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1. Teil - kompassrosen.ch

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»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011<br />

Das e-book in den »<strong>kompassrosen</strong>«<br />

_____________________________________________________________<br />

Der Nopalbaum<br />

Roman über die Eroberung Mexikos dur<strong>ch</strong> Hernándo Cortés,<br />

gekürzte und bearbeitete Fassung des Romans »Die weißen Götter«<br />

von Eduard Stucken, herausgegeben unter Verwendung älterer Quellen und<br />

Dokumente<br />

von Bernhard Kay<br />

Ein indianis<strong>ch</strong>er Posten beoba<strong>ch</strong>tet im Jahre 1518von einem Baum aus die Annäherung der spanis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>iffe<br />

an die mexikanis<strong>ch</strong>e Küste (Gemälde von Diego Duràn, einem zeitgenössis<strong>ch</strong>en spanis<strong>ch</strong>en Historiker, in dessen<br />

Bu<strong>ch</strong> zahlrei<strong>ch</strong>e einfa<strong>ch</strong>e, in ihrer originellen Art aber hö<strong>ch</strong>st lebendige Illustrationen enthalten sind.)


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 2<br />

I N H A L T S V E R Z E I C H N I S<br />

<strong>1.</strong> <strong>Teil</strong>: (<strong>1.</strong> März 2011)<br />

00 Vorwort 3<br />

01 Wasserhäuser 5<br />

02 Die Hahnenfeder 8<br />

03 Silberpuma 17<br />

04 S<strong>ch</strong>ilfrohr 29<br />

05 »Na<strong>ch</strong> Mexico! 42<br />

06 Cempoala 57<br />

07 S<strong>ch</strong>lagender Falke 71<br />

08 Mä<strong>ch</strong>tiger Felsen 83<br />

09 Goldmaske 97<br />

10 Tlaxcala 116<br />

11 Weißer Sommervogel 134<br />

Auf der Index-Seite<br />

befinden si<strong>ch</strong> Links zu folgenden<br />

PDF-Dateien:<br />

Zeittafel<br />

Glossar und Namensverzei<strong>ch</strong>nis<br />

Karte 1:<br />

Der Weg der Conquistadoren 1519<br />

Karte 2:<br />

Die Lage von Teno<strong>ch</strong>titlán<br />

Karte 3:<br />

Teno<strong>ch</strong>titlán um 1520<br />

Im Ar<strong>ch</strong>iv befinden si<strong>ch</strong>:<br />

<strong>Teil</strong> 1 vom 0<strong>1.</strong>03.2011<br />

2. <strong>Teil</strong>: (<strong>1.</strong> Juli 2011)<br />

12 Gefleckter Berglöwe 155<br />

13 Herrs<strong>ch</strong>endes Raubtier 168<br />

14 Cholula 187<br />

15 Tempelhüter 207<br />

16 Teno<strong>ch</strong>titlán 221<br />

17 Sengende Glut 232<br />

18 Kiefernzweig 249<br />

19 Moctezuma 264<br />

20 Alvaro 276<br />

(Zitate und<br />

Originalbezei<strong>ch</strong>nungewerden kursiv<br />

widergegeben.<br />

Ausspra<strong>ch</strong>e mexikanis<strong>ch</strong>er Wörter:<br />

<strong>ch</strong> und x wie deuts<strong>ch</strong>es s<strong>ch</strong>; z wie s; l<br />

am Wortende wird ni<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en; hu<br />

vor Vokal wie w, z.B. Miahuaxiutl (Maisblume):<br />

Miawas<strong>ch</strong>iut – Es werden nur<br />

historis<strong>ch</strong> verbürgte Namen wiedergegeben.<br />

3. <strong>Teil</strong>: (<strong>1.</strong> November 2011)<br />

21 No<strong>ch</strong>e Triste 290<br />

22 Totengeri<strong>ch</strong> 302<br />

23 Otumba 314<br />

24 Olíd 324<br />

25 Isabel 339<br />

26 Tezcoco 350<br />

27 Alderete 365<br />

28 Perlendiadem 374<br />

29 Hinri<strong>ch</strong>tungen 381<br />

30 Maisblume 386<br />

31 Sandoval 402<br />

32 Cuauhtémoc. 411<br />

33 Na<strong>ch</strong>wort 430


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 3<br />

Vorwort<br />

Im Jahre 1519 landete der spanis<strong>ch</strong>e Offizier Hernándo Cortes in Mexiko. Die einheimis<strong>ch</strong>en Aztekenstämme<br />

empfingen ihn als »Sohn der Sonne«, do<strong>ch</strong> der ehrgeizige Cortes nahm ihren Herrs<strong>ch</strong>er<br />

gefangen und unterwarf ihre Hauptstadt Teno<strong>ch</strong>titlán. Cortes war einer der Konquistadoren,<br />

die mit List und Brutalität die Zivilisationen Amerikas zerstörten. Cortés war ein hervorragender<br />

Stratege, er besaß Charme und war ein guter Diplomat.<br />

S<strong>ch</strong>on seit einiger Zeit ging das Gerü<strong>ch</strong>t vom sagenhaften Goldland Eldorado um– Cortés wollte<br />

es finden und für Spanien erobern. Er hatte Kuba, das seit 1511 unter spanis<strong>ch</strong>e Herrs<strong>ch</strong>aft stand,<br />

