelegenen kleinen Stadt Tepotzotlan, <strong>der</strong> Stadt <strong>der</strong> Buckligen. Die Häuser und <strong>der</strong><br />

Tecpan des dortigen Kaziken stan<strong>den</strong> verlassen da; die Einwohner waren geflüchtet und hatten<br />

sämtliche Nahrungsmittel mit fortgeschleppt o<strong>der</strong> vernichtet. Gastfreundliche Otomis gab es hier<br />

nicht. <strong>Das</strong> Heer hungerte.<br />

Cortés schickte Reiter aus, die in <strong>der</strong> Umgebung nach Essbarem Ausschau halten sollten.<br />

Sie fan<strong>den</strong> einen versteckten Maisvorrat, von dem ein Teil ausgegeben wurde; <strong>der</strong> Rest wurde<br />

mitgenommen.<br />

Von Tepotzotlan führten zwei Wege nach Tlaxcala. Der nordöstliche, am Zumpanco-See<br />

vorbei, war ein Umweg; dafür aber war er verhältnismäßig gefahrlos. Der nähere, östliche Weg<br />

verlor sich in Sumpfland. Cortés beriet mit seinen Feldobristen und konnte sich lange nicht<br />

entschei<strong>den</strong>. Wenn er <strong>den</strong> östlichen Weg wählte, hatte er die Möglichkeit, sich bald wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong><br />

abgesprengten Vorhut zu vereinen. Die Möglichkeit indes war keine Garantie, und wenn ihm bisher<br />

auch manches Himmelswun<strong>der</strong> geholfen hatte, durfte er nicht stets damit rechnen. Er hatte ja nicht<br />

einmal Gewissheit, ob die Vorhut dem Überfall in Tacuba entkommen war. Fest stand allerdings,


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 315<br />

dass die Sümpfe am südlichen Xaltocán-Ufer ohne geeignete Führer unpassierbar waren.<br />

Der Hunger ließ einige Männer mutlos wer<strong>den</strong>; sie hatten schon brummend und maulend<br />

nach essbaren Wurzeln gegraben und am Gras gekaut. Doch es gab auch an<strong>der</strong>e, die<br />

aufbegehrten. Pedro Baracoa, Paredes und Casillas <strong>der</strong> Dicke schlachteten heimlich eines <strong>der</strong><br />

dreiundzwanzig Pferde und verzehrten einen Rossschenkel roh – aus Furcht, sie könnten beim<br />

Schmoren und Zubereiten des Fleisches ertappt wer<strong>den</strong>. Natürlich blieb <strong>der</strong> Frevel nicht<br />

verborgen. Der Eigentümer des Pferdes, Martín de Gamba, und Hauptmann Olíd riefen nach dem<br />

Henker, doch Cortés zuckte nur die Schultern und gab <strong>den</strong> Befehl, noch ein zweites lahmendes<br />

Pferd abzustechen und das Fleisch bei<strong>der</strong> Tiere in kleinen Rationen an die Mannschaft zu<br />

verteilen. Er selbst hatte ebenfalls Hunger und nahm an dem Betrübten Festmahl teil.<br />

Da wurde ihm ein Otomi gemeldet, <strong>der</strong> das Heer <strong>zur</strong> Otomi-Stadt Otumba unweit <strong>der</strong> Grenze<br />

Tlaxcalas führen könne. Dort herrsche die Blaue Fe<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> von Felsenschlange und<br />

Cacama, des Edlen Betrübten. Die Blaue Fe<strong>der</strong> hatte sich schon damals in Tlaxcala als Freund<br />

erwiesen; er würde Cortés auch jetzt wie<strong>der</strong> beistehen! Niemand schöpfte Verdacht; auch Marina<br />

erkannte <strong>den</strong> Annalenschreiber Weißer Mondstein nicht, obgleich sie ihn öfters in <strong>der</strong> Umgebung<br />

Moctezumas gesehen hatte. Weißer Mondstein hatte sich allerdings verän<strong>der</strong>t und das Haupthaar<br />

abrasiert, bis auf <strong>den</strong> im Nacken herabhängen<strong>den</strong> Zopf; die Zähne waren bunt gefärbt und das<br />

Gesicht durch eine rot und grüne Gitterbemalung entstellt.<br />

�<br />

Inzwischen war Ordás mit <strong>der</strong> Vorhut weit nach Osten vorangekommen. <strong>Das</strong> launische Glück<br />

hatten die achtundvierzig Gefährten in <strong>der</strong> Falle von Tacuba keinen Scha<strong>den</strong> nehmen lassen. Und<br />

es grenzte an ein Wun<strong>der</strong>, dass sie – fast ohne Mundvorrat und ohne einheimischen Führer – nicht<br />

in <strong>den</strong> Sümpfen umgekommen waren, nachdem sie die Hauptstraße am Nordufer <strong>der</strong> Lagune<br />

verlassen hatten. Ein Führer (und zwar <strong>der</strong> Träumer, auch als Otomi verkleidet) stellte sich erst <strong>zur</strong><br />

Verfügung, als sie sich in einem Ze<strong>der</strong>nwald in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Sonnen- und Mond-Pyramide von<br />

Teotihuacán verirrt hatten. Bei anbrechen<strong>der</strong> Dunkelheit waren sie im Walddickicht erschöpft ins<br />

Gras gesunken, von Hunger, Durst und Hoffnungslosigkeit befallen. Es war höchst ungewiss, ob<br />

sie Cortés jemals wie<strong>der</strong>sahen.<br />

Als eine <strong>der</strong> Tapfersten erwies sich Isabel de Ojeda. Sie hatte in <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken<br />

wie ein Mann gekämpft und sich an <strong>den</strong> Dammdurchstichen nicht weniger hervorgetan als María<br />

de Estrada, die Amazone. Und sie war, in <strong>der</strong> Rüstung und auf dem Pferd eines gefallenen<br />

Kamera<strong>den</strong> reitend, in Tacuba eingezogen, weil ihr Mann, Antonio de Villareal, Fähnrich unter<br />

Diego de Ordás war. So kam es, dass auch sie das Schicksal <strong>der</strong> Abgesprengten teilen musste.<br />

Sie sträubte sich vorzustellen, wohin dieses Los zu führen drohte. Ihr eitler und hochfahren<strong>der</strong><br />

Gatte ließ <strong>den</strong> Kopf sinken, sie aber trug ihn hoch und setzte seiner dumpfen Verzweiflung eine<br />

trotzige Zuversicht entgegen.<br />

Da trat Ordás mit dem Träumer herbei und sagte: »Seht, dieser Otomi will uns aus dem<br />

Dickicht führen!«<br />

Nach nur halbstündigem Marsch knieten und drängten sich die Soldaten um einen kleinen<br />

Tümpel, als wäre es ein Wasserheiligtum; einige leckten wie Hunde tief hinabgebeugt das Wasser<br />

von <strong>der</strong> Oberfläche, an<strong>der</strong>e schöpften mit <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong>, und wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e tauchten die eisernen<br />

Sturmhauben hinein und soffen wie Pferde. Die Gier ließ sie für eine Weile verstummen. Nachdem<br />

sie ihren brennen<strong>den</strong> Durst gestillt hatten und die Gefahr gebannt war, verschmachten zu müssen,<br />

schlug ihre Mutlosigkeit in Heiterkeit um. Mansilla <strong>der</strong> Durstige füllte zum dritten Mal seine<br />

Sturmhaube, schwang sie wie einen Pokal und for<strong>der</strong>te alle auf, es ihm gleichzutun und mit ihm<br />

auf das Wohl des Ritters Ordás anzustoßen, dessen Ziel, <strong>den</strong> Quell des Lebens zu fin<strong>den</strong>, nun<br />

endlich erreicht sei – wie sie alle ja bezeugen könnten.<br />

Sie übernachteten bei <strong>der</strong> Quelle. Da schlichen sie heran, die Adler und Jaguare. Lautlos<br />

wur<strong>den</strong> die Schildwachen erstochen. Die Mexica hatten sie eingeschlossen und stürzten sich<br />

plötzlich mit Geheul auf die Schlafen<strong>den</strong>. Waffenklirren und Hilferufe! Becerrico bellte auf - da stieß<br />

ihm ein indianischer Krieger eine Lanze in die Brust. Auch Ordás sprang hoch, wurde im selben<br />

Moment aber von einer Streitaxt am Kopf getroffen. Blutüberströmt sank er neben Becerrico auf<br />

<strong>den</strong> bemoosten Waldbo<strong>den</strong>.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 316<br />

Seltsam frei und leicht war ihm. Nun hatten alle Mühen ein Ende. Nun ließ er alle freiwillig<br />

erwählten Ziele und Pflichten hinter sich. Mochten an<strong>der</strong>e sich abplagen, das Wasser des Lebens<br />

zu fin<strong>den</strong> – seine Sorge war es nicht mehr. Doch ehe ihm die Sinne schwan<strong>den</strong>, verkehrte seine<br />

Heiterkeit sich noch einmal in qualvolle Angst. Er hörte Stimmen und Indianergeheul und glaubte,<br />

<strong>den</strong> Schreckensschrei seiner vergötterten Isabel de Ojeda zu vernehmen. Noch einmal wollte<br />

Ordás sich erheben und ihr und <strong>den</strong> Kamera<strong>den</strong> zu Hilfe eilen, doch er vermochte es nicht mehr.<br />

Und während er verzweifelt mit seiner Schwäche rang, senkte sich undurchdringliche Nacht über<br />

ihn.<br />

Felsenschlange hatte mit einem Trupp Krieger die Schlafen<strong>den</strong> überrumpelt. Fast sämtliche<br />

Christen - auch Hauptmann Lugo und Isabel de Ojeda – waren <strong>den</strong> Indianern lebend in die Hände<br />

gefallen. Man würde sie nach Tezcoco bringen, um sie dort in Holzkäfigen zu mästen und dann auf<br />

<strong>den</strong> Opferblutschalen Tezcocos und Tenochtitláns <strong>den</strong> Göttern schenken. Der alte<br />

Büchsenspanner Santisteban war glücklich zu schätzen, hatte er doch beim Überfall <strong>den</strong> Tod<br />

gefun<strong>den</strong>.<br />

�<br />

Cortés hatte einen Boten <strong>zur</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> vorausgeschickt. Zwei Wochen nach <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong><br />

Schrecken, nachdem sie das Moor und ein ausgedehntes Waldgebiet unversehrt durchquert<br />

hatten, gelangten sie in das weite Flachland von Otumba. Ein Höhenzug begrenzte <strong>den</strong> Horizont.<br />

Da kehrte <strong>der</strong> Bote mit <strong>der</strong> Nachricht <strong>zur</strong>ück, dass die Bewohner Otumbas <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong><br />

<strong>den</strong> Gehorsam verweigerten und auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Mexica gegen die Christen kämpfen wür<strong>den</strong>;<br />

ein aztekisches Heer von hun<strong>der</strong>ttausend Kriegern lagere hinter <strong>den</strong> niedrigen Bergen bei einem<br />

Dorf namens Tonan Ippan (Angesicht-unserer-Mutter). Die Nachricht wi<strong>der</strong>sprach <strong>den</strong> Aussagen<br />

Weißer Mondsteins. Denn als <strong>der</strong> vermeintliche Otomi sich erboten hatte, Cortés durch <strong>den</strong> Sumpf<br />

zu führen, hatte er gesagt, er stamme aus Otumba und es sei gewiss, dass die Einwohner die<br />

Christen mit offenen Armen empfangen wür<strong>den</strong>. Wenn Cortés bei seinen Freun<strong>den</strong> in Otumba<br />

eintreffe, seien alle Gefahren gebannt; Tlaxcalas sei nah, das Aztekenheer aber schwerfällig,<br />

sodass es eine Woche brauchen werde, um am Lagunenufer entlang nach Otumba zu gelangen.<br />

Vor einer halben Stunde noch schritt <strong>der</strong> Otomi neben Cortés und plau<strong>der</strong>te mit ihm. Jetzt<br />

war er nirgends zu sehen und blieb unauffindbar. Einige sagten, er sei bei einem Gehölz<br />

<strong>zur</strong>ückgeblieben, weil er sich einen Dorn in <strong>den</strong> Fuß getreten hatte. Dort hatte er sich davon<br />

gemacht; seine Aufgabe war erfüllt: Er hatte das Heer <strong>der</strong> Gelbhaarigen in die Ebene von Otumba<br />

gelockt!<br />

»Falsches Pack!«, schimpfte <strong>der</strong> capitán generál. »Wenn wir <strong>zur</strong>ückkommen, werde ich <strong>den</strong><br />

Fuß auf Tezcatlipocas Nacken setzen!«<br />

Aguilár schritt nebenher. Erschreckt vom letzten Satz des Generalkapitäns rief er:<br />

»Don Hernándo, was wollt Ihr damit sagen?«<br />

»Die Völker Mexicos behaupten, dass Quetzalcoatl fliehen musste. Tezcatlipoca hat ihn<br />

vertrieben. Aber er will wie<strong>der</strong>kommen! Ich bin in Tenochtitlán <strong>den</strong> Mexica unterlegen – diesmal<br />

noch. Quetzalcoatl musste vor Tezcatlipoca an die östliche Meeresküste <strong>zur</strong>ückweichen. Nichts<br />

soll die Völker Anahuacs in ihrem Glauben irre machen: Quetzalcoatl wird wie<strong>der</strong>kehren und in<br />

Mexico sein Reich errichten!«<br />

Olíd, <strong>der</strong> dicht hinter Cortés ritt, drängte seinen Hellbraunen an Romos Flanke. »Verstehe<br />

ich Euch recht, Don Hernándo? Ihr habt Euch vorgenommen, in Mexico ein Reich zu errichten?«<br />

Im bartlosen, narbenbedeckten Gesicht des einstigen Galeerensträflings lauerte<br />

Aufmerksamkeit. Cortés ertrug <strong>den</strong> inquisitorischen Blick gleichmütig und schaute unschuldig<br />

<strong>zur</strong>ück. Mit behändem Geist erfasste er sofort, dass seine Worte vieldeutig ausgelegt wer<strong>den</strong><br />

konnten und sein Schicksal womöglich unheilvoll beeinflussten, wenn ein Angeber sie an <strong>den</strong><br />

spanischen Hof meldete. Und Olíd war alles zuzutrauen. Der Nimbus <strong>der</strong> Unbesiegbarkeit war<br />

keineswegs nur in <strong>den</strong> Augen <strong>der</strong> Mexica von Cortés abgefallen.<br />

»Ihr habt meine Worte missverstan<strong>den</strong>«, meinte Cortés.<br />

»O nein, Don Hernándo! Ich habe Eure Worte gut verstan<strong>den</strong> – vielleicht besser als Ihr<br />

selbst! Es mag allerdings müßig sein, jetzt davon zu re<strong>den</strong>, <strong>den</strong>n vielleicht ist heute Abend keiner<br />

von uns mehr am Leben. Es mag auch dahingestellt sein, ob sich außer Euch und mir noch


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 317<br />

Kastilier fin<strong>den</strong>, die diese Straße noch einmal ziehen – selbst wenn wir nach Tlaxcala und<br />

Veracruz entkommen, was fraglich sein mag. Doch nehmen wir an, es gelingt, und nehmen wir an,<br />

Ihr setzt <strong>den</strong> Fuß auf Tezcatlipocas Nacken – was dann?«<br />

»Ich bin ein treuer Diener meines kaiserlichen Herrn!«, erwi<strong>der</strong>te Cortés.<br />

»<strong>Das</strong> wart Ihr bisher, Don Hernándo. Und eben darum hat sich Euer Freund Velásquez de<br />

León gescheut, Euch vorzuhalten, was er an<strong>der</strong>e mehr als einmal wissen ließ...«<br />

»Wart Ihr sein Vertrauter?«, höhnte Cortés.<br />

»Nein. Aber Tapia und Lugo. Und von <strong>den</strong>en weiß ich, was Don Juan sagte...«<br />

»Und was hat er gesagt?«<br />

»<strong>Das</strong>s Tenochtitlán mehr wert sei als das Gol<strong>den</strong>e Vlies o<strong>der</strong> ein Marquisat o<strong>der</strong> das<br />

Schafott. Der Lohn des großen Admirals Colón waren Ketten. Vasco Núñez de Balboa, <strong>der</strong><br />

Entdecker des Pazifizischen Ozeans, starb auf dem Blutgerüst. Und jüngst erst hat Don Pánfilo<br />

Euch <strong>den</strong> Tod bringen wollen.«<br />

»Seine Majestät ist kein Narr wie Narváez!«<br />

»Natürlich nicht, aber er wird Euch mit einer gnädigen Audienz, einem Adelswappen o<strong>der</strong><br />

einem Hofrang kaltstellen. Mir scheint, Velásquez de León hatte so unrecht nicht, wenn er<br />

behauptete, dass Ihr, Don Hernándo, mehr Anrecht auf <strong>den</strong> Thron Moctezumas habt als <strong>der</strong><br />

Kaiser.«<br />

»Ich? Wie kommt Ihr darauf?«<br />

»Habt Ihr schon vergessen, dass Moctezuma nach Doña Marinas Mutter suchen ließ? <strong>Das</strong>s<br />

er Marina für seine Tochter hielt?«<br />

»Drei Tage lang!«, entgegnete Cortés<br />

missmutig. »Drei Tage lang spielte er mit dem<br />

Gedanken, sie könne seine Tochter sein – um<br />

an<strong>der</strong>e, melancholische Gedanken zu<br />

verscheuchen. Länger hat auch er nicht an<br />

das Ammenmärchen geglaubt!«<br />

Bei <strong>der</strong> Belagerung von Tenochtitlán trugen die<br />

verbündeten indianischen Völker die Hauptlast des<br />

Krieges (Codex Tlaxcala)<br />

»Vorhin spracht Ihr weniger verächtlich<br />

von Ammenmärchen, Don Hernándo, <strong>den</strong>n Ihr<br />

wisst, dass Völker sich oft nur durch<br />

Ammenmärchen bändigen lassen!«<br />

<strong>Das</strong> Gespräch brach ab, <strong>den</strong>n an <strong>der</strong><br />

Spitze <strong>der</strong> Kolonne entstand Unruhe. Ein<br />

kleiner Trupp Indianer näherte sich. Cortés<br />

erkannte in ihrer Mitte die Blaue Fe<strong>der</strong>. Als kurze Zeit nach dem Ableben seines Vaters, des Herrn<br />

des Fastens, <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong>zwist ausgebrochen war, hatte sich die Hauptstadt Tezcoco für <strong>den</strong> Edlen<br />

Betrübten erklärt, während alle an<strong>der</strong>en Städte <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> ihre Tore öffneten. Im Triumph<br />

war er von Stadt zu Stadt gezogen bis <strong>zur</strong> nördlichsten, Otumba. Dort besiegte er Moctezumas<br />

Feldherrn, die Rose, und verfolgte ihn bis vor die Tore Mexicos, wo er ihn im Zweikampf erschlug<br />

und auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Wenn die Otomis von Otumba jetzt von ihm abgefallen<br />

sind, so geschah es nicht freiwillig, son<strong>der</strong>n unter dem Zwang <strong>der</strong> Verhältnisse: Die mexicanischen<br />

Heerscharen überfluteten das Land. Der Verzweiflungskampf <strong>der</strong> Christen schien aussichtslos.<br />

Sie begrüßten sich rasch; <strong>der</strong> Generalkapitän beriet sich mit <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> und ließ sich<br />

von ihm eine Beschreibung des Geländes geben. Ein Ausweichen wäre jetzt vergebens – trotz <strong>der</strong><br />

phantastischen Überzahl des Gegners musste die Schlacht angenommen wer<strong>den</strong>!


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 318<br />

23. Otumba<br />

Mais ernten<br />

»Die Feinde setzten uns so heftig zu, dass alles Feld vor unseren Augen bedeckt war und<br />

keiner <strong>der</strong> Unseren seinen Nachbarn mehr sah... Bald glaubten wir, unser letztes Stündlein<br />

habe geschlagen, <strong>der</strong>weil <strong>der</strong> Feinde so viele und wir so wenige und dazu fast alle<br />

verwundet und kraftlos waren.«<br />

(Hernán Cortés, 2. Brief an <strong>den</strong> Kaiser vom 30. 10. 1520)<br />

Als die Christen im flammen<strong>den</strong> Morgenrot die Höhen überschritten und die Ebene überblickten,<br />

sahen sie in <strong>der</strong> Ferne <strong>den</strong> Überwin<strong>der</strong> mit seinen Heerscharen lagern. Die Männer waren von <strong>den</strong><br />

Strapazen erschöpft. Einige fieberten, an<strong>der</strong>e froren, und Hunger und Durst quälte fast alle. Ihr Mut<br />

schwand angesichts des übermächtigen Heeres <strong>der</strong> Mexica. War ihnen heute <strong>der</strong> Untergang<br />

bestimmt? Endete hier das Abenteuer? Mündete ihre Straße zum Ruhm nun in kläglichem<br />

Untergang? Unbehelligt wankten die conquistadores in die Ebene hinunter. Düster und stumm<br />

schritten sie <strong>der</strong> Schlacht entgegen. Nach einer halben Stunde, gegenüber <strong>der</strong> schier<br />

unübersehbaren Flut <strong>der</strong> Feinde, ließ Cortés Halt machen und das Heer nie<strong>der</strong>knien. Pater<br />

Olmedo sprach ein Gebet und erflehte Gottes Segen für die Kreuzfahne und ihre Streiter. Dann<br />

hielt <strong>der</strong> caudillo eine kurze Rede:<br />

»Ihr habt keine Kartaunen mehr«, rief er, »um eine Bresche in die Menschenmauern dort zu<br />

legen; Musketen und Arkebusen, welche die Götzenanbeter für Zauber hielten, habt ihr nur noch<br />

wenige; <strong>der</strong> Ruhm <strong>der</strong> Unbesieglichkeit schwand von euch. Nicht mehr für unwi<strong>der</strong>stehlich, nicht<br />

mehr für Götter geltet ihr; nichts blieb euch als euer Schwert und Gottes Beistand! Der Feind<br />

vertraut auf seine Überzahl, doch <strong>der</strong> eine Gott ist mehr als ihre vielen Götter. Unser Gottvertrauen<br />

ist wie ein Fels im Meer, und unser Wissen, Christen zu sein, die gegen Ungläubige kämpfen, ist<br />

unbesiegbar! Zeigt diesen Hei<strong>den</strong>, dass die Vielzahl nichts vermag, wenn die Disziplin <strong>der</strong><br />

Wenigen es verhin<strong>der</strong>t! Zeigt ihnen, dass auch an einem kleinen Felsen hun<strong>der</strong>ttausend Wellen<br />

vergebens lecken!«<br />

Cortés schritt die Reihen ab, ermahnte die Kämpfer, ihre Schwerter mehr zum Stoß als zum<br />

Schlag zu gebrauchen und vor allem die Hauptleute des Feindes nie<strong>der</strong>zumachen, da nichts so<br />

sehr ein Heer lähme als <strong>der</strong> Verlust seiner Führer. Die Pikeniere mussten als lanzenstarrendes<br />

Karree in <strong>der</strong> Mitte Aufstellung nehmen; die Musketiere und Arkebusiere – es waren nur noch<br />

zwölf – stellte Cortés an <strong>den</strong> rechten und linken Flügel; ganz außen warteten die Kavalleristen. Er<br />

ermahnte die Reiter, in Trupps zu fünf Mann vorwärts zu galoppieren und mit <strong>den</strong> Lanzen nicht<br />

nach <strong>der</strong> Brust, son<strong>der</strong>n nach dem Gesicht und <strong>den</strong> Augen <strong>der</strong> naturales zu zielen, wie María de<br />

Estrada es stets getan hatte. Dann gab er das Zeichen.<br />

Benito Bejel rührte die Trommel. Sebastián Rodríguez blies in seine lilienförmigen Trompete<br />

und entlockte ihr einen Schmetterton, <strong>der</strong> wie eine Lerche lustig empor ins Ätherblau stieg.<br />

»Mit Gott und Santiago zum Sieg!«, rief Cortés.<br />

Die Schlacht begann.<br />

Gleich beim ersten Anprall durchbrachen die Spanier die vor<strong>der</strong>en Linien <strong>der</strong> Mexica, doch<br />

so viele Mexica auch tot am Bo<strong>den</strong> lagen, so viele frische Kämpfer stürmten voller<br />

Todesverachtung wie<strong>der</strong> heran. Im Regen <strong>der</strong> fliegen<strong>den</strong> Steine, Wurfspieße und Pfeile sank<br />

mancher Kastilier und Tlaxcalteke dahin, und die kleine Schar schmolz bald merklich zusammen.<br />

Doch gelang es <strong>den</strong> Azteken nicht, das Christenheer zu umzingeln; dies vereitelte die Kavallerie.<br />

Alvarado hatte seine Fuchsstute in <strong>der</strong> noche triste verloren, jetzt ritt er eines <strong>der</strong> Pferde des


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 319<br />

Narváez. Er, Avila und Olíd hatten Gruppen von je vier Reitern gebildet; nun preschten sie durch<br />

die Reihen <strong>der</strong> Feinde wie die Reiter <strong>der</strong> Apokalypse, die mit breiter Sense Menschenhaufen wie<br />

Getreidehalme nie<strong>der</strong>mähen. Sandoval galoppierte mit blitzendem Schwert auf seinem<br />

dunkelbraunen Hengst Motilla durch dichtes Gedränge und ließ eine blutige Spur toter Indianer<br />

hinter sich.<br />

Die Disziplin <strong>der</strong> Spanier, die geschickte militärische Taktik und die hervorragende persönliche Tapferkeit,<br />

durch die sich Cortez auszeichnete, verhalfen ihnen zum Sieg über die gewaltige Aztekenarmee im Tal von<br />

Otumba. Dieser Stich des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts stellt <strong>den</strong> Augenblick dar, als die Spanier in Marschordnung von <strong>den</strong><br />

Gebirgshängen in die Ebene hinunterziehen (rechts im Bild), in <strong>der</strong> sich das feindliche Heer gesammelt hat.<br />

Cortés leitete die Schlacht durch Zurufe und Signale. Er sprengte hierhin und dorthin, war<br />

überall, wo er ein Wanken spürte. Sein Beispiel machte <strong>den</strong> Erlahmen<strong>den</strong> Mut. Der Kommandant<br />

kämpfte wie sie und teilte die Lebensgefahr seiner Kamera<strong>den</strong>. Seine in Tacuba erhaltene<br />

Kopfverletzung war nur verschorft gewesen, und nun brach die Narbe auf. Und schon schlug ihm<br />

ein Stein eine zweite schwere Kopfwunde. An <strong>der</strong> linken Hand büßte er zwei Finger ein. Sein<br />

Rappe Romo, von vielen Pfeilen getroffen und heftig blutend, brach kraftlos zusammen, und<br />

Cortés schwang sich auf <strong>den</strong> Apfelschimmel Molinero.<br />

Vier Stun<strong>den</strong> währte die Schlacht. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel; ein heißer<br />

Julitag lag flimmernd über dem Schlachtfeld. Die Kräfte <strong>der</strong> schweißgebadeten Streiter erlahmten;<br />

ihre Zungen und Kehlen verdorrten. Und mit <strong>der</strong> Kraft wollten auch Mut und Hoffnung schwin<strong>den</strong>.<br />

Die Spanier wichen <strong>zur</strong>ück. Cortés versuchte, die Fliehen<strong>den</strong> aufzuhalten, flehte sie an, schimpfte,<br />

tobte:<br />

»Was tut ihr, Wahnsinnige! Wollt ihr euch wie Hunde von <strong>den</strong> Hei<strong>den</strong> abstechen lassen?<br />

Uns bleibt keine Wahl! Entwe<strong>der</strong> Sieg o<strong>der</strong> Tod!«<br />

Noch einmal gelang es ihm, die Wanken<strong>den</strong> voranzutreiben. Ein weiteres Mal würde es ihm<br />

wohl nicht mehr glücken. Da, in höchster Not, erblickte er einen von strahlendem Gefolge<br />

umgebenen und von tlamamas getragenen, gol<strong>den</strong> verzierten Tragsessel. Darin saß, die Köpfe<br />

<strong>der</strong> herandrängen<strong>den</strong> Mexica überragend, ein fürstlich gekleideter Azteke mit einem<br />

Quetzalfe<strong>der</strong>busch auf dem Haupt. Cortés konnte nicht erkennen, wer in <strong>der</strong> Sänfte saß, <strong>der</strong> Fürst<br />

war noch zu weit entfernt. Aber es musste sich um <strong>den</strong> Anführer <strong>der</strong> Mexica handeln.<br />

»Vorwärts, Kamera<strong>den</strong>!«, rief Cortés. »Auf <strong>den</strong> Goldstuhl dort! Ist <strong>der</strong> erst unser, gehört uns<br />

auch <strong>der</strong> Sieg!«<br />

Avila mit seinen Reitern und die Musketiere Alvara, Domínguez und Ochóa folgten ihm.<br />

Kämpfend, fechtend, um sich schlagend trieben sie einen Keil in das Gewimmel <strong>der</strong> Feinde. Hinter<br />

ihnen schloss sich die Bresche, und die Menschenwogen umbrandeten sie wie Sintflutgewässer.<br />

Dennoch drangen sie weiter vor und gelangten schließlich vor <strong>den</strong> Sessel. Darin saß Cuitlahuac,<br />

<strong>der</strong> Überwin<strong>der</strong>. Erschreckt und mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die Männer, die sich


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 320<br />

unaufhaltsam näher kämpften. Drei <strong>der</strong> Träger wur<strong>den</strong> erstochen, und <strong>der</strong> Goldsessel sank zu<br />

Bo<strong>den</strong>. Mit gewaltigem Schwerthieb schlug Cortés dem König die Klinge in <strong>den</strong> Nacken.<br />

Juan de Salamanca, <strong>der</strong> neben Cortés kämpfte, sprang vom Pferd, trennte das Haupt des<br />

Überwin<strong>der</strong>s vom Rumpf und riss dem Geköpften <strong>den</strong> Quetzalfe<strong>der</strong>busch ab. Er hob das Haupt<br />

mit lautem Siegesgeschrei empor. Entsetzt stoben die Azteken auseinan<strong>der</strong>. Sodann reichte Juan<br />

de Salamanca das Königszeichen an Cortés weiter, wobei er rief:<br />

»Ihr, gnädiger Herr, habt ihn gefällt! Euch gebührt das Siegeszeichen. Ihr habt triumphiert!<br />

Alexan<strong>der</strong> des Großen Sieg über Darius war nicht wun<strong>der</strong>barer!«<br />

Kaum war ihr König gefallen, ergriffen die Azteken die Flucht. Bei <strong>der</strong> Verfolgung töteten die<br />

Christen Hun<strong>der</strong>te ihrer Feinde, und unermessliche Beute fiel ihnen in die Hände.<br />

<strong>Das</strong>s die Mexica sich auf die Schlacht einließen, war ein unverzeihlicher taktischer Fehler,<br />

<strong>der</strong> sie um alle Vorteile und letztendlich um ihre Unabhängigkeit brachte. Anstatt bei ihrer<br />

Kriegführung <strong>der</strong> fortgesetzten Überfälle und Verfolgungen zu bleiben, entschie<strong>den</strong> sie sich für die<br />

Feldschlacht. Doch we<strong>der</strong> Cuitlahuac noch einer seiner Fürsten hatten die spanische Kavallerie<br />

jemals auf freiem Feld kämpfen sehen, und was ihnen aus <strong>den</strong> Küstengebieten um Cempoala, aus<br />

Tlaxcala und Cholula zu Ohren gekommen war, hielten sie für übertrieben. So konnten sie sich von<br />

<strong>der</strong> tödlichen Wucht <strong>der</strong> gepanzerten Streitrosse, die in vollem Galopp heranstoben, keine<br />

Vorstellung machen.<br />

Am nächsten Tag diktierte Cortés in seinem Bericht an <strong>den</strong> Kaiser dem Schreiber Francisco<br />

López de Gómera in die Fe<strong>der</strong>:<br />

»Es war eine vernichtende Schlacht und schrecklich anzusehen. Wir empfahlen uns von<br />

ganzem Herzen Gott und <strong>der</strong> gesegneten Jungfrau Maria, und mit dem Namen unseres<br />

Schutzheiligen Sankt Jago auf <strong>den</strong> Lippen stürmten wir auf sie los. Eine so große Heerschar<br />

Indianer stellte sich uns entgegen, dass wir <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> ringsum nicht mehr sahen, so vollständig<br />

war er von ihnen bedeckt. Schon glaubten wir, unser letztes Stündlein habe geschlagen, dieweil<br />

<strong>der</strong> Feinde so viele und wir so wenige und dazu fast alle verwundet und kraftlos waren, sodass wir<br />

ihnen nicht recht Wi<strong>der</strong>stand leisten konnten. Wir stießen mitten in ihre eng geschlossenen Reihen<br />

hinein, schlugen und hieben mit unseren Schwertern auf sie ein, doch die Hei<strong>den</strong> setzten sich<br />

wütend <strong>zur</strong> Wehr und teilten mit ihren Speeren und Schwertern Tod und Wun<strong>den</strong> unter uns aus.<br />

Doch da es ebenes Gelände war, konnten unsere Reiter nach Belieben mit ihren Lanzen auf sie<br />

losstürmen, <strong>zur</strong>ückweichen, und wie<strong>der</strong> von neuem auf sie eindringen. Der Allmächtige hat seine<br />

große Barmherzigkeit an uns erwiesen, <strong>den</strong>n es gelang uns doch, <strong>den</strong> Grimm und die Kraft <strong>der</strong><br />

Feinde zu brechen. Hun<strong>der</strong>te von ihnen fielen. Der Herrgott verlieh uns das Glück, <strong>den</strong> Feldherrn<br />

<strong>der</strong> Feinde zu erlegen. Als er gefallen war, ließ <strong>der</strong> Ansturm nach. <strong>Das</strong> war die Schlacht von<br />

Otumba.«<br />

�<br />

Die reichste Trophäe erbeuteten <strong>der</strong> Reiter Don Pedro Gallejo und sein Freund Francisco Martín<br />

de Vendobal. Während <strong>der</strong> Plün<strong>der</strong>ung des Lagers waren die bei<strong>den</strong> als Erste in das königliche<br />

Zelt eingedrungen und hatten die Königin Maisblume bei <strong>der</strong> Hand gefasst und zu ihrer<br />

Gefangenen erklärt. Nachstürmende raubsüchtige Gesellen, die <strong>der</strong> Königin <strong>den</strong> Schmuck vom<br />

Leib reißen und ihr und ihren adeligen Frauen Gewalt antun wollten, waren von <strong>den</strong> bei<strong>den</strong><br />

Freun<strong>den</strong> verjagt wor<strong>den</strong>. Gallejo und Vendobal waren vor einem Jahr, als das Christenheer sich<br />

bereits auf dem Weg nach Cempoala befand, in Veracruz mit Salcedo, Luis Marín und Antonio de<br />

Quiñones gelandet. Die bei<strong>den</strong> Hidalgos hatten sich vor Jahren auf <strong>der</strong> Universität Salamanca<br />

gefun<strong>den</strong> und waren seitdem unzertrennlich. In Erziehung, Universitätsbildung und anerzogenem<br />

Kavaliertum unterschie<strong>den</strong> sie sich von <strong>den</strong> meisten Glücksrittern jener Zeit. Sie waren ernste,<br />

schweigsame Männer.<br />

<strong>Das</strong> Unglück war jäh über Maisblume hereingebrochen; sie fand in ihrer Seele so rasch<br />

keine Schutzwaffe, um <strong>der</strong> schrecklichen Wirklichkeit zu begegnen. Eben noch mächtige Königin,<br />

war sie jetzt die Sklavin eines kastilischen Reiters. Schon die direkte Anrede durch einen Adligen<br />

bedeutete eine Beleidigung für sie; wie schmachvoll mussten da die Worte eines Soldaten für sie<br />

sein!<br />

»Fürchtet Euch nicht, Königin«, sagte Gallejo auf Mexicanisch. »Zwar nahm ich Euch


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 321<br />

gefangen, doch nur, um Euch zu beschützen und ein schlimmeres Los von Euch fern zu halten. Ihr<br />

seid nicht meine Sklavin – Eure Schönheit macht mich zu Eurem Sklaven! Jedes Eurer Worte wird<br />

mir ein Befehl sein.«<br />

Maisblume schwieg. Ihre Frauen schluchzten, sie aber lächelte verächtlich und unnahbar<br />

und blickte durch <strong>den</strong> Kastilier hindurch, als wäre er aus Glas. Doch Gallejo ließ sich nicht<br />

abhalten, ihr weiter ritterlich Trost zuzusprechen. »Der Tod Eures Gatten schmerzt mich. Er ist als<br />

tapferer Krieger gefallen.« Doch kein Blick aus ihren Augen belohnte ihn. Sie tat, als hörte sie<br />

seine Worte nicht, die er in fehlerhaftem Mexicanisch sprach.<br />

Der Überwin<strong>der</strong> war tot! Niemand hatte es ihr gesagt. Sie hatte ihn aus Staatsräson<br />

geheiratet, weil sie glaubte, dass <strong>der</strong> Schlagende Falke, dem ihr Herz gehörte, Moctezuma getötet<br />

hatte.<br />

Moctezuma!<br />

Da wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie ihre Kindespflicht nicht erfüllt, dass sie ihren Vater<br />

nicht bestattet hatte. Düster starrte sie ins Leere, und tiefe Trauer überkam sie, während Tränen<br />

über ihre Wangen rollten.<br />

Don Pedro aber war erleichtert, <strong>den</strong>n er glaubte, sein Trost habe sie endlich erweicht. Da trat<br />

Olíd ins Königszelt. Durch <strong>den</strong> offenen Eingang sah man seine Begleiter, zwanzig <strong>der</strong>be<br />

Kriegsknechte. Alvarado, <strong>der</strong> vorbeieilte, blieb stehen. <strong>Das</strong> Zelt des Königs von Mexico war<br />

unverkennbar durch Kolibrife<strong>der</strong>mosaik und gol<strong>den</strong>e Speere bezeichnet. Alvarado ärgerte sich,<br />

dass er zu spät gekommen war.<br />

»Wer hat diese großartige Beute gemacht?«, fragte er einen <strong>der</strong> Umstehen<strong>den</strong>.<br />

»Gallejo und Vendobal! Vielleicht auch Olíd!«<br />

»Wieso vielleicht?«<br />

»Nun, sie haben ein paar Leute des Olíd aus dem Zelt gewiesen, als sie die Frauen<br />

wegschleppen wollten.«<br />

Alvarado blieb und wartete ab.<br />

Olíd war dicht vor Königin Maisblume hingetreten und verschlang sie mit Blicken. Doch es<br />

war weniger ihre Schönheit, die ihn begierig machte, <strong>den</strong>n im Tecpan des Königs Wassergeist war<br />

er ihr oft begegnet; er wusste, dass die Tochter Moctezumas vor ihm stand. Nach dem Tod des<br />

Von-Göttern-Beschirmten und <strong>der</strong> jüngeren Prinzen lebte kein männlicher Nachkomme<br />

Moctezumas mehr. Maisblume war die Erbin! Zweier Könige Erbin – sowohl des Zornigen Herrn<br />

als auch des Überwin<strong>der</strong>s. Noch vor einem Tag hatte er Cortés von <strong>den</strong> verstiegenen Plänen des<br />

Velásquez de León erzählt, die auf <strong>den</strong> flüchtigen Ansprüchen Marinas aufbauten. Maisblumes<br />

Ansprüche waren ganz an<strong>der</strong>s begründet; welche Aussichten boten sich dem, <strong>der</strong> Maisblume<br />

besaß! Wenn Cortés so sehr <strong>der</strong> Narr seines Gewissens war, dass er die Hand nach <strong>der</strong><br />

Goldfrucht nicht ausstrecken wollte – Olíd war entschlossen!<br />

Er nahm Gallejo beiseite und flüsterte:<br />

»Tretet sie mir ab! Ihr sollt es nicht bereuen!«<br />

»Señor, Ihr for<strong>der</strong>t Unerfüllbares!«, erwi<strong>der</strong>te Gallejo.<br />

Olíd blickte starr zu Bo<strong>den</strong>. Dort lag ein schmuckloses Tuch, das in <strong>der</strong> Mitte verdächtig<br />

gewölbt war. Olíds Räuberinstinkt ließ ihn sich bücken und das Tuch aufnehmen. Darunter lag ein<br />

Edelstein von unerhörter Größe. Gleich nach dem verhängnisvollen Ausgang <strong>der</strong> Schlacht und<br />

noch bevor die Christen in ihr Zelt eingedrungen waren, hatte Maisblume sich ihres fürstlichen<br />

Schmuckes entledigt, aber keine Zeit mehr gefun<strong>den</strong>, ihn zu verstecken.<br />

Olíd hob <strong>den</strong> Smaragd auf. <strong>Das</strong> makellose Schmuckstück war wie eine Stufenpyramide<br />

geschliffen, dem Schlangenberg ähnlich. An <strong>der</strong> Basis besaß es <strong>den</strong> Umfang eines halben<br />

Handtellers und erhob sich zwei Zoll. Verglichen mit diesem Juwel war <strong>der</strong> faustgroße Smaragd<br />

des Cortés (<strong>den</strong> ihm die dicke Prinzessin vor ihrer Hochzeit geschenkt hatte) unscheinbar. Sein<br />

Wert musste unermesslich sein. Am Morgen nach <strong>der</strong> Schlacht <strong>der</strong> Schrecken hatte <strong>der</strong><br />

Überwin<strong>der</strong> dies Kleinod aus Iztapalapá holen lassen und es Maisblume um <strong>den</strong> Hals gehängt, als<br />

sie seine Gemahlin und Königin wurde.<br />

»Dies ist meine Beute«, sagte Olíd. »Da Ihr die Pyramide übersehen habt, gehört sie mir!«<br />

Vendobal bemerkte trotzig:<br />

»Gewiss, Señor, Euch gehört die Pyramide, allerdings nur, wenn <strong>der</strong> Rechnungsführer<br />

Albornoz sie Euch lässt und sie nicht für Seine Majestät Don Carlos de Austria beansprucht.«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 322<br />

Olíd würdigte Vendobal keines Blickes und keiner Antwort. Zu Gallejo gewandt, fuhr er fort:<br />

»Ihr wisst, dass ich unter Zwang noch nie herausgab, was ich mir nahm. Aber vielleicht tue<br />

ich es aus freien Stücken. Ich biete Euch einen Tausch an. Überlasst mir die Königin und nehmt<br />

dafür die Smaragdpyramide – sie hat auf Er<strong>den</strong> ihresgleichen nicht!«<br />

»Auch die Königin hat auf Er<strong>den</strong> ihresgleichen nicht!« sagte Gallejo ruhig. »Was Ihr for<strong>der</strong>t,<br />

kann ich nicht tun.«<br />

»Seid Ihr von Sinnen?«, rief Olíd. »Was maßt Ihr Euch an? Mit welchem Recht habt Ihr<br />

meine Leute fortgewiesen und sie gehin<strong>der</strong>t, sich die Frauen zu nehmen, die ihre Sklavinnen<br />

sind?«<br />

»Diese Frauen sind die Sklavinnen <strong>der</strong> Königin!«, rief Vendobal.<br />

»Sie sind Kriegsbeute!« Olíd trat zum Zelteingang und rief seinen Soldaten zu: »Holt sie<br />

euch! Ich erlaube es!«<br />

Da stürzten die zwanzig Landsknechte ins Zelt und schleppten die schreien<strong>den</strong>,<br />

schluchzen<strong>den</strong>, sich wehren<strong>den</strong> Frauen hinaus. Nur an Maisblume wagten sie sich nicht zu<br />

vergreifen; sie wussten, dass Olíd sie haben wollte.<br />

Gallejo und Vendobal hatten die Schwerter gezogen und sich schützend vor Maisblume<br />

gestellt.<br />

Auch Olíd zog blank. »Schert euch zum Teufel, wenn euch das Leben lieb ist!«, brüllte er<br />

und drang auf die bei<strong>den</strong> ein. Vendobal stellte sich ihm entgegen, während Gallejo Maisblume aus<br />

dem Bereich <strong>der</strong> Klingen in einen an<strong>der</strong>n Teil des Zeltes zerrte. Doch da hörte er schon <strong>den</strong><br />

Aufschrei Vendobals: »Es ist aus mit mir! Räche mich, Pedro!«<br />

Als Gallejo herumfuhr, sah er Vendobal getroffen zu Bo<strong>den</strong> sinken. Gallejo ließ Maisblume<br />

stehen und stürmte auf Olíd zu. Er überbot sich beim Fechten selbst und trieb <strong>den</strong> bärenstarken<br />

und geübten Gegner in die Enge. Auf Dauer allerdings hätte er Olíd nicht Stirn bieten können.<br />

Da aber wur<strong>den</strong> die Fechten<strong>den</strong> plötzlich getrennt. Alvarado schlug Olíd das Schwert aus<br />

<strong>der</strong> Hand und stellte <strong>den</strong> Fuß auf die Waffe, sodass Olíd sie nicht ergreifen konnte. Gallejo hätte<br />

<strong>den</strong> Wehrlosen jetzt nie<strong>der</strong>stechen können, doch das erlaubte ihm die Ritterlichkeit nicht.<br />

Olíd senkte <strong>den</strong> Kopf - wie ein Stier, <strong>der</strong> mit <strong>den</strong> Hufen die Erde aufwühlt. Stumm warf er<br />

sich auf Alvarado und versuchte ihn zu erwürgen. Lange währte <strong>der</strong> Ringkampf <strong>der</strong> Feldobristen<br />

jedoch nicht, <strong>den</strong>n Cortés war ins Königszelt getreten und for<strong>der</strong>te Ruhe.<br />

Der Totschlag an Vendobal ließ sich nicht<br />

strafen; Vendobal hatte die Waffe als Erster aus<br />

<strong>der</strong> Scheide gezogen und war fechtend gefallen.<br />

Dennoch war Olíd schuldig. Er leugnete es auch<br />

gar nicht; ernüchtert gestand er sogar, dass er<br />

sich schuldig fühle. Ohne Wi<strong>der</strong>spruch händigte<br />

er <strong>den</strong> Smaragd dem Rechnungsführer Albornoz<br />

aus. Bereitwillig reichte er Alvarado und Gallejo<br />

die Hand <strong>zur</strong> Versöhnung. So viel<br />

Selbstverleugnung bedeutete bei Olíd nichts<br />

Gutes. Nichts Gutes bedeuteten auch die Worte<br />

Gallejos, <strong>der</strong> sich weigerte, seine Hand in die<br />

ausgestreckte Rechte Olíds zu legen.<br />

Szene in einem Badehaus (aztekische Zeichnung)<br />

»Mag Gott Euch vergeben, Don Cristóbal«,<br />

sagte er. »Ich kann es nicht!«<br />

Die Königin wurde Gallejo als Eigentum zugesprochen. Cortés verbarg seinen Groll gegen<br />

Maisblume hinter unverbindlicher Höflichkeit. Die Strafe für die Ermordung Alonso de Grados, <strong>den</strong><br />

sie ins überhitzte Badehaus gelockt und getötet hatte, war ihr erlassen wor<strong>den</strong>. Bei <strong>den</strong> letzten<br />

Kämpfen in Tenochtitlán hatte Cortés sie aus <strong>der</strong> Haft in <strong>den</strong> Schatzkammern befreit und sie in<br />

<strong>den</strong> Huei-Tecpan zum Schlagen<strong>den</strong> Falken geschickt, um Waffenruhe und freien Abzug für die<br />

Christen zu erwirken. Sie war nicht <strong>zur</strong>ückgekehrt, und statt Waffenruhe waren neue und noch<br />

wil<strong>der</strong>e Sturmangriffe erfolgt. In Cortés Augen war ihr Wortbruch zu einem Teil für die Nacht <strong>der</strong>


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 323<br />

Schrecken verantwortlich. Aber seit Juan de Salamanca ihn, Cortés, mit Alexan<strong>der</strong> dem Großen<br />

verglichen hatte, glaubte er je länger je mehr an seine weltgeschichtliche Sendung. Der<br />

Makedonierkönig hatte die Witwe des Darius mit äußerster Zuvorkommenheit behandelt, deshalb<br />

ließ Cortés es jetzt an Liebenswürdigkeiten gegenüber <strong>der</strong> Witwe des Überwin<strong>der</strong>s nicht fehlen. Er<br />

war klug genug, die feinen Fä<strong>den</strong> zu erkennen, die zwischen Olíds Bestreben, sich <strong>der</strong> Königin zu<br />

bemächtigen, und seinen letzthin gemachten Äußerungen über die Pläne des Velásquez de León<br />

gesponnen waren. In einem Gespräch mit Gallejo unter vier Augen ließ Cortés eine Bemerkung<br />

darüber fallen, dass es ihm recht wäre, wenn Gallejo, um eine Wie<strong>der</strong>holung des Streits zu<br />

vermei<strong>den</strong>, sich möglichst bald von Pater Olmedo mit Maisblume trauen ließe.<br />

�<br />

Hunger und Durst gehörten <strong>der</strong> Vergangenheit an; die Kastilier hatten genug Lebensmittel<br />

erbeutet, um <strong>den</strong> Hunger zu stillen und beim Weitermarsch nach Tlaxcala Vorräte mitzuführen. Der<br />

Schatz, <strong>den</strong> sie auf dem Schlachtfeld und im Lager <strong>der</strong> Azteken zusammengetragen hatten, war<br />

so groß, dass das Fünftel des Kaisers fast <strong>der</strong> Hälfte des verlorenen Schatzes gleichkam.<br />

Am frühen Morgen des folgen<strong>den</strong> Tages brach das Heer <strong>zur</strong> nahen Grenze Tlaxcalas auf.<br />

Fast alle Kämpfer hatten Wun<strong>den</strong> davongetragen, und eine Rast von mehreren Tagen hätte ihnen<br />

gut getan. Cortés' Kopfwunde entzündete sich; er hatte sich nicht geschont, und nun schüttelte ihn<br />

das Wundfieber. Die Männer mussten ihren Kommandanten schließlich auf einer Bahre tragen,<br />

weil er sich nicht mehr im Sattel halten konnte.<br />

Der Weg nach Tlaxcala führte sie zunächst nordwärts durch die Ebene, dann am Wald<br />

vorbei, wo Diego de Ordás mit Francisco de Lugo und dem Hund Becerrico, mit Fähnrich Antonio<br />

Villareal und dessen Frau Isabel de Ojeda sowie weiteren vierundvierzig Begleitern von Prinz<br />

Felsenschlange überfallen und gefangen wur<strong>den</strong>. María de Estrada ritt am Waldrand entlang -<br />

stolzer <strong>den</strong>n je, <strong>den</strong>n sie hatte in <strong>der</strong> Schlacht von Otumba neue Lorbeeren gesammelt.<br />

Plötzlich raschelte etwas im Gebüsch, María vernahm ein leises Japsen und erblickte<br />

Becerrico, <strong>der</strong> sich mühselig aus dem Gehölz schleppte. Die Wunde des Hundes war nur zum Teil<br />

verschorft, doch er versuchte, freudig mit dem Schwanz zu wedeln und seinen Kopf <strong>zur</strong> Amazone<br />

zu heben.<br />

»Becerrico!«, rief sie erstaunt und drehte sich im Sattel zu <strong>den</strong> an<strong>der</strong>en um. »Lope, komm<br />

her! Becerrico ist hier!« Ihr Mann, <strong>der</strong> schönhändige Lope Cano, und die an<strong>der</strong>en eilten herbei.<br />

Lope beugte sich zum Hund hinab und untersuchte ihn. Becerrico leckte ihm dankbar die<br />

Hand.<br />

»Er ist an <strong>der</strong> Brust verwundet!«<br />

»Gib ihn herauf«, befahl María.<br />

Der Hund wurde María hochgereicht. Sie streichelte das Tier und legte es vor sich auf <strong>den</strong><br />

Sattel.<br />

»Wo ist Lugo? Wo ist Ordás? Wo sind die an<strong>der</strong>en?«<br />

»Hier muss etwas geschehen sein!«<br />

»Wur<strong>den</strong> sie überfallen?«<br />

»Lugo hätte seinen Hund nie und nimmer <strong>zur</strong>ückgelassen!«<br />

Cortés befahl, nicht lange herum<strong>zur</strong>ätseln, sie sollten die Gegend absuchen. Mit einigen<br />

Gefährten schwärmte Lope Cano aus. Nach längerem Suchen wurde Ordás schwer verletzt<br />

gefun<strong>den</strong>. So sehr man auch in ihn drang, er konnte noch keine Auskünfte geben; Ordás schüttelte<br />

nur <strong>den</strong> Kopf und winkte schwermütig mit seiner spinnendürren Hand ab.<br />

»Bringt mich in ein Narrenspital! Was soll ich noch unter Christenmenschen!«, ächzte er. Als<br />

sie die Quelle fan<strong>den</strong>, an <strong>der</strong> Lugo und seine Begleiter zuletzt gelagert hatten, ließen die Spuren<br />

des Kampfes keinen Zweifel mehr am schrecklichen Los <strong>der</strong> Unglücklichen. Als sie auch noch<br />

Santisebans Leichnam fan<strong>den</strong>, mussten sie einsehen, dass Ordás als Einziger seiner Abteilung<br />

gerettet wor<strong>den</strong> war; die an<strong>der</strong>en Sechsundvierzig und die drei Pferde hatten die Mexica<br />

gefangen. Rasch bastelten sie eine Bahre für Ordás und zogen weiter auf ihrem Weg nach Osten.<br />

Bald konnten sie die Höhen von Tlaxcala in <strong>der</strong> Ferne ausmachen. Bei einem gemauerten,<br />

von Tempeltrümmern umgebenen Brunnen schlugen sie ihr Nachtlager auf. Seit ihrem Sieg von<br />

Otumba war die Moral <strong>der</strong> Truppe wie<strong>der</strong> hergestellt; ihre Siegesfreude war <strong>der</strong> Grund für


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 324<br />

harmlose Ausgelassenheit. Cortés aber war besorgt. Er hatte noch keinerlei Anzeichen, welchen<br />

Empfang sie in Tlaxcala erwartete, am Tor <strong>der</strong> Großen Mauer. Von Andrés de Tapia, <strong>den</strong> er nach<br />

dem Sieg über Pánfilo de Narváez mit achtzig Männern in Tlaxcala <strong>zur</strong>ückgelassen hatte, fehlte<br />

jede Nachricht. Und <strong>der</strong> Hohe Rat hatte ihnen we<strong>der</strong> Hilfstruppen noch Boten entgegengesandt. Er<br />

musste diese Zurückhaltung wenn nicht als Feindseligkeit, so doch als vorsichtiges Abwarten<br />

deuten. Ob die Nachricht vom Sieg bei Otumba schon in die Stadt gedrungen war, stand dahin.<br />

Cortés vertraute <strong>der</strong> Disziplin seiner Veteranen, aber die Manneszucht <strong>der</strong> Leute des Narváez war<br />

schlecht.<br />

Am Vormittag des folgen<strong>den</strong> Tages erreichten sie endlich die Große Mauer. Cortés fühlte<br />

sich fieberfrei und kräftig genug, auf <strong>den</strong> Blauschimmel Molinero zu steigen. Er ließ die Leute in<br />

Marschformation Aufstellung nehmen und richtete eine Ansprache an sie.<br />

»Wenn ihr in Tlaxcala seid«, sagte er, »benehmt euch beschei<strong>den</strong>, als würdet ihr durch die<br />

Straßen Sevillas gehen. Sprecht nicht überlaut, grölt nicht, rempelt die Indianer nicht an, lauft ihren<br />

Frauen nicht nach. Es wäre ein fluchwürdiges Verbrechen, wollte ein Soldat jetzt einen Tlatepoca<br />

o<strong>der</strong> eine Tlaxcaltekin kränken. Er brächte damit seine Kamera<strong>den</strong> in Gefahr, ja, wir müssten<br />

vielleicht mit dem Verlust unseres Lebens bezahlen und wür<strong>den</strong> viele tausend Seelen <strong>der</strong> Kirche<br />

und treue Bundesgenossen des Kaiser verlieren.«<br />

Dann setzte das Heer sich geordnet in Bewegung und zog, Cortés an <strong>der</strong> Spitze, durch <strong>den</strong><br />

Bogen des turmartig aufragen<strong>den</strong> Tores. Die Otomis <strong>der</strong> Grenzwache wi<strong>der</strong>setzten sich dem<br />

Einzug <strong>der</strong> Christen nicht. Sie grüßten ehrerbietig, erkundigten sich bei <strong>den</strong> heimkehren<strong>den</strong><br />

Tlatepoca nach ihren Landsleuten und beklagten die große Zahl <strong>der</strong> Toten. Ihr Verhalten ließ kein<br />

Schluss auf die Gesinnung des Altenrates in <strong>der</strong> Stadt Tlaxcala zu.<br />

In Huei-Otlipan, Ort-am-großen-Weg, einem Städtchen mit 400 Häusern unweit <strong>der</strong> Großen<br />

Mauer, nahmen sie zunächst Quartier. Ein Empfang durch die Landesfürsten fand auch hier nicht<br />

statt. Cortés sandte zwei einheimische Botschafter an Andrés de Tapia und an <strong>den</strong> Senat von<br />

Tlaxcala, die seine Ankunft und <strong>den</strong> Sieg von Otumba mel<strong>den</strong> sollten, obgleich zu vermuten war,<br />

dass Tapia und <strong>der</strong> Senat längst davon unterrichtet waren.<br />

Kühle Bergwinde wehten in Huei-Otlipan. Die Stadtbewohner lächelten ihren Gästen<br />

freundlich zu, zeigten sich aber, als Lebensmittel verlangt wur<strong>den</strong>, auf ihren Vorteil bedacht.<br />

Speise und Trank gab es nur gegen Bezahlung. Jenseits <strong>der</strong> Großen Mauer hätten die Kastilier<br />

solche For<strong>der</strong>ungen mit dem Degen beglichen, hier aber stand zu viel auf dem Spiel. So bezahlten<br />

sie, um Zwistigkeiten zu vermei<strong>den</strong>, aus ihrer Goldbeute.<br />

Nach drei Tagen kehrten die bei<strong>den</strong> Boten <strong>zur</strong>ück und kündeten die Ankunft des Hohen<br />

Rates und <strong>der</strong> Tetrarchen an, <strong>den</strong>en sie vorausgeeilt waren. Bald ließ sich eine Staubwolke im<br />

Südosten ausmachen, aus <strong>der</strong> beim Näherkommen eine lange Prozession aufgeputzter Indianer<br />

und achtzig in Stahl gekleideter Europäer erkennbar wurde. Die Feldobristen und Cortés ließen<br />

ihre Pagen die Helme und Harnische blank scheuern und ritten an <strong>der</strong> Spitze ihrer Truppe in<br />

Festschmuck vors Stadttor. Dort warteten sie unbeweglich, bis <strong>der</strong> Zug fünfzig Schritt vor ihnen<br />

zum Stehen kam.<br />

Cortés trug wegen <strong>der</strong> Kopfwun<strong>den</strong> we<strong>der</strong> Helm noch Barett; weiß leuchtete <strong>der</strong> Verband<br />

wie ein Siegesreif. Die linke Hand, an <strong>der</strong> er zwei Finger eingebüßt hatte, war ebenfalls verbun<strong>den</strong>.<br />

Auch alle an<strong>der</strong>en Christen waren mit weißen Verbän<strong>den</strong> stolz geschmückt, als wären es<br />

Or<strong>den</strong>szeichen.<br />

Die Träger setzten die königlichen Sänften nie<strong>der</strong>, <strong>den</strong>en die Stadtkönige Wespenring,<br />

Wollring, Blutiger Schild und Tecayahuatzin, Herr des Nebels, Fürst des Freistaates Huexotzinco,<br />

entstiegen. Eine fünfte Sänfte wurde herangetragen; die Christen trauten ihren Augen nicht, als sie<br />

darin Vicente-Goldmaske erblickten, <strong>den</strong> Vernichter <strong>der</strong> bei<strong>den</strong> Brigantinen. Wie selbstsicher<br />

musste er sein, dass er hier zu erscheinen wagte! Außer Hauptmann Andrés de Tapia mit seinen<br />

achtzig Fußsoldaten hatten sich auch <strong>der</strong> Prior des Klosters von Tlaxcala, Juan de las Varillas, und<br />

eine Anzahl Klosterschüler – tlaxcaltekische Adelskin<strong>der</strong> in Mönchskutten – <strong>zur</strong> Begrüßung<br />

eingefun<strong>den</strong>. Auch die verwaisten Söhne des Fürsten Kiefernzweig waren zugegegen.<br />

Mit <strong>den</strong> Kastiliern waren auch die Häuptlinge <strong>der</strong> Hilfstruppen vor das Stadttor getreten,<br />

unter ihnen die Feldherren Tehuch, König Listiger Mar<strong>der</strong>, Blaue Fe<strong>der</strong> und Pimoti. Der Neffe des<br />

Wollrings, <strong>der</strong> in Cholula das Herrschende Raubtier weiß geschminkt hatte, deutete auf<br />

Goldmaske und flüsterte Marina zu:


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 325<br />

»Wenn <strong>der</strong> Grüne Stein erlaubt, steche ich ihn nie<strong>der</strong>!«<br />

Marina wie<strong>der</strong>holte Cortés die Worte. Der aber sagte kurz: »Nein!« Er wandte sich seinen<br />

Männern zu und rief auf Spanisch: »Lasst euch nichts anmerken! Wir müssen gute Miene zum<br />

bösen Spiel machen, nur so können wir gewinnen! Die Zeit <strong>der</strong> Abrechnung wird kommen!«<br />

Er stieg vom Pferd, um <strong>den</strong> Hun<strong>der</strong>tjährigen zu umarmen. Der Blinde vergoss Tränen <strong>der</strong><br />

Rührung, während er die zittrigen Arme um Cortés' Hals legte. Nach ihm umarmte Cortés Wollring,<br />

<strong>den</strong> Blutigen Schild und <strong>den</strong> Prinzen Goldmaske. Auch dieser verhielt sich bei <strong>der</strong> Begrüßung<br />

tadellos und trug eine beflissene Höflichkeit <strong>zur</strong> Schau.<br />

»Zwei Schlangen liebkosen einan<strong>der</strong>«, knurrte Avila dem neben ihm reiten<strong>den</strong> Alvarado zu.<br />

Erst mehrere Tage später erfuhr Cortés, wie Goldmaske in die Berge entkommen konnte.<br />

Der Schlagende Falke war im Auftrag des Überwin<strong>der</strong>s mit einer größeren Heeresabteilung in<br />

Eilmärschen vor die befestigte Stadt Chalco gezogen, um Verhandlungen mit Goldmaske für ein<br />

Bündnis mit Tlaxcala aufzunehmen und ihn für die Einigung und <strong>den</strong> Zusammenschluss aller<br />

indianischen Völker zu gewinnen. Er bediente sich dafür des alten Zauberers Sacusín, <strong>den</strong> er in<br />

<strong>der</strong> Totenkammer <strong>der</strong> Laguneninsel schätzen gelernt hatte. Sacusín gelang es, zu Goldmaske<br />

vorzudringen und ihn für das große Ziel zu gewinnen. Der Schlagende Falke schlug vor, dass<br />

Goldmaske sich bei einem Ausfall von <strong>den</strong> Kriegern Chalcos trennen und in <strong>der</strong> Richtung <strong>der</strong><br />

Weißen Frau fliehen solle. Schlagen<strong>der</strong> Falke würde ihn zum Dank für das Verbrennen <strong>der</strong><br />

Brigantinen nach Tlaxcala entweichen lassen; man werde ihn nur zum Schein verfolgen, um später<br />

die Bundesgenossenschaft mit ihm zu beschließen. Goldmaske nahm <strong>den</strong> Vorschlag an, meinte<br />

jedoch, in Tlaxcala könne er besser für die gemeinsamen Pläne wirken, wenn er nicht als Freund<br />

Mexicos dastehe.<br />

Die Verwirrung, in die das Aztekenreich durch die unglückliche Schlacht bei Otumba und <strong>den</strong><br />

Tod des Überwin<strong>der</strong>s gestürzt wor<strong>den</strong> war, rief <strong>den</strong> Schlagen<strong>den</strong> Falken in die Hauptstadt <strong>zur</strong>ück.<br />

Sein Belagerungsheer aber blieb vor Chalco. Einen Tag nach Cuauhtémocs Abreise flüchtete<br />

Goldmaske wie verabredet und erreichte die Große Mauer ungehin<strong>der</strong>t noch vor Cortés.<br />

Besorgt erkundigten sich die Stadtkönige nach dessen zwei Kopfwun<strong>den</strong>.<br />

»Wenn man siegen will, so wie wir bei Otumba, muss man zahlen!«, sagte er lachend, aber<br />

mit fiebrigen Augen.<br />

Wollring hielt eine feierliche Ansprache:<br />

»O großer Krieger, o Grüner Stein! Der Himmel hat dich beschützt, <strong>der</strong> Himmel hat dich<br />

<strong>zur</strong>ückgeführt zu deinen Freun<strong>den</strong>. Hättest du doch auf mich gehört! Oft habe ich dir abgeraten,<br />

habe ich dich vor dem heimtückischen Mexico gewarnt. Voller Hinterlist hat es <strong>den</strong> Giftstachel<br />

gezückt gegen die Tausende, die von <strong>den</strong> Männern und Frauen, Greisen und Greisinnen, Knaben<br />

und Mädchen Tlaxcalas beweint wer<strong>den</strong>. Doch wahrlich, bei Otumba hast du ihm <strong>den</strong> Stachel<br />

entrissen, ehe die Stiche seiner hun<strong>der</strong>ttausend Hornissen und Moskitos dir Scha<strong>den</strong> taten! Nun<br />

erhole dich bei <strong>den</strong> Tlatepoca, deinen wahren Freun<strong>den</strong>. Tlaxcala freut sich eurer Ankunft und<br />

wird, wenn ihr geruht habt, mit euer Hilfe Rache nehmen und Mexico zerschmettern!«<br />

Den Kastiliern sank eine Zentnerlast von <strong>der</strong> Seele. Jetzt erst, jetzt endlich war alle Gefahr<br />

überstan<strong>den</strong>. Dankbar umarmte Cortés Wollring. Er ließ <strong>den</strong> Quetzalfe<strong>der</strong>schmuck bringen, <strong>den</strong><br />

Juan de Salamanca vom Haupt des Überwin<strong>der</strong>s gerissen hatte, und überreichte ihn dem König<br />

als Geschenk. Kein Tlaxcaltekenfürst konnte höher geehrt wer<strong>den</strong> als durch <strong>den</strong> Besitz <strong>der</strong><br />

mexicanischen Königstrophäe. Die Tetrarchen murmelten beifällig, und ihre Begleiter brachen in<br />

Jubel aus.<br />

�<br />

Beim Einzug in die Stadt Tlaxcala kamen trauernde Mütter und Schwestern <strong>den</strong> Kastiliern in<br />

Scharen entgegen und fragten angstvoll nach ihren Anverwandten. Die Zahl <strong>der</strong> Vermissten und<br />

Gefallenen war erschreckend hoch; allein in <strong>der</strong> noche triste waren viertausend Tlatepoca<br />

umgekommen. Trotzdem bestreuten die Leute <strong>den</strong> Weg <strong>der</strong> Sonnensöhne mit Blumen.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 326<br />

Alvarado, Sandoval, Luis Marin und Quiñones zogen in <strong>den</strong> Palast Wespenrings; Cortés<br />

wohnte in dem auf steilem Flussufer emporragen<strong>den</strong> Tecpan des Wollrings. Dort wurde noch am<br />

gleichen Abend ein Fest für Kastilier und Tlatepoca veranstaltet. Auch Don Vicente-Goldmaske<br />

war erschienen. Auf Anordnung des Generalkapitäns hatten die Christen keine Vorwürfe gegen ihn<br />

erhoben, nicht einmal andeutungsweise.<br />

Der Feldzug, <strong>den</strong> Hernando Cortez in Mexiko durchführte, dauerte kein drei Jahre.1519 trat er seinen Marsch von<br />

Cempoala nach Tenochtitlän an, dessen Route die punktierte Linie auf <strong>der</strong> Karte zeigt. 1520 wich er nach <strong>der</strong><br />

»noche triste« nach Nor<strong>den</strong> aus und zog um <strong>den</strong> See herum nach Tlascala. Ein Jahr später brach er mit einem<br />

neuen Heer nach Tetzcoco auf und eröffnete von da aus seinen Endangriff gegen die Hauptstadt <strong>der</strong> Azteken.<br />

In Jaguarfellmänteln tanzten junge Tlaxcalteken, in langen Klei<strong>der</strong>n und mit dem Schmuck<br />

<strong>der</strong> Tanzgöttinnen behängt die Tlaxcaltekinnen zum ohrenbetäuben<strong>den</strong> Flöten und tönernen<br />

Pfeifen, zum Dröhnen <strong>der</strong> Tamburine und <strong>den</strong> eintönigen, auf- und abschwellen<strong>den</strong> Weisen eines<br />

Sängerchors. Rabenblume hatte, ohne ihren Gatten Alvarado von ihrem Vorhaben in Kenntnis zu<br />

setzen, ihre europäische Kleidung abgelegt und nahm als indianische Prinzessin an dem Reigen<br />

teil.<br />

Goldmaske fragte Sandovals Gattin Doña Ximena, die Enkelin des Wollrings, warum sie<br />

nicht mitsinge und mittanze. Seine Schwester Rabenblume kam ihrer Antwort zuvor und rief<br />

Goldmaske zu:<br />

»Sie will nicht tanzen, weil ihr Schwager Velásquez in Tenochtitlán erschlagen wurde! Sie<br />

will nicht tanzen, weil ihre Schwester Doña Violante auf dem Dammweg erstochen wurde! Mit <strong>den</strong><br />

Brigantinen hätte man sie ans an<strong>der</strong>e Ufer des Schilfsees retten können! Sie wären noch am<br />

Leben – wie viele <strong>der</strong> viertausend toten Krieger, um die Tlaxcala trauert! Aber du hast die bei<strong>den</strong><br />

Schiffe in Brand stecken lassen! <strong>Das</strong> Blut <strong>der</strong> Toten komme über dich, du Mör<strong>der</strong>!«<br />

Schweigen breitete sich aus. Dann entstand Unruhe. Die Freunde Goldmaskes umringten<br />

ihn, um sein Leben zu schützen. Doch sie waren in <strong>der</strong> Min<strong>der</strong>zahl und wur<strong>den</strong> von <strong>den</strong> langsam<br />

herandrängen<strong>den</strong> Tlatepoca umstellt. Drohendes Gemurmel erhob sich.<br />

Eine Stimme schrie: »Mör<strong>der</strong>, gib uns unsere Toten wie<strong>der</strong>!«<br />

»Verleumdung!«, rief Goldmaske in <strong>den</strong> Tumult. »Am Ufer war Flachs gestapelt. Sie<br />

brauchen ihn zum Abdichten <strong>der</strong> Schiffe. Als ich Tenochtitlán verließ, fiel die Fackel eines Sklaven


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 327<br />

versehentlich auf <strong>den</strong> Werg, und ein Windstoß wehte ihn auf die Schiffe. Der Gott des Windes,<br />

Quetzalcoatl war schuld – nicht ich!«<br />

Herausfor<strong>der</strong>nd sah er seine Wi<strong>der</strong>sacher an.<br />

»Er will uns für dumm verkaufen!«, rief jemand.<br />

»Er lügt, <strong>der</strong> Verräter!«, schrie ein an<strong>der</strong>er.<br />

Der Lärm wurde heftiger als zuvor. Doch ehe ein Unheil geschah, bahnte Cortés sich einen<br />

Weg durch die Menge <strong>der</strong> Tänzer und trat dicht an Goldmaske heran.<br />

»Marina, komm auch du«, rief er seiner Geliebten zu, »und übersetze es ihm!« An<br />

Goldmaske gewandt fuhr er fort: »Als du mir gestern in Huei-Otlipan entgegenkamst, um mich zu<br />

begrüßen, hast du auf meine Großmut vertraut.« Der capitán generál wurde aschfahl. Seine Hand<br />

tastete fahrig zum Kopfverband, doch er sprach weiter: »Du sollst dich nicht getäuscht haben. Ich<br />

glaube dir und will auch jetzt nicht an<strong>der</strong>s...« Weiter kam er nicht. Er taumelte und stürzte<br />

bewusstlos zu Bo<strong>den</strong>.<br />

Marina schrie auf. Der Sturz des caudillo lähmte die Anwesen<strong>den</strong>. Alle waren überzeugt, ein<br />

Herzschlag habe seinem Leben ein Ende bereitet. Um Goldmaske kümmerte sich niemand.<br />

Unbehelligt konnten er und seine Freunde <strong>den</strong> Tecpan verlassen.<br />

�<br />

Cortés schwebte einige Tage zwischen Leben und Tod. Leonel de Cerro, <strong>der</strong> verrückte Apotheker,<br />

war in Tenochtitlán ums Leben gekommen. Zum Glück befand sich unter <strong>den</strong> Leuten des Narváez<br />

ein Feldscher, <strong>der</strong> <strong>den</strong> Knochensplitter oberhalb <strong>der</strong> Schläfe aus <strong>der</strong> eitern<strong>den</strong> Wunde entfernen<br />

konnte. Gegen das hartnäckige Wundfieber jedoch besaß er kein wirksames Mittel. Auf Anraten<br />

Marinas bereitete ein einheimischer Arzt eine Medizin aus weißen Chian-Körnern und <strong>den</strong> Wurzeln<br />

<strong>der</strong> Pocahuatli-Pflanze zu. Dem Medizinmann gelang, was dem europäischen »Arzt« misslungen<br />

war: <strong>Das</strong> Fieber schwand.<br />

Abgesandte des Hohen Rates und die Fürsten erschienen immer wie<strong>der</strong> am Krankenlager,<br />

sodass Marina und <strong>der</strong> Feldscher, die um die Ruhe des Kranken fürchteten, sie mit einer Notlüge<br />

fortschickten: Cortés wünsche keine Besuche mehr.<br />

Als das Fieber nachgelassen hatte, empfing Cortés Wespenring und Wollring. Sie<br />

berichteten ihm von einer Sitzung des Hohen Rates. Trotz Rabenblumes Beschuldigungen hatte<br />

Goldmaske die Kühnheit besessen, <strong>zur</strong> Senatssitzung zu kommen. Am Fest hatte er geleugnet,<br />

die Brigantinen zerstört zu haben; in <strong>der</strong> Versammlung aber gab er es zu und rühmte sich sogar,<br />

dass er dem schlimmsten Feind Tlaxcalas auf diese Weise das Rückgrat gebrochen habe, einem<br />

gefährlicheren Feind, als Mexico es gewesen sei! Er erinnerte an die Hinrichtung des Fürsten<br />

Kiefernzweig auf dem großen Marktplatz <strong>der</strong> Stadt, gemahnte an dessen Rede unter dem Galgen.<br />

»Feiglinge seid ihr«, hatte Kiefernzweig in seiner Todesstunde gerufen, »sonst stünde ich nicht<br />

hier! Sonst stünde ich an <strong>der</strong> Spitze eurer Adler und Jaguare und würde mit Schnabel und Klaue<br />

das Fleisch <strong>der</strong> Gelbhaarigen zerhacken!« Goldmaske for<strong>der</strong>te <strong>den</strong> Rat <strong>der</strong> Alten auf, diesmal<br />

mutiger zu sein und ein Schutzbündnis mit Mexico gegen die Christen zu schließen.<br />

Doch Goldmaske hatte die Zahl seiner Gesinnungsgenossen überschätzt; man ließ ihn nicht<br />

weiterre<strong>den</strong>. Sein eigener Großvater, <strong>der</strong> blinde Hun<strong>der</strong>tjährige, erhob die Greisenfaust gegen ihn.<br />

Wollring schmetterte ihm die Faust ans Kinn. Der Senat erklärte ihn für einen Hochverräter, ließ<br />

ihn festnehmen und in einen Holzkäfig sperren. Nun baten die Fürsten Cortés, er möge das<br />

Todesurteil über Don Vicente aussprechen.<br />

Cortés lehnte ab.<br />

»Wenn ich Goldmaske töten lasse, wird sein Anhang wachsen. Wir Christen sind nicht mehr<br />

so mächtig wie damals, als wir <strong>den</strong> Fürsten Kiefernzweig straften. Ein Schwerthieb spaltet Eis,<br />

nicht aber Wasser. Darum lasst ihn frei!«<br />

Die Stadtkönige fügten sich wi<strong>der</strong>willig. Goldmaske wurde auf freien Fuß gesetzt.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 328<br />

�<br />

Geflüchtete Otomis brachten Nachrichten aus Tenochtitlán. Maisblume hatte allmählich Vertrauen<br />

zu Marina gefasst; die Malintzín erzählte ihr eines Tages, dass nach dem Totengericht über <strong>den</strong><br />

Überwin<strong>der</strong> – dem <strong>der</strong> Kahn über <strong>den</strong> Schilfsee nicht verweigert wurde – eine neue Königswahl in<br />

Tenochtitlán stattgefun<strong>den</strong> habe. Der Schlagende Falke sei zum Huei-Tlatoani Mexicos gewählt<br />

wor<strong>den</strong>. <strong>Das</strong> Fest <strong>der</strong> Königskrönung habe man hinausgeschoben, bis <strong>der</strong> junge König von<br />

Tacuba, <strong>der</strong> vor <strong>den</strong> Toren <strong>der</strong> Stadt schwer verwundet wor<strong>den</strong> war, wie<strong>der</strong>hergestellt sei. Beim<br />

Krönungsfest sollte Prinzessin Goldkolibri, die zweite Tochter Moctezumas und Witwe des Edlen<br />

Betrübten, Königin von Mexico wer<strong>den</strong>; <strong>der</strong> Schlagende Falke habe sich auf Wunsch <strong>der</strong><br />

Priesterschaft öffentlich mit ihr verlobt.<br />

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Maisblume Marina bei dieser Nachricht an. Doch die<br />

Zweifel währten nur kurz. Von Schluchzern geschüttelt, brach sie in Tränen aus; ihr Stolz, mit dem<br />

sie bisher das Sklavinnenschicksal ertrug, war gebrochen. Marina tröstete sie, Maisblume<br />

schluchzte an ihrer Brust wie ein Kind bei <strong>der</strong> Mutter. Marina gab ihr Kosenamen, nannte sie<br />

Täubchen und dunkle Schmuckfe<strong>der</strong> und flüsterte ihr zu, sie solle ihr Herz durch Tränen<br />

erleichtern.<br />

Da begann Maisblume zu re<strong>den</strong>. Sie erzählte Marina alles, was sie bedrängte. Zu lange<br />

schon hatte sie geschwiegen. Sie hatte <strong>den</strong> Schlagen<strong>den</strong> Falken verloren, weil sie glaubte, er<br />

habe ihren Vater Moctezuma mit einem Steinwurf getötet. Danach war es ihr gleich, ob sie eines<br />

Christen Weib o<strong>der</strong> Sklavin sei, ob Gallejo o<strong>der</strong> ein an<strong>der</strong>er ihr Gatte werde. Don Pedro Gallejo<br />

war wenigstens ein Ritter und ein zuvorkommen<strong>der</strong> Mann. Sie wi<strong>der</strong>setzte sich <strong>der</strong> Ehe nicht<br />

mehr. Nur <strong>den</strong> einen Wunsch habe sie noch – ihren Vater bestatten zu können.<br />

Marina musste Maisblume versprechen, diesen Wunsch vor Cortés und <strong>den</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Feldobristen geheim zu halten. Wenige Tage später wurde die Hochzeit Don Pedro Gallejos mit<br />

<strong>der</strong> Moctezumatochter gefeiert.<br />

24. Olíd<br />

Herstellung ritueller Fe<strong>der</strong>klei<strong>der</strong><br />

»... habe ich eine Anzahl Indianer zu Leibeigenen gemacht. Ein Fünftel von <strong>den</strong>en habe ich<br />

<strong>den</strong> Beamten Eurer Kaiserlichen Majestät zugewiesen. Diese Leute waren insbeson<strong>der</strong>e<br />

wi<strong>der</strong>spenstig und von mir durch Kriegsgewalt gefangen wor<strong>den</strong>. Überdies waren sie<br />

Menschenfleischfresser. Dieweil dies allbekannt ist, ist es nicht notwendig, dass ich Eurer<br />

Majestät Beweise zukommen lasse.«<br />

(Hernán Cortés, 2. Brief an Kaiser Karl V. vom 30. 10. 1520)<br />

Kaum war Cortés vom Krankenlager genesen, macht er sich daran, die Vorbereitungen für <strong>den</strong><br />

Bau von dreizehn Brigantinen voranzutreiben. Rodrigo Rangel hielt aus diesem Anlass folgende<br />

kurze Ansprache an Cortés:<br />

»Euer Lieb<strong>den</strong> können nicht loslassen! Nicht vom Bau <strong>der</strong> Schiffe und nicht von Mexico!<br />

Viele Mächtige konnten nicht loslassen. Der Colón ging daran zugrunde; viermal fuhr er von<br />

Spanien übers Meer nach Westen und glaubte sich in Indien, wo doch Amerigo Vespucci bald<br />

bewiesen hat, dass er América fand, zu dem auch dieses Neu-Hispanien hier gehört. Der


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 329<br />

Gobernador von Kuba, Diego de Velásquez, mochte auch nicht loslassen, was Ihr ihm entwun<strong>den</strong><br />

habt, und er hat Euer Lieb<strong>den</strong> <strong>den</strong> Narváez auf <strong>den</strong> Hals geschickt, was aber we<strong>der</strong> ihm noch Don<br />

Pánfilo etwas genützt hat. Denn es ist diesem schlecht bekommen. Er sieht nur noch auf dem<br />

rechten Auge, weil <strong>der</strong> schönhändige Lope Cano ihm das linke ausgestochen hat. Unzählig sind<br />

sie, die nicht loslassen können. Auch Blaue Fe<strong>der</strong>, dieser mit uns verbündete Prinz von Tezcoco,<br />

gehört dazu. Mit fester Hand klammert er sich an Euer Lieb<strong>den</strong> in Erwartung reicher Beute und<br />

blutiger Rache in Tenochtitlán – sollten wir es je wie<strong>der</strong> erreichen.<br />

Warum nur klammern sich viele Menschen an ihre Spekulationen, Abstraktionen, Theorien,<br />

Fiktionen, Phantasien und Visionen? Dumm sind sie nicht. Die nicht loslassen können, sind<br />

durchaus kluge Leute, je<strong>der</strong> auf seine Art. Vor allem aber lieben sie die Macht und <strong>den</strong> Reichtum.<br />

Es ist schön, reich und mächtig zu sein. Doch anstrengend ist's, dies zu sichern...«<br />

So sprach Rodrigo Rangel.<br />

Die Schiffe sollten in Einzelteilen nach <strong>den</strong> Zeichnungen und Angaben des<br />

Schiffbaumeisters Martín López in Tlaxcala gebaut wer<strong>den</strong>. Sobald die Lage es gestattete, wür<strong>den</strong><br />

die Bauteile in einigen Monaten von Lastträgern über die Kordilleren an die Ufer <strong>der</strong> Lagune<br />

getragen, wo man sie zusammensetzen und die Betakelung und <strong>den</strong> Stapellauf vornehmen wolle.<br />

Handwerker von Tlaxcala, Huexotzinco und Cholula wur<strong>den</strong> aufgeboten, und bald sah man die<br />

ersten indianischen Zimmerleute an <strong>der</strong> Arbeit: Mit kupfernen Beilen bearbeiteten sie Balken und<br />

begannen die rippenartigen Schiffsspanten herzustellen.<br />

Die altgedienten Feldzugsteilnehmer begrüßten dies als Beweis, dass ihre Flucht aus<br />

Tenochtitlán nur ein Rückzug war und dass sie die Scharte wie<strong>der</strong> auswetzen wür<strong>den</strong>. Die<br />

Soldaten des Narváez aber murrten über die Aussicht, das Goldland mit <strong>den</strong> Blutaltären noch<br />

einmal betreten zu müssen. Ihr Wortführer wurde Andrés del Duero, <strong>der</strong> einstige Gönner des<br />

Cortés, jener secretario des Diego de Velásquez, <strong>der</strong> Cortés' Bestallung zum capitán generál einst<br />

mit bester Tinte geschrieben hatte, de muy buen tinta, sich dafür aber von Cortés auch eine<br />

Beteiligung an <strong>den</strong> Erträgen des Unternehmens erwirkt hatte. Auf Moctezumas Goldschatz stand<br />

ihm kein Recht zu; er begnügte sich mit einem Anteil an <strong>der</strong> Goldbeute von Otumba. Doch er hielt<br />

ihn für gefährdet, wenn Cortés sich auf neue Abenteuer einließe, statt möglichst bald an die Küste<br />

<strong>zur</strong>ückzukehren und sich mit dem Heer nach Kuba einzuschiffen.<br />

Der Generalkapitän konnte keine Revolte brauchen und musste allen Unzufrie<strong>den</strong>en <strong>den</strong><br />

Grund <strong>der</strong> Verbitterung nehmen. Lieber wollte er seine kleine Mannschaft noch weiter dezimieren,<br />

als dass die Tlaxcalteken Zeugen eines Aufstands christlicher Soldaten wür<strong>den</strong>. Er ließ<br />

bekanntgeben, dass er das Kronfünftel <strong>der</strong> Goldbeute von Otumba nach Europa sende. Fünf<br />

Reiter und vierzig Fußsoldaten sollten <strong>den</strong> Schatz nach Veracruz bringen. Je<strong>der</strong>mann, <strong>der</strong> nach<br />

Kuba <strong>zur</strong>ückzukehren wünsche, dürfe sich dem Geleitzug anschließen. Es meldeten sich<br />

zweihun<strong>der</strong>t Mann.<br />

Dem Schiff, das <strong>den</strong> Schatz nach Spanien bringen sollte, wollte er seine Aufzeichnungen,<br />

die er López de Gómera diktiert hatte, für <strong>den</strong> Kaiser mitgeben. Die Nie<strong>der</strong>schriften, die mit dem<br />

Aufbruch nach Cempoala beginnen und mit <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken und dem Rückzug nach<br />

Tlaxcala en<strong>den</strong>, sollten als sein berühmter zweiter Bericht an Kaiser Karl V. in die <strong>Geschichte</strong><br />

eingehen. We<strong>der</strong> das Schriftstück noch das Gold durften Diego de Velásquez in die Hände fallen;<br />

alles musste durch einen verlässlichen Mann an <strong>den</strong> spanischen Hof gebracht wer<strong>den</strong>. Er übergab<br />

beides dem Hauptmann Alonso de Avila, ernannte ihn zum Führer des Geleitzuges und<br />

beauftragte ihn, die Einschiffung <strong>der</strong> heimkehren<strong>den</strong> Mannschaft zu beaufsichtigen, selbst aber auf<br />

einer <strong>der</strong> Karavellen des Narváez nach Spanien zu segeln. Andrés del Duero, <strong>der</strong> secretario,<br />

würde ihn als juristischer Berater begleiten. Um dem Kaiser einen Begriff vom Reichtum Mexicos<br />

zu geben, fügte er dem Gold auch die smarag<strong>den</strong>e Stufenpyramide hinzu, die Olíd nach dem Streit<br />

mit Gallejo herausgeben musste. Der kleine Smaragdfels war mehr wert als <strong>der</strong> ganze Goldschatz.<br />

<strong>Das</strong>s Avila mit diesem Auftrag beehrt wurde, hatte mehrere Gründe. Avila war ein<br />

heißsporniger Abenteurer und mit Alvarado, Sandoval und Luis Marín verfeindet. Trotz häufiger<br />

Ermahnungen suchte er immer wie<strong>der</strong> Streit. Cortés nahm die Gelegenheit wahr, Avila<br />

loszuwer<strong>den</strong>, ohne ihn zu kränken. An<strong>der</strong>erseits ließ sich – außer dass er als Raufbold galt –<br />

nichts Ehrenrühriges gegen ihn sagen. Zwar hatte ihn la Azteca im Schlangensaal des alten<br />

Tecpans <strong>der</strong> Unehrlichkeit beschuldigt, doch konnte Avila sich von ihren und Albornoz'<br />

Anschuldigungen reinwaschen: Er hatte sich nur sein Eigentum nehmen wollen, das ihm von


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 330<br />

Moctezuma beim Patolli-Spiel geschenkt wor<strong>den</strong> war.<br />

Avila mochte ein Räuber sein, sagte sich Cortés, aber er war kein Dieb. Unter Freibeutern<br />

wird ein Räuber nicht missachtet. Der spanische Ehrbegriff war ihm heilig. Er sah auch<br />

einigermaßen gut aus und besaß die Fähigkeit, gewinnend und liebenswürdig zu sein, wenn es<br />

darauf ankam. Seine nach Ruhm und Anerkennung lechzende Eitelkeit wür<strong>den</strong> dafür bürgen, dass<br />

er sich bei Hofe nicht beiseite schieben lassen werde – wie anscheinend die Offiziere<br />

Puertocarrero und Montejo, von <strong>den</strong>en seit einem Jahr, seit ihrer Abreise nach Cadiz, keine<br />

Nachricht eingetroffen war.<br />

Kein Schiff aus Europa hatte sich an <strong>der</strong> Küste blicken lassen. Cortés empfand das<br />

Schweigen seines kaiserlichen Herrn als rätselhaft. Er konnte es sich nur damit erklären, dass<br />

Puertocarrero und Montejo gehin<strong>der</strong>t wor<strong>den</strong> waren, seinen ersten Brief, die Bittschrift des Heeres<br />

und die Geschenke Moctezumas dem Kaiser zu überreichen. Zu Avila hatte Cortés das Vertrauen,<br />

dass er mit Dueros Hilfe erreichen werde, was jenen vielleicht misslang, dass er die Ellenbogen<br />

haben werde, sich einen Weg durch <strong>den</strong> Wall von Bischöfen und Höflingen zu bahnen.<br />

Avila und zweihun<strong>der</strong>t Kastilier zogen ostwärts. Ohne Zwischenfall erreichten sie Veracruz<br />

und schifften sich ein. Gasparo Lencero, <strong>der</strong> Eremit, <strong>der</strong> von seiner Höhle aus die Ermordung <strong>der</strong><br />

Win<strong>den</strong><strong>den</strong> Schlange mit ansehen musste, schloss sich <strong>der</strong> Schatzeskorte nach Veracruz an, weil<br />

er dort einen erkrankten Verwandten besuchen wollte. Avila und Cortés hatten vereinbart, dass die<br />

Einschiffung vom Einsiedler nach Tlaxcala gemeldet würde.<br />

Der Mächtige Felsen im Roten Berg, <strong>der</strong> Vasall des Schlagen<strong>den</strong> Falkens, konnte mit seiner<br />

kleinen mexicanischen Garnison nicht verhin<strong>der</strong>n, dass <strong>der</strong> schwerbewachte Wagenzug sein<br />

Hoheitsgebiet durchquerte. Doch er verkündete hernach seinem Höflingsgefolge mit giftigem<br />

Lächeln, in Zukunft werde er Jacatecutli, dem Herrn <strong>der</strong> Nase und Patron <strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>n<strong>den</strong>, mit<br />

dem Edelsteinwasser jedes durchreisen<strong>den</strong> Christen die Lippen rot schminken. Bald fand er<br />

Gelegenheit, seine Drohung wahrzumachen.<br />

Narváez und Salvatierra konnten sich inzwischen wie<strong>der</strong> frei in Veracruz bewegen. Nach <strong>der</strong><br />

Abreise Dueros und Avilas warnten sie Gasparo Lencero, <strong>den</strong> Rückweg über <strong>den</strong> Roten Berg zu<br />

wählen, doch Lencero schlug die Warnungen in <strong>den</strong> Wind. Er vertraute <strong>der</strong> braunen Eremitenkutte,<br />

in <strong>der</strong> er waffenlos einherging und als heiliger Mann bei allen Indianern von <strong>den</strong> Bergen Tlaxcalas<br />

bis zu <strong>den</strong> Savannen <strong>der</strong> Totonakenküste in hohem Ansehen stand. Er verließ Veracruz, langte<br />

aber nie in Tlaxcala an.<br />

Eines Morgens stand eine Kiste aus Blauholz vor dem großen Osttor. Die tlamamas, die sie<br />

hertrugen, betraten Tlaxcala nicht, son<strong>der</strong>n riefen <strong>den</strong> auf <strong>der</strong> Mauer Posten stehen<strong>den</strong> Otomis zu,<br />

die Kiste sei für <strong>den</strong> Grünen Stein bestimmt, und sie sollten ausrichten: »So beschenkt <strong>der</strong><br />

Mächtige Felsen die Männer des Ostens!« Die Otomis schossen Pfeile auf die Träger ab, und sie<br />

flohen.<br />

Die Kiste wurde in die Stadt zu Cortés geschafft und geöffnet. Sofort breitete sich ein<br />

ekelerregen<strong>der</strong> Gestank aus; in Rin<strong>den</strong>papier gewickelt fan<strong>den</strong> sie Rumpf und Kopf Gasparo<br />

Lenceros. <strong>Das</strong> Herz hatte man ihm aus <strong>der</strong> Brust gerissen, Arme und Beine abgehackt. Die<br />

Spanier waren entsetzt. Olíd for<strong>der</strong>te, dass er als Rächer des heiligen Mannes ausgeschickt<br />

werde. Er übersah, dass er es war, <strong>der</strong> die Scheußlichkeiten <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> – die Pfählung <strong>der</strong><br />

sechzig Kaufleute beim Gemetzel in Cholula – geduldet (o<strong>der</strong> doch nicht verhin<strong>der</strong>t) hatte, um<br />

<strong>der</strong>etwillen Gasparo Lencero <strong>den</strong> Kriegsdienst aufgegeben und sich in die Einsiedlerhöhle<br />

<strong>zur</strong>ückgezogen hatte.<br />

Auch Cortés war <strong>der</strong> Ansicht, er müsse eine Strafexpedition losschicken. Sie sollte an<strong>der</strong>e<br />

lokale Fürsten abschrecken, irgendwelche Unruhen anzuzetteln. Am liebsten hätte er <strong>den</strong><br />

verlässlichen Sandoval in <strong>den</strong> Roten Berg geschickt. Aber weil Olíd nicht nachließ, vertraute<br />

Cortés ihm das Unternehmen schließlich an. Zweitausend Tlatepoca, aber nur fünfundzwanzig<br />

Kastilier begleiteten Olíd. Als Unterfeldherrn nahm er seine Freunde Jacobo Hurtado <strong>den</strong> Reichen,<br />

Lope Cano mit <strong>den</strong> sauberen Hän<strong>den</strong> und die Amazone María de Estrada mit; als Dolmetscher<br />

<strong>den</strong> Frater Aguilár, <strong>der</strong> ihn einst in Cholula weltfremd an sein Erbarmen gemahnt hatte.<br />

Wie vor Jahresfrist öffneten die Bewohner des Weißen Mondgefildes Olíd ihre Tore und<br />

bewirteten ihn und sein Heer. <strong>Das</strong> kleine, <strong>den</strong> Totonaken befreundete Stadtwesen war ein<br />

Spielball <strong>der</strong> Mächte ringsum: erst kürzlich hatte es mit gleicher Servilität aztekischen Truppen die<br />

Tore geöffnet, hatte sich Plün<strong>der</strong>ung, Totschlag, Mädchenraub gefallen lassen und aller Unbill zum


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 331<br />

Trotz Mexico die Treue schwören müssen. Jetzt wie<strong>der</strong> schwor es dem Kaiser Treue und blieb<br />

sein Vasall, solange die Christen innerhalb <strong>der</strong> Mauern weilten. Doch seltsam leer waren die<br />

Gassen. Die Mexica hatten Knaben und Mädchen als Geiseln entführt, und eine vom Heer des<br />

Narváez eingeschleppte Pockenepidemie hatte zwei Drittel <strong>der</strong> Bewohner des Weißen<br />

Mondgefildes hinweggerafft. Die Seuche war inzwischen jedoch weitergezogen, sodass für die<br />

Christen keine Ansteckungsgefahr mehr bestand.<br />

María de Estrada betrat, eine Reitpeitsche in <strong>der</strong> Hand, <strong>den</strong> Saal des Tecpans, in dem an<br />

einem mit Speisen und Getränken reich gedeckten Tisch Cristóbal de Olíd, Lope Cano und<br />

Hurtado tafelten.<br />

»Bei Gott, Doña Maria, kommt zu uns, esst und trinkt mit uns!«, rief Hurtado begeistert.<br />

Jacobo Hurtado aus La Havanna war <strong>der</strong> reichste Mann im Christenheer. Bei <strong>der</strong> Landung an <strong>den</strong><br />

moskitobedeckten Sanddünen nannte er eine <strong>der</strong> elf Karavellen, einen Neger und viele Fässer<br />

Salzfleisch sein Eigen; seine braune Stute hatte ein Graufohlen geworfen. Seit sein Idol, die kleine<br />

schüchterne Tänzerin La Bailadora, nach <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken auf dem Opferstein gestorben<br />

war, liebte er die knabenhafte Amazone. Er musste sich aber keine Hoffnungen machen.<br />

María de Estrada lachte. »Ich kam, um Euch alle zu holen, Señores!«<br />

»Wozu wollt Ihr mich holen?«, murmelte Olíd bärbeißig. »Nur einmal ließ ich mich zum<br />

Sklaven machen!« Er nagte an einem Mar<strong>der</strong>flügel; seine sehnigen Finger trieften von Fett.<br />

»Ihr drei sollt mich auf <strong>der</strong> Jagd begleiten!«<br />

»Wen wollt Ihr <strong>den</strong>n jagen, Señora?«<br />

»Hurtados Fohlen, das voriges Jahr hier in <strong>der</strong> Gegend entlief. Fin<strong>den</strong> wir das Fohlen nicht,<br />

bringen wir einen Hirsch heim!«<br />

»Meint Ihr Euren Gatten Lope?«, platzte Olíd lachend heraus. Pedro Lope Cano schaute<br />

säuerlich, doch Hurtado brach in wieherndes Gelächter aus. »Ich soll wohl mithelfen, ihm ein<br />

Geweih aufzusetzen?«<br />

»Ihr sollt mithelfen, das Graufohlen heimzubringen!«<br />

»Ich wette, aus dem Fohlen wurde eine brünstige Stute. Habe ich nicht recht, Lope? Ihr<br />

könnt doch darüber Auskunft geben«, rief Olíd lachend.<br />

María war Anzüglichkeiten gewöhnt. Sie wie<strong>der</strong>holte die Auffor<strong>der</strong>ung:<br />

»Ja, das Fohlen wird inzwischen erwachsen sein. Vielleicht ist es auch ein Hengst, wer<br />

weiß?«<br />

Olíd blickte unsicher Lope Cano an. »Was meint sie?«, fragte er, <strong>den</strong>n er hatte keine<br />

Ahnung. Von einem Fohlen wusste er nichts, und so mussten sie ihn aufklären, dass damals auf<br />

dem Weg zwischen dem Roten Berg und dem Weißen Mondgefilde Se<strong>den</strong>õs Graufohlen entlaufen<br />

war. Alvarado, María de Estrada und die Reitern Domínguez und Lares hatten die Verfolgung<br />

aufgenommen und dabei auf einem Weideplatz im Wald ein Hirschrudel erspäht, bei dem das<br />

Graufohlen stand, als gehörte es zu ihnen. Als Lares später von Cortés ins Irdische Paradies<br />

gesandt wor<strong>den</strong> war, hatte er nahe beim Weißen Mondgefilde zu sehen geglaubt, wie das Fohlen<br />

am Euter einer Hirschkuh trank.<br />

Olíd sagte grinsend: »Setzt Euch splitternackt aufs Pferd, Amazonenkönigin, und reitet auf<br />

unserem Tisch. Wenn Ihr kein Unheil anrichtet – außer in unseren Herzen -, begleite ich Euch auf<br />

die Jagd!«<br />

María de Estrada rief nach ihrem Pferd. Ohne Wi<strong>der</strong>spruch entkleidete sie sich vor <strong>den</strong><br />

Männern und schwang sich völlig nackt in <strong>den</strong> Sattel; die Reitpeitsche behielt sie in <strong>der</strong> Hand.<br />

Hurtado lehnte ein breites Brett an die Tischkante, damit das Pferd ohne Sprung auf <strong>den</strong><br />

Tisch gelangen konnte. Schlank wie ein schöner Knabe ritt sie auf dem Tisch umher. Keine<br />

Schüssel, we<strong>der</strong> Teller noch Becher wur<strong>den</strong> von <strong>den</strong> Pferdehufen gestreift. Der Saal hatte sich mit<br />

Neugierigen gefüllt; laut klatschten sie Beifall, und maßlos war die Bewun<strong>der</strong>ung Olíds, Se<strong>den</strong>õs,<br />

Canos und <strong>der</strong> Soldaten.<br />

»Ihr jubelt zu früh!«, sagte María de Estrada kalt. Weit holte ihr Arm aus, klatschend fuhr die<br />

Peitsche ihrem Gatten Cano quer übers Gesicht. »Für die Verteidigung meiner Frauenehre«, rief<br />

sie und schlug ein zweites Mal zu mit <strong>den</strong> Worten: »Und dies ist für meine Ehre als<br />

conquistadora!« Damit erntete sie noch stürmischeren Beifall als mit ihrem Ritt.<br />

Lope Cano de las maños pulcros war in <strong>der</strong> Truppe ein angesehener Hellebardier: Er erlegte<br />

<strong>den</strong> Alligator im Nahutla-Fluß und hatte auf <strong>der</strong> Stufenpyramide Cempoalas dem Narváez die


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 332<br />

Wange durchbohrt und ein Auge ausgestoßen. Umso tiefer war jetzt sein Fall. Zum Scha<strong>den</strong> hatte<br />

er auch noch <strong>den</strong> Spott: Er solle seine Gattin zum Duell for<strong>der</strong>n, rieten sie ihm scha<strong>den</strong>froh, <strong>den</strong>n<br />

niemand zweifelte daran, dass er bei einem Waffengang <strong>den</strong> Kürzeren ziehen würde.<br />

Während er sich sein schmerzendes und geschwollenes Gesicht kühlte, ritten Olíd, Hurtado<br />

und María de Estrada aus <strong>den</strong> Toren des Weißen Mondgefildes hinaus und suchten das<br />

Graufohlen. Stun<strong>den</strong>lang streiften sie durch die Gegend, gelangten auch an die Lichtung, wo<br />

María seinerzeit das Fohlen gesehen hatte und wo auch jetzt Hirsche aufgescheucht davonjagten.<br />

Doch sie konnten nichts fin<strong>den</strong>. Hurtado stritt mit <strong>der</strong> Amazone, ob es dieselbe Lichtung sei, auf<br />

<strong>der</strong> sie damals das Fohlen entdeckt hatten. Immerhin erlegten sie einige Moorschnepfen, einen<br />

Fasan, einen Ameisenbären und ein paar goldgelbe Löwenäffchen. Schon wollten sie umkehren,<br />

da knackte es im Unterholz, Gebüsch teilte sich, und ein dunkles Wesen sprang von einer Anhöhe<br />

herab auf sie zu. Erst hielten sie es für einen Luchs, dann für einen menschenähnlichen Affen und<br />

erkannten endlich, dass es ein halb nackter, hünenhafter Neger mit narbigem Gesicht war.<br />

»Don Cristóbal! Don Cristóbal!«, rief <strong>der</strong> Neger auf Spanisch.<br />

María und ihre bei<strong>den</strong> Begleiter zückten die Degen.<br />

»Don Cristóbal, Ihr kennt mich doch...?«, rief er nochmals. »Lasst die Waffen sinken!«<br />

Oft versagte Olíds Gedächtnis, beson<strong>der</strong>s wenn er einen Vorteil darin sah. Doch diesmal<br />

entsann er sich tatsächlich nicht. Er schüttelte <strong>den</strong> Kopf und blickte <strong>den</strong> Schwarzen verdutzt an.<br />

»Ich kann mich nicht erinnern«, brummte Olíd. »Wer bist du?«<br />

»Ihr entsinnt Euch Eures Lei<strong>den</strong>sgenossen nicht, Don Cristóbal? Nun, Ihr seid jetzt ein<br />

großer Herr, und ich bin noch immer ein Sklave. Aber trotzdem müsst Ihr mich doch kennen! Wir<br />

waren aneinan<strong>der</strong> geschmiedet! Ein Jahr lang saß ich mit Euch auf <strong>der</strong>selben Ru<strong>der</strong>bank!«<br />

Olíd hatte nie ein Hehl daraus machte, dass er einst <strong>zur</strong> Galeere verurteilt war; manchmal<br />

hatte er sich sogar damit gebrüstet. Er hatte <strong>den</strong> Neger inzwischen erkannt, es war Eguía. Doch es<br />

ärgerte ihn, unverhofft an eine unrühmliche Vergangenheit erinnert zu wer<strong>den</strong>. María de Estrada,<br />

die seine Gedanken erriet, verstand es, ihn umzustimmen:<br />

»Don Cristóbal, jetzt habt Ihr Gelegenheit, Euch gleichfalls einen Leibneger zuzulegen wie<br />

Cortés und Hurtado!«<br />

Tatsächlich hatte Olíd Cortés und Hurtado oft um ihre Neger beneidet. So fand er <strong>den</strong><br />

Ratschlag <strong>der</strong> Amazone beachtenswert, und seine düsteren Züge hellten sich auf.<br />

»Du bist Francisco Eguía!«, sagte er. »Wir sahen uns zuletzt bei Tortuga.«<br />

Sklavenjäger hatten <strong>den</strong> Schwarzen einst auf dem Sklavenmarkt an <strong>der</strong> Elfenbeinküste <strong>den</strong><br />

Portugiesen verkauft. Als sein Herr am Gelbfieber starb, verkauften die Erben ihn an einen<br />

Spanier: Eguía. Dieser unbeherrschte Sadist quälte seine Sklaven, weshalb er eines Tages von<br />

N'gobo, wie <strong>der</strong> Neger eigentlich hieß, totgeschlagen wurde. Seither nannte N'gobo sich Eguía!<br />

Auf <strong>der</strong> Galeere hatten sie sich kennen gelernt.<br />

»Ich verhalf Euch <strong>zur</strong> Flucht, Don Cristóbal! Wir konnten beide entkommen!«<br />

Olíd nickte. »Es soll dir nicht vergessen sein, Bursche. Was hast du seitdem getrieben?«<br />

Da berichtete <strong>der</strong> Schwarze: Nach <strong>der</strong> Flucht von <strong>der</strong> Galeere hatte er sich einem Hidalgo,<br />

<strong>der</strong> nach Kuba unterwegs war, als Diener angeboten, aber <strong>der</strong> behandelte ihn wie<strong>der</strong> als Sklaven.<br />

Auf <strong>den</strong> Antillen ging er von Hand zu Hand. Sein letzter Herr ließ sich von Narváez anwerben und<br />

nahm ihn mit auf diese unselige Expedition. In Cempoala, noch bevor <strong>der</strong> Priester Guevara in<br />

Tenochtitlán bei Cortés eintraf, erkrankte Eguía an <strong>den</strong> Pocken. Sein Herr wurde von ihm<br />

angesteckt und starb. Die Krankheit brach aus, nachdem Cortés Narváez besiegt hatte; das zum<br />

Entsatz Alvarados nach Mexico eilende Kastilierheer blieb von <strong>der</strong> Seuche verschont. Umso<br />

schlimmer wütete sie unter <strong>den</strong> von Cortés nach Veracruz geschickten, gefangenen Offizieren Don<br />

Pánfilos, unter <strong>der</strong> Besatzung von Veracruz und vor allem unter <strong>den</strong> indianischen Bewohnern<br />

Totonacapans. Für sie gab es kein Heilmittel: Wer an seinem Körper die furchtbaren Pusteln<br />

entdeckte, war ein Kind des Todes. Nur Francisco Eguía, <strong>der</strong> das Ver<strong>der</strong>ben gebracht hatte,<br />

überlebte die Seuche dank seiner robusten Natur. Die Totonaken jagten ihn wie einen räudigen<br />

Hund davon. Nun versuchte er, sich nach Tlaxcala durchzuschlagen.<br />

Se<strong>den</strong>õ fasste Olíd am Arm und flüsterte ihm zu:<br />

»Lasst Euch mit dem nicht ein! Den hat <strong>der</strong> Teufel ins Land gebracht!«<br />

»Umso besser!«, meinte Olíd. »Der Engel des Todes kann mehr Mexica erdrosseln, als<br />

Cortés es vermag!«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 333<br />

Und zu Francisco Eguía gewandt, fragte er:<br />

»Welcher Wind hat dich in diesen Wald geweht?«<br />

»Ich suche einen Herrn«, erwi<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Neger. »Wollt Ihr mein Herr sein?«<br />

»Ja«, sagte Olíd. »Du hast <strong>den</strong> Teufel im Leib! Einen Burschen wie dich kann ich<br />

gebrauchen!«<br />

�<br />

Olíds zweitausend Tlatepoca und die fünfundzwanzig Kastilier umzingelten <strong>den</strong> Roten Berg. Olíd<br />

war als Soldat kein Dummkopf; bevor er zu Kampfhandlungen schritt, wollte er die Waffe <strong>der</strong><br />

Einschüchterung benutzen. Einen ganzen Tag lang stan<strong>den</strong> seine Krieger, stumm und bis an die<br />

Zähne bewaffnet, als Belagerungsring um die Stadt. Die Waffen blitzten im Sonnenlicht, und die<br />

Fe<strong>der</strong>büsche <strong>der</strong> Tlaxcalteken wehten. Nachts sah man die roten Feuerzungen <strong>der</strong> Lagerfeuer<br />

rings um die Stadt, und als <strong>der</strong> zweite Tag heraufdämmerte, warteten die Bewaffneten schon<br />

wie<strong>der</strong> unbeweglich. Da trat eine Abordnung mit weißen<br />

Papierfähnchen aus dem Stadttor und erklärte, <strong>der</strong> Mächtige<br />

Felsen bäte um eine Zusammenkunft mit dem Feldherrn <strong>der</strong><br />

bärtigen Männer – er sei bereit, <strong>den</strong> Streit friedlich<br />

beizulegen.<br />

Die Abbildung zeigt einen aztekischen Schild aus<br />

Fe<strong>der</strong>n mit einem Präriewolf, wie er von<br />

indianischen Kriegern für zeremonielle Zwecke<br />

benützt wurde. Es ist das einzige erhaltene Stück<br />

dieser Art und gehört zu <strong>den</strong> Geschenken, die<br />

Cortez an Karl V. sandte (Museum für Völkerkunde,<br />

Wien)<br />

Doch Olíd war sicher, dass es nicht ohne Blutvergießen<br />

abgehen würde. Die Ermordung des Einsiedlers verlangte<br />

Genugtuung. Dennoch ging er auf <strong>den</strong> Vorschlag ein;<br />

vielleicht konnte er Einblick in Zahl und Stärke des Feindes<br />

gewinnen. Er sei einverstan<strong>den</strong>, ließ er dem Mächtigen<br />

Felsen ausrichten, und erwarte ihn unbewaffnet um die Mittagsstunde vor dem Westtor. Freies<br />

Geleit sei ihm zugesichert.<br />

Um sein Ansehen zu heben, umgab er sich mit <strong>den</strong> gut gekleideten Kastiliern und befahl<br />

dem Neger Eguía, mit gezogenem Schwert dicht hinter ihm zu bleiben. Bevor sie das Weiße<br />

Mondgefilde verließen, hatte Olíd für Eguía ein phantastisches Gewand aus rot gefärbter<br />

Baumwolle schnei<strong>der</strong>n lassen. Nun schritt <strong>der</strong> riesenhafte Schwarze hinter ihm, in rotem, bis zu<br />

<strong>den</strong> Fußknöcheln wallendem Talar und einem blutroten Turban auf dem Kopf, das blinkende<br />

Schwert mit bei<strong>den</strong> Fäusten senkrecht vor sich haltend. Blutrot wie <strong>der</strong> Talar leuchtete <strong>der</strong> Mund<br />

des Negers, weiß wie die Schwertklinge blitzten die Zähne und das Weiße <strong>der</strong> Augen.<br />

Von <strong>den</strong> Großen seines Landes umringt, kam ihnen <strong>der</strong> Mächtige Felsen mit einem<br />

angemessenen Gefolge entgegen. Zwei Sklaven stützten <strong>den</strong> hageren, hakennasigen und<br />

ältlichen Fürst. Ein verächtliches Lächeln kräuselte seine dünnen Lippen, doch ließ er es an<br />

Höflichkeit nicht fehlen. Mit dem Zeigefinger berührte er lässig <strong>den</strong> Erdbo<strong>den</strong> und dann seine Stirn,<br />

entnahm einer von einem Hauserleuchter getragenen Tonvase langstielige Schildkrötenblumen<br />

und reichte sie Olíd <strong>zur</strong> Begrüßung.<br />

Olíd streckte <strong>den</strong> Arm aus, um die Blumen entgegenzunehmen. Ein kräftiger, hoch<br />

gewachsener Mexica drängte sich plötzlich aus <strong>den</strong> Reihen des Gefolges nach vorn, schwang ein<br />

Steinbeil und sprang auf Olíd zu. Aber noch bevor er zuschlagen konnte, traf das Schwert des<br />

Negers seine Hand und trennte sie am Gelenk vom Arm. Wie eine schwere Frucht fiel die Hand<br />

mitsamt dem Steinbeil zu Bo<strong>den</strong>, und ein roter Springbrunnen aus dem Armstumpf übergoss <strong>den</strong><br />

Feldobristen.<br />

»Verrat!«, rief Hurtado.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 334<br />

Und Olíd schrie: »Schlagt zu! Rache für Gasparo Lencero!«<br />

Tumult brach aus, <strong>der</strong> Kampf begann. Durch das offene Tor drangen die wüten<strong>den</strong> Kastilier<br />

und Tlaxcalteken in die Stadt Roter Berg. Sie schonten Frauen, Kin<strong>der</strong> und Greise nicht. Die Hälfte<br />

<strong>der</strong> Bewohner wurde nie<strong>der</strong>gemacht.<br />

Olíd gab Befehl, <strong>den</strong> Überleben<strong>den</strong> <strong>den</strong> Buchstaben G (was guerra bedeuten sollte, Krieg)<br />

auf <strong>der</strong> rechten Wange einzubrennen und sie in Veracruz (<strong>der</strong> Stadt des wahren Kreuzes) als<br />

Sklaven zu verkaufen. Er hoffte, vier Goldpesos für jedes piezo zu erhalten, <strong>den</strong>n die Sklaven<br />

wur<strong>den</strong> als »Stücke« bezeichnet. Insgesamt waren es fünftausend. Der Matrose und Henker<br />

Pedro Osorio war im Hauptheer bei Cortés geblieben, deshalb musste Francisco Eguía die Arbeit<br />

übernehmen. Er führte sie <strong>zur</strong> Zufrie<strong>den</strong>heit seines Herrn aus und brannte mit glühendem Eisen<br />

fünftausendmal <strong>den</strong> Buchstaben G in fünftausend Wangen. Auch dem Mächtigen Felsen und zehn<br />

seiner Hofbeamten blieb dieser Schimpf nicht erspart. Zusätzlich wur<strong>den</strong> sie von Olíd wegen<br />

Mordversuchs zum Tod durch das Schwert verurteilt. Olíd verlor dadurch vierundvierzig<br />

Goldpesos, aber Gerechtigkeit musste sein! Ein Schafott o<strong>der</strong> einen Henkerblock her<strong>zur</strong>ichten,<br />

war <strong>der</strong> Mühe nicht wert. Landsknechte führten <strong>den</strong> Mächtigen Felsen und seine zehn Gefährten<br />

auf die Wiese vor <strong>den</strong> Mauern <strong>der</strong> Stadt. <strong>Das</strong>s <strong>der</strong> Tod dort auf sie wartete, hatte man ihnen auch<br />

nicht mitgeteilt. Sie mussten nie<strong>der</strong>knien. Als <strong>der</strong> erste Kopf fiel, begriffen <strong>der</strong> Mächtige Felsen und<br />

die an<strong>der</strong>en, dass sie sterben mussten. Mit heiterer Miene erhoben sie sich, warfen ihre Klei<strong>der</strong> ab<br />

und begannen zu tanzen und zu singen:<br />

»Kunstvoll ist mein Lied, wie des Tucanvogels Gefie<strong>der</strong>.<br />

Aus einer Goldtrompete steigt mein Lied empor,<br />

Zum Himmel steigt es wie <strong>der</strong> Weihrauch <strong>der</strong> Blumen.<br />

Möge es vor dir in deinem himmlischen Tecpan schweben,<br />

Und bei dir weilen...«<br />

Der Schwarze ging um die Tanzen<strong>den</strong> herum, und ein Kopf nach dem an<strong>der</strong>en rollte ins<br />

Gras.<br />

Olíd war mit dem Neger zufrie<strong>den</strong>. Lope Cano jedoch war es nicht wohl. Die gna<strong>den</strong>lose<br />

Gefühlskälte des Schwarzen ließ ihn schauern. Als sie abends im Feldlager am Feuer saßen,<br />

sagte er zu Olíd:<br />

»Der Eguía, Euer Sklave, ist ein gefährlicher Mann! Man muss sich vor ihm hüten.«<br />

Olíd lachte ihn aus.<br />

»Wenn ich mich mein Lebtag so gehütet hätte wie an<strong>der</strong>e Leute, wäre ich jetzt nicht<br />

Feldobrist! Satan braucht vor Beelzebub nicht auf <strong>der</strong> Hut zu sein!«<br />

�<br />

Sie zogen weiter nach Cempoala. Hier hatte die Seuche schlimmer gewütet als im Weißen<br />

Mondgefilde. Die wenigen Einwohner, die von <strong>den</strong> Pocken verschont geblieben waren, flohen<br />

entsetzt, als die Kunde sich verbreitete, im Gefolge <strong>der</strong> Weißen befinde sich jener schwarze Mann,<br />

dem Totonacapan die Entvölkerung verdankte. Auch <strong>der</strong> dicke Kazike mit seinem Hofstaat und<br />

Heer hatte die Stadt verlassen. Nur Juan Torrés, <strong>der</strong> halb blinde Hüter Unserer Frau <strong>der</strong> blutroten<br />

Rosen, war auf <strong>der</strong> Spitze des Teocalli geblieben.<br />

Olíd empörte sich, dass er mit seinen Leuten nicht standesgemäß empfangen wurde. Mit<br />

María de Estrada stieg er die Stufenpyramide empor und stellte Juan Torrés wegen <strong>der</strong> Flucht<br />

seiner Christengemeinde <strong>zur</strong> Rede. Er war beson<strong>der</strong>s erbost, dass in Cempoala kein<br />

Sklavenmarkt abgehalten wurde, wollte er doch einen Teil seiner Menschenware hier absetzen. Er<br />

fand <strong>den</strong> Greis vor dem Sanktuar von Hun<strong>der</strong>ten Vögeln umgeben, die furchtlos umherhüpften.<br />

»Ihr seid mir ein fahrlässiger Hirte, Señor! Wie konntet Ihr Eure Herde davonrennen lassen!«<br />

»Meine Herde sind diese Vögel hier, Don Cristóbal! Menschen sind keine Herde!«<br />

»Oho, Señor! Wollt Ihr die Bibel verbessern, in <strong>der</strong> vom Menschenhirten die Rede ist? Ich<br />

selbst ge<strong>den</strong>ke auch einer zu sein! Der dicke Kazike aber ist ein hasenfüßiger Fetthammel, <strong>der</strong> am<br />

Spieß geröstet wer<strong>den</strong> sollte!«<br />

»<strong>Das</strong> dürft Ihr nicht sagen, Don Cristóbal! Der Kazike ist ein frommer und christlicher Mann.«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 335<br />

»Ein Hei<strong>den</strong>hund ist er! Unten in <strong>der</strong> Stadt habe ich Dutzende Kreuze entdeckt, an <strong>den</strong>en<br />

kleine Götzen gebun<strong>den</strong> sind. Die getauften Halunken knien vor dem Kreuz und lecken ihren<br />

Göttern heimlich die Füße. Aber Ihr füttert Vögel und seht nichts von hier oben!«<br />

»Ich sehe viel, Don Cristóbal, auch wenn ich fast erblindet bin. Von oben gesehen sieht die<br />

Welt an<strong>der</strong>s aus. Gewiss, die dicke Prinzessin Doña Catalina band kleine Puppen an die Kreuze,<br />

weil die Kreuze die Pocken nicht vertreiben konnten. Nun betet das Volk zu <strong>den</strong> Götzen, wenn es<br />

vor <strong>den</strong> Kreuzen kniet. Aber kommt es <strong>den</strong>n darauf an? Doña Catalina war trotzdem eine fromme<br />

und rechtschaffene Frau. Es kommt ja nur darauf an, dass man richtig betet, dass die Seele Gott<br />

sucht – einerlei, wo sie ihn sucht, wenn sie ihn nur sucht! Mein Verstand ist nicht so gewitzt wie <strong>der</strong><br />

Eure, aber ich wohne höher.«<br />

»Aber Ihr werdet auf dem Scheiterhaufen en<strong>den</strong>!«, bemerkte María de Estrada.<br />

Olíd knurrte: »Seid froh, alter Mann, dass man Euch für einen armen Narren hält, und gebt<br />

acht, dass niemand außer uns bei<strong>den</strong> Euch hört! Mir ist's egal, ich bin dem Großinquisitor keinen<br />

Frondienst schuldig. Doch vernachlässigt Eure Pflicht nicht! Ihr wurdet nicht als Kapellenwächter<br />

eingesetzt, damit Ihr gutheißt, was dies Indianerpack tut. Warum ist die Stadt leer?«<br />

»Die Seuche, Don Cristóbal. Uns Menschen sendet Gott das Glück, aber auch die Seuche.<br />

Die nennen wir Gottes Geißel. In meiner Einfalt kann ich nicht erkennen, warum.«<br />

Mit unstetem Blick fragte Olíd die Amazone:<br />

»Ist <strong>der</strong> alte Hanswurst verrückt, Señora?«<br />

María de Estrada schüttelte <strong>den</strong> Kopf. Teilnahmsvoll fragte sie Juan Torrés:<br />

»Starben <strong>den</strong>n alle Cempoalteken? Auch Doña Catalina India? Auch das Kind Don<br />

Hernándos?«<br />

»Ja, Señora«, sagte Juan Torrés. »Als das Kind erkrankte, schnitt sich Doña Catalina beide<br />

Ohren ab und weihte sie <strong>der</strong> Heiligen Jungfrau, in <strong>der</strong> Hoffnung, ihr Kind zu retten. Als das Kind<br />

starb, behauptete sie, ihr Sohn sei ein Himmelsgott gewor<strong>den</strong>, und sie wollte unbedingt in <strong>den</strong><br />

Himmel, um dort an seiner Seite zu sitzen. Der Allmächtige erfüllte ihr <strong>den</strong> Wunsch.«<br />

»Und <strong>der</strong> dicke Kazike? Lebt er noch?«<br />

»Ja. Aber er ist nicht mehr dick – er ist magerer als Ihr, Señora.«<br />

»Warum verließ er die Stadt?«, fragte Olíd.<br />

Juan Torres bedachte Olíd mit einem raschen Seitenblick. »Weil er die Seuche fürchtet.«<br />

Olíds Gesicht färbte sich krebsrot.<br />

»Bin ich die Seuche?«, rief er. »Sehe ich wie die Seuche aus?«<br />

Da erhob sich Juan Torrés und stand Auge in Auge dem wüten<strong>den</strong> Feldobristen gegenüber.<br />

»Ich sehe, welche Straße Ihr zieht, Don Cristóbal«, sagte er leise. »Ihr selbst wisst es noch<br />

nicht, und keiner weiß es außer mir.«<br />

»Was soll das heißen?«<br />

»Gott erschuf auch die Aasgeier!«<br />

Olíds Hand fuhr zum Schwert, doch María de Estrada packte seinen Ellenbogen und zog ihn<br />

mit sich fort.<br />

»Ihr habt Recht, er ist verrückt«, sagte sie heiser. »Kommt, lasst uns gehen, Don Cristóbal!«<br />

�<br />

Die Hafenfestung Veracruz verschloss ihre Tore, als Olíds Heer heranrückte. Nach längerem<br />

Verhandeln mit Richter Moreno Madrano musste Olíd einwilligen, seinen Neger außerhalb <strong>der</strong><br />

Mauern zu lassen.<br />

Die fünftausend Stück gebrandmarkter Sklaven aus dem Roten Berge kaufte Narváez Olíd<br />

ab. Für Don Pánfilo waren sie gewissermaßen nur Spekulationsware, da <strong>der</strong> an <strong>der</strong> huaxtekischen<br />

Küste <strong>zur</strong>zeit übliche Preis von vierzig Mänteln für einen Sklaven einen nur mäßigen Ertrag<br />

gebracht hätte. Er ließ sie außerhalb <strong>der</strong> Stadt in rasch errichteten Hür<strong>den</strong> unterbringen und<br />

bewachen, um sie bei passen<strong>der</strong> Gelegenheit – sobald Schiffe landeten - nach Kuba zu schaffen<br />

und dort auf <strong>den</strong> Markt zu bringen. Die Bergwerke Kubas waren unersättlich und brauchten ständig<br />

neue Arbeitssklaven. Narváez hoffte ein glänzendes Geschäft zu. Pedro Caballero, <strong>der</strong><br />

Stadtkommandant von Veracruz und Nachfolger Escalantes und Sandovals, ließ <strong>den</strong> von Cortés<br />

gefangenen Offizieren jede Freiheit. Sie durften ihr Geld nach Belieben verschleu<strong>der</strong>n und hätten


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 336<br />

ein benei<strong>den</strong>swertes <strong>Das</strong>ein genießen können, wäre ihnen die Zeit in <strong>der</strong> eintönigen Umgebung<br />

nicht zu lang gewor<strong>den</strong>. Sie hatten keine Disziplin, führten - wie einst Alonso de Grado, Pedro<br />

Baracoa und <strong>der</strong> stelzfüßige Steuermann Gonzalo de Umbría – ein Lotterleben, schimpften über<br />

das »Moskitoland« und bekämpften ihre Langeweile mit Besäufnissen, <strong>den</strong>n Cortés war seinerzeit<br />

zu beschäftigt gewesen, um alle Weinfässer Don Pánfilos zu beschlagnahmen.<br />

<strong>Das</strong> Geschäft mit <strong>den</strong> Sklaven hatte Olíd und Narváez näher gebracht; das unausrottbare<br />

Glück des Cortés hatte sie durch die gemeinsame Missgunst instinktiv zueinan<strong>der</strong> hingezogen.<br />

Weil Gleiches sich gern zu Gleichem gesellt, lu<strong>den</strong> Narváez und Salvatierra Olíd und Aguilár zu<br />

einem Fässchen Alicante ein. Um die Hitze des Tages zu mei<strong>den</strong>, hatten sie sich in einem<br />

Turmzimmer des Stadthauses nie<strong>der</strong>gelassen, des so genannten Kommandantenpalastes. <strong>Das</strong><br />

Ehepaar Cano war ausgeschlossen, weil Lope dem Don Pánfilo des linken Auges beraubt hatte.<br />

»Er tat es aus Ungeschick, <strong>der</strong> Tölpel!«, sagte Don Pánfilo. »So ein Schönhändiger kann<br />

we<strong>der</strong> zielen noch treffen. Er wurde versehentlich zum Held – wie ein an<strong>der</strong>er auch, mit dem ich<br />

gleichfalls nicht zechen würde!«<br />

»Nennt ihn doch beim Namen, <strong>den</strong> Cortésillo!«, feixte Salvatierra. Einst wollte er Cortés'<br />

Ohren zum Frühstück verspeisen, und noch immer bezeichnete er <strong>den</strong> Generalkapitän als <strong>den</strong><br />

Cortésillo, doch heimlich hatte er begonnen, Cortés nei<strong>der</strong>füllt zu bewun<strong>der</strong>n.<br />

Olíd war ein habgieriger Gauner, aber auch ein mutiger Soldat, <strong>der</strong> mit Cortés manches<br />

Gefecht und manche Schlacht überstan<strong>den</strong> hatte. Eine Herabsetzung seines Generalkapitäns<br />

ertrug er nicht. <strong>Das</strong>s Salvatierra vom Cortésillo sprach, mochte noch angehen, doch dass Narváez<br />

<strong>den</strong> Cortés einen versehentlichen Hel<strong>den</strong> nannte, ging ihm gegen <strong>den</strong> Strich.<br />

»Ihr redet wie ein versehentlich Besiegter, Don Pánfilo. Macht Cortés sein Versehen doch<br />

nach! Ihr kennt ihn nicht, obgleich er auf Kuba vorübergehend Euer Untergebener war. Nicht<br />

einmal die, die täglich mit ihm zusammen sind, kennen ihn richtig. Aber eines weiß ich: Cortés wird<br />

einmal als Kaiser von Mexico en<strong>den</strong>!«<br />

Narváez wollte aufbrausen, steckte die Kränkung dann aber weg und spitzte die Ohren.<br />

Válgame Dio! Olíd hatte nur seine eigenen Gedanken verraten, nicht die des Cortés. Doch dies zu<br />

unterschei<strong>den</strong>, war Narváez nicht fähig; er wollte ihn aushorchen.<br />

»<strong>Das</strong> war mir neu. Cortés – Kaiser von Mexico?«<br />

Olíd starrte Narváez wortlos an.<br />

»Spricht er davon, Don Cristóbal?«<br />

Aguilár kam Olíd zuvor und antwortete:<br />

»Cortés <strong>den</strong>kt nicht an solchen Unsinn! Don Juan Velásquez sprach einmal davon, doch<br />

niemals Cortés! Für ihn lege ich meine Hand ins Feuer! Er ist ein treuer Diener Seiner Majestät!«<br />

»<strong>Das</strong> sind wir alle«, sagte Narváez und lüpfte ein wenig seinen Hut. »Aber Cortés ist ein<br />

ungetreuer Diener Seiner Eminenz Juan Rodríguez de Fonseca, dem Bischof von Burgos und<br />

Präsi<strong>den</strong>ten <strong>der</strong> Casa de Contratación de las Indias in Sevilla, des für die neuen überseeischen<br />

Gebiete Spaniens zuständigen Amts <strong>der</strong> indianischen Angelegenheiten! Und ich nenne ihn einen<br />

treulosen Diener seines Wohltäters Don Diego de Velásquez!«<br />

Olíds Faust krachte auf <strong>den</strong> Tisch. Becher fielen klirrend um.<br />

»Sein Wohltäter?«, knurrte er gefährlich. »Ein großartiger Wohltäter, <strong>der</strong> ihm achtzehn<br />

Karavellen in <strong>den</strong> Rücken gesandt hat!«<br />

»Ich bitte, mich nicht zu vergessen!«, rief Salvatierra lachend und schon stark angetrunken.<br />

»<strong>Das</strong>s ich die Ohren Cortésillos nicht verspeisen konnte, war nicht Don Diegos Schuld!«<br />

Die bei<strong>den</strong> an<strong>der</strong>en hörten nicht auf ihn; sie waren aufgesprungen. Olíd wollte nach seinem<br />

Degen greifen.<br />

»Ich bin unbewaffnet«, sagte Narváez.<br />

Da ließ Olíd die Hand sinken. Aguilár flatterte wie ein verschreckter Vogel und war <strong>den</strong><br />

Tränen nahe. Salvatierra aber schüttelte sich vor Lachen. Es gelang ihm, die Kampfhähne zu<br />

beschwichtigen. Sie mussten mit neu gefüllten Bechern anstoßen und sollten in Zukunft heiklen<br />

Gesprächsstoff mei<strong>den</strong>. Er fragte Olíd über <strong>den</strong> Mordanschlag am Tor des Roten Berges aus, und<br />

wie <strong>der</strong> Mächtige Felsen mit <strong>den</strong> aztekischen Fürsten getanzt und gesungen hatte, während<br />

Francisco Eguía ihnen die Köpfe abschlug.<br />

»Wie viele waren es?«, fragte Salvatierra.<br />

»Elf«, antwortete Olíd.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 337<br />

»<strong>Das</strong> waren zu wenig!«, rief Salvatierra lachend. »Don Pánfilo hat auf Kuba immer dreizehn<br />

naturales zu gleicher Zeit einem Baum in die Zweige hängen lassen – zum An<strong>den</strong>ken an Christus<br />

und seine zwölf Apostel!«<br />

»So war es«, bestätigte Narváez, »ich heiligte sie durch ihre Zahl, da sie von Taufe nichts<br />

wissen wollten.«<br />

»Meiner Treu, das ist nachahmenswert«, sagte Olíd anerkennend. »Ich will es mir für<br />

künftige Fälle merken. Nach unserem Sieg bei Otumba haben wir die Gefangenen<br />

nie<strong>der</strong>gestochen – man kann ja nicht alle hungrigen Mäuler stopfen. Jetzt tut es mir leid. Ich hätte<br />

sie in Gruppen zu dreizehn an Bäumen heiligen können!«<br />

»Habt Ihr bei Otumba nicht die Königin von Mexico gefangen?«, fragte Narváez.<br />

»Ich wollte, ich hätte sie gefangen«, entgegnete Olíd, und sein Gesicht verdüsterte sich. Er<br />

fühlte, wie ihn das eine Auge Don Pánfilos durchdringend ansah und ärgerte sich, dass er schon<br />

wie<strong>der</strong> mehr gesagt hatte, als er hatte sagen wollen. Eine Zeit lang saßen die bei<strong>den</strong> Feldobristen<br />

sich schweigend gegenüber. Auf <strong>der</strong> einen Seite Narváez, groß und kurzhalsig, mit rotem Bart und<br />

rotem Haar, die leere Augenhöhle von einem schwarzen Läppchen verdeckt und eine Narbe auf<br />

<strong>der</strong> Wange – die Stelle, die Canos Hellebarde durchstochen hatte; die gesunde Wange leuchtete<br />

wie ein roter Apfel. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite lauerte das bartlose, gefurchte und aschgraue Gesicht<br />

Olíds in seltsamem Gegensatz zu Don Pánfilos Feuergesicht.<br />

Olíd erriet, dass die Gedanken Don Pánfilos auf <strong>der</strong> richtigen Spur waren, doch ihm lag<br />

daran, die Spur zu verwischen. Nachdem er sich nun verraten hatte, war es besser, aus seinen<br />

Absichten auf Maisblume kein Hehl zu machen.<br />

»Die Königin wurde mir von Cortés weggeschnappt«, sagte er leichthin. »<strong>Das</strong> wurmt mich<br />

nicht wenig, kann man für sie doch ein reiches Lösegeld einstreichen.«<br />

»Will Cortés sie verkaufen?«, fragte Salvatierra.<br />

»Nein, er <strong>den</strong>kt nicht daran«, brummte Olíd. »Er legt sich eine Sammlung von<br />

Moctezumatöchtern an. Auch Marina soll ja eine sein.«<br />

»Nun, wenn er Kaiser von Mexico wer<strong>den</strong> will, wie Ihr sagtet, so kann ihm solch eine<br />

Sammlung nützen!«, hetzte Narváez. »Es wun<strong>der</strong>t mich aber, dass ein Mann wie Ihr, Don<br />

Cristóbal, sich die Königin nehmen ließ. Warum lasst Ihr Euch so viel von Cortés gefallen?«<br />

»Er ist unser Befehlshaber, und wir haben ihm geschworen«, sagte Olíd tonlos. Salvatierras<br />

Hetzerei ging ihm auf die Nerven, an<strong>der</strong>erseits aber wurmte ihn <strong>der</strong> Verlust von Maisblume.<br />

»Ist er <strong>den</strong>n mehr als Ihr?«, spottete<br />

Narváez. »Warum genügt es Euch, Diener zu<br />

sein, wenn Ihr doch Herr sein könntet – so gut wie<br />

Cortés?«<br />

Cristóbal Olíd, Hauptmann in Cortés' Heer, später<br />

Obrist, nahm am 14. Juli 1520 an <strong>der</strong> Schlacht von<br />

Otumba teil, während <strong>der</strong> Belagerung von<br />

Tenochtitlán wurde er mehrfach verwundet,<br />

heiratete später Moctezumas Schwester. Er wurde<br />

1524 wegen angeblichen Verrats in Honduras<br />

öffentlich enthauptet.<br />

»Da habt Ihr Recht, Don Pánfilo! Wir<br />

Hauptleute leisten die Arbeit, und er trägt <strong>den</strong><br />

Ruhm davon. Doch sobald etwas misslingt, sind<br />

die Hauptleute schuld. Sein Glück bei Otumba war<br />

geradezu lächerlich: Er wusste nicht einmal, dass<br />

es <strong>der</strong> König von Mexico war, <strong>den</strong> er erschlug!<br />

Und vorher schon – immer wenn er in <strong>der</strong> Klemme<br />

war, hat er sich mit unwahrscheinlichem Glück<br />

retten können. Selbst in <strong>der</strong> noche triste konnte er<br />

die Nie<strong>der</strong>lage abwen<strong>den</strong>. Und was seinen<br />

vielgelobten Sieg über Euch, Don Pánfilo, betrifft, wissen wir beide doch Bescheid, dass in jener


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 338<br />

Nacht ein dummer Zufall regierte.«<br />

Der Wein musste wohl schuld sein, dass es Olíd schon wie<strong>der</strong> entfallen war, dass er vorhin<br />

erst Cortés verteidigt hatte. Da wurde plötzlich Narváez zum Lobredner auf Cortés und schonte<br />

sich selbst dabei nicht.<br />

»Nein, nein, Don Cristóbal, so dürft Ihr über Cortés nicht re<strong>den</strong>. Je<strong>der</strong> Kastilier sollte stolz<br />

auf ihn sein! <strong>Das</strong>s ich <strong>der</strong> Meldung meines Kämmerers Hurtado nicht glaubte, war meine eigene<br />

Dummheit. Trotzdem – mich zu besiegen, bringt nur ein Cortés fertig! Ich will Euch gestehen, dass<br />

er an mir einen Bewun<strong>der</strong>er hat. Wenn ich auch stets sein Feind sein werde, muss ich als Soldat<br />

doch seine Leistung anerkennen. Ich habe ihm auch zehn meiner Offiziere zugeschickt, als ihre<br />

Verwundungen verheilt waren. Sie wollten sich in Tlaxcala unter seine Fahne stellen, und ich<br />

gewährte ihnen die Bitte.«<br />

Erstaunt fragte Olíd: »Ihr habt zehn Mann nach Tlaxcala gesandt? Wann war das?«<br />

»Vor ungefähr acht Wochen, kurz bevor Avila und Duero hier eintrafen«, sagte Narváez.<br />

»Don Andrés de Tapias Schwiegervater Cuhextecatl, <strong>der</strong> sich damals in Veracruz aufhielt,<br />

übernahm die Aufgabe, sie statt über Cempoala, wo die Pocken ausgebrochen waren, <strong>den</strong><br />

südwestlichen Weg über Topeaca zu führen.«<br />

»Dann sind Eure Offiziere wohl tot«, erklärte Olíd. »In Tlaxcala sind sie nie angelangt. Die<br />

Bewohner Topeacas haben zwar vor einem Jahr Seiner Majestät die Treue geschworen, halten<br />

nun aber wie<strong>der</strong> zu Mexico. <strong>Das</strong> habe ich in Tlaxcala erfahren.«<br />

Salvatierra hatte zu viel getrunken. Sein Gesicht wurde weiß wie feuchtes Salz, und er sank<br />

vornüber auf <strong>den</strong> Tisch.<br />

»Was hat er?«, fragte Olíd.<br />

»Er verträgt <strong>den</strong> Anblick voller Becher nicht – und <strong>den</strong> leerer Becher erst recht nicht.«<br />

Aguilár bemühte sich um Salvatierra und richtete ihn auf. Olíd klopfte dem Betrunkenen auf<br />

die Schulter.<br />

»Geht zum Fenster, Señor. Ihr braucht frische Luft.«<br />

Salvatierra stieß Aguilár <strong>zur</strong>ück, <strong>der</strong> ihm behilflich sein wollte, und schwankte ans Fenster.<br />

»Ein Schiff!«, staunte Salvatierra.<br />

»Was grunzt er da?«, fragte Olíd.<br />

»Er meint, hier würde <strong>der</strong> Bo<strong>den</strong> schwanken wie auf einem Schiff«, erwi<strong>der</strong>te Aguilár.<br />

»Dabei ist er selbst es, <strong>der</strong> schwankt.«<br />

»Ein Schiff!«, wie<strong>der</strong>holte Salvatierra am Fenster.<br />

Die drei am Tisch sahen sich an.<br />

»Ein Schiff!«, rief Salvatierra zum dritten Mal. »Kommt her, ich bin kein Lügner! Überzeugt<br />

euch selbst!«<br />

Trompetensignale drangen herein – <strong>der</strong> Alarmruf des Turmwächters von Veracruz. Aguilár<br />

eilte ans Fenster.<br />

»Wahrhaftig, auf <strong>der</strong> Reede draußen! Es segelt auf <strong>den</strong> Hafen zu!«<br />

�<br />

Olíd eilte zu Pedro Caballero, dem Kommandanten <strong>der</strong> Hafenfestung, um sich mit ihm zu beraten.<br />

Er fand ihn am Ufer inmitten einer neugierig auf die Reede starren<strong>den</strong> Volksmenge. Caballero<br />

hatte schon eine Schaluppe <strong>zur</strong> Karavelle gesandt, die gerade ans Ufer <strong>zur</strong>ückkehrte; so erfuhren<br />

sie, dass die Karavelle Francisco de Garay gehörte, dem Gobernador von Jamaica, und von einem<br />

Hauptmann Diego de Camargo befehligt wurde.<br />

Bald nach <strong>der</strong> Gründung von Veracruz war Garay durch die heimkehrende Mannschaft<br />

seiner Schiffe unterrichtet wor<strong>den</strong>, dass Cortés ihm fünf seiner Leute geraubt hatte, darunter <strong>den</strong><br />

Matrosen Pedro de la Harpa und <strong>den</strong> spitznasigen kleinen Gerichtsschreiber Guillén de la Loa.<br />

Diese Scharte musste er auswetzen. Garay nahm sich notgedrungen Zeit, <strong>den</strong>n Jamaica war eine<br />

kleine, karg bevölkerte Insel. Als er vernahm, das Narváez mit achtzehn Schiffen an <strong>der</strong> Küste des<br />

Goldlandes Mexico gelandet sei, nahm er an, Cortés sei besiegt und in Ketten gelegt wor<strong>den</strong>. Sein<br />

Rachefeldzug war damit gegenstandslos gewor<strong>den</strong>, doch von <strong>der</strong> Beute wollte er seinen Teil!<br />

Darum setzte er sein mühsam angeworbenes Heer auf drei Schiffe und befahl dem Hauptmann<br />

Diego de Camargo, Eldorado aufzusuchen. Allerdings war man in Jamaica nicht unterrichtet, wo


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 339<br />

genau es zu fin<strong>den</strong> war. Camargo sollte an <strong>der</strong> Seite Don Pánfilos fechten und <strong>den</strong> Wil<strong>den</strong> so viel<br />

Gold wie möglich abnehmen, danach aber die Schiffe sofort heimschicken, mit Sklaven verfrachtet.<br />

Sein Gönner Juan Rodriguéz de Fonseca, Bischof von Burgos und Leiter <strong>der</strong> indianischen<br />

Angelegenheiten in Sevilla, hatte ihm ein Patent ausgefertigt, das ihm Sklavenraub und<br />

Tauschhandel an <strong>der</strong> Festlandsküste westlich von Florida gestattete.<br />

Doch auf die Bussolen und Seekarten war wenig Verlass, und schließlich trennte ein Sturm<br />

die drei Schiffe. Camargo fand mit seinem leck gewor<strong>den</strong>en Segler nach längerer Suche endlich<br />

Veracruz. Die bei<strong>den</strong> an<strong>der</strong>en Schiffe waren vorerst verschwun<strong>den</strong>.<br />

Erschöpft und halb verhungert wankten die Männer an Land. Kapitän Diego de Camargo<br />

selbst war so krank, dass er seine Ankunft im Hafen nur wenige Wochen überleben sollte. Die<br />

Karavelle hatte eine beträchtliche Ladung Munitionskisten, Armbrüste, Musketen und Pulver an<br />

Bord, dazu vier Kartaunen und zehn Feldschlangen. Olíd nahm in Cortés' Namen sofort Besitz von<br />

<strong>den</strong> Waffen. Von Camargo erfuhr Olíd, dass sich an Bord <strong>der</strong> bei<strong>den</strong> an<strong>der</strong>en Schiffe ebenso viele<br />

Munitionskisten befän<strong>den</strong>, dazu hun<strong>der</strong>tfünfzig Soldaten, kerngesunde Männer, wenn auch vom<br />

Hunger geschwächt. Außerdem sieben Pferde.<br />

»Es wird Euch leicht fallen, meine Soldaten für Euch zu gewinnen«, sagte Camargo und<br />

lächelte müde. »Die bei<strong>den</strong> Schiffe herlocken könnt Ihr aber nicht, das kann nur Gott.«<br />

An<strong>der</strong>ntags tauchten die bei<strong>den</strong> an<strong>der</strong>en Karavellen auf. Der Kapitän <strong>der</strong> zweiten Karavelle<br />

war Olíd von Haiti her bekannt; nach kurzer Überredung willigte er ein, mit seiner Mannschaft unter<br />

Olíds Fahne zu treten. Glücklich gestaltete sich auch die Anwerbung <strong>der</strong> dritten Schiffsmannschaft<br />

(wenn auch nicht für <strong>den</strong> Kapitän). Camargo hatte Olíd gesagt, dass dieses Schiff unter dem<br />

Befehl des Alvarez Pineda, stand – eines wohlhaben<strong>den</strong> Grubenbesitzers, <strong>den</strong> Juan Se<strong>den</strong>õ (<strong>der</strong><br />

Reiche!) kannte; und Frater Aguilár war einst Hausgeistlicher bei Pineda gewesen. In einem Boot<br />

ru<strong>der</strong>ten Se<strong>den</strong>õ, Aguilár und Olíd an das Schiff heran und stiegen an Bord. Sie wur<strong>den</strong> von<br />

Pineda freundlich begrüßt und umarmt. <strong>Das</strong>s <strong>der</strong> tot geglaubte, seit acht Jahren vermisste Aguilár<br />

am Leben war, versetzte Pineda in höchstes Erstaunen, und er konnte sich nicht genug tun mit<br />

Ausrufen <strong>der</strong> Verwun<strong>der</strong>ung und <strong>der</strong> Freude.<br />

Teilnehmend fragte Se<strong>den</strong>õ, ob <strong>der</strong> Gobernador von Kuba sich wohl befinde.<br />

»Don Diego hat Euch zwar gegrollt, Señor Hurtado, weil Ihr Euch Cortés angeschlossen<br />

hattet, aber...«<br />

»Ich?«, unterbrach ihn Hurtado erregt. »Ich tat es nicht aus freien Stücken! Cortés hat wie<br />

ein Seeräuber mein Schiff vor Havanna gekapert und mich als Beutestück mitgeschleppt!«<br />

»Ja, er ist ein Seeräuber«, erklärte Pineda. »Man kann mit ihm kein Mitleid haben. Sein<br />

Schicksal ist verdient. Hat man ihn schon hingerichtet?«<br />

»Nein, noch nicht. Ihr und Camargos Leute seid gerade <strong>zur</strong> rechten Zeit gekommen.<br />

Übermorgen legt er <strong>den</strong> Kopf auf <strong>den</strong> Block, mit zwanzig seiner Anhänger. Ich habe es ihm oft<br />

genug vorausgesagt!«<br />

»Und was macht Don Pánfilo?«<br />

»Oh, dem geht es ausgezeichnet. Er hat Mexico und ein Dutzend <strong>der</strong> umliegen<strong>den</strong> Län<strong>der</strong> in<br />

<strong>der</strong> Gewalt. Augenblicklich ist er im Hafen. Eurem Hauptmann Camargo hat er einen glänzen<strong>den</strong><br />

Empfang bereitet. Kommt gleich mit uns, wir bringen Euch zu ihm!«<br />

Alvarez Pineda war es zufrie<strong>den</strong>. Er stieg mit <strong>den</strong> Besuchern und einer kleinen Gefolgschaft<br />

ins Boot und ließ sich ans Ufer ru<strong>der</strong>n. In zwei warten<strong>den</strong> Schaluppen wurde seine Mannschaft<br />

ausgebootet. Kaum war dies geschehen, trat Olíd auf Pineda zu und for<strong>der</strong>te ihm <strong>den</strong> Degen ab.<br />

»Ist <strong>der</strong> Mann toll?«, fragte Pineda <strong>den</strong> reichen Se<strong>den</strong>õ, und seine Stimme überschlug sich<br />

vor Schreck. »Wer ist er?«<br />

»Ich bin Feldobrist Don Cristóbal de Olíd. Und Ihr seid mein Gefangener!«<br />

»Nein – Ihr seid Gefangener des capitán generál Cortés!«, verbesserte ihn Aguilár, dessen<br />

Vorwitz sogleich durch einen stechen<strong>den</strong> Blick Olíds gestraft wurde.<br />

Pineda versuchte nicht, sich zu wi<strong>der</strong>setzen. Olíd führte ihn in sein Quartier und redete zwei<br />

Stun<strong>den</strong> auf ihn ein, mit dem Ergebnis, dass Pineda sich bereit erklärte, mit seiner Mannschaft in<br />

<strong>den</strong> Dienst Olíds zu treten – nicht aber in <strong>den</strong> Dienst des Cortés. <strong>Das</strong> fand Olíd annehmbar, es<br />

bewies Pineda, dass ein Zwiespalt zwischen Olíd und Cortés bestand. Darüber wollte er mehr<br />

erfahren, deshalb ließ Pineda gegen Abend Bru<strong>der</strong> Aguilár zu sich kommen. Erst machte er ihm<br />

Vorwürfe, dass er an seiner Festnahme durch eine Lüge teilgenommen habe, aber bald sah er


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 340<br />

selber ein, dass <strong>der</strong> Untergebene Olíds nicht an<strong>der</strong>s handeln konnte. Sein Ton wurde immer<br />

herzlicher; bald erging er sich in Erinnerungen an alte Zeiten auf Kuba. Pineda merkte rasch, dass<br />

Aguilár immer noch <strong>der</strong>selbe kindliche Phantast war wie einst, und fragte ihn nach Cortés und Olíd<br />

aus. Ohne Vorbehalt erzählte Aguilár, was er wusste. Olíd schien Cortés zu grollen, weil dieser ihn<br />

gezwungen hatte, Maisblume an Don Pedro Gallejo herauszugeben.<br />

Alvarez Pineda sagte anerkennend: »Cortés' Glück ist sagenhaft! Es lacht ihm selbst in<br />

tiefster Bedrängnis. Erst hat er <strong>den</strong> König von Mexico gestürzt, dann kamen ihm die Heere des<br />

Diego de Velásquez und Garays zugute, und auch mit Doña Marina hat Cortés ein unerhörtes<br />

Glück. Bald wird er Hochzeit mit ihr feiern können.«<br />

»Ist Doña Catalina krank?«, fragte Aguilár besorgt.<br />

»Doña Catalina war immer krank, schwindsüchtig von Jugend auf«, sagte Pineda, »aber jetzt<br />

geht es zu Ende. Als wir von Kuba lossegelten, hatten die Ärzte erklärt, sie habe keine drei<br />

Wochen mehr zu leben. Ja, ja, Cortés hat Glück.«<br />

Aguilár schlief nicht in dieser Nacht. Er wälzte sich herum, betete für die todkranke Gattin<br />

des Generalkapitäns. Doch als die Sonne aufging, schickte er ein Dankgebet zum Himmel. Er war<br />

sicher, dass Cortés <strong>den</strong> Bund mit Marina kirchlich werde segnen lassen.<br />

�<br />

Als Olíd von Caballero, Narváez, Salvatierra und Camargo Abschied genommen und sich nach<br />

Cempoala in Marsch setzte, kommandierte er – außer über die zweitausend Tlaxcalteken – mehr<br />

als hun<strong>der</strong>tfünfundsiebzig Kastilier und dreizehn Pferde. <strong>Das</strong> war mehr, als Cortés in Tlaxcala<br />

<strong>zur</strong>ückbehalten hatte. Und Feuerwaffen besaß Cortés überhaupt keine. Wenn Olíd sich jetzt gegen<br />

Cortés auflehnen würde, hätte <strong>der</strong> Oberst die Übermacht.<br />

Olíd hatte dem dicken Kaziken Botschaft geschickt: Er werde auf dem Rückweg wie<strong>der</strong><br />

durch Cempoala kommen und wünsche ihn in <strong>der</strong> Stadt vorzufin<strong>den</strong>; an<strong>der</strong>nfalls werde er ihn an<br />

einen Baumast hängen, wenn er ihn erwische. Der dicke Kazike, <strong>der</strong> wegen seiner Parteinahme<br />

für Narváez noch immer ein schlechtes Gewissen hatte, fasste dies als Todesurteil auf und<br />

meldete <strong>zur</strong>ück, er begebe sich nach Cempoala und erwarte <strong>den</strong> die Augen aushöhlen<strong>den</strong> Adler.<br />

In Cempoala streuten die heimgekehrten Cempoalteken Blumen auf <strong>den</strong> Weg, wenn sie<br />

auch mit Furcht zum schwarzen Schatten des Feldobristen blickten, <strong>den</strong> mit blanker Klinge hinter<br />

ihm her schreiten<strong>den</strong> Neger.<br />

Was El Gordo betraf, war er kein dicker Kazike mehr, son<strong>der</strong>n zum Skelett abgemagert. Von<br />

zwei Sklaven unter <strong>den</strong> Armen gestützt, kam <strong>der</strong> einstige Fleischberg auf <strong>den</strong> großen Platz<br />

zwischen seinem Tecpan und dem Teocalli Olíd entgegen, keuchend wie ein nach Luft<br />

schnappen<strong>der</strong> Karpfen und an allen Glie<strong>der</strong>n schlotternd. Er beweihräucherte Olíd mit weißen<br />

Kopalkugeln. Auch schwarze Kautschukkugeln ließ er in <strong>den</strong> glimmen<strong>den</strong> Räucherlöffel fallen,<br />

gleichsam als Abwehropfer für <strong>den</strong> entsetzlichen schwarzen Gott. Xicocalcatl-Schilfrohr war ein<br />

Bild des Jammers. Seine Haut hing schlaff und faltig von Wangen, Hals und Armen herab und<br />

schwang bei je<strong>der</strong> Bewegung hin und her wie leere Ziegeneuter. Gesicht und Körper waren<br />

überdies mit weißer Erde geschminkt. Er war in ein Papiergewand gekleidet; ein Papierdiadem<br />

schmückte seine Stirn, und im linken Arm trug er ein totes, rotgelbes Hündchen, in dessen Hals ein<br />

Obsidianpfeil stak.<br />

Der zu Misstrauen neigende Olíd entsann sich, dass Pimoti in Cholula das Herrschende<br />

Raubtier weiß geschminkt hatte. Weiße Schminke bedeutete Krieg! Außerdem beunruhigte ihn <strong>der</strong><br />

tote Hund im Arm des Königs.<br />

»Soll <strong>der</strong> tote Hund ein Hohngeschenk für mich sein?«, fragte er Aguilár.<br />

»Nein, Don Cristóbal. Der Kazike hat <strong>den</strong> Hund an das jenseitige Ufer des neunfachen<br />

Wassers geschickt. <strong>Das</strong> ist ein Strom, <strong>der</strong> nach Ansicht <strong>der</strong> Hei<strong>den</strong> die Totenwelt umgibt. Dort<br />

wartet <strong>der</strong> Hund, bis sein Herr sich zum neunfachen Wasser begibt. Wenn er ihn erblickt, wirft er<br />

sich in <strong>den</strong> Strom, schwimmt heran und hilft seinem Herrn, ans an<strong>der</strong>e Ufer zu gelangen.«<br />

»Was hat <strong>der</strong> Kazike in <strong>der</strong> Hölle zu suchen, solange ich ihn nicht dorthin beför<strong>der</strong>e?«<br />

»<strong>Das</strong> ist es ja, Don Cristóbal. Er <strong>den</strong>kt, Ihr wollt ihn dorthin beför<strong>der</strong>n! Darum hat er sich<br />

weiß bekreidet und trägt das Papierkleid, das die Toten tragen.«<br />

Olíd lachte hell auf. Blitzschnell spießte er das Hündchen auf die Spitze seines Degens und


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 341<br />

schnellte es in weitem Bogen über die Häupter des königlichen Gefolges hinweg, sodass es an<br />

<strong>den</strong> Stufen des Tecpans nie<strong>der</strong>fiel. Der dicke Kazike, überzeugt, <strong>der</strong> Degenstoß gelte ihm, war zu<br />

Bo<strong>den</strong> gesunken und lallte immerzu die Klagelaute: »Aayao, aayao...«<br />

Olíd hatte sich nie die Mühe genommen, die Sprache <strong>der</strong> Einheimischen zu erlernen. Er<br />

beauftragte daher Aguilár, dem dicken Kaziken zu eröffnen, dass das Hündchen für die Totenwelt<br />

nicht mehr vonnöten sei. Die Freude des armen Königs über die erlassene Todesstrafe war<br />

unbeschreiblich, und erneut beteuerte er seine Treue gegenüber Olíd und dem Grünen Stein.<br />

Aguilár musste ihn fragen, ob er von <strong>den</strong> zehn vermissten Offizieren des Narváez, die auf<br />

<strong>der</strong> Straße südlich von Cempoala am Sternberg vorbei nach Tepeaca gezogen waren, etwas in<br />

Erfahrung gebracht habe. Der dicke Kazike machte ein bekümmertes Gesicht. Ja, er wisse, dass<br />

sein Vetter Cuhextecatl mit zehn Sonnensöhnen durch das südliche Totonacapan zum Sternberg<br />

gezogen sei. Von reisen<strong>den</strong> Händlern habe er inzwischen gehört, dass Cuhextecatl und die zehn<br />

Offiziere in Tepeaca auf grausige Weise umgekommen seien.<br />

Was er erzählte, klang schier unglaublich, wurde jedoch wenige Tage später bestätigt. Die<br />

Bewohner Tepeacas hatten die Offiziere und Cuhextecatl gastfreundlich empfangen. Als alle im<br />

Tecpan versammelt waren, schloss man die Türen und legte schwelende Ballen von Chilipfeffer<br />

davor. Kleine Zugluftkanäle sorgten dafür, dass <strong>der</strong> Rauch ins Innere drang, die Eingeschlossenen<br />

betäubte und schließlich erstickte. Dann wur<strong>den</strong> die Toten ausgeweidet, mit Stroh ausgestopft und<br />

an einen Tisch gesetzt. Man brachte <strong>den</strong> Leichen Speisen, Getränke und Blumen und for<strong>der</strong>te sie<br />

auf, es sich es gut schmecken zu lassen. »Esst und trinkt, ihr toten Herren, und genießt das Mahl!<br />

Hier ist alles, was ihr begehrt: geröstete Frösche, Wurzeln, weiße Tomaten und Honigwein.«<br />

Sofort beschloss Olíd, sich in Cempoala nicht aufzuhalten und auf dem schnellsten Weg<br />

nach Cholula zu marschieren, das an Tepeaca grenzte.<br />

�<br />

Schon eine Woche früher als Olíd hatten otomische Spione Cortés von <strong>der</strong> Schandtat in Tepeaca<br />

unterrichtet. Er hatte Tlaxcala sofort mit seinem Heer und vielen Hilfstruppen verlassen und war<br />

vor die sechs Meilen im Südosten Cholulas gelegene Stadt gezogen. Der Anlass kam ihm gerade<br />

recht, weil er vor <strong>den</strong> Pocken davonziehen konnte, die an <strong>den</strong> Grenzen Tlaxcalas aufgetreten<br />

waren.<br />

Cholula hatte von jeher mit Tepeaca in Unfrie<strong>den</strong> gelebt. Als Olíd Cholula erreichte, stellte<br />

Fe<strong>der</strong>herr, <strong>der</strong> junge Priesterkönig Cholulas, gerade ein Heer von zehntausend Mann auf, um an<br />

<strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Christen zu kämpfen. Ihm gesellte sich Prinz Goldmaske mit einigen tausend<br />

Tlaxcalteken hinzu. Der misstrauische Olíd fasste die Rüstung so großer Indianerheere als gegen<br />

sich und Cortés gerichtet auf. Kurz entschlossen bemächtigte er sich des Fe<strong>der</strong>herrs. Er hätte ihn<br />

hinrichten lassen, wäre er nicht von Aguilár daran erinnert wor<strong>den</strong>, dass <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>herr von Cortés<br />

als Priesterkönig eingesetzt wor<strong>den</strong> war. Olíd sandte Fe<strong>der</strong>herr unter starkem Geleit, mit Ketten an<br />

Hän<strong>den</strong> und Füßen, Cortés zu, damit dieser ihn aburteile. Er wusste noch nicht, dass Cortés die<br />

Adler und Jaguare Tepeacas bereits in zwei Feldschlachten besiegt und viele Gefangene gemacht<br />

hatte.<br />

Die Einwohner wollten Cortés' kleiner Streitmacht Wi<strong>der</strong>stand leisten. Nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage in<br />

Tenochtitlán war <strong>der</strong> Nimbus <strong>der</strong> Unbesiegbarkeit von <strong>den</strong> Spaniern abgefallen, und Cortés<br />

wusste, dass er diesen Ruf nur durch harte Entschlossenheit wie<strong>der</strong> herstellen konnte. Er ließ vom<br />

königlichen Notar Godoy eine Verordnung aufsetzen, in <strong>der</strong> er alle <strong>zur</strong> Sklaverei verurteilte, die <strong>der</strong><br />

spanischen Krone Treue geschworen hatten, inzwischen aber wie<strong>der</strong> mit Mexico verbündet waren.<br />

<strong>Das</strong> entsprach durchaus <strong>der</strong> damaligen Denkweise. Außerdem war die Kriegskasse leer, und<br />

Sklaven waren so gut wie Gold. López de Gómera musste im Bericht an <strong>den</strong> Kaiser festhalten:<br />

»... <strong>den</strong>n sie haben Spanier ermordet und sich gegen die Botmäßigkeit Eurer Majestät aufgelehnt;<br />

auch verspeisen sie ihre Opfer und essen Menschenfleisch! Dieweil dies allbekannt ist, ist es nicht<br />

notwendig, dass ich Eurer Majestät Beweise zukommen lasse.«<br />

Natürlich sollte mit <strong>der</strong> Verbreitung von Angst und Schrecken auch Gehorsam erzwungen<br />

wer<strong>den</strong>. Viele Städte beeilten sich, ihren Treueid zu erneuern, während Cortés' Hauptleute und<br />

seine tlaxcaltekischen Verbündeten in alle Richtungen ausschwärmten, mexicanische Garnisonen<br />

angriffen und Sklaven und Beute mitbrachten.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 342<br />

Cortés stellte nach eingehen<strong>der</strong> Untersuchung fest, dass die Anschuldigungen gegen <strong>den</strong><br />

Fe<strong>der</strong>herrn haltlos waren. Es war ihm unangenehm, dass Olíd <strong>den</strong> Fe<strong>der</strong>herrn so behandelt hatte.<br />

Eigenhändig nahm er ihm die Ketten ab, umarmte ihn und bat ihn wegen des Versehens um<br />

Verzeihung.<br />

Cortés bemerkte gegenüber López de Gómera sarkastisch, dass er dem Kaiser nicht nur ein<br />

goldreiches Land erobern und sich dabei spanischer Nei<strong>der</strong> wie Garay und Narváez erwehren<br />

müsse, zu allem Übel drohe auch noch eine Meuterei des Olíd. Er schrieb dem Hauptmann einen<br />

Brief voller Vorwürfe. Die Folge war, dass Olíd mit seinem Heer grollend in Cholula blieb.<br />

�<br />

<strong>Das</strong> gestickte, von weißen und blauen Flammen umzüngelte Goldkreuz mit <strong>der</strong> Umschrift In hoc<br />

signo vinces schimmerte auf <strong>der</strong> schwarzen Samtfahne im Mondlicht. Es war zwei Uhr nachts. Gil<br />

Solis näherte sich leise und flüsterte mit dem Wachtposten. Sie weckten Rodrigo Rangel, <strong>der</strong> vor<br />

dem Zelteingang auf <strong>der</strong> bloßen Erde lag. Der Kämmerer begab sich hinein, um Cortés zu wecken.<br />

Gil Solis wurde ins Zelt gerufen. Nicht umsonst hatte er von seinen Kamera<strong>den</strong> <strong>den</strong> Spitznamen<br />

detrás de la puerta, hinter <strong>der</strong> Tür, erhalten. Wenn dieser Mann dem capitán generál eine<br />

Eröffnung machen wollte, musste er wohl Unerhörtes beobachtet haben.<br />

»Es wird mir nicht leicht, Euer Gna<strong>den</strong>«, begann er, »von meinem Vorsatz abzugehen...«<br />

»Von welchem Vorsatz, mein Sohn?«<br />

»Ich bin ein Beobachter, wie Ihr vielleicht wisst. Ich kann nichts dafür. Es ist mir angeboren,<br />

die Menschen zu ergrün<strong>den</strong>. Man könnte mich einen Diogenes im Fass nennen, nur dass meine<br />

Laterne...«<br />

»... <strong>der</strong> Mond ist«, unterbrach ihn Cortés. »<strong>Das</strong> alles ist mir bekannt. Kommt <strong>zur</strong> Sache,<br />

lieber Freund. Ihr habt mich aus dem Schlaf gerissen.«<br />

»Wenn Euer Gna<strong>den</strong> vorziehen zu schlafen, kann ich es ein an<strong>der</strong>mal sagen«, erwi<strong>der</strong>te Gil<br />

Solis und wandte sich dem Ausgang zu. Enttäuscht wollte er die Tür zu seiner Seele wie<strong>der</strong><br />

zuschlagen und für alle Zeiten verriegeln. Cortés spürte das und hielt ihn freundlich <strong>zur</strong>ück.<br />

»Auf mein Gewissen, ich wollte Euch nicht kränken«, sagte er. »Es müsste einem<br />

altgedientem Soldaten wie Euch eigentlich schmeicheln, dass Euer Feldherr jedes einzelnen<br />

Mannes Son<strong>der</strong>heiten kennt. Ich habe Euren Vorsatz, die beobachteten Laster Eurer Kamera<strong>den</strong><br />

für Euch zu behalten, stets gebilligt. Ihr seid kein Klatschmaul, das rechne ich Euch hoch an.<br />

Etwas Außergewöhnliches muss Euch begegnet sein, sonst kämt Ihr bei nachtschlafen<strong>der</strong> Zeit<br />

nicht zu mir!«<br />

»Ich kann es Euch trotzdem morgen früh erzählen«, sagte Gil Solis.<br />

»Nein, spannt mich nicht so auf die Folter.« Cortés lächelte. »Ihr habt nicht nur mich,<br />

son<strong>der</strong>n auch meine Neugier geweckt. Also sagt, was Ihr zu sagen habt!«<br />

Gil Solis berichtete. Sein Zelt hatte neben dem des Don Pedro Gallejo gestan<strong>den</strong>. Bis spät in<br />

die Nacht hinein war das schwermütige Flötenspiel <strong>der</strong> Gattin Gallejos, <strong>der</strong> Königin Maisblume, zu<br />

ihm herüber geklungen. Schließlich war die Flöte verstummt; das Ehepaar war zu Bett gegangen,<br />

nichts hatte sich mehr gerührt. Doch etwa zwei Stun<strong>den</strong> später war eine dunkle Gestalt um das<br />

Zelt geschlichen und darin verschwun<strong>den</strong>.<br />

»Ein Indianer?«, fragte Cortés.<br />

»Erst glaubte ich es auch. Sieh an, dachte ich, die Stumme hat einen Liebhaber! Doch das<br />

Stelldichein wäre schlecht gewählt gewesen, wenn ihr Mann bei ihr im Schlaf lag. O<strong>der</strong> ist es ein<br />

Bote des Königs von Mexico, <strong>der</strong> ihr einen Gruß überbringen, ihr vielleicht <strong>zur</strong> Flucht verhelfen<br />

will? Vielerlei ging mir durch <strong>den</strong> Kopf. Ich glaubte, ein dumpfes Geräusch gehört zu haben, wie<br />

das Scharren von Pferdehufen. Vorsichtig spähte ich umher und entdeckte das Tier; an einen<br />

Pfosten hinter dem Zelt war es angebun<strong>den</strong>. Plötzlich trat Don Pedro Gallejo aus dem Zelt,<br />

bewaffnet wie <strong>zur</strong> Schlacht. In <strong>den</strong> Armen trug er sein stummes Weib – mir schien, sie sei<br />

ohnmächtig. Er stieg mit ihr auf das Pferd und ritt davon.«<br />

»Und <strong>der</strong> Indianer?«, fragte Cortés.<br />

»Blieb im Zelt, Euer Gna<strong>den</strong>.«<br />

»Merkwürdig«, sinnierte Cortés.<br />

»Da ist noch etwas, Euer Gna<strong>den</strong>. Gallejo hatte sein Helmvisier heruntergelassen. Warum?