1519 verlassen, na<strong>ch</strong>dem er si<strong>ch</strong> mit dem Gouverneur der Insel verfeindet hatte. Kaum an der<br />

mexicanis<strong>ch</strong>en Ostküste gelandet, verbrannte er seine Flotte und s<strong>ch</strong>nitt damit den Zaghaften unter<br />

den Soldaten den Rückweg ab. Um mit den Azteken in Verbindung<br />

zu kommen, musste er die Spra<strong>ch</strong>e der Indianer verstehen.<br />

Ein s<strong>ch</strong>iffbrü<strong>ch</strong>iger Spanier, der Geistli<strong>ch</strong>e Geronimo Aguilar, lebte<br />

als Sklave bei einem Mayastamm und hat dort deren Spra<strong>ch</strong>e erlernt.<br />

Aguilar wurde von den Mayas freigelassen und gelangte zu<br />

Cortés, was si<strong>ch</strong> als Glücksfall für Cortez herausstellte. Zudem<br />

gewann er in der Indianerin Marina eine Dolmets<strong>ch</strong>erin und fand<br />

Bundesgenossen in zwei von den Azteken gekne<strong>ch</strong>teten Na<strong>ch</strong>barvölkern.<br />

So konnte er bald na<strong>ch</strong> Anahuac, dem mexicanis<strong>ch</strong>en<br />

Kernland, zur Unterwerfung der Azteken in die Hauptstadt Teno<strong>ch</strong>titlán<br />

aufbre<strong>ch</strong>en. Aber Cortés hatte au<strong>ch</strong> einen starken Feind im<br />

Rücken: den Gouverneur von Kuba! Er musste gegen den Neffen<br />

des Gouverneurs, Pánfilo de Narváez, zu Felde ziehen. Er besiegte<br />

ihn zwar, aber inzwis<strong>ch</strong>en hatte eine aztekis<strong>ch</strong>e Aufruhrpartei in<br />

der Hauptstadt Teno<strong>ch</strong>titlán die Oberhand gewonnen. Moctezumas<br />

Gegner ermordeten den Herrs<strong>ch</strong>er und vertrieben Cortés in der<br />

Na<strong>ch</strong>t der S<strong>ch</strong>recken aus Teno<strong>ch</strong>titlán. Aber ein Jahr später kehrte<br />

er zurück. Er ließ 13 bewaffnete S<strong>ch</strong>iffe bauen, mit deren Hilfe er<br />

am 13. August 1521 Teno<strong>ch</strong>titlán zurückerobern und damit den<br />

Besitz von Mexiko für Spanien si<strong>ch</strong>ern konnte!<br />

Oben: Aztekis<strong>ch</strong>e Darstellung der<br />

Gründungslegende (Codex Mendoza)<br />

Zwei Welten prallten aufeinander, zwis<strong>ch</strong>en denen si<strong>ch</strong> – na<strong>ch</strong> anfängli<strong>ch</strong> friedli<strong>ch</strong>en Annäherungsversu<strong>ch</strong>en<br />

– ni<strong>ch</strong>ts Gemeinsames herstellen ließ. Die Expedition des Cortés war mit allerlei<br />

Glücksrittern gesegnet. Viele ließen si<strong>ch</strong> von den fantastis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ilderungen der Rei<strong>ch</strong>tümer<br />

Amerikas verleiten, um si<strong>ch</strong> mit dem Rest ihres Vermögens und unter<br />

Einsatz des eigenen Lebens an einer Expedition in eines dieser Wunderländer<br />

beteiligen zu können. Die unbarmherzigen Begehrli<strong>ch</strong>keiten<br />

der Conquistadoren und ihre Fehleins<strong>ch</strong>ätzung aztekis<strong>ch</strong>er Todesvera<strong>ch</strong>tung<br />

führten s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> zum Untergang Mexicos.<br />

Das Wappen Mexikos: Adler auf einem Feigenkaktus,<br />

eine S<strong>ch</strong>lange vers<strong>ch</strong>lingend<br />

Weder den Azteken no<strong>ch</strong> den Kastiliern wurde bewusst, dass ihnen<br />

beim Zusammenprall beider Gedankenwelten vieles gemeinsam war. Beide waren grausam, beide<br />

wollten andere Völker unterjo<strong>ch</strong>en, beide pflegten Förmli<strong>ch</strong>keiten bei feierli<strong>ch</strong>en Anlässen, und<br />

beide hielten ihren Glauben ho<strong>ch</strong>. Die Kastilier (die Bezei<strong>ch</strong>nung »Spanier« begann si<strong>ch</strong> erst langsam<br />

zu verbreiten) wollten Rei<strong>ch</strong>tum, Beute und Landbesitz erwerben, den Eingeborenen aber<br />

au<strong>ch</strong> voller Sendungsbewusstsein das Christentum bringen. Ihr Entsetzen angesi<strong>ch</strong>ts der Mens<strong>ch</strong>enopfer<br />

war e<strong>ch</strong>t, ließ sie jedo<strong>ch</strong> in einen kulturellen und zivilisatoris<strong>ch</strong>en Überlegenheitswahn<br />

fallen.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 4<br />

Der Titel »Nopalbaum« geht auf eine mythis<strong>ch</strong>e aztekis<strong>ch</strong>e Sage zurück: »Vor sehr langer<br />

Zeit befahl Huitzilopo<strong>ch</strong>tli den Azteken, aus dem Reiherland auszuwandern. Ihre alte Heimat im<br />

Norden nährte sie ni<strong>ch</strong>t mehr, do<strong>ch</strong> Huitzilopo<strong>ch</strong>tli zeigte ihnen im Traum einen s<strong>ch</strong>immernden<br />

See, den silbrig bes<strong>ch</strong>uppte Fis<strong>ch</strong>e füllten. Er war mit Wasserrosen und Kolbenröhri<strong>ch</strong>t bedeckt<br />

und von zahllosen Wasservögeln, Edelreihern, Ibissen, Seeraben, Si<strong>ch</strong>lern und Blauflügelenten<br />

bevölkert. Dort sollten die Azteken siedeln, dort, wo der Nopalbaum wä<strong>ch</strong>st, auf dessen Spitze ein<br />