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 343<br />

Wollte er in die Schlacht ziehen?«<br />

»Gil Solis, Ihr macht es spannend!«<br />

»Er trug nur einen Handschuh – <strong>den</strong> an<strong>der</strong>en hatte er in <strong>der</strong> Eile wahrscheinlich nicht fin<strong>den</strong><br />

können. Als er aufs Pferd stieg, sah ich im Mondlicht ganz deutlich seine unbehandschuhte Linke.<br />

Sie war schwarz – eine Negerhand!«<br />

»Francisco Eguía, Olíds Neger!«, rief Cortés erregt aus.<br />

»Ja, <strong>der</strong>selbe Gedanke kam auch mir, Euer Gna<strong>den</strong>!«<br />

»Warum habt Ihr es nicht verhin<strong>der</strong>t, Mann?«, fuhr Cortés ihn an.<br />

»Ich habe es versucht, Euer Gna<strong>den</strong>. Doch alles ging so blitzschnell. Ich stürzte hinzu, wollte<br />

die Zügel packen. Da erhielt ich einen kräftigen Stoß in die Schulter und stürzte hin. Der Reiter<br />

aber stob mit <strong>der</strong> Königin davon.«<br />

Cortés eilte mit Gil Solis und <strong>der</strong> Schildwache ins Zelt des Gallejo. Der lag tot in seinem Blut:<br />

man hatte ihm die Kehle von einem Ohr zum an<strong>der</strong>en durchschnitten.<br />

�<br />

Bevor er <strong>den</strong> Schuldigen <strong>zur</strong> Rechenschaft zog, wollte Cortés sich vergewissern, ob sein Verdacht<br />

begründet war. Er ließ <strong>den</strong> Fe<strong>der</strong>herrn durch Marina bitten, heimlich Erkundigungen in Cholula<br />

einzuziehen. Die Boten des Priesterkönigs bestätigten, dass Olíd sich die Königin von Mexico als<br />

Konkubine hielt; sie sei stumm wie ehedem, spiele aber auf ihrer kristallenen Flöte.<br />

Jetzt sandte Cortés <strong>den</strong> kleinen Gerichtsschreiber Guillén de la Loa an Olíd, <strong>der</strong> Obrist solle<br />

sich wegen <strong>der</strong> Ermordung des Don Pedro Gallejo verantworten. Olíd antwortete, ohne sein<br />

Wollen und Wissen habe <strong>der</strong> Neger Eguía ihm, Olíd, aus Übereifer und irregeleiteter Treue die von<br />

Cortés vorenthaltene Genugtuung verschafft. Wegen dieser Eigenmächtigkeit habe er Francisco<br />

Eguía auspeitschen lassen, aber er <strong>den</strong>ke we<strong>der</strong> daran, die Strafe zu verschärfen, noch werde er<br />

zulassen, dass sein Neger von an<strong>der</strong>en Leuten gestraft werde. Schließlich habe <strong>der</strong> Neger <strong>den</strong><br />

durch Gallejo zugefügten Schimpf gerächt.<br />

Alvarado for<strong>der</strong>te im Namen von Gallejos Freun<strong>den</strong>, Cortés solle Olíd <strong>den</strong> Kopf vor die Füße<br />

legen.<br />

»Den Mond vom Himmel zu holen, wäre ebenso leicht!«, erwi<strong>der</strong>te ihm Cortés<br />

achselzuckend. Er musste die Sache vorerst auf sich beruhen lassen. Im Moment fehlte ihm die<br />

Macht, Olíd zu zwingen.<br />

25. Isabel<br />

»Keiner ist unter uns, <strong>der</strong> es nicht für die heiligste Pflicht erachtete, dass wir Diener und<br />

Mehrer <strong>der</strong> Macht Christi und unseres Kaisers sind... In diesem Sinne habe ich im Namen<br />

seiner Kaiserlichen Majestät eine Reihe Kriegsartikel aufgestellt, die euch verlesen wer<strong>den</strong><br />

sollen. Ich ermahne euch, ihnen auf das fleißigste nachzukommen.«<br />

(Hernán Cortés in seinem Dekret an die Truppe vom 22. Dezember 1520)<br />

Anfang November 1520. Seit drei Monaten kämpfte das Christenheer im Sü<strong>den</strong> des Tafellandes.<br />

Cortés schob die Rückkehr nach Tlaxcala auf, weil dort immer noch die Pocken grassierten. In<br />

Tepeaca hatten sie eine Festung errichtet und Villa segura de la frontera getauft. Pedro Baracoa,<br />

<strong>der</strong> Prahlhans ohne Leistungen, hatte sich als Stadtkommandant beworben, doch <strong>der</strong>


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 344<br />

Generalkapitän hielt <strong>den</strong> ehemaligen Reitknecht des Grafen de Urueña nicht für geeignet, einen<br />

solchen Vertrauensposten zu beklei<strong>den</strong>. Doch Sandoval und Luis Marín bewegten ihn schließlich<br />

dazu, die Wahl zu bestätigen. Auf die Eroberung Tepeacas war die Einnahme weiterer aztekischer<br />

Stellungen erfolgt. <strong>Das</strong> Glück hatte sich Cortés wie<strong>der</strong> zugewandt; wie vor <strong>der</strong> noche triste war es<br />

dem entschlossen taktieren<strong>den</strong> Generalkapitän wie<strong>der</strong> gewogen.<br />

Einige Wochen vergingen. Die Seuche war endgültig aus Tlaxcala verschwun<strong>den</strong>, hatte aber<br />

noch Wespenring und Wollring mit in ihr dunkles Reich genommen. Goldmaske war an Stelle<br />

seines Großvaters zum König gewählt wor<strong>den</strong>. An Stelle des Wollrings aber trug sein Neffe Pimoti<br />

die Königstiara.<br />

Nicht ohne Sorge erfuhr Cortés von <strong>der</strong> Rangerhöhung seines Wi<strong>der</strong>sachers Goldmaske,<br />

<strong>der</strong> die Brigantinen zerstört hatte. Der Bau <strong>der</strong> neuen Schiffe war wegen <strong>der</strong> Pockenepidemie<br />

unterbrochen wor<strong>den</strong>; <strong>den</strong> Schiffbaumeister Martín López hatte Cortés mit nach Tepeaca<br />

genommen. Schon im Sommer waren viele Schiffsteile hergestellt wor<strong>den</strong>, und ihre Vernichtung<br />

hätte empfindlich viel Zeit und Mühe gekostet. Cortés beschleunigte die Rückkehr nach Tlaxcala.<br />

Der Feldzug war erfolgreich verlaufen, das Tafelland war befriedet, und alle Staaten zwischen<br />

Tacuba im Westen und dem Sternberg im Osten waren dem Kreuz wie<strong>der</strong> gehorsam, das<br />

Ansehen <strong>der</strong> Kastilier war wie<strong>der</strong>hergestellt. Die neue Festung Villa segura de la frontera – »die<br />

sichere Grenzstadt« – schützte die neuen Vasallen des Kaisers vor <strong>der</strong> Rache Mexicos.<br />

Obgleich Cholula auf dem Weg nach Tlaxcala lag, umging <strong>der</strong> Generalkapitän mit seinem<br />

Heer die heilige Stadt. Die Zeit für eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Olíd war noch nicht gekommen,<br />

so sehr Alvarado, dem <strong>der</strong> chaotische Olíd von jeher zuwi<strong>der</strong> war, auch dazu drängen mochte.<br />

Alvarado war ein tapferer Haudegen, aber kein Politiker. <strong>Das</strong> Unheil, das er am Fest des<br />

Furchtbaren Huitzilopochtli für Freund und Feind heraufbeschworen<br />

hatte, war ihm vergeben, da nicht mehr zu än<strong>der</strong>n, doch hütete Cortés<br />

sich seither, auf seine Ratschläge zu hören.<br />

Flagge von Hernando Cortés<br />

Der Empfang, <strong>den</strong> Tlaxcala dem christlichen Triumphator und<br />

seinem Siegerheer bereitete, war festlicher <strong>den</strong>n je. Cortés und die<br />

Feldobristen hatten an ihren Helmen schwarzen Trauerflor befestigt,<br />

um ihre Teilnahme am Schmerz des Volkes über die Opfer <strong>der</strong><br />

Pocken und <strong>den</strong> Hingang des Wollrings und Wespenrings sichtbar <strong>zur</strong> Schau zu tragen. Die<br />

Tlatepoca fühlten sich geehrt und bewun<strong>der</strong>ten voller Dank <strong>den</strong> theatralischen Pomp. Pimoti,<br />

Listiger Mar<strong>der</strong> und <strong>der</strong> Blutige Schild begrüßten Cortés mit großer Freundlichkeit, Goldmaske<br />

aber hielt sich <strong>zur</strong>ück und zeigte nur diplomatisch-unverbindliche Höflichkeit.<br />

Cortés bezog bei Pimoti Quartier.<br />

�<br />

Der Graue Honigbär, <strong>der</strong> Freund des Schlagen<strong>den</strong> Falkens, und einige vornehme Mexica trafen<br />

eines Nachts in Tlaxcala ein. Lediglich Prinz Goldmaske und mehrere seiner Palastbeamten waren<br />

über ihr Kommen unterrichtet. Seit <strong>den</strong> Verhandlungen in Chalco hatte er sehnlich die Ankunft des<br />

alten Zauberers herbeigewünscht, <strong>der</strong> <strong>den</strong> Tlatepoca die Achtung und Furcht vor <strong>den</strong> Göttern<br />

Anahuacs wie<strong>der</strong> einflößen und sie dem alten Glauben <strong>zur</strong>ückgewinnen könnte. Heimlich ließ er<br />

seine Besucher in seinen Tecpan führen. Bis zum Morgen bewirtete er sie mit Pulque und<br />

Kräutertränken; in hitzigem Gespräch ereiferte er sich gegen die Gelbhaarigen. Als die Sonne sich<br />

erhob, war er betrunken und grölte:<br />

»Als wir die Mexica und ihre Frauen rösteten,<br />

Als wir die Sklavenhalter auswählten<br />

für <strong>den</strong> Opferstein...!«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 345<br />

Mit nachsichtigem Lächeln überhörten die kultivierten Mexica die Entgleisungen des<br />

Babarenkönigs. Als er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, begab er sich in <strong>den</strong> auf schroffer<br />

Höhe gelegenen burgähnlichen Tecpan des Königs Pimoti und suchte Cortés auf. Er habe <strong>den</strong><br />

Besuch von Mexica erhalten, Abgesandte Cuauhtémocs. Er bitte, das Geheimnis zu hüten, da zu<br />

befürchten sei, die gegen Mexico aufgebrachten Tlatepoca könnten sich zu einer unbedachten Tat<br />

hinreißen lassen und das Gastrecht verletzen. Einer <strong>der</strong> Gesandten habe vom Schlagen<strong>den</strong><br />

Falken <strong>den</strong> Auftrag, mit Cortés zu verhandeln. Ob Cortés bereit sei, ihn heimlich in <strong>der</strong><br />

kommen<strong>den</strong> Nacht zu empfangen? Cortés war einverstan<strong>den</strong>. Ob Cortés dem Unterhändler freies<br />

Geleit zusichere? Ja, auch das könne er versprechen.<br />

Gegen Mitternacht wurde ihm <strong>der</strong> Zauberer Sacusín von Dienern des Königs Goldmaske<br />

zugeführt. Nur Marina durfte bei <strong>der</strong> Unterredung zugegen sein.<br />

»O großer Krieger, o Grüner Stein«, begann <strong>der</strong> Graue Honigbär. »König Cuauhtémoc,<br />

dessen Stadt inmitten des Kolbenrohrs steht, sendet dir durch mich seinen Gruß. In Cempoala<br />

blickte er in deine Adleraugen. Er sollte von <strong>den</strong> Totonaken geopfert wer<strong>den</strong>, aber du hast ihn<br />

befreit. In <strong>der</strong> Tiefe deines Herzens sah er Großmut schimmern. Du bist ein Tapferer, und nur<br />

Tapfere können freigebig sein. Die Ängstlichen halten fest, was <strong>der</strong> Himmel und die Erde ihnen<br />

schenken. Du aber weißt, dass du immer wie<strong>der</strong> neu beschenkt wirst. Was kann dir an <strong>der</strong> einen<br />

Gabe des Himmels und <strong>der</strong> Erde gelegen sein?«<br />

Cortés unterbrach:<br />

»Von welcher Gabe sprichst du?«<br />

»O Grüner Stein, <strong>der</strong> Himmel und die Erde haben dir erlaubt, die Königin Maisblume zu<br />

fangen. Nicht über allen Geschenken schwebt Segen: Heiße Edelsteine muss man aus <strong>der</strong> Hand<br />

legen, bevor sie diese Hand verbrennen. Dem Schlagen<strong>den</strong> Falken stirbt das Herz in <strong>der</strong> Brust,<br />

wenn er <strong>der</strong> Gefangenen ge<strong>den</strong>kt. Er bittet dich, sie ihm <strong>zur</strong>ückzugeben.«<br />

Cortés sann eine Weile nach und sagte:<br />

»Die Königin ist ein Pfand in meinen Hän<strong>den</strong>. Cuauhtémoc rechnet auf meine Großmut. Er<br />

vergisst, dass selbst Großmut eine Grenze hat. Allzu großmütig ist nur <strong>der</strong> Narr. Wie soll ich auf<br />

ein Pfand verzichten, gegen das ich reiche Provinzen eintauschen könnte?«<br />

»Welche Provinzen for<strong>der</strong>st du?«, fragte <strong>der</strong> Zauberer.<br />

»Mexico und die Stadt Tenochtitlán!«, entgegnete Cortés leichtfertig. Er staunte selbst über<br />

seine kecke Antwort. »Du siehst, Alter, dass wir nicht handelseinig wer<strong>den</strong> können!«<br />

»O Grüner Stein, <strong>der</strong> Schlagende Falke will die Königin nicht umsonst haben, er will sie<br />

einlösen, will sie dir abkaufen für einen hohen Preis. Und wenn du jetzt auch ungläubig bist – du<br />

wirst <strong>den</strong> Tausch nicht abschlagen.«<br />

»Der König von Mexico muss unermesslich reich sein, wenn er glaubt, mir ein Lösegeld<br />

bieten zu können, das <strong>den</strong> Besitz von Mexico und Tenochtitlán aufwiegt!«<br />

»Die Schatzkammern Anahuacs sind geplün<strong>der</strong>t!«, erwi<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Zauberer mit düsterem<br />

Vorwurf. »Doch <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Welt hat fünf Weiße in seiner Gewalt!«<br />

»Was!« Cortés war überrumpelt.<br />

»Ja, ja, nun flattern Feuerschmetterlinge in deinem Blick, o Grüner Stein! Sechsundvierzig<br />

Kastilier waren im Wald von König Felsenschlange gefangen wor<strong>den</strong>, kurz bevor ihr nach Otumba<br />

zogt. Einundvierzig hat er in seiner Stadt Tezcoco auf <strong>der</strong> Opferblutschale <strong>den</strong> Göttern<br />

dargebracht. Aber vier – die edelsten – sowie eine weiße Jungfrau sandte er nach Tenochtitlán als<br />

Geschenk für Huitzilopochtli. Noch hat man ihnen <strong>den</strong> Edelstein nicht entrissen. Diese fünf bietet<br />

dir <strong>der</strong> Schlagende Falke gegen Königin Maisblume. Die Königin muss bis morgen Mittag an <strong>der</strong><br />

Großen Mauer eintreffen, <strong>den</strong>n das Opferfest in Tenochtitlán ist in drei Tagen.«<br />

<strong>Das</strong> war ein Blitz aus heiterem Himmel! Cortés, <strong>der</strong> eben noch überlegen tat, sah sich<br />

plötzlich vor eine qualvolle Entscheidung gestellt. Ruhelos schritt er im Zimmer auf und ab.<br />

»Stell fest, wen sie haben«, sagte er heiser zu Marina.<br />

Marina war nicht min<strong>der</strong> aufgeregt. Sacusín nannte auf ihre Frage die Namen <strong>der</strong> fünf<br />

Gefangenen: Hauptmann Francisco de Lugo, Fähnrich Villareal, Isabel de Ojeda, Büchsenspanner<br />

Juan de Nájera und <strong>der</strong> Portugiese Alfonso Ferreira.<br />

Cortés dachte laut nach, wie er es öfter vor Marina tat. Zudem verstand <strong>der</strong> Graue Honigbär<br />

kein Spanisch.<br />

»<strong>Das</strong> ist entsetzlich«, begann Cortés. »Wenn bisher Kamera<strong>den</strong> starben, musste ich mir


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 346<br />

sagen, dass es Gottes Wille sei. Als es hieß, die Sechsundvierzig seien gefangen und nur Ordás<br />

durch Zufall gerettet, fand ich mich damit ab – Soldatenschicksal! Auch eben noch, als <strong>der</strong> Alte<br />

vom Opfertod <strong>der</strong> Einundvierzig sprach, nahm ich es als gottgewollt hin. Doch nun hat <strong>der</strong><br />

Schöpfer das Leben dieser fünf Menschen in meine Hand gelegt. Ich bin nicht allmächtig wie er.<br />

Ich zermartere mir das Hirn und sehe keinen Ausweg. Mir fehlt die Macht, Olíd zu zwingen.«<br />

»Zwang erweckt Trotz, Don Hernándo. Aber bittet Olíd – er kann doch so unmenschlich nicht<br />

sein!«<br />

Ich soll von Menschlichkeit zu ihm re<strong>den</strong>, Marina? Olíd und Menschlichkeit? Einem Tiger<br />

nimmt man die Beute nicht durch gutes Zure<strong>den</strong> o<strong>der</strong> Überredung ab. Ich darf <strong>den</strong> Mexica meine<br />

Schwäche nicht zeigen – und <strong>den</strong> Tlatepoca und meinen Leuten erst recht nicht. Soll ich <strong>den</strong><br />

Mexica sagen, ich würde euch ja gern die Königin <strong>zur</strong>ückgeben, hätte ich nur die Streitkräfte, sie<br />

meinem unbotmäßigen Hauptmann abzunehmen! Der Ruhm meines Namens wäre für alle Zeit<br />

dahin!«<br />

»Don Hernándo, das könnt Ihr nicht zulassen!«, rief Marina schluchzend. »Stellt Euch vor:<br />

Lugo, Villareal, Isabel und die an<strong>der</strong>en auf dem Menschenwürgeplatz! Entscheidet Euch nicht in<br />

dieser Nacht! Lasst Euch Zeit bis morgen!«<br />

Cortés gab <strong>den</strong> Bitten Marinas schließlich nach und ließ dem Zauberer mitteilen, die Tochter<br />

Moctezumas sei eine zu wertvolle Geisel, als dass sie mit fünf Gefangenen erkauft wer<strong>den</strong> könne.<br />

Es liege nicht in <strong>der</strong> Absicht des Grünen Steins, Maisblume um einen min<strong>der</strong>en Wert<br />

einzutauschen, als sie darstelle. Doch um in einer so wichtigen Sache nicht vorschnell zu handeln,<br />

wolle er noch einen Tag lang mit sich <strong>zur</strong>ate gehen und werde in <strong>der</strong> folgen<strong>den</strong> Nacht seine<br />

endgültige Entscheidung bekannt geben.<br />

Sacusín war ein guter Menschenkenner. »O Grüner Stein«, sagte er, »in deinem Herzen ist<br />

die Entscheidung schon unverrückbar und du siehst die fünf weißen Opfersklaven schon mit <strong>der</strong><br />

roten Korallenschlange umwun<strong>den</strong>. Be<strong>den</strong>ke: Die Sterne dieser Nacht kehren nie wie<strong>der</strong>! Morgen<br />

wird es zu spät sein.«<br />

»Warum sollte es zu spät sein?«, fragte Cortés.<br />

»O Grüner Stein, weil die Welt morgen eine an<strong>der</strong>e ist, weil die Welt sich wandelt mit jedem<br />

Tag. Der König von Mexico kann die Frist nicht verlängern. <strong>Das</strong> Volk gehorcht ihm – doch er muss<br />

<strong>den</strong> Priestern gehorsam sein. Morgen Abend wirst du re<strong>den</strong>, wie du heute redetest – o<strong>der</strong> du wirst<br />

tot sein.«<br />

Cortés fand keine Ruhe im Kampf mit seinem Gewissen. Auch gegen Marinas Tränen<br />

musste er sich wehren. Schließlich schrieb er, allen Vorsätzen zum Trotz, einen Bittbrief an Olíd.<br />

Der Reiter Domínguez erhielt <strong>den</strong> Auftrag, sich mit dem Brief so schnell wie möglich nach Cholula<br />

zu begeben.<br />

Gegen Morgen traf die Antwort ein. Olíd schrieb: Königin Maisblume sei ein unschätzbares<br />

Lösegeld wert, nicht aber die vermo<strong>der</strong>ten Gebeine längst abgeschlachteter und verzehrter<br />

Christen. Er habe sich bei Cholulteken erkundigt und erfahren, dass alle sechsundvierzig<br />

Gefangene – auch Lugo, Villareal, Isabel de Ojeda und die bei<strong>den</strong> an<strong>der</strong>en – längst <strong>den</strong> Tod auf<br />

dem Opferstein gefun<strong>den</strong> hätten.<br />

Heimlich bei Nacht, wie sie nach Tlaxcala gekommen waren, zogen die Abgesandten des<br />

Schlagen<strong>den</strong> Falkens wie<strong>der</strong> davon – <strong>der</strong> Großen Mauer zu.<br />

In Veracruz landeten <strong>zur</strong> gleichen Zeit dreihun<strong>der</strong>t gut ausgerüstete Männer unter dem<br />

Befehl eines abenteuerlustigen Hidalgos, Don Francisco Hernández. Als er erfuhr, Cortés habe<br />

Narváez besiegt und plane einen neuen Angriff auf Mexico, zog er nach Tlaxcala und stellte sich<br />

und sein Heer unter <strong>den</strong> Oberbefehl des Generalkapitäns.<br />

Wie<strong>der</strong> hatte das Glück sich auf die Seite des Cortés gestellt. Jetzt hätte er Olíd strafen<br />

können, doch war er Politiker genug, es nicht zu tun. Als er Olíd auffor<strong>der</strong>te, sich in Tlaxcala<br />

einzufin<strong>den</strong>, gehorchte <strong>der</strong>. In einer Aussprache unter vier Augen warf Cortés dem Obristen die<br />

Gefangennahme des Fe<strong>der</strong>herrn vor und ließ es bei einem strengen Verweis bewen<strong>den</strong>. Gallejo<br />

und Maisblume wur<strong>den</strong> nicht erwähnt.<br />


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 347<br />

Mit <strong>den</strong> Sklavinnen <strong>der</strong> Herrin von Tula war auch Isabel de Ojeda über <strong>den</strong> See gebracht<br />

wor<strong>den</strong>. Von <strong>den</strong> sechsundvierzig gefangenen Christen war nur noch sie am Leben. Der<br />

Schlagende Falke hatte nach <strong>der</strong> Rückkehr <strong>der</strong> Gesandten Hauptmann Francisco de Lugo,<br />

Fähnrich Villareal, Arkebusier Juan de Nájera und <strong>den</strong> portugiesischen Söldner Alfonso Ferreira<br />

dem Großen Huitzilopochtli opfern lassen. Felsenschlange hatte ihm die vier als Geschenk<br />

ausgehändigt. Der Graue Honigbär hatte gegenüber Cortés auch Isabel de Ojeda erwähnt, doch<br />

Felsenschlange hatte Isabel in Tezcoco <strong>zur</strong>ückbehalten, als er die vier Männer nach Mexico<br />

sandte, <strong>den</strong>n es ging das Gerücht, Königin Maisblume sei von <strong>den</strong> Gelbhaarigen ermordet wor<strong>den</strong>.<br />

Felsenschlange wi<strong>der</strong>setzte sich <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung des Schlagen<strong>den</strong> Falken, dass auch Isabel als<br />

Sühneopfer auf <strong>den</strong> Blutaltar müsse. Ihre Tränen rührten ihn, ihre Schönheit bezauberte ihn; als<br />

Herr <strong>der</strong> Kriegssklavin machte er von seinem Recht Gebrauch, ihr <strong>den</strong> Tod zu erlassen. Er liebte<br />

sie mit ehrfurchtsvoller Hingabe, als wäre sie ein höheres Wesen. Isabel hingegen begegnete ihm<br />

mit herausfor<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Verachtung.<br />

<strong>Das</strong>s Isabel de Ojeda nicht tot war, erfuhr Cortés, als das kastilische Heer wie<strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

Höhe des Kordillerenpasses nördlich <strong>der</strong> Weißen Frau herunterkam und wie vor Jahresfrist<br />

bewun<strong>der</strong>nd – aber dieses Mal auch mit Beklemmung – auf das Hochtal Anahuac und die fünf<br />

Seen hinunterblickte. Da stieß überraschend Blaue Fe<strong>der</strong> zu ihnen und wusste Abenteuerliches zu<br />

berichten. Er war heimlich nach Tezcoco geschlichen und hatte sich sofort mit seinen Anhängern<br />

beraten, wie durch Handstreich das Haus <strong>der</strong> Speere, die Tore und <strong>der</strong> königlichen Tecpan<br />

besetzt wer<strong>den</strong> könnten. Verkleidet bewegte er sich unerkannt bei helllichtem Tag durch die<br />

Gassen. Da erblickte er eine weiße Sklavin – Isabel de Ojeda. Wie zufällig drängte er sich in ihre<br />

Nähe und flüsterte ihr in gebrochenem Spanisch zu: »Erschreckt nicht, Señorita, Eure Befreiung ist<br />

nahe.«<br />

Ein Wächter, <strong>der</strong> Isabel ebenso unauffällig begleitete, wurde aufmerksam. Blaue Fe<strong>der</strong><br />

musste flüchten, wurde eingeholt, überwältigt und gefesselt. Sein Bru<strong>der</strong> Felsenschlange ließ ihn<br />

in das Lustschloss Tezcotzinco schaffen – dorthin, wo einst die Verschwörung <strong>der</strong> Könige gegen<br />

Moctezuma stattgefun<strong>den</strong> hatte. Auf einer senkrecht in <strong>den</strong> Schilfsee abstürzen<strong>den</strong> Felsenterrasse<br />

wur<strong>den</strong> <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> die Fesseln abgenommen. Hofbeamte begrüßten ihn wie einen König,<br />

bewirteten ihn mit Kräutertränken und Früchten und schmückten ihn mit gol<strong>den</strong>en Sandalen,<br />

Ohrgehängen und einem Kolibrife<strong>der</strong>mantel; am Halsausschnitt des Mantels aber befand sich ein<br />

Hanfstrick.<br />

»O großer Krieger«, sagte einer <strong>der</strong> Höflinge, »diesen prachtvollen Mantel schenkt dir König<br />

Felsenschlange!«<br />

Er gab <strong>den</strong> vier warten<strong>den</strong> Dienern ein Zeichen; sie sprangen herbei, um die En<strong>den</strong> des<br />

Strickes zu fassen. Blaue Fe<strong>der</strong> hob abwehrend die Hand. »Lasst mich noch einmal meinen See<br />

und meine Berge sehen, ehe ich mich ausruhe!«<br />

<strong>Das</strong> durften sie ihm nicht abschlagen. Blaue Fe<strong>der</strong> trat an die Brüstung und blickte auf <strong>den</strong><br />

blau leuchten<strong>den</strong> See hinunter. Blitzschnell streifte er <strong>den</strong> Mantel ab, schwang sich aufs Gelän<strong>der</strong><br />

und warf sich mit fe<strong>der</strong>ndem Sprung in die Tiefe. Nur wenig spritzte das Wasser auf, als er<br />

eintauchte. Als er nach einer Weile in die Höhe kam, um Atem zu schöpfen, erblickte er unter <strong>den</strong><br />

Bogenschützen seinen Bru<strong>der</strong>.<br />

»Lasst ihn«, befahl Felsenschlange, »<strong>der</strong> Gott des Wassers will es so!«<br />

�<br />

Den Brunnen <strong>der</strong> Verjüngung suchte Ordás nicht mehr. Er hatte sich von seiner Verletzung so weit<br />

erholt, dass er seinen Platz im Heer wie<strong>der</strong> einnehmen konnte. Sein neues Ziel war die Befreiung<br />

seines Mündels Isabel de Ojeda. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich (wie er sagte) im<br />

Ze<strong>der</strong>nwald von Teotihuacan hat übertölpeln lassen, statt ihr im Augenblick <strong>der</strong> höchsten Gefahr<br />

<strong>zur</strong> Seite zu stehen.<br />

Cortés rückte weiter gegen Tezcoco vor. Am Abend lagerten sie im fünf Meilen südlich <strong>der</strong><br />

Stadt gelegenen Weiler Coltepec, dem Wachtelberg, und entdeckten an <strong>der</strong> Wand eines Palasts<br />

eine mit Kohle geschriebene Inschrift: »Gefangen weilte hier, auf dem Weg zu <strong>den</strong> Altären<br />

Mexicos, <strong>der</strong> unglückliche Francisco de Lugo.« Und von an<strong>der</strong>er Hand war kaum leserlich darunter<br />

gekritzelt: »Wir sollen gefressen wer<strong>den</strong>. Glücklich ist Santisteban, <strong>der</strong> im Kampfe fiel; glücklich


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 348<br />

sogar Isabel, die des Kaziken Metze ward.«<br />

Am nächsten Tag rückten die Christen – fünfhun<strong>der</strong>tvierzig Fußsoldaten, vierzig Reiter und<br />

fünfundzwanzigtausend Tlatepoca – bis vor die Tore Tezcocos. Adlerfürsten des Königs<br />

Felsenschlange fan<strong>den</strong> sich bei Cortés ein, überreichten ihm als Huldigungsgeschenk des Königs<br />

ein Edelsteinhalsband sowie Schmucksachen aus gehämmertem Gold. Der König, erklärten sie,<br />

heiße <strong>den</strong> Grünen Stein und dessen kühne Krieger willkommen und freue sich, sie in seinem<br />

Tecpan zu beherbergen und reich zu bewirten.<br />

Cortés ließ durch Marina erwi<strong>der</strong>n: Ehe er als Gast die Stadt betrete, verlange er die<br />

Rückgabe Isabels und die Auslieferung des Königs samt aller an<strong>der</strong>en Verbrecher, die an <strong>der</strong><br />

Ermordung Lugos und seiner Gefährten mitschuldig seien.<br />

Die Abgesandten blickten einan<strong>der</strong> bestürzt an. Es gäbe einige Leute in <strong>der</strong> Stadt, erklärten<br />

sie verlegen, die um <strong>den</strong> Edlen Betrübten weinten, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Schatzkammer des Königs<br />

Wassergeist erdrosselt wurde; deshalb hätten sie sich an <strong>den</strong> gefangenen Christen gerächt. <strong>Das</strong><br />

konnten die übrigen Bewohner Tezcocos und auch König Felsenschlange nicht verhin<strong>der</strong>n.<br />

Die vier Unterhändler kehrten in die Stadt <strong>zur</strong>ück. <strong>Das</strong> Tor wurde hinter ihnen geschlossen,<br />

und auf <strong>der</strong> Stadtmauer zeigten sich Schildträger und Bogenschützen: Tezcoco richtete sich auf<br />

eine Belagerung ein. Doch als am folgen<strong>den</strong> Morgen die Artillerie die ersten zwei Steinkugeln mit<br />

lautem Gedonner in die Stadt geschleu<strong>der</strong>t hatte, öffneten sich die Tore. Ein Parlamentär mit<br />

weißem Papierfähnchen erschien; er war ein Getreuer <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> und bat um Schonung <strong>der</strong><br />

Stadt und Einstellung <strong>der</strong> Feindseligkeiten. König Felsenschlange sei mit seiner Mutter, <strong>der</strong> Herrin<br />

von Tula, und seinem ganzen Anhang in <strong>der</strong> Nacht über <strong>den</strong> See nach Tenochtitlán geflohen; nur<br />

noch Freunde <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> weilten innerhalb <strong>der</strong> Mauern. Felsenschlange habe Isabel de<br />

Ojeda mit über <strong>den</strong> See genommen, sodass ihre Rückgabe nicht möglich sei.<br />

<strong>Das</strong> Heer zog in Tezcoco ein und wurde von <strong>den</strong> Einwohnern freundlich begrüßt. Die<br />

Christen wateten förmlich durch Blumen. Doch <strong>der</strong> Jubel fand ein jähes Ende, als im Sanktuar des<br />

Tezcatlipoca-Tempels einundvierzig frisch gegerbte weiße Menschenhäute entdeckt wur<strong>den</strong>, dazu<br />

die Felle <strong>der</strong> Grauschimmelstute Diegos de Ordás und <strong>der</strong> bei<strong>den</strong> an<strong>der</strong>en Pferde von Francisco<br />

de Lugo und Antonio Villareal. Trauer und Wut erfüllte die Soldaten; sie verlangten die Verurteilung<br />

<strong>der</strong> Schuldigen.<br />

Cortés musste Gericht halten. Er fragte die versammelten Wür<strong>den</strong>träger, wie es zu erklären<br />

sei, dass von seinen Kampfgenossen nur die Häute sich erhalten hätten. Und wo <strong>den</strong>n ihre<br />

Schädel und Knochen seien? Denn er habe vor, ihnen ein christliches Begräbnis zuteil wer<strong>den</strong> zu<br />

lassen.<br />

Betretenes Schweigen breitete sich aus.<br />

»Ich warte nicht lange auf Antwort«, drohte <strong>der</strong> caudillo, »dann brennt eure Stadt.«<br />

Ein alter Fürst trat vor. »Die Schädel«, sagte er beklommen, »befin<strong>den</strong> sich im Haus <strong>der</strong><br />

Köpfe. Aus <strong>den</strong> Arm- und Beinknochen aber sind schöne, mit Juwelen verzierte Flöten gefertigt<br />

wor<strong>den</strong>.«<br />

»Hat Felsenschlange sie gefertigt? Die Herrin von Tula? O<strong>der</strong> die Adler und Jaguare, die mit<br />

ihnen entflohen?«, fragte Cortés spöttisch.<br />

Er erhielt keine Antwort.<br />

»Was wurde aus dem Fleisch meiner Glaubensgenossen?«, fragte er weiter.<br />

Die Gefragten blieben stumm. Da sagte Cortés:<br />

»Ihr Fleisch wurde gebraten, in Maiskuchen gebacken und von euch Kannibalen gefressen.<br />

Alle Einwohner dieser Stadt haben ohne Ausnahme ihr Leben verwirkt! Meinem Freund Blaue<br />

Fe<strong>der</strong> zuliebe will ich mich mit einer maßvollen Sühne begnügen. Ich verlange, sechsundvierzig<br />

Schuldige herzuschaffen, und zwar diejenigen, die bei <strong>der</strong> Opferung mitgeholfen habe, die<br />

Knochenflöten fertigten und am kannibalischen Mahl teilnahmen.«<br />

Viel zu viele wollten für ihre Mitbürger sterben; mehr als die Hälfte musste abgewiesen<br />

wer<strong>den</strong>. Doch <strong>der</strong> Henker Osorio hängte die besten Söhne Tezcocos an die unheimlichen Yucca-<br />

Bäume, <strong>der</strong>en schwertförmige Blätter die Eingänge <strong>der</strong> Tempelhöfe beschatteten. Nun war Blaue<br />

Fe<strong>der</strong> König von Tezcoco.<br />

Cortés erließ ein drakonisches Dekret:<br />

»Unser Krieg wäre ungerecht und ein verabscheuungswürdiger Raubzug, wäre es nicht<br />

unser einziges und höchstes Ziel, diese Völker vom Götzendienst abzubringen, die Sehnsucht


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 349<br />

nach Erlösung in ihnen zu wecken und sie dem christlichen Glauben zuzuführen.« Gewitzt durch<br />

die bösen Erfahrungen mit Olíd und <strong>der</strong> nie abreißen<strong>den</strong> Aufsässigkeiten (beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Soldaten<br />

von Narváez'), fügte er hinzu: »Wir sind ein christliches Heer und haben uns wie Christen in<br />

diesem frem<strong>den</strong> Land zu benehmen. Würfelspiel, blasphemische Schwüre und Duelle min<strong>der</strong>n das<br />

Ansehen unseres Kreuzfahrerheeres und wer<strong>den</strong> ebenso mit dem Tode bedroht wie die<br />

Vergewaltigung einheimischer Frauen, die Aneignung und Verheimlichung erbeuteter Sklaven o<strong>der</strong><br />

Kostbarkeiten. Mit dem Tod bedroht wird auch die Fahnenflucht - und als solche gilt jede<br />

eigenmächtige Entfernung vom Heer.«<br />

�<br />

Sie hatten <strong>den</strong> kleinen Martín in Tlaxcala <strong>zur</strong>ückgelassen. Cortés war <strong>der</strong> Meinung, dass die<br />

Strapazen des Kriegszuges für das Baby zu gefahrvoll seien. Marina hatte nach einigem Zögern<br />

eingewilligt. Sie konnte ihr Kind nur kurze Zeit stillen; wahrscheinlich hatten die Beschwerlichkeiten<br />

nach <strong>der</strong> Flucht aus Tenochtitlán ihren Tribut gefor<strong>der</strong>t. So war auch sie <strong>der</strong> Meinung, <strong>der</strong> Knabe<br />

sei bei einer Amme gut aufgehoben und die Trennung dauere nur kurze Zeit. Sie selber war für<br />

Cortés während des weiteren Feldzuges unentbehrlich, zumindest redete sie sich das ein, <strong>den</strong>n<br />

inzwischen beherrschten einige Soldaten aus Cortés' Heer die Landessprachen recht gut, so <strong>der</strong><br />

Kaplan Francisco López de Gómera. Aber tief in ihrem Herzen brannte noch immer die Erinnerung<br />

an Hernandos Affäre mit la Azteca.<br />

Der Schiffbau war bei Martín López in guten Hän<strong>den</strong>. Cortés hatte ihn unter dem Schutz des<br />

Hauptmanns Andrés de Tapia mit einer kleinen Heeresmacht <strong>zur</strong>ückgelassen. López hielt <strong>den</strong><br />

Generalkapitän regelmäßig durch Boten über <strong>den</strong> Fortgang des Schiffbaus auf dem Laufen<strong>den</strong>.<br />

Zuletzt hatte er mitteilen lassen, dass für <strong>den</strong> Stapellauf <strong>der</strong> Brigantinen ein breiter Kanal am<br />

Schilfsee und für ihren späteren Schutz ein landeinwärts gelegener großer Hafen gegraben<br />

wer<strong>den</strong> müsse. Cortés fragte Blaue Fe<strong>der</strong>, ob er die erfor<strong>der</strong>lichen Erdarbeiter stellen und mit<br />

seinen Leuten die Grabungen vornehmen könne. Die Blaue Fe<strong>der</strong> sagte geschmeichelt zu und<br />

ging unverzüglich an die Ausführung. Der Kommandant gab ihm <strong>den</strong> schönhändigen Lope Cano<br />

und <strong>den</strong> jüngst zum Hauptmann ernannten Alonso de Ojeda mit, Isabels Bru<strong>der</strong>, damit sie ihn<br />

unauffällig leiten, beraten, vor allem aber auf Schritt und Tritt beaufsichtigen. Denn auf naturales<br />

war nun mal kein Verlass, auch nicht auf diesen mächtigsten aller Bundesgenossen.<br />

Cortés war sich darüber klar, dass seine wenigen Kastilier Tenochtitlán nicht einnehmen<br />

konnten und dass er sich für <strong>den</strong> bevorstehende Kampf <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> bedienen müsse. Vor<br />

Jahresfrist hatten fünfhun<strong>der</strong>t Kastilier dank dem Aberglauben Moctezuma vermocht, sich in<br />

Tenochtitlán einzunisten. <strong>Das</strong> Mexico des Schlagen<strong>den</strong> Falkens mit so einem Häuflein<br />

anzugreifen, wäre ein eitles Unterfangen; jetzt würde es ein Krieg <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> gegen <strong>den</strong><br />

Schlagen<strong>den</strong> Falken wer<strong>den</strong>. Blaue Fe<strong>der</strong> konnte das Heer von siebzigtausend Mann nötigenfalls<br />

verdreifachen. Der conquistador Cortés würde die bei<strong>den</strong> Raubtiere aufeinan<strong>der</strong> hetzen und nach<br />

<strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage des Schlagen<strong>den</strong> Falkens – von <strong>der</strong> er überzeugt war – auch <strong>den</strong> Sieger<br />

entmachten!<br />

Am Abend schickte er einen tags zuvor gefangenen Kundschafter des Schlagen<strong>den</strong> Falkens<br />

mit einem Frie<strong>den</strong>sangebot nach Tenochtitlán.<br />

�<br />

Der Bote ru<strong>der</strong>te in einem Kanu über <strong>den</strong> in <strong>der</strong> Abenddämmerung purpurroten Schilfsee, bog in<br />

die dunklen Kanäle Tenochtitláns ein und überbrachte dem König die Botschaft des Grünen<br />

Steins. Der König rief umgehend <strong>den</strong> Rat <strong>der</strong> Alten ein und befragte die bei<strong>den</strong> Mitregenten des<br />

Drei-Städte-Bundes, <strong>den</strong> König von Tezcoco und <strong>den</strong> von Tacuba. Felsenschlange hielt mit seiner<br />

Meinung <strong>zur</strong>ück – im Frie<strong>den</strong>sangebot war seine und seiner weißen Sklavin Herausgabe nicht<br />

erwähnt, doch wenn es zu Verhandlungen kommen sollte, war sie unvermeidlich. Der Durch-<br />

Wohlgestalt-Glänzende trat lebhaft für die Zurückweisung ein und bezeichnete die<br />

Frie<strong>den</strong>sbereitschaft des Grünen Steins als Falle.<br />

Der Schlagende Falke schüttelte unwillig <strong>den</strong> Kopf. ‚Er sei <strong>der</strong> Überzeugung, dass <strong>der</strong><br />

Frie<strong>den</strong> in diesem Augenblick unheilvoller sein würde als <strong>der</strong> Krieg: Frie<strong>den</strong> schließen hieße, auf


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 350<br />

die Rückgabe Tezcocos zu verzichten und <strong>den</strong> Abfall <strong>der</strong> Staaten jenseits <strong>der</strong> Berge<br />

hinzunehmen. <strong>Das</strong> Volk sei des ewigen Sterbens überdrüssig und er befürchte, dass <strong>der</strong> Hohe Rat<br />

sich vom Murren <strong>der</strong> Menge werde einschüchtern lassen. Der Unzufrie<strong>den</strong>heit des Volkes und<br />

dem Spruch des Hohen Rates zuwi<strong>der</strong>zuhandeln, fehle ihm aber die Macht.<br />

Er war <strong>der</strong> König – und doch noch nicht König! Nach <strong>der</strong> Königswahl war allen Völkern <strong>der</strong><br />

Welt mitgeteilt wor<strong>den</strong>, dass die Sonne wie<strong>der</strong> leuchte, die sich verdunkelt hatte, dass sie wie<strong>der</strong><br />

auferstan<strong>den</strong> sei und die Sprache wie<strong>der</strong>erlangt habe. Aber er hatte das Fest <strong>der</strong> Krönung und<br />

Salbung hinausgeschoben. Seine Vorgänger – <strong>der</strong> Zornige Herr, die Könige Molch, Wassergeist,<br />

Himmelspfeil und Obsidianschlange – hatten gleich nach ihrer Wahl Völker überfallen, um bei <strong>der</strong><br />

Thronbesteigung mit Zehntausen<strong>den</strong> von Menschenherzen die Götter zu erfreuen; selbst <strong>der</strong><br />

Überwin<strong>der</strong> hatte wertvolle Herzen <strong>der</strong> Gelbhaarigen auf die Altäre gelegt. Diesen Königen wollte<br />

<strong>der</strong> Schlagende Falke es gleichtun. Doch die Weltlage gestattete es ihm nicht, Tenochtitlán zu<br />

verlassen und einen Opfersklaven-Raubzug in ferne Län<strong>der</strong> zu unternehmen. Deshalb hatte er<br />

sich geschworen, sich erst nach dem ersten großen Sieg über die teules die türkisene Stirnbinde<br />

aufs Haupt setzen zu lassen, die ihm die unumschränkte Macht des Weltherrn verleihen werde.<br />

Bis dahin durfte er sich über die Beschlüsse des Hohen Rates nicht hinwegsetzen.<br />

»Was immer <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Alten beschließen mag«, sagte <strong>der</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzende,<br />

»wir drei wissen, dass <strong>der</strong> Tod besser ist als dieser Frie<strong>den</strong>! Wir drei Freunde wollen gemeinsam<br />

leben o<strong>der</strong> gemeinsam sterben! <strong>Das</strong> lasst uns beschwören!«<br />

Die drei Könige schworen beim Namen <strong>der</strong> Sonne und beim Namen Unserer Frau <strong>der</strong> Erde<br />

für Anahuac gemeinsam zu leben und zu sterben. Zur Bekräftigung dieses Eides aß je<strong>der</strong> von<br />

ihnen eine Hand voll Erde. Danach begaben sie sich in <strong>den</strong> dachlosen Saal <strong>der</strong> Dämonen, wo<br />

unterhalb <strong>der</strong> Jaspiswände mit <strong>den</strong> eingemeißelten Schlangenleibern <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Alten auf<br />

Schemeln saß und ihrer harrte.<br />

Der Hohe Rat beschloss, das Frie<strong>den</strong>sangebot nicht anzunehmen.<br />

�<br />

Die Wehen setzten am späten Nachmittag ein. Sie hatte versucht, im Palast des Herrn des<br />

Fastens Zutritt zu erlangen. Doch die Herrin von Tula hatte sie mit <strong>den</strong> Worten: »Sei im Staub<br />

deiner Sün<strong>den</strong> begraben!« von <strong>der</strong> Schwelle gewiesen.<br />

Jetzt klopfte sie an das Tor des Edlen Betrübten. Er war seit seiner Kindheit mit<br />

Perlendiadem befreundet. <strong>Das</strong>s er mehr als Freundschaft für sie hegte, war ihm erst klar<br />

gewor<strong>den</strong>, als er sie bereits verloren hatte. Sie war als la Azteca die Geliebte des Cortés'<br />

gewesen; dann – als Alvarado beim Toxcatl-Fest <strong>den</strong> Adel Mexicos hingemetzelt hatte – hatte sie,<br />

das Kupferbeil schwingend, bei <strong>den</strong> Stürmen auf <strong>den</strong> Palast des Königs Wassergeist, bei <strong>den</strong><br />

Dammdurchstichen und bei Tacuba mitgekämpft und <strong>den</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong>, als er<br />

schon von Christen fortgeschleppt wurde, herausgehauen. Danach war sie untergetaucht. Doch<br />

nun ließ <strong>der</strong> Edle Betrübte sie von seinen Sklaven in <strong>den</strong> Palast ihres Bru<strong>der</strong>s tragen.<br />

Felsenschlange sorgte sogleich für Unterkunft und ärztliche Pflege, seiner sittenstrengen Mutter<br />

zum Trotz. Mit heißen Bä<strong>der</strong>n wurde die Geburt beschleunigt und durch aufgelegte Fellstreifen<br />

erleichtert. Die Hebammen setzten die Prinzessin auf <strong>den</strong> hohen Gebärstuhl und riefen <strong>den</strong><br />

Geburtshelfergott Tezcatlipoca und die fünf Frauengöttinnen an. Die Schreie <strong>der</strong> Kreißen<strong>den</strong><br />

übertönten sie mit einem Zaubergesang:<br />

»Dort im Haus auf dem Schildkrötenstuhl<br />

Kam es in einer Perle <strong>zur</strong> Welt.<br />

Dort erblickte es <strong>der</strong> Gestirne Licht.<br />

Komm her, komm her, komm her,<br />

Du Perlenkind, komm her!«<br />

Es war ein Knabe. Als sie ihn aus dem Mutterschoß gezogen hatten, durchschnitt die älteste<br />

<strong>der</strong> Hebammen die Nabelschnur und sprach zum Neugeborenen:<br />

»Zarter geliebter Knabe, du bist <strong>der</strong> Erde und <strong>der</strong> Sonne versprochen! <strong>Das</strong> Haus, wo du<br />

geboren bist, ist deine Wohnstatt nicht: Du bist ein Krieger, <strong>der</strong> an allen Orten ist. <strong>Das</strong> Haus aber,


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 351<br />

wo du <strong>zur</strong> Welt kamst, ist nur ein Nest. Hier sprießest du und blühst, hier trennst du dich von<br />

deiner Mutter wie ein Splitter vom Stein. Deine Heimat ist an<strong>der</strong>swo: Du gehörst <strong>den</strong> Fel<strong>der</strong>n an,<br />

wo Schlachten geschlagen wer<strong>den</strong>; dein Beruf ist es, die Sonne mit dem Blut <strong>der</strong> Feinde zu<br />

tränken und die Erde mit <strong>den</strong> Leichen <strong>der</strong> Feinde zu füttern. Dein Glück aber wirst du erst im<br />

Palast <strong>der</strong> Sonne fin<strong>den</strong>.«<br />

Darauf badete sie das Kind, indem sie ihm zuerst die Brust, <strong>den</strong> Nacken und <strong>den</strong> Kopf<br />

befeuchtete und dazu murmelte: »O Knabe, weile bei <strong>der</strong> Göttin des Wassers, dass sie dir alles<br />

vererbte Böse abwasche!«<br />

Was die Herrin von Tula befürchtet hatte, war Wirklichkeit gewor<strong>den</strong>: <strong>Das</strong> Kind war<br />

hellhäutig, ein kleiner Sonnensohn. Die Schwester des König Felsenschlange hatte dem Erzfeind<br />

<strong>der</strong> Mexica ein Kind geboren!<br />

Am nächsten Morgen wusste es die ganze Stadt. Die Herrin von Tula selbst klagte ihre<br />

Tochter an und teilte dem Hohepriester das Unerhörte mit. Huitzilopochtlis Knecht begab sich in<br />

<strong>den</strong> Huei-Tecpan zum Schlagen<strong>den</strong> Falken und verlangte in blindwütigem Zorn die Tötung des<br />

kleinen weißen Kindes. Cuauhtémoc antwortete, er werde darüber nach<strong>den</strong>ken.<br />

Eine Woche später saßen die Könige von Tacuba und Tezcoco am Lager <strong>der</strong> Wöchnerin.<br />

Sie stillte gerade ihr Kind; mit geschlossenen Augen schmatzte es wohlig, die winzigen Fäuste<br />

geballt, an <strong>den</strong> vollen Brustwarzen <strong>der</strong> Mutter.<br />

Der Durch-Wohlgestalt-Glänzende sagte:<br />

»Cuauhtémoc will nicht, was die Priester wollen. Doch zum Wi<strong>der</strong>stand fehlt ihm die Macht.«<br />

»Meine Quetzalfe<strong>der</strong>, meinen Edelstein gebe ich nicht her!«, rief Perlendiadem wild.<br />

»Was wollen die Priester, dass mit dem Kind geschehe?«, fragte Felsenschlange.<br />

»Es soll <strong>der</strong> Wassergöttin dargebracht wer<strong>den</strong>.«<br />

»Warum?«<br />

»Die Priester verbreiten die Behauptung, das weiße Kind bringe Mexico in Gefahr, wenn es<br />

nicht bald beseitigt werde.«<br />

»Die Opferer lügen! Sie wie<strong>der</strong>holen nur, was meine Mutter sagt! Meine Mutter hasst das<br />

Kind und will es umbringen! Doch ich werde es nicht hergeben! Helft mir, mein Kind zu verbergen!<br />

Ihr seid doch meine Freunde...«<br />

»Schwester, wir sind eines Herzens!«, sagte Felsenschlange. »Wir wer<strong>den</strong> das weiße Kind<br />

verbergen!«<br />

»Wo, Bru<strong>der</strong>?«<br />

»Bei einer Fe<strong>der</strong>arbeiterin... Ich kenne sie!«<br />

Er erzählte ihr, dass er als Huaxteke im Hause des alten Obsidian-Arbeiters gewohnt hatte,<br />

des Nachbarn <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>mosaikarbeiterin, um <strong>der</strong> Strafe des Zornigen Herrn zu entgehen.<br />

Doch Perlendiadem hatte Be<strong>den</strong>ken. <strong>Das</strong> Versteck des Kindes könnte verraten wer<strong>den</strong>.<br />

»Meine weiße Sklavin«, sagte Felsenschlange, »wird das Kind hinbringen. Ich werde ihr<br />

einen stummen Sklaven mitgeben, damit sie die Gasse findet.«<br />

�<br />

Am Abend betrat eine chichimekische Edelfrau, das Gesicht mit safrangelbem Schleier verhüllt,<br />

das Haus <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>mosaikarbeiterin. Unter dem weiten Mantel trug sie <strong>den</strong> kleinen Sonnensohn;<br />

er reichte vom Kopfputz bis hinunter zu <strong>den</strong> Knien und war so dicht, dass die Bürde auf ihrem Arm<br />

nicht zu erkennen war. Der stumme Sklave hatte Isabel de Ojeda, an <strong>der</strong> Schlangenberg-Mauer<br />

und <strong>den</strong> Königspalästen vorbei, durch das Gassenlabyrinth <strong>den</strong> Weg gewiesen, war aber – wie es<br />

sein Auftrag war – an <strong>den</strong> weinrot bemalten Türbalken des Hauses umgekehrt.<br />

Von <strong>den</strong> drei Töchtern <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>arbeiterin lebte die jüngste nicht mehr: Sie hatte in <strong>der</strong><br />

noche triste <strong>den</strong> Tod gefun<strong>den</strong>. Die Wangen <strong>der</strong> Schwindsüchtigen hatten sich im letzten Jahr<br />

noch mehr gehöhlt. Und auch das Antlitz <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Schwester wies Spuren <strong>der</strong> Auszehrung auf;<br />

sie hatte vor kurzem ein Kind tot <strong>zur</strong> Welt gebracht.<br />

Es war die Stunde des Feierabends. Wie meist hatten sich Besucher aus <strong>der</strong>selben Gasse<br />

eingefun<strong>den</strong>: müde Mantelweber, Korbflechter, Lackarbeiter, eine Wasserträgerin mit ihrem Bottich<br />

und <strong>der</strong> Entenjäger. Alle hockten in <strong>der</strong> engen Werkstatt; es roch nach Schweiß und Daunen. Grell<br />

bemalt saß auch Gonzalo Guerrero, <strong>der</strong> Gefleckte Berglöwe, unter ihnen. Die Leute lauschten


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 352<br />

seinen aufrührerischen Re<strong>den</strong>. Aber nicht mehr stumpf und teilnahmslos wie einst; sie hatten<br />

gelernt, ihren Unmut in Worte zu fassen. Ja, die Teuerung war unerträglich. Trotz mühseligster<br />

Arbeit verhungerte man! Die Kaufherren Tlatelolcos setzten die Preise fest; sie verdienten am<br />

Krieg, und immer schlimmer wurde die Teuerung! An allem Elend war <strong>der</strong> Krieg Schuld! <strong>Das</strong>s die<br />

adeligen Bewohner <strong>der</strong> Paläste <strong>den</strong> Krieg wollten, waren sie gewohnt – das war schon immer so<br />

gewesen. Aber die Kaufherren wollten <strong>den</strong> Krieg auch. Sie wur<strong>den</strong> immer reicher, während das<br />

Volk verarmte...<br />

Die Gespräche verstummten, als Isabel eintrat. Misstrauisch und unfreundlich starrte man die<br />

offensichtlich aus reichem Hause Stammende an. Isabel fühlte, dass sie ein unerwünschter Gast<br />

war. Doch die Fe<strong>der</strong>arbeiterin schien sie erwartet zu haben. Sie führte sie an <strong>der</strong> Hand in eine<br />

abseits gelegene Kammer, wo sie unbelauscht re<strong>den</strong> konnten. Die schwindsüchtige Tochter<br />

erklärte in gleichgültigem Tonfall, es sei eine Kundin aus Tezcoco, die schon mehrmals<br />

Fe<strong>der</strong>mosaik bestellt habe.<br />

In <strong>der</strong> Kammer stand eine mexicanische Kin<strong>der</strong>wiege. Saubere baumwollene<br />

Säuglingswäsche lag auf einer meerblau bemalten Truhe bereit.<br />

»Dein Herr, König Felsenschlange«, sagte die Fe<strong>der</strong>arbeiterin, »hat mich wissen lassen, was<br />

du mir bringst. Ich soll das Kind aufziehen. Eine meiner Töchter kann es nähren, sie hatte jüngst<br />

eine Fehlgeburt.«<br />

Isabel nahm <strong>den</strong> Schleier ab, schlug <strong>den</strong> Mantel auf und hielt das weiße Kind stumm <strong>der</strong><br />

Arbeiterin hin. Sie nahm es ihr ab und legte es in die Wiege. Darauf wandte sie sich Isabel wie<strong>der</strong><br />

zu und erschrak.<br />

»Du bist eine Gelbhaarige!«, rief sie aus. »Du bist die, von <strong>der</strong> ich gehört habe – die<br />

Bettgenossin des Königs Felsenschlange. Bist du die Mutter des Kindes?«<br />

Isabel wollte la Azteca nicht verraten. Mochte die Arbeiterfrau auch gutherzig sein - Isabel<br />

wollte ihr nicht anvertrauen, dass Perlendiadem die Mutter, <strong>der</strong> Vater aber <strong>der</strong> ärgste Feind<br />

Mexicos sei, <strong>den</strong>n dadurch konnte das Leben des Cortéskindes gefährdet wer<strong>den</strong>! Es erschien ihr<br />

besser, die Frau im Glauben zu lassen, Felsenschlange sei <strong>der</strong> Vater.<br />

»Ja, es ist mein Kind!«, sagte Isabel de Ojeda leise.<br />

Sie beugte sich über die Wiege und küsste sanft <strong>den</strong> schlummern<strong>den</strong> Knaben. Gegen ihren<br />

Willen rollten Tränen über ihre Wangen. Sie beweinte sich selbst, dass sie so verlassen in diesem<br />

frem<strong>den</strong> Land leben musste und verloren schien wie dieses unglückselige Kind. Mit tränennassen<br />

Hän<strong>den</strong> berührte sie das dünne Säuglingshaar und murmelte:<br />

»Im Namen <strong>der</strong> Dreieinigkeit taufe ich dich Hernándo!«<br />

Die Fe<strong>der</strong>arbeiterin verstand we<strong>der</strong> die Worte noch <strong>den</strong> Sinn <strong>der</strong> Handlung, sie glaubte, es<br />

sei eine Abschiedsformel.<br />

Beim Hinausgehen fühlte Isabel sich wie<strong>der</strong> finsteren Blicken ausgesetzt. Obwohl wie<strong>der</strong><br />

verschleiert, hielt sie <strong>den</strong> Blick zu Bo<strong>den</strong> gerichtet, wandte sich an <strong>der</strong> Tür aber noch einmal um<br />

und grüßte auf indianische Weise. Da glaubte sie zwei stahlblaue Augen zu bemerken. Rasch<br />

wandte sie sich ab und ging hinaus, ohne noch einmal hinzuschauen. Erst draußen, als es zu spät<br />

war, bereute sie ihre Schreckhaftigkeit. Sie hätte sich überzeugen sollen, ob sie sich getäuscht<br />

hatte. So aber trug sie die Ungewissheit mit sich fort. Auf dem Heimweg sah sie die blauen Augen<br />

stets vor sich. Du musst dich geirrt haben, redete sie sich ein. Unmöglich, un<strong>den</strong>kbar, dass ein<br />

Europäer in Tenochtitlán unter <strong>den</strong> Einheimischen lebt! Ihr Gatte Villareal, Francisco de Lugo und<br />

alle ihre Lei<strong>den</strong>sgenossen waren auf <strong>den</strong> Altären geopfert wor<strong>den</strong>. Auch von <strong>den</strong> Kastiliern, die in<br />

<strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken gefangen wor<strong>den</strong> waren, konnte keiner mehr am Leben sein; das<br />

Blutgesetz Huitzilopochtlis war unerbittlich!<br />

Isabel hatte die Gassen <strong>der</strong> Altstadt hinter sich und eilte die große Schlangenbergmauer<br />

entlang, als sie hastige Schritte vernahm. <strong>Das</strong> Herz blieb ihr stehen wie wenige Wochen zuvor in<br />

Tezcoco, als die Blaue Fe<strong>der</strong> ihr auf Spanisch zuflüstern konnte, dass ihre Befreiung nahe sei! Der<br />

Gefleckte Berglöwe war ihr nachgegangen, wagte es aber erst in dieser menschenleeren Gegend,<br />

sie einzuholen. Als er neben ihr ging, erkannte sie <strong>den</strong> Mann mit <strong>den</strong> stahlblauen Augen. Auch er<br />

sprach Spanisch:<br />

»Señorita! Nein, bleibt nicht stehen, es könnte auffallen! Geht ruhig weiter und beantwortet<br />

meine Fragen. Wer seid Ihr?«<br />

»Eine Unglückliche... eine Sklavin des Königs von Tezcoco.«<br />

»Ich habe davon gehört. Sagt mir Euren Namen!«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 353<br />

»Isabel de Ojeda. Und wer seid Ihr?«<br />

»War <strong>der</strong> Statthalter von Urabá Euer Vater?«<br />

»Ja. Woher wisst Ihr das?« Ihre Erregung steigerte sich noch mehr. »Habt Ihr meinen Vater<br />

gekannt?«<br />

»Ich war mit ihm und Diego de Ordás in Urabá. Als wir später auf dem Schiff eines<br />

genuesischen Korsaren nach Kuba segelten, haben wir bei <strong>der</strong> Insel Cozumel Schiffbruch<br />

erlitten.«<br />

»Wer seid Ihr?«<br />

»Ich war Matrose und hieß Gonzalo Guerrero.«<br />

»Gonzalo Guerrero? Der mit dem Franziskaner-Frater Jerónimo de Aguilár an die Küste von<br />

Yucatán verschlagen wurde?«<br />

»Hat <strong>der</strong> Fraile Euch das erzählt?«<br />

»Ja. Ihr wolltet nicht zu <strong>den</strong> Christen <strong>zur</strong>ück!«<br />

»Ich bin Indianer gewor<strong>den</strong>, Señorita. Meine Nase und meine Lippen sind durchbohrt. Ihr<br />

selbst seid jetzt auch Indianerin.«<br />

»Nein, ich bin keine Heidin!«<br />

»An die Götzen Mexicos glaube ich so wenig wie ihr, Señorita, wenn ich ihnen auch<br />

Wachteln opfere. Aber auch in Spanien gibt es Götzen. Die Krämer und Pfeffersäcke diesseits und<br />

jenseits des Ozeans haben sie erfun<strong>den</strong>. Wir Sklaven können sie nicht lieben.«<br />

»Wessen Sklave seid Ihr?«<br />

»Des Herrn <strong>der</strong> Herren, des Königs Cuauhtémoc. <strong>Das</strong> heißt... ich war sein Sklave. Vor<br />

kurzem bin ich ihm entlaufen.«<br />

»Warum?«<br />

»Weil er mich peitschen ließ. Wollt Ihr wissen warum?«<br />

»Sagt es!«<br />

»Nachdem Francisco de Lugo geschlachtet wor<strong>den</strong> war, ließ Cuauhtémoc sich aus <strong>den</strong><br />

Fingernägeln des Toten ein Halsband fertigen... um das An<strong>den</strong>ken des Tapferen zu ehren, sagte<br />

er. Als ich ihn so geschmückt sah, packte mich die Wut. Ich sagte ihm, dass es nicht königlich,<br />

son<strong>der</strong>n barbarisch sei.«<br />

»Und er ließ Euch nicht töten?«<br />

»Weiße Sklaven sind wertvoll. Ich nehme an, dass auch Ihr, Señorita, leidlich gut behandelt<br />

werdet.«<br />

»König Felsenschlange ist freundlich zu mir. Aber seine an<strong>der</strong>en Frauen verleum<strong>den</strong> mich<br />

bei <strong>der</strong> Herrin von Tula.«<br />

»Wir müssen vorsichtig sein, Señorita. Ich will Euch jetzt nicht länger begleiten. Doch<br />

wie<strong>der</strong>sehen wer<strong>den</strong> wir uns! Nehmt <strong>den</strong> Trost mit auf <strong>den</strong> Weg, dass Eure Lei<strong>den</strong>szeit nicht von<br />

allzu langer Dauer sein wird.«<br />

»Für mich gibt es keine Rettung mehr. Ich gehöre dem Indianer an, <strong>der</strong> mir <strong>den</strong> Opferstein<br />

ersparte. <strong>Das</strong> werdet Ihr freilich nicht begreifen.«<br />

»Nein, allerdings nicht, Señorita.«<br />

»Ich könnte meinen Freun<strong>den</strong> nicht mehr in die Augen blicken.«<br />

»Ihr seid noch zu stolz, Señorita. Euer Unglück ist noch nicht groß genug. Bald aber wird<br />

Euer Stolz zermürbt sein! Ihr seid eine Adlige, ich bin ein Tagelöhnerssohn, doch das Schicksal<br />

hat uns an eine Kette geschmiedet, Señorita. Auf Kuba hättet Ihr mich keines Blickes gewürdigt.<br />

Hier bin ich Euer Freund, ob Ihr wollt o<strong>der</strong> nicht! Wenn Felsenschlange nicht mehr imstande sein<br />

wird, Euch und das weiße Kind zu schützen, werde ich Euch schützen müssen!«<br />

»Wie...?«<br />

»Mit Hilfe <strong>der</strong> Elen<strong>den</strong> und Unterdrückten Mexicos, Señorita.«<br />

�<br />

Es war Abend gewor<strong>den</strong>, als Isabel zum Palast <strong>zur</strong>ückkehrte. Sie mied das Hauptportal und trat<br />

durch eine Seitenpforte in <strong>den</strong> Garten. Dort eilte eine junge Sklavin auf sie zu. Ob sie schon wisse,<br />

dass Prinzessin Perlendiadem und das weiße Kind verschwun<strong>den</strong> seien? Der Durch-Wohlgestalt-<br />

Glänzende habe sie in seinen Tecpan genommen, um sie vor <strong>der</strong> Herrin von Tula zu schützen.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 354<br />

»Zu schützen? Wieso?«, fragte Isabel.<br />

»Die Herrin von Tula hat <strong>den</strong> Rat <strong>der</strong> Alten aufgefor<strong>der</strong>t, das Kind zu töten. Vorhin ist eine<br />

Abordnung des Hohen Rates am Lager <strong>der</strong> Wöchnerin erschienen mit dem Befehl, das weiße Kind<br />

herauszugeben.«<br />

»Haben sie es mitgenommen?«<br />

»Nein. Perlendiadem hat erklärt, das Kind sei bereits tot... es sei in <strong>der</strong> Nacht ertränkt<br />

wor<strong>den</strong>.«<br />

»Sind die Boten wie<strong>der</strong> gegangen? Rede! Lass dir doch nicht jedes Wort entlocken!«<br />

»Der Hohe Rat hat <strong>den</strong> Worten Perlendiadems nicht geglaubt. Er verlangte, dass sie <strong>den</strong><br />

Kopf des toten Kindes dem Volk und <strong>den</strong> Priestern vorzeige. Sonst sei sie schuldig, gelte als<br />

Verräterin an Mexico und müsse mit einer grausamen Strafe rechnen. Da brauste <strong>der</strong> König von<br />

Tacuba, ihr Jugendfreund, auf: ›Ich werde die Prinzessin zum Weib nehmen und <strong>zur</strong> Königin von<br />

Tacuba machen‹, hat er geschrien. Ungehin<strong>der</strong>t hat er die Prinzessin dann in seinen Palast tragen<br />

lassen. Ihn zu bedrohen, wagte <strong>der</strong> Hohe Rat nicht.«<br />

Die Sklavin sollte sich irren. Der Hohe Rat Mexicos würde bald auf seine For<strong>der</strong>ung<br />

<strong>zur</strong>ückkommen.<br />

26. Tezcoco<br />

»Drei Tage darauf wurde mir gemeldet, dass die 13 Rennschiffe fertig wären und die Träger<br />

bereit stün<strong>den</strong>. Sofort entsandte ich <strong>den</strong> Hauptmann Gonzalo de Sandoval mit 15 Reitern<br />

und 2000 Fußknechten, um die Schiffsteile nach Tezcoco zu geleiten.«<br />

(Hernán Cortés, 3. Brief an Karl V. vom 15. Mai 1522)<br />

Die Eheschließung des Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong> und <strong>der</strong> Prinzessin Perlendiadem war<br />

noch an jenem Abend mit großem Gepränge und traditionellem Zeremoniell vollzogen wor<strong>den</strong>. An<br />

<strong>der</strong> Gattin eines Königs würde sich <strong>der</strong> Senat Mexicos wohl kaum vergreifen wollen.<br />

Auch <strong>der</strong> neue Weltherr Cuauhtémoc, <strong>der</strong> Schlagende Falke, rüstete ein Hochzeitsmahl. Es<br />

war unmöglich, dass ein König von Mexico ehelos lebte; die Staatsräson verlangte eine Königin<br />

und prinzliche Nachfolger. So gab er dem Drängen <strong>der</strong> Priester und seiner Ratgeber nach und<br />

beauftragte sie, ihm ein Weib auszuwählen. Ihre Wahl fiel auf die zweite <strong>der</strong> Töchter Moctezumas,<br />

Prinzessin Goldkolibri, die Witwe des Edlen Betrübten, <strong>der</strong> im Keller des Schatzhauses erdrosselt<br />

wor<strong>den</strong> war. Sie glich kaum ihrer schönen Schwester Maisblume, war klein von Wuchs, hatte<br />

glanzlose Augen und überscharfe Züge. Sie galt als ränkesüchtig und hochmütig.<br />

Die schon anberaumte Hochzeit musste jedoch verschoben wer<strong>den</strong>. Kundschafter<br />

überbrachten aus Tezcoco die Nachricht, dass die Christen einen Angriff auf Iztapalapá und die<br />

Pfahlstädte am Xochimilcosee planten. Der Schlagende Falke musste Tenochtitlán verlassen und<br />

an <strong>der</strong> Spitze eines Heeres dem Feind entgegenziehen.<br />

Cortés hatte gute Gründe, Iztapalapá anzugreifen. Der Siegesruhm <strong>der</strong> Sonnensöhne<br />

begann zu verblassen. Gleich nach dem Einzug in Tezcoco hatten die Stadtkönige von Otumba im<br />

Nor<strong>den</strong> Anahuacs und Chalco im Sü<strong>den</strong> Geschenke an Cortés gesandt und ihre<br />

Bundesgenossenschaft gegen Mexico angeboten. Seither aber waren keine weiteren Städte <strong>der</strong><br />

Koalition gegen Mexico beigetreten. Untätig warteten die Spanier in Tezcoco auf die Fertigstellung<br />

<strong>der</strong> Brigantinen. Solange die Schiffe nicht auf dem See schwammen, konnte die Belagerung<br />

Tenochtitláns nicht beginnen.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 355<br />

Cuitláhuac, <strong>der</strong> vorletzte<br />

Herrscher von Itztapalapá<br />

(aus einem Codex, <strong>der</strong> kurz nach<br />

<strong>der</strong> Eroberung Mexikos von einem<br />

Unbekannten geschrieben wurde)<br />

Der Generalkapitän<br />

musste die Kastilier<br />

beschäftigen, ihrer<br />

soldatischen Disziplin, ihrer<br />

Kampfkraft und ihrem<br />

Beutedurst ein Ziel geben.<br />

Denn trotz des drakonischen Dekrets, das Würfelspiel, blasphemische Schwüre und Duelle<br />

untersagte, wurde in Tezcoco geschworen, duelliert und gespielt. Die Langweile demoralisierte die<br />

Mannschaft. Gemeine Soldaten würfelten um Goldbarren; es gab im Christenheer noch erstaunlich<br />

viel Gold aus <strong>den</strong> Schatzkammern des Königs Wassergeist. Vor <strong>der</strong> Flucht aus Tenochtitlán hatten<br />

sie sich die Taschen mit Gold gefüllt, beson<strong>der</strong>s die Soldaten des Narváez. Viele waren an <strong>den</strong><br />

Dammdurchstichen mit ihrer Goldlast in <strong>der</strong> Tiefe versunken; einige aber hatten ihre Schätze nach<br />

Tacuba retten können. Da <strong>der</strong> königliche Rechnungsführer Albornoz Ansprüche <strong>der</strong> Krone geltend<br />

machen könnte, hielten sie ihren Reichtum lange Zeit geheim. Doch nach und nach ließen sie<br />

diese Vorsicht außer acht.<br />

Cristóbal de Olíd ärgerte sich über das drakonische Edikt. Er wusste, dass es gegen ihn und<br />

seine Unbotmäßigkeit gerichtet war. Treuherzig, <strong>den</strong>n er zeigte seine wahren Absichten nie, fragte<br />

er Cortés: »Warum verfasst Ihr Dekrete, Don Hernándo, wenn je<strong>der</strong>mann darüber lacht?«<br />

»Solange man eine Armbrust nicht benötigt«, entgegnete Cortés, »lässt man die Sehne<br />

gelockert, damit sie nicht an Spannkraft verliert. <strong>Das</strong> Dekret gibt mir die Möglichkeit, <strong>den</strong> Bogen<br />

je<strong>der</strong>zeit zu spannen und die Manneszucht wie<strong>der</strong> zu straffen.«<br />

»Je<strong>der</strong>zeit? Dann wun<strong>der</strong>t es mich, dass Ihr jetzt nicht zugreift, bevor die Goldbarren wie<strong>der</strong><br />

verschwin<strong>den</strong>, die so rätselhaft aufgetaucht sind. Spielern wird das Spielgut konfisziert, heißt es in<br />

Eurem Dekret!«<br />

Cortés nahm sich vor Ratschlägen Olíds in acht. Olíd war scheinbar gefügig gewor<strong>den</strong>, seit<br />

Francisco Hernández sich mit seinen dreihun<strong>der</strong>t gut ausgerüsteten Kastiliern Cortés<br />

angeschlossen hatte. Seine Pläne aber würde Olíd kaum geän<strong>der</strong>t haben. Sein kleiner Anhang<br />

konnte mit <strong>der</strong> Zeit sogar das Übergewicht gewinnen, wenn Cortés Fehler machte...<br />

»Mit meinem Wissen und Willen«, antwortete Cortés, »nahmen die Soldaten damals von<br />

Moctezumas Gold, so viel sie schleppen konnten. Sie kämpften auf dem Damm und bei Otumba<br />

für ihr Leben und für ihr Gold. Ihr wisst ja, Don Cristóbal, dass nur wenige ihr Gold und ihr Leben<br />

behielten – sie haben ihren Besitz schwer und redlich erworben.«<br />

Bald darauf aber sah Cortés sich veranlasst, seine Meinung zu än<strong>der</strong>n. Es fehlte ihm nie an<br />

Beweisgrün<strong>den</strong>, wenn es galt, sich selbst zu wi<strong>der</strong>legen, und die Biegsamkeit seiner Argumente<br />

erleichterte es ihm.<br />

Ein Bote aus Tlaxcala hatte einen Brief des Andrés de Tapia gebracht. Tapia meldete, dass<br />

wie<strong>der</strong> eine Karavelle die Reede von Veracruz angelaufen habe. Sie gehörte einem gewissen<br />

Felipe Monjaraz, einem Händler auf Haiti. Er war mit hun<strong>der</strong>t Mann an Bord auf Sklavenraub<br />

unterwegs – ein Sturm hatte ihn von <strong>der</strong> Mündung des Amazonasstroms nordwärts verschlagen. In<br />

Veracruz erbat er sich Frischwasser und Lebensmittel. <strong>Das</strong> Schiff habe vor allem Waffen gela<strong>den</strong><br />

– Musketen, Hakenbüchsen, Hellebar<strong>den</strong>, Harnische, einige Geschütze und viel Pulver. Tapia<br />

schrieb weiter, dass Felipe Monjaraz nicht abgeneigt sei, seine Waren und seine Mannschaft<br />

Cortés abzutreten, falls ihm ein angemessener Preis geboten würde.<br />

In <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken hatte das Christenheer die meisten Feuerwaffen verloren, und<br />

an Pulver mangelte es sowieso. Die Verstärkung durch Francisco Hernández hatte wenig daran<br />

geän<strong>der</strong>t, brauchten dessen Leute ihre Waffen doch für sich selbst. Wenn Cortés jetzt plötzlich in<br />

<strong>den</strong> Besitz von einigen hun<strong>der</strong>t Musketen und Schießpulver gelangte, wäre das ein unerwarteter<br />

Glücksfall. Der Wagen mit dem Goldschatz Moctezumas war im Dammdurchstich versenkt


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 356<br />

wor<strong>den</strong>. Die Beute von Otumba und einiges in Tlaxcala aufbewahrtes Gold hatte Cortés hergeben<br />

müssen, um das Schiff aus<strong>zur</strong>üsten, mit dem er Alonso de Avila an <strong>den</strong> Kaiserhof nach Spanien<br />

gesandt hatte. Jetzt besaß er weniger als mancher seiner Untergebenen. Um Monjaraz bezahlen<br />

zu können, blieb ihm keine an<strong>der</strong>e Wahl, als seine Soldaten auszuplün<strong>der</strong>n. Er beriet sich mit<br />

Albornoz und Alvarado.<br />

Am gleichen Abend überraschte die Lagerwache Spieler in <strong>der</strong> Marketen<strong>der</strong>ei <strong>der</strong><br />

Goldhyazinte und beschlagnahmte unter Berufung auf das Dekret sämtliche Goldbarren. Dem<br />

Falschspieler Márquez, <strong>der</strong> die meisten seiner Kamera<strong>den</strong> geschröpft hatte, gelang es, seinen<br />

Raub in Sicherheit zu bringen. Was Albornoz und <strong>den</strong> Profosen in die Hände fiel, reichte bei<br />

weitem nicht aus, die Schiffsladung des Monjaraz zu bezahlen.<br />

�<br />

Bebend vor Erregung trat am folgen<strong>den</strong> Morgen Marina in Cortés' Quartier. Ihre schwarzen Augen<br />

flackerten.<br />

»Entsinnt Ihr Euch, Don Hernándo, wie empört wir waren, als bekannt wurde, dass Olíd dem<br />

Mächtigen Felsen und allen Kriegsgefangenen aus dem Roten Berg mit einem glühen<strong>den</strong> Eisen<br />

ein Zeichen auf die Wangen brennen ließ? Ihr habt es verdammt wie ich, Don Hernándo!«<br />

»Olíd hatte kein Recht dazu!«<br />

»Haben wir ein Recht dazu?«<br />

Marina sagte immer wir, wenn ihr eine Handlung des Cortés missfiel: Indem sie sich <strong>zur</strong><br />

Mitschuldigen machte, gewann sie <strong>den</strong> Mut, Einspruch zu erheben.<br />

»Was willst du damit sagen?«, fragte Cortés, obgleich er wusste, was sie so aufbrachte.<br />

»Albornoz hat angeordnet«, rief Marina, »dass die Soldaten ihre Sklavinnen in <strong>den</strong> Alten<br />

Palast bringen müssten. Dort wer<strong>den</strong> sie gebrandmarkt. Nur einigen wird das Zeichen auf <strong>den</strong><br />

Rücken gebrannt statt auf die Wange, und sie wer<strong>den</strong> abgeson<strong>der</strong>t - als Fünftel <strong>der</strong> Krone und als<br />

Fünftel des capitán generál, um auf <strong>den</strong> Sklavenmärkten Anahuacs verkauft zu wer<strong>den</strong>.«<br />

Marina war <strong>den</strong> Tränen nahe.<br />

»Albornoz ist ein Beamter <strong>der</strong> Krone Spaniens«, versetzte Cortés verlegen. »Ich kann ihm<br />

keine Vorschriften machen.«<br />

»Lügt nicht, Don Hernándo!«, sagte Marina leise.<br />

»Nein, ich will nicht lügen, Marina. Gewiss, ich könnte es hin<strong>der</strong>n. Doch dann müsste ich<br />

Verzicht leisten auf die fünfhun<strong>der</strong>t Musketen und das Pulver, das wir so dringend brauchen. <strong>Das</strong><br />

kann ich nicht als verantwortlicher Führer meiner Truppe und als Kreuzfahrer, <strong>der</strong> die Blutaltäre in<br />

Kirchen wandeln will! Glaubst du, dass mir <strong>der</strong> Entschluss leicht gefallen ist? Meine Seele ist<br />

gemartert wie damals in Tlaxcala, als ich Lugo, Isabelle und die vierundvierzig Mann preisgeben<br />

musste. Unser Leben ist voller unlösbarer Wi<strong>der</strong>sprüche. Ein Schütze muss <strong>den</strong> Pfeil seiner<br />

Armbrust auf einen einzigen Punkt richten und tausend an<strong>der</strong>e übersehen. Wer überall hinzielt,<br />

trifft nichts. Man muss lernen, Menschenschicksale zu übersehen, wenn man ein Völkerschicksal<br />

vor Augen hat!«<br />

Marina weinte.<br />

»Kannst du mich wi<strong>der</strong>legen?«, fragte Cortés.<br />

Schluchzend schüttelte sie <strong>den</strong> Kopf.<br />

Cortés brauchte die Mittel, um <strong>den</strong> Feldzug zu führen, <strong>den</strong> er plante, und Sklaven waren so<br />

gut wie Gold.<br />

�<br />

Bei <strong>den</strong> Kämpfen jenseits <strong>der</strong> Berge, bei Villa segura de la frontera, war <strong>den</strong> Siegern nur geringe<br />

Goldbeute, dafür aber eine Unzahl von Sklavinnen in die Hände gefallen. Auf männliche<br />

Indianersklaven wurde wegen ihrer Aufsässigkeit verzichtet. Hingegen besaßen die meisten<br />

Kastilier fünf bis zehn Mädchen und Frauen. Jetzt wur<strong>den</strong> diese mit dem Brandeisen entstellt und<br />

nach Alter und Schönheit sortiert. Die wegen Alter o<strong>der</strong> schlechter körperlicher Verfassung<br />

Nichtverkäuflichen verteilte man dann noch einmal. Die Nörgler im Heer, die Anhänger des<br />

Gobernadors von Kuba, wagten sich wie<strong>der</strong> hervor. Der Steuermann Cár<strong>den</strong>as, <strong>der</strong> schon bei <strong>der</strong>


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 357<br />

ersten Rebellion an <strong>den</strong> moskitobedeckten Sanddünen giftige Anspielungen über König Cortés<br />

gemacht hatte, sagte, dem Christenheer könne es nichts fehlen, da es ja zwei Könige habe –<br />

einen in <strong>der</strong> alten und einen in <strong>der</strong> neuen Welt. Ignacio Morena (<strong>der</strong> Galan <strong>der</strong> hageren Rosario),<br />

Domenico Mejía Hinojora (<strong>der</strong> Enkel <strong>der</strong> Räuberin), Luis Paredes (<strong>der</strong> Spuckkünstler), Flores (<strong>der</strong><br />

rothaarige Sänger) und an<strong>der</strong>e pflichteten ihm in verhaltener Wut bei. Am verbissensten ereiferte<br />

sich ein gewisser Antonio de Villafaña. Er hatte eines <strong>der</strong> schönsten Sklavenmädchen besessen;<br />

nachdem sie ihm abgenommen wor<strong>den</strong> war, trauerte er ihr nach. Seinen Freun<strong>den</strong> Palma,<br />

Hinojora und Lerma sagte er, Cortés bringe nur Unglück; er müsse beseitigt wer<strong>den</strong>. Man griff <strong>den</strong><br />

Gedanken hitzig auf und spann ihn weiter. Auch über Albornoz, Alvarado, Olíd, Ordás, Alonso de<br />

Ojeda und Sandoval sei das Urteil zu fällen. Kurz, sämtliche Kronbeamte und Offiziere müssten<br />

verschwin<strong>den</strong>.<br />

Villafaña war, ohne es eigentlich zu wollen, zum Rädelsführer einer Verschwörerbande<br />

gewor<strong>den</strong>. Doch alle gelobten tiefe Verschwiegenheit. Bald konnte Villafaña neue Namen auf die<br />

Liste <strong>der</strong> Verschwörer setzen. <strong>Das</strong> Geheimnis wurde streng gehütet, Cortés blieb arglos. Wäre ihm<br />

das Komplott bekannt gewor<strong>den</strong>, hätte er sich kaum einschüchtern lassen. Aber dass sich neue<br />

Unruhe in seinem Heer breitmachte, konnte ihm nicht verborgen bleiben. Um <strong>der</strong> Unzufrie<strong>den</strong>heit<br />

ein Ziel zu geben, beschloss er <strong>den</strong> Zug gegen Iztapalapá.<br />

Da traf Felipe Monjaraz in Tezcoco ein. Er hatte die Steuermänner und Matrosen auf seinem<br />

Schiff <strong>zur</strong>ückgelassen und brachte fünfundneunzig Mann, drei Pferde und viele Waffen – gerade<br />

rechtzeitig, um im bevorstehen<strong>den</strong> Kampf eingesetzt zu wer<strong>den</strong>. Monjaraz selbst war kein Soldat<br />

und wollte deshalb auch nicht mitreiten. Er verstaute seinen Gewinn in <strong>den</strong> Satteltaschen und<br />

machte sich auf <strong>den</strong> Weg <strong>zur</strong>ück <strong>zur</strong> Küste.<br />

�<br />

Zweihun<strong>der</strong>t Fußsoldaten, achtzehn Reiter und viertausend Tlaxcalteken näherten sich Iztapalapá.<br />

<strong>Das</strong>s von allen Orten Anahuacs gerade Iztapalapá angegriffen wer<strong>den</strong> sollte, hatte seinen Grund<br />

nicht nur darin, dass diese Stadt die Resi<strong>den</strong>z des christenfeindlichen Überwin<strong>der</strong>s gewesen war<br />

o<strong>der</strong> dass nur ein meilenlanger Steindamm sie von Tenochtitlán trennte: Cortés wollte auch <strong>der</strong><br />

ständigen Bedrohung <strong>der</strong> Maisfel<strong>der</strong> Tezcocos ein Ende machen. Die Ernte – und damit ihre<br />

Ernährung – war gefährdet, weil immer wie<strong>der</strong> Mexica von Iztapalapá aus die Feldarbeiter<br />

Tezcocos überfielen, töteten o<strong>der</strong> verschleppten.<br />

Um die Mittagszeit befand Cortés sich bereits zwei Meilen östlich <strong>der</strong> Stadt. Als er mit seinen<br />

Soldaten aus einem Wald in baumloses Flachland gelangte, sah er sich achttausend Mexica<br />

gegenüber, die sich sofort mit gellendem Kriegsgeschrei in <strong>den</strong> Kampf stürzten. Die Spanier<br />

fan<strong>den</strong> trotz des Faulenzerlebens <strong>der</strong> letzten Wochen rasch <strong>zur</strong> gewohnten Kriegsführung <strong>zur</strong>ück<br />

und schwärmten in Linie aus. Musketen und Arkebusen gaben Feuer; Hellebardiere stürmten vor<br />

und hielten die Angreifen<strong>den</strong> in Schach, bis die Schützen nachgela<strong>den</strong> hatten. Den Feuerwaffen<br />

konnten die feindlichen Indianer nicht lange standhalten. Bald zogen sie sich langsam in Richtung<br />

<strong>der</strong> Stadt <strong>zur</strong>ück. Dicht vor <strong>den</strong> Mauern aber wurde ihr Rückzug <strong>zur</strong> wil<strong>den</strong> Flucht. Sie suchten so<br />

hastig Schutz in <strong>der</strong> Stadt, dass sie nicht einmal mehr dazu kamen, die Tore hinter sich zu<br />

schließen.<br />

Die Kastilier drangen sofort nach und fan<strong>den</strong> zu ihrer Verwun<strong>der</strong>ung keine Adler und<br />

Jaguare innerhalb <strong>der</strong> Stadtmauern mehr vor. Die Stadt war zum größten Teil auf Pfählen in die<br />

Lagune hinausgebaut; das mexicanische Heer hatte sich auf unzähligen Booten in Sicherheit<br />

gebracht. <strong>Das</strong> aber hin<strong>der</strong>te die Tlaxcalteken nicht daran, viertausend Greise, Frauen und Kin<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Bevölkerung Iztapalapás zu mor<strong>den</strong>. Die Christen durchsuchten <strong>der</strong>weil Haus für Haus nach<br />

hübschen Mädchen, Gold und Geschmei<strong>den</strong>. Wie<strong>der</strong> war die Beute groß. Als die Nacht nahte und<br />

es nichts mehr zu rauben gab, brannte die Stadt. Hoch lo<strong>der</strong>ten die Flammen in <strong>den</strong> Nachthimmel.<br />

In Tenochtitlán am an<strong>der</strong>en Seeufer sollte man sehen, dass Cortés <strong>zur</strong>ückgekehrt sei.<br />

�<br />

<strong>Das</strong> Schloß des Überwin<strong>der</strong>s erbaute Schloss ragte über die Baumwipfel. Hier wollte Cortés<br />

übernachten. Der Feind war auf <strong>den</strong> Schilfsee entwichen und konnte nicht verfolgt wer<strong>den</strong>.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 358<br />

Während die Tlatepoca mordeten und die Christen in <strong>den</strong> Pfahlbauten plün<strong>der</strong>ten, schritten Marina<br />

und Cortés durch die mit poliertem Ze<strong>der</strong>n- und Sandelholz getäfelten, mit Jaspis, schwarzem<br />

Achat und Goldblechstreifen umrahmten und mit Kolibrife<strong>der</strong>mosaikteppichen behängten<br />

Prunksäle des verlassenen Tecpans. Sie wandelten durch <strong>den</strong> Garten, durch Alleen mit<br />

hun<strong>der</strong>tjährigen Zypressen, schritten auf zierlichen, mit Muschelscherben bestreuten Wegen<br />

zwischen <strong>den</strong> duften<strong>den</strong> und bunten Beeten mit unzähligen Blumen umher, während in <strong>den</strong><br />

Bäumen Araras und goldgelbe Rollschwanzaffen mit waghalsiger Akropatik im Geäst kreischten<br />

und tobten. Langgeschweifte Silberfasane schritten stolz über <strong>den</strong> Rasen. Spiegelblank gemeißelt<br />

wie das Mauerwerk war die Alabastertreppe, die ins Wasser hinabführte, umspielt von Scharen<br />

kupfern blitzen<strong>der</strong> Fische. Zwischen Seerosen lärmten und schwammen die seltensten<br />

Tauchervögel, Reiher und Ibisse.<br />

<strong>Das</strong> Wehgeschrei <strong>der</strong> Frauen und Kin<strong>der</strong> drang nicht über die hohen Gartenmauern. Als sie<br />

vor mehr als einem Jahr zum ersten Mal dem Bann dieser Zauberwelt verfallen waren, hatte la<br />

Azteca sie durch die Alleen mit uralten Zypressen geführt. Im Unterschied zu damals war heute ein<br />

regnerischer Abend. Die Flammen des Leuchtturms Unserer-Großmutter-Holz und das Altarfeuer<br />

des Schlangenberges erleuchteten <strong>den</strong> See wie vor einem Jahr. »Schau, wie <strong>der</strong> Regenhimmel<br />

blinkt«, hatte Cortés damals ausgerufen, »es ist <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>schein des Goldes und Silbers von<br />

Mexico, <strong>der</strong> dort schimmert!«<br />

Diesmal aber sprachen sie nicht vom locken<strong>den</strong> Gold.<br />

»Weißt du noch, Marina«, sagte Cortés, »als wir damals in diesem Palast wohnten, glaubten<br />

wir, es gäbe auf <strong>der</strong> Welt seinesgleichen nicht. Bald darauf aber zogen wir in Tenochtitlán ein - und<br />

selbst Iztapalapás Herrlichkeit verblasste neben dem Huei-Tecpan.«<br />

»Ja, es war ein Traum!«, antwortete Marina. »Träume haben keinen Bestand.«<br />

Er erriet ihre Gedanken.<br />

»Warum sprichst du's nicht aus? Glaubst du, dass ich an<strong>der</strong>s <strong>den</strong>ke als du? Auch mir tut es<br />

Leid um Tenochtitlán.«<br />

»Und doch wird die Stadt zerstört, Don Hernándo!«<br />

»Auf mein Gewissen! Ich will es nicht, Marina! Ich will die Wasserstadt schonen! Gebe Gott,<br />

dass ich es kann! Es ist mein ehrlicher Wunsch! Soweit es an mir liegt, wird Tenochtitlán<br />

fortbestehen!«<br />

Und da sie schwieg, fragte er eindringlich:<br />

»Zweifelst du etwa daran?«<br />

»Nicht an Euch, Don Hernándo!«<br />

»Woran <strong>den</strong>n?«<br />

»Ihr habt Euch viel vorgenommen. Ich frage mich, ob es Euch gelingen wird.«<br />

»Ich bin nicht mehr als ein Schaumkamm auf einer Welle! Ich kann nur, was mir zu können<br />

erlaubt ist. Ich baue Brigantinen und schicke Frie<strong>den</strong>sangebote – das Weltgeschehen kümmert<br />

sich um beides nicht! Es ist wie in einem kleinen Boot auf einem reißen<strong>den</strong> Strom: Man kann ein<br />

wenig nach rechts o<strong>der</strong> nach links steuern, doch ein Mächtigerer hat dem reißen<strong>den</strong> Strom das<br />

Bett gegraben!«<br />

Bru<strong>der</strong> Aguilár kam atemlos in <strong>den</strong> Schlossgarten gestürzt und eilte zu Cortés.<br />

»Euch habe ich überall in <strong>der</strong> Stadt gesucht, Don Hernándo! Geschieht es mit Eurem Wissen<br />

und Willen?«<br />

»Was?«<br />

»Hört Ihr die Schreie nicht? Die Tlatepoca metzeln Frauen und Kin<strong>der</strong> nie<strong>der</strong> wie damals in<br />

Cholula! Von <strong>der</strong> Stadtbevölkerung lebt kaum noch die Hälfte!«<br />

Einen Augenblick blieb Cortés starr. Dann eilte er in die Stadt. Schon stand das Hafenviertel<br />

in Flammen. Und obgleich jener Teil <strong>der</strong> Stadt auf Wasser gebaut war, ließ das Feuer sich nicht<br />

löschen. Von <strong>den</strong> Dächern <strong>der</strong> an Land gebauten Häuser schauten viele Kastilier dem purpurnen<br />

Schauspiel zu. Es war aussichtslos, dem Mor<strong>den</strong> Einhalt zu gebieten.<br />

Mit Alvarado ritt Cortés durch die Gassen und machte ihm zornig Vorwürfe, er könne die<br />

Tlatepoca nicht im Zaum halten.<br />

»Ich habe Euch diese Bestien unterstellt, Don Pedro, weil Ihr eine Tlaxcaltekin zum Weibe<br />

habt!«<br />

Der schuldbewusste Alvarado verteidigte sich nicht; stattdessen zeigte er plötzlich auf <strong>den</strong>


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 359<br />

Bo<strong>den</strong>: <strong>Das</strong> Feuer <strong>der</strong> brennen<strong>den</strong> Stadt spiegelte sich in dünnen Wellen, die über die<br />

Gassensteine leckten!<br />

»Was ist das, Don Hernándo? Vorhin, als ich durch diese Gasse ritt, war sie trocken. Jetzt<br />

aber waten unsere Pferde durch Wasser!«<br />

»Tod und Teufel«, fluchte Cortés. »Sollen wir ersäuft wer<strong>den</strong>? Eine Kriegslist? Ein<br />

Dammbruch?«<br />

»Kommt <strong>zur</strong> Pyramide, Don Hernándo! Von <strong>der</strong> obersten Terrasse aus wer<strong>den</strong> wir die<br />

Lagune übersehen können!«<br />

Sie ritten <strong>zur</strong> Stufenpyramide. Mit einigen herbeigerufenen Hellebardieren eilten sie die<br />

Pyrami<strong>den</strong>treppe hinauf.<br />

Der westliche Damm trennte <strong>den</strong> Süßwassersee von Xochimilco von <strong>der</strong> salzigen Lagune<br />

und verband Coyoacán mit dem Bollwerk Acachinanco (wo einst Cortés von Moctezuma begrüßt<br />

wor<strong>den</strong> war). Alvarado zeigte hinüber, wo man arbeitende Menschenkörper im kupferroten Licht<br />

erkannte. »Eure Vermutung war richtig, Don Hernándo!«<br />

Die Mexica lockerten Steinqua<strong>der</strong> und Erdschutthaufen.<br />

»Da, schaut – die Mexica öffnen <strong>den</strong> Damm, als wäre er eine Schleuse! Der See steht höher<br />

als die Lagune!«<br />

An einer Stelle war das Zerstörungswerk bereits getan, an einer an<strong>der</strong>en schoss das Wasser<br />

soeben hervor und ergoss sich wie ein Wasserfall in die Fluten des Salzwassersees. Gischtend<br />

wälzte sich eine Woge gegen Iztapalapá.<br />

Sie eilten die Pyrami<strong>den</strong>treppe hinunter. Trompetensignale, laute Befehle und Flüche<br />

schallten durch die Nachtluft. Kastilier und Tlaxcalteken ließen ihre Beute im Stich und flüchteten in<br />

die höher gelegenen Maisfel<strong>der</strong> außerhalb <strong>der</strong> Ringmauer. <strong>Das</strong> Gedränge am östlichen Stadttor<br />

verlangsamte die Flucht. Plötzlich waren die Adler und Jaguare <strong>zur</strong>ück und kämpften in sämtlichen<br />