Adler horstet, der eine S<strong>ch</strong>lange vers<strong>ch</strong>lingt.«<br />

Die Namen historis<strong>ch</strong> belegter Personen, Europäer wie Mexikaner, wurden unverändert<br />

übernommen und sind im Namensverzei<strong>ch</strong>nis aufgeführt, andere sind erfunden. I<strong>ch</strong> habe mi<strong>ch</strong> für<br />

die im Duden verwendete S<strong>ch</strong>reibweise Moctezuma ents<strong>ch</strong>lossen; andere S<strong>ch</strong>reibweisen lauten<br />

Montezuma, Motecuzoma, Motecucoma oder Motecucuoma, Cortés selber s<strong>ch</strong>rieb Mutezuma. Die<br />

Worte Azteken, Azteca und Mexica werden identis<strong>ch</strong> benutzt; i<strong>ch</strong> habe mi<strong>ch</strong> Hugh Thomas anges<strong>ch</strong>lossen,<br />

der Mexico und Mexica mit dem Bu<strong>ch</strong>staben »c« s<strong>ch</strong>reibt, um so den historis<strong>ch</strong>en Gehalt<br />

von den heutigen Bedeutungen »Mexiko« und »Mexikaner« abzugrenzen.<br />

Das Bu<strong>ch</strong> von Eduard Stucken († 9.3.1936) ers<strong>ch</strong>ien in den Jahren 1918 bis 1922; seine<br />

damals beim Publikum beliebte literaris<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e ist heute s<strong>ch</strong>wer zu lesen. Die vorliegende<br />

Fassung wurde in einen heute verständli<strong>ch</strong>en Duktus gebra<strong>ch</strong>t, vieles weggelassen, Szenen dazuges<strong>ch</strong>rieben<br />

und vieles dem heutigen Verständnis angepasst. Das ganze Bu<strong>ch</strong> wurde quasi<br />

völlig umgearbeitet und die dreibändige Ausgabe mit über 1500 Bu<strong>ch</strong>seiteneiten stark gekürzt. Die<br />

hier vorgelegte Fassung ist bisher unveröffentli<strong>ch</strong>t.<br />

Lage und<br />

Ausdehnung<br />

des Aztekenrei<strong>ch</strong>es<br />

um<br />

1520


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 5<br />

<strong>1.</strong> <strong>Teil</strong><br />

Das Bild aus der s<strong>ch</strong>on erwähnten Chronik Diego Duràns s<strong>ch</strong>ildert die Szene, die si<strong>ch</strong> am Karsamstag 1519<br />

zugetragen hat: Doña Marina, die eingeborene Prinzessin, dolmets<strong>ch</strong>t für Cortés die Anspra<strong>ch</strong>e des<br />

mexicanis<strong>ch</strong>en Gesandten (ganz re<strong>ch</strong>ts, hinter Cortés). Cortés Flotte ankert in Si<strong>ch</strong>tweite an der Küste.<br />

<strong>1.</strong> Wasserhäuser<br />

»Töte mi<strong>ch</strong>, o König und Herr, i<strong>ch</strong> habe zehnfa<strong>ch</strong>en Tod verdient, denn ungerufen kam i<strong>ch</strong>!<br />

Vernimm, was i<strong>ch</strong> zu beri<strong>ch</strong>ten habe, was si<strong>ch</strong> am Ufer des Ostmeeres ereignete.«<br />

(Crónica Mexicana, Kap. CVI; 1598)<br />

Cuxíco rannte! Mit langen S<strong>ch</strong>ritten und den fließenden Bewegungen des Langstreckenläufers<br />

eilte er seinem Ziel entgegen. Seit dem Morgengrauen war er unterwegs. Flink und unermüdli<strong>ch</strong><br />

folgte er der Straße na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán, und er war no<strong>ch</strong> immer ni<strong>ch</strong>t müde. Cuxíco war ein junger<br />

Mann, s<strong>ch</strong>lank und dur<strong>ch</strong>trainiert. Stolz trug der S<strong>ch</strong>nellläufer die Embleme seines Auftrags, si<strong>ch</strong>tbare<br />

Abzei<strong>ch</strong>en, an denen zu erkennen war, ob er dem König wi<strong>ch</strong>tige oder weniger wi<strong>ch</strong>tige, gute<br />

oder s<strong>ch</strong>limme Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t überbra<strong>ch</strong>te. Vor se<strong>ch</strong>s Stunden hatte er die Meldung von einem anderen<br />

S<strong>ch</strong>nellläufer übernommen. In den Dörfern und Städten, die er bei früheren Aufträgen dur<strong>ch</strong>lief,<br />

hinterließ er zuweilen Jubel, zuweilen Trauer. Diesmal aber hatte er bei den Leuten, die er<br />

unterwegs angetroffen hatte, nur spra<strong>ch</strong>loses Ni<strong>ch</strong>tbegreifen hervorgerufen, denn die Insignien<br />

seines Auftrags verrieten Bots<strong>ch</strong>aften, deren Wi<strong>ch</strong>tigkeit ni<strong>ch</strong>t einzuordnen waren, die aber ungeheure<br />

Folgen na<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> ziehen könnten.<br />

In Anahuac kannten sie keine Reittiere, trotzdem war für einen regelmäßigen, zuverlässigen<br />

Botendienst gesorgt, und Meldungen aus den entlegenen <strong>Teil</strong>en des Rei<strong>ch</strong>es errei<strong>ch</strong>ten die<br />

Hauptstadt in kürzester Zeit. An den gut gepflasterten Straßen waren in Abständen Stationen erbaut,<br />

wo stets Träger und Boten bereitstanden, einander abzulösen.<br />

Cuxíco hatte die Höhen von Tlalmanalco hinter si<strong>ch</strong> gelassen, nun lag die paradiesis<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>öne Seenlands<strong>ch</strong>aft unter ihm. Bald würde er am Ufer des Sees ankommen und bei Iztapalapá<br />

den großen Seedamm na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán errei<strong>ch</strong>en. Dann no<strong>ch</strong> eine halbe Stunde bis zur Festung


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 6<br />

Aca<strong>ch</strong>inanco, die inmitten des Tezcocosees den südli<strong>ch</strong>en Zugang zur Hauptstadt bewa<strong>ch</strong>t. Und<br />

während er die kurze Strecke na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán zurücklegt, werden die Wä<strong>ch</strong>ter vom Turm aus<br />

Signale zum Huei tecpan senden, dem Königspalast, und die Ankunft des Boten melden. Im Großen<br />

Palast wird der Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e die Dringli<strong>ch</strong>keit der Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten, die<br />

Cuxíco überbringt, soglei<strong>ch</strong> an den Abzei<strong>ch</strong>en erkennen und ents<strong>ch</strong>eiden, ob der Herr der Welt<br />

beim Essen, Spiel oder S<strong>ch</strong>laf gestört werden durfte.<br />

Ohne den Inhalt der Bots<strong>ch</strong>aft zu kennen war ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, dass Cuxíco wi<strong>ch</strong>tige Kunde bra<strong>ch</strong>te,<br />

und so hatte es der Oberhaushofmeister gewagt, ungerufen in den Thronsaal einzutreten.<br />

Moctezuma befahl ihm, mit dem Boten zuglei<strong>ch</strong> die Berater der Krone hereinzurufen, und<br />

glei<strong>ch</strong> darauf traten die Ratgeber ein, mit phantastis<strong>ch</strong> gegabelten Zeremonienstäben in den Händen:<br />

Cuitlahuac, der Überwinder, Fürst von Iztapalapá und einziger Bruder Moctezumas; Calpopoca,<br />

die Sengende Glut, ein Oberfeldherr im Rang eines Vorstehers des Hauses der Spiegels<strong>ch</strong>lange;<br />

und endli<strong>ch</strong> der Weibli<strong>ch</strong>e Zwilling, der hö<strong>ch</strong>ste Würdenträger und Kanzler. Bei allen Staatsges<strong>ch</strong>äften<br />

stand der Weibli<strong>ch</strong>e Zwilling dem König zur Seite. Gebeugt ging er unter der Last von<br />

hundertundse<strong>ch</strong>s Lebensjahren.<br />

Die Sengende Glut war ein ernster und bes<strong>ch</strong>eidener Mann; in seinem blaugelb bemalten<br />

Antlitz lag ein melan<strong>ch</strong>olis<strong>ch</strong>er Ausdruck, und die Federkrone auf dem Haupt, die grellbunte Bemalung<br />

und das Nasengehänge aus Türkis, das bis zur unteren Gesi<strong>ch</strong>tshälfte rei<strong>ch</strong>te, verdeckten die<br />

s<strong>ch</strong>wermütige Aura des hohen Kriegers ni<strong>ch</strong>t. Die Sengende Glut stand Moctezuma besonders<br />

nahe, seit er ihm vor Jahren das Leben gerettet hatte, bei einem Sklavenraubzug, den der Zornige<br />

Herr − no<strong>ch</strong> als Prinz, do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on zum König gewählt − hatte unternehmen müssen: Zehntausend<br />

Gefangene waren zu ma<strong>ch</strong>en, ihre Herzen mussten zur Feier seiner Krönung dem Himmel dargebra<strong>ch</strong>t<br />

werden. Die Sengende Glut und der König waren Altersgenossen, eben ins vierzigste Lebensjahr<br />

getreten.<br />

Moctezumas Bruder, der Überwinder, war zwei Jahre jünger. Breit traten die Wangenkno<strong>ch</strong>en<br />

in seinem Gesi<strong>ch</strong>t hervor, und die gebogen vorspringende Nase verlieh ihm den Ausdruck<br />

eines entfiederten Papageien. Der Überwinder war von kraftvollem, ritterli<strong>ch</strong>em Wesen, aber au<strong>ch</strong><br />

fieberverzehrt von der Malaria, die er si<strong>ch</strong> bei einem Feldzug gegen die Maya in Yucatán zugezogen<br />

hatte. Wie Moctezuma war au<strong>ch</strong> er s<strong>ch</strong>weigsam, do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>neller zum Handeln bereit. Und der<br />

feste ruhige Blick seiner s<strong>ch</strong>warzen Augen unters<strong>ch</strong>ied si<strong>ch</strong> vorteilhaft vom unsi<strong>ch</strong>eren Flackern in<br />

den Augen des Großkönigs.<br />

Na<strong>ch</strong> stummer Begrüßung nahmen die Ratgeber auf niedrigen, mit bunt gemusterten<br />

Baumwollkissen bedeckten S<strong>ch</strong>emeln zu Füßen des Königs Platz. Zwei s<strong>ch</strong>öne cocos in grasgrünen,<br />

bis an die roten Knie rei<strong>ch</strong>enden Röcken bra<strong>ch</strong>ten Tons<strong>ch</strong>alen mit heißem Tee.<br />