Gassen. Die Nachhut watete bereits bis zu <strong>den</strong> Schenkeln im Wasser und musste sich obendrein<br />

<strong>der</strong> Angreifer erwehren.<br />

Cortés verließ mit <strong>der</strong> Nachhut die Stadt. Fechtend mussten sie sich <strong>der</strong> Nachdrängen<strong>den</strong><br />

erwehren. Da sah er <strong>den</strong> Schwätzer Tarifa de los servícios, <strong>den</strong> Gatten <strong>der</strong> rundlichen Rosita<br />

Muños; obgleich er von zwei Fein<strong>den</strong> bedroht wurde, hielt Tarifa ein Edelsteinkästchen in <strong>den</strong><br />

emporgereckten Armen. Er schien sich nicht davon trennen zu können.<br />

»Werft lieber das Gold fort als Euer Leben!«, rief Cortés ihm zu.<br />

Tarifa ließ das Kästchen in die Flut fallen und brach in Tränen aus. Er flennte wie ein Kind<br />

und vergaß die Gefahr.<br />

Ein Speer fuhr ihm in die Brust, und er versank im See.<br />

�<br />

Mit knapper Not war das Christenheer in Iztapalapá dem Untergang entronnen. Die Beute war<br />

verloren. Immerhin – und das mochte als Trost gelten – war außer Tarifa kein Mann getötet<br />

wor<strong>den</strong> (nur naturales, viertausend Frauen und Kin<strong>der</strong>!).<br />

Die Spanier konnten zwei Mexica von hohem Rang gefangen nehmen. Cortés ließ ihnen<br />

durch Marina eröffnen, die Söhne <strong>der</strong> Sonne seien keine Menschenfresser wie die Azteken. Der<br />

Grüne Stein schenke ihnen das Leben und die Freiheit, doch er verlange, dass sie bei ihrer<br />

Rückkehr in Tenochtitlán dem Schlagen<strong>den</strong> Falken ein Frie<strong>den</strong>sangebot überbrächten.<br />

Er zeigte <strong>den</strong> Brief Marina. Darin heißt es: Ich habe keinen sehnlicheren Wunsch, als Eure<br />

Majestät und die schöne Stadt Tenochtitlán vor dem Untergang zu bewahren. Es ist leicht, einen<br />

Krieg zu beginnen, aber schwer ist es, ihn zu gutem Ende zu führen. Ein abgeschossener Pfeil<br />

kehrt nicht <strong>zur</strong>ück, und eine fliegende Lanze gehorcht dem Lanzenwerfer nicht mehr. Oft en<strong>den</strong><br />

Kriege mit dem Ver<strong>der</strong>ben <strong>der</strong>er, die sie heraufbeschworen haben. Sollten Majestät zum Frie<strong>den</strong><br />

bereit sein, will ich alle erlittene Unbill und <strong>den</strong> Tod meiner Gefährten verzeihen und keinerlei<br />

For<strong>der</strong>ungen stellen.<br />

»Du musst ihn <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> übersetzen«, sagte er. »Es ist unwahrscheinlich, dass <strong>der</strong><br />

Schlagende Falke <strong>den</strong> Brief lesen kann.«<br />

»Der König besitzt einen weißen Sklaven«, antwortete Marina. »Der Gefleckte Berglöwe wird<br />

ihn übersetzen.«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 360<br />

»Lies ihn trotzdem vor.«<br />

Einer <strong>der</strong> bei<strong>den</strong> aztekischen Generale nahm <strong>den</strong> Brief entgegen und steckte ihn in sein<br />

bauschig gekämmtes Haar.<br />

Als die bei<strong>den</strong> Mexica zum Boot geleitet wur<strong>den</strong>, das sie über <strong>den</strong> See bringen sollte, führte<br />

<strong>der</strong> Weg sie an dem von Olíd bewohnten kleinen Tecpan vorbei. Vom Dach herab erschollen<br />

Flötenklänge, schwermütige mexicanische Melodien. Sie sahen eine junge Frau in aztekischer<br />

Tracht, die ihnen bekannt vorkam. An <strong>der</strong> kleinen Goldmaske, die ihre Halskette zierte, erkannten<br />

sie Königin Maisblume. Erst wollten sie ihren Augen nicht trauen; in Tenochtitlán war die Königin<br />

totgesagt und betrauert wor<strong>den</strong>, doch die Boten zweifelten nicht daran, dass sie es war. Am<br />

Lagunenufer fan<strong>den</strong> sie Gelegenheit, heimlich einen <strong>der</strong> Ru<strong>der</strong>knecht auszufragen, und <strong>der</strong><br />

bestätigte ihnen, dass Maisblume am Leben war.<br />

�<br />

Die Herrin von Tula saß am Webstuhl und arbeitete an einer Decke, meergrün mit schwimmen<strong>den</strong><br />

Fischen, Krebsen und einer großen weißen, gewun<strong>den</strong>en Muschel. Ihre Mädchen knieten im Kreis<br />

um sie herum und spannen. Eintönig gab das Pochen des Weberschiffchens das Zeitmaß an. Sie<br />

lebte jetzt allein im Palast. Ihr Sohn Felsenschlange hatte Tenochtitlán vor mehreren Tagen mit<br />

einer Heeresmacht verlassen; <strong>der</strong> Schlagende Falke hatte ihn beauftragt, <strong>den</strong> Verrat <strong>der</strong> Stadt<br />

Chalco zu strafen und eine neue mexicanische Garnison in die Stadtburg zu legen. Die<br />

Beratungen über das inzwischen eingetroffene neue Frie<strong>den</strong>sangebot fan<strong>den</strong> ohne<br />

Felsenschlange statt: <strong>Das</strong> Angebot war wie<strong>der</strong>um abgelehnt wor<strong>den</strong>.<br />

Ein Torwächter meldete, in einer Sänfte vor dem Hauptportal warte die Witwe des Edlen<br />

Betrübten auf Bescheid, ob die Witwe des Herrn des Fastens sie empfangen wolle. Die Herrin von<br />

Tula ließ ihre Schwiegertochter Königin Goldkolibri hereinbitten und ging ihr bis zu <strong>den</strong><br />

Granitstufen entgegen, die zum Palasttor hinauf führten. Der Höfling Xoctemecl, <strong>der</strong> Goldkolibri<br />

begleitet hatte, wartete draußen bei <strong>den</strong> Sänftenträgern, während die Herrin von Tula ihren hohen<br />

Gast in einen geräumigen Saal führte. Auf Jaguarfellsessel setzten sie sich einan<strong>der</strong> gegenüber.<br />

Sklavinnen brachten Kakaoschalen. Dann blieben die bei<strong>den</strong> Königinnen allein.<br />

Nachdem die zeremoniellen Begrüßungsformeln ausgetauscht waren, teilte Königin<br />

Goldkolibri <strong>den</strong> Zweck ihres Besuchs mit. Sie habe, sagte sie, die Herrin von Tula aufgesucht, um<br />

ihr Herz auszuschütten. Der Schlagende Falke habe sein Verlöbnis mit ihr gelöst, weil jetzt<br />

erwiesen sei, dass ihre Schwester Maisblume noch lebte. Goldkolibri sagte es auf ihre Weise, mit<br />

großer Beherrschung, jedoch kalt und spöttisch lächelnd, obgleich ihr Inneres ein Flammenmeer<br />

war.<br />

Die Herrin von Tula wusste Rat und Trost: Könne Goldkolibri nicht Königin <strong>der</strong> Mexica sein,<br />

solle sie zum zweiten Mal Königin von Tezcoco wer<strong>den</strong> – dies durchzusetzen, glaube sie als<br />

Mutter genügend Einfluss zu haben. Auch werde Goldkolibri keinen schlechten Tausch machen,<br />

da Felsenschlange we<strong>der</strong> dem Schlagen<strong>den</strong> Falken noch dem Edlen Betrübten nachstehe.<br />

Goldkolibri war zu klug, um ihrer Rache wegen – die sich ja aufschieben ließ - einen Thron<br />

auszuschlagen. <strong>Das</strong>s Königstöchter zum Wohle des Staates und aus politischen Grün<strong>den</strong><br />

verschie<strong>den</strong>en Gatten angedient wur<strong>den</strong>, war sie gewöhnt – das war in <strong>der</strong> neuen Welt nicht<br />

an<strong>der</strong>s als in <strong>der</strong> alten. Sie bedankte sich und brachte nur ihre Be<strong>den</strong>ken vor, Felsenschlange<br />

werde von <strong>der</strong> Ehe nichts wissen wollen, da er sein Herz an eine weiße Sklavin gehängt habe.<br />

Darum müsse die weiße Sklavin aus dem Weg geräumt wer<strong>den</strong>, solange Felsenschlange<br />

von Tenochtitlán abwesend sei. Schon lange war es <strong>der</strong> Herrin von Tula ein Dorn im Auge, dass<br />

ihr Sohn dem Zauber <strong>der</strong> Gelbhaarigen erlegen war. Jetzt hatte sie einen Anlass, dem Ärgernis ein<br />

Ende zu machen.<br />

Die glanzlosen Augen <strong>der</strong> Königin Goldkolibri leuchteten kurz auf.<br />

»Vorhin suchte mich Huitzilopochtlis Knecht auf«, fuhr die Herrin von Tula fort. »Er sagte mir,<br />

was er heute Abend dem Volk verkün<strong>den</strong> wird. Die Stimme des Gottes sprach aus dem heiligen<br />

Nopalbaum: ›Kein weißes Wesen darf hinfort in meiner Stadt geduldet wer<strong>den</strong>! Kein weißes<br />

Kaninchen, keine weiße Taube, kein weißer Schmetterling, kein weißer Mensch!‹«<br />


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 361<br />

Auf dem Rückweg in <strong>den</strong> Huei-Tecpan ging Purpurkranich neben dem Tragstuhl <strong>der</strong> Königin<br />

Goldkolibri her und flüsterte mit ihr. Er sah nicht mehr so abschreckend aus, auch wenn er seine<br />

einstige Schönheit nicht wie<strong>der</strong>erlangt hatte.<br />

»Wer gab dir deine Nase <strong>zur</strong>ück? Der Schlagende Falke nahm sie dir – gab er sie dir nun<br />

wie<strong>der</strong>? Schließlich ist er allmächtig. Aber wie hat er es gemacht?«, fragte die Königin mit bitterem<br />

Spott.<br />

Xoctemecl berichtete ihr von <strong>der</strong> Giftmischerin Xohxiquezal, <strong>der</strong> Kupfergrünen, die sich<br />

erboten hatte, seine Hässlichkeit zu heilen. Sie habe ihm die Nase eines kurz zuvor getöteten<br />

Opfersklaven mit einem langen Frauenhaar angenäht, sodass sie anwuchs, als wäre sie sein<br />

eignes Fleisch. Er bereue es nicht, wenn auch die Nase seiner früheren nicht gleiche...<br />

»Du gingst deiner Nase wegen <strong>zur</strong> Giftmischerin», sagte Goldkolibri; »doch nicht nur, um sie<br />

heilen zu lassen?«<br />

»Warum sonst, Herrin?«<br />

»Um deine Nase zu rächen!«<br />

»Hast du keinen Grund <strong>zur</strong> Rache, Herrin?«<br />

Goldkolibri schaute ihn nach<strong>den</strong>klich an. Xoctemecl-Purpurkranich war ein Intrigant; sie<br />

konnte sich seine Ränke vielleicht zunutze machen.<br />

»Führe mich <strong>zur</strong> Kupfergrünen«, sagte sie. »Jetzt gleich!«<br />

»Herrin, noch ist es Tag. Man würde uns sehen, und dann würde ruchbar, dass du <strong>zur</strong><br />

Giftmischerin...«<br />

»Schweig! Sprich das Wort nicht aus! Wo wohnt sie?«<br />

»Beim Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse. Heute Nacht werde ich dich zu ihr führen.«<br />

�<br />

Als die Nacht hereinbrach, tanzte Isabel de Ojeda in <strong>den</strong> Gassen Tenochtitláns <strong>zur</strong> Musik von<br />

Flötenspielern. Die Herrin von Tula hatte sie in <strong>den</strong> Schlangenberg einliefern lassen, und die<br />

Frauenköpfe sammelnde Weiße Frau hatte sie in Empfang genommen, sie gekleidet, geschmückt<br />

und <strong>der</strong> Sternengöttin geweiht, <strong>der</strong> Gemahlin des Feuergottes. Isabel trug ein bis zu <strong>den</strong> Knöcheln<br />

reichendes schlohweißes Baumwollhemd und darüber einen mit Sternbil<strong>der</strong>n bemalten Frauenrock<br />

aus rotem Le<strong>der</strong>, dessen unterer Saum mit kleinen, bei jedem Schritt rasseln<strong>den</strong><br />

Schneckengehäusen besetzt war. In <strong>der</strong> linken Hand hielt sie ein hölzernes, blau bemaltes<br />

Webermesser, in <strong>der</strong> Rechten einen mit Kreide geweißten Rundschild, von dem lange, bis zum<br />

Bo<strong>den</strong> reichende Bän<strong>der</strong> aus Purpurkranichn herabringelten. Die untere Hälfte ihres Gesichtes war<br />

schwarz, die obere gelb geschminkt. Ihr Haar bildete Hörner an <strong>den</strong> Schläfen und war von einer<br />

Adlerfe<strong>der</strong>-Krone bekränzt.<br />

Ein Mädchen o<strong>der</strong> eine Frau, die <strong>der</strong> Sternengöttin geweiht wurde, musste tanzend in ein<br />

Haus treten – und wenn sie dort einen Jüngling vorfand, musste sie sich ihm hingeben. <strong>Das</strong><br />

Unerlaubte war ihr erlaubt. Nur das Verbotene nicht zu tun, war ihr verboten. Allzu lange hatte<br />

Isabel die Schmach nun schon hinausgeschoben. Sobald ihre Begleiter, die Flötenspieler, sie<br />

mahnten, trat sie in ein Haus, kehrte dann sofort wie<strong>der</strong> um, schüttelte <strong>den</strong> Kopf und sagte, dass<br />

nur Weiber darin seien. So wurde sie, weinend und tanzend, durch zahllose Gassen getrieben. Die<br />

Musikanten wur<strong>den</strong> ärgerlich. Sie bedrohten sie, schlugen sie. Isabel konnte dem Unentrinnbaren<br />

nicht entrinnen. Ratlos tanzte sie und schaute wie ein gehetztes Tier in die Runde. Die Gasse, in<br />

<strong>der</strong> sie sich nun befand, kam ihr bekannt vor -– war sie nicht erst vor kurzem hier gewesen? Da<br />

erkannte sie das ärmliche Haus wie<strong>der</strong>, in das sie das Kind von Königin Perlendiadem gebracht<br />

hatte.<br />

Gonzalo Guerrero wollte sie retten! Er war ihr unheimlich vorgekommen, jetzt würde sie ihn<br />

mit Freu<strong>den</strong> erblicken!<br />

Isabel tanzte in das Haus <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>arbeiterin. So wie damals war die vor<strong>der</strong>e Kammer mit<br />

Gästen gefüllt. Am Bo<strong>den</strong> hockten neben <strong>der</strong> Schwindsüchtigen und ihrer Schwester müde<br />

Mantelweber, Korbflechter, Lackarbeiter, eine Wasserträgerin, ein Entenjäger – und er, <strong>den</strong> sie<br />

suchte. Jäh verstummten die Re<strong>den</strong>, still wurde es im Raum. Je<strong>der</strong> wusste, was sie hier herführte<br />

und dass ihr Wunsch keine Absage litt. Wen unter <strong>den</strong> Ärmsten <strong>der</strong> Armen wollte sie sich


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 362<br />

auswählen? Isabel ging zum Gefleckten Berglöwen und fasste seine Hand. Stumm erhob er sich<br />

und ließ sich von ihr in die hintere Kammer führen, wo die Wiege des weißen Kindes stand.<br />

Drinnen war es dunkel, nur schräg durchs Fenster einfallen<strong>der</strong> Mondschein spendete ein wenig<br />

Licht.<br />

Gleich nach ihrem Eintritt hatte Isabel die Hand Guerreros fallen lassen und war <strong>zur</strong> Wiege<br />

geeilt. Ja, das Cortéskind schlummerte dort wie damals. Weiß und geisterhaft stand Isabel im<br />

Mondschein.<br />

»Señorita!«, begann Gonzalo Guerrero. »Warum sucht Ihr bei dem Kind Schutz? Fürchtet<br />

nichts – ich will aus Eurer Not keinen Vorteil ziehen. Bevor Ihr Schutz bei <strong>der</strong> Wiege sucht, sucht<br />

sie besser bei mir. Ich habe Euch zu retten versprochen, Señorita. Kommt mit mir!«<br />

»Wohin?«<br />

»Ins Land <strong>der</strong> Maya, bei <strong>den</strong>en ich mit Frater Aguilár gelebt habe. Die Mahagonibäume<br />

wachsen dort höher als die Zypressen Mexicos, und die Blumen sind noch duften<strong>der</strong>.«<br />

Enttäuschung malte sich im Gesicht Isabels. Sie hatte sich einem Phantasten anvertraut!<br />

Was er vorschlug, war unausführbar.<br />

»<strong>Das</strong> sind Träume«, sagte sie bedrückt. »Wie sollten wir dorthin gelangen?«<br />

»Nicht nur wir zwei, Señorita. Ihr wisst nicht, wer ich bin! Ich bin <strong>der</strong> König <strong>der</strong> Sklaven! Bald<br />

werdet Ihr die Sklavenkönigin sein! Meine Getreuen haben <strong>den</strong> Auszug ins Maya-Land geplant<br />

und vorbereitet. Heute Nacht brechen wir nach Sü<strong>den</strong> auf, um dort ein Sklavenreich zu grün<strong>den</strong>.«<br />

Sie sah ihn verständnislos an.<br />

»Sind es so viele?«, fragte sie.<br />

»Zehntausende, Señorita! Haussklaven, Feldarbeiter, Landstreicher, Bettler, Diebe... alle<br />

Heimatlosen, Nackten und Entrechteten Mexicos.«<br />

»In dieser Nacht? Wie wollt Ihr sie herbeirufen?«<br />

»Sie stehen schon versammelt und warten auf Euch, Señorita!«<br />

»Auf mich...?«<br />

»Auf uns beide! Unser Aufbruch findet früher statt, als vorgesehen war.«<br />

»Als vorgesehen war?«, wie<strong>der</strong>holte Isabel verwun<strong>der</strong>t.<br />

Gonzalo Guerrero (* vor 1500, † vermutlich 1536),<br />

Matrose aus dem spanischen Palos. Stach als<br />

Matrose von Panama nach Santo Domingo in<br />

See, erlitt Schiffbruch, konnte sich auf ein Boot<br />

retten und gelangte nach Yucatan. Dort wur<strong>den</strong><br />

die Überleben<strong>den</strong> von <strong>den</strong> einheimischen Maya<br />

gefangen genommen und sofort als Menschenopfer<br />

<strong>den</strong> Göttern dargebracht. Nur zweien gelang<br />

die Flucht: Gerónimo de Aguilar, ein spanischer<br />

Franziskanermönch, und <strong>der</strong> Matrose Gonzalo<br />

Guerrero, sie gerieten aber erneut in Gefangenschaft<br />

eines an<strong>der</strong>en Maya-Stammes. –<br />

Aguilar lebte acht Jahre lang bei dem Kaziken als<br />

Sklave, Gonzalo wurde an<br />

einen an<strong>der</strong>en Kaziken weiter<br />

verschenkt, gewann dessen<br />

Vertrauen und genoss bei <strong>den</strong><br />

Maya bald einen hervorragen<strong>den</strong><br />

militärischen Ruf. 1514<br />

war er zum obersten Kriegsherrn<br />

aufgestiege, heiratete<br />

eine wohlhabende adelige Maya-Frau, seine Kin<strong>der</strong> gelten allgemein als die ersten Mestizen<br />

Mexikos, wenn nicht ganz Lateinamerikas. 1519 ließ er <strong>den</strong> Spaniern die Nachricht zukommen,<br />

er möge sich ihnen anschließen. Gerónimo de Aguilar kam <strong>der</strong> Bitte von Cortés sofort<br />

nach, dagegen lehnte Gonzalo Guerrero mit dem Hinweis, das er ein Maya gewor<strong>den</strong> sei.<br />

Guerrero starb vermutlich um 1536 in einer Schlacht, bei <strong>der</strong> er mit <strong>den</strong> Maya gegen die spanischen<br />

Invasoren kämpfte. (Bild oben links: Gonzalo Guerrero, Wandgemälde in Merida,Yukatan.<br />

Unten: nachempfun<strong>den</strong>e Zeichnung, die eine Szene seines Lebens unter <strong>den</strong> Mayas darstellt).


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 363<br />

Der Gefleckte Berglöwe ging nicht darauf ein. »Wisst Ihr, warum Ihr durch die Gassen<br />

tanzen müsst?«<br />

Isabel brach wie<strong>der</strong> in Tränen aus. »Man will mich erniedrigen. Dann wer<strong>den</strong> sie mich auf<br />

ihren Schlachtbänken opfern.«<br />

»Euch und alles, was weiß ist!«<br />

»Wie meint Ihr das?«<br />

»Der Hohepriester hat das Baumorakel bekannt gegeben. Alle weißen Wesen sollen in<br />

Tenochtitlán getötet wer<strong>den</strong>: Silberfalken, Schneehasen, weiße Götter...«<br />

»Auch dieses Kind?«, fragte Isabel und beugte sich über die Wiege.<br />

Gonzalo Guerrero blieb ihr die Antwort schuldig. »Tenochtitlán ist verloren. Die<br />

Geknechteten und Unterdrückten wollen sich nicht mehr für die Adligen und die reichen Kaufleute<br />

nie<strong>der</strong>metzeln lassen. Aber hier können wir die Zwingherren noch nicht besiegen – umso leichter<br />

jedoch wird es in Guatemala sein. Wenn es uns dort geglückt ist, wer<strong>den</strong> wir uns gegen Mexico<br />

wen<strong>den</strong>. Mein Sklavenreich wird Venezuela, Panama, Yucatán und Anahuac umfassen; auch<br />

Kuba und Haiti wer<strong>den</strong> befreit!«<br />

Isabel erfasste nicht das Unrealistische dieses Plans; sie begriff nur, dass sich ihr ein<br />

Ausweg aus ihrer misslichen Lage auftat.<br />

In <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>en Kammer entstand plötzlich Unruhe.<br />

»Still!«, flüsterte Isabel. »Hört Ihr die Stimmen? Die Flötenspieler fragen nach mir.«<br />

»Kommt schnell! Es gibt einen zweiten Ausgang – zum Kanal hinaus! Dort liegt mein Boot!«<br />

Er nahm sie an <strong>der</strong> Hand und zog sie fort. Sie hatte keinen Willen und kein Gefühl mehr. Nur<br />

das Kind wollte sie retten.<br />

»Lasst mich das Kind mitnehmen!«<br />

»Seid Ihr bei Trost, Señorita?«, herrschte er sie an. »Wenn es aufwacht und uns durch sein<br />

Geschrei verrät, sind wir verloren! Kommt, kommt – ehe es zu spät ist!«<br />

Er riss sie von <strong>der</strong> Wiege fort und zog sie durch einen dunklen Gang <strong>zur</strong> hinteren Pforte.<br />

Zwei Ru<strong>der</strong>er warteten dort. Guerrero und Isabel stiegen ins Boot, das sich von <strong>der</strong> Hauswand<br />

löste und lautlos in die Nacht davonglitt.<br />

�<br />

Der Träumer weilte an diesem Abend wie<strong>der</strong> bei seinem Freund, dem Annalenschreiber Weißer<br />

Mondstein, zu Besuch. Eine schäumende Pulque-Schale stand zwischen ihnen, und in <strong>den</strong> Augen<br />

des Träumers tanzten bereits kleine Pulque-Götter. Weißer Mondstein las aus einer noch<br />

unfertigen Bil<strong>der</strong>schrift vor. Sein monotoner Singsang wurde plötzlich von lautem Pochen an <strong>der</strong><br />

Tür unterbrochen. Die bei<strong>den</strong> Freunde blickten einan<strong>der</strong> schreckensstarr an und erhoben sich von<br />

ihren Sitzen. Wer kam um diese Stunde noch?<br />

Als Weißer Mondstein auf <strong>den</strong> Flur trat, lief dort bereits ein Diener mit qualmendem<br />

Kienspanbündel umher. Er öffnete die Haustür. Zwei Träger hoben eine unansehnliche, beinahe<br />

ärmliche Sänfte über die Schwelle, und <strong>der</strong> als Fächerträger gekleidete Höfling Xoctemecl-<br />

Purpurkranich huschte hinterher. Noch bevor er sie begrüßt und eine Erklärung abgegeben hatte,<br />

rief Xoctemecl in höchster Aufregung <strong>den</strong> Hauserleuchtern zu, die Eingangstür sofort zu schließen<br />

und <strong>den</strong> Balkenriegel vorzulegen.<br />

Auf dem Weg <strong>zur</strong> Kupfergrünen waren Purpurkranich und Goldkolibri in <strong>den</strong> unübersehbaren<br />

Schwarm <strong>der</strong> abziehen<strong>den</strong> Sklaven geraten. Man hatte Verwünschungen ausgestoßen und<br />

gedroht, sie in einem dunklen Kanal zu ersäufen. Glücklicherweise hatte Goldkolibri ein gefülltes<br />

Edelsteinkästchen mitgenommen – für <strong>den</strong> Fall, dass die Giftmischerin einen hohen Preis for<strong>der</strong>te.<br />

Als sie sich von zerlumpten, Stangen und Beile schwingen<strong>den</strong> Gestalten umringt sah, konnte sie<br />

die Gefahr durch die Herausgabe <strong>der</strong> Schatulle bannen. Außer mexicanischen Geschmei<strong>den</strong> war<br />

auch eine winzige, an gol<strong>den</strong>er Halskette hängende Figur <strong>der</strong> Gottesmutter aus Gold und Emaille<br />

darunter, die Isabel de Ojeda gehört hatte. Goldkolibri stand Todesängste aus; schließlich aber<br />

erlaubte ihr das Pack, das Haus des Annalenschreibers zu betreten.<br />

Purpurkranich half Goldkolibri aus <strong>der</strong> Sänfte. Sie trug einen Schleier; weil sie nicht erkannt<br />

wer<strong>den</strong> wollte, lüftete sie ihn nicht. Dennoch konnten Weißer Mondstein und <strong>der</strong> Träumer durch<br />

<strong>den</strong> Stoff hindurch erkennen, dass sie an allen Glie<strong>der</strong>n bebte.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 364<br />

Purpurkranich schil<strong>der</strong>te das Ungeheuerliche, dessen Zeugen sie gewesen waren. Von<br />

draußen drang ferner Waffenlärm herein. Weißer Mondstein schlug vor, hinauf zum Dachgarten zu<br />

steigen, um nachzuschauen. Auf <strong>der</strong> Treppe verlor <strong>der</strong> Träumer das Gleichgewicht und griff Halt<br />

suchend nach <strong>der</strong> unbekannten Edelfrau. Der Schleier sank, und obgleich er sofort wie<strong>der</strong><br />

hochgezogen wurde, hatte <strong>der</strong> Träumer die Königin Goldkolibri erkannt. Er war nicht so betrunken,<br />

wie er sich stellte.<br />

Vom Dach hatten sie einen Überblick über die südlichen Stadtteile. Die Kampfgeräusche<br />

verebbten bereits wie<strong>der</strong>. Die Sklaven hatten das Haus <strong>der</strong> Speere gestürmt, die Wachen<br />

überwältigt und das Arsenal geplün<strong>der</strong>t. Jetzt kämpften sie mit <strong>den</strong> erbeuteten Speeren, Pfeilen,<br />

Bogen und Schil<strong>den</strong> gegen die wenigen Adler und Jaguare am Südtor. Sie fan<strong>den</strong> nur geringen<br />

Wi<strong>der</strong>stand, <strong>den</strong>n Mexicos Heere stan<strong>den</strong> teils mit Felsenschlange vor Chalco, teils lagerten sie<br />

bei Coyoacán. <strong>Das</strong> Kampfgeheul und <strong>der</strong> Lärm <strong>der</strong> Muscheltrompeten erstarben und wichen<br />

gedämpftem Getrappel und Geklapper. Durch das eroberte Tor wälzte sich eine dunkle Masse<br />

über <strong>den</strong> Steindamm Iztapalapá entgegen. Blauschwarz tänzelten die Schatten auf <strong>den</strong> silbernen<br />

Wellen <strong>der</strong> Lagune. Nach einer Stunde waren alle hinter <strong>den</strong> blassroten Türmen des Bollwerks<br />

Acachinanco verschwun<strong>den</strong>.<br />

�<br />

Kaum hatten Xoctemecl, die Träger und die Sänfte das Haus wie<strong>der</strong> verlassen, verabschiedete<br />

sich eilig auch <strong>der</strong> Träumer.<br />

»Bleib noch«, bat Weißer Mondstein, »draußen lauern jetzt Gefahren. Wir haben<br />

Unvorstellbares gesehen! Die Adler und Jaguare wer<strong>den</strong> je<strong>den</strong> ergreifen, <strong>den</strong> sie antreffen!«<br />

»Ich muss gehen«, beharrte <strong>der</strong> Träumer, »es ist wichtig.«<br />

»Warte noch eine Weile, du begibst dich in Gefahr. Lass uns noch einen Krug Pulque<br />

leeren!«<br />

»Ich will <strong>der</strong> Sänfte nach! Die Verschleierte ist die verwitwete Königin Goldkolibri. Wenn sie<br />

sich einen Schelm wie Xoctemecl zum nächtlichen Führer gewählt hat, ist gewiss etwas<br />

Schlimmes geplant. Ich will Gewissheit haben.«<br />

»O Träumer, du Argloser! Es ist Leichtsinn, sich <strong>der</strong> Rache <strong>der</strong> Königin auszusetzen!<br />

Purpurkranich o<strong>der</strong> die Träger könnten dich bemerken.«<br />

Doch <strong>der</strong> Träumer ließ sich nicht <strong>zur</strong>ückhalten und folgte <strong>der</strong> Sänfte. Sie wurde durch enge<br />

Gassen bis zum Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse getragen. Goldkolibri und Xoctemecl schlüpften in die<br />

Wohnung <strong>der</strong> Kupfergrünen. Der Träumer wartete hinter einem Torpfosten und beobachtete.<br />

Einige Zeit passierte nichts, doch nach einer Weile hörte er Frauenstimmen: Klagen und Winseln<br />

und <strong>der</strong>be Schimpfworte. Drei Frauen bogen in die Gasse zum Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse ein. Es<br />

waren zwei ältere Weiber, die ein gut gekleidetes junges Mädchen mit sich schleppten. <strong>Das</strong><br />

Mädchen sträubte sich, schlug um sich, schluchzte und flehte.<br />

Einer Eingebung folgend, ließ <strong>der</strong> Träumer alle Vorsicht außer Acht und trat aus dem Dunkel<br />

auf die Frauen zu.<br />

»Warum schlagt ihr die Prinzessin?«, rief er <strong>den</strong> Weibern entgegen; <strong>den</strong>n mit »Prinzessin«<br />

wur<strong>den</strong> alle vornehmen Frauen bezeichnet.<br />

»Die ist keine Prinzessin!«, rief eines <strong>der</strong> Weiber. »Sie heißt Blutfeuerstein und ist eine<br />

entlaufene Sklavin!«<br />

»Ich bin nicht eure Sklavin!«, schluchzte das Mädchen.<br />

»Unsere nicht! Aber die Sklavin unserer Nachbarin, <strong>der</strong> Kupfergrünen! Sie hat uns guten<br />

Lohn versprochen, wenn wir dich <strong>zur</strong>ückbringen!«<br />

Die Sklaven hatten ihren Auszug von langer Hand vorbereitet; für <strong>den</strong> Adel Mexicos war er<br />

überraschend gekommen. Im Volk aber war immer wie<strong>der</strong> etwas geflüstert wor<strong>den</strong>. Auch<br />

Blutfeuerstein, die streng gehütet im Hause <strong>der</strong> Kupfergrünen lebte, hatte Andeutungen von<br />

an<strong>der</strong>en Sklavinnen gehört, und sie war entschlossen, lieber <strong>den</strong> Tod als die lieblose Behandlung<br />

durch die Kupfergrüne zu ertragen. Beim Sklavenaufbruch gelang es ihr, die Wachsamkeit ihrer<br />

Herrin zu überlisten. Ihre Flucht wurde zwar schnell bemerkt, aber die Kupfergrüne konnte ihr nicht<br />

nacheilen, weil Purpurkranich ihr <strong>den</strong> Besuch Goldkolibris angekündigt hatte. Deshalb hatte sie<br />

ihre Nachbarinnen veranlasst, die Entflohene <strong>zur</strong>ückzuholen. Im schier endlosen Strom <strong>der</strong><br />

bewaffneten Sklaven, <strong>der</strong> sich über <strong>den</strong> Damm nach Iztapalapá ergoss, befand sich Blutfeuerstein


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 365<br />

als eine <strong>der</strong> letzten unter <strong>den</strong> Nachzüglern. Die bei<strong>den</strong> Weiber konnten das unerfahrene Mädchen<br />

ergreifen und <strong>zur</strong>ückschleppen.<br />

Der Träumer sah ein, dass mit begütigen<strong>den</strong> Worten nichts zu erreichen war. Die bei<strong>den</strong><br />

Alten fuhren fort, Blutfeuerstein zu misshandeln. Der Dichter war von Natur aus ein sanfter<br />

Mensch, doch in zorniger Anwandlung entriss er Blaufeuerstein nun <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong> ihrer<br />

Peinigerinnen. <strong>Das</strong> Mädchen warf sich vor ihm auf die Erde und jammerte verzweifelt:<br />

»O edler Herr, steh mir bei! Ich will nicht zu meiner Herrin <strong>zur</strong>ück - sie ist eine böse Frau!«<br />

Die Weiber erhoben ein Geschrei und fauchten <strong>den</strong> Träumer an: »Was mischst du dich ein,<br />

du Taugenichts! Wer bist du, dass du hier das Maul riskierst! Eine Kakaobohne ist mehr wert als<br />

du! Warum kämpfst du nicht? Geh zu <strong>den</strong> Kriegern, dort wird man dir <strong>den</strong> Haarschopf<br />

abschnei<strong>den</strong>, <strong>den</strong> du noch im Nacken trägst!«<br />

<strong>Das</strong> Geschrei <strong>der</strong> Frauen lockte Purpurkranich, Goldkolibri und die Kupfergrüne aus dem<br />

Haus. Xoctemecl nahm die Königin beiseite und flüsterte mit ihr; dann sagte er etwas zu <strong>den</strong><br />

Trägern. Die tlamamas stürmten auf <strong>den</strong> Träumer zu und überwältigten ihn. An Hän<strong>den</strong> und Füßen<br />

gefesselt wur<strong>den</strong> er und Blutfeuerstein ins Haus <strong>der</strong> Giftmischerin geschleppt.<br />

Goldkolibri hatte schreckliche Angst, <strong>den</strong>n sie durfte keinen Mitwisser haben. Der Träumer<br />

und das Mädchen, rief sie, müssten getötet wer<strong>den</strong>. Die Kupfergrüne pflichtete ihr lächelnd bei.<br />

»Dann gib mir ein Messer«, rief Xoctemecl.<br />

Doch die Kupfergrüne schüttelte <strong>den</strong> Kopf. »In meinem Haus will ich keine Blutspuren«,<br />

sagte sie. Ȇberlasst mir die Sache. Ich werde ein neues Gift an ihm versuchen Рan Ratten hatte<br />

ich schon gute Erfolge damit.«<br />

»Wie wirkt das Mittel?«, fragte Purpurkranich.<br />

»Man träufelt es in die Augen, und es frisst sich bis ins Hirn. Wenn die Leiche im Haus <strong>der</strong><br />

Fle<strong>der</strong>mäuse gefun<strong>den</strong> wird, wird je<strong>der</strong>mann glauben, Geier und Raben hätten die Augen<br />

ausgehackt.«<br />

Die Kupfergrüne nahm auf einem Schemel Platz und machte sich daran, in einem Mörser<br />

getrocknete Kräuter und Schlangenzähne zu zerstampfen. Dann stellte sie einen kupfernen<br />

Dreifuß über das Herdfeuer und ließ in einer Pfanne Blei schmelzen.<br />

Der Träumer hatte jedes Wort gehört, nun sah er die Vorbereitung zu seiner Ermordung. Er<br />

begann ein stolzes Totenlied zu singen.<br />

<strong>Das</strong> Lied rief Goldkolibri ins Gedächtnis, dass <strong>der</strong> junge Dichter ein oft gesehener Gast im<br />

Huei-Tecpan war.<br />

»Nein«, unterbrach sie die Geschäftigkeit <strong>der</strong> Kupfergrünen.<br />

Die Giftmischerin und Xoctemecl sahen sie überrascht an.<br />

Goldkolibri fuhr fort: »Sein Verschwin<strong>den</strong> wird am Königshof nicht unbemerkt bleiben.<br />

Vielleicht weiß auch Weißer Mondstein, dass er uns gefolgt ist. Die Umstände seines Todes<br />

könnten ans Licht kommen.« Sie fasste die Kupfergrüne abwehrend am Arm. »Lasst ihn frei.«<br />

»Wir können ihn nicht laufen lassen«, sagte die Kupfergrüne.<br />

»Er wird uns verraten!«, rief Xoctemecl.<br />

»Nein, er wird schweigen«, sagte Goldkolibri. »Xoctemecl, löse ihm die Fesseln.« Dann<br />

wandte sie sich an <strong>den</strong> Träumer. »Ich sah dich oft im Großen Palast, als du noch König<br />

Moctezumas Sänger warst. Ich lasse dich jetzt frei, aber wenn du uns verrätst, wird deine alte<br />

Mutter sterben! Ich werde sie als Geisel in meine Wohnung nehmen.«<br />

Nachdem Goldkolibri und Xoctemecl die Wohnung <strong>der</strong> Giftmischerin verlassen hatten, fachte<br />

die Kupfergrüne das Feuer an. Blutfeuerstein war jung und als Sklavin kostbar; die Kupfergrüne<br />

würde sie nicht töten, wie Goldkolibri es verlangt hatte. Auf Anweisung <strong>der</strong> Kupfergrünen wurde<br />

das Mädchen von zwei Dienern mit eisernem Griff gepackt. Dann stach die Kupfergrüne <strong>der</strong> sich<br />

verzweifelt Wehren<strong>den</strong> einen glühen<strong>den</strong> Draht in die Augen. Greller Schmerz zuckte <strong>der</strong> armen<br />

Sklavin wie ein Blitz bis ins Hirn; dann erlosch ihr Augenlicht für immer.<br />

�<br />

Rodrigo Rangel hielt an Cortés diese Ansprache:<br />

»Zweimal haben Euer Lieb<strong>den</strong> <strong>den</strong> Mexica Frie<strong>den</strong>sangebote geschickt, welche die<br />

Überbringer sich ins Haar steckten und Cuauhtémoc sich hinters Ohr geschrieben haben wird. Die


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 366<br />

Versöhnungshand streckten Euer Lieb<strong>den</strong> aus, dem Zug des Herzens folgend – ein schöner Zug<br />

von Euer Lieb<strong>den</strong>! Womit ich nicht gesagt haben will, dass nicht auch Hannibals Zug über die<br />

Alpen o<strong>der</strong> Euer Lieb<strong>den</strong> Zug über die Kordilleren schön war und irgendwie dem Frie<strong>den</strong> diente.<br />

Alle Wege führen nach Rom, sogar die langen Kriegswege. Nach Ansicht mancher Leute – meiner<br />

Flamme beispielsweise, <strong>der</strong> hageren Rosario – ist Länge sogar ein Vorzug, selbst bei meinen<br />

Re<strong>den</strong>. Durch <strong>den</strong> edelmütig bezeugten Frie<strong>den</strong>swillen haben Euer Lieb<strong>den</strong> vor dem Richterstuhl<br />

<strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> - so sagt man doch wohl – sich mit unschuldigem Wasser die Hände gewaschen<br />

wie weiland Pontius Pilatus. Der bezweifelte, was <strong>der</strong> Weltgeschichte höchster Wert ist, nämlich<br />

die unantastbare Wahrheit! Dieser römische Landpfleger unterstand sich zu fragen: Was ist<br />

Wahrheit? Als ob man es nicht wüsste! Auch wusch er sich die Hände, ohne sie vorher beschmutzt<br />

zu haben. Als sich kürzlich unser braver Hauptmann Sandoval in Chalco die Hände wusch, war<br />

<strong>der</strong> Fluss, <strong>der</strong> durch die Stadt strömt, tiefrot von Mexicablut, und an<strong>der</strong>thalb Stun<strong>den</strong> lang konnten<br />

die armen Christen nicht daraus trinken.<br />

Der heilige Ignotus (ein sehr berühmter Mann) schreibt irgendwo: <strong>Das</strong> Recht ist immer auf<br />

Seiten <strong>der</strong> Mächtigen. Kann man begreifen, dass die Rothäute unter diesen Umstän<strong>den</strong> <strong>den</strong><br />

Frie<strong>den</strong> nicht annehmen wollen? Sie wer<strong>den</strong> von Ignotus wohl noch nichts gehört haben. Aber das<br />

ist <strong>der</strong> Fehler <strong>der</strong> Mexica – sie wissen nichts von <strong>Geschichte</strong> und nichts vom Gewissen <strong>der</strong> Welt,<br />

das seit un<strong>den</strong>klichen Zeiten sauber gewaschene Finger hat, genau wie Pilatus und unser Lope<br />

Cano. Eins aber müssten die Mexica wissen: <strong>Das</strong>s in Tlaxcala <strong>der</strong> Schiffbaumeister Martín López<br />

sein Wun<strong>der</strong>werk vollendet hat. Die Schiffsteile sind unterwegs – wie die Wahrheit! Sie kommen<br />

schon über <strong>den</strong> Gebirgswall, von achttausend tlamamas herangeschleppt. Die Blaue Fe<strong>der</strong> hat<br />

sich inzwischen beeilt, <strong>den</strong> Kanal und <strong>den</strong> Hafen für die Brigantinen mit Hilfe von achttausend<br />

Erdarbeitern fertig zu stellen, um <strong>den</strong> gefährdeten Frie<strong>den</strong> zu wahren. Aber die Blaue Fe<strong>der</strong> hat<br />

noch einen an<strong>der</strong>en heimlichen Kanal gegraben, ohne die Hilfe <strong>der</strong> Erdarbeiter – zum Herzen<br />

unserer Amazone, <strong>der</strong> Frau des Schönhändigen! Der Schönhändige hat von <strong>der</strong> bitteren Wahrheit<br />

so wenig Ahnung wie Pontius Pilatus.«<br />

So sprach Rodrigo Rangel.<br />

�<br />

Der Zusammenbau <strong>der</strong> Brigantinen konnte frühestens in zwei Wochen beendet sein; Cortés<br />

musste <strong>den</strong> Angriff auf Tenochtitlán noch hinausschieben. Der Weg nach Sü<strong>den</strong> war frei, weil die<br />

von König Felsenschlange bedrängte Stadt Chalco von Sandoval zum zweiten Mal entsetzt<br />

wor<strong>den</strong> war. Sandoval war verwundet aus <strong>den</strong> Kämpfen heimgekehrt und hatte Ruhe verdient; er<br />

blieb als Stellvertreter des Generalkapitäns. Cortés beschloss, mit <strong>den</strong> an<strong>der</strong>en Offizieren einen<br />

Erkundungsritt in das südliche Anahuac zu unternehmen; es sollte zugleich ein Übungsmarsch<br />

sein, um <strong>den</strong> Narváez-Leuten mehr Disziplin beizubringen und die Tlatepoca auf ihre<br />

Zuverlässigkeit zu prüfen. Er wollte auch Al<strong>der</strong>ete nicht aus <strong>den</strong> Augen lassen und for<strong>der</strong>te ihn<br />

zum Mitreiten auf. Sie verließen Tezcoco am 5. April 1521. Die Truppe bestand aus<br />

dreiundzwanzig Berittenen, zweihun<strong>der</strong>t Landsknechten und zwanzigtausend indianischen<br />

Bundesgenossen.<br />

Alles war friedlich; die Spanier hatten keinen Grund, <strong>den</strong> Degen aus <strong>der</strong> Scheide zu ziehen.<br />

Langsam näherte sich das Christenheer <strong>der</strong> Stadt Quauhnahuac (von <strong>den</strong> Kastiliern Cuernavaca<br />

genannt). Der Bogenschütze Pedro de Tirado marschierte neben dem Reiter Gonzalo Domínguez.<br />

Plötzlich legte er einen Bolzen auf die Armbrust.<br />

»Was ist?«, fragte Domínguez.<br />

»Seht Ihr dort links <strong>den</strong> hohen Lilienbaum mit <strong>den</strong> großen weißen Blüten?«<br />

»<strong>Das</strong> Weiße auf einem Ast sind keine Blüten!«<br />

»Stimmt, es ist ein weiß gekleideter Mensch.«<br />

»Schießt nicht! Ich will hinreiten und Nachschau halten.«<br />

Domínguez galoppierte zum abseits stehen<strong>den</strong> Baum. <strong>Das</strong> Geäst teilte sich, und ein alter<br />

Indianer sprang herunter. Vor Angst bebend kniete er vor dem Hirschungeheuer nie<strong>der</strong>.<br />

Domínguez winkte an<strong>der</strong>e Soldaten heran. Bald war <strong>der</strong> Alte von einem Schwarm neugieriger<br />

Kastilier und Tlatepoca umringt. Auch Cortés, Al<strong>der</strong>ete, Ordás und Olíd ritten heran.<br />

Der Indianer trug die Kleidung <strong>der</strong> Maya. Aguilár, <strong>der</strong> sieben Jahre in Yucatán gelebt hatte,


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 367<br />

wurde als Dolmetscher herangerufen und sagte – nachdem er wenige Worte mit dem Maya<br />

gewechselt hatte – zu Cortés:<br />

»Er sagt, er wolle nach Tezcoco zu <strong>den</strong> Söhnen <strong>der</strong> Sonne!«<br />

»Der Kerl hat Glück!« Olíd lachte. »Wir sparen ihm <strong>den</strong> halben Weg! Auch <strong>der</strong> Baum ist<br />

schon da, an dem er bald baumeln wird!«<br />

»Was will er von uns?«, fragte Cortés.<br />

»<strong>Das</strong> hat er mir noch nicht gesagt.«<br />

»Warum versteckte er sich, wenn er vorgibt, uns zu suchen?«, fragte Al<strong>der</strong>ete.<br />

»Weil er noch nie Pferde und Reiter sah.«<br />

»O<strong>der</strong> weil er ein schlechtes Gewissen hat«, meinte Cortés. »Doch zu lügen ist sein gutes<br />

Recht, so wie es unser Recht ist, ihm nicht zu glauben. Also fragt ihn weiter aus!«<br />

Diesmal dauerte Aguilárs Gespräch mit dem Maya länger. Schließlich sagte er:<br />

»Dieser Alte scheint mir ehrlich zu sein, Don Hernándo. Er hat eine Nachricht: Ein Mann, <strong>den</strong><br />

wir als vermisst beklagt haben, schickt ihn Euch.«<br />

»Wer?«<br />

»Alonso de Barrientos!«<br />

»Bei allen guten Geistern!«, rief Ordás aus. »Wenn das wahr ist...«<br />

Einst an <strong>den</strong> Sanddünnen war Barrientos einer <strong>der</strong> Verehrer seines Mündels Isabel de Ojeda<br />

gewesen. Als damals auf dem Weg nach Cempoala die kleine La Bailadora und die Männer und<br />

Frauen zum Gitarrespiel des Bergmannes und Tanzmeisters Ortiz tanzten, ließ sich die<br />

olivenbleiche Isabel vom stattlichen Alonso de Barrientos im Kreis herumwirbeln. (Allerdings wurde<br />

sie später die Gattin des armen Fähnrichs Antonio Villareal, <strong>der</strong> zusammen mit Hauptmann<br />

Francisco de Lugo, dem Büchsenspanner Juan de Nájera und dem Portugiesen Alfonso Ferreira<br />

auf dem Opferstein endete.)<br />

Cortés hatte Barrientos, bald nachdem die fünf Könige an die Eisenkette geschmiedet<br />

wor<strong>den</strong> waren, nach Sü<strong>den</strong> geschickt, um nach verborgenen Erdschätzen zu suchen. In <strong>der</strong> Nacht<br />

<strong>der</strong> Schrecken befand er sich in Oaxaca, <strong>der</strong> Heimat Marinas, und entging <strong>der</strong> Rache <strong>der</strong> Azteken,<br />

indem er zu <strong>den</strong> Maya floh. Die Maya setzten ihn gefangen, ließen ihm aber einige Freiheit.<br />

»Schickt mir zwanzig Soldaten, damit ich mich zu Euch durchschlagen kann«, war <strong>der</strong> Kern <strong>der</strong><br />

Nachricht, die <strong>der</strong> alte Maya von Barrientos überbrachte.<br />

Die schwermütigen Augen des Ritters Ordás richteten sich auf Cortés. »Schickt mich, Don<br />

Hernándo!«<br />

»Ich kann keine zwanzig Mann entbehren!«<br />

»Mit o<strong>der</strong> ohne die zwanzig Mann – ich will ihm helfen. Erlaubt Ihr's?«<br />

»Nein«, sagte Cortés lakonisch.<br />

Aguilár hatte das Gespräch mit dem alten Maya fortgeführt und wandte sich jetzt an Cortés:<br />

»Der Alte hat noch eine an<strong>der</strong>e Botschaft, die fast noch unglaublicher ist. Auf dem Weg<br />

hierher fiel er einem Haufen entwichener Sklaven aus Tenochtitlán in die Hände. Sie seien<br />

unterwegs nach Sü<strong>den</strong>, um in Honduras ein Sklavenreich zu grün<strong>den</strong>. Der Alte wurde vor <strong>den</strong><br />

Sklavenkönig geführt. Nach seiner Beschreibung kann es niemand an<strong>der</strong>s sein als mein einstiger<br />

Lei<strong>den</strong>sgefährte, <strong>der</strong> Matrose Gonzalo Guerrero!«<br />

»Wie kommt Ihr darauf?«, fragte Olíd.<br />

»Weil <strong>der</strong> Alte sagte, <strong>der</strong> Sklavenkönig spreche fließend die Mayasprache. Seine<br />

Untergebenen nannten ihn <strong>den</strong> ›Gefleckten Berglöwen‹. Als ich mit Pimoti die weiße Schminke<br />

nach Cholula brachte, wäre ich auf dem Rückweg beinahe ermordet wor<strong>den</strong>, hätte Guerrero mich<br />

nicht gerettet. Damals hat er mir erzählt, sein mexicanischer Name sei Gefleckter Berglöwe.«<br />

»Ein Matrose gründet ein Reich! Hat man je <strong>der</strong>gleichen gehört!«, rief Olíd.<br />

»O ja, Señor!«, belehrte ihn Al<strong>der</strong>ete. »Spartakus, ein gefangener thrakischer Königssohn,<br />

römischer Gladiator und Sklavenführer, versuchte um das Jahr 73 vor Christi Geburt ebenfalls eine<br />

Staatengründung. Er fand großen Zulauf unter <strong>den</strong> Sklaven, kontrollierte bald einen Teil<br />

Süditaliens und schlug mit seinen Anhängern mehrere römische Heere. Doch Spartakus wurde<br />

von Marcus Licinius Crassus und Gnaeus Pompejus besiegt. 6000 überlebende Sklaven wur<strong>den</strong><br />

entlang <strong>der</strong> Via Appia gekreuzigt. Gottlob misslang <strong>der</strong> Aufstand.«<br />

»Warum gottlob, Don Juliano?«, fragte Cortés. »Ein Bergsturz lässt sich nicht ewig<br />

aufhalten!«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 368<br />

»Kann ein Sklave die Erde beben lassen?«, rief Olíd.<br />

»<strong>Das</strong> klingt ja fast wie Neid, Don Cristóbal!«, sagte Cortés spöttisch.<br />

»Immerhin war Spartakus ein Königssohn!«, gab Al<strong>der</strong>ete dem Olíd <strong>zur</strong> Antwort.<br />

»Und ich war Galeerensträfling!«, sagte Olíd mit triumphierendem Grinsen. »<strong>Das</strong> habe ich<br />

euch allen voraus, meine Herren!«<br />

Cortés beendete die Diskussion. »Erzählt weiter, Frater! Was geschah mit dem Alten, als er<br />

vor Guerrero geführt wurde?«<br />

Aguilár setzte <strong>den</strong> Bericht fort. »Nichts Böses. Guerrero ließ sich die Nachricht des<br />

Barrientos zeigen und sagte, er habe nichts dagegen, wenn sie ihren Empfänger erreiche und dem<br />

weißen Sonnensohn die erbetene Hilfe gebracht werde. Denn auch er, <strong>der</strong> König <strong>der</strong> Sklaven, sei<br />

ein Sonnensohn. Übrigens sei auch die Königin <strong>der</strong> Sklaven eine Tochter <strong>der</strong> Sonne.«<br />

»Eine Christin?«, fragte Cortés.<br />

»Wer?«, rief Luis Marín.<br />

»Isabel de Ojeda?«, rief Ordás erschrocken mit sich überschlagen<strong>der</strong> Stimme.<br />

»Es ist nicht ausgeschlossen, dass es Euer Mündel ist«, fuhr Aguilár fort. »Der alte Maya hat<br />

sie freilich nicht zu Gesicht bekommen. Sie weine immerzu, sagte ihm Guerrero. Er fürchte für<br />

ihren Verstand; vielleicht sei sie bereits verrückt gewor<strong>den</strong>. Auf die Dauer je<strong>den</strong>falls werde er sie<br />

nicht bei sich behalten können...«<br />

»Der Kerl hat ihr Gewalt angetan!«, ächzte Ordás.<br />

»<strong>Das</strong> ist möglich«, sagte Aguilár. »Auf je<strong>den</strong> Fall will er sie los sein. Er gab dem Maya ein<br />

Schmuckstück mit. Es war ihr in Tenochtitlán abgenommen wor<strong>den</strong>; durch einen Zufall hatten die<br />

abziehen<strong>den</strong> Sklaven das Schmuckstück erbeutet, und so war es wie<strong>der</strong> in <strong>den</strong> Besitz <strong>der</strong><br />

Sklavenkönigin gelangt. Guerrero trug dem Alten auf, das Geschmeide dem Sonnensohn<br />

auszuhändigen, <strong>der</strong> <strong>den</strong> Brunnen <strong>der</strong> Verjüngung suche.«<br />

»Wo ist <strong>der</strong> Schmuck? Hat <strong>der</strong> Alte ihn verloren? Warum zeigt er ihn nicht?«, rief Ordás<br />

nervös.<br />

Aguilár sagte dem Maya einige unverständliche Worte, worauf dieser sich wie<strong>der</strong> ins Haar<br />

griff und einen glitzern<strong>den</strong> Gegenstand hervorholte. <strong>Das</strong> Geschmeide, das <strong>der</strong> Maya Ordás<br />

reichte, war eine winzige, an gol<strong>den</strong>er Halskette hängende Statuette <strong>der</strong> Gottesmutter aus Gold<br />

und Emaille. Nun war kein Zweifel mehr möglich, wer die Sklavenkönigin war.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 369<br />

Popocatépetl: Der Name des Vulkans ist aztekischen Ursprungs und bedeutet stark rauchen<strong>der</strong> Berg. Der<br />

spanische Konquistador Diego de Ordás bestieg als erster Europäer im November 1519 <strong>den</strong> Popocatépetl in<br />

Begleitung zweier Waffenbrü<strong>der</strong>. Kaiser Karl V. erlaubte ihm danach, <strong>den</strong> Vulkan in seinem Wappen zu tragen.<br />

�<br />

Ordás hatte seine Bitte, Barrientos suchen zu dürfen, nicht wie<strong>der</strong>holt. Da er nun von <strong>der</strong> Not<br />

Isabels wusste, war sein Entschluss gefasst. Hatte Cortés ihm die zwanzig Soldaten<br />

abgeschlagen, musste er eben allein reiten, vielleicht mit zwei o<strong>der</strong> drei Begleitern, falls er welche<br />

fand. Noch am gleichen Abend machte Ordás <strong>den</strong> vergeblichen Versuch, <strong>den</strong> jungen Hauptmann<br />

Alonso de Ojeda, Isabels Bru<strong>der</strong>, o<strong>der</strong> Aguilár für das Abenteuer zu gewinnen. Ojeda sagte zu<br />

ihm:<br />

»Ich muss Euch wohl nicht versichern, wie sehr Isabels Schicksal mir nahe geht. Cortés<br />

muss wohl etwas ahnen. Sein Stallmeister Martín de Gamba erzählte, dass <strong>der</strong> capitán generál<br />

Euch nicht hängen lassen wird, wenn Ihr Euch strafbar machen solltet – dafür aber je<strong>den</strong>, <strong>der</strong> sich<br />

untersteht, Euch zu begleiten. Denn in seinem Edikt von Tlaxcala hat er allen <strong>den</strong> Galgen<br />

angedroht, die sich eigenmächtig vom Heer entfernen.«<br />

»Warum will er mich nicht hängen lassen?«, fragte Ordás gereizt. »Habe ich eine<br />

Ausnahmestellung? Soll das eine Ehre o<strong>der</strong> ein Schimpf für mich sein?«<br />

»Ich weiß es nicht«, murmelte Ojeda verlegen.<br />

»Bitte, Señor, erklärt mir, wie Cortés das meint! Warum soll ich nicht gehängt wer<strong>den</strong>?<br />

Nimmt er mich nicht ernst?«<br />

Ojeda starrte stumm auf seine Fußspitzen.<br />

Auch Aguilár gab Ordás, <strong>der</strong> ihn gern als Dolmetscher mitgenommen hätte, eine Absage. Es<br />

war kein Zufall, dass Aguilár ebenso wie Ojeda schon vom Stallmeister Martín de Gamba an das<br />

Dekret erinnert wor<strong>den</strong> war. Der Frater hielt das Vorhaben des Ordás außerdem für<br />

undurchführbar und bemühte sich, <strong>den</strong> Ritter davon abzubringen. Vergeblich. Ordás litt darunter,<br />

dass Isabel durch seine Dummheit <strong>den</strong> roten Bestien lebend in die Hände gefallen und nun die


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 370<br />

Konkubine des Sklavenkönigs war. Vor Gottes Thron werde er das einst zu verantworten haben;<br />

darum wolle er ihr helfen und sein Leben nicht schonen...<br />

»Tut, was Euch das Gewissen befiehlt, Señor«, sagte Aguilár. »Und wenn Ihr unbedingt<br />

Begleitung wollt, dann fragt Doña Elvira, eine <strong>der</strong> bei<strong>den</strong> Gattinnen Canos de las maños pulcros,<br />

die als Nebenfrau bei einem Karibenhäuptling leben musste. Sie versteht die Sprache und wird<br />

Euch folgen, wenn Ihr sie darum bittet. Und sie darf es, <strong>den</strong>n das Dekret des caudillo droht nur uns<br />

Männern <strong>den</strong> Galgen an.«<br />

<strong>Das</strong> war eine gute Idee. Denn Doña Elvira hatte als Sklavin längere Zeit in Yucatán gelebt,<br />

bevor sie ins Irdische Paradies und dann nach Tlaxcala verkauft wurde. So konnte sie als<br />

Dolmetscherin von Nutzen sein.<br />

Vor Tagesgrauen brach Ordás heimlich auf. Zu Seiten seiner aschgrauen Stute schritten<br />

links und rechts Doña Elvira Cano und <strong>der</strong> alte Maya. Obgleich dieser kein Mexicanisch sprach,<br />

war eine Verständigung mit Hilfe Elviras möglich.<br />

27. Al<strong>der</strong>ete<br />

»Eurer Kaiserlichen Majestät habe ich <strong>der</strong> Wahrheit gemäß über alles geschrieben, was<br />

sich an diesen Orten zugetragen hat und was Eurer Kaiserlichen Majestät zu wissen<br />

vonnöten ist. Ich füge die untertänige Bitte an, Eure Kaiserliche Majestät wolle einen<br />

glaubwürdigen Mann hierher verordnen, <strong>der</strong> über all diese Dinge einen guten Bericht<br />

abfasse.«<br />

(Hernán Cortés: Schlussformulierung zum 2. Brief an Karl V. vom 30. Oktober 1520)<br />

Wenn von <strong>den</strong> neuen und neuesten Kolonien Spaniens und Portugals die Rede war, pflegte König<br />

Franz I. von Frankreich hämisch aus<strong>zur</strong>ufen: »Wo ist das Testament Adams? Zeigt mir das<br />

Testament Adams! Sollte es unterschlagen wor<strong>den</strong> sein?«<br />

Im gleichen Jahr 1494, in dem Franz in Cognac <strong>zur</strong> Welt kam, hatte Papst Alexan<strong>der</strong> VI. die<br />

Welt in zwei Hälften geteilt: Dank seiner Machtvollkommenheit zog Seine Heiligkeit eine von<br />

Nor<strong>den</strong> nach Sü<strong>den</strong> durch die Kapverdischen Inseln verlaufende Demarkationslinie und verbriefte<br />

seine Lage im Vertrag von Tordesillas. Es war ein imaginärer Meridian, eine unwirkliche, nur in <strong>der</strong><br />

Phantasie sichtbare, von Pol zu Pol rund um <strong>den</strong> Globus verlaufende Linie! Dennoch war sie<br />

existent und bewies die politische Befugnis des Vertreters Christi auf Er<strong>den</strong>. Alle Län<strong>der</strong>, die man<br />

im Westen noch fin<strong>den</strong> würde, sollten Spanien gehören, während <strong>den</strong> Portugiesen die im Osten<br />

zufielen.<br />

Der Papst hatte die westliche Erdhalbkugel an Ferdinand und Isabella, los reyes catolicos<br />

von Kastilien und Aragon verschenkt; die östlichen Län<strong>der</strong>eien an Johann von Portugal. Den<br />

an<strong>der</strong>en Staaten blieb das Nachsehen. Sechsundzwanzig Jahre waren seither vergangen; an <strong>der</strong><br />

Verteilung <strong>der</strong> Welt konnte vorläufig kein gekröntes Haupt innerhalb o<strong>der</strong> außerhalb Europas<br />

etwas än<strong>der</strong>n. Die Entdeckten wur<strong>den</strong> auch nicht gefragt. Völker, die sich nicht knechten lassen<br />

wollten, galten als rebellisch und hatten sich selbst zuzuschreiben, wenn sie durch Gewalt an ihre<br />

Pflichten erinnert wur<strong>den</strong>.<br />

Es ist nicht anzunehmen, dass König Franz das Los brauner o<strong>der</strong> roter Völker nahe ging.<br />

Doch es wurmte ihn, dass die Schätze neu entdeckter Län<strong>der</strong> nach Iberien und nicht nach


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 371<br />

Frankreich flossen, wo endlose Kriege wegen die Kassen ständig leer waren.<br />

Er war noch jung und wurde noch nicht Le grand roí François genannt. An <strong>der</strong> Tafel im<br />

Nymphensaal des Schlosses Amboise äußerte er einmal (während er einen Poular<strong>den</strong>flügel auf<br />

<strong>den</strong> Silberteller seiner Mätresse legte):<br />

»Par Saint Jean! Der alte Borgia war bei seiner Weltverteilung nicht vom Heiligen Geist<br />

beraten, eher von einer seinen Kurtisanen, die nackt auf dem Tisch zwischen einem Dutzend<br />

brennen<strong>der</strong> Kandelaber tanzte!«<br />

Als christlicher König konnte Franz sich erlauben, abfällig über einen Papst zu re<strong>den</strong>; umso<br />

mehr, als Seine Heiligkeit vor bald zwei Jahrzehnten eines unheiligen Todes gestorben war und<br />

sein feister Leichnam mit Faustschlägen in einen viel zu engen Sarg gezwängt wurde. Franz<br />

schlang <strong>der</strong> Mätresse <strong>den</strong> Arm um <strong>den</strong> rosigen Nacken, ergriff zum zehnten Mal das stets gefüllte<br />

Glas (wie gesagt, war er in Cognac <strong>zur</strong> Welt gekommen) und setzte seine Betrachtungen fort:<br />

»Aber unsereins muss sich mit Freundinnen begnügen!« Und <strong>zur</strong> Mätresse gewand, sagte<br />

er: »Nicht dass ich Eure Gegenwart und Euren Liebreiz nicht zu schätzen wüsste, meine Liebe.<br />

Aber ein König hat noch an<strong>der</strong>e Ziele! Solange das Testament Adams mit Füßen getreten wird,<br />

raubt mein spanischer Nachbar, so viel er nur kann... Nun ja, gottlob, auch meine französischen<br />

Korsaren pflücken die Früchte des Meeres und ernten, so viel sie können. Gerade erreichten mich<br />

diesbezügliche gute Nachrichten! Ich erhebe das Glas auf das Wohl meines Freundes, des großen<br />

Freibeuters Claude Fleuranges!«<br />

Die Tafelrunde stimmte mit Gelächter in das Hoch ein. Es war kein Geheimnis, dass Claude<br />

Fleuranges spanischen Amerikafahrern auflauerte. <strong>Das</strong> Wohlwollen des Königs machte es<br />

möglich, die gekaperten Waren im Hafen La Rochelle anzulan<strong>den</strong> und die Beute redlich zwischen<br />

ihm und <strong>der</strong> Krone zu teilen.<br />

�<br />

Auch die Karavelle Santa María de las Rosas, die Cortés mit Hauptmann Alonso de Avila nach<br />

Europa geschickt hatte, um dem Kaiser das bei <strong>der</strong> Schlacht von Otumba erbeutete Gold, <strong>den</strong><br />

zweiten Brief des Cortés und die Smaragdpyramide <strong>der</strong> Königin Maisblume zu überbringen, fiel<br />

Claude Fleuranges in die Hände. Die Karavelle hatte bei <strong>den</strong> Kanarischen Inseln das Unglück, von<br />

dem Seeräuber aufgebracht zu wer<strong>den</strong>. Die verrosteten Kanonen des Schiffes waren in Veracruz<br />

<strong>zur</strong>ückgeblieben; da es an Pulver mangelte, wären die Geschütze ohnehin nutzlos gewesen. Avila,<br />

<strong>der</strong> sich mit seinen zehn Begleitern <strong>zur</strong> Wehr setzen wollte, verzichtete auf Wi<strong>der</strong>stand, als die gut<br />

bemannte und stark bewaffnete Korvette in Sichtweite kam. Es war an diesem wolkenlosen Tag<br />

fast windstill; mit schlagen<strong>den</strong> Segeln lag die schwere Karavelle in <strong>der</strong> leicht rollen<strong>den</strong> Dünung,<br />

doch die gewaltigen Segel des Korsaren fingen <strong>den</strong> leisesten Windhauch ein und ließen das<br />

schlanke Piratenschiff langsam näher und näher kommen. Bald sahen die Spanier die drohend<br />

aus <strong>den</strong> Stückpforten ragen<strong>den</strong> Geschützrohre, während beide Schiffe einan<strong>der</strong> näherten. Kurz<br />

darauf schaukelten sie mit glucksen<strong>den</strong> Geräuschen Seite an Seite und rieben einan<strong>der</strong><br />

knirschend Bauch an Bauch. Als die Enterbrücke <strong>zur</strong> Reling <strong>der</strong> Karavelle herüberschwenkte, warf<br />

Avila die smarag<strong>den</strong>e Pyramide ins Meer - an ihr wenigstens sollten die Franzosen keine Freude<br />

haben!<br />

Claude Fleuranges legte mehr Wert auf mexicanische Goldbarren als auf das Schreiben an<br />

<strong>den</strong> Kaiser, das bei Avila gefun<strong>den</strong> wurde. Keiner <strong>der</strong> Franzosen konnte <strong>den</strong> spanisch<br />

geschriebenen Brief lesen; <strong>der</strong> Korsar gab ihn mit freundlichen Worten an Avila <strong>zur</strong>ück. Er war<br />

auch großmütig genug, bei <strong>der</strong> Ankunft in La Rochelle dem Hauptmann und seinen Begleitern eine<br />

kleine Summe Geldes auszuhändigen, damit sie nicht mittellos an Land kämen.<br />

Dank diesem Almosen konnte Avila halb Frankreich durchwan<strong>der</strong>n und die Pyrenäen<br />

erreichen. Doch als er die Grenze nach Spanien überschreiten wollte, wurde er von französischen<br />

Posten daran gehin<strong>der</strong>t. Sie hatten von <strong>der</strong> Geheimpolizei die Weisung erhalten, ihn nicht aus dem<br />

Land zu lassen. Avila wurde verhaftet und nach Bordeaux in Haft gebracht.<br />

Ein reisen<strong>der</strong> katalonischer Kaufmann mit Namen Luís Rodrigo Muño hörte von seinem<br />

Missgeschick und erwirkte die Erlaubnis, ihn im Kerker aufsuchen zu dürfen. Avila vertraute dem<br />

Kaufmann <strong>den</strong> Brief des Cortés an. Trotzdem verging noch einige Zeit, ehe <strong>der</strong> Kaiser das<br />

Schriftstück zu Gesicht bekam. Karl V. befand sich gerade in Tordesillas, wo er seine Mutter


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 372<br />

besuchte, Johanna die Wahnsinnige. Als treuer Sohn wollte er Abschied von ihr nehmen, bevor er<br />

zum Reichstag nach Worms aufbrach, wo Martin Luther sich vor ihm rechtfertigen sollte. Doch die<br />

Kranke erkannte <strong>den</strong> Sohn nicht.<br />

Der Händler war inzwischen von Bordeaux nach Cadiz gesegelt; dort übermittelte er <strong>den</strong><br />

Brief dem bei Hofe angesehenen Herzog von Bejár. <strong>Das</strong> brachte wenigstens <strong>den</strong> Erfolg, dass <strong>der</strong><br />

seit an<strong>der</strong>thalb Jahren in einem bischöflichen Gefängnis schmachtende Leutnant Alonso<br />

Hernández de Puertocarrero in Freiheit gesetzt und aufgefor<strong>der</strong>t wurde, nach Tordesillas zu<br />

reisen, um dem Kaiser <strong>den</strong> Inhalt des ersten, abhan<strong>den</strong> gekommenen Schreibens des Cortés<br />

mündlich vorzutragen.<br />

�<br />

Den bei<strong>den</strong> Goldsendungen aus Mexico war kein glückliches Schicksal beschie<strong>den</strong>. Wie Avila war<br />

Puertocarrero zwei Jahre zuvor von Cortés an <strong>den</strong> spanischen Hof gesandt wor<strong>den</strong>, um über das<br />

von ihm entdeckte Goldland zu berichten und die ersten Schätze des Moctezuma zu überbringen.<br />

Doch er hatte es im Kerker büßen müssen.<br />

Die Capitána mit dem wohlklingen<strong>den</strong> Namen Santa Maria de las Rosas (das einzige Schiff,<br />

das beim Brand <strong>der</strong> elf Karavellen unversehrt geblieben war) segelte, nachdem ein Priester das<br />

Schiff <strong>der</strong> Obhut des Heiligen Geistes empfohlen hatte, aus <strong>der</strong> Hafenbucht von Veracruz,<br />

passierte Kuba und die kleinen Antillen und<br />

überquerte <strong>den</strong> Ozean. Puertocarrero war fast die<br />

ganze Zeit seekrank und kam fast nie an Deck.<br />

Sein Reisegefährte, Hauptmann Montejo,<br />

langweilte sich. Er hätte sich gern mit <strong>den</strong> bei<strong>den</strong><br />

huaxtekischen Sklavinnen amüsiert, die Cortés<br />

dem jungen Kaiser sandte, aber sie waren<br />

unantastbar. Und mit <strong>den</strong> fünfzehn Matrosen des<br />

Schiffes durfte Montejo sich als Hidalgo nicht<br />

gemein machen. Der Obersteuermann, António<br />

de Alaminos, hatte ohnehin nur Sinn für<br />

Seekarten und Bussole; er war ein wortkarger<br />

Mann.<br />

Karavelle unter Segeln<br />

Doch eines Abends wurde er gesprächig. Er<br />

war ein großer, hagerer Mann in <strong>den</strong> Fünfzigern<br />

und hatte schon unter Kolumbus Pilotendienste getan. Neben ihm erschien <strong>der</strong> weichliche Montejo<br />

wie ein Knabe. Sie hatten Wein getrunken. Der Hauptmann war bleicher als sonst, doch die<br />

Wangen des alten Seefahrers leuchteten rosa aus dem schönen grauen Bart hervor. Der Wein<br />

hatte ihm die Zunge gelöst, und seine schwarzen Augen blitzten, als er unvermittelt fragte:<br />

»Wer hat <strong>den</strong> Schlüssel <strong>zur</strong> Kiste?«<br />

Montejo war so erstaunt, dass er nicht sofort Antwort gab. Es gab viele Kisten an Bord, doch<br />

nur eine stand neben dem Bett des kranken Puertocarrero. In dieser Kiste befan<strong>den</strong> sich <strong>der</strong><br />

Bericht des Generalkapitäns an <strong>den</strong> Kaiser sowie wertvolle Geschenke Moctezumas.<br />

»Welche Kiste meint Ihr?«, wich Montejo aus.<br />

»Ihr wisst, welche ich meine, Señor. Habt Ihr <strong>den</strong> Schlüssel?«<br />

»Nein. Den hat Puertocarrero.«<br />

»Man könnte sie öffnen. Er ist seekrank – er sieht und hört nicht viel.«<br />

»Wer sollte sie <strong>den</strong>n öffnen?«<br />

»Kann man <strong>den</strong> Matrosen trauen?«, fragte Alaminos <strong>zur</strong>ück.<br />

»Auf wen ist schon Verlass in dieser Welt.«<br />

»Ihr solltet <strong>den</strong> Schlüssel an Euch nehmen! Sicher ist sicher.«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 373<br />

Der Pilot war ein erfahrener Menschenkenner und schätzte Montejo richtig ein. Entgegen<br />

Cortés' ausdrücklichem Verbot hatte Alaminos die Santa María de las Rosas auf Montejos Befehl<br />

dicht an Kuba heransteuern müssen; Montejo sandte <strong>den</strong> Matrosen Pedro de la Harpa mit einem<br />

Brief an Diego de Velásquez an Land. Da wusste Alaminos, dass Montejo falsch spielte. Vom<br />

Schlüssel und <strong>der</strong> Kiste wurde nicht mehr geredet. Alaminos ließ das Gespräch fallen, und<br />

Montejo zeigte keine Lust, es wie<strong>der</strong> aufzugreifen.<br />

Vier Wochen später erreichte die Capitána <strong>den</strong> südspanischen Hafen San Lúcar. Im<br />

schwin<strong>den</strong><strong>den</strong> Tageslicht lief sie ins Hafenbecken ein, wo viele Fischer- und Hafenboote mit<br />

abgeschlagenen Segeln vor Anker lagen. Sie beachteten die dreimastige Karacke nicht, die an <strong>der</strong><br />

Pier festgemacht hatte. Es war ein schnelles Schiff; am rissigen und gebleichten Holz war zu<br />

erkennen, dass auch diese Karacke erst kürzlich nach großer Fahrt in San Lúcar eingelaufen war.<br />

Es war zu spät, die Kisten Moctezumas auszuschiffen. Puertocarrero und Montejo<br />

beschlossen, die Nacht noch an Bord zu schlafen. Doch ließen sie sich ausbooten –<br />

Puertocarrero, um eine kleine Karawane von Reit- und Lasttieren für <strong>den</strong> an<strong>der</strong>en Morgen<br />

anzuheuern, während Montejo nach Freun<strong>den</strong> Umschau halten wollte.<br />

Am nächsten Morgen näherten sich zwei Barkassen und drei Schaluppen mit Bewaffneten<br />

und gingen bei <strong>der</strong> Santa María längsseits. Offiziere und bewaffnete Soldaten kamen an Deck.<br />

Böses ahnend, eilte Puertocarrero in seine Kajüte, um wenigstens <strong>den</strong> Brief des Cortés in<br />

Sicherheit zu bringen. Doch er fand ihn nicht.<br />

Die mit Moctezumas Geschenken gefüllten Kisten wur<strong>den</strong> beschlagnahmt. Dies geschah auf<br />

Befehl des Leiters <strong>der</strong> indianischen Angelegenheiten, des Bischofs von Burgos, Don Juan<br />

Rodriguez de Fonseca. Zwei Tage vor Puertocarrero war Benito Martín, <strong>der</strong> Hauskaplan des<br />

Gobernadors Diego de Velásquez, aus Kuba in San Lúcar angelangt und hatte mit dem Bischof<br />

lange Zeit hinter verschlossenen Türen gesprochen.<br />

Erst vierzehn Tage nach <strong>der</strong> Beschlagnahme <strong>der</strong> Goldkisten erhielten die bei<strong>den</strong> Hauptleute<br />

<strong>den</strong> Befehl, sich umgehend nach Sevilla zu begeben und vor seiner Exzellenz zu erscheinen.<br />

Während <strong>der</strong> Wartezeit hatte Puertocarrero mehrere Adelige aufgesucht, die Cortés kannten und<br />

von <strong>den</strong>en er sich Hilfe für eine Vorladung bei Fonseca versprach. Nun war es soweit: Alonso<br />

Hernández de Puertocarrero machte sich im Bewusstsein seines Rechts auf <strong>den</strong> Weg und<br />

erschien stolz im Bischofspalast. Er und Montejo wur<strong>den</strong> in einen weiß getünchten Saal mit<br />

Kreuzgewölbe und geschweiften Fenstern geführt, wo allerhand Bittsteller und Besucher lungerten.<br />

Ein kleines Männlein mit fächerartigem Silberbart, kräftiger Nase, hoher Stirn und gütigen<br />

Greisenaugen kam gebückten Ganges in <strong>den</strong> Saal - es war Petrus Martyr, das gelehrte Mitglied<br />

des Indienrates. Er begrüßte Puertocarrero und zog ihn in eine Ecke, wo sie unbelauscht flüstern<br />

konnten.<br />

»Seid auf <strong>der</strong> Hut. Der Bischof ist erbost.«<br />

»Warum?«<br />

»Weil er für seine Gewalttat nachträglich einen Grund sucht. Er hat sämtliche Stimmen des<br />

Indienrates – außer <strong>der</strong> des Lizentiaten José António Valerón und meiner.«<br />

»Wollen die Herren das Gold teilen?«<br />

»Nein. <strong>Das</strong> behält Fonseca. Aber Diego de Velásquez war freigebig. Er schenkte dem<br />

Patriarchen bei<strong>der</strong> Indien achthun<strong>der</strong>t Sklaven! Lope Conchillos, <strong>der</strong> bereits elfhun<strong>der</strong>t Indianer<br />

besitzt, erhält hun<strong>der</strong>tfünfzig dazu. Vega bekommt dreihun<strong>der</strong>t, und <strong>der</strong> Lizentiat Baraja<br />

zweihun<strong>der</strong>t.«<br />

Sie mussten das Gespräch abbrechen, da <strong>der</strong> Bischof die bei<strong>den</strong> Hauptleute in sein<br />

Arbeitszimmer bitten ließ. Der braunen Balkendecke sah man die Jahrhun<strong>der</strong>te an, und auf<br />

mattgol<strong>den</strong> schimmern<strong>der</strong> Le<strong>der</strong>tapete glomm an <strong>der</strong> Wand dunkelrot ein ewiges Lämpchen vor<br />

einem kleinen Madonnenbild. Navigationskarten, Zirkel, Winkelmesser und ein elfenbeinernes<br />

Kruzifix lagen auf dem Tisch; auch etliche Schweinsle<strong>der</strong>bände. Durch das einzige, an <strong>der</strong><br />

Südseite gelegene Fenster schien schräg die Sonne auf <strong>den</strong> kostbaren Teppich. Fonseca saß in<br />

<strong>der</strong> Nähe des Fensters; geblendet vom Licht, konnten die Besucher seine Silhouette nur<br />

undeutlich erkennen. Fonseca hingegen beobachtete jede Regung in <strong>den</strong> Gesichtern <strong>der</strong><br />

Besucher.<br />

Der Bischof – ein ziemlich großer und schwerer Mann – hatte ein bartloses, bäuerisches<br />

Antlitz und galt als weltgewandter, leutseliger und zuvorkommend scheinen<strong>der</strong> Politiker. Im


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 374<br />

Indischen Amt, dem er vorstand, liefen alle Nachrichten aus Spaniens neuen Län<strong>der</strong>n und<br />

sämtliche Handlungsfä<strong>den</strong> zusammen und lieferten Fonseca stets die neuesten Informationen, wie<br />

ein Mann, <strong>der</strong> neben dem Wohl des Reiches auch seinen eigenen Vorteil nicht vergisst, sie<br />

benötigte. Der Bischof kannte die Einflussreichen in Kuba, Haiti und Domingo; alle profitierten vom<br />

Geben und Nehmen! Nur in Mexico liefen die Dinge noch nicht so, wie er es gerne gehabt hätte.<br />

Außer ihm war nur <strong>der</strong> Sekretär des Indienrates, Lope Conchillos, anwesend. Hoch<br />

gewachsen und schlank, das längliche Gesicht von hellbraunem Spitzbart umrahmt, trug sich <strong>der</strong><br />

Sekretär mit weibischer Eleganz. Auffallend waren seine ringbedeckten Spinnenfinger. Wenn er<br />

sprach, begleitete er je<strong>den</strong> Satz mit einem meckern<strong>den</strong> Lachen.<br />

Puertocarrero und Montejo wur<strong>den</strong> von Fonseca mit übertriebener Herzlichkeit empfangen.<br />

Er wies auf zwei Stühle und bat die Besucher, Platz zu nehmen.<br />

»Habe ich euch endlich hier, meine Lieben! Wie habe ich mich darauf gefreut, euch zu<br />

sehen!«, rief er gutmütig aus. »<strong>Das</strong> könnt Ihr bestätigen«, wandte er sich an Conchillos.<br />

Conchillos bestätigte es durch eine stumme Verbeugung und meckerte.<br />

Vor Staunen brachte Puertocarrero kein Wort hervor.<br />

»Warum seid ihr nicht gleich am ersten Tag zu mir gekommen, meine Lieben?«, fuhr<br />

Fonseca fort. »Ihr habt <strong>den</strong> Grafen Altamira, Oristan und Syrnela eure Aufwartungen gemacht –<br />

mich aber habt ihr übergangen!«<br />

Puertocarrero nagte an <strong>der</strong> Unterlippe. Dieser Spaßmacher im Bischofsornat wusste von<br />

seinen vergeblichen Bemühungen und verhöhnte seine Machtlosigkeit. Höflich erklärte <strong>der</strong><br />

Leutnant, er habe mehrmals um die Audienz gebeten.<br />

»Ist das möglich! Warum weiß ich das nicht?« Fonseca lächelte fein. »Ja, so geht es uns!<br />

<strong>Das</strong> Volk glaubt, wir sind die Herren, in Wirklichkeit aber sind wir die Knechte <strong>der</strong> Dienerschaft!<br />

Nicht wahr?«<br />

»Gewiss, Eure Erhabenheit!«, pflichtete Puertocarrero wi<strong>der</strong>willig bei. Du kannst mir viel<br />

erzählen! dachte er.<br />

»Erzählt, Teniente!«, sagte Fonseca. »Ihr habt doch viel zu erzählen! Ihr kommt aus dem<br />

Land, in dem man die Goldklumpen mit Netzen fischt! Benei<strong>den</strong>swert! Da sitzt ihr vor mir,<br />

leibhaftige Zeugen einer Fabelwelt! Erzählt! Ich will euch lauschen, als wärt ihr Märchenerzähler!«<br />

Es kostete Puertocarrero viel Überwindung, mit seinem Bericht zu beginnen. Er hatte Grund<br />

zu <strong>der</strong> Annahme, dass <strong>der</strong> Bischof die bei<strong>den</strong> abhan<strong>den</strong> gekommenen Schriftstücke längst im<br />

Besitz hatte und mit <strong>der</strong>en Inhalt vertraut war. Wozu also die Possen? Doch Puertocarrero begann<br />

und stellte Cortés in günstiges Licht; er sah ihn und seine Taten als Freund. Über die<br />

Misshelligkeiten mit Diego de Velásquez und dessen Anhänger ging er großzügig hinweg, streifte<br />

nur das Lagerleben an <strong>den</strong> Sanddünen und die Gründung von Veracruz und wurde erst<br />

ausführlich, als er vom Besuch <strong>der</strong> Abgesandten Moctezumas erzählte, Silberpuma und Sengende<br />

Glut. Er schil<strong>der</strong>te die aus feinstem Gold gestanzte Sonnentafel, die silberne Mondtafel und all die<br />

an<strong>der</strong>en Kleinodien, die er und Montejo dem Kaiser Don Carlos zu überbringen beauftragt seien.<br />

Hier unterbrach ihn Fonseca und fragte mit jovialer List: »Wo ist die gol<strong>den</strong>e Sonne? Wo ist<br />

<strong>der</strong> silberne Mond? Und die an<strong>der</strong>en Preziosen... wo sind sie? Kann man sie nicht besichtigen?<br />

Bringt sie her, dass wir sie bewun<strong>der</strong>n!«<br />

Zu Conchillos gewandt, fragte er:<br />

»Meint Ihr nicht auch, Don Lope, dass <strong>der</strong> Indienrat das Gold gern sehen würde?«<br />

»Ich fürchte, <strong>der</strong> Indienrat wird von diesem Gold nicht viel zu sehen bekommen!«, meckerte<br />

Conchillos.<br />

Puertocarrero sah hilflos Montejo an und wun<strong>der</strong>te sich, dass dieser die Ironie des Bischofs<br />

gleichmütig hinnahm. In seiner Ohnmacht wurde er selbst immer ärgerlicher.<br />

»Ich bitte Eure Vortrefflichkeit um Verzeihung«, sagte er erregt zum Bischof, »doch wie soll<br />

ich die Kleinodien herschaffen, wenn Ihr selbst sie beschlagnahmt habt!«<br />

»Ich, Señor? <strong>Das</strong> muss ein Irrtum sein!«<br />

»Nach unserer Ankunft drangen Soldaten auf unser Schiff und nahmen sich die Kisten mit<br />

Gewalt – Kisten, in <strong>den</strong>en die Geschenke Moctezumas und die Briefe Don Hernándos und des<br />

Heeres an Seine Majestät enthalten waren. Die Offiziere haben einen schriftlichen Befehl<br />

vorgezeigt, unterschrieben von Don Juan Rodriguez, Bischof von Burgos!«<br />

»Schau einer an!«, gab Fonseca sanft <strong>zur</strong>ück. »Gibt es einen zweiten Bischof von Burgos?


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 375<br />

Ich möchte wissen, wie <strong>der</strong> Kerl aussieht!« Und mit scharfer Stimme fuhr er fort: »Ihr seid<br />

Beutelschnei<strong>der</strong>n in die Hände gefallen, meine Herren! <strong>Das</strong> muss untersucht wer<strong>den</strong>!« Er machte<br />

eine Pause und sagte wie<strong>der</strong> in ruhigem Tonfall: »Nun aber wollen wir von <strong>den</strong> Briefen re<strong>den</strong>.<br />

Davon habt ihr vorhin nichts erwähnt. Warum schrieb das Heer an Seine Majestät?«<br />

Puertocarrero gab Auskunft.<br />

Der Bischof suchte unter <strong>den</strong> Papieren auf dem Tisch und hob ein Schreiben empor.<br />

»Ist das <strong>der</strong> Brief?«, fragte er mit boshafter List.<br />

Puertocarrero schwieg angewi<strong>der</strong>t. Montejo, <strong>der</strong> bis dahin stumm geblieben war, antwortete<br />

für ihn: »Ja, Exzellenz.«<br />

Plötzlich, unvermittelt, verfinsterte sich Fonsecas Gesicht und lief dunkelrot an.<br />

»Was diese Rebellen da schreiben, ist alles Lüge!«, schrie er zornig. »Was habt Ihr dazu zu<br />

sagen, Señor?«<br />

»Ich weiß und bezeuge, es ist die Wahrheit!«, erwi<strong>der</strong>te Puertocarrero. »Mein mündlicher<br />

Bericht deckt sich mit dem Inhalt dieses Schreibens!«<br />

»Ihr seid ein Narr!«, brüllte Fonseca. »Die Wahrheit ist, dass Ihr Flausen erzählt habt, Señor!<br />

Wir kennen Eure Schliche!«<br />

»Ich bitte, Exzellenz, nicht zu vergessen, dass Ihr mit einem Ehrenmann sprecht!«<br />

»Ihr – ein Ehrenmann?!« Der Bischof lachte auf. »Was heutzutage nicht alles ein Ehrenmann<br />

sein will! Man ist ein Schuft, ein Ehebrecher, ein Frauenjäger und rühmt sich, ein Ehrenmann zu<br />

sein! Ihr habt meine Nichte verführt, habt sie nach Kuba entführt. Sie starb verdorben und mit <strong>der</strong><br />

Todsünde des Ehebruchs. Ihr aber seid ein Ehrenmann! Und Ihr legt Zeugnis ab! Nun, Señor,<br />

an<strong>der</strong>e Zeugen wer<strong>den</strong> Euer Zeugnis zuschan<strong>den</strong> machen!«<br />

Fonseca gab Conchillos ein Zeichen.<br />

»Ruft sie, Don Lope!«<br />

Conchillos öffnete eine kleine Tapetentür. Der Kaplan Benito Martín und António de<br />

Alaminos traten ein. Puertocarrero schaute verwun<strong>der</strong>t auf <strong>den</strong> Piloten. Was sollte <strong>der</strong> gegen ihn<br />

aussagen können?<br />

Der Bischof wurde wie<strong>der</strong> leutselig.<br />

»Wir haben die Hälfte einer anmutigen Reisebeschreibung gehört«, sagte er zu Alaminos.<br />

»Nun lasst mich die an<strong>der</strong>e Hälfte hören!«<br />

Alaminos brachte eine gut vorbereitete Anklagerede vor. Durch Bestechungen habe Cortés<br />

das Heer abspenstig gemacht, die Anhängerschaft Don Diegos unter Strafandrohung <strong>zur</strong><br />

Fahnenflucht und unter seinen Befehl gezwungen, <strong>den</strong> Steuermann Cermeño und <strong>den</strong> Büttel<br />

Escu<strong>der</strong>o hängen, dem Steuermann Gonzalo de Umbría die Füße abhauen lassen. Unter <strong>den</strong><br />

Offizieren aber, die das Bluturteil gesprochen hatten, befand sich auch Puertocarrero.<br />

Benito Martín ergänzte, dass sogar mit einem Geistlichen, dem Lizentiaten Juan Díaz,<br />

standrechtlich verfahren wurde; nur auf Bitten und Einspruch des Paters Olmedo sei <strong>der</strong> Lizentiat<br />

begnadigt wor<strong>den</strong>.<br />

Die wenigen Worte des Kaplans ließen Puertocarrero noch mehr staunen als die maßlose<br />

Anklage des Alaminos. Der Bischof bemerkte das und sagte zum Hauptmann:<br />

»Ihr scheint Euch zu wun<strong>der</strong>n, dass <strong>der</strong> Kaplan Geschehnisse kennt, die er nicht mit eigenen<br />

Augen gesehen hat.«<br />

»So ist es, Eure Vortrefflichkeit«<br />

»Ich will Euch aufklären. Als Ihr jüngst an Kuba vorbeigesegelt seid, erhielt Don Diego ein<br />

Handschreiben vom Hauptmann Montejo.«<br />

Montejo zuckte zusammen. Eine Weile schwiegen alle. Puertocarrero stand noch immer<br />

aufrecht da, hatte <strong>den</strong> Kampf aber schon aufgegeben. Der Bischof schmunzelte.<br />

»Ihr dürft gehen, meine Herren!«, sagte er zu Montejo und Puertocarrero und reichte ihnen<br />

seinen weißle<strong>der</strong>nen Handschuh zum Kuss - am behandschuhten Mittelfinger blitzte ein<br />

Smaragdring. Dann zeichnete er mit <strong>der</strong> gleichen Hand das Kreuzzeichen in die Luft und erteilte<br />

seinen bischöflichen Segen.<br />

Die bei<strong>den</strong> Offiziere verbeugten sich, wandten sich ab und schritten stumm durch das<br />

Wartezimmer. Da kamen ihnen ein Leutnant und drei Hellebardiere entgegen.<br />

»Euren Degen, Señor!«, sagte <strong>der</strong> Leutnant zu Puertocarrero.<br />

»Señor, ich <strong>den</strong>ke nicht an Wi<strong>der</strong>stand, doch will ich wissen, was <strong>der</strong> Grund meiner


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 376<br />

Verhaftung ist!«<br />

»Ehebruch!«, antwortete <strong>der</strong> Offizier.<br />

Da lieferte Alonso Hernández de Puertocarrero seinen Degen ab und ließ sich abführen.<br />

�<br />

Luís Rodrigo Muño, <strong>der</strong> katalonische Kaufmann, <strong>der</strong> in Bordeaux Avila besucht hatte, überbrachte<br />

dem Herzog von Bejár mit dem zweiten Brief des Generalkapitäns an <strong>den</strong> Kaiser auch die<br />

Nachricht, dass Cortés schon vor an<strong>der</strong>thalb Jahren durch Puertocarrero und Montejo einen ersten<br />

Bericht mit <strong>den</strong> Geschenken Moctezumas nach San Lúcar geschickt hatte. Er ließ sofort<br />

Nachforschungen anstellen und konnte Puertocarrero ausfindig machen. Der Herzog konnte (o<strong>der</strong><br />

wollte) Fonseca nicht bloßstellen; <strong>der</strong> Bischof mochte aus Grün<strong>den</strong> <strong>der</strong> Staatsräson gehandelt<br />

haben, schließlich hatte Cortés sich gegen seinen Vorgesetzten Diego de Velásquez erhoben.<br />

Nach einigen Briefen, die zwischen dem Herzog und Fonseca hin und her geschickt wur<strong>den</strong>,<br />

konnte Puertocarrero sein Gefängnis verlassen. Auch das mexicanische Gold tauchte wie<strong>der</strong> auf.<br />

Doch die Scheibe aus gestanztem Gold, groß wie ein Wagenrad, mit <strong>den</strong> Sternbil<strong>der</strong>n und <strong>den</strong><br />

Tierkreisen <strong>der</strong> Tolteken, auch die gleich große Scheibe aus Silber mit dem Mond und <strong>der</strong> Gestalt<br />

des Herrn <strong>der</strong> Morgenröte sowie die zwanzig gol<strong>den</strong>en Enten - Kunstwerke und unbezahlbare<br />

Zeugnisse mexicanischer Kultur – waren verloren. Man hatte sie inzwischen eingeschmolzen!<br />

Aber die an<strong>der</strong>en mexicanischen Kleinodien verursachten am spanischen Hof ungeheures<br />

Aufsehen. Seit drei Jahrzehnten wartete man vergeblich auf die Entdeckung des<br />

sagenumwobenen Goldlandes Eldorado. Colón, <strong>der</strong> Entdecker <strong>der</strong> neuen Welt, hatte es nicht<br />

gefun<strong>den</strong>. Enttäuschend endeten auch alle späteren Entdeckungen auf <strong>der</strong> westlichen<br />

Hemisphäre. Arm wie sie hinauszogen, kehrten die Seefahrer in die Heimat <strong>zur</strong>ück; einzig die<br />

Silbergruben Haitis machten einige Bevorzugte reich. Jetzt, beim Anblick <strong>der</strong> mexicanischen<br />

Goldschmiedearbeiten, dämmerte <strong>den</strong> Gran<strong>den</strong> Spaniens, welche Bedeutung die Entdeckung des<br />

Cortés für die Macht Kaiser Karl V. und die Wirtschaft Spaniens haben konnte.<br />

Karl war noch jung, aber er begriff es so gut wie seine Kamarilla. Doch im Augenblick fehlte<br />

es ihm an Zeit. Er musste zum Reichstag nach Worms reisen, um <strong>den</strong> in Wittenberg von Martin<br />

Luther angefachten Weltbrand zu ersticken. Vor seiner Abreise las er noch <strong>den</strong> zweiten Brief des<br />

Cortés und empfing Puertocarrero in Audienz. Schon vorher hatte er sich aus <strong>der</strong> Casa de<br />

Contratación de las Indias die vom Kaplan Benito Martín verfasste Anklageschrift vorlegen lassen,<br />

in <strong>der</strong> im Namen des Gobernadors von Kuba die Todesstrafe für Hernándo Cortés beantragt war.<br />

Beifall und Anklagen wi<strong>der</strong>sprachen sich allzu sehr. Im Augenblick konnte er <strong>den</strong> Knäuel nicht<br />

entwirren. So verschob er die Entscheidung bis nach seiner Rückkehr. Doch er gab dem Indienrat<br />

die Weisung, einen Oberrechnungsführer <strong>zur</strong> Wahrung <strong>der</strong> Ansprüche <strong>der</strong> Krone nach Mexico zu<br />

entsen<strong>den</strong>.<br />

Im Indienrat war <strong>der</strong> Vorsitzende Fonseca allmächtig. Seine Wahl fiel auf Juliano de<br />

Al<strong>der</strong>ete, einen seiner treuen Günstlinge. Mit einer Urkunde beglaubigte er ihn als vom Kaiser<br />

ernannten Oberrechnungsführer. Außerdem übergab er ihm ein Patent, von dem Cortés zunächst<br />

nichts erfahren durfte. <strong>Das</strong> Patent ermächtigte Al<strong>der</strong>ete, Cortés und dessen Feldobristen in Ketten<br />

zu legen, falls nötig, und als Hochverräter abzuurteilen.<br />


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 377<br />

Nicht nur die in Tlaxcala gezimmerten Schiffsteile, auch Segel, Teerfässer, eiserne Klammern,<br />

Tauwerk, Kompasse, Anker und weitere Ausrüstungsgegenstände, die einst vor <strong>der</strong> Verbrennung<br />

<strong>der</strong> elf Karavellen in Sicherheit gebracht und in Veracruz aufbewahrt wor<strong>den</strong> waren, wur<strong>den</strong> von<br />

achttausend tlamamas über das Gebirge nach Tezcoco geschleppt. Martín López begleitete die<br />

Karawane, um am Lagunenufer das Zusammenfügen <strong>der</strong> Brigantinen und ihren Stapellauf zu<br />

leiten.<br />

Ein indianischer Künstler stellt die Vorbereitungen <strong>der</strong> Spanier <strong>zur</strong> Rückeroberung Tenochtitláns dar. Unten<br />

sieht man spanische Offiziere, die in Tlascala indianische Träger abfertigen. Ein Spanier bestraft in Villa Rica de<br />

Vera Cruz gerade einen Indianer, während an<strong>der</strong>e mit verschie<strong>den</strong>artigemGerät und mitGeschützen unterwegs<br />

sind und einer sogar einen Spanier schleppen muß (Lienzo de Tlaxcala, Chavero 1892)<br />

Cortés wünschte, López vor <strong>den</strong> Toren Tezcocos zu empfangen, um ihn zu ehren. Als in <strong>der</strong><br />

Ferne die Staubwolke zu sehen war, ritt er mit seinen Feldobristen in großer Gala hinaus, begleitet<br />

von <strong>den</strong> verbündeten Indianerfürsten in grellfarbigen Kriegertrachten. Bald konnte man Menschen<br />

und Pferde erkennen; an <strong>der</strong> Spitze ritt Alvarado, <strong>den</strong> Cortés mit hun<strong>der</strong>t Kastiliern zum Schutz<br />

des Transports nach Tlaxcala gesandt hatte. Jubelnd wur<strong>den</strong> die Ankömmlinge begrüßt. Cortés<br />

stieg vom Pferd, umarmte und küsste <strong>den</strong> Schiffbaumeister auf beide Wangen, hieß ihn und alle<br />

an<strong>der</strong>en willkommen und schenkte ihm ein bei Iztapalapá erbeutetes mexicanisches<br />

Schmuckstück.<br />

Noch ehe er <strong>den</strong> Fuß wie<strong>der</strong> in <strong>den</strong> Steigbügel gesetzt hatte, sah er einen frem<strong>den</strong>, vornehm<br />

gekleideten Europäer auf einem Rappen herangaloppieren. Der Fremde parierte sein Pferd dicht<br />

vor ihm. In Cortés stieg Ärger auf, weil er zu Fuß war und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e zu ihm herab grüßte. So<br />

schwang Cortés sich in <strong>den</strong> Sattel und erwi<strong>der</strong>te erst dann <strong>den</strong> Gruß. Er blickte in ein graubärtiges<br />

Gesicht mit plumper Nase und schwarzen, stechen<strong>den</strong> Augen. <strong>Das</strong> Gesicht eines Hofschranzen,<br />

das Cortés nicht gefiel. Der Ankömmling zeigte we<strong>der</strong> Groll noch Missmut über die verspätete<br />

Erwi<strong>der</strong>ung seines Grußes, doch sein Blick war kalt und stolz.<br />

»Don Juliano de Al<strong>der</strong>ete«, stellte Alvarado vor. Cortés nickte. Und zu Al<strong>der</strong>ete gewandt,<br />

fuhr Alvarado fort: »Ich freue mich, Euch Hernándo Cortés vorstellen zu können, unseren capitán<br />

generál, Señor!«<br />

Der vom Kaiser ernannte Oberschatzmeister Juliano de Al<strong>der</strong>ete hatte das Christenheer<br />

erreicht! Der Hafenkommandant in Veracruz, Pedro Caballero, hatte ihn unverzüglich nach<br />

Tlaxcala geleiten lassen, wo er sich Alvarado, López und <strong>den</strong> tlamamas anschließen konnte. <strong>Das</strong>s<br />

dieser Mann, dessen Freundschaft mit Fonseca, dem Bischof von Burgos, allgemein bekannt war,<br />

nicht nur des Kronfünftels wegen die weite Reise unternommen hatte, war für Cortés von<br />

vornherein klar.<br />

»Señor, ich heiße Euch in Tezcoco willkommen und hoffe, Euch bald die Schönheiten


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 378<br />

Mexicos zeigen zu können!«<br />

Höflich und kühl wie Cortés entgegnete Al<strong>der</strong>ete:<br />

»Señor, das Vergnügen, Euer Lieb<strong>den</strong> bis nach Mexico begleiten zu dürfen, verdanke ich<br />

<strong>der</strong> Gnade Seiner Majestät, unseres Kaisers, <strong>der</strong> mir einen Gruß an Euer Lieb<strong>den</strong> auftrug!«<br />

Doch Cortés hörte mehr als nur Höflichkeit heraus.<br />

�<br />

Al<strong>der</strong>ete gefiel ihm nicht. Seit <strong>der</strong> ersten Begegnung vor <strong>den</strong> Toren Tezcocos hatte <strong>der</strong> erfahrene<br />

Cortés das Gefühl, dass <strong>der</strong> glatte Höfling die Karten nicht aufdeckte. Mit seiner nie versagen<strong>den</strong><br />

Liebenswürdigkeit, die schon manchen Gegner eingelullt hatte, umgarnte er Al<strong>der</strong>ete. Cortés<br />

spürte, dass ihn eine Gefahr, ein lästiger Aufpasser erreicht hatte; <strong>der</strong> capitán generál musste wohl<br />

o<strong>der</strong> übel zum Aufpasser des Aufpassers wer<strong>den</strong>. Er hatte zwar <strong>den</strong> Kaiser selbst in seinem Brief<br />

gebeten, »Eure Kaiserliche Majestät wolle einen glaubwürdigen Mann hierher verordnen, <strong>der</strong> über<br />

all diese Dinge einen guten Bericht abfasse«, aber nie hätte Cortés angenommen, dass man dies<br />

in Spanien befolgen und ihm einen Aufseher zugesellen werde. Er war Realist genug, um sich zu<br />

sagen, dass Al<strong>der</strong>ete nicht vom Kaiser bestimmt wor<strong>den</strong> war, son<strong>der</strong>n dass Fonseca ihn nach<br />

Mexiko geschickt hatte.<br />

Marina bestärkte ihn in seinem Argwohn. Al<strong>der</strong>ete zog sich ihre Abneigung gleich am ersten<br />

Tag zu, als er durch die Prachtsäle und <strong>den</strong> Schlossgarten geführt wurde. Marina und ihr bald<br />

einjähriger Sohn lagerten mit Frauen ihrer Umgebung unter schattigen Bäumen am Rand eines<br />

Fischteiches. Sie unterhielt sich mit Frater Aguilár, <strong>der</strong> vorbeigekommen war und sich bei ihr<br />

nie<strong>der</strong>gelassen hatte.<br />

Cortés näherte sich mit Al<strong>der</strong>ete und einigen seiner Feldobristen. Der Frater war erschreckt<br />

aufgesprungen und wollte sich entfernen, doch schon stan<strong>den</strong> die Kavaliere am Teich. Auch<br />

Marina und ihre Frauen hatten sich erhoben. Eine zapotekische Wärterin wollte ihr das Kind<br />

abnehmen; Marina aber schüttelte <strong>den</strong> Kopf. Voller Stolz behielt sie das Kind des Cortés auf dem<br />

Arm.<br />

Beim Anblick des reichen Hofstaates <strong>der</strong> schönen jungen Mutter fragte Al<strong>der</strong>ete, ob sie eine<br />

gefangene Königin sei.<br />

Zum Erstaunen aller gab Marina Antwort:<br />

»Ich bin eine Sklavin, Señor. Ich wurde in Tabasco mit neunzehn an<strong>der</strong>en Sklavinnen dem<br />

Don Hernándo geschenkt. Von <strong>der</strong> Dolmetscherin Marina o<strong>der</strong> Malintzín werdet Ihr in Veracruz<br />

gehört haben. Warum also fragt Ihr, ob ich eine Königin sei? Nehmt Ihr Anstoß daran, dass ich<br />

vornehm gekleidet bin und von dienen<strong>den</strong> Frauen begleitet werde? Ich will es Euch nicht<br />

verhehlen: <strong>Das</strong> Kind auf meinem Arm ist Don Hernándos Kind!«<br />

Peinliches Schweigen folgte; alle blickten verlegen. Es war nicht Marinas Art, sich<br />

vorzudrängen; nun aber hatte die sonst so Beschei<strong>den</strong>e überraschend ihren stillen Bezirk<br />

verlassen.<br />

»Was ist in dich gefahren, Marina?«, sagte Cortés vorwurfsvoll. »Ich glaube nicht, dass Don<br />

Juliano dich kränken wollte.«<br />

»<strong>Das</strong>... lag mir gänzlich fern, Señorita... Verzeihung, Señora! Eure Verdienste sind mir wohl<br />

bekannt«, erklärte <strong>der</strong> überrumpelte Al<strong>der</strong>ete mit einer steifen Verbeugung.<br />

Alvarados Soldatensinn begeisterte sich für Marinas Mut. Sie hatte unpassen<strong>den</strong> Fragen die<br />

Flügel beschnitten, noch bevor sie gestellt wur<strong>den</strong>. Zudem amüsierte es ihn, dass Al<strong>der</strong>ete ins<br />

Stottern gekommen war.<br />

»Ohne Doña Marina«, fügte er mit kaum verhohlenem Spott hinzu, »wären wir nie über<br />

Cempoala hinausgekommen! Ihr mögt in Veracruz von ihren Verdiensten gehört haben, Señor<br />

Al<strong>der</strong>ete, aber kein Lob reicht an ihre Verdienste heran!«<br />

Al<strong>der</strong>ete lächelte überlegen und beachtete Alvarado nicht. Zu Marina gewendet, sagte er:<br />

»Nicht nur in Veracruz, auch in Kuba hat man mir von Euch erzählt, Señorita.«<br />

»Habt Ihr Kuba auf <strong>der</strong> Herreise berührt?«, fragte Cortés rasch.<br />

»Ja, Don Hernándo – beinah hätte ich es vergessen! Ich soll Euch vom Oheim Eurer<br />

Gemahlin, Don Diego de Velásquez, Grüße überbringen. Der alte Mann geht recht <strong>zur</strong>ück. Von<br />

dem Koloss, <strong>der</strong> er einst war, blieb wenig übrig. Ihr habt ihm übel mitgespielt, Don Hernándo!


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 379<br />

›Varus, gib mir meine Legionen wie<strong>der</strong>!‹, seufzt er wie Kaiser Augustus je<strong>den</strong> Tag.«<br />

»Da mag er sich an Don Pánfilo halten, nicht an mich«, sagte Cortés lachend.<br />

»Gewiss! Zu seinem Verfall trägt überdies bei, dass er von seinem heimgekehrten<br />

Sekretarius Andrés del Duero erfahren musste, Narváez sei neuerdings ein Lobredner und<br />

Bewun<strong>der</strong>er Eurer Kriegstaten gewor<strong>den</strong>, Don Hernándo! Noch mehr hat er sich geärgert, dass<br />

fünftausend mit dem Buchstaben G gebrandmarkte mexicanische Sklaven, die Narváez Don<br />

Cristóbal de Olíd abkaufte, in Kuba auf <strong>den</strong> Markt gebracht wor<strong>den</strong> sind, und dass <strong>der</strong> Erlös in Don<br />

Pánfilos Tasche fließt statt in seine. Dies alles hat Don Diego krank und bettlägerig gemacht. Man<br />

befürchtet das Schlimmste für ihn.«<br />

»Er ist ja auch nicht mehr <strong>der</strong> Jüngste«, bemerkte Sandoval, um etwas zu sagen, weil die<br />

an<strong>der</strong>en teilnahmslos schwiegen. Er sah totenblass aus und trug <strong>den</strong> Arm in einer Binde.<br />

»Umso bessere Nachrichten, Don Hernándo«, fuhr Al<strong>der</strong>ete fort, »kann ich Euch von Eurer<br />

Gemahlin, Doña Catalina, überbringen. Ihre Genesung hat erstaunliche Fortschritte gemacht. Die<br />

Ärzte zweifeln sogar, ob sie überhaupt schwindsüchtig gewesen ist!«<br />

»Solche Ärzte sollte man zum Teufel jagen!«, platzte Olíd barsch heraus.<br />

Frater Aguilár wagte sich vor.<br />

»Warum, Don Cristóbal? Je schlechter die Diagnose, umso größer das Wun<strong>der</strong> des<br />

Allmächtigen! Wir alle glauben und vertrauen auf Gottes Güte. Freilich, Alvarez Pineda sagte<br />

etwas an<strong>der</strong>es. Er meinte, es gäbe keine Hoffnung mehr.«<br />

»Wer ist Pineda?«, fragte Al<strong>der</strong>ete.<br />

»Er landete hier im vorigen August«, erklärte Sandoval.<br />

»Und jetzt sind wir im April«, sagte Al<strong>der</strong>ete lächelnd. »Damals mag sie hoffnungslos<br />

darnie<strong>der</strong>gelegen haben. Jetzt aber ist sie wohlauf und sieht blühend aus, das kann ich bezeugen!<br />

Übrigens – sie trug mir auch Grüße an Euch auf, Doña Marina!«<br />

»An mich?« Marina fuhr zusammen. »<strong>Das</strong> ist überaus gütig von ihr. Nur begreife ich nicht...«<br />

»Wun<strong>der</strong>t es Euch, Señora? Wie viel die heilige Mutter Kirche, Seine Majestät <strong>der</strong> Kaiser<br />

und das christliche Heer Euch verdanken, ist auch Doña Catalina bekannt. Sie hofft, sich bald<br />

persönlich bei Euch erkenntlich zeigen zu können.«<br />

»Persönlich...?«, fragte Cortés, ohne eine aufflammende Erregung verdecken zu können.<br />

»Hat meine Frau die Absicht, nach Mexico zu kommen?«<br />

»Die Kordilleren sind verdammt hoch!«, knurrte Olíd.<br />

»<strong>Das</strong> habe ich ihr auch vorgehalten. Doch sie schreckt vor Hin<strong>der</strong>nissen nicht <strong>zur</strong>ück. Auf<br />

dem nächsten Schiff, das nach Veracruz abgeht, könnte sie an Bord sein.«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 380<br />

28. Perlendiadem<br />

»Unter dem Vorsitz Cristobál de Olíds trat das gewöhnliche Kriegsgericht zusammen, das<br />

<strong>den</strong> Villafaña zum Tode durch <strong>den</strong> Strang verurteilte. Man ließ <strong>den</strong> Verurteilten beichten und<br />

knüpfte ihn am Fensterla<strong>den</strong> seines Quartiers auf.«<br />

(Denkwürdigkeiten des Feldhauptmanns Bernal Díaz del Castillo)<br />

<strong>Das</strong> Christenheer stürmte und plün<strong>der</strong>te die als uneinnehmbar geltende Stadt Quauhnahuac,<br />

machte »recht ansehnliche Beute an Schätzen und tüchtigen Indianerinnen« und wälzte sich<br />

brennend und raubend nach Nordwesten durch das Axochco-Gebirge ins Hochtal Anahuac und an<br />

das Südufer des Süßwassersees von Xochimilco. Vor über einem Jahr küsste Prinzessin<br />

Perlendiadem die heißen Lippen <strong>der</strong> unter dem Wasser liegen<strong>den</strong> steinernen Seejungfrau, worauf<br />

Cortés sie in die Basaltgrotte trug. Jetzt hatte er Anlass, jener seligen Nacht und des Wandels <strong>der</strong><br />

Zeiten zu ge<strong>den</strong>ken. Denn nicht wie damals mit Rosen beworfen und umjubelt, son<strong>der</strong>n mit<br />

Wutgeschrei und Speerwürfen empfing Xochimilco ihn und sein Heer. Die Adler und Jaguare<br />

Cuauhtémocs verteidigten die Stadt verbissen.<br />

Cortés hielt eine kurze Ansprache an seine Soldaten, sagte: »Die Hölle habt ihr schon hinter<br />

euch, Kamera<strong>den</strong>, das Paradies liegt vor euch!« und befahl, die Stadt zu stürmen. »Mit Gott und<br />

Sankt Jago zum Sieg!«<br />

Trommeln wur<strong>den</strong> gerührt, Trompeten geblasen, Muschelhörnern dröhnten! Die Tore <strong>der</strong><br />

Stadt konnten dem Ansturm bald nicht mehr standhalten. Auf <strong>der</strong> halbverbrannten Holzbrücke glitt<br />

Molinero, <strong>der</strong> Apfelschimmel des Cortés, über Leichen stolpernd aus und stürzte. Im selben<br />

Augenblick wurde <strong>der</strong> Generalkapitän von Azteken gepackt, entwaffnet und fortgeschleppt. Die<br />

kastilischen Fußsoldaten, die auf <strong>der</strong> engen Brücke im Handgemenge kämpften, vermochten ihn<br />

nicht herauszuhauen.<br />

»Der caudillo!« – »Sie haben ihn gefangen!« – »Die roten Hunde haben <strong>den</strong> Befehlshaber!«<br />

– »Wir müssen Cortés <strong>zur</strong>ückholen!«<br />

Nach stun<strong>den</strong>langem Ringen zogen die Christen in Xochimilco ein, und Cortés suchte seinen<br />

Lebensretter auf. Er fand ihn auf einem Lager, einen blutgetränkten Baumwollverband um <strong>den</strong><br />

Kopf. Wortreich bedankte sich Cortés und fragte, ob er ihm einen Wunsch erfüllen könne. Ja,<br />

sagte Pimoti, er möchte gerne noch einmal die Berge und Täler seiner Heimat und <strong>den</strong> Schnee <strong>der</strong><br />

Maid-mit-dem-blauen-Hüfttuch sehen, um dann am Ufer des Flusses Zahuapan seine Wun<strong>den</strong> zu<br />

heilen. Der caudillo schlug seinem Erretter die Bitte nicht ab und versprach, ihm Urlaub zu geben,<br />

sobald sie nach Tezcoco <strong>zur</strong>ückgekehrt seien.<br />

Die Nachricht seiner Gefangennahme verbreitete sich in Windeseile; schon machte sich<br />

Zaghaftigkeit breit. Pimoti, <strong>der</strong> einst das Herrschende Raubtier in Cholula geschminkt hatte,<br />

sammelte hun<strong>der</strong>t Tlaxcalteken um sich und durchschwamm mit ihnen unterhalb <strong>der</strong> Brücke <strong>den</strong><br />

Wassergraben, fiel <strong>den</strong> triumphieren<strong>den</strong> Mexica in <strong>den</strong> Rücken und befreite Cortés. Pimoti trug bei<br />

diesem Kampf eine schwere Kopfwunde davon.<br />

Die Nachricht seiner Gefangennahme verbreitete sich in Windeseile; schon machte sich<br />

Zaghaftigkeit breit. Pimoti, <strong>der</strong> einst das Herrschende Raubtier in Cholula geschminkt hatte,<br />

sammelte hun<strong>der</strong>t Tlaxcalteken um sich und durchschwamm mit ihnen unterhalb <strong>der</strong> Brücke <strong>den</strong><br />

Wassergraben, fiel <strong>den</strong> triumphieren<strong>den</strong> Mexica in <strong>den</strong> Rücken und befreite Cortés. Pimoti trug bei<br />

diesem Kampf eine schwere Kopfwunde davon.<br />

Die Kastilier, Totonaken und Tlaxcalteken nahmen grausame Rache an Xochimilco. Die<br />

schöne Stadt wurde geplün<strong>der</strong>t und in Brand gesteckt. Goldmaske ließ mehrere Gefangene foltern


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 381<br />

und erfuhr, wo die Kostbarkeiten des Stadtkönigs aufbewahrt wur<strong>den</strong>: in dem einsam aus <strong>der</strong><br />

Lagune emporragen<strong>den</strong> Schatzhaus! Ohne Cortés o<strong>der</strong> einen <strong>der</strong> Hauptleute in Kenntnis zu<br />

setzen, ru<strong>der</strong>te Goldmaske mit einer Abteilung Tlatepoca und einigen Kastiliern auf die Lagune<br />

hinaus und drang in die Schatzkammern ein. Da wur<strong>den</strong> sie von mexicanischen Booten umzingelt.<br />

Goldmaske konnte mit <strong>den</strong> meisten seiner Begleiter ohne Beute entkommen. Doch sechs<br />

Europäer - Alonso Luís, <strong>den</strong> man el niño nannte, das Kind, <strong>der</strong> Levantefahrer Andrés de Mola, <strong>der</strong><br />

hinkende Tuvilla, ein gewisser Cascorro, <strong>der</strong> Stallmeister Martín de Gamba und ein an<strong>der</strong>er Diener<br />

des Cortés – wur<strong>den</strong> gefangen davongeschleppt. Cuauhtémoc ließ sie opfern und die Arme und<br />

Beine durch die Städte Anahuacs tragen, um <strong>den</strong> Mut seiner Anhänger zu stärken.<br />

Zornig verlangte Olíd, Goldmaske müsse von einem Kriegsgericht abgeurteilt wer<strong>den</strong>. Auch<br />

Cortés hatte noch eine Rechnung wegen <strong>der</strong> Vernichtung <strong>der</strong> bei<strong>den</strong> Brigantinen vor <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong><br />

Schrecken mit Goldmaske offen. Er ließ ihn festnehmen. »An diesem Indianerfürsten ist alles<br />

Wohlwollen Verschwendung; er hat nichts im Sinn als Verrat und böse Pläne. <strong>Das</strong> muss ein Ende<br />

nehmen. Der Geduld ist Genüge getan!«, legt López de Gómera dem caudillo in <strong>den</strong> Mund.<br />

�<br />

Die Mutlosen, die Entrechteten, die Sklaven – sie alle waren in die Ferne gezogen, geführt vom<br />

Gefleckten Berglöwen. Doch die Zurückgebliebenen glaubten in ihrem Stolz noch immer an die<br />

Kraft ihrer Speere. Die Inselfestung Tenochtitlán war unzerstörbar, allzeit beschirmt vom<br />

Wassergott. Wie im tiefsten Frie<strong>den</strong> blühte und wuchs es auf <strong>den</strong> schwimmen<strong>den</strong> Gärten Mexicos.<br />

Tausende Boote glitten durch die schattigen Kanäle und brachten ungezählte Ladungen an<br />

Früchten, Gemüse, Blumen, Nutzholz, Webereien und Töpfereien auf die Marktplätze, auf <strong>den</strong><br />

Ananasmarkt, auf <strong>den</strong> Kopalmarkt, auf <strong>den</strong> Wasservögelmarkt und natürlich auf <strong>den</strong> großen Markt<br />

in Tlatelolco. Nach wie vor priesen die Sklavenhändler ihre Waren an, wägten da und feilschten<br />

dort. Alles, was man im Leben benötigte, wurde angeboten: Gemüse, Fische und Maiskolben,<br />

Zierpflanzen, Krebse und Enten, in Erdlöchern geröstete Kaninchen, Schlangenhäute, Pumafelle,<br />

Schilfmatten, flüssiger Amber, Meerschaum, Indigo und rote Erde, Honigweinkrüge, Rasselstäbe,<br />

Lackarbeiten, Bil<strong>der</strong>handschriften, Ohrpflöcke, Kämme, Käfige mit leben<strong>den</strong> Vögeln und<br />

Schüsseln voll tenacayo genanntes Menschenfleisch... Kin<strong>der</strong> und Jünglinge schossen mit<br />

Schleu<strong>der</strong>n, Wurfbrettern, Blasrohren und Bogen nach hölzernen Standbil<strong>der</strong>n, und nicht selten<br />

schaute einer <strong>der</strong> drei Könige zu, feuerte an, lobte und belohnte. Ringsumher aber brandete das<br />

farbige, grelle und laute Alltagsleben wie in Frie<strong>den</strong>szeiten; gemächlich schritten wohlgenährte<br />

Bürgerfrauen, von Fächerträgerinnen begleitet, unter <strong>den</strong> Säulengängen aus rotem Porphyr o<strong>der</strong><br />

zwischen <strong>den</strong> Stän<strong>den</strong> und Bu<strong>den</strong> hindurch, betasteten die Waren, markteten und entnahmen<br />

ihren Taschen Kakaobohnen, um zu bezahlen.<br />

In diese Idylle platzte die bestürzende Nachricht. Kundschafter hatten es soeben voller<br />

Entsetzen dem Schlagen<strong>den</strong> Falken gemeldet: Sie waren Zeuge, hatten mit eigenen Augen<br />

gesehen, wie dreizehn hohe Wasserhäuser betrunkenen Riesen gleich vom Ufer in <strong>den</strong> See<br />

getaumelt waren! Und statt sie zu verschlingen, trug sie <strong>der</strong> See auf seinem blauen Rücken!<br />

Jäh schlug die Zuversicht wie<strong>der</strong> in Zweifel um. Die Inselfestung schien nicht mehr<br />

unantastbar und unbetretbar. <strong>Das</strong> Menschengewühl auf <strong>den</strong> Gassen schwoll durch Flüchtlinge aus<br />

<strong>den</strong> Pfahldörfern und Uferstädten an. Ohne von <strong>den</strong> Priestern aufgefor<strong>der</strong>t zu sein, wälzten sich<br />

Bußprozession durch die Stadt. Viele mischten Zaubertränke und verzehrten halluzinogene Pilze,<br />

um im Rauschzustand <strong>der</strong> entsetzlichen Wirklichkeit zu entfliehen. Melancholisches Flötenspiel<br />

und wilde Trommelschläge mischten sich in Klagerufe und stiegen mit Kopalwolken himmelwärts.<br />

Der Träumer war kein Freund <strong>der</strong> Menge - er wich <strong>den</strong> reumütigen Büßern aus und schlich<br />

bedrückt in <strong>den</strong> Huei-Tecpan, wo seine Mutter in einem von Königin Goldkolibri bewohnten<br />

Palastflügel als Geisel lebte.<br />

Die große Empfangshalle, die sonst mit Höflingen, Kriegern o<strong>der</strong> Bittstellern gefüllt war,<br />

gähnte heute leer. Der Weltherr beriet mit Felsenschlange und dem Durch-Wohlgestalt-<br />

Glänzen<strong>den</strong> im abgeschirmten großen Versammlungssaal über die drohende Gefahr. Die<br />

Türkisgebürtigen und Hofbeamten waren als Ratgeber und Sachverständige dabei, aber die<br />

Versammlung artete in lange Palaver aus und brachte nur zutage, dass je<strong>der</strong> eine an<strong>der</strong>e Meinung<br />

zu ihrer Abwendung vorschlug.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 382<br />

Als <strong>der</strong> Träumer das Gemach seiner Mutter betrat, kniete sie auf einem gelben,<br />

blaugetüpfelten Kissen und nähte an einer schwarzen Hinterhauptschleife. Sie sah nicht auf; auch<br />

ohne Wärter war sie eine Gefangene. Der junge Dichter versuchte sie zu trösten: Sie habe es hier<br />

gut und sauber und lebe wie eine Dame von fürstlichem Geblüt. Doch sie schüttelte mürrisch <strong>den</strong><br />

Kopf – sie lebe hier zwischen Skorpionen, Nesseln und Dornen.<br />

»O liebe Mutter, du Teure. Der Palast ist fast leer! Komm mit mir, ich werde dich von hier fort<br />

und in ein sicheres Versteck bringen.«<br />

Die alte Frau erschrak. »Nein, das geht nicht! Die Königin wird mich fin<strong>den</strong> und furchtbar<br />

strafen. Und auch du würdest vor ihrer Rache nicht sicher sein, <strong>den</strong>n deinetwegen bin ich hier<br />

eingesperrt.«<br />

»Eingesperrt? Ja! Aber es ist ein gol<strong>den</strong>er Käfig. – Und warum meinetwegen?«<br />

»Ach Sohn, du Einfältiger! Ich kenne nicht <strong>den</strong> Grund, aber ich weiß, dass ich deinetwegen<br />

hier lebe! Königin Goldkolibri hat mir gedroht – Mitwisser eines Geheimnisses seiest du. Doch um<br />

mehr zu erfahren, habe ich niemals zu fragen gewagt.«<br />

»Du hast Recht, liebe Mutter, es ist ein schreckliches Geheimnis«, murmelte <strong>der</strong> Träumer<br />

traurig.<br />

»Dann schweige! Versprich mir, meinetwegen zu schweigen.«<br />

»Ich verspreche es, liebe Mutter.«<br />

»Mein Sohn, du hast eine Schwalbenzunge. Sie zwitschert immerzu! Die böse Königin von<br />

Tezcoco wird deine alte Mutter zu Tode martern, wenn du redest!«<br />

Nochmals beschwichtigte er ihre Angst und schwor zu schweigen; selbst die Pulquegötter<br />

könnten ihm sein Geheimnis nicht entreißen.<br />

�<br />

Cuauhtémoc, <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Welt, hatte sich - mit einem türkisenen Nasenpfeil und einer<br />

kegelförmigen gol<strong>den</strong>en Mitra geschmückt – zusammen mit dem Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong><br />

und Prinz Felsenschlange auf die Terrasse des Palastturms begeben. Hinter ihnen stan<strong>den</strong><br />

Wurfspieß, <strong>der</strong> neue, jüngst ernannte Weibliche Zwilling, und Steinpfeiler als Vorsteher des<br />

Hauses <strong>der</strong> Speere. Sie spähten angestrengt über die gol<strong>den</strong> glitzernde Lagune hinweg.<br />

Kundschafter hatten gemeldet, dass im Hafen von Tezcoco noch elf <strong>der</strong> Wasserhäuser mit<br />

Takelwerk versehen wür<strong>den</strong>; zwei aber seien schon ausgelaufen, um im südlichen Teil des<br />

Schilfsees die kleine Tempelinsel zu erobern.<br />

Die große Pyramide Huitzilopochtlis ragte wie eine Wand vor <strong>der</strong> Veranda empor. Tezcoco<br />

und das jenseitige Ufer wur<strong>den</strong> fast vollständig von ihr verdeckt; nur die Fernsicht auf die südliche<br />

Lagune war frei. Die bei<strong>den</strong> Brigantinen tauchten jetzt vor dem roten<br />

Sandsteinrand <strong>der</strong> vierten Schlangenbergterrasse auf. Die neuen Segel<br />

leuchteten blütenweiß in <strong>der</strong> tänzeln<strong>den</strong> Sonnenspiegelung des großen Sees,<br />

schienen durchsichtig, wie aus Dunst gewoben. Klein in <strong>der</strong> Entfernung, glitten<br />

sie im Schneckentempo vorwärts.<br />

Cuauhtémoc, »Sich herabsenken<strong>der</strong> Adler«,<br />

* 1495 o<strong>der</strong> 1502, † 28. Februar 1525) war <strong>der</strong><br />

letzte aztekische Herrscher von Tenochtitlán<br />

»Gebt Rat«, for<strong>der</strong>te Cuauhtémoc seine Berater auf.<br />

Der Weibliche Zwilling sagte: »O großer König, du Schwert <strong>der</strong> Götter! Noch haben die<br />

Gelbhaarigen keinen Erfolg mit Hilfe ihrer Riesenschiffe errungen. Schicke tausend bemannte<br />

Boote, die Wasserhäuser zu umringen und mit Brandfackeln zu bewerfen.«<br />

»Auf <strong>den</strong> Wasserhäusern sind Feuerrohre mit Blitz und Donner«, hielt Cuauhtémoc ihm<br />

entgegen.<br />

»Auch wenn die Boote verloren gehen«, fuhr Wurfspieß fort, »die Vertilgung <strong>der</strong> zwei<br />

Wasserhäuser wird das Opfer wert sein.«<br />

Steinpfeiler wi<strong>der</strong>sprach: »Wenn es gelingt, wird es schädliche Folgen haben. Die<br />

Gelbhaarigen wer<strong>den</strong> aus ihrem Missgeschick lernen und die übrigen elf Wasserhäuser


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 383<br />

unerreichbar machen. Man kann einem Tausendfuß zwei Brustringe abschnei<strong>den</strong>, er wird trotzdem<br />

weiterleben!«<br />

Der Schlagende Falke runzelte unwillig die Stirn. »Du rätst mir ab, sagst aber nicht, was<br />

nach deiner Meinung zu tun sei!«, sagte er.<br />

Steinpfeiler antwortete: »O du Siegreicher, mein Rat lautet abzuwarten, bis wir alle dreizehn<br />

Wasserhäuser angreifen können. Wir müsse einen windstillen Tag wählen, wenn die großen<br />

weißen Tücher schlaff herabhängen; dann sind die Angegriffenen wie Möwen mit gebrochenen<br />

Flügeln und unfähig, auszuweichen o<strong>der</strong> zu fliehen.«<br />

Felsenschlange und <strong>der</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzende stimmten zu. Düster sagte <strong>der</strong><br />

Schlagende Falke: »Nichtkämpfen ist schwerer als kämpfen!«<br />

»O edler König, mein Bru<strong>der</strong>«, sagte Felsenschlange lächelnd, »sind deine Sendlinge nicht<br />

unterwegs nach Guatemala, Yucatán, Matlatzinco und Michuacan? Nichtkämpfen ist besser als<br />

kämpfen, solange <strong>der</strong> Sieg versagt ist. Kommt aber <strong>der</strong> Tag <strong>der</strong> Freundeshilfe und <strong>der</strong> Tag <strong>der</strong><br />

Windstille, wer<strong>den</strong> wir die Altäre Huitzilopochtlis und Tezcatlipocas mit dem roten Edelsteinwasser<br />

<strong>der</strong> Gelbhaarigen begießen!«<br />

Der Schlagende Falke nickte. Er wies Steinpfeiler an, die mexicanische Einbaumflotte<br />

bereitzuhalten. Er wolle, so schwer es auch sei, einstweilen untätig zuschauen und sich nur dann<br />

auf einen Kampf einlassen, wenn die Wasserhäuser sich Tenochtitlán auf Schussweite näherten.<br />

Steinpfeiler und Wurfspieß stiegen die Treppe hinunter, um die Anordnungen des Königs an<br />

die Befehlshaber <strong>der</strong> Flotte weiterzuleiten. Kaum hatten sie sich entfernt, als Felsenschlange<br />

erstaunt nach Nor<strong>den</strong> zeigte. Aus Tlatelolco, dem nördlichen Stadtteil Tenochtitláns, schwärmte<br />

eine Flotte von mehreren hun<strong>der</strong>t Einbäumen aus und verschwand hinter <strong>den</strong> Steinmassen des<br />

Schlangenberges. Es war klar, dass die jungen Krieger Tlatelolcos die Brigantinen überfallen<br />

wollten, ohne die Befehle ihres Feldherrn abzuwarten.<br />

Wütend stampfte <strong>der</strong> Schlagende Falke auf <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong>; die Goldschellen an seinen<br />

Wa<strong>den</strong>ringen klirrten hell.<br />

»Tlatelolco will Tenochtitlán wie<strong>der</strong> einmal zuvorkommen! O die Affen!«, knirschte er.<br />

»Felsenschlange, eile hinab und versuche durch Schnellru<strong>der</strong>er die unsinnigen Tat zu<br />

verhin<strong>der</strong>n.«<br />

Bald darauf hallte das Echo von Kanonenschüssen über <strong>den</strong> See. Am Abend erreichte sie<br />

die Nachricht, dass die Krieger Tlatelolcos die Schlacht verloren hatten.<br />

�<br />

Für Perlendiadem begann eine schwere Zeit. Nach <strong>der</strong> Geburt des weißen Kindes hatte die Herrin<br />

von Tula Huitzilopochtlis Knecht aufgefor<strong>der</strong>t, <strong>den</strong> Tot des Kindes anzuordnen. <strong>Das</strong> weiße Kind<br />

bringe Mexico in Gefahr. Wenn Ihre Mutter so viel Einfluss auf Priester und Volk hatte, dann<br />

konnte sie gewiss <strong>den</strong> Befehl auch wie<strong>der</strong> rückgängig machen und Perlendiadem von ihrer Angst<br />

befreien. Verzweifelt beschloss Perlendiadem, eine Annäherung zu versuchen. Sie schickte eine<br />

ihrer Mägde in <strong>den</strong> Tecpan des Königs Felsenschlange; sie sollte bei <strong>der</strong> Herrin von Tula<br />

anfragen, ob ihr Besuch genehm sei.<br />

Die Herrin von Tula ließ ausrichten, man werde die Königin von Tacuba nicht abweisen, falls<br />

sie sich <strong>zur</strong> Zeit <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>steigen<strong>den</strong> Kolibris einfinde.<br />

Tags darauf ließ sich Perlendiadem nach dem Mittag in <strong>den</strong> zierlichen Tecpan tragen;<br />

Torhüter geleiteten sie in einen <strong>der</strong> Prunksäle, wo die Herrin von Tula ihr bereits bis an die Saaltür<br />

entgegenkam. Mit Schmuck behängt und mit versteinertem Gesicht hieß sie ihre Tochter<br />

willkommen und nahm <strong>den</strong> schüchtern dargereichten Muskatrosenstrauß entgegen. Perlendiadem<br />

wollte sich eigentlich vor ihrer Mutter zu Bo<strong>den</strong> werfen, ihr die Füße küssen und weinend um<br />

Aussöhnung flehen. Aber das steife Begrüßungszeremoniell ließ es nicht dazu kommen; die<br />

bitten<strong>den</strong> Worte, die zu sagen sie beabsichtigt hatte, blieben unausgesprochen. Verbeugung folgte<br />

auf Verbeugung, förmliche Fragen wur<strong>den</strong> förmlich beantwortet, mit <strong>der</strong> rechten Hand wurde <strong>der</strong><br />

Marmorbo<strong>den</strong> und dann die Herzgrube berührt. Endlich setzten sich die bei<strong>den</strong> Königinnen auf<br />

Jaguarfellsesseln nie<strong>der</strong>. Dienerinnen brachten Trinkschalen.<br />

Vor Jahren – als Mutter und Tochter noch einträchtig zusammenlebten – hatten sie sich nach<br />

dem Verschwin<strong>den</strong> ihres für ermordet gehaltenen Sohnes und Bru<strong>der</strong>s Felsenschlange hinreißen


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 384<br />

lassen, <strong>der</strong> Gattin Moctezumas, Königin Acatlan, die <strong>zur</strong> Begrüßung übliche Schale Kakaosaft<br />

vorzuenthalten. Auf eine ähnliche Kränkung war Perlendiadem gefasst gewesen; daher empfand<br />

sie es als hoffnungweckende Überraschung, dass eine Sklavin ihr Kakao vorsetzte.<br />

Doch wenn ihr auch <strong>der</strong> Kakao nicht vorenthalten wurde und man sie wie eine Königin<br />

empfing – das Herz <strong>der</strong> Herrin von Tula war davon nicht weicher gewor<strong>den</strong>. Will man Raubtiere<br />

fangen, pflegte sie zu sagen, muss man Buschwerk und Gräser über die Falle decken! Sie war<br />

keine weltfremde Frau. <strong>Das</strong>s Perlendiadem jedoch als la Azteca die Geliebte des Anführers <strong>der</strong><br />

bärtigen Eindringlinge gewor<strong>den</strong> war und ihm ein Kind geboren hatte, konnte die Herrin von Tula<br />

nicht verwin<strong>den</strong>.<br />

Eine neue Zeit war angebrochen, Moctezuma war tot, alter Zwist hatte sich selbst überlebt.<br />

Sie hatte keinen Grund mehr, Mexico zu hassen, aber so manchen Grund, Mexico zu lieben. Starb<br />

Tenochtitlán, starb auch Tezcoco. Der Drei-Städte-Bund war belanglos gewor<strong>den</strong>; sein Bündnis<br />

musste nach <strong>der</strong> Vertreibung <strong>der</strong> Belagerer neu verhandelt wer<strong>den</strong>. Aber wenn ihr heimlich<br />

gehegter Wunsch in Erfüllung ginge, die junge Königinwitwe von Tezcoco, die Moctezuma-Tochter<br />

Goldkolibri mit Felsenschlange zu verehelichen, würde Tezcoco mächtiger dastehen als vor dem<br />

Krieg. Doch zuvor musste dem Anprall <strong>der</strong> Feinde Wi<strong>der</strong>stand geleistet wer<strong>den</strong>. Die Herrin von<br />

Tula war die Seele des Wi<strong>der</strong>standes, Mutter <strong>der</strong> Könige und Mutter des Volkes; sie war die große<br />

Hasserin, die Antreiberin <strong>der</strong> Wankelmütigen, die Aufpeitscherin <strong>der</strong> Lauen.<br />

Mutter und Tochter leerten die Schale Kakao, dann brachte Perlendiadem ihr Anliegen vor.<br />

Sie schil<strong>der</strong>te ihre verzweifelte Lage, brach in Tränen aus und bejammerte ihre Verlassenheit. Sie<br />

habe die Liebe des Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong> verloren; das Volk sei gegen sie aufgebracht,<br />

und sie werde sich töten müssen, wenn ihre Mutter ihr nicht helfe.<br />

»O meine Tochter, du meine Schmuckfe<strong>der</strong> und Edelsteinkette, dir helfen und deine<br />

Verfolger beschwichtigen kannst nur du selbst! <strong>Das</strong> weiße Kind lebt ja noch!«<br />

»Mein Kind ist tot«, murmelte Perlendiadem. Sie log ohne Überzeugung, sonst hätte sie es<br />

laut hinausgeschrien.<br />

»O meine Tochter, du hast dem Rat <strong>der</strong> Alten <strong>den</strong> Kopf deines Kindes nicht vorgezeigt.«<br />

Perlendiadem gab keine Antwort. Sie schwieg zermürbt und machte nur eine müde<br />

Handbewegung, als lohne es nicht, davon zu re<strong>den</strong>. Wozu auch? <strong>Das</strong>s sie ihr Kind verstecken<br />

ließ, durfte sie <strong>der</strong> Mutter nicht anvertrauen; auch nicht, dass Felsenschlange ihr dabei geholfen<br />

hatte. <strong>Das</strong> gäbe neuen Zwist zwischen <strong>der</strong> Herrin von Tula und ihrem Sohn.<br />

»O meine Tochter, auch schweigend lügst du! Dein Kind ist noch am Leben! Wo ist es?«<br />

»Ich weiß es nicht!«, schrie Perlendiadem gequält auf.<br />

Sie wusste es tatsächlich nicht; sie hatte keine Ahnung, ob das Kind lebte o<strong>der</strong> tot war. Im<br />

Wochenbett hatte sie es hergeben müssen und danach nie wie<strong>der</strong> gesehen. Ob die weiße<br />

Geliebte Felsenschlanges das Kind bei <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>arbeiterin untergebracht hatte und was hernach<br />

passierte – Perlendiadem wurde geflissentlich in Unkenntnis gelassen. Wie sollte sie, die Einsame,<br />

Nachforschungen anstellen?<br />

Im starren Gesicht <strong>der</strong> Herrin von Tula zuckte es wie Triumph.<br />

»O meine Tochter, da du es nicht weißt, will ich <strong>den</strong> rufen, <strong>der</strong> es dir sagen kann!«<br />

Sie schlug mit einem kleinen Obsidianstab auf eine silberumrandete Schildkrötenschale. Ein<br />

Diener erschien.<br />

»Der Menschenbeobachter soll kommen«, befahl sie.<br />

Der Spitzel trat ein und verbeugte sich, die Arme über <strong>der</strong> Brust gekreuzt.<br />

»Sag, was du gesehen hast.«<br />

Er habe gesehen, wie Isabel de Ojeda mit dem Säugling auf dem Arm aus dem Tecpan des<br />

Königs von Tacuba trat. Obwohl sie einen weit geschnittenen Schleier trug, hatte er erkennen<br />

können, welche Bürde sie auf dem Arm hielt. Unbemerkt konnte er ihr und dem stummen Sklaven<br />

folgen, <strong>der</strong> sie begleitete. Er beschrieb <strong>den</strong> Weg, das niedrige Häuschen <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>arbeiterin und<br />

ihre bei<strong>den</strong> Töchter.<br />

»Wo ist <strong>der</strong> stumme Sklave?«, fragte die alte Königin. »Bring ihn her.«<br />

»Er ist schon im Land des Nebels, o Königin«, antwortete <strong>der</strong> Spion, »wie du es befohlen<br />

hast.«<br />

Die Herrin von Tula nickte zufrie<strong>den</strong>. »Gut. Du kannst gehen.«<br />

Perlendiadem saß zusammengesunken da, blickte starr auf ihre Sandalen. Plötzlich warf sie


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 385<br />

<strong>den</strong> Kopf <strong>zur</strong>ück.<br />

»O meine Mutter, ich danke dir! Durch dich erfuhr ich, wo sich mein Kind befindet! Nun will<br />

ich es sehen und an meine Brust drücken!«<br />

»Und an deiner Brust erwürgen?«, fragte die Herrin von Tula eisig. »Bist du endlich bereit,<br />

das Kind des Gelbhaarigen zu töten, wie es deine Pflicht ist?«<br />

Perlendiadem war aufgesprungen. »Meine Pflicht ist, das Kind vor euch Mör<strong>der</strong>n zu<br />

schützen!«, flüsterte sie.<br />

»Schütze dich selbst, wenn du kannst! Ich werde dich und dein Kind nicht schützen, du<br />

Ver<strong>der</strong>ben Mexicos!«<br />

Sprachlos starrte Perlendiadem ihre Mutter einen Moment lang an. Dann sagte sie heiser:<br />

»Ich bin nicht das Ver<strong>der</strong>ben Mexicos! Mexico verdirbt sich selber!«<br />

Hinter ihr erklang ein Geräusch, und sie wandte sich um. Huitzilopochtlis Knecht stand in <strong>der</strong><br />

offenen Saaltür. Jetzt schritt er auf die streiten<strong>den</strong> Königinnen zu. Perlendiadem erschrak, fasste<br />

sich aber rasch und küsste wie ihre Mutter dem Priester ehrfürchtig die Hände.<br />

<strong>Das</strong> kann kein Zufall sein, argwöhnte sie. Auf <strong>den</strong> Wegen ihrer Mutter pflegten<br />

Überraschungen zu lauern, doch immer vorbedachte. Der Hohepriester bedurfte keiner<br />

Erklärungen.<br />

»Lasst uns zu unserem mächtigen Gott Huitzilopochtli gehen!«, for<strong>der</strong>te er die Königinnen<br />

auf.<br />

Perlendiadem zuckte zusammen.<br />

»Mein Oheim und Vater«, sagte die Herrin von Tula, »das Lebensblut des heiligen Baumes<br />

fließt in deinen A<strong>der</strong>n! Darum entscheide du unseren Streit! Ich nannte sie Mexicos Ver<strong>der</strong>berin,<br />

sie aber leugnet es und meint, Mexico ver<strong>der</strong>be sich selber.«<br />

»Lasst uns zu unserem mächtigen Gott Huitzilopochtli gehen!«, wie<strong>der</strong>holte <strong>der</strong><br />

Hohepriester. »Die Stimme des Gottes sprach aus dem heiligen Nopalbaum! Kein weißes Wesen<br />

darf hinfort in meiner Stadt geduldet wer<strong>den</strong>: kein weißes Kaninchen, keine weiße Taube, kein<br />

weißer Schmetterling, kein weißer Mensch! Lasst uns noch einmal fragen – vielleicht zeigt<br />

Huitzilopochtli Erbarmen!«<br />

Der Kolibrigott hatte noch nie Erbarmen gezeigt. Perlendiadem stand wie gelähmt und<br />

brachte nicht die Kraft auf, sich <strong>der</strong> Anordnung des höchsten Priesters zu wi<strong>der</strong>setzen.<br />

Draußen bei <strong>den</strong> Sänften warteten die Begleiter des Dieners Huitzilopochtlis: <strong>der</strong> Herr des<br />

schwarzen Hauses, <strong>der</strong> Blutvergießer und <strong>der</strong> Sich-in-Blut-Klei<strong>den</strong>de.<br />

Tlamamas trugen sie zum Hauptportal des Schlangenbergtempels. Unterpriester, in<br />

tiefschwarze Messgewän<strong>der</strong> gehüllt und an <strong>den</strong> Schläfen karminrot geschminkt,<br />

Brennholzschlepper, Kerzenbündelträger, Räucherer, Feuerbohrer und Flurfeger liefen neugierig<br />

zusammen, als die bei<strong>den</strong> Königinnen <strong>den</strong> Tempelbezirk betraten. Trommelschläger und<br />

Trompeter begannen einen ohrenbetäuben<strong>den</strong> Lärm, und Tempelsänger stimmten uralte Kultlie<strong>der</strong><br />

von <strong>der</strong> Geburt des jungen Kriegers Huitzilopochtli an.<br />

Der Hohepriester befahl <strong>den</strong> Zusammengeströmten <strong>zur</strong>ückzubleiben und führte die bei<strong>den</strong><br />

Frauen an <strong>den</strong> zwei Ballspielhäusern des Gottes vorbei durch die Gärten und Schädelstätten zum<br />

Fastenhäuschen und weiter über die Tanzhöfe, an <strong>den</strong> Holzkäfigen <strong>der</strong> gefangenen teules vorbei<br />

und um die Basis <strong>der</strong> großen Stufenpyramide herum, wo sich auf einem kleinen Felsen die<br />

Orakelkapelle befand.<br />

Dort erwartete sie <strong>der</strong> ausgemergelte Weissagende Priester. Nachdem sie eingetreten<br />

waren, legte er seine Gewän<strong>der</strong> ab, strich giftige Pasten auf seinen nackten Oberkörper und setzte<br />

sich auf einen niedrigen Ast des heiligen Kaktusbaumes, sodass ihm das Blut von <strong>den</strong> Wa<strong>den</strong> und<br />

Schenkeln rann.<br />

Oben wiegte sich <strong>der</strong> an eine Goldkette gefesselte Adler unruhig von einem Bein aufs<br />

an<strong>der</strong>e. Die Prophezeiung fiel günstig o<strong>der</strong> ungünstig aus, je nachdem, ob <strong>der</strong> Adler die<br />

dargebotene Opferspeise fraß o<strong>der</strong> <strong>zur</strong>ückwies.<br />

Huitzilopochtlis Knecht rief: »Bringt das Futter des Adlers!«<br />

Da kam die Tochter <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>arbeiterin heran, die Schwester <strong>der</strong> Schwindsüchtigen. Auf<br />

dem Arm trug sie das weiße Kind, dessen Amme sie war.<br />

Perlendiadem erschrak fast zu Tode und schlug sich mit <strong>der</strong> rechten Hand auf <strong>den</strong> offenen<br />

Mund – wie alle Azteken, wenn das Grauen sie packte.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 386<br />

»Ihr dürft mein Kind nicht töten!«, schrie sie auf.<br />

»O edle Königin«, sagte <strong>der</strong> Hohepriester, »du selbst wirst dem Adler dein Kind reichen! Nur<br />

so kannst du <strong>den</strong> Gott versöhnen und die Gefahr von <strong>der</strong> Stadt <strong>der</strong> Paläste abwen<strong>den</strong>!«<br />

Perlendiadem entriss <strong>der</strong> Amme das Kind und drückte es an sich.<br />

»Ich tue es nicht!«, rief sie, halb wahnsinnig vor Schreck.<br />

»O meine Tochter«, sagte die Herrin von Tula, »wähle und überlege wohl, was du tust!<br />

Meinen und Mexicos Segen o<strong>der</strong> meinen und Mexicos Fluch!«<br />

»Ich gebe mein Kind nicht her!«, schrie Perlendiadem.<br />

»Dann soll mein Fluch dich treffen!«, rief die Herrin von Tula.<br />

Eine Schar von Opferpriestern hatte sich um die Kapelle versammelt. Perlendiadem blickte<br />

wie ein gehetztes Tier um sich, sah keinen Ausweg. Da lachte sie umnachtet auf und rief: »Besser<br />

wird mir bei jenen sein als bei euch!«<br />

Mit dem Kind auf <strong>den</strong> Armen eilte sie hinaus. Die Tochter <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>arbeiterin folgte ihr.<br />

Draußen packten die Opferpriester die Frauen und das Kind und zerrten sie auf <strong>den</strong> Blutaltar.<br />

29. Hinrichtungen<br />

Etwa zu dieser Zeit musste <strong>der</strong> Caudillo einen weiteren gefährlichen Anschlag auf seine<br />

Autorität abwehren. Ein Soldat namens Rojas hinterbrachte ihm, dass zahlreiche<br />

Conquistadoren ... planten, ihn zu töten und einen seiner Kommandeure als seinen<br />

Nachfolger einzusetzen.<br />

Hugh Thomas: Die Eroberun Mexikos.<br />

Der Aufruhr im Christenheer hatte die schon bekannten Ursachen. In <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken<br />

waren ihnen alle Feuerwaffen abhan<strong>den</strong> gekommen. Der von Haiti angereiste Händler Felipe<br />

Monjaraz hatte Pulver, Musketen, Geschütze, Harnische und Hellebar<strong>den</strong> angeboten, doch um ihn<br />

bezahlen zu können, sah Cortés sich gezwungen, seinen Soldaten das erbeutete Gold und ihre<br />

Sklavinnen abzunehmen. <strong>Das</strong>s er die Sklavinnen brandmarken ließ, hatte die Männer in Wut<br />

versetzt und auch seine treuen Gefolgsleute verärgert. Antonio de Villafaña war <strong>der</strong> Anführer einer<br />

Verschwörung. Er und seine Spießgesellen hatten einan<strong>der</strong> geschworen, sämtliche Offiziere<br />

umzubringen und <strong>den</strong> Oberrechnungsführer Don Juliano de Al<strong>der</strong>ete, <strong>den</strong> Günstling und<br />

Gesandten des Bischofs von Burgos, nach Cortés' Tod zum Generalkapitän aus<strong>zur</strong>ufen. Doch<br />

Villafaña nahm sich Zeit. Außer dem Steuermann Cár<strong>den</strong>as, Ignacio Morena, Domenico Mejía<br />

Hinojora, Luis Paredes und Flores (dem rothaarigen Sänger) stan<strong>den</strong> bereits nahezu hun<strong>der</strong>t<br />

Namen auf seiner Liste. Er hoffte, noch weitere hun<strong>der</strong>t eintragen zu können. Alle früheren<br />

Aufstände scheiterten, weil sie planlose Zornesausbrüche waren; dieser sollte durch kühle<br />

Berechnung zum Erfolg führen. Bei allen früheren Verschwörungen war nur Absetzung,<br />

schlimmstenfalls Totschlag das Ziel, diesmal sollten Cortés und seine Offiziere endgültig beseitigt<br />

wer<strong>den</strong>. Villafaña wollte keinen Fehlschlag erleben und wartete geduldig <strong>den</strong> richtigen Augenblick<br />

ab.<br />

<strong>Das</strong> war sein Fehler. Er hätte zuschlagen sollen, <strong>den</strong>n in <strong>der</strong> Zeit, die er durch seine<br />

Anwerbungen immer neuer Verschwörer vergeudete, flaute bei vielen Unzufrie<strong>den</strong>en <strong>der</strong> Zorn<br />

gegen Cortés unmerklich wie<strong>der</strong> ab. Der capitán generál war kein Dummkopf; wie schon bei<br />

früheren Unruhen war ihm auch diesmal nicht verborgen geblieben, dass es unter <strong>den</strong> Soldaten<br />

brodelte. Sie bekamen keinen Sold; das Heer ernährte sie und versorgte sie mit Waffen, doch ihr<br />

Lohn bestand – wie damals üblich – in <strong>der</strong> Beute. Und dafür hatte Cortés Verständnis. Er ließ


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 387<br />

verlauten, dass in Zukunft keine erbeuteten Indianerfrauen mehr gestempelt wür<strong>den</strong>. Während des<br />

Zuges nach Iztapalapá und Quauhnahuac, Xochimilco und Tacuba hatten die Soldaten wie<strong>der</strong><br />

gute Beute gemacht; <strong>der</strong> Zorn über <strong>den</strong> Anführer verrauchte, und bei nicht wenigen war die Treue<br />

zu ihren Feldobristen wie<strong>der</strong> hergestellt.<br />

Villafaña wartete auf <strong>den</strong> Tag, an dem alle Offiziere anwesend waren; er setzte die Hoffnung<br />

auf <strong>den</strong> Stapellauf <strong>der</strong> Brigantinen. Aber außer Ordás, <strong>der</strong> irgendwo im Sü<strong>den</strong> nach Isabel de<br />

Ojeda suchte und verschollen war, blieben auch <strong>der</strong> junge Alonso de Ojeda und Andrés de Tapia<br />

abwesend. Erst am Tag darauf trafen <strong>der</strong> eine aus Otumba und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e aus Veracruz ein.<br />

Tapia hatte dort zwei schwere Geschütze für die Brigantinen abgeholt und Pedro Baracoa als<br />

Kommandanten <strong>der</strong> kleinen kastilischen Garnison in Tlaxcala <strong>zur</strong>ückgelassen. Die Festung Villa<br />

segura della frontera, die Baracoa befehligte, hatten sie wegen <strong>der</strong> dort grassieren<strong>den</strong> Malaria<br />

aufgegeben müssen.<br />

Villafaña und seine Mordgesellen wetzten schon ihre Messer, da wurde Cortés beim Essen<br />

mit seinen Offizieren durch einen Verräter gewarnt. Domenico Mejía Hinojora, <strong>der</strong> Enkel <strong>der</strong><br />

Räuberin, kam verstört hereingestürzt, lief auf Cortés zu und warf sich vor ihm auf die Knie. Die<br />

Feldobristen waren aufgesprungen. Sie umringten Cortés und <strong>den</strong> Knien<strong>den</strong>.<br />

»Ihr habt <strong>den</strong> Brief Eures Vaters noch nicht erhalten, Señor Capitán?«, fragte Hinojora mit<br />

ängstlicher Hast.<br />

»Meines Vaters? Ging ein Schiff in Veracruz vor Anker?«<br />

»Ja, Señor Capitán«, sagte Hinojora, ging aber nicht weiter auf die Frage ein.<br />

»Was ist los? Was ist geschehen?«, riefen mehrere Stimmen zugleich.<br />

»Noch nichts, wie ich sehe – gelobt sei <strong>der</strong> Herr! Noch ist es nicht geschehen!«<br />

»Und was sollte geschehen?«, fragte Cortés rasch. »Redet, Mann!«<br />

»Sichert mir Straflosigkeit zu, dann will ich meinen Eid brechen und alles sagen!«<br />

»Diese Herren sind Zeugen: Ihr werdet nicht bestraft! Redet!«<br />

»Es ließ mir keine Ruhe. Ich bin kein Schuft, Señor Capitán! Man hat mich zu dem Eid<br />

verleitet...«<br />

»Zu welchem Eid?«<br />

»Wenn Ihr bei Tische sitzt, soll Euch ein gefälschter Brief Eures Vaters überreicht wer<strong>den</strong>.<br />

Und während Ihr lest, will man Euch erdolchen – und mit Euch alle die Herren Hauptleute hier. Don<br />

Juliano de Al<strong>der</strong>ete soll zum capitán generál ausgerufen wer<strong>den</strong>.«<br />

»Ich? Schurkerei! Ich weiß nichts davon!«, rief Al<strong>der</strong>ete.<br />

Die Obristen stan<strong>den</strong> wie vom Donner gerührt. Eine Revolte?<br />

Al<strong>der</strong>ete ging blass auf Cortés zu: »Ich schwöre Euch, Don Hernándo, ich weiß wirklich<br />

nichts davon!«<br />

Cortés nickte bloß. »Wer ist <strong>der</strong> Anführer, und wie viele Mitverschwörer sind es?«, fragte er<br />

Hinojora.<br />

»Mehr als hun<strong>der</strong>t, Señor Capitán. Viele sind drüben im Hause des Villafaña versammelt. Er<br />

ist <strong>der</strong> Anstifter und Anführer. Er hat eine Liste, auf <strong>der</strong> alle Namen stehen!«<br />

Cortés flüsterte Luis Marín etwas zu. »Meine Herren«, sagte er dann, »alarmiert unauffällig<br />

eure verlässlichsten Männer. Wir wollen das Nest ausheben!«<br />

Die Hauptleute stürmten mit Cortés davon. Auch Al<strong>der</strong>ete wollte <strong>den</strong> Saal verlassen, wurde<br />

aber von Luis Marín mit drei Hellebardieren daran gehin<strong>der</strong>t.<br />

»Don Juliano, ich muss Euch bitten, hier zu verweilen!«<br />

»Warum? Genügt Euch das Wort eines Ehrenmannes nicht?«<br />

»Euer Wort wird nicht bezweifelt, Don Juliano. Doch bis die Verschwörer peinlich befragt<br />

sind, werdet Ihr Euch hier gedul<strong>den</strong> müssen. Die drei Soldaten, die die Saaltüren bewachen,<br />

haben Auftrag, übereifrige Anhänger des jetzigen Generalkapitäns von Euch fern zu halten!«<br />

»Des jetzigen? Wenn Ihr damit sagen wollt, dass ich...«<br />

»Nichts wollte ich damit sagen, Don Juliano! Ich tue meine Pflicht, indem ich Euch vor <strong>den</strong><br />

Rachsüchtigen beschirme!«, antwortete Luis Martín.<br />

Die Feldobristen hatten bewährte Veteranen um sich geschart und waren in das von<br />

Villafaña bewohnte Haus eingedrungen. Sie trafen dort auch <strong>den</strong> Steuermann Cár<strong>den</strong>as, Flores<br />

<strong>den</strong> rothaarigen Sänger, Ignacio Morena, Luis Paredes und ungefähr sechzig Verschwörer. Als<br />

Cortés eintrat, zerknüllte Villafaña ein beschriebenes Papier, stopfte es sich in <strong>den</strong> Mund und


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 388<br />

versuchte es herunterzuwürgen. Er wurde augenblicklich überwältigt; auch seine Freunde ließen<br />

sich schreckerstarrt entwaffnen. Olíd und Pineda hielten Villafaña fest, <strong>der</strong> Reiter Domínguez<br />

hebelte ihm mit einem Dolch <strong>den</strong> Mund auf, und Sandoval griff in <strong>den</strong> Schlund hinein und holte die<br />

Verschwörerliste heraus. Sandoval warf einen flüchtigen Blick darauf, doch Cortés nahm sie ihm<br />

sofort ab. Er las sie nicht, son<strong>der</strong>n verbrannte sie auf einem Kohlenbecken.<br />

»Die Namen auf diesem Papier«, sagte Cortés zu Villafaña, »will ich nicht kennen. Ihr, <strong>der</strong><br />

Verführer, sollt allein die Schuld aller an<strong>der</strong>en tragen.«<br />

»Gut! Ich für alle!«, rief Villafaña leichenblass. »<strong>Das</strong> wird mir helfen, die Folter zu ertragen.<br />

Was das Feuer verschweigt, soll auch mein Mund verschweigen!«<br />

Er wurde dem Henker Osorio übergeben, und <strong>der</strong> wurde bald mit ihm fertig. Unter <strong>der</strong> Folter<br />

nämlich redete Villafaña dann doch und gestand alles. Sie erfuhren, dass nicht nur ein neuer<br />

capitán generál bestimmt war – auch ein neuer Schatzmeister an Stelle von Albornoz. Zehn neue<br />

Feldobristen, die nach <strong>der</strong> Ermordung <strong>der</strong> Kavaliere die Führung <strong>der</strong> Truppen zu übernehmen<br />

hatten, waren auch schon ernannt. Selbst über das Hab und Gut <strong>der</strong> zu Ermor<strong>den</strong><strong>den</strong> hatten die<br />

Verschwörer verfügt, und an wen ihre Helme, Harnische und Pferde fallen sollten. Die Frage, ob<br />

Juliano de Al<strong>der</strong>ete in die Verschwörung verwickelt sei, verneinte Villafaña. Auf die Frage, warum<br />

er auf <strong>den</strong> Einfall kam, einen kriegsunerfahrenen Hofbeamten wie Al<strong>der</strong>ete zum Nachfolger Don<br />

Hernándos zu bestimmen, antwortete Villafaña: Er wisse von Pascual Almagro, dem<br />

Kammerdiener Al<strong>der</strong>etes, dass Don Juliano vom Erzbischof von Burgos ein Patent erhalten habe,<br />

das ihn ermächtige, Cortés in Ketten zu legen, ihn zum Tode zu verurteilen und sich an seine<br />

Stelle zu setzen. Der Kammerdiener habe das Schreiben heimlich gelesen und für sich selber<br />

Vorteile daraus versprochen. Von ihm wisse er auch, dass <strong>der</strong> Erzbischof von Burgos dem<br />

Gobernador von Kuba, Don Diego de Velásquez, zu Dank verpflichtet sei. Don Juliano, <strong>der</strong> nichts<br />

von Kriegsführung verstehe, würde ihm, Villafaña, nicht im Wege sein, und er hoffte, sich dadurch<br />

das Wohlwollen des Gobernadors von Kuba und des Bischofs von Burgos zu sichern.<br />

Cortés fackelte nicht lange. Zu oft schon hat ihn sein Glücksstern vor Meuterern und Mord<br />

bewahrt. Wie oft sollte er noch strapaziert wer<strong>den</strong>, wie oft würde er ihm noch treu bleiben? Der<br />

Generalkapitän mochte es nicht darauf ankommen lassen. Doch er konnte nicht seine halbe<br />

Armee standrechtlich aburteilen lassen, er brauchte je<strong>den</strong> Mann! Die am Anführer zu vollziehende<br />

Strafe musste als Warnung genügen! Er ließ <strong>den</strong> Gerichtsschreiber Guillén de la Loa kommen.<br />

»Meine Herren«, sagte er zu seinen Offizieren, »Ihr seid Zeuge dieser Verschwörung und<br />

habt auch das Geständnis des Rädelsführers mit eigenen Ohren vernommen. Ich ernenne Euch zu<br />

Mitglie<strong>der</strong>n des Kriegsgerichts, das hier und sofort das Urteil zu fällen hat. Señor de la Loa wird<br />

protokollieren. Ich frage: Ist <strong>der</strong> Verhaftete schuldig o<strong>der</strong> nicht schuldig?«<br />

Die Offiziere steckten die Köpfe zusammen und berieten flüsternd. Nach kaum fünf Minuten<br />

trat Francisco Hernández vor. »Schuldig!«, sagte er.<br />

»Wessen wird er angeklagt?«<br />

»Anstiftung <strong>zur</strong> Meuterei!«<br />

»Wie lautet Euer Urteilsspruch?«<br />

»Tot durch Erhängen!«<br />

Zwei Soldaten führten <strong>den</strong> gefesselten Villafaña ans Fenster. Schon war <strong>der</strong> Strick da, und<br />

Olíd legte ihn fachgerecht und mit ausdrucksloser Miene dem Delinquenten um <strong>den</strong> Hals. Villafaña<br />

wehrte sich nicht. Sie hoben ihn aufs Fensterbrett, knüpften <strong>den</strong> Strick an das Fensterkreuz und<br />

stießen ihn hinaus.<br />

�<br />

Cortés war schlecht gelaunt. Der Generalkapitän hatte die Hellebardiere hinausgejagt und sich, so<br />

gut es ging, bei Al<strong>der</strong>ete entschuldigt: Die Gefangensetzung sei ohne seinen Wunsch und Willen<br />

geschehen, log er. Der steife Al<strong>der</strong>ete hatte bitter gelächelt und sich schließlich mit <strong>der</strong><br />

Entschuldigung zufrie<strong>den</strong> gegeben. Nach außen hin waren sie ausgesöhnt. Es blieb ungewiss, ob<br />

Al<strong>der</strong>ete <strong>den</strong> capitán generál durchschaut hatte. Zu seiner Genugtuung hatte Cortés <strong>der</strong> Form<br />

halber Luis Marín noch hart angefahren und mit vierundzwanzigstündigem Arrest bestraft (<strong>den</strong><br />

Marín aber nicht antreten musste).<br />

Noch am gleichen Abend jagte Al<strong>der</strong>ete seinen Kammerdiener Almagro zum Teufel; er


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 389<br />

musste jetzt als Fußsoldat Dienst tun. Eine Deputation seiner treuesten Anhänger überbrachte<br />

Cortés die Glückwünsche des Heeres: Man hatte in einer Soldatenversammlung <strong>den</strong> Beschluss<br />

gefasst, ihm eine Leibwache zu stellen; nun wurde dem caudillo <strong>der</strong> Wunsch vorgetragen, <strong>den</strong><br />

Hauptmann dieser Garde zu ernennen. Bewegt dankte <strong>der</strong> Generalkapitän, doch er benötige keine<br />

persönliche Wache. Bisher sei er ohne Leibwache ausgekommen; Gottes Hand und die<br />

Anhänglichkeit seiner alten Kamera<strong>den</strong> seien Schutz genug.<br />

Später gab Alvarado <strong>den</strong> Kavalieren ein Bankett, um ihre Errettung aus Todesgefahr zu<br />

feiern. Al<strong>der</strong>ete war nicht eingela<strong>den</strong>, deshalb lehnte auch Cortés aus Rücksicht auf ihn die<br />

Einladung ab. Er ging mit Marina im Garten des Schneckenhaus-Palastes auf und ab.<br />

»Warum seid ihr <strong>der</strong> Einladung Alvarados nicht gefolgt, Hernándo?«, fragte sie.<br />

»Es ist besser, wenn ich nicht höre, was meine Herren Obristen beim Wein<br />

zusammenphantasieren. Vielleicht wird Hochverrat geschmiedet – die Eisen sind ja heiß heute.<br />

Mein Schweigeverbot wird von allen übertreten wer<strong>den</strong>. So hatte ich es auch beabsichtigt! Die<br />

Soldaten und Offiziere sollen wissen, dass Al<strong>der</strong>ete einen Haftbefehl mit Todesurteil gegen mich in<br />

<strong>der</strong> Tasche trägt. Und Al<strong>der</strong>ete soll wissen, dass ich es weiß. In Zukunft wer<strong>den</strong> wir ein lustiges<br />

Versteckspiel haben und beide so tun, als ahnten wir nichts. Was auf dem Bankett Alvarados<br />

vorgeht, ist klar. Obgleich niemand mit einem vorsätzlichen Plan dorthin gegangen ist, sind<br />

gewisse Gedanken zu gegebener Zeit unausweichlich und schießen wie Pilze aus feuchtem<br />

Waldbo<strong>den</strong>. Der Gedanke an Hochverrat liegt in <strong>der</strong> Luft!«<br />

»Was redet Ihr da, Don Hernándo?«<br />

»Auf Hochverrat steht die Todesstrafe. Ich habe Villafaña deswegen hinrichten lassen. Ich<br />

muss <strong>der</strong> Ungeduld meiner Offiziere eine undurchschaubare Geduld entgegensetzen. Sie wird<br />

meine Offiziere zwingen, zwischen Al<strong>der</strong>ete und mir zu wählen. Der Vertreter <strong>der</strong> Kaisermacht<br />

steckt mit Meuchelmör<strong>der</strong>n unter einer Decke – das hat sich heute erwiesen. Meine Offiziere<br />

wer<strong>den</strong> ähnlichen Überraschungen zuvorkommen wollen.«<br />

»Auch Olíd?«, fragte Marina.<br />

»Ja, auch Olíd«, sagte Cortés. »Von mir, nicht vom Kaiser, abzufallen, reizt ihn. Aber er ist<br />

noch nicht gerüstet. Für seine Pläne braucht er Geld. Olíd wird mir erst nach dem Fall<br />

Tenochtitláns gefährlich wer<strong>den</strong>, dann wird er seinen Trumpf ausspielen: <strong>den</strong> Besitz <strong>der</strong> Königin<br />

Maisblume. Sie ist die Tochter Moctezumas und Witwe des Überwin<strong>der</strong>s!«<br />

»Wenn sie nicht vorher an Traurigkeit stirbt«, bemerkte Marina.<br />

»Es wäre besser, sie könnte entfliehen«, antwortete Cortés. »Ich konnte sie Olíd in Tlaxcala<br />

nicht gewaltsam abnehmen – und hier wird es erst recht nicht möglich sein.«<br />

»Vielleicht findet sich ein Weg, Don Hernándo.« Fraile Aguilár könnte hier behilflich sein,<br />

überlegte sie. Maisblume wird streng bewacht, Aguilár aber hat Zutritt zu ihr.<br />

Es war fast Mitternacht, als sie aus dem Garten in <strong>den</strong> Palast <strong>zur</strong>ückkehrten. Cortés wollte<br />

sich <strong>zur</strong> Ruhe begeben, als ihm sein Kämmerer Rodrigo Rangel meldete, sämtliche Feldobristen<br />

seien aus Alvarados Haus herüber gekommen, um ihm eine wichtige Eröffnung zu machen. Trotz<br />

<strong>der</strong> späten Stunde ließ Cortés sie in <strong>den</strong> Empfangssaal bitten.<br />

Cortés war <strong>der</strong> einzige Nüchterne unter lauter Berauschten. Sie waren trunken von Wein und<br />

Begeisterung, und ihre schweißnassen Gesichter leuchteten rötlich. Sie wollten ihm eine Krone<br />

anbieten, wollten ihn zum Kaiser <strong>der</strong> Neuen Welt ausrufen und ihm <strong>den</strong> Treueid leisten. Gleich<br />

jetzt!<br />

Der capitán generál lehnte entrüstet ab. Der Kaiser <strong>der</strong> neuen Welt sei Don Carlos de<br />

Austria. Dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, habe schon Jesus gelehrt. <strong>Das</strong> wolle auch er<br />

befolgen. Er sei ein treuer Diener <strong>der</strong> Kirche und <strong>der</strong> Krone.<br />

Vergebens bestürmten ihn die Offiziere, doch je mehr sie drängten, umso schroffer wies er<br />

sie ab.<br />

»Überschlaft es, Don Hernándo!«, rief Alvarado schließlich. »Zum ersten Mal re<strong>den</strong> wir heute<br />

davon, aber nicht zum letzten Mal! Verschiebt die Entscheidung, bis die Zeit sie Euch abnimmt!«<br />

Erregt stotterte Sandoval: »Verhaftet we-wenigstens diesen A-Al<strong>der</strong>ete! Ihn freizulassen,<br />

nachdem Lu-Luis Marín ihn schon festgesetzt hatte, w-war nicht sehr klug!«<br />

»<strong>Das</strong> ganze Heer ist empört darüber!«, rief Olíd.<br />

Cortés blieb unnachgiebig. »Ich hoffe, dass meine Offiziere gescheiter sind als das Heer!<br />

Al<strong>der</strong>ete festzunehmen, als <strong>der</strong> Verrat Villafañas bekannt wurde, war eine Sicherheitsmaßnahme,


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 390<br />

politisch aber unklug!«<br />

»Nein, Don Hernándo!«, rief Sandoval, »A-Al<strong>der</strong>ete frei umhergehen zu lassen, ist u-unklug!<br />

Nehmt ihn gefangen, macht ihn unschädlich!«<br />

»Ich <strong>den</strong>ke nicht daran. Durch Freundlichkeit werde ich ihn unschädlich machen. Er bat<br />

mich, bei <strong>den</strong> kommen<strong>den</strong> Kämpfen eine Abteilung führen zu dürfen, und ich habe ihm die<br />

Führung einer Hun<strong>der</strong>tschaft versprochen.«<br />

Die Feldobristen blickten sich verdutzt an. Sandoval stotterte:<br />

»Ihr ver-verhöhnt uns, Don Hernándo! Ich ka-kann das nicht glauben! Es k-k-könnte Euer<br />

und vielleicht unser aller U-Untergang sein! So verrückt könnt Ihr nicht handeln!«<br />

»Mein Sohn Sandoval, wenn ich dich nicht gerne hätte, würde ich dir verbieten,<br />

weiter<strong>zur</strong>e<strong>den</strong>!«<br />

»Und ich würde mich an Eu-Euer Verbot nicht k-k-kehren, weil es Euer L-Leben zu retten<br />

gilt, Don Hernándo! T-tötet ihn, damit er Euch nicht tötet!«<br />

»Mein lieber Sandoval, noch nie stand bis heute ein Missklang zwischen mir und dir, und nie<br />

warst du mir so teuer wie heute! Lass es also genug sein an Tadel und Lob!«<br />

»Nie erschient Ihr mir rätselhafter, Don Hernándo«, murmelte Sandoval.<br />

»Geht zu Bett, Señores«, beendete Cortés die Diskussion, »morgen müssen wir früh<br />

aufstehen!«<br />

�<br />

Noch vor Sonnenaufgang tagte das Kriegsgericht gegen Goldmaske. Don Vicente-Goldmaske<br />

wurde zum Tod durch <strong>den</strong> Strang verurteilt; die Hinrichtung war für <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Morgen<br />

festgelegt. Als <strong>der</strong> Henker dem tapferen Fürsten auf dem Schafott die Schlinge um <strong>den</strong> Hals legte,<br />

sah Goldmaske das schöne Gesicht Weißer Sommervogels vor sich. Nun finde ich mein Ende<br />

ohne Erfüllung, ging es ihm durch <strong>den</strong> Kopf. Tränen rollten über die von Narben zerfurchten<br />

Wangen. <strong>Das</strong> Antlitz Weißer Sommervogels kam näher und näher, berückend wie eh und je. Sie<br />

schien zu schlafen. Leise beugte er sich über sie und küsste <strong>den</strong> grünlich bemalten Mund. Weißer<br />

Sommervogel schlug die langbewimperten Augen auf. »O mein Herr, du weinst? Warum weinst<br />

du?« Goldmaske schluckte leer, gab keine Antwort. Er fürchtete, dem Zwitter in die Augen zu<br />

blicken, weil er wusste, diese Augen wür<strong>den</strong> ihm das Herz erweichen und seinen Willen lähmen.<br />

»Was warst du, bevor du geboren wurdest – ein Knabe o<strong>der</strong> ein Mädchen?«, fragte er. – »O mein<br />

Herr, ich war auch damals beides!«, kicherte Weißer Sommervogel, »ich bin einmalig auf dieser<br />

Blumenwelt!« – »Ja, du bist einmalig«, sagte Goldmaske, »und du gehörst mir.« – »O mein Herr,<br />

warum bist du so seltsam? Natürlich gehöre ich dir.« – »Du bist auch mein geblieben!«, flüsterte<br />

Goldmaske. Weißer Sommervogel lockte mit betören<strong>der</strong> Glockenstimme: »Komm zu mir, o Herr,<br />

ich ging dir voraus ins Land <strong>der</strong> Kolibris, seither erwarte ich dich...« – »Ja, ich komme zu dir, die du<br />

mir vorausgegangen bist!«<br />

Als die Sonne über dem großen Marktplatz von Tezcoco heraufstieg, wiegte sich die Leiche<br />

des Königs Goldmaske am hohen Galgen im Morgenwind. Der Notar und Gerichtsschreiber<br />

Guillén de la Loa protokollierte gewissenhaft: »Der Kazike <strong>der</strong> Tlaxcalteken starb ruhig, gefasst<br />

und mit fast heiterem Gesichtsausdruck. In seinen letzten Augenblicken schien er noch etwas zu<br />

sagen, jedoch verstand es keiner <strong>der</strong> anwesen<strong>den</strong> Zeugen, da er zu leise sprach.«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 391<br />

30. Maisblume<br />

»Da <strong>der</strong> Wind sehr günstig war, rammten wir zahllose Kanus und töteten o<strong>der</strong> ertränkten<br />

sehr viele Feinde, was ein überaus spektakulärer Anblick war. Und wir verfolgten sie über<br />

drei Leguas.«<br />

(Hernán Cortés, zitiert nach H. Thomas: Die Eroberung Mexikos)<br />

Quetzalcoatl, auch <strong>der</strong> Gott des Windes, blähte die Segel <strong>der</strong> dreizehn hohen Wasserhäuser und<br />

führte sie in furchteinflößen<strong>der</strong> Schlachtreihe an Tenochtitlán heran, sodass sie die Inselstadt<br />

umzingeln und von <strong>der</strong> Außenwelt abschließen konnten. Tlaloc, Mexicos mächtiger Wassergott,<br />

musste machtlos zusehen; seine grüne Edelsteinschale war zersplittert...<br />

Im Huei-Tecpan herrschte freudige Erregung. Kundschafter hatten mitgeteilt, das Heer <strong>der</strong><br />