Cuxíco, den der Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e auf einen Wink Moctezumas hereinführte,<br />

ließ ein Kügel<strong>ch</strong>en aus Kopalharz in ein Kohlenbecken nahe der Tür fallen, um dem Herrn<br />

der Welt zu räu<strong>ch</strong>ern; er näherte si<strong>ch</strong> mit drei Verbeugungen, wobei er »Großer Herr! Großer Herr!<br />

Erhabener großer Herr!« spra<strong>ch</strong>. Dann warf er si<strong>ch</strong> zu Boden und erhob si<strong>ch</strong> erst, als Moctezuma<br />

ihn zum Reden ermuntert hatte.<br />

Cuxíco begann mit gesenktem Blick: »Töte mi<strong>ch</strong>, o König und Herr, i<strong>ch</strong> habe zehnfa<strong>ch</strong>en<br />

Tod verdient, denn ungerufen kam i<strong>ch</strong>! Vernimm, was i<strong>ch</strong> zu beri<strong>ch</strong>ten habe, was si<strong>ch</strong> am Ufer des<br />

Ostmeeres ereignete. Drei Häuser, gezimmert aus Holz, groß wie Türme oder wie kleine Hügel,<br />

s<strong>ch</strong>wammen auf den Wellen, so lei<strong>ch</strong>t wie Na<strong>ch</strong>en. Und auf den Dä<strong>ch</strong>ern der drei Wasserhäuser<br />

sah man weiße Götter, Diener des großen Quetzalcoatl! Do<strong>ch</strong> ob Unser Herr Quetzalcoatl unter<br />

ihnen war, weiß i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t.«<br />

Eine S<strong>ch</strong>walbe hatte si<strong>ch</strong> in den Saal verirrt und s<strong>ch</strong>oss unter dem Zedergebälk blitzs<strong>ch</strong>nell<br />

hin und her, auf der Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> einem Weg hinaus. Ihr ängstli<strong>ch</strong>er Ruf s<strong>ch</strong>rillte dur<strong>ch</strong> die Totenstille.<br />

Der König s<strong>ch</strong>wieg lange. Seit einem Jahrzehnt senkten si<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>atten weißer Männer<br />

auf alle Freuden. Im Volk war es s<strong>ch</strong>on geraunt worden. Bis in die vulkanumgrenzte Ho<strong>ch</strong>ebene<br />

Anahuacs war das Gerü<strong>ch</strong>t von ihren Besu<strong>ch</strong>en an östli<strong>ch</strong>en Küstenstri<strong>ch</strong>en gedrungen. Moctezuma<br />

glaubte, in jedem Naturereignis ein Zei<strong>ch</strong>en des nahenden Weltendes zu sehen. Und es<br />

fehlte ni<strong>ch</strong>t an Zei<strong>ch</strong>en – au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an Zei<strong>ch</strong>endeutern. War do<strong>ch</strong> der sonst so friedli<strong>ch</strong>e See, in<br />

dem die Lagunenstadt Teno<strong>ch</strong>titlán erri<strong>ch</strong>tet war, erst vor wenigen Monaten von Stürmen aufgewühlt<br />

worden und hatte die Stadtteile an seinen Ufern überspült. Und bald darauf hatte man in ei-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 7<br />

ner Luftspiegelung im Dunst der untergehenden Sonne gepanzerte, kämpfende Männer mit wilden<br />

Bärten erkannt. Zu allem Unglück zeigte si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> ein Komet am Na<strong>ch</strong>thimmel und zog zwei<br />

Monde lang Na<strong>ch</strong>t für Na<strong>ch</strong>t seine Bahn über die Königsstadt.<br />

»Sagst du die Wahrheit?«, fragte Moctezuma s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong>.<br />

»Herr und König, es ist wahr, Fremde sind an die Küste des großen Meeres gekommen.<br />

Man sah, wie sie von einem kleinen Boot aus fis<strong>ch</strong>ten. Einige hielten Ruten, andere warfen ein<br />

Netz. Sie fis<strong>ch</strong>ten, bis es spät wurde. Dann fuhren sie zu ihren beiden großen Wasserhäusern zurück<br />

und stiegen hinein. Es waren ungefähr fünfzehn Männer. Einige trugen blaue Umhänge, andere<br />

rote, wieder andere s<strong>ch</strong>warze oder grüne und hässli<strong>ch</strong>e braune. Auf dem Kopf trugen sie rote<br />

Tü<strong>ch</strong>er oder s<strong>ch</strong>arla<strong>ch</strong>rote Mützen, und einige hatten si<strong>ch</strong> große runde Hüte aufgesetzt, die wie<br />

unsere comales aussehen und wohl vor der Sonne s<strong>ch</strong>ützen sollten. Sie haben sehr helle Haut,<br />

viel heller als wir. Sie tragen alle lange Bärte, aber ihr Haar rei<strong>ch</strong>t nur bis an die Ohren.« Cuxíco<br />

überrei<strong>ch</strong>te dem Weibli<strong>ch</strong>en Zwilling eine Pergamentrolle. »O großer König, du S<strong>ch</strong>wert der Götter,<br />

der Mens<strong>ch</strong>enmaler hat es aufgezei<strong>ch</strong>net, es ist alles so, wie i<strong>ch</strong> es beri<strong>ch</strong>tet habe.«<br />

Der Weibli<strong>ch</strong>e Zwilling gab die Rolle an die Sengende Glut weiter; der Kanzler war fast erblindet.<br />

Der Feldherr entrollte das Pergament, prüfte es kritis<strong>ch</strong> und rei<strong>ch</strong>te es dem König. Moctezuma<br />

starrte es an, ohne viel zu sehen. Tränen vers<strong>ch</strong>leierten ihm den Blick. Er war niederges<strong>ch</strong>lagen<br />

und spra<strong>ch</strong> kein Wort.<br />

Na<strong>ch</strong> einer Weile fragte Moctezuma: »Sind sie herabgestiegen auf die Erde?«<br />

»O großer König, o Zorniger Herr, meine Augen sahen es ni<strong>ch</strong>t«, antwortete Cuxíco. »Die<br />

Wasserhäuser verließen na<strong>ch</strong> drei Tagen die Bu<strong>ch</strong>t und glitten nordwärts. Es mag wohl sein, dass<br />

sie weiter im Norden vom Himmel herabgestiegen sind. Meine Augen haben es ni<strong>ch</strong>t gesehen; i<strong>ch</strong><br />

bin nur einer der Stafettenboten und eilte her in den Großen Palast, um es vor deinem Mund und<br />

deinem Antlitz zu melden.«<br />

Wieder saß Moctezuma lange in Na<strong>ch</strong>denken versunken. Dann ließ er den Blick über die<br />

Ratgeber s<strong>ch</strong>weifen. Die Ungeduld seines Bruders war unverkennbar.<br />

»Rede«, sagte Moctezuma zu ihm.<br />

»O großer König, o Zorniger Herr! Dein Kriegsheer ist deine Axt! Recke deinen Arm aus bis<br />

an die Meeresbrandung. Ma<strong>ch</strong>e mi<strong>ch</strong> zur Hand, die deine Axt s<strong>ch</strong>wingt...«<br />

Moctezuma unterbra<strong>ch</strong> ihn. »O tapferer Krieger, o Überwinder«, sagte er, »hast du s<strong>ch</strong>on mit<br />

Göttern gerungen?«<br />

Der Überwinder s<strong>ch</strong>wieg.<br />

Der König wandte si<strong>ch</strong> fragend an die Sengende Glut. »Und was denkt mein Freund?«<br />

»Im Jahre Vier-Haus«, sagte die Sengende Glut, »vor nunmehr zehn Jahren, kam s<strong>ch</strong>on<br />

einmal ein Bote, der Wasserhäuser auf dem Meer erblickt hat, und auf den Dä<strong>ch</strong>ern der Wasserhäuser<br />

sah er weiße Götter. Do<strong>ch</strong> unser Land betraten die Söhne der Sonne ni<strong>ch</strong>t.«<br />

»Weil wir sie mit süßem Blut bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigt haben!«, brabbelte mit zahnlosem Mund der<br />

Weibli<strong>ch</strong>e Zwilling.<br />

Diesen unangebra<strong>ch</strong>ten Ausruf empfanden alle als peinli<strong>ch</strong>. Moctezuma vermied es, den<br />

Weibli<strong>ch</strong>en Zwilling anzusehen. Der weiße Gott, vor dessen geweissagter Rückkunft Mexico zitterte,<br />

war ja der Friedensbringer Quetzalcoatl, der Feind des Krieges; und der hatte gegen den blutigen<br />

Opferdienst geeifert.<br />

Moctezuma verfiel wieder in dumpfes Grübeln; über die Anwesenden senkte si<strong>ch</strong> Ratlosigkeit<br />

wie ein s<strong>ch</strong>warzer S<strong>ch</strong>leier. War es fals<strong>ch</strong>, dass Mexico si<strong>ch</strong> vom Himmel begünstigt geglaubt<br />

und zum Dank die Opferzahl vervielfa<strong>ch</strong>t hatte? Hatten ni<strong>ch</strong>t die hohen Götter Huitzilopo<strong>ch</strong>tli und<br />

Tezcatlipoca ihre Allma<strong>ch</strong>t bewiesen, indem sie zum Lohn für die Opfer Siege und immer wieder<br />

Siege verliehen? Hatte ni<strong>ch</strong>t Quetzalcoatl einst vor ihrer Ma<strong>ch</strong>t wei<strong>ch</strong>en müssen, ein gemarterter<br />

Flü<strong>ch</strong>tling? Oder spra<strong>ch</strong>en die Prophezeiungen wahr, dass er siegrei<strong>ch</strong> zurückkäme?<br />

Moctezuma sagte zum Boten: »Du bist ermattet vom langen Lauf. Geh mit der Götter Segen<br />

und ruhe di<strong>ch</strong> aus. Das Meer soll bewa<strong>ch</strong>t werden; i<strong>ch</strong> werde Manns<strong>ch</strong>aften als Wä<strong>ch</strong>ter aufstellen.<br />

Wir haben dur<strong>ch</strong> deinen Mund ein Geheimnis gehört, das niemand außer uns wissen darf. Gib<br />

also a<strong>ch</strong>t auf deine Zunge. − Geh!«<br />

Cuxíco verneigte si<strong>ch</strong> und ging rückwärts aus dem Saal, tief gebeugt.<br />

Moctezuma wartete, bis der Bote vers<strong>ch</strong>wunden war, und fuhr dann fort: »Lasst ihn in den<br />

Teocalli bringen. Man soll ihm die Haut abziehen und seinen Edelstein den Göttern opfern. Au<strong>ch</strong>


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 8<br />

alle anderen Boten, die diese Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t ein Stück des Weges hierher trugen, sind zu töten, ebenso<br />

ihre Weiber, Söhne und Tö<strong>ch</strong>ter. Ihre Häuser werden vertilgt bis auf die Grundmauern, und von<br />

ihrer Verwandts<strong>ch</strong>aft bleibt keiner am Leben. Es muss ein Geheimnis bleiben!«<br />

Moctezuma befahl, die Küste des Ostmeeres dur<strong>ch</strong> Wa<strong>ch</strong>en ständig beoba<strong>ch</strong>ten zu lassen<br />

und bes<strong>ch</strong>loss, Huitzilopo<strong>ch</strong>tli jeden Tag einen Knaben zu opfern, um mit des Himmels Segen die<br />