Christen in Tezcoco sei von Zwietracht gespalten. Ein Teil <strong>der</strong> Tlatepoca war nach Tlaxcala<br />

<strong>zur</strong>ückgekehrt, und die Gelbhaarigen seien untereinan<strong>der</strong> in Streit entbrannt. Hauserleuchter<br />

mussten Wachteln und grüne Papageien bringen. Erleichtert und dankbaren Herzens rissen <strong>der</strong><br />

Schlagende Falke, <strong>der</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzende und die an<strong>der</strong>en Edlen <strong>den</strong> Vögeln die<br />

Köpfe ab und begossen das Bildnis <strong>der</strong> Zwietrachtsgöttin mit Blut. Und dann berieten sie, wie sie<br />

die großen Wasserhäuser in eine Falle locken könnten.<br />

�<br />

Galt die Hinrichtung des Tlaxcaltekenkönigs als Wagnis, stellten die Folgen sich als nicht so<br />

verhängnisvoll heraus, wie befürchtet wor<strong>den</strong> war. Dreitausend Tlaxcalteken kehrten zwar grollend<br />

in ihre Berge <strong>zur</strong>ück – man ließ sie ziehen, <strong>den</strong>n man konnte sie entbehren –, aber fast gleichzeitig<br />

waren dreißigtausend gut bewaffnete Cholulteken und zwanzigtausend Schildträger aus<br />

Huexotzinco eingetroffen. Die Zahl <strong>der</strong> Hilfstruppen vergrößerte sich täglich.<br />

Der jüngste <strong>der</strong> Hauptleute, <strong>der</strong> kaum zwanzigjährige Alonso de Ojeda, wurde von Cortés<br />

zum Anführer <strong>der</strong> indianischen Bundesgenossen ernannt. Für diese verantwortungsvolle Stellung<br />

war Ojeda als Berater und Freund <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s geeignet; er sprach auch besser<br />

als alle an<strong>der</strong>en Offiziere das Mexicanische. Cortés wollte ihn für die Umsicht und Tapferkeit<br />

belohnen, mit <strong>der</strong> er jüngst <strong>den</strong> schwierigen Auftrag ausgeführt hatte, zwei riesige (aus einem <strong>der</strong><br />

Garay-Schiffe stammende) Kartaunen von <strong>der</strong> Meeresküste über die Kordilleren bis nach Tezcoco<br />

zu schaffen.<br />

Noch einmal bekam die spanische Macht unerwartete Verstärkung. In Veracruz war<br />

tatsächlich wie<strong>der</strong> ein Schiff mit Waffen, Pulver und Vorräten eingetroffen. Hinojora hatte in diesem<br />

Punkt die Wahrheit gesagt. Zwar gab es keinen Brief an Cortés von seinem Vater, aber außer <strong>den</strong><br />

genannten Dingen waren einige abenteuerlustige Hidalgos mit ihren Pfer<strong>den</strong> an Bord, die sich <strong>der</strong><br />

Expedition anschließen wollten. Außerdem brachte das Schiff die Nachricht, dass Fonseca bei<br />

Hofe in Ungnade gefallen sei und <strong>der</strong> Kaiser, <strong>der</strong> endlich die Briefe gelesen und das märchenhafte<br />

Gold Moctezumas begutachtet hatte, seine Gunst von Diego de Velásquez auf Cortés übertragen<br />

hatte.<br />

Cortés' Ruhm begann sich auszubreiten. Sein Stern ging auf. Auch ein Franziskaner war an<br />

Bord. Er brachte eine päpstliche Bulle, die <strong>den</strong> Soldaten (nach Beichte, Kommunion und gegen ein<br />

paar Schmuckstücke o<strong>der</strong> Goldplättchen) für jede während des Feldzugs begangene Sünde,<br />

gleich welcher Art, Absolution erteilte.<br />

Mit <strong>den</strong> Neuankömmlingen verfügte Cortés wie<strong>der</strong> über ein ansehnliches Heer mit drei<br />

schweren Kanonen, zwölf leichten Feldgeschützen und eine halbe Tonne Schießpulver. Überdies<br />

waren die 13 Brigantinen fertig. Martín López und seine Gehilfen hatten alle Schiffe geteert,


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 392<br />

kalfatert, jede mit zwei Masten, Ankern, Bussolen, Takelwerk und mächtigen weißen, arabischen<br />

Dreieckssegeln versehen, und ihre Rümpfe zum Schluss schwarz angestrichen. Sie glichen<br />

majestätischen Schwänen. Martín López konnte sich nicht verkneifen, zu Cortés zu sagen:<br />

»<strong>Das</strong> sind die schwarz-weißen Göttinnen, die die blutrünstigen Götter Mexicos zu Fall<br />

bringen wer<strong>den</strong>!«<br />

Die Schiffe wur<strong>den</strong> am Sonntag, dem 28. April 1521, nach einer Messe, mit flattern<strong>den</strong><br />

Wimpeln vom Stapel gelassen. Der Generalkapitän nahm <strong>den</strong> Gedanken des Schiffsbaumeisters<br />

auf und sagte in seiner Rede, die er während <strong>der</strong> Musterung seiner Truppen hielt:<br />

»Die dreizehn herrlichen Segler symbolisieren jene vorhergesagten weißen Sonnensöhne,<br />

vor <strong>den</strong>en Cuauhtémoc ebenso zittern wird, wie Moctezuma einst vor unseren stahlbekleideten<br />

dreizehn Reitern gezittert hat. Dreizehn wird für Tenochtitlán <strong>zur</strong> Unglückszahl wer<strong>den</strong>...«<br />

Am nächsten Tag sandte er Boten in alle Provinzen von Tlaxcala, Cholula und Huexotzinco,<br />

die die Krieger aufriefen, sich innerhalb von zehn Tagen zum Angriff auf Mexico einzufin<strong>den</strong>.<br />

Schon nach einer knappen Woche zogen 50 000 gut ausgerüstete Tlatepoca, treu und voller<br />

Kampfeslust, in Tezcoco ein.<br />

Auf einem künstlich geschaffenen<br />

Kanal, <strong>der</strong> zum See führte, wur<strong>den</strong> die<br />

Brigantinen zusammengestellt.<br />

Spanische Offiziere und ein<br />

indianischer Häuptling beaufsichtigen<br />

die Arbeiten<br />

(Illustration aus: Diego Durán, Historia de<br />

las Indias de Nueva España y islas de<br />

Tierra Firme)<br />

Am Pfingstsonntag hatte Cortés mehr als 120 000 indianische Krieger zusammengezogen.<br />

Zwei Tage darauf ließ er seine Truppen antreten und gab die Schlachtbefehle aus. Sie sollten in<br />

drei Abteilungen vorgehen, die unter dem Kommando von Alvarado, Olíd und Sandoval stehen<br />

wür<strong>den</strong>. Alvarado sollte um die Nordspitze des Sees marschieren und Tacuba besetzen; seine<br />

Streitmacht bestand aus 33 Reitern, vier Musketieren, 13 Armbrustschützen, 150 Hellebardieren<br />

und außer 30 000 Tlaxcalteken auch noch 10 000 Krieger aus Chalco. Er führte mehrere<br />

Geschütze mit sich. Olíd hatte <strong>den</strong> Befehl, weiter südwärts bis <strong>zur</strong> Stadt Coyoacán vorzudringen,<br />

von wo aus er <strong>den</strong> Damm von Coyoacán überwachen könnte. Er verfügte über 33 Reiter, fünf<br />

Musketiere, 13 Arkebusiere, 40 000 Tlatepoca, 160 Hellebardiere und drei Kartaunen. Sandovals<br />

Aufgabe war es, im Sü<strong>den</strong> bei Iztapalapá zuzuschlagen, die Stadt zu zerstören und über <strong>den</strong><br />

Damm vorzudringen, auf dem sie das erste Mal nach Mexico einmarschiert waren. Sandoval<br />

befehligte wie Alvarado und Olíd 33 Berittene sowie vier Musketiere, 13 Armbrustschützen, 150<br />

Hellebardiere und 40 000 Indianer aus Huexotzinco und Cholula.<br />

Cortés selber übernahm das Kommando <strong>der</strong> Schiffe, auf <strong>den</strong>en je 20 Spanier Dienst taten:<br />

ein Kapitän, fünf Bogenschützen, zwei Musketiere und jeweils zwölf Ru<strong>der</strong>er; insgesamt 260<br />

Mann. Die Kapitäne waren: Rodrigo Morejon de Lobera; Cristóbal Flores; Martín Lôpez (<strong>der</strong><br />

Erbauer <strong>der</strong> Brigantinen); Juan Xaramillo; Don Juan García Holguín; Francisco Verdugo; Jerónimo<br />

Ruiz de la Mota; Juan de Portillo; Juan Rodríguez de Terrazas; Pedro Barba (<strong>der</strong> Hauptmann <strong>der</strong><br />

Bogenschützen, <strong>der</strong> Cortés einst <strong>den</strong> Haftbefehl des Diego de Velásquez gegeben hatte); Antonio<br />

de Carajaval, Pedro de Briones und Martín Gutiérrez. Cortés war marschbereit! Doch noch<br />

mussten die Schiffe im Hafen von Tezcoco warten, bis die drei Heere ihre Bestimmungsorte<br />

Tacuba, Coyoacán und Iztapalapá erreicht hatten. Dann würde er mit <strong>den</strong> Brigantinen gegen


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 393<br />

Tenochtitlán vorstoßen und versuchen, innerhalb o<strong>der</strong> dicht vor <strong>den</strong> Mauern <strong>der</strong> Wasserstadt zu<br />

lan<strong>den</strong> und Brückenköpfe zu bil<strong>den</strong>. Inzwischen müssten sich die drei Feldherren <strong>der</strong> drei<br />

Dammwege bemächtigen, die die Inselstadt mit dem Festland verban<strong>den</strong>.<br />

Als Erster verließ Ojeda mit <strong>den</strong> indianischen Truppen Tezcoco. Einen Tag später brach<br />

Sandoval auf, um sich über Chalco Iztapalapá zu nähern. Dann zogen gleichzeitig Alvarado und<br />

Olíd nach Nor<strong>den</strong> los. Olíd, <strong>der</strong> während <strong>der</strong> bei<strong>den</strong> großen Erkundungszüge Maisblume in<br />

Tezcoco <strong>zur</strong>ückgelassen hatte, führte die Königin diesmal mit sich in seinem Tross. Sie war ihm in<br />

Tezcoco nicht sicher genug; auch sollte ja für die Zeit <strong>der</strong> Belagerung die Stadt Coyoacán sein<br />

Standquartier sein.<br />

Alvarado und Olíd marschierten am Nordufer <strong>der</strong> Lagune entlang und fan<strong>den</strong> bis Tacuba<br />

keinen Wi<strong>der</strong>stand. Auch die Tore und Mauern Tacubas waren unbewacht. Die Stadt war<br />

verlassen, und sie konnten kampflos einrücken. Nur Hunde und Vögel bevölkerten die Gassen.<br />

Die bei<strong>den</strong> Heere übernachteten und zogen früh am nächsten Morgen nach Chapultepec<br />

weiter. Hier begann <strong>der</strong> große Aquädukt, <strong>der</strong> Tenochtitlán mit Süßwasser versorgte. Alvarado und<br />

Olíd hatten von Cortés auch <strong>den</strong> Auftrag, die Wasserversorgung Mexicos wenn möglich zu<br />

unterbrechen. Sie stießen bei Chapultepec auf ein starkes mexicanisches Heer und mussten einen<br />

hartnäckigen, viele Stun<strong>den</strong> währen<strong>den</strong> Wi<strong>der</strong>stand nie<strong>der</strong>kämpfen. Ihr Sieg wurde teuer erkauft:<br />

Die Mexica schleppten vier Kastilier und zweitausend Tlatepoca als Opfersklaven fort, bevor es<br />

<strong>den</strong> Spaniern glückte, <strong>den</strong> Aquädukt in die Luft zu sprengen.<br />

Auf dem Rückweg nach Tacuba gerieten Olíd und Alvarado wie<strong>der</strong> in Streit, weil beide sich<br />

das Hauptverdienst zuschrieben. Es kam zu erregten Auseinan<strong>der</strong>setzungen. Der alte, seit dem<br />

Totschlag an Vendobal und <strong>der</strong> Ermordung Pedro Gallejos nie ganz erloschene Groll Alvarados<br />

gegen Olíd flammte so heftig auf, dass Andrés de Tapia und Luis Marín nur mit Mühe verhin<strong>der</strong>n<br />

konnten, dass die bei<strong>den</strong> mit gezogenen Degen aufeinan<strong>der</strong> losgingen. Doch Pedro de Alvarado<br />

gab keine Ruhe. Cortés' Stellvertreter hatte in dieser wichtigen Phase des Krieges nichts an<strong>der</strong>es<br />

im Kopf als seine vermeintliche Ehre; sie schien ihm wichtiger als die Sicherung <strong>der</strong> strategisch<br />

wichtigen Dammstraße. Er schickte zwei Sekundanten an Olíd und for<strong>der</strong>te ihn für <strong>den</strong> Abend um<br />

neun Uhr zum Duell.<br />

Zur festgesetzten Stunde wurde das Duell <strong>der</strong> bei<strong>den</strong> Befehlshaber bei Fackelschein und im<br />

Beisein aller Offiziere und Fähnriche sowie vieler Soldaten ausgefochten. Beim dritten Waffengang<br />

erhielt Olíd einen Degenstich in die Schulter. Der Blutverlust war so groß, dass er die Besinnung<br />

verlor und in sein Quartier getragen wer<strong>den</strong> musste.<br />

Bru<strong>der</strong> Aguilár nutzte das kopflose Durcheinan<strong>der</strong>. Während die Ärzte Olíd einen Verband<br />

anlegten, durchsuchte er die Säle und Kammern, fand Maisblume und sagte auf Nahuatl:<br />

»O edle Königin, die Zeit ist gekommen. Mein Boot liegt am Ufer bereit. Niemand wird uns in<br />

<strong>den</strong> Weg treten. Ich habe das rotgelbe Hündchen, das Agavepapier und die Grabbeilagen für die<br />

Bestattung Moctezumas in meinem Boot. Komm, folge mir!«<br />

Sie ließ sich von ihm an das Seeufer führen. In <strong>der</strong> mondlosen Nacht spiegelten sich nur die<br />

Sterne im reglos schwarzen See. Eintönig gluckste das Wasser an <strong>der</strong> Bordwand des Kanus, das<br />

Aguilár ru<strong>der</strong>te. Bisweilen schreckten Ibisse und Reiher auf und hoben mit kräftigen<br />

Flügelschlägen in die Dunkelheit ab; lautlos flatterten Fle<strong>der</strong>mäuse und Vampire umher.<br />

In die Stille hinein begann Maisblume zu sprechen. Sie erzählte, was <strong>der</strong> Diener<br />

Huitzilopochtlis beim Leichengericht gesagt hatte: »Bis seine Schuld getilgt ist, wird <strong>der</strong> Tote<br />

unbestattet bleiben, es sei <strong>den</strong>n, dass die Götter das Blut seiner Wun<strong>den</strong> grün färben und in<br />

Smaragd verwandeln. Wer <strong>den</strong> Toten zu bestatten versucht, stirbt auf <strong>der</strong> Opferschale des<br />

Schlangenberges!«<br />

»Fürchtest du <strong>den</strong> Tod nicht?«, fragte Aguilár.<br />

Sie lachte bitter.<br />

»Vier Männern habe ich angehört: dem Von-Göttern-Beschirmten, dem Überwin<strong>der</strong>, Gallejo<br />

und Olíd. Ich bin ein zerbrochener Edelstein – eine zerknitterte Quetzalfe<strong>der</strong>. Wenn ich meines<br />

Vaters Schatten <strong>zur</strong> Ruhe verhalf, soll <strong>der</strong> Totengott Mictlantecutli im Haus unter <strong>der</strong> Erde mein<br />

fünfter Gatte wer<strong>den</strong>!«<br />

An <strong>der</strong> Landungsstelle nahe <strong>der</strong> Wohnung <strong>der</strong> Kupfergrünen stiegen Aguilár und Maisblume<br />

an Land und schlichen durch die stockfinsteren Gassen dem Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse zu. Der Frater<br />

hatte das Boot an einem <strong>der</strong> blau und schwarz gestreiften Holzpfosten vertäut. Er trug das


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 394<br />

Hündchen, Maisblume trug das Agavepapier mit <strong>den</strong> Grabbeilagen. Dicht am Eingang <strong>zur</strong><br />

Leichenstätte begann das Hündchen zu knurren.<br />

»Es muss ein Mensch in <strong>der</strong> Nähe sein«, flüsterte Aguilár <strong>der</strong> Königin ins Ohr.<br />

»Vergewissern wir uns, wer es ist, damit man uns nicht überrascht!«<br />

Sie suchten die Mauer ab und entdeckten in einer <strong>der</strong> hintersten Ecken eine kauernde<br />

Frauengestalt.<br />

»Wer bist du?«, fragte Maisblume.<br />

»Eine Blinde!«, entgegnete die Gestalt.<br />

»Was tust du hier bei Nacht?«<br />

»Ich horche.«<br />

»Worauf?«<br />

»Auf Mör<strong>der</strong>stimmen. Doch die euren sind gütig.«<br />

Aguilár nahm Maisblume beiseite und sagte leise:<br />

»Sie scheint eine Bettlerin zu sein, <strong>der</strong>en Verstand verwirrt ist. Die brauchen wir nicht zu<br />

fürchten.«<br />

Sie kümmerten sich nicht weiter um Blutfeuerstein.<br />

Maisblume und Aguilár schritten durch das Portal, und Maisblume, die ihr offenes Haar wie<br />

einen schwarzen Schleier vor ihr Antlitz hatte fallen lassen, führte <strong>den</strong> Frater zu <strong>der</strong> Stelle, wo<br />

beim Totengericht Moctezumas nackter Körper neben seinem Mumienbündel unbestattet <strong>den</strong><br />

Vögeln <strong>zur</strong> Beute hingeworfen wor<strong>den</strong> war. Trotz <strong>der</strong> Dunkelheit fand sie ihren toten Vater. <strong>Das</strong><br />

Mumienbündel war unversehrt; doch von Moctezumas Leichnam hatten die Aasgeier nur noch die<br />

langen strähnigen Haare und das Gerippe übrig gelassen.<br />

Maisblume legte einen Smaragd zwischen die Zähne des Totenschädels.<br />

»O großer Moctezuma«, sprach sie, »dieser Smaragd ist dein Herz. Ich gebe dir dein Herz<br />

<strong>zur</strong>ück!«<br />

Dann kämmte sie des Toten Haare und schmückte sie mit schwarzen Purpurkranichn. Unter<br />

<strong>den</strong> Grabbeilagen war ein Topf; Maisblume hatte ihn am See mit Wasser gefüllt. Nun begoss sie<br />

die Knochen, wusch sie und träufelte auch einige Tropfen auf die blecken<strong>den</strong> Zähne. »Dies gebe<br />

ich dir, Vater, damit du auf deinem Weg nicht Durst lei<strong>den</strong> musst!«<br />

Sie sammelte alle Knochen zusammen, tat sie in das Mumienbündel, legte Agavepapier<br />

darüber und sagte: »Dies macht es dir möglich, Vater, die zusammenstoßen<strong>den</strong> Berge zu<br />

durchschreiten!«<br />

Ein zweites Papier legte sie mit <strong>den</strong> Worten darüber: »Hiermit wirst du Nextepelma<br />

besänftigen, <strong>den</strong> Aschenstreuer!«<br />

Ein drittes Papier hinbreitend, sagte sie: »Dies hilft dir auf <strong>der</strong> Straße, wo die Große<br />

Schlange dich erwartet!«<br />

Noch ein Papier legte sie hin und sagte: »Wenn du dies hast, lässt die grüne Eidechse dich<br />

vorbei.«<br />

Zwei weitere Papiere gab sie dem Toten: »Dieses führt dich durch die acht Wüsten! Und<br />

jenes führt dich über die acht Hügel!«<br />

Beim siebten Papier sagte Maisblume: »Der Tzitzimitl mit dem Hasenfuß fürchtet dieses!«<br />

Und beim letzten Papier schließlich sagte sie: »Dieses rettet dich vor dem Messerwind!«<br />

Darauf ließ sie sich von Aguilár das Hündchen reichen, auf dessen Rücken <strong>der</strong> Tote über<br />

<strong>den</strong> Höllenfluss getragen wurde. Doch bevor sie Zeit fand, dem Tier <strong>den</strong> Hals zu durchbohren und<br />

mit seinem Blut das Mumienbündel zu färben, wur<strong>den</strong> sie aufgeschreckt. Eilige Schritte nahten.<br />

Eine weibliche Stimme rief aus <strong>der</strong> Finsternis:<br />

»Ihr bestattet Moctezuma! Unterfangt euch nicht zu tun, was Mexico verbietet! Geht, o<strong>der</strong> ich<br />

werde die Toten und die Leben<strong>den</strong> wachschreien!«<br />

»<strong>Das</strong> ist die Blinde«, flüsterte Aguilár.<br />

Die Zeremonie war gestört und musste von neuem begonnen wer<strong>den</strong>, sollte sie von <strong>den</strong><br />

Bewohnern <strong>der</strong> Unterwelt Geltung haben. Unwillig gab Maisblume dem Frater <strong>den</strong> leben<strong>den</strong> Hund<br />

<strong>zur</strong>ück. <strong>Das</strong> Obsidianmesser behielt sie in <strong>der</strong> Hand. Als oben die Gestalt Blutfeuersteins aus <strong>der</strong><br />

Dunkelheit hervorkam, wollte Maisblume sich auf sie stürzen. Doch Aguilár riss sie <strong>zur</strong>ück und<br />

umklammerte ihren Arm.<br />

»Entweihe dich nicht, Königin! Ich half dir, weil du ein Gebot deines Glaubens erfüllen


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 395<br />

wolltest. Ich werde dir in einer <strong>der</strong> kommen<strong>den</strong> Nächte noch einmal helfen, aber du darfst die<br />

fromme Tat nicht mit einer Entweihung vollen<strong>den</strong>. Jetzt können wir nichts tun!«<br />

Sie eilten <strong>zur</strong> Landungsstelle <strong>zur</strong>ück.<br />

�<br />

Der Schlagende Falke rang im Haus <strong>der</strong> Trauer mit seinem Gewissen. Warum hatten die Götter es<br />

nicht verhin<strong>der</strong>t, dass <strong>der</strong> Aquädukt zerstört wurde? Was hatten die Azteken Böses getan, dass sie<br />

preisgegeben wur<strong>den</strong>, noch ehe <strong>der</strong> Kampf begann? Die Stadt im Salzsee war ohne <strong>den</strong> Zufluss<br />

süßen Wassers verloren! <strong>Das</strong> war eine schlimme Wahrheit! Musste er die Waffen nie<strong>der</strong>legen,<br />

bevor er sie erhoben hatte? Durfte er sich und seinem Volk die Schmach eines schimpflichen<br />

Frie<strong>den</strong>s aufbür<strong>den</strong>? Durfte er wi<strong>der</strong>standslos und würdelos Tenochtitlán <strong>den</strong> Gelbhaarigen<br />

ausliefern, einer Knechtschaft, die schlimmer war als Untergang und Tod?<br />

Lange brütete er, wog ab, beschloss, verwarf. Die Zeit verrann. Cuauhtémoc musste sich<br />

entschei<strong>den</strong>, sollte ihm die Zeit die Entscheidung nicht abnehmen. Da ermannte er sich. Er durfte<br />

nicht kleinmütig sein wie Moctezuma! Sein Mut triumphierte, und eine finstere Heiterkeit erfüllte<br />

ihn, als er sich erhob. Er hatte sich für <strong>den</strong> Kampf bis <strong>zur</strong> Vernichtung entschlossen, für ruhmvollen<br />

Sieg o<strong>der</strong> glorreichen Untergang. Der König verließ das Haus <strong>der</strong> Trauer und ging hinüber in <strong>den</strong><br />

Drachensaal des Großen Palastes. Dort wartete <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Alten, <strong>den</strong> er <strong>zur</strong> Sitzung<br />

zusammengerufen hatte.<br />

Beim Schein flackern<strong>der</strong> Fackeln hockten die Großen des Reiches auf niedrigen Schemeln.<br />

Obgleich <strong>der</strong> Hohepriester noch nicht erschienen war, ließ Cuauhtémoc die Sitzung sofort<br />

eröffnen. Seinen mit Jaguarfellen bedeckten Silberthron bewachten zwei hünenhafte Beilträger.<br />

Neben ihm stand <strong>der</strong> Annalenschreiber Weißer Mondstein und wie<strong>der</strong>holte laut, was <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong><br />

Welt mit leiser Stimme (wie es das Zeremoniell vorschrieb), kaum <strong>den</strong> Nächstsitzen<strong>den</strong><br />

vernehmlich vorbrachte. Der Schlagende Falke beschönigte die verhängnisvolle Wirklichkeit nicht,<br />

die zu einer raschen Entscheidung drängte. Er schil<strong>der</strong>te die verzweifelte Lage, zählte die<br />

aufständischen Provinzen und abgefallenen Vasallen auf, beschrieb die von <strong>den</strong> Brigantinen<br />

drohende Gefahr, malte ein Bild von <strong>der</strong> Umschließung Tenochtitláns und gab bekannt, wie<br />

zahlreich die Truppen Sandovals in Chalco und Iztapalapá waren – wie viele Krieger Olíd und<br />

Alvarado in Tacuba <strong>zur</strong> Verfügung stan<strong>den</strong>. Kundschafter, sagte er, hätten festgestellt, dass Olíd<br />

weiter südlich bis Coyoacán vordringen wolle, um die Umzingelung des Schilfsees zu vollen<strong>den</strong>. Er<br />

erwähnte auch <strong>den</strong> Zwist im Christenheer, auf <strong>den</strong> die Mexica so große Hoffnung gesetzt hatten.<br />

Ein Mordplan gegen <strong>den</strong> Grünen Stein sei verraten wor<strong>den</strong> und habe die Stellung des Grünen<br />

Steines weiter gefestigt. Nach <strong>der</strong> Hinrichtung des Königs Goldmaske sei ein zu geringer Teil <strong>der</strong><br />

Tlatepoca in die Heimat <strong>zur</strong>ückgekehrt, um die Christen spürbar zu schwächen. Zum Schluss<br />

sprach <strong>der</strong> Schlagende Falke von <strong>der</strong> Wasserversorgung <strong>der</strong> belagerten Stadt. Der Bau des<br />

Aquädukts habe zwölf Jahre gedauert; seine Wie<strong>der</strong>herstellung werde sich in Wochen und<br />

Monaten nicht bewerkstelligen lassen. Von nun an müsse das Trinkwasser auf Kähnen nach<br />

Tenochtitlán geschafft wer<strong>den</strong>...<br />

Als Weißer Mondstein Satz für Satz die Rede des Königs in <strong>den</strong> Saal gerufen hatte, konnte<br />

noch niemand <strong>den</strong> Willen des Königs erkennen: Krieg, Waffenstillstand o<strong>der</strong> Frie<strong>den</strong>! Er hatte nur<br />

bittere Tatsachen aufgezählt.<br />

Der Älteste <strong>der</strong> Alten erhob sich und sagte:<br />

»O ihr edlen Mexica, ihr habt vernommen, was unser Herr und König gesagt hat. Seine<br />

Worte waren ohne Lüge wie die gol<strong>den</strong>en Pfeile des Sonnengottes. Ein Körper, dessen große<br />

Halsa<strong>der</strong> durchschnitten ist, ist ein sterben<strong>der</strong> Körper. Tenochtitlán wird eine sterbende Stadt sein,<br />

wenn wir nicht Frie<strong>den</strong> schließen!«<br />

Noch nie war das Wort Frie<strong>den</strong> über die Lippen eines Mexicas gekommen. Cuauhtémoc<br />

hatte Unwillen und Empörung erwartet. Doch im Saal blieb es still. Eine Pause entstand.<br />

»Ihr edlen Mexica, ihr meine Oheime und Brü<strong>der</strong>«, sagte <strong>der</strong> Schlagende Falke nach einer<br />

Weile, »trage ich schuld an unserem Unheil, an unserem Ver<strong>der</strong>ben? Hätte ich das Quellwasser<br />

Chapultepecs besser schützen müssen? Richtet über euren König. Wenn er sich an Mexico<br />

verging, so schenkt ihn Huitzilopochtli! Wählt danach an meiner Stelle einen Würdigeren, Älteren,<br />

Erfahreneren, auf dass er Frie<strong>den</strong> schließe, <strong>den</strong> ich nicht schließen kann.«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 396<br />

»O großer König, o Schlagen<strong>der</strong> Falke!«, rief <strong>der</strong> alte Wür<strong>den</strong>träger. »Du hast wahrlich deine<br />

Königspflicht getan! Deine Jaguare, Pumas und Adler starben in Chapultepec nicht bei<br />

Pulquegelagen, son<strong>der</strong>n im Krieg. Achtmal habt ihr gesiegt, achtmal wurdet ihr <strong>zur</strong>ückgetrieben<br />

und brachtet vier Gelbhaarige und 2000 Tlatepoca als Kriegssklaven heim. Lasst uns diese<br />

Gefangenen nicht opfern! Wir wollen sie schonen und aufsparen, um sie gegen <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong><br />

einzutauschen.«<br />

»Nein!«, rief <strong>der</strong> Sperber, <strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> Handelsherren von Tlatelolco. »Nein, Mexica,<br />

lasst uns die vier Gelbhaarigen und die 2000 Tlatepoca heute Nacht <strong>der</strong> Wassergöttin opfern!<br />

Denn sie ist es, die uns zürnt und uns das Trinkwasser raubt. Sie ist es, die dem Feind erlaubt,<br />

Tlatelolcos zweihun<strong>der</strong>t Boote zu zerschmettern, und die wir beschwichtigen müssen, auf dass <strong>der</strong><br />

Feind nicht noch mehr Boote Mexicos zerstört und wir verhungern und verdursten!«<br />

»Ja, lasst uns die Opfersklaven heute Nacht noch schlachten!«, riefen die Jüngeren <strong>der</strong><br />

Türkisgebürtigen. »Wir wollen die Göttin mit Edelsteinwasser besänftigen!«<br />

»Womit kränkte ich die Göttin?«, fragte <strong>der</strong> Schlagende Falke. »Was habe ich getan, dass<br />

die Mexica solche Strafe verdienen?«<br />

Niemand wagte zu antworten, nur Tlatelolcos Vertreter Sperber sagte:<br />

»Indem du fragst, o großer König, verleihst du uns die Kühnheit auszusprechen, was wir<br />

sonst verschweigen müssten. Du wurdest gewarnt, hast die Warnung aber nicht beachtet. Die<br />

Wassergöttin ist erbost, weil die Königin von Tacuba das weiße Kind nicht ertränkt hat. Der Hohe<br />

Rat hatte das Kind <strong>der</strong> Göttin versprochen, es ward ihr <strong>den</strong>noch vorenthalten. Noch heute<br />

verpestet <strong>der</strong> Atem des weißen Kindes die heilige Luft Tenochtitláns! Auch Huitzilopochtli wurde<br />

beleidigt, <strong>den</strong>n er untersagte allen weißen Wesen <strong>den</strong> Aufenthalt in seiner Stadt. Königin<br />

Perlendiadem aber trotzt <strong>den</strong> Priestern und <strong>den</strong> Göttern. Sie hat mächtige Beschützer! Und es ist<br />

auch ein Verbrechen, die vier weißen Opfersklaven zu schonen, aufzusparen und gegen einen<br />

schlechten Frie<strong>den</strong> einzutauschen. Mit unseren Todfein<strong>den</strong> können wir nicht Frie<strong>den</strong> schließen,<br />

<strong>den</strong>n ihren Worten ist nicht zu trauen. Der Erde Mexicos soll das Blut <strong>der</strong> Gefangenen dargebracht<br />

wer<strong>den</strong>, dann wird die Gunst <strong>der</strong> Sterne wie<strong>der</strong> über uns strahlen! Lasst uns unsere Schuld tilgen,<br />

lasst uns <strong>zur</strong> Opferung schreiten! Und auch <strong>der</strong> Wassergöttin wollen wir geben, was ihr gehört: das<br />

weiße Kind!«<br />

Beifall brandete auf, die gedrückte Stimmung schlug in Zustimmung um. Die Kriegspartei<br />

hatte die Oberhand gewonnen. Ohne das Gewicht seines Königswortes in die Waagschale werfen<br />

zu müssen, sah <strong>der</strong> Schlagende Falke seinen Wunsch erfüllt: Mexico wählte <strong>den</strong> Untergang, <strong>den</strong><br />

glorreichen Tod! Doch Cuauhtémocs Befriedigung war Bitternis beigemischt. Der<br />

Stimmungsumschwung war mit <strong>der</strong> Preisgabe <strong>der</strong> Königin von Tacuba erkauft.<br />

Der Durch-Wohlgestalt-Glänzende und Felsenschlange versuchten flüsternd, das Unheil von<br />

Perlendiadem abzuwen<strong>den</strong>. Der König schüttelte abweisend <strong>den</strong> Kopf; er durfte die schützende<br />

Hand nicht mehr über die Freundin halten. Und selbst dem Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong><br />

versagte <strong>der</strong> Mut, die Versammlung um Mitleid mit seiner Gemahlin, um Erbarmen mit <strong>der</strong> Mutter<br />

des fluchbela<strong>den</strong>en Kindes anzuflehen.<br />

Da trat <strong>der</strong> Hohepriester ein, begleitet von einer Schar schwarz geschminkter Opferpriester.<br />

Stille breitete sich im Drachensaal aus. Huitzilopochtlis Knecht ging langsamen Schrittes vor <strong>den</strong><br />

Thron Cuauhtémocs. Die Hände hielt er im weit wallen<strong>den</strong> Gewand verborgen. Er verbeugte sich<br />

vor dem Herrscher und sagte laut und vernehmlich:<br />

»Die Wassergöttin erhielt, was ihr versprochen war! Nur dieses hier muss dem Hohen Rat<br />

noch vorgewiesen wer<strong>den</strong>!«<br />

Aus <strong>den</strong> Falten seines Talars hob er <strong>den</strong> Kopf des Kindes in die Höhe und legte ihn dem<br />

König zu Füßen.<br />

In die begeistert anschwellen<strong>den</strong> Zurufe fragte Cuauhtémoc <strong>den</strong> Hohepriester:<br />

»Und seine Mutter?«<br />

»Ging mit <strong>der</strong> Amme auf <strong>den</strong> Opferstein voran.«<br />

Gleich nach <strong>der</strong> Sitzung des Rates <strong>der</strong> Alten wur<strong>den</strong> auf <strong>den</strong> Menschenwürgeplätzen von<br />

drei Pyrami<strong>den</strong> vier Kastilier, 2000 Tlatepoca und ein Schwarzer geschlachtet. Olíds Neger<br />

Francisco Eguía war gefangen wor<strong>den</strong>, nachdem er in rasen<strong>der</strong> Wut ungezählte Mexica mit<br />

seinem blitzen<strong>den</strong> Schwert getötet hatte. Erst als <strong>der</strong> Hüne von einem Stein an <strong>der</strong> Stirn getroffen<br />

wurde, konnten die Gegner ihn überwältigen. Nun wollten sie Nachschau halten, ob im schwarzen


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 397<br />

Sonnensohn auch rotes Blut fließe und wie sein Herz aussehe. Die Opferpriester wateten im Blut<br />

<strong>der</strong> vergossenen Edelsteinwasser, bis ihre Hände erlahmten.<br />

Als die 2005 Herzen auf <strong>den</strong> Altären lagen, schritt Huitzilopochtlis Knecht mit dem<br />

Schlagen<strong>den</strong> Falken an <strong>der</strong> Spitze einer Prozession bis ans Seeufer. Dort streute er Körbe voll<br />

Mondblumen, Feuerreiherblumen, Wasserlilien, Totenbeinblumen und Caliandrablüten in <strong>den</strong><br />

Schilfsee, sodass <strong>der</strong> Wasserspiegel in weitem Umkreis einem Blumenfeld glich. Zuletzt warf er<br />

<strong>den</strong> Kopf des weißen Kindes <strong>den</strong> Blumen nach. Freudigen Angesichts redete Huitzilopochtlis<br />

Knecht das Wasser an:<br />

»O Herrin! Du hast unser Geschenk empfangen, du hast es gnädig angenommen, du hast es<br />

behalten!«<br />

�<br />

Die Sonne sank, als Cuauhtémoc in <strong>den</strong> Huei-Tecpan <strong>zur</strong>ückkehrte. Der Durch-Wohlgestalt-<br />

Glänzende und Blutfeuerstein erwarteten ihn dort. Die Blinde hatte erst nach <strong>der</strong> Opferung <strong>der</strong><br />

Gefangenen dem Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong> mitteilen können, dass ein Versuch gemacht<br />

wor<strong>den</strong> war, Moctezuma zu beerdigen. Nun erfuhr es auch <strong>der</strong> Schlagende Falke.<br />

»Es muss ein Geheimnis bleiben!«, sagte Cuauhtémoc. »Der Tod von Perlendiadem und<br />

ihrem Kind hat <strong>den</strong> Mexica Mut und Zuversicht <strong>zur</strong>ückgegeben. Würde die Bestattung<br />

Moctezumas bekannt wer<strong>den</strong>, könnte sich wie<strong>der</strong> Furcht verbreiten. Denn Moctezuma hat<br />

unserem Volk Schande gebracht, darum müssen seine Gebeine mo<strong>der</strong>n!«<br />

»<strong>Das</strong> Verbot <strong>der</strong> Bestattung muss erneuert wer<strong>den</strong>«, riet <strong>der</strong> König von Tacuba.<br />

»Nein. <strong>Das</strong> könnte Neugierige ins Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse führen, das sonst kein Mensch<br />

betritt. Weißer Mondstein und <strong>der</strong> Dichter sollen <strong>den</strong> Totenort abwechselnd bewachen.«<br />

»Wer mag die Beisetzung versucht haben?«, fragte <strong>der</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzende.<br />

Cuauhtémoc schaute zweifelnd und hoffnungsvoll zugleich. »Ja, wer?«, fragte auch er.<br />

»Denkst du an die Blume deines Herzens...?«<br />

»Maisblume ist fern, eine Gefangene bei <strong>den</strong> Gelbhaarigen.«<br />

»Du hast uns einen Dienst erwiesen«, sagte er dann zu Blutfeuerstein, »ich werde dich dafür<br />

belohnen.«<br />

»Herr, da ist noch etwas!« Blutfeuerstein zögerte.<br />

»Sag es«, for<strong>der</strong>te <strong>der</strong> König die Blinde auf.<br />

»Meine Herrin gab einer Dame vom Hofe ein sofort wirkendes Gift. Ich fürchte, es könnte ein<br />

Unheil geschehen.«<br />

»Wer ist deine Herrin, wer die Dame?«<br />

»Meine Herrin heißt Kupfergrüne und ist eine Kennerin <strong>der</strong> Gifte und allerlei Zaubereien. Die<br />

Dame kenne ich nicht, aber sie war in Begleitung eines merkwürdigen Mannes.«<br />

»Wie heißt er? Kennst du ihn?«<br />

»Nein, Herr, sie haben keine Namen genannt. Aber bei seinem ersten Besuch fehlte ihm die<br />

Nase. Meine Herrin nähte ihm mit meinem langen Haar die Nase eines frisch geopferten Sklaven<br />

an.«<br />

»Xoctemecl!«, entfuhr es dem Schlagen<strong>den</strong> Falken. »Sucht ihn. Und auch diese<br />

Kupfergrüne!«<br />

Cuauhtémoc schickte <strong>den</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong> mit mehreren seiner Adler zum<br />

Haus <strong>der</strong> Kupfergrünen. Man traf sie nicht mehr an, wohl aber alles Gerät ihres schändlichen<br />

Gewerbes. Die Giftmischerin war entkommen, sonst hätten die Feuerzangen ihr die Geheimnisse<br />

entrissen.<br />

Auch Xoctemecl war nicht aufzufin<strong>den</strong>.<br />

�<br />

Zwei Tage nach Olíds und Alvarados Zweikampf erhielten die bei<strong>den</strong> Oberfeldherren Kurierbriefe<br />

von Cortés, <strong>der</strong> ihnen befahl, des heiligen Kreuzfahrerzieles zuliebe ihren Zwist beizulegen. Auch<br />

an Andrés de Tapia und Alvarez Pineda gingen Schreiben: Cortés beschwor sie, als Vermittler zu<br />

verhüten, dass durch Hass, falschen Stolz und Eigensinn das große Unternehmen gefährdet


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 398<br />

werde.<br />

Es kam zu einer wenn auch nur äußerlichen Versöhnung. Olíd, vom Wundfieber geplagt ans<br />

Krankenbett gefesselt und wie immer unberechenbar, zeigte plötzlich ein großzügiges<br />

Entgegenkommen. Er stellte sein Heer unter <strong>den</strong> Oberbefehl Alvarados, damit dieser in <strong>der</strong> Lage<br />

sei, sich des Dammweges von Tacuba zu bemächtigen. Doch Alvarado hätte vor Olíds<br />

Freundlichkeit auf <strong>der</strong> Hut sein sollen. Die Verdoppelung seiner Truppe nützte beim Angriff auf die<br />

schmale Dammstraße wenig. Wie in <strong>der</strong> noche triste waren auch jetzt die Holzbrücken über die<br />

Dammdurchstiche entfernt, wie damals kämpften die Azteken zu Land und zu Wasser. Sobald die<br />

Bomben <strong>der</strong> Kartaunen <strong>den</strong> Damm bestrichen, sprangen die Krieger in die Fluten, tauchten unter,<br />

spannten unter Wasser ihre Bogen und erkletterten die Böschung. Sie kämpften erbittert und voll<br />

Zuversicht auf <strong>den</strong> Beistand <strong>der</strong> Wassergöttin vertrauend, die <strong>den</strong> Kopf des weißen Kindes<br />

angenommen hatte.<br />

Balkenpalisa<strong>den</strong> versperrten vielerorts <strong>den</strong> Weg und mussten von <strong>den</strong> Kastiliern und<br />

Tlaxcalteken beseitigt wer<strong>den</strong>. Bis zum ersten Dammdurchstich drangen die Angreifer vor,<br />

vermochten sich aber, von mexicanischen Booten gehin<strong>der</strong>t, dort nicht so lange zu halten, bis eine<br />

Brücke geschlagen war. Mehrmals erreichten sie <strong>den</strong> Dammdurchstich, mussten aber jedes Mal<br />

wie<strong>der</strong> <strong>zur</strong>ückweichen. Vier Tage wogten die Kämpfe hin und her. Alvarado sah sich schließlich<br />

gezwungen, großer Verluste wegen die Erstürmung <strong>der</strong> Dammstraße von Tacuba vorerst<br />

aufzugeben. Solange die indianischen Kriegskanus durch die Brigantinen nicht in Schach gehalten<br />

o<strong>der</strong> zerstört waren, war ein Vordringen hier nicht möglich.<br />

Die Schlappe kam Olíd gelegen. <strong>Das</strong> wäre ihm nicht passiert, behauptete er; wäre er<br />

gesund, er hätte mit einem Heer erledigt, was Alvarado mit zweien misslang. Die Verluste seien<br />

<strong>der</strong> Unfähigkeit Alvarados zuzuschreiben. Nach außen entrüstet und verärgert (im Grunde aber<br />

zufrie<strong>den</strong>, dass <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e sich keine Lorbeeren gepflückt hatte), zog Olíd sofort mit seinem Heer<br />

nach Sü<strong>den</strong> und setzte sich in <strong>der</strong> südwestlich von Tenochtitlán gelegenen Pfahlstadt Coyoacán<br />

fest.<br />

�<br />

Am 18. Mai des Jahres 1521, eine Woche nach dem Aufbruch <strong>der</strong> drei Heere, verließen die 13<br />

Brigantinen in <strong>der</strong> Morgendämmerung <strong>den</strong> Hafen von Tezcoco. Die Umzingelung Tenochtitláns<br />

war vollendet: Alonso de Ojeda beherrschte mit seinen Hilfsvölkern die Süßwasserseen von<br />

Chalco und Xochimilco und <strong>den</strong> südöstlichen Küstenabschnitt <strong>der</strong> Salzlagune; Luis Marín, <strong>der</strong> in<br />

Tezcoco <strong>zur</strong>ückgeblieben war, bewachte die nordöstliche, Alvarado die nordwestliche Küste; Olíd<br />

in Coyoacán und Sandoval in Iztapalapá bewachten <strong>den</strong> südwestlichen und <strong>den</strong> südlichen Teil <strong>der</strong><br />

Salzlagune. Erst jetzt durfte Cortés es wagen, an die Ausführung seiner ersten Aufgabe zu gehen:<br />

Wie Eulen die kleinen Vögel, so sollten die großen Schiffe die indianischen Einbäume ins<br />

Ver<strong>der</strong>ben locken; erst wenn dies geschehen war, wollte er Olíd in Coyoacán beistehen. Denn<br />

trotz seiner großen Sprüche erging es Olíd nicht an<strong>der</strong>s als Alvarado – auch er konnte <strong>den</strong><br />

Dammweg nicht erobern.<br />

Vom Glück begünstigt, erreichte Cortés sein Ziel leichter und schneller, als er gehofft hatte.<br />

Mit vom Morgenwind geblähten Segeln hatten die Brigantinen die Mitte des Sees bereits erreicht,<br />

als die Sonne über die Kordilleren stieg, aber auf dem offenen See flaute <strong>der</strong> Wind ab. Doch jedes<br />

<strong>der</strong> Schiffe hatte zwölf Ru<strong>der</strong>er an Bord und konnte sich mit Hilfe langer Riemen fortbewegen,<br />

wenn auch nur langsam.<br />

Der windstille Tag war dem Schlagen<strong>den</strong> Falken von <strong>der</strong> Priesterschaft als Tag <strong>der</strong><br />

Vernichtung <strong>der</strong> Wasserhäuser angekündigt wor<strong>den</strong>. 5000 gut bemannte Boote lauerten darauf,<br />

die Brigantinen zu überfallen.<br />

Eine kleine Felseninsel in <strong>der</strong> Nähe war von einem befestigten Schloss gekrönt, einem<br />

Wasserkriegshaus. Auf dem flachen Dach des kleinen Tecpans entzündeten aztekische Männer<br />

und Frauen soeben ein Feuer – offenbar ein Signal für das in <strong>der</strong> Ferne schimmernde, in<br />

bläulichen Morgendunst getauchte Tenochtitlán. Cortés konnte bei <strong>der</strong> zu erwarten<strong>den</strong><br />

Seeschlacht keine mit Schießscharten versehene Befestigung in seinem Rücken dul<strong>den</strong>, umso<br />

weniger, als <strong>der</strong> Gegner durch Flammenzeichen von dort verständigt wurde. Darum ließ er Pedro<br />

Barba, Antonio de Carajaval und die Blaue Fe<strong>der</strong> mit 200 Mann lan<strong>den</strong>; nach kurzem und heftigem


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 399<br />

Kampf hatten sie die Besatzung <strong>der</strong> Wasserburg nie<strong>der</strong>gemacht. Doch 25 schwer verwundete<br />

Kastilier und Tlaxcalteken mussten auf die Schiffe <strong>zur</strong>ückgetragen wer<strong>den</strong>.<br />

Als sich wie<strong>der</strong> alle an Bord befan<strong>den</strong>, war <strong>der</strong> letzte Windhauch geschwun<strong>den</strong>. Schlaff<br />

klatschten die Segel gegen die Masten, und kein Wimpel regte sich mehr. Die Kastilier<br />

verwünschten die Windstille. »Nun sind wir Fische, <strong>den</strong>en man die Flossen beschnitten hat!«,<br />

knurrte Martín López grimmig in seinen Bart. Schon tauchten mexicanische Boote auf. Die<br />

Feuersignale waren vor mehr als einer Stunde in Tenochtitlán gesehen wor<strong>den</strong> und hatten die<br />

Stadt in Freu<strong>den</strong>taumel versetzt: Endlich gingen die Gelbhaarigen in die Falle! 5000 mit<br />

Schildträgern bemannte Boote ru<strong>der</strong>ten <strong>den</strong> großen Wasserhäusern entgegen.<br />

Im Sü<strong>den</strong> <strong>der</strong> zerstörten kleinen Wasserburg befand sich eine Untiefe. Der Schlagende<br />

Falke wollte die Brigantinen dorthin treiben, um sie dort auflaufen zu lassen. Cortés ahnte von<br />

jener Untiefe nichts, befahl zu ru<strong>der</strong>n und vor <strong>den</strong> Einbäumen nach Sü<strong>den</strong> auszuweichen; er wollte<br />

die Wasserburg umschiffen und von Nor<strong>den</strong> kommend dem Feind in die Flanke brechen. Zum<br />

Glück für die Spanier bewegten die Brigantinen sich überaus schwerfällig und langsam. Die<br />

Siegeszuversicht <strong>der</strong> Mexica stieg: Sie glaubten, die Christen wür<strong>den</strong> vor ihnen die Flucht<br />

ergreifen, weil sie nach Sü<strong>den</strong> abschwenkten. Mit lautem Kriegsgeschrei machten sie sich an die<br />

Verfolgung. Die Untiefe war jedoch noch nicht erreicht, als sich eine leichte Brise erhob und<br />

plötzlich auffrischte. Kleine steile Wellen brachen sich zu Schaumköpfen und rollten vor dem Wind<br />

ab. Quetzalcoatl, <strong>der</strong> Gott des Windes, begünstigte die Söhne <strong>der</strong> Sonne!<br />

Sofort ließ Cortés die Brigantinen wen<strong>den</strong>. Knallend spannten sich Schoten und Brassen, als<br />

<strong>der</strong> Wind in die Takelage fuhr und die Schiffe mit geblähten Segeln und aufgischten<strong>der</strong> Bugwelle<br />

auf die aztekische Flotte zuhielt. Noch leuchteten die Wasser tiefblau wie Lapislazuli, noch<br />

schäumte es weiß, als die mächtigen Zweimaster auf die nie<strong>der</strong>bordigen Kriegskanus losstürmten.<br />

Aber bald schwammen überall schwarze Holztrümmer <strong>der</strong> überrollten Boote – und noch einmal<br />

eine halbe Stunde später spritzten rote, blutgefärbte Wellen zu <strong>den</strong> Steven <strong>der</strong> Brigantinen empor.<br />

In weitem Bogen halsten die lateingetakelten Großsegler <strong>zur</strong>ück, kreuzten erneut auf, um die<br />

Kanus wie<strong>der</strong>holt zu rammen und zu überrennen. Wie Pflüge schnitten die Kiele in die Schiffe <strong>der</strong><br />

aztekischen Flotte, und nur ein geringer Teil ihrer Schiffe konnte flüchtend Schutz in <strong>den</strong> engen<br />

Kanälen Tenochtitláns fin<strong>den</strong>.<br />

�<br />

<strong>Das</strong> siegreiche Geschwa<strong>der</strong> ankerte vor dem Dammdurchstich im Rücken von Acachinanco. An<br />

<strong>der</strong> turmbewehrten Festung hatte die erste Begegnung zwischen Moctezuma und Cortés<br />

stattgefun<strong>den</strong>. Die schmalen Dammwege führten durch jeweils ein Festungstor in die Bastion und<br />

verließen sie durch das Tenochtitlán gegenüberliegende Tor. Die Mexica hatten eine Invasion an<br />

dieser Stelle nicht erwartet, wohl auch nicht für <strong>den</strong>kbar gehalten, daher war <strong>der</strong> Damm hier nicht<br />

bewacht. Ohne Wi<strong>der</strong>stand zu fin<strong>den</strong>, landeten die Christen; die Artilleristen Alonso de Mesa, Juan<br />

Catalán und <strong>der</strong> Levantefahrer Arbenga konnten in Ruhe die kupfernen Kanonen, die<br />

Feldschlangen und das Pulver ausbooten. Dann stellte Cortés sich an die Spitze seiner Truppe,<br />

ließ Sebastián Rodríguez auf seiner lilienförmigen Kupfertrompete das Angriffssignal blasen und<br />

erstürmte neben dem Fahnenträger Corral als Erster das Bollwerk. Die aus hun<strong>der</strong>t Mann<br />

bestehende Besatzung konnte das Schicksal <strong>der</strong> Festung nicht wen<strong>den</strong>. Aus dem Stadttor von<br />

Tenochtitlán sprangen waffenschwingende aztekische Kämpfer zu Hilfe, doch als sie näher<br />

kamen, wurde <strong>der</strong> Damm von einer gewaltigen Explosion erschüttert. Eine hohe Stichflamme fuhr<br />

<strong>der</strong> Detonation voraus in <strong>den</strong> Himmel, und schwarzgrauer Pulverdampf wallte über Weg und<br />

Wasser. Durch eine Unvorsichtigkeit des Feuerwerkers Bartolomé de Usagre war Munition in die<br />

Luft geflogen. Die Druckwelle fuhr über die heranstürmen<strong>den</strong> Azteken hinweg; sie glaubten sich<br />

einer neuen Waffe <strong>der</strong> Sonnensöhne gegenüber und flohen entsetzt in die Stadt <strong>zur</strong>ück. Gegen<br />

Abend konnte die Fahne mit dem Kreuz auf <strong>den</strong> Türmen des Bollwerkes gehisst wer<strong>den</strong>. Die<br />

Blaue Fe<strong>der</strong> verfolgte die Azteken bis an das Stadttor, doch Cortés ließ zum Rückzug blasen; er<br />

wollte noch nicht in Tenochtitlán eindringen. Der Kampf um Mexico hatte begonnen.<br />

Cortés konnte mit <strong>den</strong> Erfolgen des ersten Kampftages zufrie<strong>den</strong> sein. In <strong>den</strong> Kanälen<br />

Tenochtitláns und auf <strong>der</strong> Lagune schwammen zwar immer noch fünfzigtausend Kanus, bei <strong>den</strong><br />

meisten handelte es sich jedoch um Marktboote – ungelenke flache Nachen, die dem Transport


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 400<br />

von Waren dienten. Von <strong>den</strong> schwarz und blau gestreiften schnellen Kriegsbooten mit <strong>den</strong> blauen<br />

Ru<strong>der</strong>n waren die meisten schon zerstört; sie hatten an <strong>der</strong> Seeschlacht teilgenommen, und nur<br />

noch ihre Trümmer schaukelten auf <strong>den</strong> Wellen. Die Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Seeschlacht hatte die Mexica<br />

<strong>der</strong>maßen gelähmt und erschüttert, dass sie an die Verteidigung des Bollwerks Acachinanco erst<br />

dachten, als es nicht mehr zu retten war.<br />

Cortés hatte sich eine halbe Meile vor Tenochtitláns Toren festgesetzt, am Treffpunkt zweier<br />

Dammwege. Ursprünglich war beabsichtigt, die Truppen nach <strong>der</strong> Seeschlacht mit dem Heer Olíds<br />

zu vereinigen und das Hauptquartier in Coyoacán zu errichten. Vom Erfolg bewogen entschloss er<br />

sich, in <strong>der</strong> Festung Acachinanco zu bleiben und von hier aus die Belagerung zu leiten.<br />

�<br />

In <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Tagen mussten die Christen wütende Gegenstöße abwehren. Die Azteken<br />

wollten das Bollwerk <strong>zur</strong>ückhaben – koste es, was es wolle. Um Cortés vom Festland<br />

abzuschnüren, griffen sie gleichzeitig Sandoval in Iztapalapá und Olíd in Coyoacán an. Gegen<br />

Cortés erreichten sie nichts; er hatte Artillerie und <strong>den</strong> Schutz <strong>der</strong> Brigantinen. Aber Sandoval und<br />

Olíd machte es große Mühe, die Brückenköpfe zu halten. In Iztapalapá und Coyoacán wimmelte<br />

es auf <strong>der</strong> Lagune nur so von bemannten Ru<strong>der</strong>kähnen; ihr Pfeilregen ließ sich mit Feuerwaffen<br />

nicht verhin<strong>der</strong>n. Sandoval musste sich schließlich in die oberen, auf einem Hügel gelegenen<br />

Stadtteile Iztapalapás <strong>zur</strong>ückzuziehen, während die Azteken in die untere Stadt eindrangen. Ohne<br />

eigene Flotte konnte er sich in <strong>den</strong> Kanälen <strong>der</strong> weit in die Lagune hinausragen<strong>den</strong> Stadt auf<br />

Dauer nicht halten. Olíd saß zwar fest in Coyoacán, kam aber auf <strong>der</strong> Dammstraße nicht vorwärts<br />

und hatte so große Verluste, dass er genötigt war, von Cortés Hilfe anzufor<strong>der</strong>n. Alvarado erging<br />

es in Tacuba nicht besser: dort war jetzt <strong>der</strong> Damm bis <strong>zur</strong> ersten Dammlücke in <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong> <strong>der</strong><br />

Christen, war aber andauernd heftigen Überfällen ausgesetzt. Gegen ihre Gewohnheit kämpften<br />

die Mexica jetzt auch bei Nacht; die Kastilier kamen nicht aus <strong>den</strong> Klei<strong>der</strong>n. Sie wehrten Angriff um<br />

Angriff ab, doch mit je<strong>der</strong> geglückten Abwehr begann eine neue Attacke, pausenlos und ohne<br />

Unterbrechung, und die Brücke über <strong>den</strong> Dammdurchstich konnte nicht geschlagen wer<strong>den</strong>.<br />

Am dritten Kampftag teilte Cortés sein Geschwa<strong>der</strong> auf. Zwei Brigantinen erhielt Sandoval,<br />

vier Alvarado, vier Olíd; drei blieben bei <strong>der</strong> Festung Acachinanco. Der Schachzug sollte das<br />

Schicksal <strong>der</strong> drei Dämme entschei<strong>den</strong>. In Iztapalapá konnte Sandoval sich mit Hilfe <strong>der</strong><br />

Brigantinen <strong>der</strong> unteren Stadt und <strong>der</strong> Dammstraße bemächtigen. Er zog auf Cortés Befehl mit <strong>der</strong><br />

Hälfte seines Heeres am Westufer <strong>der</strong> Lagune weiter nach Coyoacán, wo er fünfzig seiner<br />

Pikeniere Olíd überließ und weiter zu Alvarado nach Tacuba marschierte. Dort konnten sie alle<br />

Hin<strong>der</strong>nisse beim Damm von Tepeyacac überwin<strong>den</strong> und bis an das nördliche Tor von Tlatelolco<br />

vorrücken. Inzwischen hatte Olíd sein Heer mit <strong>der</strong> Truppe des Cortés vereinigt. Sie hatten bei<br />

diesen Scharmützeln insgesamt 15 indianische Verbündete und vier kastilische Soldaten verloren,<br />

darunter Tirado und Domínguez, die bei<strong>den</strong> zuverlässigen Männer, die einst in Cortés' Auftrag in<br />

Cempoala <strong>den</strong> Schlagen<strong>den</strong> Falken und seinen Begleiter heimlich befreit hatten.<br />

Jetzt fühlte Cortés sich stark genug, in <strong>den</strong> Südteil Tenochtitláns einzudringen und eine<br />

Bresche in <strong>den</strong> Stadtteil Moyotla zu schlagen. Am Morgen des vierten Kampftages, nachdem Pater<br />

Olmedo eine Messe gelesen hatte, erstürmte die Blaue Fe<strong>der</strong> mit seinen Tlaxcalteken das letzte<br />

Stück <strong>der</strong> Dammstraße. Spanische Feuerwerker sprengten das Südtor, und mit ihren indianischen<br />

Verbündeten drangen Cortés' und Olíds Truppen in die Stadt ein und eroberten das Haus <strong>der</strong><br />

Speere, das Arsenal Tenochtitláns.<br />

Cortés versuchte mit <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Straße <strong>der</strong> blauen Erdscheibe vor<strong>zur</strong>ücken,<br />

<strong>der</strong> Hauptverkehrsa<strong>der</strong> <strong>der</strong> Stadt, und die Schlangenbergpyramide zu erreichen. Dort pulsierte das<br />

Herz Mexicos. Seinen Kastiliern war das recht, glaubten sie doch an eine neuerdings kursierende<br />

Legende: Die Kalkverkleidung des Sanktuars sei mit Goldstaub und Goldkörnern gemischt, sodass<br />

eine Hand voll Kalk, durch ein Goldsieb geschüttet, Feingold im Wert eines Dukaten ergebe. Olíd<br />

wandte sich gegen das westliche Moyotla zum Palast des Königs Wassergeist und zum Huei-<br />

Tecpan, weil er dort <strong>den</strong> Goldschatz des Schlagen<strong>den</strong> Falkens vermutete.<br />

Die Verbindungen mit <strong>der</strong> Festung Acachinanco mussten über alle Zufahrtswege möglich<br />

sein und sollten in jedem Fall gesichert und erhalten bleiben. Cortés hatte indianische<br />

Bundesgenossen dazu angestellt, alle Durchstiche des Iztapalapá-Dammes bis <strong>zur</strong> Höhe <strong>der</strong>


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 401<br />

Dammstraße mit Steinen aufzufüllen. In verhältnismäßig kurzer Zeit führten die Hilfstruppen <strong>den</strong><br />

schwierigen Auftrag aus, ebneten <strong>den</strong> Weg und machten ihn für Pferde und Geschütze passierbar.<br />

Schon am späten Nachmittag konnten die Kartaunen und Feldschlangen durch das eroberte<br />

Südtor in Stellung gebracht wer<strong>den</strong>. Die Verteidiger wehrten sich verbissen, schleu<strong>der</strong>ten aus<br />

Fenstern und Schießscharten Pfeile und Speere und hin<strong>der</strong>ten Cortés stun<strong>den</strong>lang, weiter in die<br />

Stadt einzudringen. Alonso de Mesa, Catalán und Arbenga richteten ihre Kartaunen und schossen<br />

Haus für Haus zusammen. Viele <strong>der</strong> reichsten und schönsten Gebäude Tenochtitláns wur<strong>den</strong> in<br />

Trümmer gelegt.<br />

Auch Olíd hatte im westlichen Teil des Stadtviertels Moyotla gehaust. Nach hartnäckigen<br />

Kämpfen war er an <strong>den</strong> Tecpan des Königs Wassergeist, ihr einstiges Quartier, herangekommen.<br />

Als er sich schließlich Zugang erzwang, fand er das erhoffte Gold im Schatzhaus nicht vor. Der<br />

von Perlenfischern nach <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken aus dem See geborgene Schatz Moctezumas<br />

war damals in die königlichen Schatzkammern <strong>zur</strong>ückgebracht wor<strong>den</strong>, doch die Verteidiger hatten<br />

Zeit gefun<strong>den</strong>, alle Kostbarkeiten, Juwelen und Goldbarren in <strong>den</strong> einstigen Palast <strong>der</strong> Könige von<br />

Tlatelolco an die nördlichste Spitze Tenochtitláns schaffen zu lassen. Wütend und enttäuscht<br />

setzten Olíds Soldaten <strong>den</strong> Palast des Königs Wassergeist in Brand.<br />

Den Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Könige von Tacuba und Tezcoco beim Huei-Tecpan konnte er erst nach<br />

langem Gefecht brechen. Es war Nacht gewor<strong>den</strong>, als er in <strong>den</strong> Großen Palast einzog. Auch hier<br />

ließ er seine Enttäuschung über die entgangene Beute am Gebäude aus. Wie eine Horde staubund<br />

blutbedeckter Dämonen raste die Soldateska mit Fackeln durch die Prunksäle, entzündete die<br />

Wandteppiche aus Fe<strong>der</strong>werk, die geschnitzten Wandtäfelungen, die Perlenvorhänge <strong>der</strong> Türen,<br />

Thronbaldachine und Betthimmel, das Ze<strong>der</strong>ngebälk <strong>der</strong> Saaldecken und die über die Höfe<br />

gespannten, bunt gewirkten Zeltdächer. Am schnellsten verwandelte sich die Bibliothek mit ihren<br />

Schätzen aus Agavepapier in ein Flammenmeer. Rasch suchte sich das Feuer einen Weg,<br />

brandete an <strong>den</strong> steinernen Palasttürmen empor, flammte in die Götterkammern, in die Schlafsäle<br />

und fraß sich bis in die unterirdischen Räume durch, wo bis vor kurzem <strong>der</strong> Goldhort Mexicos<br />

lagerte und wo die Spanier vor <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken <strong>den</strong> Edlen Betrübten und <strong>den</strong> Weißen Igel<br />

erwürgt hatten. <strong>Das</strong> Hauptgebäude mit <strong>den</strong> Seitenflügeln, das Haus <strong>der</strong> Vierhun<strong>der</strong>t Frauen, das<br />

schöne Ballspielhaus (wo Moctezuma mit Ordás gespielt hatte), das schwarze Haus <strong>der</strong> Trauer<br />

und sämtliche Nebengebäude und Pavillons stan<strong>den</strong> bald in Flammen, waren ein einziger<br />

Brandherd, zerfielen für immer zu Asche.<br />

Die grosse Schlangenberg-<br />

Pyramide in Tenochtitlán<br />

(Illustration: KBV (Sauerlän<strong>der</strong> AG),<br />

Aarau


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 402<br />

Die Hitze im Palastgebäude wurde unerträglich. Die Christen mussten vor <strong>der</strong> Wut des<br />

Feuers, das sie entfacht hatten, <strong>zur</strong>ückweichen. Von <strong>den</strong> Türmen sprang knistern<strong>der</strong> Funkenregen<br />

auf das Blätterdach <strong>der</strong> Palmen und Bäume, fiel auf die Rosenbäume, Azaleen und Opuntien.<br />

Langsame Faultiere, die nicht wie die Papageien und Rollschwanzaffen fliehen konnten,<br />

verbrannten bei lebendigem Leib und stürzten jämmerlich schreiend aus dem Baumgeäst. Die<br />

tausendjährigen Zypressen Moctezumas lo<strong>der</strong>ten wie riesenhafte Fackeln, und <strong>der</strong> rote<br />

Blütenbaum von Yuquana ward zu Kohle und Asche. Die Hitze in <strong>den</strong> Sälen des Hauptgebäudes<br />

sprengte das Gemäuer; krachend fielen die Wände in sich zusammen.<br />

Vom Wind getragen, griffen die Flammen auf <strong>den</strong> Palastgarten und <strong>den</strong> von Moctezuma<br />

prachtvoll angelegten Tierpark über. Dort befan<strong>den</strong> sich die vergitterten Zwinger <strong>der</strong> Pumas,<br />

Luchse, Jaguare und Bären; dazu Käfige für Katzenfrette, Wiesel, Baumstachelschweine, Füchse,<br />

Vampire, Hufeisennasen, Plattnasen und an<strong>der</strong>e Nektar saugende Fle<strong>der</strong>mäuse. Präriewölfe,<br />

Stinktiere, Ameisenbären, Rotwild, Kaninchen und Büffel lebten hier, und es gab eingezäunte<br />

Wasserbecken für Seelöwen und Alligatoren. In morastigen Tümpeln wälzten sich Tapire und<br />

Nabelschweine. Eines <strong>der</strong> Häuser war ein Terrarium, wo alle Arten von Schlangen in geson<strong>der</strong>ten<br />

Käfigen lebten, auch mexicanische Singeidechsen, große Kammeidechsen, Felsen- und<br />

Baumeidechsen, grüne Leguane, schwarze Leguane und giftige Krustenechsen, Wabenkröten,<br />

Beutelfrösche, milchweiße augenlose Kolbenmolche und allerhand Schlammschildkröten,<br />

Seeschildkröten und Landschildkröten. In einem <strong>der</strong> Häuser schwammen in unzähligen<br />

Wasserbehältern alle See- und Flussfische Mittelamerikas, Seesterne, Polypen und Muscheln. Die<br />

Farbenfülle wetteiferte mit <strong>den</strong> stummen Bewohnern eines Schmetterlingshauses, und <strong>den</strong> in drei<br />

geräumigen Vogelhäusern nisteten Schwirrvögel, Kolibris und Honigsauger, langgeschweiften<br />

goldgrünen Türkisvögel, Buschreiher, Blauraben und Tangare.<br />

Die Steinmetze, Gärtner und Wärter Moctezumas hatten in jahrzehntelanger Mühe ein<br />

Tierparadies geschaffen; die Mordbrenner Olíds verwandelten es binnen kurzer Zeit in eine<br />

Flammenhölle.<br />

�<br />

Alle Bewohnerinnen des Hauses <strong>der</strong> Vierhun<strong>der</strong>t Frauen, die alten und jungen Prinzessinnen,<br />

Königin Goldkolibri mit ihrem Gefolge und auch die von ihr gefangen gehaltene alte Mutter des<br />

Träumers hatte König Felsenschlange aus dem Huei-Tecpan wegführen lassen, bevor Olíd<br />

eindrang. Sie waren mit etlichen Habseligkeiten, Edelsteinkästen, zahmen Affen und Papageien in<br />

einem yacacalco genannten Gebäude untergebracht, das in einem unscheinbaren, <strong>der</strong> großen<br />

Straße <strong>der</strong> blauen Erdscheibe parallel verlaufen<strong>den</strong> Gässchen stand.<br />

Die Straße <strong>der</strong> blauen Erdscheibe setzte sich als Verlängerung des Dammes von Iztapalapá<br />

in die Stadtmitte fort, wurde vom großen Schlangenberg-Tempel auf dem Platz <strong>der</strong> Steinernen<br />

Schildkröte und dem alten Palast von König Wassergeist unterbrochen und führte dahinter weiter<br />

nach Tlatelolco und zum Damm von Tepeyacac. Ganz Tenochtitlán war von Kanälen durchzogen,<br />

und auch die Straße <strong>der</strong> blauen Erdscheibe wurde häufig überbrückt. Cortés konnte mit seiner<br />

Heeresabteilung bis in die Nähe des Schlangenberges vordringen, doch die verbissen<br />

<strong>zur</strong>ückschlagen<strong>den</strong> Verteidiger bedrängten sie immer von neuem. Die Geschütze hatten Häuser<br />

und Steinwälle nie<strong>der</strong>legen können, doch <strong>der</strong> Wall leben<strong>der</strong> Leiber war schwerer zu überwin<strong>den</strong>.<br />

In Nachtfinsternis getaucht und vom purpurnen Schein brennen<strong>der</strong> Paläste umflackert, glichen die<br />

Heerscharen einem Geisterheer, das auf nächtlichem Schlachtfeld unermüdlich <strong>den</strong> Kampf <strong>der</strong><br />

Leben<strong>den</strong> fortsetzt.<br />

Der Schlagende Falke verteidigte die Straße <strong>der</strong> blauen Erdscheibe. Noch nie hatten Cortés<br />

und <strong>der</strong> König von Mexico so nah gegenüber gekämpft. Konnte Cortés über Blitz und Donner<br />

gebieten, so konnte Cuauhtémoc Tote scheinbar ins Leben <strong>zur</strong>ückrufen: fiel ein Mexica, kamen<br />

zehn an<strong>der</strong>e auf <strong>den</strong> Plan. Cortés geriet durch die Zerstörungswut Olíds in Nachteil. Während Olíd<br />

gegen Steine, Bäume und Tiere raste, vereinigten die Könige von Tacuba und Tezcoco ihre<br />

Truppen mit <strong>den</strong>en des Schlagen<strong>den</strong> Falkens, um das Stadtheiligtum zu schützen. Immer mehr<br />

Feinde stan<strong>den</strong> <strong>den</strong> Christen gegenüber, immer häufiger bedrängten sie die Eindringlinge.<br />

Tlaxcaltekische Kundschafter mischten sich unter die verteidigen<strong>den</strong> Mexica. Einer brachte


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 403<br />

Cortés die Meldung, dass die aus dem Huei-Tecpan evakuierten Frauen in einer benachbarten<br />

Gasse untergebracht seien. Sofort erkannte <strong>der</strong> caudillo seine große Chance, mit einem<br />

Entlastungsangriff dorthin vorzudringen, um einen Teil <strong>der</strong> unzähligen Mexica vom<br />

Schlangenbergtempel wegzulocken. Wenn die Prinzessinnen in Gefahr kämen, werde<br />

Cuauhtémoc ihnen zu Hilfe zu kommen und seine Verteidigungsstellung schwächen. Cortés befahl<br />

<strong>den</strong> Hauptleuten Francisco Hernández und Andrés de Tapia, mit einem Trupp Armbrust- und<br />

Bogenschützen sowie 100 Tlatepoca in diese Gasse zum Yacacalco-Gebäude vorzustoßen und<br />

die Frauen als Geiseln zu nehmen.<br />

Bald war das Haus umstellt. Schwere Mahagoniholztore verhin<strong>der</strong>ten <strong>den</strong> Zugang. Die<br />

Frauen waren mit ihren Papageien und Affen auf das flache Dach geflüchtet, wo sie eng<br />

beieinan<strong>der</strong> stan<strong>den</strong> und um Hilfe schrien. Tapia befahl, Brennholz herbeizuschaffen; er hoffte, die<br />

Frauen wür<strong>den</strong> sich ergeben und die Tore öffnen, sobald sie einsahen, dass <strong>der</strong> Brand ernst<br />

gemeint war. Doch noch bevor <strong>der</strong> Scheiterhaufen fertig war, brach das Haus zusammen. Die<br />

Dachterrasse hatte die Last <strong>der</strong> vielen hun<strong>der</strong>t Frauen nicht tragen können. Die Decke stürzte ein,<br />

riss die Mauern des Gebäudes mit sich und begrub die Prinzessinnen, Dienerinnen und<br />

Palastmädchen unter einem Berg von Qua<strong>der</strong>n, Mörtel und Schutt.<br />

�<br />

Eine Stunde später erreichte Cortés <strong>den</strong> großen Platz <strong>der</strong> Steinernen Schildkröte. Von hier aus<br />

hatten die Azteken vor <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken die im Palast eingeschlossenen Kastilier<br />

bedrängt. Heute ließ die Wi<strong>der</strong>standskraft des Feindes schon nach, als die Christen mit <strong>den</strong><br />

Geschützen auf dem Platz gegenüber <strong>der</strong> Schlangenmauer in Stellung gingen. Den Schild in <strong>der</strong><br />

Linken, das Schwert in <strong>der</strong> Rechten, rief Cortés: »Mit Gott und Sankt Jago zum Sieg!« Der Anblick<br />

des gefürchteten Grünen Steins und seine Unerschrockenheit entmutigte die Mexica vollends. Sie<br />

suchten ihr Heil in <strong>der</strong> Flucht und zogen sich in das Gassengewirr des nördlichen Stadtteils<br />

Cuepopan <strong>zur</strong>ück.<br />

Kein bewaffneter Mexica ließ sich mehr blicken. Cortés konnte vom Schlangenberg Besitz<br />

nehmen. Er ließ eine <strong>der</strong> großen Kartaunen durch das südliche Portal <strong>der</strong> Schlangenmauer in das<br />

Tempelgebäude fahren. Mit fünfzig Tlatepoca stürmte er mit <strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong>, Don Juliano de<br />

Al<strong>der</strong>ete, Antonio de Carajaval und Antonio de Quiñones die steile Marmortreppe <strong>der</strong> Pyramide<br />

empor. Die brennen<strong>den</strong> Paläste unten und das Ewige Feuer oben beleuchteten die barbarische<br />

Szene. Flugasche stäubte, und hinter rötlichem Flackerlicht schwärzte die Nacht. Ein seltsamer<br />

Gesang ertönte von irgendwoher.<br />

Auf <strong>der</strong> obersten Terrasse, dem Menschenwürgeplatz, hockten zwanzig schwarz<br />

geschminkte, filzhaarige Priester am Bo<strong>den</strong> und sangen uralte sakrale Weisen. Unbeweglich und<br />

unbekümmert saßen sie da, als wüssten sie nichts von Krieg und Gefahr. Mit keinem Blick<br />

würdigten sie die Eindringlinge. Einer nach dem an<strong>der</strong>en wurde nie<strong>der</strong>gestochen und von <strong>der</strong><br />

Pyrami<strong>den</strong>spitze in die schwarze Tiefe hinabgeschleu<strong>der</strong>t; die an<strong>der</strong>en ließen sich nicht stören und<br />

sangen ihr heiliges Lied, bis auch an sie die Reihe kamen.<br />

Cortés und die Blaue Fe<strong>der</strong> drangen in das Allerheiligste des Kriegsgottes ein. Am Eingang<br />

zum Sanktuar vertrat ihnen ein hoch gewachsenes weibliches Wesen mit einer Goldmaske vor<br />

dem Gesicht <strong>den</strong> Weg.<br />

»Sie ist die Frauenköpfe Sammelnde Weiße Frau!«, rief die Blaue Fe<strong>der</strong> Cortés zu.<br />

»Eine Priesterin?«, fragte Cortés.<br />

»Ja. Die Goldmaske haben Fischer nach <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken aus dem Schilfsee<br />

gefischt. Der Überwin<strong>der</strong> hatte sie als schützendes Wahrzeichen <strong>der</strong> Freiheit Mexicos auf dem<br />

Altar des Kriegsgottes nie<strong>der</strong>gelegt.«<br />

Da sprach die Priesterin durch <strong>den</strong> gerundeten Mund <strong>der</strong> Maske <strong>den</strong> Bannspruch des<br />

Überwin<strong>der</strong>s:<br />

»Fluch über je<strong>den</strong>, wer es wagt, die Hand nach <strong>der</strong> Maske auszustrecken!«<br />

Einen Augenblick zögerte Cortés: Er hatte noch nie eine Frau getötet. Doch dann, plötzlich<br />

von ihrem Zorn angesteckt, riss er sein Schwert aus <strong>der</strong> Scheide und trennte mit einem Hieb <strong>den</strong><br />

Kopf <strong>der</strong> Priesterin vom Rumpf. Fast im selben Augenblick verstummte Huitzilopochtlis große<br />

Kriegstrommel. Antonio de Carajaval hatte die bei<strong>den</strong> Trommelschläger im Sanktuar


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 404<br />

nie<strong>der</strong>gemacht und die heilige Trommel zerstört.<br />

Oben am Rand des Menschenwürgeplatzes stand <strong>der</strong> siegreiche Eroberer. Mit hoch<br />

erhobenem Arm zeigte er <strong>den</strong> Mexica drunten <strong>den</strong> Kopf <strong>der</strong> Priesterin mit <strong>der</strong> Goldmaske. Ein<br />

Aufschrei war die Antwort. Die Mexica hatten das Symbol ihrer Freiheit in <strong>der</strong> Hand des<br />

Todfeindes erkannt.<br />

In wenigen Sekun<strong>den</strong> erlebte Cortés <strong>den</strong> größten Triumph des bisherigen Kampfes! Doch<br />

schon rüttelte ihn Antonio de Quiñones am Arm. Cuauhtémocs Scharen drängten wie<strong>der</strong> wütend<br />

vor. Der Kopf mit <strong>der</strong> Maske – die Priesterin und das heilige Symbol - hatte sie noch einmal<br />

angespornt; rasend vor Wut über die Entweihung eines ihrer heiligsten Güter, waren sie noch<br />

einmal aus <strong>den</strong> Gassen Cuepopans hervorgebrochen und füllten <strong>den</strong> Platz <strong>der</strong> Steinernen<br />

Schildkröte. In großen Sätzen sprangen die Feldobristen und die Soldaten <strong>der</strong> Leibwache die<br />

ellenhohen Stufen hinunter. Sie mussten die große Kartaune im Tempelgebäude dem Feind<br />

überlassen (zum Glück konnten die Indianer nicht damit umgehen!), und nur mit unsäglicher Mühe<br />

gelang es Cortés und seinen Männern, sich bis <strong>zur</strong> Hauptstraße durchzuschlagen. Beim großen<br />

Kanal kam ihm Olíd zu Hilfe, sodass sie ihre Flucht als geordneten Rückzug abwickeln konnten.<br />

Als <strong>der</strong> Morgen dämmerte, erreichten sie über <strong>den</strong> Dammweg das Bollwerk Acachinanco.<br />

Als Flüchtlinge und Sieger zugleich kamen sie in ihr Quartier <strong>zur</strong>ück: die Goldmaske, das<br />

Wahrzeichen mexicanischer Unabhängigkeit, war ihre großartigste Beute. Für <strong>den</strong> König von<br />

Spanien von unschätzbarem Wert, bedeutete sie für <strong>den</strong> König von Mexico einen nicht<br />

wie<strong>der</strong>gutzumachen<strong>den</strong> Verlust an Ansehen.<br />

�<br />

Unter <strong>den</strong> Trümmern des eingestürzten Yacacalco-Gebäudes starben viele Frauen. Aber wie<br />

durch ein Wun<strong>der</strong> blieben zwei Wesen völlig unverletzt: Königin Goldkolibri und ihr steter Begleiter,<br />

<strong>der</strong> Höfling Xoctemecl. Nach dem Zusammenbruch des Hauses verging zwar längere Zeit, bis sie<br />

sich ihrer Unversehrtheit bewusst wur<strong>den</strong> und daran <strong>den</strong>ken konnten, sich in Sicherheit zu<br />

bringen. In <strong>der</strong> Gasse tobten Kämpfe zwischen <strong>den</strong> Mexica und <strong>den</strong> von Tapia angeführten<br />

Kastiliern, aber bald wur<strong>den</strong> Angreifer und Verteidiger auf <strong>den</strong> Platz <strong>der</strong> Steinernen Schildkröte<br />

gerufen, wo die Schlacht tobte; das Kriegsgeschrei entfernte sich.<br />

Dafür waren die Jammerrufe und das Gewimmer <strong>der</strong> verletzten Frauen immer deutlicher zu<br />

hören. Weißer Staub hatte aus <strong>der</strong> hochstieben<strong>den</strong> Kalkwolke die Trümmerstätte wie Dünensand<br />

bedeckt. Xoctemecl-Purpurkranich musste <strong>der</strong> neben ihm liegen<strong>den</strong> Königin Goldkolibri das rechte<br />

Bein unter einem Dachbalken hervorgraben und half ihr, sich auf<strong>zur</strong>ichten. Sie hinkte ein wenig,<br />

hatte aber nur Hautabschürfungen am Knie. Auf seinen Arm gestützt kletterten sie über das Gewirr<br />

von Qua<strong>der</strong>n, Sparren und Toten. Sie humpelten über noch lebende, stöhnende, um Hilfe<br />

schreiende Frauen, über Dienerinnen und Prinzessinnen. Aber vor einer Leiche blieb Goldkolibri<br />

stehen und beugte sich über sie.<br />

»O Herrin, wen erblickst du?«, fragte ihr Begleiter.<br />

»Die Mutter des Dichters!«, sagte Goldkolibri.<br />

»Lebt sie noch?«, fragte Xoctemecl.<br />

»Wenn sie noch lebt, müssen wir sie mit uns forttragen! Sie scheint tot zu sein... sieh nach!«<br />

Xoctemecl kniete im Schutt neben <strong>der</strong> Mutter des Träumers nie<strong>der</strong>, legte sein Ohr an ihren<br />

Mund und lauschte, ob sie noch atmete; dann tastete er ihren Körper ab.<br />

»Sie ist tot!«, sagte er. »Ihr Kopf ist zertrümmert.« Er zog <strong>der</strong> Alten die graublaue<br />

Baumwollkopfbinde vom blutverkrusteten weißen Haar, sodass eine klaffende Wunde zum<br />

Vorschein kam.<br />

Goldkolibri starrte die Tote immer noch an.<br />

»Komm, o Herrin, wir müssen uns retten«, sagte Purpurkranich.<br />

»Warte noch!« Moctezumas Tochter tauschte mit einer jüngeren Toten <strong>den</strong> Mantel und<br />

nahm von einer an<strong>der</strong>en einen dichten Kopfschleier. Purpurkranich sah stumm zu und fragte<br />

nichts. Schweigend humpelten sie weiter. Schließlich erreichten sie die Gasse und wandten sich<br />

nordwestwärts, wo sie das Seeufer vermuteten. Purpurkranich nahm einem toten Azteken Bogen<br />

und Pfeil ab.<br />

An einem Kanal fan<strong>den</strong> sie ein leeres Boot und stiegen ein. Xoctemecl ru<strong>der</strong>te.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 405<br />

»Wohin ru<strong>der</strong>st du?«, fragte die Königin.<br />

»Wo niemand uns hört, wo niemand uns sieht! Aber wo ist das?«<br />

Am Ufer, unterhalb einer breiten Kanalbrücke, tauchte das Kanu in <strong>den</strong> schwarzen Schatten<br />

hoher Bäume. Xoctemecl fragte:<br />

»O Königin, wo willst du eine Zuflucht suchen? Moctezumas Palast ist nicht mehr deine<br />

Wohnstätte.«<br />

»Lass uns überlegen!«, sagte sie.<br />

<strong>Das</strong> Nächstliegende wäre, sich <strong>zur</strong> Herrin von Tula zu begeben, die einer Heirat ihres<br />

Sohnes Felsenschlange mit <strong>der</strong> Witwe des Edlen Betrübten sehr zugetan war. Doch unerkannt zu<br />

ihr zu gelangen und sich dort zu verstecken, war undurchführbar. Sie musste eine Zeit lang im<br />

Verborgen leben, weil sie wusste, dass die Mutter des Träumers tot war. Goldkolibri trug das Gift<br />

<strong>der</strong> Blaugemalten noch immer bei sich. <strong>Das</strong>s die Gelbhaarigen <strong>den</strong> Krieg verlieren wür<strong>den</strong>, war für<br />

Goldkolibri so unbestritten wie <strong>den</strong> meisten Mexica. Irgendwann und irgendwie würde sie nach<br />

Beendigung <strong>der</strong> Kämpfe in die Nähe des Schlagen<strong>den</strong> Falkens gelangen. Sie würde ihm – sollte<br />

<strong>der</strong> König <strong>den</strong> Krieg überleben - das Gift bei guter Gelegenheit in <strong>den</strong> Pulquewein mischen. Er hat<br />

ihr die Ehe versprochen, Maisblumes wegen die Verlobung aber wie<strong>der</strong> gelöst. Diese Schmach<br />

brannte in ihrer Seele. Der Dichter aber konnte sie verraten, er würde seinen Mund auftun und <strong>den</strong><br />

Schlagen<strong>den</strong> Falken aufklären, wen er bei <strong>der</strong> Blaugemalten gesehen hatte, als sie das Gift<br />

abholte.<br />

Von <strong>der</strong> Stadt scholl das Geschrei <strong>der</strong> Mexica herüber; Cortés zeigte ihnen das Haupt mit<br />

<strong>der</strong> Maske. <strong>Das</strong> Waffengeklirr, Kriegsgeheul und <strong>der</strong> Kanonendonner brandeten erneut auf. Doch<br />

auf dem Kanal regte sich nichts. Xoctemecl machte <strong>der</strong> Königin einen Vorschlag:<br />

»Wir wollen im Tecpan Tlótlis Zuflucht suchen.«<br />

»Warum bei ihm?«<br />

»Der Handelsherr ist Mitglied des Hohen Rates. Er ist ehrgeizig. Er wurde arm geboren, hat<br />

sich aber zum reichsten Händler Tlatelolcos emporgearbeitet. Er wird noch höher hinaus wollen.<br />

Es wird ihm schmeicheln, einer Tochter Moctezumas Freistatt bieten zu können.«<br />

Goldkolibri dachte nach. »Ich kenne ihn kaum«, sagte sie nach einer Pause, aber ich weiß,<br />

dass er dem rebellischen Volk näher steht als dem Königshaus.«<br />

»Tlótli ist ein Opportunist und dreht sein Fähnchen nach dem Wind. Aus Nützlichkeit passt er<br />

sich schnell an<strong>der</strong>en Situationen an. Stell ihm deine Gunst in Aussicht, o Königin, dann wird er dir<br />

wie ein Hund ergeben sein! Er wird hassen, was du hasst. Er wird lieben, was du liebst -– und er<br />

wird uns verstecken.«<br />

Goldkolibri willigte wi<strong>der</strong>strebend ein; sie wusste keinen besseren Rat. Purpurkranich stieß<br />

das Kanu aus dem Schatten <strong>der</strong> Brücke und ru<strong>der</strong>te in <strong>den</strong> vom Brandlicht geröteten Kanal. Weil<br />

die Straße <strong>der</strong> blauen Erdscheibe von neuem zum Schlachtfeld gewor<strong>den</strong> war, musste er einen<br />

großen Umweg machen, bis sie schließlich, nach ungefähr einer Stunde Fahrt, in <strong>den</strong> südöstlichen<br />

Stadtteil Teopan gelangten, wo außer <strong>den</strong> Königen von Tezcoco und Tacuba auch an<strong>der</strong>e Größen<br />

des Reiches ihre Paläste hatten, darunter <strong>der</strong> wohlhabende Tlótli. Der Kriegsgott hatte die<br />