Fremden von Anahuac fern zu halten.<br />

Der König erhob si<strong>ch</strong>. Die Beratung war zu Ende.<br />

*<br />

Teocalli<br />

Die Zeit verging, ohne dass die Wasserhäuser no<strong>ch</strong> einmal ers<strong>ch</strong>ienen. Bald ließen die Amtsges<strong>ch</strong>äfte<br />

und das bunte Leben bei Hofe den König die Fur<strong>ch</strong>t überwinden, und kein Knabe musste<br />

mehr geopfert werden; Huitzilopo<strong>ch</strong>tli hatte geholfen.<br />

Die Fremden jedo<strong>ch</strong> hatten den verheißungsvollen Landstri<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vergessen. Ein Jahr später<br />

kamen sie wieder. Ein Haufen sorgloser Abenteurer landete, die das Goldland Eldorado finden<br />

wollten! An ihrer Spitze stand ein ma<strong>ch</strong>thungriger und <strong>ch</strong>arismatis<strong>ch</strong>er Glücksritter, der aus dem<br />

Räuberhaufen eine s<strong>ch</strong>lagkräftige Armee formte. Er war tapfer und ehrgeizig, skrupellos und<br />

<strong>ch</strong>armant, do<strong>ch</strong> vor allem strebte er na<strong>ch</strong> Ehre und Rei<strong>ch</strong>tum. Eine spra<strong>ch</strong>begabte Indianerin war<br />

bei ihnen, die in den Ankömmlingen die Erfüllung einer uralten Weissagung ihrer Götter zu erkennen<br />

glaubte! Sie ma<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> auf, das Rei<strong>ch</strong> der Azteken zu erobern.<br />

2. Die Hahnenfeder<br />

»I<strong>ch</strong> habe vor allen Dingen deshalb die Feder ergriffen, weil gewisse Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reiber<br />

von unser aller Verdienst und Waffenerfolg ni<strong>ch</strong>ts vermelden.«<br />

(Denkwürdigkeiten des Feldhauptmanns Bernal Díaz del Castillo)<br />

In Medellín, einer kleinen Stadt in der spanis<strong>ch</strong>en Provinz Estremadura, stand seine Wiege. Er<br />

entstammte einer verarmten, jedo<strong>ch</strong> uralten Hidalgofamilie. Der Familie mangelte es zwar an<br />

Wohlstand, aber sie konnte ihr Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t von gotis<strong>ch</strong>en Königen herleitete. Sein Vater, Don<br />

Martín Cortés de Monroy, ein bes<strong>ch</strong>eidener Hauptmann der Fußtruppen und ein Mann unbefleckter<br />

Ehre, sowie seine Mutter, Doña Catalina Pizarro Altamirano, standen in dem Städt<strong>ch</strong>en in hohem<br />

Ansehen. Sie sparten jeden Escudo, den sie erübrigen konnten, um dem kränkli<strong>ch</strong>en, für<br />

Kriegsdienste untaugli<strong>ch</strong>en Knaben den Besu<strong>ch</strong> einer Universität zu ermögli<strong>ch</strong>en. In der Lateins<strong>ch</strong>ule<br />

war der Knabe faul und unaufmerksam, bis ihn eines Tages, beim Lesen des De bello civili,<br />

der Lehrer verärgert verspottete: »Freili<strong>ch</strong>, faule Mens<strong>ch</strong>en wie du, Hernándo, erobern keine Königrei<strong>ch</strong>e!«<br />

Die Worte brannten si<strong>ch</strong> in des Kindes Seele. Seither war es verwandelt, überflügelte ehrgeizig<br />

die Mits<strong>ch</strong>üler und verließ die S<strong>ch</strong>ule mit Auszei<strong>ch</strong>nung. Kaum vierzehn Jahre alt, war Cortés<br />

Student in Salamanca. Do<strong>ch</strong> damit war er no<strong>ch</strong> zu jung, den Verlockungen des ungebundenen<br />

Bac<strong>ch</strong>antenlebens zu widerstehen, und er ließ si<strong>ch</strong> vom Wirbel der Vergnügen forttreiben. Sein<br />

Ehrgeiz s<strong>ch</strong>wand so s<strong>ch</strong>nell dahin wie sein Geld. Statt Jurisprudenz zu studieren, wie der Vater es<br />

wüns<strong>ch</strong>te, s<strong>ch</strong>loss Cortés si<strong>ch</strong> allerlei liederli<strong>ch</strong>en Leuten an, Dirnen und jungen Literaten, übte<br />

si<strong>ch</strong> in Prosa und s<strong>ch</strong>rieb leidli<strong>ch</strong> gute Verse. Na<strong>ch</strong> zwei Jahren kehrte er mit leerem Beutel und<br />

ohne Examen na<strong>ch</strong> Medellín zurück.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 9<br />

Dort wurde er zum S<strong>ch</strong>recken der ehrbaren Provinzstadt. Ein Ni<strong>ch</strong>tstuer und der S<strong>ch</strong>andfleck<br />

in der Ehre seiner ho<strong>ch</strong>anständigen Eltern, der seinen Unmut an den Bürgern ausließ; er trieb<br />

S<strong>ch</strong>abernack mit Honoratioren und friedli<strong>ch</strong>en Leuten, lärmte na<strong>ch</strong>ts trunken in den Gassen, stieg<br />

den Frauen na<strong>ch</strong> und wurde immer wieder von deren Ehemännern, Vätern oder Brüdern zum Duell<br />

gefordert. In Wirkli<strong>ch</strong>keit langweilte er si<strong>ch</strong> und wurde si<strong>ch</strong> bald bewusst, dass er ni<strong>ch</strong>t zum bürgerli<strong>ch</strong>en<br />