Kämpfen<strong>den</strong> inzwischen von <strong>der</strong> Hauptstraße auf <strong>den</strong> weiter entfernten Damm von Acachinanco<br />

geleitet. Fast lautlos glitt ihr Boot in Ufernähe durch die dunklen Wasser; noch eine Brücke war zu<br />

unterqueren, dann wür<strong>den</strong> sie kurz vor ihrem Ziel in <strong>den</strong> breiten Hauptkanal einschwenken.<br />

Doch bevor sie <strong>den</strong> Hauptkanal erreichten, kreuzte dort plötzlich ein größeres Boot die<br />

Wasserstraße und näherte sich <strong>der</strong> Brücke. Xoctemecl brachte sein Kanu geistesgegenwärtig mit<br />

kräftigem Ru<strong>der</strong>schlag ans Ufer und hielt es mit einer Hand am Gebüsch fest. Im großen Boot<br />

saßen drei Männer und eine Frau. Zwei <strong>der</strong> Männer waren mexicanische Krieger. Während das<br />

große Boot dicht an <strong>der</strong> Brücke vorbeiglitt, konnten Goldkolibri und Xoctemecl, ohne das sie selbst<br />

in ihrem dunklen Versteck bemerkt wur<strong>den</strong>, die Gesichter <strong>der</strong> Vorbeifahren<strong>den</strong> erkennen. Die<br />

bei<strong>den</strong> Männer in Kriegertracht waren <strong>der</strong> Annalenschreiber Weißer Mondstein und <strong>der</strong> Träumer,<br />

<strong>der</strong> Dritte war ein christlicher Priester; die Frau aber war Königin Maisblume.<br />

Als das Boot hinter <strong>der</strong> Brücke in einen Seitenkanal einbog, starrten sich Goldkolibri und<br />

Purpurkranich erschrocken in <strong>der</strong> Dunkelheit an.<br />

»O Königin, das war deine Schwester!«<br />

»Ja, Maisblume! Wie ist das möglich? Und <strong>der</strong> Dichter! Du hast Bogen und Pfeile! Schick<br />

ihm einen Pfeil nach – und auch ihr...!«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 406<br />

»Nein, Herrin, nur ihm! Sie ist bereits vom Pfeil durchbohrt, <strong>den</strong>n sie kommt von <strong>der</strong><br />

Toteninsel... sie hat Moctezuma beigesetzt.«<br />

»<strong>Das</strong> wäre gut! Aber woher weißt du das?«<br />

»Ich werde es dir erzählen, Königin, während wir ihnen folgen und erkun<strong>den</strong>, wo sie lan<strong>den</strong>!«<br />

Er ru<strong>der</strong>te dem großen Boot mit Anstrengung hinterher und berichtete <strong>der</strong> Königin, was er<br />

die Nacht zuvor von <strong>der</strong> Giftmischerin erfahren hatte. Er hatte sich mit ihr im Haus <strong>der</strong><br />

Fle<strong>der</strong>mäuse verabredet. Doch statt <strong>der</strong> Giftmischerin hatte Xoctemecl <strong>den</strong> Annalenschreiber dort<br />

angetroffen, <strong>der</strong> bei <strong>den</strong> Toten Wache hielt. Einen kriegerischen Zweck konnte die Bewachung<br />

durch einen einzigen Mann schwerlich haben; Purpurkranich gab sich zu erkennen, hatte ihn<br />

begrüßt und war mit ihm ins Gespräch gekommen. So erfuhr er, dass auf ausdrücklichen Wunsch<br />

des Schlagen<strong>den</strong> Falkens Weißer Mondstein und <strong>der</strong> Träumer die Begräbnisstätte abwechselnd<br />

bewachten, um einen Mann und eine Frau festzunehmen, die vor einigen Tagen versucht hatten,<br />

die Beerdigungszeremonien im Haus <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse an Moctezumas Überresten vorzunehmen.<br />

Sie seien gestört wor<strong>den</strong>; nun schien <strong>der</strong> Schlagende Falke zu fürchten (vielleicht auch zu hoffen),<br />

<strong>der</strong> Versuch könne wie<strong>der</strong>holt wer<strong>den</strong>.<br />

»<strong>Das</strong> ist heute geschehen«, beendete Purpurkranich seinen Bericht. »Während <strong>der</strong> Große<br />

Palast brannte, wird Königin Maisblume <strong>den</strong> Zornigen Herrn bestattet haben. Jetzt ging sie in die<br />

Falle!«<br />

»<strong>Das</strong> ist keine Falle!«, zischte Goldkolibri hasserfüllt. »Als einst <strong>der</strong> Schlagende Falke vom<br />

Zornigen Herrn verbannt wor<strong>den</strong> war, waren <strong>der</strong> Träumer und Weißer Mondstein seine treuesten<br />

Freunde. Und wenn er jetzt <strong>den</strong> Totenort durch diese Freunde bewachen ließ, so ahnte er, wer<br />

Moctezuma bestatten würde. Er hat Maisblume, die er immer noch liebt und um <strong>der</strong>entwillen er<br />

mich verstoßen hat, gefangen nehmen lassen, um sie vor dem Volk Mexicos und <strong>den</strong> Priestern zu<br />

verbergen – nicht um sie hinrichten zu lassen, son<strong>der</strong>n um ihr Leben zu retten!«<br />

»O Königin, es ist so, wie du sagst! Da, schau, sie legen am Palast des Königs von Tacuba<br />

an!«<br />

»Schieß, ehe es zu spät ist!«, beschwor Goldkolibri. Sie hatte schon mehrmals während <strong>der</strong><br />

Fahrt dazu gedrängt. Aber das große Boot war immer weit voraus gewesen, und Xoctemecl, <strong>der</strong><br />

kein guter Schütze war, hatte <strong>den</strong> Schuss jedes Mal verschoben, in <strong>der</strong> Hoffnung, besser zielen zu<br />

können, wenn <strong>der</strong> Träumer an Land gehe. »Er darf nicht leben!«, flüsterte Goldkolibri.<br />

Da legte Xoctemecl <strong>den</strong> Pfeil auf <strong>den</strong> Bogen, legte an - und zögerte. Er sah, wie aus dem<br />

Portal des Palastes <strong>der</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzende und <strong>der</strong> Schlagende Falke traten, bewaffnet<br />

und staubig nach <strong>der</strong> gerade beendeten Schlacht. Hier also hatte <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Welt Zuflucht<br />

nehmen müssen, nachdem sein Palast eingeäschert wor<strong>den</strong> war! Trotz <strong>der</strong> großen Verluste, trotz<br />

<strong>der</strong> Bresche am Südtor, trotz <strong>der</strong> geköpften Priesterin vom Schlangenbergtempel und <strong>der</strong><br />

geraubten Goldmaske strahlte Cuauhtémocs Antlitz beim Anblick <strong>der</strong> Geliebten.<br />

Purpurkranich spannte die Sehne, zielte auf <strong>den</strong> Träumer und schnellte <strong>den</strong> Pfeil ab. Er war<br />

wirklich kein guter Schütze, <strong>der</strong> Dichter blieb unversehrt. Sie entkamen unerkannt in <strong>der</strong> Nacht. Die<br />

nachgeschleu<strong>der</strong>ten Speere versanken zischend im Kanalwasser.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 407<br />

31. Sandoval<br />

»Dieses Haus soll untergehen. Ich weiß, unser Reich sinkt dahin. Es bricht zusammen; es<br />

zerfällt. Die Sterne rauchen; sie sind wi<strong>der</strong> uns. Die Stadt <strong>der</strong> Bücher und <strong>der</strong> Blumen ist<br />

bald nicht mehr.«<br />

(Cantares de los Mexicanos, 1523 [?])<br />

In <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Tagen ruhten die Waffen. Die Kastilier pflegten ihre Wun<strong>den</strong>, heilten sie mit<br />

Salben o<strong>der</strong> Zaubersprüchen, flickten ihre beschädigten Harnische und Schilde, gossen<br />

Bleikugeln, schnitzten Bolzen und nahmen sich Zeit für die Vorbereitungen zu einem neuen<br />

Angriff. Die Mexica aber bargen, verbrannten und beweinten ihre Toten und liefen verstört umher,<br />

beklagten das Unbegreifliche ihres Schicksals. Die allgemeine Nie<strong>der</strong>geschlagenheit war<br />

abgrundtief. Die Könige und Adlerfürsten waren ebenso verunsichert wie die Diener und Knechte.<br />

Fragen nach Schuld und Sühne lauerten hinter jedem Blick. Der Kopf des weißen Kindes war <strong>der</strong><br />

Wassergöttin zugeworfen wor<strong>den</strong>... Gab es <strong>den</strong>n noch mehr zu sühnen in Tenochtitlán? Immer<br />

höher stieg in <strong>den</strong> Herzen das Misstrauen: Wer von uns ist schuldig?<br />

Huitzilopochtlis Knecht rief auf Wunsch des Königs die Bevölkerung zu einer großen<br />

Bußprozession auf. Die Könige von Mexico, Tezcoco und Tacuba nahmen nicht daran teil.<br />

Während sich <strong>der</strong> riesige Menschenstrom durch die halbzerstörte Stadt wälzte, inspizierten sie die<br />

Mauern, von aufmerksamen Adlern und Jaguaren bewacht.<br />

Muschelhörner und Rasselstäbe begleiteten die klagende Anrufung Huitzilopochtlis und<br />

Tezcatlipocas. Kopalharzwolken stiegen mit <strong>den</strong> sakralen Gesängen <strong>der</strong> Priester zum Himmel<br />

empor. Nach drei Rundgängen um <strong>den</strong> großen Schlangenbergbezirk verharrte die Menge auf dem<br />

Platz <strong>der</strong> Steinernen Schildkröte und wartete auf die zeremonielle Opferung gefangener Feinde.<br />

Kurz vor <strong>der</strong> Zerstörung des Aquädukts war Adlerkralle, <strong>der</strong> König von Matlatzinco, nach<br />

Tenochtitlán gekommen und hatte eine Hilfstruppe von etlichen tausend Kriegern mitgebracht. Der<br />

dicke Mann gehörte zum Kreis <strong>der</strong> Verschwörer, die sich seinerzeit im Wasserschloss Tezcotzinco<br />

gegen Moctezuma verbündet hatten. Es war in <strong>der</strong> Umgebung Cuauhtémocs bekannt, dass<br />

Adlerkralle und <strong>der</strong> Schlagende Falke nicht gerade befreundet waren, hatte doch <strong>der</strong> König von<br />

Matlatzinco <strong>den</strong> Thron Anahuacs als Nachfolger Moctezumas beansprucht. Doch in <strong>der</strong> Not erbat<br />

Cuauhtémoc von seinem Gegenspieler Hilfe; <strong>der</strong> hatte seinen Hass hinter Versöhnlichkeit<br />

verborgen und sich bereit gefun<strong>den</strong>, auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Belagerten zu kämpfen. Wie alle glaubte<br />

auch er zuversichtlich an die Unbesiegbarkeit Mexicos. Viele Kriege hatten schon mit Nie<strong>der</strong>lagen<br />

begonnen und mit Siegen geendet. In <strong>den</strong> bisherigen Misserfolgen sah er nicht die Zeichen eines<br />

Zusammenbruchs, son<strong>der</strong>n eine Folge <strong>der</strong> Unfähigkeit des jugendlichen Machthabers. Er hoffte,<br />

das Volk werde sich über kurz o<strong>der</strong> lang gegen <strong>den</strong> zwar gewählten, aber noch nicht gekrönten<br />

König erheben und sich entsinnen, dass Adlerkralle als Sohn eines früheren Herrn <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong><br />

vornehmste Anwärter auf <strong>den</strong> Thron des Aztekenreiches sei.<br />

Seit er in Tenochtitlán weilte, hatte er sich fast täglich mit Huitzilopochtlis Knecht und dessen<br />

Parteigänger besprochen, dem Kaufherrn Tlótli, dem Sperber. Auch jetzt flüsterte er mit dem<br />

Hohepriester, <strong>der</strong> neben ihm saß, und zog <strong>den</strong> Sperber ins Gespräch ein. Der schaute sich ständig<br />

um, als erwarte er jemand. Bald drängte sich ein einfach gekleideter Mann durch die wartende<br />

Menge und gelangte schließlich vor <strong>den</strong> Sperber. Der Mann war ein Diener des Händlers. Der<br />

König von Matlatzinco stand auf und hob einen Arm. Die Leute verstummten und lauschten dem<br />

König.<br />

»O ihr Mexica!«, rief er so laut, dass die Schläfena<strong>der</strong>n ihm anschwollen. »Unglück häuft<br />

sich auf Unglück. Die Erde klafft, <strong>der</strong> Himmel stürzt ein! Womit haben wir die Götten erzürnt?<br />

Dieser Mann hier wird es euch sagen!«<br />

Da trat <strong>der</strong> Diener des Kaufmanns neben ihn und rief: »O ihr Mexica! Tötet mich, wenn ich


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 408<br />

<strong>den</strong> Tod verdient habe!« Die Massen schenkten ihm aufmerksam Gehör. Der Diener fuhr fort: »Ich<br />

gestehe ein Verbrechen! Während ihr hier die Götter angefleht habt, schlich ich mich ins Haus <strong>der</strong><br />

Fle<strong>der</strong>mäuse. Gestern starb eine Frau im Kindbett. Ich glaubte, dass sie zu <strong>der</strong> Leichenstätte<br />

gebracht wor<strong>den</strong> sei. Ich schlich hin, weil ich <strong>der</strong> Toten drei Finger abschnei<strong>den</strong> wollte, um sie auf<br />

<strong>der</strong> Brust zu tragen, wenn ich gegen die weißen Götter kämpfe. Die Finger einer im Kindbett<br />

Gestorbenen sind ein großer Zauber, wie ihr wisst! Sie machen unverletzlich!«<br />

»Leichenschän<strong>der</strong>!« – »Lästerer!« – »Entehrer <strong>der</strong> Toten!«, rief man ihm empört entgegen.<br />

»O ihr Mexica, verurteilt mich nicht zu früh!«, rief <strong>der</strong> Diener. »Ich wollte <strong>der</strong> Frau die Finger<br />

abschnei<strong>den</strong>, aber ich habe es nicht getan! Als ich umkehrte, machte ich eine furchtbare<br />

Entdeckung: Moctezumas Gebeine wur<strong>den</strong> geraubt! Wo sie lagen, sah man Papierfähnchen und<br />

zerbrochene Grabgeschenke. Man hat ihn bestattet und gewiss über <strong>den</strong> See <strong>zur</strong> Toteninsel<br />

geru<strong>der</strong>t.«<br />

<strong>Das</strong> Volk ächzte erschrocken auf.<br />

»Wer?« – »Wer hat ihn bestattet?« – »Wer wagte diesen Frevel?«, rief es aus <strong>der</strong> Menge.<br />

Huitzilopochtlis Knecht erhob sich vom Thronsessel und schrie:<br />

»Der Schuldige muss sterben! Wenn Mexico <strong>den</strong> Frevler schützt, muss Mexico sterben!«<br />

Die Leute schwiegen wie gelähmt angesichts des neuen Unglücks. Wer konnte die Götter so<br />

lästerlich kränken?<br />

Der Sperber rief: »Wer brachte <strong>den</strong> Fluch über Mexico?«<br />

»Maisblume ist die Frevlerin!«, entgegnete <strong>der</strong> König von Matlatzinco hasserfüllt. »Sie verlor<br />

ein Schmuckstück, als sie ihren Vater bestattete.« Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf <strong>den</strong><br />

Diener. »Dieser Mann hat es gefun<strong>den</strong> und übergab es mir. Schaut her: Dieser gol<strong>den</strong>e Anhänger<br />

gehört Maisblume!« Er zeigte ein kleines gol<strong>den</strong>es Amulett vor. »Sie wurde von einem meiner<br />

Freunde in einem Boot gesehen, mit einem Priester <strong>der</strong> Gelbhaarigen! Mein Freund sah auch,<br />

dass sie im Palast des Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong> Zuflucht fand. Und es ist kein Zufall, dass<br />

dort auch <strong>der</strong> Schlagende Falke wohnt. Er ist es, <strong>der</strong> sie beschützt und vor dem Volk Mexicos<br />

verborgen hält! O ihr Mexica, kann es euch da noch verwun<strong>der</strong>n, dass die Feinde siegen und wir<br />

unterliegen? Wie lange noch wollt ihr euch ins Ver<strong>der</strong>ben führen lassen?«<br />

»Trag du die blaue Krone, du Sohn des Königs Kreideweiß!«, rief ihm feierlich <strong>der</strong><br />

Hohepriester zu. Ein Teil <strong>der</strong> Menge brach in zustimmen<strong>den</strong> Jubel aus, aber von hinten öffnete<br />

sich eine breite Gasse, und <strong>der</strong> Beifall verstummte ebenso rasch, wie er aufbran<strong>den</strong> wollte.<br />

Der Schlagende Falke, Felsenschlange und <strong>der</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzende kehrten<br />

<strong>zur</strong>ück. Nur von <strong>den</strong> zuhinterst Stehen<strong>den</strong> bemerkt, hatten sie die Inszenierung Adlerkralles mit<br />

angehört. Der Schlagende Falke bat seine Freunde <strong>zur</strong>ückzubleiben und ging allein und<br />

langsamen Schrittes nach vorn. Der König von Matlatzinco sah ihm triumphierend entgegen. Stille<br />

breitete sich aus. Cuauhtémoc, König <strong>der</strong> Stadt im Kolbenrohr, , streckte mit herrischer Gebärde<br />

die Hand aus und rief:<br />

»Auf die Knie!«<br />

Wie vom Blitz gefällt stürzten die Mexica zu Bo<strong>den</strong>. Auch <strong>der</strong> Sperber mit seinem Diener<br />

berührten mit <strong>den</strong> Stirnen die Erde und rührten sich nicht. Nur Huitzilopochtlis Knecht und <strong>der</strong><br />

König von Matlatzinco blieben stolz stehen.<br />

»Auf die Knie!«, herrschte Cuauhtémoc Adlerkralle an.<br />

»Vor dir? Niemals!«, rief <strong>der</strong> König von Matlatzinco.<br />

Im selben Augenblick umschlang Cuauhtémoc seinen Hals. Ein Obsidiandolch blitzte auf,<br />

und schon sank <strong>der</strong> dicke, goldüberla<strong>den</strong>e Körper mit durchschnittener Kehle in sich zusammen<br />

und fiel Huitzilopochtlis Knecht vor die Füße.<br />

Der Schlagende Falke redete das kniende Volk an:<br />

»O ihr Mexica! Ihr dachtet gewiss: Er ist noch nicht gekrönt, darum ist er noch nicht König. Er<br />

hat kein Kriegsglück, darum lasst uns einen Glückhafteren an seiner Stelle küren. Hört mich an,<br />

Mexica! Ich bin euer König! Ja, es stimmt, Königin Maisblume weilt bei mir. Die nächste Schlacht<br />

wird entschei<strong>den</strong>, ob Königin Maisblume geopfert wer<strong>den</strong> soll – und ich mit ihr. Denn so wird es<br />

geschehen, wenn die Schlacht unglücklich endet. Doch wenn wir siegen, wer<strong>den</strong> wir <strong>den</strong> Göttern<br />

Tausende von Kriegssklaven schenken, um würdig das Krönungsfest und meine Hochzeit mit<br />

Königin Maisblume zu feiern. Nun geht nach Hause, Mexica, und vertraut mir, so wie ich euch<br />

vertraue. Bald rüsten wir das Fest <strong>der</strong> Königskrönung!«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 409<br />

�<br />

In Tenochtitlán machte sich Hunger breit. Er löste die Schrecken des Durstes ab, <strong>den</strong>n seit dem<br />

Einsetzen <strong>der</strong> Regenperiode, die von Juli bis September währte, war die Trinkwassernot gemil<strong>der</strong>t.<br />

Trinkwasser konnte in Gefäßen und Zisternen gesammelt wer<strong>den</strong>. Doch die Belagerer<br />

verhin<strong>der</strong>ten jetzt auch <strong>den</strong> Nahrungsmittelnachschub zu Land und zu Wasser. Tag für Tag<br />

wur<strong>den</strong> Marktboote auf <strong>der</strong> Fahrt nach Tenochtitlán abgefangen.<br />

Die große Schlacht, von <strong>der</strong> Cuauhtémoc gesprochen hatte, ließ auf sich warten. Allen<br />

Herausfor<strong>der</strong>ungen zum Trotz, konnten die Mexica die Conquistadoren nicht wie<strong>der</strong> in die Stadt<br />

locken. Täglich gab es kleinere Scharmützel. Cortés und Olíd behaupteten sich mit wechselndem<br />

Glück am Südtor, während Alvarado und Sandoval <strong>den</strong> nördlichen Damm von Tepeyacac<br />

mehrmals verloren und immer wie<strong>der</strong> erstürmen mussten. Wur<strong>den</strong> bei Tag Steine in einen<br />

Dammdurchstich geschichtet, entfernten die Azteken sie in <strong>der</strong> Nacht wie<strong>der</strong>. Auch eine kleinere<br />

Seeschlacht fand statt; dank einer Kriegslist fiel sie für die Mexica günstig aus.<br />

Ein Häuptling hatte <strong>den</strong> Auftrag, mit drei flachgehen<strong>den</strong> Marktbooten in die Nähe <strong>der</strong> Untiefe<br />

zu ru<strong>der</strong>n, während eine beträchtliche Zahl von Kriegskanus im hohen Schilf in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong><br />

Untiefe lauerte. Zwei Brigantinen nahmen die Verfolgung <strong>der</strong> Marktboote auf, blieben in <strong>der</strong> Untiefe<br />

im Schlamm stecken und waren dem rachedurstigen Angriff <strong>der</strong> Azteken preisgegeben. Die bei<strong>den</strong><br />

Schiffsführer, Rodrigo de Lobera und Pedro Barba, setzten sich mit ihren Mannschaften so<br />

verzweifelt <strong>zur</strong> Wehr, dass alle <strong>den</strong> Tod fan<strong>den</strong>, auch die Ru<strong>der</strong>er, und kein einziger Opfersklave<br />

nach Tenochtitlán verschleppt wer<strong>den</strong> konnte. Pedro Barba, war drei Jahre zuvor<br />

Stadtkommandant von La Havanna auf Kuba gewesen. Diego de Velásquez, <strong>der</strong> Statthalter, hatte<br />

ihm schriftlich befohlen, Cortés zu fangen, abzusetzen und in Ketten zu legen. Aber er hatte es<br />

vorgezogen, sich dem Freibeuterzug anzuschließen und Cortés <strong>den</strong> Haftbefehl auszuhändigen.<br />

�<br />

Den Haftbefehl gegen Cortés, das vom Bischof von Burgos ausgestellte Patent, trug<br />

Oberrechnungsführer Juliano de Al<strong>der</strong>ete noch immer bei sich, ohne es vorzuzeigen. Er<br />

überschätzte seine Macht; trotzdem war Cortés bestrebt, ihn bei guter Laune zu halten und einen<br />

Konflikt einstweilen zu vermei<strong>den</strong>. Von Zeit zu Zeit gemahnte Al<strong>der</strong>ete daran, dass ihm noch in<br />

Tezcoco ein Kommando versprochen wor<strong>den</strong> war. Cortés hielt ihn hin und setzte ihm auseinan<strong>der</strong>,<br />

dass ein Sturmangriff auf Mexico erst wie<strong>der</strong> möglich sein werde, wenn die Errichtung von<br />

Soldatenbaracken bei <strong>der</strong> Brücke Acachinanco beendet sei. Der Bau <strong>der</strong> Baracken war in <strong>der</strong> Tat<br />

unumgänglich, weil das Arsenal wenig Schlafraum bot und zweitausend Soldaten seither unter<br />

freiem Himmel auf <strong>der</strong> Dammstraße nächtigen mussten. Da die Regenzeit eingesetzt hatte, konnte<br />

<strong>der</strong> Oberfeldherr dies auf Dauer nicht dul<strong>den</strong>. So vergingen mehrere Wochen. Eines Abends<br />

machte Al<strong>der</strong>ete dem caudillo neue Vorhaltungen über die Zaghaftigkeit (wie er es nannte), spielte<br />

sich als Bevollmächtigter des Kaisers auf und verlangte die Einberufung eines Kriegsrats, <strong>der</strong> über<br />

<strong>den</strong> Sturmangriff Beschluss fassen sollte.<br />

»Gut, Señor Al<strong>der</strong>ete, ich werde einen Kriegsrat einberufen«, versprach Cortés, »aber <strong>den</strong><br />

Zeitpunkt müsst Ihr schon mir überlassen.«<br />

Al<strong>der</strong>ete begehrte auf: »Ihr könnt mich nicht ständig hinhalten und vertrösten!«<br />

Da gab Cortés ihm <strong>den</strong> Grund seines Wartens an. Er sagte:<br />

»<strong>Das</strong> werdet Ihr vielleicht nicht verstehen, Don Juliano. Aber es ist so, dass ich noch immer<br />

die Hoffnung nicht aufgegeben habe, diese schöne Stadt vor dem Schlimmsten bewahren zu<br />

können.«<br />

»Tut nicht so scheinheilig, Señor Capitán. Ihr habt doch die Paläste nie<strong>der</strong>gebrannt!«<br />

»Nicht ich, son<strong>der</strong>n Olíd hat die bei<strong>den</strong> Paläste angesteckt. Und ob Ihr es glaubt o<strong>der</strong> nicht –<br />

das bedrückt mich.«<br />

»Götzendiener und Menschenfresser!«, rief Al<strong>der</strong>ete.<br />

»Auch die Menschen tun mir Leid. Darum warte ich noch.«<br />

»Worauf?«<br />

»Auf die Annahme meines Frie<strong>den</strong>sangebots!«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 410<br />

»Ihr seid unbelehrbar, Don Hernándo! Die letzten Frie<strong>den</strong>sboten, die Ihr nach Tenochtitlán<br />

geschickt habt, hat Cuauhtémoc schlachten lassen.«<br />

»Diesmal wird er es nicht tun.«<br />

»Wen habt Ihr <strong>den</strong>n gesandt?«<br />

»Ich werde Euch seinen Namen nennen, wenn er <strong>zur</strong>ückkehrt!«<br />

»Glaubt Ihr, er wird <strong>zur</strong>ückkehren?«<br />

»Ich zweifle nicht daran.«<br />

Als er gegangen war, sagte Marina: »Vom Frie<strong>den</strong>svorschlag wusste auch ich nichts.«<br />

»Du bist doch sonst eine gute Rätselraterin, Marina!« Cortés lächelte. »Um die Flucht von<br />

Königin Maisblume zu begünstigen, wollte ich Aguilár mit Cuauhtémoc zusammenbringen.«<br />

»Du hast dem Fraile einen Auftrag gegeben?«<br />

»Nein. Für je<strong>den</strong>, <strong>der</strong> Aguilár kennt, ist es selbstverständlich, dass er <strong>den</strong> König zum Frie<strong>den</strong><br />

überre<strong>den</strong> wird, sobald er mit Cuauhtémoc zusammenkommt.«<br />

»Ich fürchte, <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> lebt nicht mehr.«<br />

»Mag sein. Doch wenn er in Cuauhtémocs Gewalt ist, wird er nicht geopfert. Entsinnst du<br />

dich, wie in Cempoala die frisch getauften Totonaken die vier gefangenen Mexica <strong>der</strong> Jungfrau<br />

Maria opfern wollten? Aguilár hat es verhin<strong>der</strong>t.«<br />

»Ja«, entgegnete Marina, »aber ich erinnere mich auch, dass Aguilár auf dem Rückweg aus<br />

Cholula, wohin er mit Pimoti die weiße Schminke überbracht hatte, von Meuchelmör<strong>der</strong>n des<br />

Herrschen<strong>den</strong> Raubtieres getötet wor<strong>den</strong> wäre, hätte <strong>der</strong> Schlagende Falke ihn nicht gerettet.<br />

Cuauhtémoc hat seine Dankesschuld abgetragen – sie sind quitt.«<br />

»Noch nicht«, sagte Cortés. »Die Rettung eines Mexicakönigs ist höher zu werten als die<br />

Rettung eines armseligen Mönchs und Dolmetschers. Außerdem hat Aguilár Maisblume <strong>zur</strong> Flucht<br />

verholfen und ist ihr Beschützer.«<br />

»Gebe Gott, dass du Recht hast. Al<strong>der</strong>ete ist <strong>der</strong> Feind in deinem Rücken, aber du fütterst<br />

und streichelst die Giftschlange, die dich ver<strong>der</strong>ben will.«<br />

�<br />

Die Strapazen des Kleinkriegs und <strong>der</strong> unablässige Regen zermürbten allmählich die Moral <strong>der</strong><br />

Truppe. Al<strong>der</strong>ete stachelte Olíd und einige <strong>der</strong> Hauptleute auf. Sie sprachen bei Cortés vor und<br />

verlangten, <strong>der</strong> Kriegsrat müsse einberufen wer<strong>den</strong>. Cortés gab nach, vielleicht weil er die<br />

Hoffnung auf Aguilárs Rückkehr aufgegeben hatte. Doch kurz vor Beginn des Kriegsrates näherte<br />

sich ein großes Kanu dem Bollwerk Acachinanco. Am Bug wehte die weiße Fahne des Frie<strong>den</strong>s,<br />

am Heck die königliche Standarte Mexicos.<br />

»Ein Parlamentär!«, rief einer von Olíds Unterführern.<br />

Die indianischen Ru<strong>der</strong>knechte hielten das Boot auf Rufweite in Abstand. Aus ihrer Mitte<br />

erhob sich eine dunkel gekleidete, hagere Gestalt, legte die Hände trichterförmig an <strong>den</strong> Mund und<br />

rief herüber:<br />

»Nicht schießen! Ich bin's, Aguilár! Sie verlangen unbehelligte Rückfahrt!«<br />

Cortés ließ antworten: »Gewährt! Ihnen soll kein Leid geschehen.«<br />

Aguilár sagte etwas zum Anführer <strong>der</strong> Ru<strong>der</strong>er. <strong>Das</strong> Boot nahm Kurs zum Damm, und etwa<br />

300 Fuß unterhalb des Bollwerks wurde Aguilár an Land gesetzt. Mit ihm stiegen zwei weitere<br />

Männer aus dem Kanu, die sie bisher nicht gesehen hatten, weil sie im Boot hingekauert saßen.<br />

Dann machten die Mexica sich mit eiligen Ru<strong>der</strong>schlägen davon.<br />

Die drei kamen in raschem Lauf näher. Zu ihrem großen Erstaunen erkannten die<br />

Warten<strong>den</strong> Tirado und Domínguez, die totgeglaubten Befreier Cuauhtémocs. Sie begrüßten sich<br />

freudig und mit Jubelrufen. Cortés umarmte sie, Marina küsste sie, die Hauptleute drückten ihnen<br />

herzlich die Hände, und alle begleiteten sie in <strong>den</strong> Saal, in dem <strong>der</strong> Kriegsrat tagen sollte.<br />

Aguilár erstattete Bericht: Wie die erste Beisetzung Moctezumas durch ein blindes Mädchen<br />

gestört wurde; wie er und Maisblume mehrere Tage lang im Schilf verborgen auf <strong>der</strong> Lauer liegen<br />

mussten, bis <strong>der</strong> Brand <strong>der</strong> bei<strong>den</strong> Paläste und die Straßenkämpfe es erlaubten, die<br />

Beerdigungszeremonie für die Reise ins Totenreich zu vollen<strong>den</strong> und das Mumienbündel über <strong>den</strong><br />

See zu bringen; dass er und Maisblume später gefangen und heimlich in <strong>den</strong> Palast des Königs<br />

von Tacuba gebracht wur<strong>den</strong>, in dem seit <strong>der</strong> Zerstörung des Huei-Tecpan auch <strong>der</strong> Schlagende


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 411<br />

Falke wohne. Beson<strong>der</strong>s wichtig war, was Aguilár von <strong>den</strong> Zustän<strong>den</strong> in Tenochtitlán wusste, wie<br />

er die Hungersnot und Trinkwassernot beschrieb und von Anfeindungen sprach, <strong>den</strong>en<br />

Cuauhtémoc durch <strong>den</strong> Hohepriester, die Herrin von Tula und die mächtige Partei <strong>der</strong> Kaufleute<br />

von Tlatelolco ausgesetzt sei. Cuauhtémoc werde erst nach <strong>der</strong> Krönung unumschränkt herrschen;<br />

dann werde er auch ein zehnmal gefährlicherer Gegner sein als bisher.<br />

»Zur Krönung brauchte er einen Sieg und eine große Anzahl von Opfersklaven«, sagte<br />

Aguilár. »Darum ist er heute weniger <strong>den</strong>n je bereit, Frie<strong>den</strong>sverhandlungen anzuknüpfen.«<br />

»Hat <strong>der</strong> König Euch wie<strong>der</strong>erkannt?«, wollte Cortés wissen.<br />

»Ja, sofort. Er bedankte sich noch einmal für Cempoala, wo Tirado und Domínguez ihn in die<br />

Freiheit ru<strong>der</strong>ten, und erzählte dem Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong> von unserer Begegnung mit<br />

dem Gefleckten Berglöwen und Felsenschlange vor Cholula, wo sie mich vor <strong>den</strong> gedungenen<br />

Mör<strong>der</strong>n des Tempelhüters retteten.« Von Frie<strong>den</strong> wollte <strong>der</strong> König nichts hören, doch er habe sich<br />

freundlich für <strong>den</strong> Beistand bedankt, <strong>der</strong> Maisblume gewährt wor<strong>den</strong> war und Aguilár zugesichert,<br />

ihn nicht dem Hohepriester auszuliefern. »›Ich schicke dich <strong>zur</strong>ück zum Grünen Stein‹, lässt er<br />

mich sagen, ›und mit dir die bei<strong>den</strong> Gefangenen. Sie haben mich in Cempoala <strong>zur</strong>ück in die<br />

Freiheit geführt. Der König <strong>der</strong> Mexica ist nicht undankbar – ich revanchiere mich und schicke sie<br />

<strong>zur</strong>ück. Richte dem Grünen Stein von mir aus, nun seien wir quitt. Beim nächsten Kampf werde ich<br />

zehntausend Opfersklaven fangen, um mein Krönungsfest zu feiern. Die Stadt im Kolbenrohr wird<br />

nicht untergehen, <strong>den</strong>n als Gast bei meinem Krönungsfest wird <strong>der</strong> König von Michuacan zugegen<br />

sein, <strong>der</strong> mit zweihun<strong>der</strong>ttausend gut bewaffneten Kriegern unterwegs nach Tenochtitlán ist!‹«<br />

»Zweihun<strong>der</strong>ttausend?« Sie sahen sich an. Gnädiger Himmel – welcher Übermacht müssten<br />

sie sich dann erwehren!<br />

»Da ist noch etwas«, fügte Aguilár eilig hinzu. »Zufällig konnte ich einem Gespräch zwischen<br />

dem Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong> und dem Schlagen<strong>den</strong> Falken entnehmen, dass Cuauhtémoc<br />

auch die Maya-Fürsten um Hilfstruppen gebeten hat.«<br />

Al<strong>der</strong>ete und Olíd triumphierten. »Nun, Don Hernándo?«, fragte Al<strong>der</strong>ete und strich seinen<br />

gepflegten grauen Bart, »hatte ich nicht recht? Den Mayas wird <strong>der</strong> Weg von Yucatán hierher wohl<br />

zu weit sein, aber Michuacan liegt nur drei o<strong>der</strong> vier Tagesreisen im Nordwesten. <strong>Das</strong> könnte uns<br />

gefährlich wer<strong>den</strong>.«<br />

»Was <strong>der</strong> Kriegsrat beschließt, soll geschehen. Ich halte es für richtiger, noch abzuwarten,<br />

bis Alvarado und Sandoval das Nordtor in Besitz genommen haben.«<br />

»Diesem Kaziken von Mexico ist <strong>der</strong> Kamm geschwollen!«, rief Olíd. »Falls die Ankündigung<br />

seines Verbündeten keine Finte ist, haben wir bald das Nachsehen und können heimwan<strong>der</strong>n –<br />

wenn wir dann noch in <strong>der</strong> Lage dazu sind! Wir haben zu viel kostbare Zeit verplempert, Don<br />

Hernándo!«<br />

Cortés gab keine Antwort. Er for<strong>der</strong>te die Hauptleute auf, sich <strong>zur</strong> Beratung nie<strong>der</strong>zusetzen.<br />

Sie dauerte nicht lange; Cortés wurde überstimmt und musste sich fügen. Die Meldung vom<br />

Michuaken-Entsatzheer hatte seine Stellung gegenüber Al<strong>der</strong>ete geschwächt. Er hätte seinen<br />

Willen vielleicht durchsetzen können; seine schon oft bewährte Verhandlungstaktik – eine<br />

Mischung aus Diplomatie, Drohung, Schmeichelei und Selbstsicherheit – hätte das Ziel auch<br />

diesmal nicht verfehlt. Doch er tat es nicht, weil er die Verantwortung nicht allein tragen wollte. So<br />

wurde beschlossen, in <strong>den</strong> Nor<strong>den</strong> nach Tlatelolco vorzudringen und sich des Großen Marktes zu<br />

bemächtigen. Die Säulengänge um <strong>den</strong> riesigen Platz gäben dem vom ständigen Tropenregen<br />

zermürbten Christenheer besseren Schutz als bisher. Der Angriff sollte von Tepeyacac und von<br />

Acachinanco, also gleichzeitig von Nor<strong>den</strong> und Sü<strong>den</strong> her erfolgen; ihre Streitkräfte wür<strong>den</strong> sich<br />

quer durch die Stadt Mexico hindurchkämpfen müssen. <strong>Das</strong> ginge sicher nicht ohne Verluste ab,<br />

doch wenn es gelänge, hätten sie - nach Acachinanco – mit Tlatelolco einen zweiten Brückenkopf<br />

gewonnen. Al<strong>der</strong>ete erhielt ein Kommando über 100 Mann.<br />

�<br />

Am Tag vor dem Sturmangriff traf Sandoval mit einer kleinen Begleitmannschaft in Acachinanco<br />

ein und bat Cortés um ein Gespräch unter vier Augen.<br />

»Ich ka-kann es nicht glauben, Don Hernándo, ich mu-muss es von Euch s-selber hören! Ist<br />

es wahr, dass Ihr ein Drittel Eurer Truppen A-Al<strong>der</strong>ete anvertrauen wollt?«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 412<br />

»Es ist wahr!«<br />

»Warum tut Ihr das?«<br />

»Weil ich meine Versprechen zu halten pflege. Es ist jetzt auch vom Kriegsrat so<br />

beschlossen wor<strong>den</strong>.«<br />

»Auch wenn Ihr uns a-a-alle damit in Lebensgefahr bringt?«<br />

»Wir alle sind täglich in Lebensgefahr, mein Sohn Sandoval!«<br />

»Ihr wisst, dass ich um mein Leben nicht zittere, Don Hernándo. Aber hier handelt es sich<br />

um Wichtigeres! Eure Nachsicht mit dieser doppelzüngigen Hofschranze wird Euch und uns teuer<br />

zu stehen kommen, das prophezeie ich!« Sandoval stotterte plötzlich nicht mehr. »Von<br />

Kriegsführung versteht er so viel, wie ich vom Hofzeremoniell! Ihr gebt ihm einen<br />

Vertrauensposten, er wird Euer Vertrauen zuerst durch seine Unfähigkeit und dann durch seine<br />

Nie<strong>der</strong>tracht täuschen. Er wird uns alle um die Früchte des Erfolges bringen! Darum wie<strong>der</strong>hole<br />

ich: Beseitigt ihn, ehe er Euch beseitigt!«<br />

»Ich bin kein Mör<strong>der</strong>, mein Sohn!«<br />

»Dann lasst mich handeln, wenn Ihr es nicht tun wollt!«<br />

»Auch dann wäre ich ein Mör<strong>der</strong>!«<br />

»So habe ich es nicht gemeint. Wenn ich ihn vor meine Klinge for<strong>der</strong>e...«<br />

»Auch dann wäre ich ein Mör<strong>der</strong>, <strong>den</strong>n Ihr führt die Klinge besser als er. Ich verbiete es Euch<br />

das Vorgesetzter!«<br />

Sandoval begann wie<strong>der</strong> vor Aufregung und Hilflosigkeit zu stottern. »Dem Ge-<br />

Generalkapitän war ich stets ge-gehorsam. Doch ich dachte, dass wir auch F-Freunde sind.«<br />

»Sind wir es <strong>den</strong>n nicht?«<br />

»Ihr stellt meine F-Freundschaft arg auf die Probe, D-Don Hernándo! Warum löst Ihr das R-<br />

Rätsel nicht?«<br />

»Weil ich es mir selbst nicht lösen kann!«<br />

»Dann erlaubt mir, dass ich es tue.« Sandoval beruhigte sich wie<strong>der</strong>. »Wir boten Euch eine<br />

Krone an, die Ihr ausgeschlagen habt. Sucht Ihr Schutz beim Vertreter des Kaisers gegen uns?«<br />

»Was du sagst, Sandoval, grenzt an Hochverrat.«<br />

»Redet, Don Hernándo!«, beharrte Sandoval. »Sucht Ihr Schutz beim Vertreter des Kaisers<br />

gegen uns?«<br />

»Vielleicht gegen mich selbst!«<br />

»Also habt Ihr die Krone nicht ehrlich ausgeschlagen?«<br />

»So ehrlich, wie ich morgens manchmal an<strong>der</strong>s <strong>den</strong>ke als abends. Meine Seele ist kein<br />

gera<strong>der</strong> Fichtenstamm wie die Eure, mein Sohn. Meine Seele gleicht einer Ze<strong>der</strong>, wie wir sie auf<br />

<strong>den</strong> Kordilleren sahen. Sie hat zwei gleich starke Stämme und wild verwachsenes Geäst. Ich will<br />

offen zu dir sein, Freund Sandoval. Hör zu. Al<strong>der</strong>ete vertritt die Obrigkeit, er ist die Prosa <strong>der</strong><br />

Amtsgewalt, die ungerührt die Poesie des Wagemuts zerstört. Der Mensch Al<strong>der</strong>ete, diese dürre<br />

Seele, ist keinen Hass wert; doch Al<strong>der</strong>ete ist ein Symbol, das mich Schau<strong>der</strong>n macht und das ich<br />

doch an meiner Seite nicht missen mag, weil es das Gegengewicht ist gegen die Verlockung. Ich<br />

sagte es schon neulich zu Marina: Es gibt keine vollkommene Freiheit! Der Herr ist <strong>der</strong> Knecht<br />

seiner Knechte! Oft ist es besser, nicht Herr, son<strong>der</strong>n Diener zu sein.«<br />

»Ihr könntet Herr sein! Wem wollt Ihr dienen?«<br />

»Gott – und folglich dem Kaiser.«<br />

»Ich verstehe Euch nicht, Don Hernándo.«<br />

»Jawohl, dem Kaiser, Sandoval! Gott verlieh ihm ein erdumspannendes Reich, gegen das<br />

die Imperien Karls des Großen und Marc Aurels winzig waren. Ich werde Kaiser Karl V. das<br />

gol<strong>den</strong>e Mexico zum Angebinde schenken!«<br />

Sie trennten sich wie Freunde, die sich verloren hatten, sich aber durch Herzlichkeit darüber<br />

hinwegzutäuschen suchen.<br />

�<br />

Der Generalkapitän hatte seine Streitmacht in drei Abteilungen zu ungefähr je 90 kastilischen<br />

Fußsoldaten, acht Reitern und 10 000 indianischen Verbündeten aufgeteilt. Sie sollten aufs<br />

Festland marschieren und über drei verschie<strong>den</strong>e Straßen nach Tlatelolco vorstoßen, um sich dort


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 413<br />

mit <strong>den</strong> von Nor<strong>den</strong> her nähern<strong>den</strong> Truppen Alvarados und Sandovals zu vereinigen.<br />

Al<strong>der</strong>ete sollte die nordwärts führende Deichstraße nehmen und sich durch die Straße <strong>der</strong><br />

blauen Erdscheibe nach Nor<strong>den</strong> durchkämpfen. Olíd und Tapia wür<strong>den</strong> das Stadtzentrum über die<br />

westlichen Stadtteile Moyotla und Cuepopan umgehen, während Cortés auf <strong>der</strong> östlichen Straße<br />

vorrückte. Die schweren Geschütze sollten beim Haus <strong>der</strong> Speere<br />

<strong>zur</strong>ückgelassen wer<strong>den</strong>; dort wür<strong>den</strong> auch die Kavalleristen<br />

<strong>zur</strong>ückbleiben und <strong>den</strong> Befehl zum Eingreifen abwarten. Cortés legte<br />

<strong>den</strong> Heerführern Olíd, Tapia und Al<strong>der</strong>ete noch eindringlich ans Herz,<br />

beim Vordringen alle Lücken in <strong>den</strong> Dämmen, auch die<br />

Kanalübergänge bei zerstörten Brücken, mit Steinen sorgfältig<br />

aufzufüllen, damit dem Heer, wenn es <strong>zur</strong>ückweichen müsste, <strong>der</strong><br />

Rückweg nicht abgeschnitten sei. Für diese Arbeiten waren je<strong>der</strong><br />

Abteilung indianische Schanzgräber zugeteilt wor<strong>den</strong>. Die Anführer<br />

sollten auch untereinan<strong>der</strong> Kontakt halten, um nicht abgeschnitten zu<br />

wer<strong>den</strong>. Als die Anweisungen erteilt waren, las Pater Olmedo vor<br />

dem vereinten Heer die Messe, erflehte vom Himmel <strong>den</strong> Sieg und<br />

erteilte <strong>den</strong> Soldaten <strong>den</strong> Segen.Dann brachen sie auf.<br />

Der spanische Reiter oben trägt ein Kreuz, wie es in die Schlachten mitgeführt<br />

und in <strong>den</strong> eroberten Aztekenstädten im Beisein <strong>der</strong> Mönche, die an <strong>der</strong><br />

Expedition teilnahmen, aufgestellt wurde (Bibliotheque Nationale, Paris)<br />

Die Truppenbewegungen wur<strong>den</strong> von 3000 Kanus aus Tezcoco<br />

und Chalco gedeckt, die in <strong>den</strong> Kanälen umher schwärmten, um die Kampfboote <strong>der</strong> Azteken fern<br />

zu halten.<br />

Der Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Mexica war so schwach, dass Cortés stutzig wurde und eine Falle<br />

vermutete. Noch bevor er in <strong>den</strong> Stadtteil Atzaconalco gelangt war, ließ er seine Kolonne Halt<br />

machen und sich gegen Nor<strong>den</strong> verschanzen. Da erreichte ihn ein Bote Al<strong>der</strong>etes, <strong>der</strong> ihm stolz<br />

mel<strong>den</strong> ließ, wie sieghaft er alle Hin<strong>der</strong>nisse überwinde und wie geschwind er vorrücke; er hoffe,<br />

als Erster <strong>den</strong> Großen Markt zu erreichen!<br />

Ein so rascher Erfolg war unwahrscheinlich o<strong>der</strong> verhängnisvoll. Voll banger Ahnung schlich<br />

er in Begleitung von Hauptmann Antonio de Quiñones vorsichtig <strong>zur</strong> benachbarten Hauptstraße<br />

am großen Kanal, um die Situation zu klären.<br />

Dort sah er das Unheil. Berauscht vom leichten Sieg war Al<strong>der</strong>ete mit seiner Truppe<br />

vorangestürmt, ohne <strong>den</strong> Rückweg zu sichern: Seine Schanzgräber hatten statt Steine nur Erde,<br />

Schutt und Binsen in die Kanäle geworfen. Im großen Querkanal war <strong>der</strong> lose aufgeschüttete<br />

Übergang bereits wie<strong>der</strong> vom Wasser überspült. Zwölf Ellen breites Grabenwasser trennte Cortés<br />

von dem in weiter Ferne kämpfen<strong>den</strong> Al<strong>der</strong>ete. Da dröhnte des Schlagen<strong>den</strong> Falkens heiliges<br />

Muschelhorn über die Wasserstadt; sein Wi<strong>der</strong>hall ließ die Luft erbeben. Wie die Goldmaske galt<br />

das Muschelhorn <strong>den</strong> Mexica als heilige Reliquie. Nun gebot es <strong>den</strong> fliehen<strong>den</strong> Mexica Einhalt. Sie<br />

wendeten sich jäh gegen die Angreifer. An<strong>der</strong>e kamen aus Schlupfwinkeln, Seitengassen und<br />

Kanälen hervor. Unter ihnen tauchten Priester gleichsam aus <strong>der</strong> Erde auf, schleppten die Lade<br />

Huitzilopochtlis in das dichteste Schlachtgewühl und zeigten dem Kolibrigott, mit welcher<br />

Todesverachtung die Krieger Mexicos Seine Stadt verteidigten. Die Adler und Jaguare schützten<br />

sein ehrwürdigstes Götterbild, um sich selbst vor Schändung zu bewahren.<br />

Machtlos stand <strong>der</strong> Befehlshaber <strong>der</strong> Kastilier am Kanalufer. Er vermochte das<br />

Unabwendbare nicht abzuwen<strong>den</strong>. Da wälzten sie heran, die braunen Krieger; ein von<br />

Obsidianspeeren, Sägeschwertern, Schil<strong>den</strong> und Menschenleibern unentwirrbares Gemenge kam<br />

näher und näher. Al<strong>der</strong>etes Soldaten ergriffen schon die Flucht, viele wur<strong>den</strong> eingeholt und<br />

gefangen, einige erschlagen, an<strong>der</strong>e rannten zum Kanal, sprangen panzerbeschwert ins Wasser,<br />

ertranken o<strong>der</strong> wur<strong>den</strong> von mexicanischen Booten aufgefischt und fortgebracht. Nur wenige<br />

erreichten das an<strong>der</strong>e Ufer. Auch Al<strong>der</strong>ete.<br />

Im Hagel <strong>der</strong> fliegen<strong>den</strong> Speere und Pfeile halfen Cortés und sein Begleiter ihren<br />

Kamera<strong>den</strong> über die steile Böschung ans Ufer. Da wurde ein Gegenstand über <strong>den</strong> Kanal


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 414<br />

geworfen und fiel dicht neben Cortés zu Bo<strong>den</strong>. Gleichzeitig tönte infernalisches Geheul herüber:<br />

»Sandoval! Sandoval!«<br />

Cortés starrte fassungslos auf Sandovals Haupt.<br />

�<br />

Al<strong>der</strong>ete war verblendet und unerfahren in die Falle gegangen. Zur gleichen Zeit hatten Alvarado<br />

und Sandoval im Nor<strong>den</strong> <strong>der</strong> Stadt gute Erfolge erzielt. Sie konnten nach schweren Kämpfen das<br />

Nordtor einnehmen und waren bis zum Großen Markt von Tlatelolco vorgedrungen. Dort hörten sie<br />

das Muschelhorn und ahnten, dass Cortés nicht weiter vordringen könne. Weil sie sich allein auf<br />

dem Marktplatz nicht halten konnten, befan<strong>den</strong> sie es für richtig, nach Tepeyacac <strong>zur</strong>ückzukehren.<br />

Sandoval blieb als einer <strong>der</strong> Letzten bei <strong>der</strong> Nachhut <strong>zur</strong>ück. Die anfangs erbitterten Attacken <strong>der</strong><br />

nachrücken<strong>den</strong> Indianerkrieger ließen plötzlich nach, und die meisten Mexica wandten sich aus<br />

Tlatelolco nach Sü<strong>den</strong>. Von dort drang immer lauteres Triumphgeschrei <strong>der</strong> Azteken herüber.<br />

Sandoval befürchtete, dass Cortés selbst in Gefahr sei. Er wählte sieben Reiter aus und versuchte<br />

mit ihnen, zu Cortés vorzudringen. Sie gelangten bis an <strong>den</strong> Schlangenberg, aber dort war kein<br />

Durchkommen mehr. Hun<strong>der</strong>te von Kriegern warfen sich <strong>den</strong> Reitern entgegen, schlugen von allen<br />

Seiten auf sie ein und rasselten dabei mit Tapirbälgen, die mit Kieseln gefüllt waren, um die<br />

Hirschungeheuer scheu zu machen. Sandoval durchbohrte einem <strong>der</strong> Azteken mit <strong>der</strong> Lanze die<br />

Brust, <strong>der</strong> zu Tode Verwundete riss sie sich aus <strong>den</strong> Rippen, schleu<strong>der</strong>te sie <strong>zur</strong>ück, traf<br />

Sandovals Schläfe und brach zusammen.<br />

Motilla wurde von <strong>den</strong> Azteken erbeutet.<br />

�<br />

<strong>Das</strong> Geheul auf dem jenseitigen Kanalufer verstummte nicht: »Sandoval! Sandoval!«<br />

<strong>Das</strong> darf nicht sein! So kann Gott mich nicht strafen! ging es Cortés durch <strong>den</strong> Sinn. Er<br />

musste sich zwingen, hinzusehen. Zögernd streckte er die Hand aus, sah das schöne Gesicht...<br />

<strong>den</strong> herabhängen<strong>den</strong> Schnurrbart... die klaffende Kopfwunde. Ja, es war Sandovals Haupt, das er<br />

in <strong>der</strong> Hand hielt. Cortés weinte. Er hat Sandoval wie einen Sohn geliebt.<br />

Vor Tränen blind, sah er die Gefahr nicht. Harte Hände packten ihn, und machtvoll sprang<br />

<strong>der</strong> Jaguarkrieger ihn an. Sandovals Kopf rollte ins Wasser. Ein mit sechs Adlerkriegern besetztes<br />

Boot glitt herbei, um <strong>den</strong> herrlichsten aller Opfersklaven aufzunehmen. Die Mexica am an<strong>der</strong>en<br />

Ufer brüllten voller Siegesfreude: »Der Grüne Stein ist gefangen!«<br />

Cortés selbst hielt sich schon für verloren, es gelang ihm nicht, sich aus <strong>der</strong> Umklammerung<br />

des bärenstarken Indianers zu befreien. Sie glitten die Böschung hinunter, dem Wasser zu. Da<br />

stürmte Antonio de Quiñones heran und hieb mit seinem Schwert <strong>den</strong> Arm des Mexicas ab. Cortés<br />

kletterte wie<strong>der</strong> nach oben. <strong>Das</strong> Freu<strong>den</strong>geschrei <strong>der</strong> Mexica wandelte sich in Wutgeheul.<br />

Inzwischen war Tapia mit seinen Soldaten zu Hilfe geeilt; ein Page brachte <strong>den</strong><br />

Apfelschimmel Molinero heran. Als Cortés zögerte, auf <strong>den</strong> Rücken des Tieres zu steigen, zerrte<br />

Quiñones ihn gewaltsam zum Pferd und machte ihm barsche Vorhaltungen, dass er sein Heer<br />

gefährde, wenn er sich selbst gefährde. »Wir sind verloren, wenn wir Euch verlieren, Señor<br />

Capitán!« Quiñones war ein baumlanger Kerl, lässig in <strong>der</strong> Haltung, pechschwarz, verwil<strong>der</strong>t, mit<br />

struppigem Bart und Haar, brutal und gutmütig zugleich. Mit Vendobal, Luis Marín, Gallejo und<br />

dem in Tlaxcala verstorbenen Salcedo war er einst in Veracruz gelandet – damals, als La<br />

Bailadora im Lager tanzte. Cortés wollte sich bedanken, kam aber nicht mehr dazu. Während er<br />

<strong>den</strong> Fuß in <strong>den</strong> Steigbügel setzte, durchbohrte ein Speer <strong>den</strong> Hals des Pagen, <strong>der</strong> <strong>den</strong> Zügel<br />

Molineros hielt. Als Quiñones hinzusprang, traf ihn ein tödlicher Pfeil.<br />

Für Trauer blieb dem caudillo keine Zeit. Cortés schwang sich auf das Pferd; er musste alle<br />

Kraft aufbieten, die kühle Ruhe wie<strong>der</strong>zugewinnen und dem Verstand die Herrschaft<br />

aufzuzwingen. Er befahl <strong>den</strong> Rückzug. Von allen Dachterrassen und aus <strong>den</strong> Kanälen heraus<br />

griffen die Mexica immer wie<strong>der</strong> an. Die schwarze Samtfahne mit dem gestickten, von weißen und<br />

blauen Flammen umlo<strong>der</strong>ten Goldkreuz wurde dem Fahnenträger Corral entrissen, doch <strong>der</strong> Jubel<br />

<strong>der</strong> Mexica über <strong>den</strong> Raub <strong>der</strong> Trophäe kam ebenso verfrüht wie <strong>der</strong> Schock <strong>der</strong> Christen<br />

angesichts dieser Schmach. Corral kämpfte sich mit vier Kamera<strong>den</strong> bis <strong>zur</strong> Fahne durch und


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 415<br />

brachte sie und sich selbst unversehrt aus dem Gewühl <strong>zur</strong>ück.<br />

Als das Heer hinter <strong>den</strong> Festungsmauern von Acachinanco geborgen war, ließ <strong>der</strong> Verlust<br />

sich überschauen. Zweiundsechzig Kastilier, 8000 indianische Verbündete, zwei schwere<br />

Geschütze und sieben Pferde waren <strong>den</strong> Mexica in die Hände gefallen. Und Sandoval war tot!<br />

López de Gómera widmete ihm einen Nachruf: »Gonzalo de Sandoval war ein Mann von<br />

hohem Mut und großer Tapferkeit. Er war von bestem Wuchs und im Vollbesitz größter<br />

Manneskraft. An Brust und Schultern hoch und breit, die Beine etwas krumm, das Gesicht voll,<br />

Bart und Haupthaar kraus und kastanienbraun, wie man es zu <strong>der</strong> Zeit liebte. Er stotterte ein<br />

wenig, doch er war von gesundem Menschenverstand und ohne Habsucht. Er nahm nur, was ihm<br />

gebührte und hielt streng darauf, dass seine Soldaten ihre Schuldigkeit taten, sorgte aber auch<br />

allezeit für sie und trat für sie ein, wo er nur konnte. In seiner Bekleidung war er schlicht und<br />

einfach; dafür aber besaß er das vortrefflichste und bestgerittene Pferd, wie man nach aller Urteil<br />

kein zweites kannte. Es hieß Motilla, eine dunkelbraune Stute mit einem weißen Stern auf <strong>der</strong> Stirn<br />

und weißem linkem Hinterfuß. Alles in allem war Gonzalo de Sandoval das Musterbild eines guten<br />

Offiziers.«<br />

32. Cuauhtémoc<br />

»Am Tage, als Tenochtitlán eingenommen wurde, begingen die Spanier eine <strong>der</strong> größten<br />

Grausamkeiten, die das unglückliche Volk dieses Landes je traf.«<br />

(De la venida de los españoles y principio de la ley evangélica; relación XIII)<br />

Man führte die Kriegsgefangenen zuerst am Bild Huitzilopochtlis vorbei, wo sie Erde essen<br />

mussten; dann kamen sie an <strong>der</strong> berghohen Schädelstätte vorüber, wo ihnen aus einer Unzahl von<br />

Augenhöhlen das Spiegelbild ihres jammervollen Loses entgegenstarrte. Schließlich brachte man<br />

sie in <strong>den</strong> vom König bewohnten Palast. Dort ließ Cuauhtémoc ihnen köstliche Speisen und<br />

Getränke vorsetzen, beweihräucherte sie, beschenkte sie mit Blumen und sagte:<br />

»Seid willkommen. Ihr wurdet mir durch die Gnade des Sonnengottes geschenkt, damit ich<br />

euch zum Fest meiner Krönung opfern kann! Freut euch und genießt <strong>den</strong> Anblick des schönen<br />

Tenochtitlán, bevor das Messer euch die Brust öffnet! Und tröstet euch, <strong>den</strong>n als Hel<strong>den</strong> kamt ihr<br />

hierher.«<br />

Der König wünschte, dass die Schar <strong>der</strong> Opfersklaven in zehn Gruppen geteilt werde. Schon<br />

am Abend des ersten Tages bestiegen – nackt, mit weißen und roten Streifen bemalt und mit<br />

weißen Daunen beklebt, Papierfähnchen in <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong>, Papierkronen auf <strong>den</strong> Köpfen – sechs<br />

Kastilier und achthun<strong>der</strong>t Tlatepoca die Menschenwürgeplätze von vier Stufentempeln. Mit<br />

Schlägen zwang man sie, im Reigen <strong>der</strong> Priester mitzutanzen. Einem nach dem an<strong>der</strong>en wurde<br />

auf dem Adlerstein die Brust mit dem Obsidianmesser geöffnet und von einem Priester das Herz<br />

mit bloßer Hand aus <strong>der</strong> klaffen<strong>den</strong> Wunde gerissen. Der Opferer hob es <strong>zur</strong> Sonne empor, dieweil<br />

das Blut <strong>der</strong> Geopferten in Rinnen die Pyrami<strong>den</strong> hinabfloß. Junge Priestereleven schleu<strong>der</strong>ten<br />

schließlich <strong>den</strong> Leichnam des Geopferten die steile Tempeltreppe hinunter.<br />


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 416<br />

Huitzilopochtlis Knecht verkündete auf einer Terrasse des Schlangenberges das Orakel des<br />

heiligen Nopalbaumes:<br />

»O ihr Mexica! Unser mächtiger Gott Huitzilopochtli redete zu mir durch <strong>den</strong> Mund des<br />

heiligen Baumes: ›O mein Vater‹, sprach zu mir <strong>der</strong> Gott, ›sage <strong>den</strong> Mexica, dass ich mit ihnen<br />

zufrie<strong>den</strong> bin und dass ich weiß, was ich zu tun habe! Speise und Trank gaben mir die Mexica!<br />

Jetzt habe ich wie<strong>der</strong> einen Markt, von dem ich Blut erhalten kann! Sage <strong>den</strong> Mexica, dass sie sich<br />

nur noch zehn Tage gedul<strong>den</strong> müssen, dann wer<strong>den</strong> sämtliche Söhne <strong>der</strong> Sonne und alle Feinde<br />

Mexicos mit <strong>der</strong> Opfertracht geziert sein und so wie die heute Erbeuteten auf <strong>den</strong> Tempeln<br />

Tenochtitláns tanzen!‹«<br />

Menschenopferung zu Ehren Huitzilopochtlis auf <strong>der</strong> Plattform des Großen Tempels. <strong>Das</strong> Opfer stieg, nur mit<br />

einem Len<strong>den</strong>tuch bekleidet auf die Pyramide. Vier Priester streckten ihn auf einen Steinblock aus. Ein fünfter<br />

Priester führte mit einem Steinmesser einen schnellen Schnitt unterhalb des Brustkorbes durch, griff er unter<br />

die Rippen in <strong>den</strong> Brustkorb und zog das schlagende Herz heraus. Die Arterien wur<strong>den</strong> mit <strong>der</strong> Klinge<br />

durchtrennt und das Herz <strong>der</strong> Sonne entgegengehalten. In einer Adlerschale legte man es danach ab. Die<br />

Abbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Götter wur<strong>den</strong> mit dem warmen Blut getränkt und die Körper <strong>der</strong> Geopferten die Tempeltreppe<br />

hinuntergestoßen. <strong>Das</strong> Hinunterstoßen <strong>der</strong> Leichen wurde wohl mit Bezug auf <strong>den</strong> Mythos <strong>der</strong> Mondgöttin<br />

Coyolxauhqui durchgeführt, die von ihrem Halbbru<strong>der</strong> Huitzilopochtli erschlagen und <strong>den</strong> Hang des Berges<br />

Coatepec hinuntergestürzt wurde.<br />

Huitzilopochtlis Knecht war ein geschickter Propagandist, darin stand er <strong>den</strong> Kirchenfürsten<br />

in Europa in nichts nach. Er rechnete mit <strong>der</strong> Verstärkung aus Michuacan, die das Kriegsglück<br />

zugunsten <strong>der</strong> Mexica wen<strong>den</strong> würde. Seine Prophezeiung machte <strong>den</strong> Bewohnern Tenochtitláns<br />

neuen Mut. Sie verbreitete sich darüber hinaus bald in ganz Anahuac und in <strong>den</strong> benachbarten<br />

Län<strong>der</strong>n jenseits <strong>der</strong> Grenzen. Auch unter <strong>den</strong> verbündeten Völkern des Cortés, die vor <strong>der</strong><br />

Ankunft <strong>der</strong> Sonnensöhne von Mexico unterjocht und dem Herrn <strong>der</strong> Welt tributpflichtig waren,


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 417<br />

machte sich Unsicherheit breit. Zermürbt durch die Strapazen, vertrauten sie <strong>der</strong> Sieghaftigkeit <strong>der</strong><br />

Kastilier immer weniger und glaubten immer mehr an das Orakel Huitzilopochtlis. Heimlich, ohne<br />

sich die Absicht vorher anmerken zu lassen, verschwan<strong>den</strong> die Chalken, Huexotzincas,<br />

Cholulteken, Totonaken, Huaxteken und eine große Zahl <strong>der</strong> Tlaxcalteken. Nur <strong>der</strong><br />

Tlaxcaltekenkönig Pimoti mit seinen Stammesgenossen und die Blaue Fe<strong>der</strong> mit einem Teil des<br />

Heeres aus Tezcoco harrten bei Cortés aus.<br />

Cortés wusste, dass es zwecklos sein würde, die Entwichenen <strong>zur</strong>ück<strong>zur</strong>ufen. Doch er<br />

sandte ihnen Boten nach und bat sie, auf dem Weg in ihre Heimat ein Lager aufzuschlagen und<br />

abzuwarten, ob die Weissagung des Hohepriesters eintreffe o<strong>der</strong> nicht. Der Generalkapitän hatte<br />

mit <strong>den</strong> Indianern auch seine indianische Bootsflotte verloren. Die großen, unbeholfeneren<br />

Brigantinen waren alleine (und ohne die schnellen, wendigen indianischen Boote) nicht mehr<br />

imstande, Tenochtitlán wie bisher von je<strong>der</strong> Versorgung abzuschnüren. Ungehin<strong>der</strong>t brachten<br />

Marktboote wie<strong>der</strong> Lebensmittel und Trinkwasser in die Stadt: Hunger und Durst, die bei<strong>den</strong><br />

stärksten Bundesgenossen <strong>der</strong> Christen, verließen Tenochtitlán.<br />

Huitzilopochtlis Knecht hoffte auf das große Entsatzheer aus Michuacan. Cazonci, König<br />

Wassermar<strong>der</strong> von Michuacan, hatte wie<strong>der</strong> dem Schlagen<strong>den</strong> Falken durch Boten mitteilen<br />

lassen, er werde in einigen Tagen am Ufer des Schilfsees erscheinen. Aber es gab noch weiteren<br />

Anlass zu Optimismus. Gerüchte gingen um, die von einer geheimnisvollen großen Heeresmacht<br />

berichteten; sie nähere sich von Sü<strong>den</strong> her dem Schilfsee. Von Cholula und Xochimilco drangen<br />

diese Gerüchte nach Tenochtitlán. Hoffnungsfroh glaubten die Mexica, es seien die von <strong>den</strong><br />

Mayafürsten erbetenen Hilfstruppen. Die dorthin entsendeten Kuriere waren allerdings nicht<br />

<strong>zur</strong>ückgekehrt.<br />

Tatsächlich hatten die Gesandten ihr Ziel nie erreicht. Sie fielen <strong>der</strong> Sklavenhorde des<br />

Gefleckten Berglöwen in die Hände, wur<strong>den</strong> ausgeplün<strong>der</strong>t und getötet. Die Briefe setzten <strong>den</strong><br />

Gefleckten Berglöwen von <strong>der</strong> Einschließung und Bedrängung Tenochtitláns in Kenntnis. <strong>Das</strong><br />

Sklavenheer hatte Honduras gebrandschatzt; dort war nicht mehr viel zu holen. Nun wandte sich<br />

<strong>der</strong> Gefleckte Berglöwe nordwärts, um dem mexicanischen Kriegsschauplatz nahe zu sein, so wie<br />

Aasgeier sich in <strong>der</strong> Nähe von Schlachtfel<strong>der</strong>n aufhalten, um ihre Zeit abzuwarten.<br />

Isabel de Ojeda musste nicht lange die Krone einer Sklavenkönigin tragen. Der Gefleckte<br />

Berglöwe war ihrer Unnahbarkeit und ihrer ewigen Trauer bald überdrüssig und hatte sie Alonso<br />

de Barrientos abgetreten, mit dem ihn <strong>der</strong> Zufall zusammenführte, als sie beide gegen <strong>den</strong>selben<br />

Fürsten in Honduras zu Felde zogen. Schon vor <strong>der</strong> Gründung von Veracruz hatte Barrientos sich<br />

um das Mündel des Ritters Ordás bemüht, und als im ersten Nachtquartier auf dem Weg nach<br />

Cempoala alle zum Gitarrenspiel des Bergmanns und Tanzmeisters Ortiz tanzten, ließ sich die<br />

olivenbleiche Isabel vom stattlichen Alonso de Barrientos im Kreis herumwirbeln. Nach <strong>den</strong><br />

Kämpfen von Tlaxcala zum Fähnrich beför<strong>der</strong>t, war Barrientos während <strong>der</strong> Gefangenschaft<br />

Moctezumas – bald nachdem die fünf Könige an die Eisenkette geschmiedet wor<strong>den</strong> waren –<br />

südwärts gezogen, um nach verborgenen Erdschätzen zu suchen. In <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken<br />

befand er sich im Land <strong>der</strong> Maya.<br />

�<br />

Auf Anraten <strong>der</strong> Königlichen Kalen<strong>der</strong>wahrsager, Hofsterndeuter, Maiskornbeschauer und<br />

Fa<strong>den</strong>rätselknüpfer war Cuauhtémocs Krönung auf <strong>den</strong> günstigen Tag »Zwei Affe« festgesetzt<br />

wor<strong>den</strong>. Auch wenn sich die angekündigte Ankunft <strong>der</strong> Michuaken noch immer verzögerte, ließ<br />

sich das Fest nicht mehr hinausschieben und musste ohne König Wassermar<strong>der</strong> gefeiert wer<strong>den</strong>.<br />

Am Krönungstag begaben sich die Edlen des Reiches, vom Weiblichen Zwilling angeführt,<br />

zum König von Tezcoco, überreichten ihm eine gol<strong>den</strong>e Mitra, Ohrpflöcke, Brustschmuck,<br />

Gürtelgehänge sowie gol<strong>den</strong>e Wa<strong>den</strong>schienen und for<strong>der</strong>ten ihn auf, sich damit zu schmücken,<br />

um vor dem Herrn <strong>der</strong> Welt zu tanzen. Felsenschlange nahm die Geschenke entgegen und<br />

verteilte Gegengeschenke. Die gleiche Zeremonie wurde vor dem König von Tacuba wie<strong>der</strong>holt.<br />

Nachdem Felsenschlange und <strong>der</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzende <strong>den</strong> Schmuck angelegt hatten,<br />

versammelten sich 2000 Azteken <strong>der</strong> Adelskaste im größten Hof des vom Schlagen<strong>den</strong> Falken<br />

bewohnten Tecpans, und als Cuauhtémoc zu ihnen hinaustrat, wirbelten sie vor ihm in<br />

sternenförmigem Reigen, und auch die bei<strong>den</strong> Könige tanzten vor dem neuen Herrn <strong>der</strong> Welt.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 418<br />

Cuauhtémoc war mit allen Insignien seiner Königsherrlichkeit bekleidet und von seinen Frauen,<br />

Narren und Krüppeln umringt. Darauf entkleideten ihn die bei<strong>den</strong> Könige und balsamierten seinen<br />

Körper mit einer Spezerei, mit <strong>der</strong> sonst nur das Abbild des Kriegsgottes gesalbt wurde.<br />

Währenddessen redete Felsenschlange ihn mit diesen Worten an:<br />

»O tapferer Krieger, o großer König, fasse Mut, <strong>den</strong>n du bist das Ebenbild unseres Gottes<br />

Huitzilopochtli, <strong>der</strong> zwischen Uferschilf und Röhricht thront, über die Welt zu Gericht sitzt und seine<br />

Feinde zerschmettert!«<br />

Danach führten sie Cuauhtémoc völlig nackt durch die Gassen bis zum Schlangenberg. Am<br />

Fuß <strong>der</strong> Pyramide kleideten sie ihn in das Ornat eines Opferpriesters: Seine Len<strong>den</strong> wur<strong>den</strong> mit<br />

einem dunkelgrünen, mit kleinen Totenschädeln und Knochen bemalten Frauenrock verhüllt, eine<br />

mit kleinen Papageienschädeln verzierte Schärpe legten sie ihm um die Stirn, hängten einen<br />

perlenbestickten Weihrauchbeutel an seinen linken Arm und hüllten ihn mit einem großen Schleier<br />

vom Kopf bis zu <strong>den</strong> Zehen ein. Sie führten ihn hinauf zum Glutbecken, wo er vor <strong>den</strong><br />

juwelenblitzen<strong>den</strong> Standbil<strong>der</strong>n Huitzilopochtlis und Tezcatlipocas zum Zeichen des Grußes <strong>den</strong><br />

Fußbo<strong>den</strong> mit dem Daumen berührte und weiße Weihrauchkörner ins heilige Feuer warf.<br />

Auf einen Wink von Felsenschlange schleppten stämmige Priestereleven drei weiße<br />

Gefangene herbei̶: für jedes Reich des Drei-Städte-Bundes einen! Und angesichts des jubeln<strong>den</strong><br />

Volkes warf Cuauhtémoc <strong>den</strong> Schleier ab und tat, was sonst die Opferpriester tun: Er schnitt<br />

Brustkörbe auf, riss Edelsteine aus klaffen<strong>den</strong> Brustwun<strong>den</strong>, hielt die zucken<strong>den</strong> roten<br />

Adlerkaktusfeigen <strong>zur</strong> Sonne empor und trank von einem im Becher aufgefangenen<br />

Edelsteinwasser.<br />

Nach <strong>der</strong> Opferung schloss er sich im Pfeilhaus ein und verweilte dort betend und fastend<br />

vier Tage. Am Abend des vierten Tages kehrte er heim in <strong>den</strong> Palast und feierte die Verehelichung<br />

mit Königin Maisblume.<br />

Huitzilopochtlis Knecht hatte sich entschuldigen lassen. Er sei krank, bettlägerig...<br />

�<br />

Trotz <strong>der</strong> Festlichkeiten hatten die Waffen nicht geruht. Verbissen versuchten mexicanische<br />

Krieger bei Tag und Nacht, die Dammstraßen <strong>zur</strong>ückzuerobern. Sie vertrauten <strong>der</strong> Weissagung<br />

des Hohepriesters, dass ihre Selbstvergeudung nicht umsonst sein werde. In <strong>der</strong> Schlacht<br />

gefallene Krieger entrinnen <strong>den</strong> neun Höllen; sie gehen in Gestalt eines Kolibris ins Haus <strong>der</strong><br />

Sonne ein und begleiten das Hauptgestirn täglich auf seinem Weg über <strong>den</strong> Zenit. Mehrmals<br />

gelangten die Adler und Jaguare bis dicht vor das Bollwerk Acachinanco, doch jedes Mal öffneten<br />

die Geschütze ihre eisernen Mäuler und fegten mit feurigen Salven die Todesmutigen vom Damm.<br />

Die Prophezeiung erfüllte sich nicht. Zehn Tage gingen vorüber, ohne dass die weißen<br />

Götter vom Orkan zerschmettert o<strong>der</strong> vom See verschlungen wur<strong>den</strong>; sie konnten auch nicht in<br />

Opfertracht auf die Altäre Tenochtitláns geführt wer<strong>den</strong>. Während <strong>der</strong> zehn Tage war Mexicos<br />

Zuversicht groß; jetzt versank Mexico in tiefer Verzweiflung.<br />

Hatte <strong>der</strong> Hohepriester das Volk betrogen? War <strong>der</strong> Kolibrigott dem Gott <strong>der</strong> Gelbhaarigen<br />

unterlegen? <strong>Das</strong> konnte nicht sein! Wie sonst war es zu erklären, dass sich das Orakel des<br />

heiligen Baumes irrte? Huitzilopochtlis Knecht verkündete es dem verängstigten Volk: Königin<br />

Maisblume hat gegen die Gottheiten gefrevelt und die Leiche des Zornigen Herrn bestattet!<br />

Maisblume ist die wahre Schuldige, sie muss geopfert wer<strong>den</strong>, dann wird sich die Weissagung<br />

erfüllen!<br />

Cuauhtémoc kämpfte seit dem Krönungsfest am Südtor. Sein Hofstaat im Palast stand unter<br />

dem Schutz des Weiblichen Zwillings und etlicher Adler und Jaguare. Der Weibliche Zwilling ließ<br />

dem Hohepriester ausrichten: Wenn das erste Orakel sich irrte, könne auch das Zweite sich irren;<br />

darum verweigere er im Namen des Herrn <strong>der</strong> Welt <strong>den</strong> Opferpriestern die Königin. Als sich<br />

daraufhin erregtes Volk vor dem Palast zusammenscharte, traten Adler und Jaguare aus dem<br />

Portal.<br />

Vom Altan herab wandte sich <strong>der</strong> Weibliche Zwilling an die Kleinmütigen: »Schämt euch, o<br />

Mexica! Euer hoher König Cuauhtémoc, dem ihr noch vor wenigen Tagen zugejubelt habt, kämpft<br />

für euch gegen die gelbhaarigen Teufel. Geht nach Hause und schämt euch!«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 419<br />

Da verzog sich die Menge. Tlótli, <strong>der</strong> Sperber und Anstifter <strong>der</strong> Hetze gegen Maisblume,<br />

musste Königin Goldkolibri und ihrem Genossen Xoctemecl eingestehen, dass ihrer Rache noch<br />

kein Erfolg beschie<strong>den</strong> war.<br />

�<br />

Die von Al<strong>der</strong>ete verschuldete Nie<strong>der</strong>lage brannte schwer, und Sandovals Betrübtes Ende<br />

belastete alle. Die Wun<strong>den</strong> schmerzten, doch sie hatten keine Heilmittel mehr, nicht einmal<br />

Baumöl. Noch mehr aber schmerzten Zorn und Ohnmachtsgefühle. Zu keiner Stunde schwieg<br />

Cuauhtémocs heiliges Muschelhorn. Die Kartaunen, Feldschlangen und Musketen verstummten<br />

allmählich, weil das Pulver zu Ende ging. Der Abfall <strong>der</strong> indianischen Verbündeten hatte das Heer<br />

gefahrvoll dezimiert. Cortés wollte die kastilischen Frauen nach Tlaxcala schicken, doch diese<br />

wi<strong>der</strong>setzten sich: Es sei nicht die Art <strong>der</strong> spanischen Frauen, ihre Männer im Stich zu lassen; sie<br />

wollten Glück und Unglück mit ihnen teilen und, wenn es sein sollte, gemeinsam mit ihnen sterben.<br />

So musste fortan die conquistadora María de Estrada mit mancher Geschlechtsgenossin <strong>den</strong><br />

Waffenruhm teilen. Auch Pilar de Elgueta, die Gattin des Bogenschützen Pedro de Tirado, die<br />

Marketen<strong>der</strong>in Catalina Márquez, die man die Goldhyazinte nannte, Rosita Muños und sogar die<br />

hagere Rosario, Rodrigo Rangels Freundin, schnallten sich Harnische um, stülpten sich Helme<br />

o<strong>der</strong> Sturmhauben auf die Locken, wagten sich in die Scharmützel auf <strong>den</strong> Dämmen und fochten<br />

so kühn wie die Männer. Pilar de Elgueta schritt sogar für ihren von Mattigkeit übermannten Gatten<br />

nachts als Schildwache auf und ab, um ihm einige Stun<strong>den</strong> Schlaf zu ermöglichen. (Einst auf dem<br />

Weg nach Cempoala hatte er beim Tanz darüber nachgedacht, wie fe<strong>der</strong>leicht sie in seinen Armen<br />

lag.)<br />

<strong>Das</strong> Pulver war verschossen. Doch das schon legendäre und unwahrscheinliche Glück blieb<br />

Cortés auch jetzt treu und verschaffte ihm Schießpulver in Mengen. Vor Veracruz ging ein mit<br />

Waffen und Munition bela<strong>den</strong>es Schiff des Abenteurers Francisco de Montano vor Anker. Pedro<br />

Caballero, <strong>der</strong> Hafenkommandant, beschlagnahmte es kurzerhand, und kaum war die vom<br />

Baumorakel angekündigte Frist von zehn Tagen abgelaufen, erhielt das Christenheer völlig<br />

unerwartet reichlichen Nachschub. Heerscharen von tlamamas schleppten mehr Feuerwaffen und<br />

Pulver herbei, als die Spanier zu Beginn <strong>der</strong> Belagerung besessen hatten.<br />

Eine an<strong>der</strong>e Neuigkeit hätte sie nicht weniger froh gestimmt, wäre sie ihnen bekannt<br />

gewor<strong>den</strong>. Sendboten brachten dem Schlagen<strong>den</strong> Falken die enttäuschende Nachricht, dass das<br />

sehnlich erwartete Heer König Wassermar<strong>der</strong>s nicht marschieren würde. Da sich die laut<br />

verkündete Prophezeiung des Nopalbaum-Orakels nicht erfüllte, zöge <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Alten es vor,<br />

seine Krieger in Michuacan zu belassen.<br />

Auch die meisten Krieger <strong>der</strong> Hilfsvölker kehrten zu Cortés <strong>zur</strong>ück. Beschämt und reumütig<br />

erschienen zuerst die Tlaxcalteken; dann fan<strong>den</strong> sich nach und nach alle an<strong>der</strong>en Hilfsvölker<br />

wie<strong>der</strong> ein und erklärten sich bereit, weiter gegen Mexico zu kämpfen.<br />

Zugleich traf eine seltsame Botschaft aus dem Sü<strong>den</strong> Anahuacs bei Cortés ein. Ein<br />

totonakischer Entenjäger überbrachte <strong>den</strong> auf Spanisch verfassten Brief des Gefleckten<br />

Berglöwen. Er bot Cortés Hilfe gegen Cuauhtémoc an, machte jedoch <strong>zur</strong> Bedingung, dass nach<br />

<strong>der</strong> Einnahme Tenochtitláns die Beute zu gleichen Teilen zwischen dem Sklavenheer und dem<br />

Christenheer geteilt werde. Cortés rief Olíd, Tapia, Pater Olmedo und Aguilár zu sich und las ihnen<br />

<strong>den</strong> Brief vor.<br />

»Dieser Renegat fängt an, Kompromisse zu machen, um einen Vorteil herauszuholen«,<br />

sagte er dann. »Er will vielleicht auch als reumütiger Christ en<strong>den</strong>!«<br />

»Darum sollte man ihm gol<strong>den</strong>e Brücken bauen«, riet Pater Olmedo, »und <strong>den</strong> Teufel um<br />

eine Seele betrügen.«<br />

Tapia war empört. »Ich hoffe, Don Hernándo, dass Ihr dem Teufel lassen werdet, was des<br />

Teufels ist! Keine Antwort ist die einzig mögliche Antwort. Dieser Matrose klopft Euch wohlwollend<br />

auf die Schulter, Don Hernándo, und er spricht von seinem Diebesgesindel, als wäre kein<br />

Unterschied zwischen diesem Haufen und unserem Heer!«<br />

Olíd war an<strong>der</strong>er Meinung; er wollte paktieren. »Señores, wir können es uns nicht leisten,<br />

eine willkommene Hilfe abzuschlagen. Lassen wir sie uns gefallen. Was die Bedingung anbelangt,<br />

sind wir dem Erzgauner nicht verpflichtet und brauchen sie nicht einzuhalten. Zuerst müssen wir


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 420<br />

sowieso die Beute einmal haben! Kommt es dann <strong>zur</strong> Teilung, wer<strong>den</strong> wir <strong>den</strong> Halunken höflich<br />

ersuchen, die Ansprüche zu ermäßigen, an<strong>der</strong>nfalls wir mit ihm und seinem Sklavenpack kurzen<br />

Prozess machen!«<br />

»Halunken?«, fuhr Aguilár auf, und seine hohlen Wangen röteten sich. »Nein, Don<br />

Christóbal, mit einem Schimpfwort erledigt man Leute vom Schlage des Gefleckten Berglöwen<br />

nicht! Und man än<strong>der</strong>t auch die Welt nicht! Die Welt und <strong>der</strong> Gefleckte Berglöwe gehören<br />

zusammen – so wie Eisen und Rost zusammengehören! Wir Menschen sind schuld, wenn das<br />

Eisen nicht blank bleibt, wenn es an Rost erkrankt.«<br />

»Ach, eine Krankheit nennt Ihr es?«, fragte Cortés.<br />

»Ja, eine Krankheit«, fuhr Aguilár fort. »Auch <strong>der</strong> eigensinnige Mensch Gonzalo Guerrero ist<br />

gottgewollt – mag es Euch lieb sein o<strong>der</strong> leid! Sieben Jahre lang habe ich an seiner Seite gelebt.<br />

Er war we<strong>der</strong> gut noch schlecht; aber er verzieh <strong>der</strong> Menschheit <strong>den</strong> Spruch Navigare necesse est<br />

nicht. So ist es in <strong>der</strong> Welt seit Abel und Kain. Solange es Sklavenhalter gibt, wird <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand<br />

<strong>der</strong> Sklaven – offen o<strong>der</strong> heimlich – nicht aus <strong>der</strong> Welt schwin<strong>den</strong>.«<br />

»Fraile, Ihr habt Recht, wenn Ihr meint, dass Guerrero kein Halunke sein muss, auch wenn<br />

er ein Schädling ist«, sagte Cortés. »Nur dass er und seinesgleichen gottgewollt sind, bezweifle ich<br />

doch sehr. Nehmt eine einzelne Heuschrecke in die Hand – welch ein zierliches und sauberes<br />

Tier! Wenn Ihr aber einen Heuschreckenschwarm auf <strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>ung gesehen habt, so mag Euch<br />

vielleicht schon <strong>der</strong> Gedanke gekommen sein, dass da ein Teufel am Werk ist, <strong>der</strong> in<br />

Heuschreckengestalt die Erde kahl fressen will. Mit Guerrero gibt es kein Paktieren. Ich werde ihm<br />

einen Absagebrief schreiben.«<br />

»Die Folge wird sein, Don Hernándo, dass er Cuauhtémoc seine Hilfe anbietet!«, sagte Olíd.<br />

�<br />

Olíd behielt Recht. Der Gefleckte Berglöwe wandte sich an Cuauhtémoc. Die Mexica, vom<br />

Michuakenkönig Wassermar<strong>der</strong> im Stich gelassen, lehnten die anrüchige Bundesgenossenschaft<br />

nicht ab. Aber Cortés wäre nicht Cortés gewesen, hätte er tatenlos zugesehen. Obgleich sich erst<br />

ein geringer Teil <strong>der</strong> Tlaxcala, Otomis und an<strong>der</strong>er Verbündeten wie<strong>der</strong> eingefun<strong>den</strong> hatte,<br />

beschloss er, Andrés de Tapia mit achtzig kastilischen Fußsoldaten, zehn Reitern und achttausend<br />

Indianern dem Gefleckten Berglöwen nach Sü<strong>den</strong> entgegenzuschicken.<br />

Al<strong>der</strong>ete, <strong>der</strong> sich nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage schuldbewusst kaum hatte blicken lassen, wagte sich<br />

hervor und machte höfliche Vorhaltungen.<br />

»In unserer prekären Lage, Don Hernándo, erscheint mir die Entsendung Tapias wie...«<br />

Da er stockte, fiel Cortés ihm ins Wort:<br />

»Ja, ja, Don Juliano, ich weiß. Wie ein Wahnsinn, wollt Ihr sagen? Ich kannte in Sevilla einen<br />

von Gläubigern bedrängten Grafen, <strong>der</strong> sich nur dadurch rettete, dass er ein großes Gastmahl<br />

gab. Je schwächer wir sind, umso mehr müssen wir uns <strong>den</strong> Anschein geben, stark zu sein!«<br />

Tapia kehrte zwei Wochen später <strong>zur</strong>ück. Er hatte dem Sklavenheer in einer Feldschlacht<br />

große Verluste beigebracht und das Gebiet von <strong>den</strong> Aufständischen gesäubert. Der Gefleckte<br />

Berglöwe war in die Gegend um Amecameca ausgewichen, wo er seine versprengten Leute<br />

wie<strong>der</strong> sammeln konnte, und zog mit ihnen in weitem Bogen weiter nordwestwärts um <strong>den</strong><br />

Xochimilco-See herum und durchbrach bei Chapultepec mit seiner Räuberhorde die Postenkette<br />

<strong>der</strong> Belagerer. In Tenochtitlán hielt ihn das jubelnde Volk für einen Mayafürsten. Der Schlagende<br />

Falke empfing <strong>den</strong> Gefleckten Berglöwen im Kreise seiner Berater. Der König <strong>der</strong> Sklaven sagte<br />

stolz und herausfor<strong>der</strong>nd zum König <strong>der</strong> Azteken:<br />

»Ich hasse die Sieger und liebe die Besiegten! Ich hasse die Christen ebenso wie du! Ich<br />

hasse <strong>den</strong> Krieg, obgleich er uns zu Freun<strong>den</strong> macht!«<br />

Undurchsichtig lächelnd, hatte Cuauhtémoc zugehört.<br />

»Ich liebe die Kühnheit, auch wenn sie <strong>der</strong> Prunk entlaufener Sklaven ist«, gab er <strong>zur</strong><br />

Antwort. »Ich liebe <strong>den</strong> Krieg, obgleich er mich verschlingen wird! Aber Mexico ist noch nicht<br />

besiegt. Bist du gekommen, uns zu retten? Wenn du mit uns sterben willst, sei willkommen.«<br />

»Ich will mit euch sterben«, sagte <strong>der</strong> Gefleckte Berglöwe.<br />

Da fuhr Cuauhtémoc wütend auf:<br />

»Du lügst! Du glaubst, Mexico sei bereits eine Leiche! Wie ein Geier willst du dich


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 421<br />

nie<strong>der</strong>lassen, uns mit Krallenhieben die Augen aushöhlen, unser Fleisch und unsere Sehnen von<br />

<strong>den</strong> Knochen hacken!« Auf ein Zeichen des Königs wurde <strong>der</strong> Gefleckte Berglöwe von <strong>der</strong><br />

Leibwache überwältigt. Sie ban<strong>den</strong> ihm die Hände auf <strong>den</strong> Rücken und schnitten ihm <strong>den</strong><br />

Haarschopf ab, das Abzeichen <strong>der</strong> Krieger. Der Gefleckte Berglöwe bat nicht um Gnade.<br />

Felsenschlange sagte zum Schlagen<strong>den</strong> Falken: »Der Gefleckte Berglöwe hat uns einst in<br />

<strong>der</strong> Höhle <strong>der</strong> toten Tepanekenkönige vor Moctezuma verborgen. Ge<strong>den</strong>ke des Zauberers<br />

Sacusín, mein Bru<strong>der</strong>, <strong>der</strong> euer bei<strong>der</strong> Freund war!«<br />

»Um des Zauberers willen würde ich ihn begnadigen«, erwi<strong>der</strong>te Cuauhtémoc, »aber er hat<br />

auch unser Vertrauen missbraucht. Um Mexicos willen soll dieser Sklave daher Tezcatlipoca<br />

geopfert wer<strong>den</strong> und, die Flöte spielend, durch die Gassen Tenochtitláns ziehen, bis das alte Jahr<br />

dem neuen weicht!«<br />

»Du hast es mich eben gelehrt!«, rief Gonzalo Guerrero, »heimtückisch wie ein König und<br />

großmütig wie ein König, <strong>den</strong>n das neue Jahr wird Mexico nicht mehr erleben, die Käfige aber<br />

wer<strong>den</strong> sich öffnen! Dann wer<strong>den</strong> wir abrechnen – wir Sklaven mit euch Herren!«<br />

Er wurde abgeführt und auf dem Tempelgelände in einen Holzkäfig gesperrt.<br />

Den Sklaven blieb die Gefangennahme ihres Führers nicht lange verborgen. Sie stürmten<br />

<strong>den</strong> Tempel und befreiten <strong>den</strong> Gefleckten Berglöwen. Aufgebracht zogen sie zum Kopalmarkt. Viel<br />

nie<strong>der</strong>es Volk gesellte sich neugierig hinzu. Der Gefleckte Berglöwe stieg auf eine umgeworfene<br />

Marktbude und rief <strong>den</strong> Gaffen<strong>den</strong> zu:<br />

»Warum lasst ihr euch von <strong>den</strong> Azteken knechten, ihr Chichimeken und Otomis? Sie kamen<br />

aus dem Land <strong>der</strong> Reiher, während ihr auf <strong>den</strong> Inseln und Ufern des Schilfsees schon seit<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ten wohnt! Früher als jene nahmt ihr vom Land hier und vom See Besitz und wart die<br />

Herren, bis sie euch Land und Wasser wegnahmen und zu Knechten, sich selbst aber zu Adligen<br />

machten. Jetzt sind die Adligen reich und ihr seid arm. Jetzt, wo ihr hungert, haben sie noch immer<br />

Speise und Trank. Kriege machten die Azteken reich, darum wollen sie immer wie<strong>der</strong> Krieg. Wir<br />

aber wollen keinen Krieg! Wenn wir zu <strong>den</strong> Waffen greifen, so tun wir es aus Not und<br />

Verzweiflung. Unsere Feinde sind nicht die Frem<strong>den</strong>, unsere Feinde sind die Aussauger des<br />

Volkes. Wir wollen die Azteken totschlagen und mit <strong>den</strong> Frem<strong>den</strong> Frie<strong>den</strong> schließen!«<br />

Seine Rede war immer wie<strong>der</strong> von Beifall unterbrochen wor<strong>den</strong>. Jetzt brandete ein<br />

tausendfach zustimmendes Echo auf. »Jawohl, so ist es!«, tönte es aus <strong>der</strong> Menge, »wir haben<br />

genug von Krieg und Not!« – »Holen wir uns, was man uns gestohlen hat!« – »Schlagt die<br />

Blutsauger tot!«<br />

Arme und Notlei<strong>den</strong>de, Benachteiligte und Betrogene, vergrämte, zerlumpte, hohläugige,<br />

von Hunger ausgemergelte Gestalten, aber auch Gesindel und Verbrecher schlossen sich dem<br />

Sklavenheer an. Sie drangen in die Häuser <strong>der</strong> Reichen, <strong>der</strong> Handelsherren, <strong>der</strong> Wür<strong>den</strong>träger<br />

und Staatsbeamten ein. Da die Adler und Jaguare Mexicos auf <strong>den</strong> Dammwegen die Angriffe <strong>der</strong><br />

Christen abwehren mussten, war die innere Stadt wehrlos <strong>der</strong> Rache und Raubgier des Pöbels<br />

preisgegeben.<br />

Die Erbitterung des Volkes richtete sich beson<strong>der</strong>s gegen die Kriegspartei. Sie erwischten<br />

die Herrin von Tula, holten sie aus ihrem Palast, misshandelten sie, fesselten sie an einen<br />

Yuccabaum und schossen so lange mit Pfeilen nach ihr, bis sie <strong>den</strong> Geist aufgab. Einem ähnlichen<br />

Schicksal entging <strong>der</strong> reiche Kaufherr Tlótli, <strong>der</strong> Sperber nur dadurch, weil er beim Herannahen<br />

<strong>der</strong> wüten<strong>den</strong> Menge Gold, Schmucksachen und Edelfe<strong>der</strong>n vom Dach seines Tecpans<br />

hinunterwarf. Da hörten die Sklaven auf, <strong>den</strong> verrammelten Haupteingang aufzubrechen und<br />

prügelten sich um die Kostbarkeiten. Der Sperber entschlüpfte mit Königin Goldkolibri und<br />

Xoctemecl durch eine hintere Tür aus dem Tecpan. Sie sprangen in <strong>den</strong> Kanal, schwammen, bis<br />

sie <strong>den</strong> Schilfsee erreichten, und versteckten sich im Schilf. Zwei Tage und Nächte stan<strong>den</strong> sie bis<br />

an <strong>den</strong> Hals im Wasser. Schließlich fan<strong>den</strong> sie ein leeres Boot und ru<strong>der</strong>ten, unterkühlt und halb<br />

wahnsinnig vor Hunger und Angst, <strong>zur</strong> Festung Acachinanco hinüber. Dort wur<strong>den</strong> sie von<br />

Tlaxcalteken gefangen genommen. Sie gaben sich als vornehme Überläufer aus und baten, man<br />

möge sie vor Cortés führen, weil sie Wichtiges mitzuteilen hätten.<br />

In seinem Quartier empfing Cortés die Königin von Tezcoco mit ihren bei<strong>den</strong> Getreuen in<br />

Gegenwart von Blaue Fe<strong>der</strong> und Marina. Scha<strong>den</strong>froh beobachtete Blaue Fe<strong>der</strong> die Demütigung<br />

seiner Schwägerin, die ihm schon immer zuwi<strong>der</strong> war. Doch als sie schluchzend vom qualvollen<br />

Tod seiner Mutter erzählte, trauerte auch er. Marina und Cortés wollten ihn trösten, aber er


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 422<br />

schüttelte <strong>den</strong> Kopf und sagte:<br />

»Sie hat mich verflucht, weil ich Christ wurde. Aber ich weiß, dass sie mich liebte. Nun hat<br />

sie <strong>den</strong> Fluch nicht <strong>zur</strong>ücknehmen können.«<br />

Marina blickte zu Cortés hinüber. Mit kindlichem Gemüt glaubte dieser Häuptling tatsächlich<br />

noch an <strong>den</strong> Segen, <strong>den</strong> das Christentum Mexico bringen sollte...<br />

Juan Varela, Oberkoch und Tafelmeister, durfte mit seinen Künsten Staat machen und <strong>den</strong><br />

ausgehungerten Gästen ein köstliches Mittagsmahl vorsetzen; auch mit Wein wurde nicht gegeizt.<br />

<strong>Das</strong> lockerte die Zungen. Goldkolibri wurde gesprächig, Purpurkranich geschwätzig. Und auch <strong>der</strong><br />

schwerfällige Tlótli gab seine steinerne Stummheit auf. Er hatte in <strong>den</strong> zwei Tagen, nachdem er<br />

seine Kostbarkeiten fortgeworfen und nur sein nacktes Leben gerettet hatte, vollständig die<br />

Gesinnung gewechselt. War er vorher ein eifriger Patriot, hetzte er jetzt gegen das vom Pöbel<br />

besetzte Mexico. Er hatte gegen alle Frie<strong>den</strong>sangebote gewettert, aber jetzt erhoffte er sein Heil<br />

von einem baldigen Kriegsende – sei es, dass Mexico freiwillig Frie<strong>den</strong> schließe, sei es, dass es<br />

zum Frie<strong>den</strong>sschluss gezwungen werde. Er hatte die Frem<strong>den</strong> über alle Maßen verabscheut, jetzt<br />

lobhudelte und schmeichelte er ihnen in <strong>der</strong> Erwartung, dass sie die Herrschaft des Pöbels in<br />

Tenochtitlán beseitigten und <strong>den</strong> Adel und die Händler wie<strong>der</strong> in ihre Rechte einsetzten. Um<br />

dieses Ziel zu erreichen, war ihm jedes Mittel recht.<br />

Goldkolibri und Purpurkranich berichteten, dass die gefangenen Kastilier, Tlaxcalteken sowie<br />

sechs Pferde Huitzilopochtli und Tlaloc geopfert wur<strong>den</strong>, sprachen über die große Hungersnot, die<br />

das Volk zwinge, sich von Ratten und Baumrin<strong>den</strong> zu ernähren, erzählten von <strong>den</strong> ungeheuren<br />

Kriegsverlusten und <strong>der</strong> durch Krankheiten verursachten Sterblichkeit. Die Tage Tenochtitláns<br />

seien gezählt. Der Sperber sagte, am Zusammenbruch sei <strong>der</strong> Schlagende Falke schuld. Der<br />

König könne sich gegen seine Wi<strong>der</strong>sacher im Priesteradel nicht durchsetzen und stütze sich auf<br />

das Volk. Darum habe er die Sklaven in die Stadt gerufen. Der Tod <strong>der</strong> Herrin von Tula und <strong>der</strong><br />

Angriff auf seinen (des Sperbers) Tecpan offenbare ja, wer <strong>der</strong> Anstifter sei. Wenn man erst allen<br />

Wohlhaben<strong>den</strong> das Gold abgenommen habe, werde <strong>der</strong> König auch <strong>den</strong> Armen ihren geringen<br />

Besitz wegnehmen und vor <strong>der</strong> Übergabe <strong>der</strong> Stadt entfliehen. <strong>Das</strong> müsse unter allen Umstän<strong>den</strong><br />

verhin<strong>der</strong>t wer<strong>den</strong>. Cortés solle alle Kanäle <strong>der</strong> Stadt abriegeln, damit er nicht entweichen könne.<br />

Die Schließung <strong>der</strong> Kanäle werde auch am sichersten und schnellsten <strong>den</strong> Mut <strong>der</strong> Verteidiger<br />

brechen und das Ende herbeiführen.<br />

Cortés sagte auf Spanisch zu Marina:<br />

»Was so ein Lump leichten Herzens ersinnt...«<br />

»Lass dies Scheusal hängen, Hernándo, er ist ein ehrloser Verräter!«<br />

»Nein, Marina. Ich werde ihn zum König von Tlatelolco machen. Denn noch niemand gab mir<br />

einen so teuflisch guten Rat wie er.«<br />

»Er ist <strong>der</strong> Judas Mexicos! Erniedrige dich nicht, Hernándo, mach keinen Pakt mit ihm. Er<br />

hat <strong>den</strong> Tod verdient!«<br />

»Ja, Marina, er hat ihn verdient. Aber auch die Römer haben sich des Judas bedient. Der<br />

Sperber wird uns Tlatelolco ausliefern. <strong>Das</strong> kostet mich keine 30 Silberlinge.«<br />

»Ich sehe Mexico sterben, sehe die Stadt am Kolbenrohr in Schutt und Asche sinken –<br />

welches Unglück bringen wir über die Leute...«<br />

»Ja, so wird es wohl kommen: Schutt und Asche, Marina.«<br />

»Zu Al<strong>der</strong>ete hast du neulich gesagt, dass du diese schöne Stadt vor dem Schlimmsten<br />

bewahren wolltest.«<br />

»<strong>Das</strong> will ich immer noch, aber oft sind die Umstände stärker als <strong>der</strong> Wille. Werde ich unsere<br />

roten Verbündeten <strong>zur</strong>ückhalten können? Aber so o<strong>der</strong> so – ich muss die Stadt haben, Marina!«<br />

»Du wirst sie bekommen und mich verlieren!«<br />

»Habe ich dich schon verloren, Marina?«<br />

Er sagte es wie im Scherz. Blaue Fe<strong>der</strong> lächelte verlegen, da er das Wortgeplänkel nicht<br />

verstand, doch Marinas Augen schimmerten feucht, und Cortés bereute seine Worte sofort.<br />

»Damit du mir keine Vorwürfe machen kannst«, sagte er eindringlich, »und ich mir selbst<br />

auch nicht, will ich Cuauhtémoc ein letztes Mal <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong> anbieten. Er soll entschei<strong>den</strong>, ob die<br />

Kanäle weiter belebt o<strong>der</strong> zugeschüttet wer<strong>den</strong>, ob die Wasserstadt eine Wasserstadt bleibt! Wenn<br />

er wie<strong>der</strong> ablehnt, dann ist er <strong>der</strong> Gleichmacher, <strong>der</strong> alles dem Erdbo<strong>den</strong> gleichmacht, nicht ich!«<br />

Bleich murmelte Marina: »We<strong>der</strong> er noch du! Ich bin die Zerstörerin! Ohne mich wärt ihr


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 423<br />

niemals hierher gekommen...« Traurig wandte sie sich um und ging hinaus.<br />

Am Abend hielt Rodrigo Rangel an Cortés diese Ansprache:<br />

»Euer Lieb<strong>den</strong> haben von <strong>der</strong> Königinwitwe von Tezcoco vernommen, dass die Mexica<br />

sechs unserer Rosse auf Blutaltären geopfert haben (gerade, als ob es Menschen wären!); Motilla<br />

aber, des edlen Sandoval Streitross, haben sie zum Gott gemacht, haben ihm göttliche Ehren<br />

teilhaftig wer<strong>den</strong> lassen (was doch sonst nur mit Menschen zu geschehen pflegt) und Gold zu<br />

fressen gegeben – pures Gold. Mit welchem Erfolg? Der arme Motilla ist trotz des Goldes an<br />

Hunger gestorben! Man <strong>den</strong>ke!... Ist es überhaupt <strong>den</strong>kbar? Ist es zu begreifen? Man steckt bis an<br />

die Ohren in Gold und verhungert. Als wären Gras und Getreide wichtiger für das Leben als Gold.<br />

Eine so nüchterne Lebensauffassung hätte ich einem Pferd gar nicht zugetraut.«<br />

So sprach Rodrigo Rangel.<br />

�<br />

Regen klatschte an die zinnengekrönten Außenmauern des Palasts und rann über die gemeißelten<br />

Spukgestalten <strong>der</strong> Basreliefs zu Bo<strong>den</strong>. Wie graue Laken hingen Wolkenfetzen am Himmel, und<br />

aschgrau senkte sich das Morgenlicht durch die mit dünnen Alabasterscheiben gedeckten<br />

Lichtöffnungen in die Säle und Kammern hinunter.<br />

Zwei Frauen kämmten Königin Maisblume. Sie saß auf einem bestickten gelbroten Kissen;<br />

ihr reiches, schweres Haar floss über Schulter und Rücken. Kienfackeln brannten in<br />

Doppelleuchtern, <strong>den</strong>n zu matt war das Morgenlicht; die flackern<strong>den</strong> Flämmchen spiegelten sich<br />

im schwarz glänzen<strong>den</strong> Haar. Schritte im Nebensaal und das Klirren gol<strong>den</strong>er Sandalenglöckchen<br />

waren zu vernehmen. Der König nahte. Maisblume entließ ihre Frauen.<br />

Während sie sich entfernten, trat er ein – mit Schild, Sägeschwert und Speerbündel<br />

bewaffnet, die dunkelrote Fe<strong>der</strong>krone auf <strong>der</strong> Stirn. Er kam, um sich von ihr zu verabschie<strong>den</strong>, wie<br />

er es je<strong>den</strong> Morgen tat, bevor er in die Schlacht zog. Denn je<strong>der</strong> Morgen konnte <strong>der</strong> Letzte sein.<br />

Die Gefahr des Sklavenaufstands war beseitigt: Felsenschlange und <strong>der</strong> Durch-Wohlgestalt-<br />

Glänzende hatten die Plün<strong>der</strong>er überwältigt und nie<strong>der</strong>gemacht; mit einem kleinen Rest des<br />

Sklavenheeres war <strong>der</strong> Gefleckte Berglöwe aus <strong>der</strong> Stadt entkommen. Doch eine an<strong>der</strong>e Sorge<br />

bedrückte <strong>den</strong> König. Maisblume merkte, dass ihn etwas bedrückte. Sie fragte, und er erzählte<br />

vom Kronrat, <strong>der</strong> die ganze Nacht getagt hatte. Die Befürworter des Frie<strong>den</strong>s waren überstimmt<br />

wor<strong>den</strong>. Aber noch war das neueste Frie<strong>den</strong>sangebot nicht beantwortet, war die Antwort an <strong>den</strong><br />

Grünen Stein nicht abgeschickt wor<strong>den</strong>. Sein Gewissen sträubte sich, es abzulehnen; es<br />

anzunehmen, sträubte sich sein Stolz.<br />

Da warf Maisblume sich vor ihm zu Bo<strong>den</strong>, lag ausgestreckt zu seinen Füßen und schlug mit<br />

<strong>der</strong> Stirn auf die Marmorfliesen. Ihr ärmelloses, weißes Entenfe<strong>der</strong>hemd war beim Fall<br />

emporgeglitten und ließ <strong>den</strong> linken, kindlich mageren Schenkel sehen. Auch die Königin war vom<br />

Hunger abgezehrt. Ihre Finger krampften sich um seine Türkissandalen.<br />

»Opfere mich!«, rief sie. »Opfere mich!«<br />

Er kniete neben ihr nie<strong>der</strong> und richtete sie auf, strich ihr übers Haar, umfasste sie und<br />

drückte sie an sich. Leise sagte er:<br />

»Mictlantecutli, <strong>der</strong> Totengott, trägt uns beide auf seinem Rücken. Ohne mich kannst du<br />

nicht sterben!«<br />

»Aber ich bin dein Ver<strong>der</strong>ben! Ich bin Mexicos Untergang!«, schluchzte sie. »Huitzilopochtlis<br />

Knecht sagt, <strong>der</strong> Himmel grollt, weil du mich schonst!«<br />

»Retten lässt Mexico sich nicht mehr, auch nicht durch deinen Tod«, sagte er. »Retten lässt<br />

sich nur Mexicos Bild und An<strong>den</strong>ken. <strong>Das</strong> ist es, was wir verteidigen. Die Erinnerung an Mexico ist<br />

nicht sterblich, sie wird fortleben.«<br />

»Wehe um mein An<strong>den</strong>ken«, schluchzte Maisblume. »Von Hand zu Hand ging mein Leib wie<br />

eine Goldmünze. Ich war Cacama anverlobt, dann dir, aber heiraten musste ich meinen Bru<strong>der</strong>,<br />

<strong>den</strong> Von-Göttern-Beschirmten. De Grado, ein gelbhaariges Ungeheuer, hat mich begehrt. Ich war<br />

die Gemahlin Cuitlahuacs, meines Onkels, dann des Gallejo, und ich musste die Mätresse Olíds<br />

sein. Nun, da unser Volk verloren ist, gehöre ich dir – aber ich bin auch verloren. Mictlantecutli soll<br />

mein Gemahl sein, nicht du!«<br />

Da küsste er ihr die Tränen von <strong>den</strong> Augen und sagte lächelend:


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 424<br />

»Ich bin Mictlantecutli, <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Totenwelt. Ich herrsche bereits über Tote und bin selbst<br />

ein Toter! Und auch du, mein Weib, bist eine Tote! Den Nachkommen hinterlassen wir unser Bild.<br />

Sollen sie einst sagen, dass Mexico und sein letzter König zu klein für ihr großes Schicksal waren?<br />

Sie wer<strong>den</strong> es nicht sagen! Preisen wer<strong>den</strong> sie uns<br />

und auch dich! Rein ist dein Bild, <strong>den</strong>n dein Herz<br />

ging nicht von Hand zu Hand. Dein Herz ist stark wie<br />

meines!«<br />

Er wird dem Grünen Stein keine Antwort<br />

geben.<br />

Totengott Mictlantecutli.<br />

(Aztekische Tonfigur, Templo Mayor in Mexico City.)<br />

�<br />

Haus für Haus rissen die Belagerer nie<strong>der</strong>.<br />

Mauertrümmer, Ziegel, Steine, Ze<strong>der</strong>balken,<br />

Hausgerät, auch unbeerdigte Aztekenleichen füllten<br />

die Kanäle. Stetig, wenn auch langsam, schritt das<br />

Zerstörungswerk voran. Je<strong>den</strong> Morgen drangen die<br />

Kastilier von Acachinanco und Tacuba aus weiter ins<br />

Innere <strong>der</strong> Stadt vor, verwickelten <strong>den</strong> Feind in<br />

Kämpfe und lenkten ihn von <strong>den</strong> Verwüstungen in<br />

ihrem Rücken ab. Dort rissen die Krieger <strong>der</strong> Blauen<br />

Fe<strong>der</strong> von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nie<strong>der</strong>, was von Menschenhän<strong>den</strong> in langen<br />

Zeitläufen – Generation um Generation – wun<strong>der</strong>sam und einmalig schön auf dem Schilfsee<br />

geschaffen wor<strong>den</strong> war. Doch selbst Vernichtung bedarf <strong>der</strong> Zeit. Und obgleich Tausende<br />

Tlaxcala, Otomis und Totonaken in wil<strong>der</strong> Begeisterung keine Mühe scheuten, die verhasste<br />

Zwingburg Tenochtitlán zu schleifen, vergingen vier Wochen, bevor die Stadtteile Moyotla und<br />

Teopan im Sü<strong>den</strong> und Cuepopan im Nordwesten in Trümmerfel<strong>der</strong> verwandelt waren; trotzig<br />

reckten sich nur einige schier unverwüstliche Tempelriesen und brandgeschwärzte Palastmauern<br />

empor.<br />

<strong>Das</strong> Volk hatte sich mit seinen Götterbil<strong>der</strong>n in die nördlichen Stadtteile geflüchtet; Schritt für<br />

Schritt mussten sie vor dem Verhängnis <strong>zur</strong>ückweichen, wur<strong>den</strong> sie aus dem toten Tenochtitlán<br />

ins sterbende Tlatelolco gedrängt. Die <strong>Geschichte</strong> Mexicos begann mit Tlatelolco, die <strong>Geschichte</strong><br />

Mexicos endete mit Tlatelolco – bedrängt von <strong>der</strong> Habgier weißer Eroberer und ausgesetzt dem<br />

Dul<strong>der</strong>starrsinn seiner Verteidiger.<br />

Als Cortés eines Morgens sein Heer aus Acachinanco in die Ruinen <strong>der</strong> versinken<strong>den</strong> Stadt<br />

führte, erschwerten feiner Sprühregen und wolkiger Seenebel die Fernsicht. Von <strong>den</strong> siebzig<br />

Teocalli Tenochtitláns stan<strong>den</strong> einige noch aufrecht, doch auf <strong>den</strong> Türmen <strong>der</strong> meisten Sanktuare<br />

wehten schon die Fahnen des Kreuzes. Die Silhouetten <strong>der</strong> himmelwärts streben<strong>den</strong>, sich<br />

verjüngen<strong>den</strong> Tempelterrassen hoben sich matt und bläulichgrau vom weißen Nebel ab. Im<br />

Hintergrund erhob sich <strong>der</strong> Schatten <strong>der</strong> Großen Stufenpyramide von Tlatelolco.<br />

»Señor Capitán, schaut!«, rief einer <strong>der</strong> Armbrustschützen hinter ihm, »die Pyramide<br />

brennt!«<br />

Da sah es auch Cortés: Auf <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> Pyramide flackerte ein Feuer. Klein erst, wurde es<br />

rasch größer, und bald leckte eine Stichflamme zu <strong>den</strong> tiefhängen<strong>den</strong> Wolken empor.<br />

Tezcatlipocas Heiligtum brannte! <strong>Das</strong> konnte nur Alvarado sein! Er war in Tlatelolco eingedrungen!<br />

»Vorwärts!«, rief Cortés. »Mit Gott und Sankt Jago!«, und er ließ <strong>den</strong> Trompeter Sebastián<br />

Rodríguez auf seiner lilienförmigen Kupfertrompete das Angriffssignal blasen.<br />

Zwei Stun<strong>den</strong> später trafen beide Christenheere auf dem Marktplatz von Tlatelolco<br />

zusammen. Alvarado und Cortés umarmten und küssten einan<strong>der</strong>, und die Soldaten riefen:


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 425<br />

Victoria! – Sankt Jago und <strong>der</strong> Santissima Virgen sei Dank! Ringsum auf <strong>den</strong> Dächern stan<strong>den</strong><br />

und hockten die von Alvarado geschlagenen Adler und Jaguare und schauten demoralisiert auf die<br />

jubeln<strong>den</strong> Eindringlinge hinunter.<br />

»Wir müssen nach oben, Señor Capitán«, sagte Alvarado zu Cortés und machte eine<br />

Handbewegung <strong>zur</strong> Tempelspitze. Als <strong>der</strong> Generalkapitän ihn fragend ansah, fügte er hinzu:<br />

»Unsere Kamera<strong>den</strong>...«<br />

Cortés stieg mit ihm mehrere Terrassen <strong>der</strong> großen Stufenpyramide hinauf. In die mit<br />

Ze<strong>der</strong>ngetäfer ausgekleidete Kapelle hatte Alvarado die Zündfackel geschleu<strong>der</strong>t. <strong>Das</strong> Sanktuar<br />

war ausgebrannt, doch die unteren Stockwerke blieben unversehrt. Als sie die zweite<br />

Terrassenstufe erstiegen hatten, stan<strong>den</strong> sie plötzlich vor Lanzen mit aufgespießten Köpfen.<br />

Zwanzig Kastilier und drei Pferde starrten mit toten Augen auf ihren Befehlshaber, <strong>der</strong> sie nach<br />

Mexico geführt hatte.<br />

Tiefe Trauer überkam ihn. Tränen rollten ihm und seinen Begleitern über die Wangen. Sie<br />

erkannten viele ihrer Kamera<strong>den</strong> – manche freilich, von Aasgeiern benagt, waren nicht mehr<br />

i<strong>den</strong>tifizieren.<br />

�<br />

Am Abend hielt Rodrigo Rangel wie<strong>der</strong> eine Ansprache:<br />

»Euer Lieb<strong>den</strong>, erschreckt nicht vor dem Pestgeruch. Er kann nicht geleugnet<br />

wer<strong>den</strong>, da alle ihn wahrnehmen. Doch so ist nun einmal <strong>der</strong> Krieg. Ihr dürft mit <strong>der</strong><br />

Arbeit Eurer Verbündeten zufrie<strong>den</strong> sein, sie ist bewun<strong>der</strong>ungswürdig. <strong>Das</strong> bringen nur<br />

naturales fertig: So alles nie<strong>der</strong><strong>zur</strong>eißen, alles gleich und eben zu machen, nicht um<br />

etwa das Niedrige zu erhöhen, son<strong>der</strong>n um das Hohe niedriger zu machen. Sie sind<br />

Meister <strong>der</strong> Verwüstungskunst! Habt Ihr gehört, was die Azteken ihnen <strong>zur</strong>ufen? ›Zerstört nur<br />

unsere Stadt. Ihr werdet alles als unsere Sklaven wie<strong>der</strong> aufbauen müssen!‹ Aber ich fürchte, die<br />

Aztekenhäuptlinge gehen unter, weil sie nur noch für ihren Ruhm kämpfen. Was aber ist Ruhm?<br />

Der Fortklang eines Namens. Wie aber sollen Namen fortklingen, die unaussprechbar sind? Einer<br />

ihrer besten Hel<strong>den</strong> heißt Mixcoatlaylotlacauelitoctzin. Versucht nicht, das nachzusprechen, es<br />

würde Euch nie gelingen. Ohnehin wird die Vergessenheit <strong>der</strong> Lohn <strong>der</strong> Azteken sein, mögen sie<br />

noch so viele Wun<strong>der</strong> <strong>der</strong> Tapferkeit vollbringen. Ich glaube, Ihr bewun<strong>der</strong>t sie auch, Señor. Recht<br />

so! Man ehrt sich, wenn man <strong>den</strong> Feind ehrt! Wir sind die Sieger, Señor Capitán. Ihr könnt<br />

zufrie<strong>den</strong> sein: Ihr habt keine halbe Arbeit getan. So ist nun einmal <strong>der</strong> Krieg, und man muss es<br />

hinnehmen. Ich weiß, dass die Welt sich nicht än<strong>der</strong>n lässt und dass <strong>der</strong> Krieg <strong>der</strong> Vater aller<br />

Dinge ist. Ich mache ja auch <strong>den</strong> Azteken keinen Vorwurf. Warum wehren sie sich so<br />

hartnäckig...?«<br />

So sprach Rodrigo Rangel.<br />

�<br />

Alvarado und Cortés waren in ihre Quartiere <strong>zur</strong>ückgekehrt. Die Brücke nach Tlatelolco blieb im<br />

Besitz <strong>der</strong> Christen; sie wurde von Musketieren und Artilleristen mit Kartaunen und Feldschlangen<br />

bewacht. Vier Tage lang ruhten die Waffen. Cortés hatte sein Versprechen eingelöst und dem<br />

Schlagen<strong>den</strong> Falken noch einmal <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong> angeboten, doch er wartete vergebens auf eine<br />

Antwort. Seinen Boten, einen bei <strong>den</strong> letzten Kämpfen gefangenen Otomi von König<br />

Felsenschlange, hatte Cuauhtémoc opfern lassen.<br />

Am fünften Tag drangen die bei<strong>den</strong> Christenheere mit 50 000 Mann indianischer Hilfstruppen<br />

<strong>der</strong> Blauen Fe<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> in Tlatelolco ein. Diesmal setzten die Krieger auf <strong>den</strong> Dachterrassen sich<br />

<strong>zur</strong> Wehr: Jedes Haus wurde zum Schlachtfeld. Die Adler und Jaguare schossen Wolken von<br />

Pfeilen auf die Angreifer hinunter, warfen Steine und schleu<strong>der</strong>ten Speere. Die Luft war erfüllt von<br />

infernalischem Kriegsgeschrei. Muschelhörner und Kriegsrasseln erschallten; <strong>der</strong> Kriegsruf <strong>der</strong><br />

Spanier – »Mit Gott und Sankt Jago!« – erklang, und in das dünne Krachen <strong>der</strong> Musketen böllerten<br />

die Salven <strong>der</strong> Kartaunen. Haus für Haus wurde unter Feuer genommen. Da flohen, rannten,<br />

sprangen, eilten hagere Schatten, halb verhungerte, skelettartige, bleiche Schreckenswesen –<br />

Frauen, Kin<strong>der</strong> und altersgekrümmte Greise – zu Hun<strong>der</strong>ten aus <strong>den</strong> umkämpften Häusern und


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 426<br />

stürzten kopflos hierhin und dorthin. Immer zahlreicher strömten sie durch die trümmerübersäten<br />

Straßen und Gassen und fluteten zwischen <strong>den</strong> Kämpfen<strong>den</strong>, suchten Rettung in <strong>der</strong> Flucht...<br />

Cortés ließ <strong>den</strong> Kampf unterbrechen, und <strong>der</strong> Trompeter Sebastián Rodríguez musste auf<br />

seiner lilienförmigen Kupfertrompete das Rückzugssignal blasen. Doch Cortés hatte seine<br />

Hilfstruppen nicht in <strong>der</strong> Gewalt. Die Tlatepoca lechzten nach Rache für jahrzehntelange<br />

Unterdrückung, und so stürzten sie sich auf die Wehrlosen und wüteten wie Wölfe in einer<br />

Lämmerherde. Tausende Frauen, Alte und Kin<strong>der</strong> fan<strong>den</strong> an diesem Tag <strong>den</strong> Tod.<br />

Die Christen zogen sich in die südlichen Stadtteile <strong>zur</strong>ück, um von dort in die Quartiere in<br />

Acachinanco <strong>zur</strong>ückzukehren. Dort erwartete sie ein Trauerzug: vornehme unbewaffnete Mexica,<br />

Türkisgebürtige, hohe Staatsbeamte und Mitglie<strong>der</strong> des Rates <strong>der</strong> Alten. In graue Hanfmäntel<br />

gehüllt, die Haare mit Asche bestreut und die Arme auf <strong>der</strong> Brust gekreuzt, warteten sie stumm, bis<br />

Cortés mit seinen Begleitern herangekommen war und sein Pferd vor ihnen zügelte.<br />

Da trat ein würdiger Greis vor und redete ihn an:<br />

»Du bist <strong>der</strong> Sohn <strong>der</strong> Sonne, die in einem Tag und in einer Nacht die Welt umreist.<br />

Geschwind ist die Sonne, du aber bist es nicht: Langsam tötest du uns! Warum tötest du nicht<br />

rascher, o Sohn <strong>der</strong> Sonne? Denn wenn <strong>der</strong> Tod uns auch erschreckt, das Leben wird uns<br />

schrecklicher sein als <strong>der</strong> Tod. Nicht nach unserem Brauch und Herkommen leben zu können, ist<br />

schlimmer als zu sterben! Drum hab Erbarmen, töte uns, schicke uns Huitzilopochtli zu, <strong>der</strong> uns<br />

trösten wird für unsere Lei<strong>den</strong>.«<br />

Der junge Alonso de Ojeda übersetzte seine Worte. Cortés antwortete:<br />

»Unsinnige! Warum wollt ihr euch wie Tiere abschlachten lassen, statt über <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong> zu<br />

verhandeln?« Er konnte sich des Elends <strong>der</strong> Alten und Edlen nicht entziehen. »Habe ich nicht oft<br />

genug <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong> angeboten? Versprach ich nicht, euch gut und ehrenvoll zu behandeln – als<br />

einer, <strong>der</strong> Wechselglück und Menschenjammer kennt und Seelengröße zu bewun<strong>der</strong>n weiß? Euer<br />

König lehnte alle Angebote ab! Aber auch ihr seid nicht schuldlos. Warum zwingt ihr ihn nicht,<br />

eurem Elend ein Ende zu setzen? Ich würde einen von euch beauftragen, noch einen<br />

Frie<strong>den</strong>sversuch zu wagen, aber ich kann es nicht, <strong>den</strong>n ich weiß, dass er alle meine Boten auf<br />

<strong>den</strong> Adlerstein legt.«<br />

Seufzend antwortete <strong>der</strong> alte Wür<strong>den</strong>träger:<br />

»O Sohn <strong>der</strong> Sonne, verweile hier, bis wir <strong>zur</strong>ückkehren. Wir alle wollen deine Boten sein.<br />

Uns alle wird er nicht auf <strong>den</strong> Adlerstein legen. Wir wer<strong>den</strong> ihn bitten, mit dir zu verhandeln!«<br />

»Er wird es nicht wollen«, entgegnete Cortés. »Doch sollte er zu einer Begegnung bereit<br />

sein, soll er sie nicht heute wollen, <strong>den</strong>n <strong>der</strong> Abend ist nicht mehr fern. Sagt ihm, dass ich ihn<br />

morgen <strong>zur</strong> Mittagszeit auf dem Großen Markt erwarte!«<br />

Eine halbe Stunde später meldete ein mexicanischer Herold, <strong>der</strong> König von Mexico werde<br />

sich <strong>zur</strong> verabredeten Zeit einfin<strong>den</strong>.<br />

�<br />

Früher als sonst marschierten am nächsten Tag die christlichen Truppenteile in Tlatelolco ein und<br />

besetzten <strong>den</strong> Großen Markt. Die Befehlshaber waren noch in <strong>den</strong> Quartieren <strong>zur</strong>ückgeblieben;<br />

Alvarados Truppe wurde von Tapia angeführt, Cortés' Männer befehligte Alonso de Ojeda.<br />

Während die Soldaten <strong>den</strong> Platz und die einmün<strong>den</strong><strong>den</strong> Straßen sicherten, musste <strong>der</strong><br />

Zimmermann Christóbal de Jaén mit seinen Gehilfen <strong>den</strong> ganzen Vormittag tischlern, sägen und<br />

nageln, um eine mit scharlachrotem Tuch verkleidete, mit Fahnen und Fähnchen geschmückte<br />

Tribüne zu zimmern. Cortés legte Wert darauf, dass seine erste Zusammenkunft mit dem neuen<br />

König Mexicos von zahlreichen Zuschauern zu sehen sei. Tapia hatte inzwischen die Leichen in<br />

einer <strong>der</strong> Seitengassen entfernen lassen, damit Juan Varela, <strong>der</strong> Oberkoch und Tafelmeister, dort<br />

seine Feldküche errichten konnte. Buntscheckige Pagen deckten auf <strong>der</strong> Tribüne eine lange<br />

Speisetafel mit weißem Leinen, stellten Weinkrüge und Pokale, Becher, silberne Teller und<br />

Obstschalen auf und streuten Blumen auf das Tischtuch, <strong>den</strong>n Cortés wollte dem hungern<strong>den</strong><br />

König und seinen Begleitern ein fürstliches Mahl vorsetzen. Neben <strong>der</strong> Festtafel erwartete ein<br />

Stehpult <strong>den</strong> königlichen Notar Diego de Godoy, <strong>der</strong> sich bald in Galakleidung einfand und<br />

Gänsekiel, Tintenfass und Pergamentrolle bereitlegte, um ein Protokoll über die<br />

Frie<strong>den</strong>sverhandlungen aufzusetzen.


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 427<br />

Kurz vor zwölf Uhr ritten Cortés, Olíd und Alvarado auf <strong>den</strong> Marktplatz. Sie stiegen von <strong>den</strong><br />

Pfer<strong>den</strong>, besichtigten die Empore, lobten die Vorbereitungen, regten noch ein paar Kleinigkeiten<br />

an und setzten sich auf bereitstehende Sessel. Es regnete an diesem Tag nicht, die Augustsonne<br />

sengte vom Himmel herab, sodass in aller Eile noch ein Segel als Schattengeber gespannt wer<strong>den</strong><br />

musste.<br />

Alles war zum Empfang des Königs bereit. Die kastilischen Landsknechte – soweit sie nicht<br />

die besetzten Straßen bewachten – stan<strong>den</strong> in Reih und Glied auf dem Marktplatz. Den<br />

indianischen Verbündeten hatte Cortés <strong>den</strong> Zutritt nach Tlatelolco untersagt; zu scheußlich hatten<br />

sie am Tage zuvor gewütet, und heute könnte ihre unbeherrschte Zügellosigkeit das Frie<strong>den</strong>swerk<br />

gefähr<strong>den</strong>.<br />

Doch <strong>der</strong> König kam nicht. Nach zwei Stun<strong>den</strong> sagte Olíd sarkastisch zu Cortés:<br />

»Lasst <strong>den</strong> Soldaten Stühle bringen, Don Hernándo, sonst fallen sie um o<strong>der</strong> laufen Euch<br />

davon. Wozu die Engelsgeduld? Merkt Ihr noch immer nicht, dass man Euch einen Bären<br />

aufgebun<strong>den</strong> hat?«<br />

Doch Cortés ließ sich nicht beirren und wartete nochmals eine Stunde.<br />

�<br />

Während die Kastilier auf dem Großen Markt ausharrten, berieten die wenigen überleben<strong>den</strong><br />

Befehlshaber des mexicanischen Reiches (es gab nicht mehr viele) mit dem Schlagen<strong>den</strong> Falken.<br />

Er hatte die Frie<strong>den</strong>sboten nicht gestraft, hatte nur traurig mit dem Kopf genickt und sich nach<br />

längerem Zögern bereit erklärt, mit Cortés zusammenzutreffen. Nachträglich hat er seine Zusage<br />

wie<strong>der</strong> bereut. Als die Sonne sich dem Meridian näherte, stellte <strong>der</strong> Schlagende Falke seinen<br />

Ratgebern die Frage:<br />

»Der Fels stürzt, <strong>der</strong> Himmel wankt. Bleibt uns noch Hoffnung?«<br />

Die Hoffnungslosen verharrten stumm vor Gram. Da sprach Huitzilopochtlis Knecht:<br />

»O ihr tapferen Mexica, eine Hoffnung bleibt uns noch: Die Hoffnung und das Vertrauen auf<br />

die Macht unseres Gottes Huitzilopochtli, <strong>der</strong> diese Stadt Tenochtitlán gegründet hat.«<br />

Schweigen antwortete ihm. Huitzilopochtlis Knecht fuhr fort:<br />

»Wir haben das Standbild Huitzilopochtlis aus dem Schlangenberg gerettet. In meiner<br />

Jugend hörte ich alte Leute sagen, dass unsere Ahnen sich nach Gründung dieser Stadt mehrere<br />

Male für verloren hielten, dass aber immer, wenn <strong>der</strong> Untergang unabwendbar schien, <strong>der</strong><br />

Wun<strong>der</strong>bare Huitzilopochtli half, die Feinde Mexicos zu zerschmettern. Dies tat <strong>der</strong> Gott durch<br />

zwei Zauberdinge: Durch <strong>den</strong> gol<strong>den</strong>en Schlangenstab, <strong>den</strong> sein Standbild in <strong>der</strong> Rechten hält,<br />

und durch das strahlende Eulengewand – seit König Molch hat es kein Mexica mehr getragen! Der<br />

gol<strong>den</strong>e Schlangenstab wird lebendig, wenn man ihn <strong>den</strong> Fein<strong>den</strong> entgegenhält; das strahlende<br />

Eulengewand lässt die Herzen <strong>der</strong> Feinde erstarren.«<br />

»Vieles nahmen uns die Himmelsgötter, aber diese bei<strong>den</strong> Waffen nicht«, sagte<br />

Felsenschlange.<br />

Und <strong>der</strong> Weibliche Zwilling bekräftigte: »Lasst uns erst Frie<strong>den</strong> schließen, wenn <strong>der</strong> Himmel<br />

uns das untrügliche Zeichen gab, ob er unseren Untergang wünscht o<strong>der</strong> nicht. Und dies sei das<br />

Zeichen: dass die gol<strong>den</strong>e Schlange lebendig und das strahlende Eulengewand zum<br />

Schreckensbild für unsere Feinde wird!«<br />

Beifallsgemurmel ging durch <strong>den</strong> Saal.<br />

»So sei es!«, sagte Cuauhtémoc. »Ich selbst will <strong>den</strong> Schlangenstab schwingen und das<br />

Eulengewand anlegen, das zuletzt mein Vater, König Molch, getragen hat!«<br />

Die Berater wi<strong>der</strong>setzten sich erregt.<br />

»Spare dich auf, mein Bru<strong>der</strong>!«, rief <strong>der</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzende. »Mexico wird deiner<br />

noch bedürfen! Lass mich es tun an deiner statt. Denn du bist Mexicos König, und wenn du fällst,<br />

ist Mexico tot!«<br />

Cuauhtémoc lächelte wehmütig und sprach:<br />

»Auch wenn du fällst, mein Bru<strong>der</strong>, ist Mexico tot!«<br />

»Nein«, rief <strong>der</strong> Durch-Wohlgestalt-Glänzende. »Wenn ich falle, weil die Kraft des<br />

Schlangenstabs versagt und das strahlende Eulengewand sich als nutzlos erweist, ist Tenochtitlán<br />

nicht mehr zu retten. Aber Tenochtitlán ist nur ein Teil Anahuacs. Wenn ich falle, so kämpft hier


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 428<br />

nicht länger, steigt in die Boote und schlagt euch durch an das nördliche Schilfseeufer. Viele<br />

Städte halten noch treu zu Mexico, sie wer<strong>den</strong> dir zujubeln! Deine Schar wird wachsen mit jedem<br />

Tag; von neuem wird <strong>der</strong> Krieg beginnen und wird en<strong>den</strong>, wie alle Kriege Mexicos geendet haben!<br />

Mit unserem Sieg!«<br />

Felsenschlange sagte:<br />

»Wenn wir befolgen, was mein Bru<strong>der</strong> rät, kann <strong>der</strong> Stamm <strong>der</strong> Azteken vor Ausrottung<br />

bewahrt wer<strong>den</strong>! Warum aber soll er <strong>zur</strong> Eule wer<strong>den</strong>, warum nicht ich? Einst schworen wir in <strong>der</strong><br />

Götterkammer des Großen Palastes beim Namen <strong>der</strong> Sonne und beim Namen Unserer Frau <strong>der</strong><br />

Erde, gemeinsam zu leben und gemeinsam zu sterben, und wir aßen eine Hand voll Erde <strong>zur</strong><br />

Bekräftigung des Schwurs. Da wir nicht gemeinsam sterben können, mag das Los entschei<strong>den</strong>,<br />

wer von uns <strong>den</strong> gol<strong>den</strong>en Schlangenstab und das Eulengewand dem Feind entgegentragen soll!«<br />

Der Weibliche Zwilling mischte drei Aloedornen in ein Gefäß und hielt es <strong>den</strong> Königen hin.<br />

Mit dem Blick zum Himmel griff einer nach dem an<strong>der</strong>en hinein, doch alle drei hielten ihr Los in <strong>der</strong><br />

Faust umschlossen. Erst als <strong>der</strong> Weibliche Zwilling sagte: »Nun öffnet im Namen <strong>der</strong> Sonne und<br />

im Namen Unserer Frau <strong>der</strong> Erde die Faust!«, streckten sie die flachen Hände gegeneinan<strong>der</strong>.<br />

Freude leuchtete auf dem abgezehrten, hohlwangigen Gesicht des Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong><br />

auf: er hatte <strong>den</strong> längsten Dorn ergriffen.<br />

Die Sitzung des Kronrats war beendet. Cuauhtémoc erhob sich und mit ihm seine Berater.<br />

Sie folgten ihm in einen benachbarten Tempel, in dessen Sanktuarium das Bildnis Huitzilopochtlis<br />

aufgestellt war. Wer aber durfte dem Gott die Waffe aus <strong>der</strong> Hand nehmen? Huitzilopochtlis<br />

Knecht tränkte und versöhnte mit dem Edelsteinwasser von fünf weiß geschminkten Tlatepoca das<br />

staubbedeckte Idol. Dann schritt er mit Cuauhtémoc und dem Durch-Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong> in<br />

<strong>den</strong> Tempelhof und bat <strong>den</strong> Herrn <strong>der</strong> Welt, dem König von Tacuba <strong>den</strong> gol<strong>den</strong>en Schlangenstab<br />

und das Eulengewand Huitzilopochtlis zu überreichen. Der Schlagende Falke übergab dem Durch-<br />

Wohlgestalt-Glänzen<strong>den</strong> die heiligen Insignien und sprach dazu:<br />

»Mit roter Farbe des Edelsteinwassers schreibt <strong>der</strong> Sonnengott die Taten <strong>der</strong> Tapferen<br />

nie<strong>der</strong>! Trage diese Fe<strong>der</strong>rüstung, die mein Vater getragen hat. Trage die Feuerschlange, die<br />

Mexicos Feinde erzittern lässt!«<br />

�<br />

Drei Stun<strong>den</strong> vergingen. Cuauhtémoc war nicht auf dem Großen Markt erschienen. Angestachelt<br />

von Olíds Spott, fühlte Cortés sich zum Narren gehalten und schickte Alonso de Ojeda zu Blaue<br />

Fe<strong>der</strong>, er solle die indianischen Hilfstruppen nach Tlatelolco hereinführen. Er sandte auch einen<br />

Mel<strong>der</strong> an Martín López, <strong>der</strong> Schiffsbaumeister solle mit <strong>den</strong> Brigantinen von <strong>der</strong> Nordseite an die<br />

Stadt heransegeln o<strong>der</strong> ru<strong>der</strong>n, damit <strong>der</strong> Feind umzingelt und von allen Seiten bedrängt wer<strong>den</strong><br />

könne. Pedro de Alvarado machte unterdessen die spanischen Soldaten angriffsbereit. Und dann<br />

blies die lilienförmige Kupfertrompete zum Angriff und öffnete das Tor <strong>zur</strong> Hölle.<br />

Furchtlos setzten die Mexica sich <strong>zur</strong> Wehr. Voran schritt die große Eule, spreizte Halt<br />

gebietend die Flügel und schwang drohend <strong>den</strong> gol<strong>den</strong>en Schlangenstab gegen die Gelbhaarigen.<br />

Doch die Eule wurde von ihren mottenzerfressenen Schwungfe<strong>der</strong>n nicht in die Lüfte getragen,<br />

und <strong>der</strong> Goldstab verwandelte sich nicht in die blaue Schlange. Eine Musketenkugel traf die kühne<br />

Eule in die Stirn.<br />

Ein Gemetzel begann und währte bis in die Nachtstun<strong>den</strong>. Cortés würde später López de<br />

Gómera in seinem Brief an <strong>den</strong> Kaiser diktieren: »Wohin sie auch flüchteten, führte ihr Weg über<br />

Tote. Nur wenige Tempel waren ihnen noch verblieben, sie hatten kaum noch Pfeile, Wurfspieße<br />

und Schleu<strong>der</strong>steine... An diesem Tag wur<strong>den</strong> durch uns und unsere Indianer 40 000 Feinde<br />

nie<strong>der</strong>gemacht o<strong>der</strong> gefangen genommen. <strong>Das</strong> Heulen, Weinen, Schreien und Wehklagen <strong>der</strong><br />

Weiber und Kin<strong>der</strong> hätte selbst ein Herz von Stein erweichen und rühren müssen. Wir Hispanier<br />

waren unserer nur an die 900, die Indianer aber waren mehr als 150 000. Es war schwer für uns,<br />

unsere Indianer in ihrer Wut und ihrem Grimm <strong>zur</strong>ückzuhalten, alles nie<strong>der</strong>zumetzeln, was ihnen<br />

vor die Augen kam. Es gibt in <strong>der</strong> ganzen Welt kein Volk, das grausamer und unmenschlicher wäre<br />

als die Indianer gegen ihre Feinde. Nichts half, sie vom Plün<strong>der</strong>n abzuhalten, und so machten sie<br />

an diesem Tag beachtliche Beute...«


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 429<br />

�<br />

Nach Mitternacht wurde ein Boot auf <strong>den</strong> Schilfsee hinausgeru<strong>der</strong>t. Zwei Männer und eine Frau<br />

saßen darin. <strong>Das</strong> schwarze Boot auf dem nachtschwarzen Wasser entging <strong>den</strong> Blicken <strong>der</strong><br />

plün<strong>der</strong>n<strong>den</strong> Tlaxcalteken, Otomis, Totonaken und <strong>der</strong> Wachsamkeit <strong>der</strong> Brigantinen. Ihr Ziel war<br />

<strong>der</strong> Pantitlan-Strudel inmitten <strong>der</strong> Lagune. Der kleine Wassertempel dicht beim Strudel wies ihnen<br />

die Richtung.<br />

Die drei Ru<strong>der</strong>er waren <strong>der</strong> Schlagende Falke, Felsenschlange und Maisblume. Sie brachten<br />

Opfergaben, kostbarer als <strong>der</strong> Pantitlan-Strudel jemals erhalten hatte. Was von Moctezumas Hort<br />

noch übrig war, was Perlenfischer nach <strong>der</strong> Nacht <strong>der</strong> Schrecken aus dem See bergen konnten,<br />

sollte er nun <strong>zur</strong>ückbekommen.<br />

Als sie sich dem Inselchen näherten, bemerkten sie, dass das Heiligtum verwüstet war. Der<br />

alte Priester und die Kin<strong>der</strong> lagen tot am Ufer. Selbst hier hatten die Tlaxcalteken gewütet. In <strong>den</strong><br />

glücklichen Jahren zuvor gingen die Kin<strong>der</strong> zum großen Regengott Tlaloc und wur<strong>den</strong> – in ihre<br />

besten Gewän<strong>der</strong> gekleidet, mit Schmuck versehen und die Wangen mit weißen Kreisen bemalt –<br />

am Morgen <strong>der</strong> Opferung <strong>zur</strong> Perlenschlange. Die ganze Nacht hindurch sang <strong>der</strong> alte Priester<br />

<strong>den</strong> Kin<strong>der</strong>n Lie<strong>der</strong> vor, damit sie nicht einschliefen, doch im Morgendämmer ru<strong>der</strong>ten tlamamas<br />

die Kin<strong>der</strong> in kleinen, mit Fe<strong>der</strong>n und Blumen verzierten Booten zum Strudel hinaus. Dort setzten<br />

sie die Kleinen auf hölzerne Balken und ließen sie zum Strudel treiben. Wirbelnd saugten die<br />

kreisen<strong>den</strong> Wasser die Bohlen an, ließen sie drehen – erst langsam, dann immer schneller –, und<br />

schließlich verschwan<strong>den</strong> Planken und Kin<strong>der</strong> und alle Opfergaben, die man ihnen in die Tiefe<br />

mitgegeben hatte.<br />

Sie ru<strong>der</strong>ten in die Nähe des schnell kreiseln<strong>den</strong> Strudels. Felsenschlange und Maisblume<br />

reichten dem Schlagen<strong>den</strong> Falken die Goldketten, die gol<strong>den</strong>en Frösche, die gol<strong>den</strong>en<br />

Kalen<strong>der</strong>scheiben. <strong>Das</strong> Licht <strong>der</strong> Sterne glitzerte ein letztes Mal auf <strong>den</strong> Kleinodien. Stück für<br />

Stück sank in <strong>den</strong> Strudel hinab. Cuauhtémoc schleu<strong>der</strong>te die letzten Smaragde hinterher und<br />

sagte:<br />

»Nun ist <strong>den</strong> Gelbhaarigen die Freude am Sieg verdorben. Sie haben Tenochtitlán umsonst<br />

verwüstet und wer<strong>den</strong> ihren Lohn nicht fin<strong>den</strong>!«<br />

»Sie wer<strong>den</strong> mich fin<strong>den</strong>«, sagte Maisblume leise.<br />

Die Männer schwiegen. Aufrecht stand Maisblume im Boot und starrte in <strong>den</strong> Strudel.<br />

»Lasst mich <strong>zur</strong> Perlenschlange wer<strong>den</strong>!«, sagte sie dann tonlos. »In Tlalocs Reich ist<br />

Frie<strong>den</strong>!«<br />

Sanft zog Cuauhtémoc sie auf die Ru<strong>der</strong>bank herab. Er fasste ihre Hand, strich ihr über die<br />

Wange.<br />

»Du sollst nicht von mir gehen, du dunkle Quetzalfe<strong>der</strong>! Wir müssen noch leben - unseres<br />

Volkes wegen!«<br />

»Wie lange noch?«, rief Felsenschlange verzweifelt. »Sie wer<strong>den</strong> wissen wollen, wo <strong>der</strong><br />

Goldschatz geblieben ist! Sie wer<strong>den</strong> uns bestialisch foltern, um es zu erfahren. Und sollten sie<br />

uns das Leben lassen, wer<strong>den</strong> wir ihre nie<strong>der</strong>sten Knechte sein! Warum warten wir diese Schmach<br />

und Schändung ab? Drei starke Ru<strong>der</strong>schläge in <strong>den</strong> Strudel dort, und wir haben Frie<strong>den</strong> in<br />

Tlalocs schönen Blumengärten!«<br />

Cuauhtémoc schüttelte traurig <strong>den</strong> Kopf.<br />

»Wir dürfen nicht feige sein. Der König darf beim Totentanz seines Volkes nicht fehlen.«<br />

Sie schwiegen lange. »Ich bleibe bei dir, mein Freund!«, sagte <strong>der</strong> König von Tezcoco<br />

schließlich. »Wir zwei müssen leben, damit wir <strong>den</strong> Siegern <strong>den</strong> Sieg entwin<strong>den</strong>. Wenn sie uns<br />

foltern und töten, wer<strong>den</strong> wir lachend und singend Sieger über sie sein! So haben wir einst<br />

geschworen. Aber Maisblume hat keine Kraft mehr. Sie hat schon zu viel gelitten. Ihr Herz ist ein<br />

zerbrochener Edelstein. Seit sie <strong>zur</strong>ückkam, konnte sie nicht mehr lachen!«<br />

Maisblume flehte:<br />

»Lass mich <strong>zur</strong> Perlenschlange wer<strong>den</strong>!«<br />

Cuauhtémoc küsste sie stumm und nahm sie auf; ein friedliches Lächeln lag auf ihrem<br />

Gesicht. Er beugte sich behutsam über <strong>den</strong> Rand des Bootes und legte Miahuaxiutl-Maisblume<br />

rücklings auf die dunkle Wasserfläche. Nur schemenhaft war Maisblume noch zu erkennen,<br />

langsam trug die Strömung die Tochter Moctezumas dem Strudel entgegen und ließ sie in <strong>der</strong>


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 430<br />

Dunkelheit verschwin<strong>den</strong>...<br />

Die bei<strong>den</strong> Könige ru<strong>der</strong>ten unerkannt nach Tlatelolco <strong>zur</strong>ück.<br />

�<br />

Anahuacs letzter Tag dämmerte herauf und verdrängte Anahuacs letzte Nacht. Wie<strong>der</strong> ließ Cortés<br />

seine indianischen Verbündeten zunächst außerhalb <strong>der</strong> Mauern Tlatelolcos und zog mit seinen<br />

Landsknechten bis zum Markt. Und noch einmal schickte er einen Gefangenen mit einer Botschaft<br />

zu <strong>den</strong> Azteken: Bevor <strong>der</strong> Kampf beginne, wünsche er die Wür<strong>den</strong>träger zu sprechen, mit <strong>den</strong>en<br />

er vor zwei Tagen verhandelt habe.<br />

Bald fan<strong>den</strong> sich nur noch fünf ein. Er machte ihnen Vorwürfe, dass sie ihn zum Narren<br />

gehalten hätten. Trotzdem wolle er sie für die Unbelehrbarkeit ihres Königs nicht strafen. Er habe<br />

Cuauhtémoc gute Behandlung zusichern lassen – ob Cuauhtémoc an seinem Ritterwort zweifle?<br />

Sie sollten noch einmal ihrem König <strong>zur</strong>e<strong>den</strong> und ihm vorhalten, dass sein Wi<strong>der</strong>stand zwecklos<br />

sei.<br />

Die fünf alten Mexica begaben sich zum Schlagen<strong>den</strong> Falken. Cortés wartete auf <strong>der</strong><br />

Dachterrasse eines Palastes, weil er von dort die Stadt, die Brigantinen und die Boote auf dem<br />

Schilfsee überblicken konnte. Er zeigte auf die Brigantinen und sagte zu Alvarado:<br />

»<strong>Das</strong> sind die Wasserhäuser, die Mexico zu Fall gebracht haben!«<br />

»Señor, beschreit es nicht!«, bemerkte Al<strong>der</strong>ete. »Noch ist Mexico nicht gefallen!«<br />

»Heute wird es geschehen«, sagte Cortés.<br />

Alvarado sagte in seiner begeistern<strong>den</strong> Art:<br />

»Ich sehe es noch deutlich vor mir, Don Hernándo, wie Ihr in Popotla, am Morgen nach <strong>der</strong><br />

noche triste, <strong>den</strong> Schiffbaumeister begrüßt habt. ›Ihr lebt?‹, habt Ihr gerufen. ›Lob sei dem Herrn!<br />

Mit Euch kann ich die Scharte auswetzen!‹ Und als López Euch fragend ansah, fügtet Ihr hinzu:<br />

›Lächelt nicht, glaubt an mich, wie ich an mich glaube. Nach einem Jahr wer<strong>den</strong> wir die<br />

Brigantinen bauen!‹«<br />

»Ja, dass ich damals <strong>den</strong> Glauben nicht verlor, ist mir heute selbst rätselhaft. Vielleicht<br />

verstehe ich darum Cuauhtémocs Eigensinn. Er lässt sich durch Nie<strong>der</strong>lagen nicht beugen.«<br />

»Ihr bewun<strong>der</strong>t Cuauhtémoc?«, fragte Alvarado. »Lasst das nicht Al<strong>der</strong>ete hören, Don<br />

Hernándo!«<br />

»Was wollt Ihr damit andeuten?«<br />

»Er findet es verdächtig, dass Boten zwischen Euch und Cuauhtémoc hin und her gehen.«<br />

»Verdächtig?«<br />

»Er mutmaßt, Ihr könntet ein Abkommen mit Cuauhtémoc treffen – das Gold Mexicos mit<br />

ihm teilen, vielleicht auch die Herrschaft.«<br />

»Die Herrschaft über eine tote Stadt mit vielen Tausend Leichen?«<br />

»Ich hielt es für meine Pflicht, Euch das mitzuteilen, auch wenn es dummes Gerede ist.«<br />

Cortés sagte gleichmütig lächelnd:<br />

»Immer war ich von Fein<strong>den</strong> umgeben, das aber hat mich nicht gehin<strong>der</strong>t, die Brigantinen zu<br />

bauen. Da Ihr Euch doch so gut erinnert, entsinnt Ihr Euch auch <strong>der</strong> Worte, die ich nach dem<br />

Stapellauf sprach?«<br />

»Gewiss!«, sagte Alvarado. »Ihr sagtet: ›Die dreizehn herrlichen Segler symbolisieren jene<br />

vorhergesagten weißen Sonnensöhne, vor <strong>den</strong>en Cuauhtémoc ebenso zittern wird, wie<br />

Moctezuma einst vor unseren stahlbekleideten dreizehn Reitern gezittert hat. Dreizehn wird für<br />

Tenochtitlán <strong>zur</strong> Unglückszahl wer<strong>den</strong>.‹«<br />

»Ja.« Cortés lächelte. »Heute ist <strong>der</strong> dreizehnte August!«<br />

In <strong>der</strong> Tat – es war <strong>der</strong> 13. August 1521.<br />

�<br />

Die fünf alten Mexica kehrten in Begleitung des Weiblichen Zwillings <strong>zur</strong>ück. Sie meldeten im<br />

Auftrag ihres Gebieters, <strong>der</strong> König von Mexico könne nicht kommen, da er zu sterben<br />

entschlossen sei.<br />

»Ihr halsstarrigen Barbaren!«, fuhr Cortés sie an. »Habt ihr <strong>den</strong>n kein Mitleid mit euch


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 431<br />

selbst? Ich wollte euch schonen! Wie kann ich euch besiegen und gleichzeitig die Tlatepoca und<br />

Totonaken im Zaum halten, die euch in hun<strong>der</strong>tfacher Überzahl gegenüberstehen? Nun wird keine<br />

Seele am Leben bleiben! Was euer König will, soll geschehen!«<br />

Von neuem begann die Schlacht. Wie vor zwei Tagen verteidigten die Mexica je<strong>den</strong> Winkel<br />

<strong>der</strong> Stadt; Haus für Haus musste erobert wer<strong>den</strong>, je<strong>der</strong> Tempel, jedes Dach. Und wie vor zwei<br />

Tagen strömten wie<strong>der</strong> Hun<strong>der</strong>te Frauen und Kin<strong>der</strong>n in die Kampflinien, todkrank vor Hunger, und<br />

wie<strong>der</strong> fielen die indianischen Verbündeten <strong>der</strong> Spanier über die Wehrlosen her.<br />

Während die Straßenschlacht tobte, versuchten ein paar mexicanische Kriegsboote aus <strong>den</strong><br />

Kanälen Tlatelolcos auf die Lagune zu entkommen. Allzu eifrig feuerten die Geschütze <strong>der</strong><br />

Brigantinen aus Lee auf die kleine aztekische Flotte; <strong>der</strong> Pulverdampf legte sich wie eine weiße<br />

Nebelwolke auf <strong>den</strong> Schilfsee, sodass Freund von Feind nicht mehr zu unterschei<strong>den</strong> waren.<br />

Auf einer <strong>der</strong> Brigantinen befand sich Xoctemecl. Der Kapitän, García de Holguín, hatte ihn<br />

an Bord genommen, wie man einen Bluthund mit auf <strong>den</strong> Weg nimmt, wenn man eine Fährte<br />

sucht. <strong>Das</strong>s Xoctemecl <strong>den</strong> König hasste, war bekannt. Und Holguín meinte, dass die Augen des<br />

Hasses mehr sähen als an<strong>der</strong>e.<br />

Als <strong>der</strong> Wind <strong>den</strong> Pulverdampf vertrieben hatte, deutete Purpurkranich auf eine größere<br />

Piroge. »Dort im blauen Boot! Nicht weit vom Ufer!«, rief er.<br />

Mit geblähten Segeln jagte die Brigantine dem Ru<strong>der</strong>boot nach und kam näher; bald waren<br />

vierzig Azteken zu erkennen, Männer und Frauen. Vier Arkebusiere stan<strong>den</strong> schussbereit am<br />

Vor<strong>der</strong>steven <strong>der</strong> Brigantine. Da erhob sich ein junger Krieger in <strong>der</strong> Piroge, winkte mit bei<strong>den</strong><br />

Armen und rief Xoctemecl etwas auf Aztekisch zu.<br />

»Der Herr <strong>der</strong> Welt«, krächzte Purpurkranich erregt. »Der König ist an Bord!«<br />

García de Holguín kommandierte: »Nicht schießen! Herunter mit <strong>den</strong> Arkebusen!«<br />

Der Schlagende Falke rief:<br />

»Ich war <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Welt. Jetzt bin ich <strong>der</strong> Gefangene des Grünen Steins. Führt mich zu<br />

ihm, doch tut meinen Begleitern und <strong>den</strong> Prinzessinnen kein Leid!«<br />

�<br />

So endete das Epos von <strong>der</strong> Verteidigung Mexicos. Die Nachricht von <strong>der</strong> Gefangennahme des<br />

Königs hatte <strong>den</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Mexica gebrochen. Drei Monate lang hatten die Azteken gegen<br />

mehr als 150 000 Krieger ihrer eigenen Völker gekämpft, tapfer hatten sie <strong>den</strong> von <strong>den</strong> frem<strong>den</strong><br />

Eroberern mitgeführten neuen Kriegswerkzeugen, <strong>den</strong> Kanonen, Schiffen, Musketen, dem Stahl<br />

und <strong>der</strong> furchtbaren Gewalt gepanzerter Reiter getrotzt; sie hatten Hunger, Durst und Krankheit<br />

ertragen.<br />

Eine halbe Stunde später musste <strong>der</strong> Schlagende Falke, begleitet von Felsenschlange und<br />

an<strong>der</strong>en Türkisgebürtigen, die Steinstufen <strong>zur</strong> Dachterrasse emporsteigen, wo ihn <strong>der</strong> capitán<br />

generál mit seinen Unterfeldherren schon erwartete.<br />

Marina und die Blaue Fe<strong>der</strong> – die zwei Mitsieger und Mitschuldigen – flankierten <strong>den</strong> Grünen<br />

Stein rechts und links. Cortés ging dem König einige Schritte entgegen. Nicht zum ersten Mal sah<br />

er in das schöne, düstere Gesicht. In Cempoala hatte er <strong>den</strong> Stolz in Cuauhtémocs Antlitz<br />

bemerkt, jetzt aber war <strong>der</strong> Glanz erloschen. Er war kein Königsadler mehr.<br />

Eine Weile stan<strong>den</strong> sie sich stumm gegenüber. Cuauhtémoc sprach die ersten Worte:<br />

»Ich tat meine Pflicht«, sagte er bedrückt. »Was in meiner Macht stand, habe ich getan, um<br />

mein Volk zu verteidigen! Ich bin unterlegen! Verfahre mit mir, wie es dir beliebt, du bist <strong>der</strong><br />

Sieger!«<br />

Seine Augen glitten von Cortés' Gesicht abwärts über das staubbedeckte Wams und<br />

hefteten sich an <strong>den</strong> Dolch, <strong>den</strong> Cortés am Gurtgehenk trug. Der Griff war mit silbernen Arabesken<br />

verziert – eine schöne Toledoarbeit. Cuauhtémoc streckte die Hand aus, zeigte auf die Waffe und<br />

sagte:<br />

»Ersteche mich! Töte mich! Wenn ich durch deine Hand falle, werde ich zufrie<strong>den</strong> ins Land<br />

gehen, wo meine Götter weilen.«<br />

»Majestät, Ihr werdet auch in diesem Land zufrie<strong>den</strong> leben können«, erwi<strong>der</strong>te Cortés. »Bald<br />

wird es sich von <strong>den</strong> Kriegsgräueln erholen. Ich will Euch stets wie einen König ehren. Euch Trost<br />

zu spen<strong>den</strong>, wäre kränkend, doch lasst Euch von einem sagen, <strong>der</strong> Glück und Unglück erlebt hat,


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 432<br />

dass Glück o<strong>der</strong> Unglück am Wert einer Tat nichts än<strong>der</strong>n. Ihr habt Euer Volk wie ein Held<br />

verteidigt. Ich wäre kein Kastilier, wüsste ich nicht auch im Feind die Größe zu schätzen!«<br />

Pagen brachten Erfrischungen, doch Cuauhtémoc und Felsenschlange wiesen Speise und<br />

Trank finster <strong>zur</strong>ück. Da ließ <strong>der</strong> Sieger <strong>den</strong> Unterlegenen und dessen Gefolge von Hellebardieren<br />

abführen. Als sie sich abwandten, stürzte Blaue Fe<strong>der</strong> auf seinen Bru<strong>der</strong> Felsenschlange zu,<br />

ergriff seine Hände und wollte ihn an die Brust drücken. Doch Felsenschlange wi<strong>der</strong>setzte sich und<br />

stieß ihn von sich.<br />

»Verräter Anahuacs!«, zischte er. »Rühr mich nicht an, du böses Auge! Eine Krankheit bist<br />

du, dein Hauch verpestet das Land! Du vergießt das Blut deines Volkes! Anahuacs Kin<strong>der</strong> und<br />

Kindeskin<strong>der</strong> wer<strong>den</strong> dich verfluchen, solange die Sonne die Erde bescheint!«<br />

Die bei<strong>den</strong> Könige stiegen die Treppe <strong>der</strong> Dachterrasse hinunter. Dumpfe Böllerschüsse<br />

verkündeten das Ende <strong>der</strong> Belagerung und das Ende <strong>der</strong> Königin aller Städte.<br />

Marina schaute ihnen regungslos nach, die Lippen aschgrau.<br />

�<br />

Cortés diktierte seinem Schreiber Francisco López de Gómera in seinem dritten Bericht an <strong>den</strong><br />

Kaiser: »Mit <strong>der</strong> Gefangennahme des Königs war <strong>der</strong> Kampf um die Hauptstadt und zugleich <strong>der</strong><br />

ganze Krieg zu Ende. Dies geschah am 13. August im Jahre des Herrn 1521, am Tage des<br />

heiligen Hippolyt. Die Belagerung und Bestürmung <strong>der</strong> Stadt hatte am 30. Mai begonnen und<br />

dauerte also 75 Tage. Wie Eure Kaiserliche Majestät aus meinem Bericht ermessen kann, war sie<br />

reich an Gefahren, Mühsal und Anstrengung, und mancher hat dabei in Allerhöchst<strong>der</strong>o Diensten<br />

Leib und Leben gelassen.«<br />

Viele seiner toten Gefährten sollten ihm dabei in <strong>den</strong> Sinn kommen: Velásquez de León,<br />

Pardo, Arbolanche, <strong>der</strong> Astrologe Botello und <strong>der</strong> Tanzmeister Ortiz, Pedro Baracoa, Morillas,<br />

Soares, Lope Cano, Mansilla, Méndez, Diego Rano, Boldovinos, <strong>der</strong> Namenlose und el<br />

chocarrero, <strong>der</strong> Narr Cervantes, Retamales, Alberza, La Bailadora, <strong>der</strong> blinde Knabe Pancho,<br />

Alfonso Peñate, Bermúdez, Joaquín Camacho, <strong>der</strong> Page Orteguilla, Cristóbal de Morante, Álvarez<br />

Chico, Sandoval, Bartolomé Usagre und viele an<strong>der</strong>e, doch sie zu erwähnen, wäre dem Kaiser<br />

gegenüber unziemlich.<br />

»Es gab keinen Tag in dieser langen Zeit, <strong>der</strong> nicht ein größeres o<strong>der</strong> geringeres Gefecht mit<br />

dem Feind gebracht hätte. An jenem Tag aber, da wir Tenochtitlán erstürmt und <strong>den</strong> König<br />

Cuauhtémoc gefangen hatten, sind wir nach dem Zusammentragen <strong>der</strong> Beute in unsere Lager<br />

<strong>zur</strong>ückgekehrt und haben Gott dem Allmächtigen für <strong>den</strong> großen Sieg gedankt, zu dem er uns<br />

gnädiglich verholfen hatte.«<br />

�<br />

Eine Woche nach Übergabe <strong>der</strong> Stadt trotzten ihm die von Al<strong>der</strong>ete aufgestachelten, über die<br />

geringe Goldbeute erbosten Landsknechte die Folterung <strong>der</strong> bei<strong>den</strong> Könige Cuauhtémoc und<br />

Felsenschlange ab. Cortés hatte für ihre Unantastbarkeit sein Wort verpfändet, doch um dem<br />

Verdacht zu entgehen, einen großen Teil des<br />

Goldschatzes zum Scha<strong>den</strong> des Heeres und<br />

des Kaisers unterschlagen zu haben, ließ er<br />

es geschehen. Den bei<strong>den</strong> Königen wur<strong>den</strong><br />

die Fußsohlen mit Öl eingerieben; dann hielt<br />

<strong>der</strong> Profos Pero Osorio eine brennende<br />

Fackel darunter. »Es ist die Schmach jedes<br />

Herrn, dass er <strong>der</strong> Knecht seiner Knechte<br />

ist«, hatte er einst zu Marina gesagt. Marina<br />

vergab ihm <strong>den</strong> feigen Wortbruch nie.<br />

Folterung Cuauhtémocs (Darstellung des 17. Jh.s)


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 433<br />

Cuauhtémoc siegte über die Qual, die ihm bereitet wurde. Denn als bei <strong>der</strong> Folterung<br />

Felsenschlange kaum hörbar zu ächzen begann, ermahnte er ihn mit <strong>den</strong> Worten: »O mein<br />

Bru<strong>der</strong>, entsinne dich deiner eigenen Worte: ›Wenn sie uns foltern und töten, wer<strong>den</strong> wir lachend<br />

und singend Sieger über sie bleiben!‹ Ge<strong>den</strong>ke <strong>der</strong> Göttin Ixuinan. Die Herrin <strong>der</strong> Lust und <strong>der</strong><br />

Erde verführte Yappan. Als er sie umarmte, wurde sie zu Staub. Nichts behielt er von <strong>der</strong><br />

Berücken<strong>den</strong> <strong>zur</strong>ück als eine Hand voll grauen, sickern<strong>den</strong> Er<strong>den</strong>staub.«<br />

33. Nachwort<br />

»Es soll die Spur von deinen Er<strong>den</strong>tagen<br />

nicht in Äonen untergeh'n.«<br />

Goethe, Faust II<br />

Die Azteken besaßen eine Bil<strong>der</strong>schrift, <strong>der</strong>en Bedeutungen erst in die lateinische<br />

Buchstabenschrift überführt wer<strong>den</strong> mussten. Christlichen Missionaren ist es zu verdanken, dass<br />

es solche Quellen überhaupt gibt. Hier sind vor allem die Mönche Bernardino de Sahagún und<br />

Diego de Durán zu nennen, die für die indianische Hauptsprache Náhuatl ein lateinisches Alphabet<br />

schufen. Christianisierte Indianer haben dann die Berichte ihrer Mythen und Nie<strong>der</strong>lagen schriftlich<br />

fixiert und vor dem Vergessen bewahrt. Die Transformation <strong>der</strong> aztekischen Bil<strong>der</strong>schrift in eine<br />

Buchstabenschrift brachte es aber mit sich, dass für die gleichen Dinge verschie<strong>den</strong>e Diktionen<br />

entstan<strong>den</strong> und dass hier verwendete Schreibweisen von an<strong>der</strong>en Vorlagen abweichen können.<br />

Ich habe mich beispielsweise für die im Du<strong>den</strong> verwendete Schreibweise Moctezuma<br />

entschlossen; an<strong>der</strong>e Schreibweisen lauten Montezuma, Motecuzoma, Motecucoma o<strong>der</strong><br />

Motecucuoma, Cortés selber schrieb Mutezuma. Die Worte Azteken, Azteca und Mexica wer<strong>den</strong><br />

i<strong>den</strong>tisch benutzt; ich habe mich hier Hugh Thomas angeschlossen, <strong>der</strong> Mexico und Mexica mit<br />

dem Buchstaben »c« schreibt, um so <strong>den</strong> historischen Gehalt von <strong>den</strong> heutigen Bedeutungen<br />

»Mexiko« und »Mexikaner« abzugrenzen. Geht es um geographische Bezeichnungen im heutigen<br />

Sinne, wird Mexiko mit »k« geschrieben. Die indianischen Namen sind für uns oft reine<br />

Zungenbrecher, weshalb meist ihre übersetzten Synonyme verwendet wer<strong>den</strong>. Überhaupt treten<br />

im Buch sehr viele historisch bezeugte Personen auf, die damals Moctezuma und <strong>den</strong> caudillo<br />

Cortés umgaben. Dies birgt die Gefahr, dass sie für die Leserinnen und Leser neben <strong>den</strong><br />

Hauptpersonen zu wenig an Gestalt gewinnen und nicht auseinan<strong>der</strong> gehalten wer<strong>den</strong> können.<br />

Die Wie<strong>der</strong>holung personenbezogener Attribute (z.B. de las maños pulcros, linienförmige<br />

Kupfertrompete, detrás de la puerta) soll Brücken <strong>zur</strong> Wie<strong>der</strong>erkennung <strong>der</strong> verschie<strong>den</strong>en Hauptund<br />

Nebendarsteller bauen. Im weiteren habe ich versucht, im sprachlichen Ausdruck sowohl die<br />

Gedankenwelt und die Wertvorstellungen <strong>der</strong> Kastilier als auch <strong>der</strong> naturales, wie die Christen die<br />

kulturell hoch stehen<strong>den</strong> Eingeborenen herablassend nannten, aufscheinen zu lassen und <strong>den</strong><br />

Leserinnen und Lesern die Zeit <strong>der</strong> Eroberung des Aztekenreiches durch Cortés näher zu bringen.<br />

�<br />

Der Christianisierungswahn <strong>der</strong> Spanier mag uns heute als son<strong>der</strong>bare Frömmelei und eines<br />

großen Geistes wie Cortés unwürdig erscheinen. Doch je<strong>der</strong> spanische Ritter, wie eigennützig<br />

seine Beweggründe auch sein mochten, fühlte sich als Träger des christlichen Glaubensgutes, und<br />

nicht wenige haben dafür ihr Leben gelassen. Ihr Verhalten erinnert ein wenig an


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 434<br />

fundamentalistische Muslime von heute, auch wenn bei bei<strong>den</strong> verschie<strong>den</strong>e Antriebe und Ziele<br />

feststellbar sind. Für Cortés machte zudem <strong>der</strong> Wahnsinn <strong>der</strong> Inquisition, <strong>der</strong> seit 1478 wie ein<br />

düsterer Schatten über Spanien lag, diese Komödie unerlässlich. Für ihn galt die Treue am<br />

kirchlichen Kult nicht nur als nützliche Klugheit, son<strong>der</strong>n auch als Mittel <strong>zur</strong> Selbsterhaltung<br />

gegenüber seinen zahlreichen Nei<strong>der</strong>n und Fein<strong>den</strong>. <strong>Das</strong>s er <strong>der</strong> höheren Geistlichkeit kritisch<br />

gegenüber stand, geht aus einem seiner Berichte an Kaiser Karl V. hervor, wo es heißt: »Ich bitte<br />

Eure Majestät, Klosterbrü<strong>der</strong> und keine Domherren zu schicken, weil diese ein lästerliches Leben<br />

führen und ihren Bastar<strong>den</strong> große Reichtümer zuschieben.«<br />

Im Vertrag von Tordesillas hatte <strong>der</strong> Papst 1494 die zu entdecken<strong>den</strong> Län<strong>der</strong> vorsorglich<br />

zwischen Spanien und Portugal aufgeteilt, die bei ihren Entdeckungsreisen auf eine große Zahl<br />

heidnischer Völker stießen und diese nun dem wahren Glauben zuführen sollten. Die Christen<br />

wähnten sich im Besitz <strong>der</strong> reinen Wahrheit; wer sich <strong>der</strong> Missionierung wi<strong>der</strong>setzte, durfte mit<br />

Gewalt dazu gezwungen wer<strong>den</strong>. Nicht nur Cortés, auch an<strong>der</strong>e christlich geprägte Europäer<br />

haben in <strong>der</strong> Folge neu entdeckte Gebiete in Ost und West im Namen Christi erobert.<br />

Was man gegen <strong>den</strong> Eroberer und seine Kriegstaten einwen<strong>den</strong> mag, eines bleibt bestehen:<br />

Hernándo Cortés war ein ganzer Mann mit überragendem Charisma und außeror<strong>den</strong>tlichen<br />

Führereigenschaften. Seine Ausstrahlung auf seine Soldaten, Offiziere und selbst auf seine<br />

Gegner ermöglichten ihm die großen Erfolge, und die Kommentare <strong>der</strong> nicht wenigen Nei<strong>der</strong> und<br />

Nörgler ertrug er mit <strong>der</strong> Genugtuung, ihnen allen überlegen zu sein. Neid und Missgunst seien die<br />

höchste Form <strong>der</strong> Anerkennung, sagte er einmal. So gelang es ihm nur durch sein strategisches<br />

Geschick, <strong>den</strong> Haufen goldgieriger Abenteurer immer wie<strong>der</strong> zu bändigen.<br />

Cortés' Ehefrau, Doña Catalina Suárez Pacheco, kam erst nach dem Fall Tenochtitláns im<br />

Juli 1522 von Kuba nach Mexico, um auf tragische Art ihr Leben zu verlieren. Nach Aussage ihrer<br />

Ärzte war die an Tuberkulose Erkrankte wie<strong>der</strong> gesund und wollte mit Cortés zusammenleben,<br />

starb aber nach wenigen Wochen eines nachts unter mysteriösen Umstän<strong>den</strong> im gemeinsamen<br />

Schlafzimmer. Gerüchte behaupteten, Cortés habe sie vergiftet, aber das konnte nicht bewiesen<br />

wer<strong>den</strong>. Eine gerichtlich angeordnete Untersuchung fand keinerlei Anhaltspunkte, die <strong>den</strong><br />

Verdacht erhärtet hätten. Der Eroberer Mexicos wurde freigesprochen; die Todesursache Doña<br />

Catalinas blieb ungeklärt.<br />

Cortés wurde am 15. Oktober 1522 von Karl V. endgültig zum Statthalter und capitán generál<br />

Neuspaniens ernannt und stand im strahlen<strong>den</strong> Licht des Erfolges. Doch <strong>der</strong> Eroberer fand keine<br />

Ruhe. Im Frühling 1524 brach er nach Honduras auf. In seinem Gefolge befand sich ein großer<br />

Hofstaat mit <strong>der</strong> getreuen Marina und <strong>den</strong> Gefangenen Cuauhtémoc und Felsenschlange. Eine<br />

Horde Schweine sollte das leibliche Wohl <strong>der</strong> Expeditionsteilnehmer sichern; trotzdem<br />

verhungerten einige Teilnehmer auf dem langen, entbehrungsreichen Weg. Der Aztekenherrscher<br />

und Felsenschlange wur<strong>den</strong> unterwegs wegen einer angeblichen Verschwörung aufgehängt –<br />

böse Zungen behaupteten, um die Vorräte zu strecken. Der Eroberungszug nach Honduras blieb<br />

erfolglos; im Juni 1524 befand Cortés sich wie<strong>der</strong> in Mexico.<br />

Als Heilbringer war Cortés einst Marina erschienen. Ihrer stummen Anklage überdrüssig,<br />

brach er mit ihr, verheiratete sie 1525 mit dem Hauptmann Juan Xamarillo, einem seiner<br />

Landsknechte, und schenkte ihr ein Gut in Oaxaca, meilenweit von Mexico entfernt. 1528 reiste er<br />

nach Spanien, um sich gegen Verleumdungen seiner Feinde zu rechtfertigen. König und Hof<br />

empfingen ihn als strahlen<strong>den</strong> Hel<strong>den</strong>, und Karl V. ehrte ihn mit <strong>der</strong> Verleihung des Herzogtitels.<br />

Danach begann langsam, zunächst unmerklich, jedoch unaufhaltsam sein Stern zu sinken, und er<br />

verlor in Mexico zunehmend an Macht. 1534 wurde Neuspanien Vizekönigtum, und Don Antonio<br />

de Mendoza vertrat die Interessen des Throns. Cortés starb am 2. Dezember 1547 in Castilleja de<br />

la Cuesta in <strong>der</strong> Nähe von Sevilla einen einsamen Tod, <strong>der</strong> ihm wie so vielen <strong>der</strong> ehemals<br />

strahlen<strong>den</strong> Entdecker und conquistadores bestimmt war. Er wurde 62 Jahre alt.<br />

Von einigen seiner Kampfgefährten kann die Lebensspur weiterverfolgt wer<strong>den</strong>. Der<br />

aufsässige Cristóbal Olíd wurde 1525 wegen Meuterei hingerichtet. Diego de Ordás war auf seiner<br />

rastlosen Suche bis in die Gegend des Amazonas gelangt, ging dann aber auf <strong>der</strong> Rückreise 1532<br />

mit dem Schiff auf dem Atlantik unter. Er war einer <strong>der</strong> wenigen Eroberer, die die künstlerischen<br />

Leistungen <strong>der</strong> indianischen Kulturen schätzten. Pater Olmedo, <strong>der</strong> sich immer wie<strong>der</strong> für <strong>den</strong><br />

Schutz <strong>der</strong> Besiegten eingesetzt hatte, war bereits 1524 gestorben. Der Franziskaner Jerónimo de<br />

Aguilár gründete mit vier an<strong>der</strong>en Kampfgefährten ein Franziskanerkloster; Andrés de Tapia und


<strong>»kompassrosen«</strong> November 2011 - Der Nopalbaum Seite 435<br />

Martín López blieben in Mexico und wur<strong>den</strong> Landbesitzer. Eine glücklose Karriere machte<br />

Tonatiuh, die Sonne: Pedro de Alvarado, <strong>der</strong> Stellvertreter Cortés, nahm noch an mehreren<br />

Kriegszügen teil, wobei er sich durch beson<strong>der</strong>e Rücksichtslosigkeit auszeichnete; er wurde<br />

schließlich <strong>der</strong> erste Gouverneur Guatemalas, starb aber bald darauf an <strong>den</strong> Verletzungen, die er<br />

nach einem Sturz vom Pferd davongetragen hatte.<br />

Und schließlich blieb noch eine Anmerkung zu einem weiteren Schicksal erhalten: 1565, fast<br />

zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Hernándo Cortés, berichtet eine Gerichtschronik von <strong>der</strong><br />

Verurteilung seines Sohnes Martín wegen Hochverrats. Er, <strong>der</strong> Bedeutungslose, wollte sich wie<br />

sein Vater unsterblichen Ruhm verdienen und hatte sich in Neuspanien in eine Verschwörung<br />

gegen die Krone eingelassen. Doch <strong>der</strong> Plan wurde verraten und Martín Cortés gefoltert. Als Sohn<br />

des berühmten caudillo und Marinas entging er dem Todesurteil. Man verwies ihn des Landes.<br />

Danach verlor sich auch seine Spur...<br />

Hernán Cortés, 1485–1547)<br />

(Museo de América, Madrid)<br />

E N D E

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