Leben taugte. Da er si<strong>ch</strong> in den Raufhändeln als ges<strong>ch</strong>ickter Florettfe<strong>ch</strong>ter erwies, kam<br />

ihm der Gedanke, er sei zum Kriegshelden geboren. Seine einst so s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gesundheit war<br />

ni<strong>ch</strong>t untergraben. Nur das Geld war vertan, ni<strong>ch</strong>t aber das jugendheiße Blut.<br />

In den Mos<strong>ch</strong>een Granadas ertönten längst <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Gesänge. Die Katholis<strong>ch</strong>en Majestäten<br />

hatten Spanien von Mauren und Juden gesäubert; Kastilien war friedli<strong>ch</strong> und langweilig geworden.<br />

Wer Abenteuer su<strong>ch</strong>te, musste außer Landes ziehen. Am Garigliano-Fluss in Italien, unter<br />

den Fahnen des großen Capitán Consalvo Ferrante oder seines Gegners Cesare Borgia, gab es<br />

no<strong>ch</strong> Abenteuer in dieser Endzeit des Mittelalters zu bestehen. Ein neues Zeitalter, die Renaissance,<br />

dämmerte herauf. Gier und Demut, Seelengröße und Grausamkeit gingen Arm in Arm. Als<br />

ein spanis<strong>ch</strong>er Soldat einem gefangenen S<strong>ch</strong>weizer die Goldkette vom Halse riss, verfolgte der<br />

große Capitán Consalvo Ferrante den fliehenden Frevler, holte ihn ein und strafte ihn mit eigener<br />

Hand. Als der Conte Fabio Orsini einen Getreuen des Cesare Borgia getötet hatte, wus<strong>ch</strong> er si<strong>ch</strong><br />

Hände und Mund mit dem Blut des Ermordeten...<br />

Ruhm war in Italien wohl zu finden, aber kein Gold; daher ents<strong>ch</strong>ied Cortés si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> langem<br />

S<strong>ch</strong>wanken für die Neue Welt. Genau vierzehn Jahre war es her, dass Colón den Fuß auf die<br />

Antillen gesetzt hatte. Der Reiz des Neuen, die S<strong>ch</strong>auer<br />

des Unerfors<strong>ch</strong>ten, die Aussi<strong>ch</strong>t auf Rei<strong>ch</strong>tümer – kurz,<br />

Habsu<strong>ch</strong>t, Tatendrang und Abenteuerlust lockten in das<br />

neue Westland. Der Na<strong>ch</strong>folger des Colón, Don Nicolás<br />

de Ovando, Großkomtur des Ordens von Alcántara, rüstete<br />

1506 eine Flotte aus. Cortés ließ si<strong>ch</strong> anwerben. Do<strong>ch</strong><br />

kurz vor der Abreise kletterte der Held auf einer seidenen<br />

Strickleiter an einer hohen Hausmauer empor, um dur<strong>ch</strong><br />

das Fenster zu einer s<strong>ch</strong>önen Frau zu gelangen. Plötzli<strong>ch</strong><br />

gab das Mauerwerk na<strong>ch</strong>, und Hernándo stürzte zwei<br />

Stockwerke tief, übers<strong>ch</strong>üttet vom na<strong>ch</strong>bröckelnden Gestein<br />

und Kalk. Zwar hatte er si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t den Hals, aber do<strong>ch</strong> mehrere Rippen gebro<strong>ch</strong>en. Die Flotte<br />

segelte ohne ihn ab!<br />

Der Segler, auf dem Cortés zwei Jahre später die Reise na<strong>ch</strong> Westindien antrat, gehörte einem<br />

dunklen Ehrenmann, Alonso Quintero. Bei den Kanaris<strong>ch</strong>en Inseln hievte Quintero verräteris<strong>ch</strong><br />

bei Na<strong>ch</strong>t den Anker und segelte dem Ges<strong>ch</strong>wader der Kauffahrer davon, um in Haiti früher<br />

als die anderen die verfra<strong>ch</strong>teten Waren auf den Markt zu werfen. Do<strong>ch</strong> ein jäher Sturm zersplitterte<br />

seiner Karavelle den Mast und zwang ihn zur Rückkehr. Zum Glück hatten die anderen S<strong>ch</strong>iffe<br />

der Flottille no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t abgelegt. Man flickte den Mast und segelte gemeinsam von den Kanaris<strong>ch</strong>en<br />

Inseln ab, aber bald wiederholte Quintero den bösen Strei<strong>ch</strong> und gelangte diesmal vor den<br />

anderen na<strong>ch</strong> Haiti.<br />

Cortés wurde dank eines Empfehlungss<strong>ch</strong>reibens von einem einflussrei<strong>ch</strong>en Verwandten eine<br />

Plantage – ein so genanntes repartimiento – mit Indianersklaven zugeteilt. Das aber war es<br />

ni<strong>ch</strong>t, was Cortés si<strong>ch</strong> erträumt hatte! »I<strong>ch</strong> kam, mit S<strong>ch</strong>wert und S<strong>ch</strong>ild Gold zu erwerben, ni<strong>ch</strong>t<br />

wie ein Bauer hinter dem Pflug herzugehen«, sagte der Dreiundzwanzigjährige ho<strong>ch</strong>mütig. Denno<strong>ch</strong><br />

ging er eine Weile hinter dem Pflug her. Er pflanzte Zuckerrohr und führte andalusis<strong>ch</strong>e Kühe<br />

ein. Zuweilen s<strong>ch</strong>loss er si<strong>ch</strong> Strafexpeditionen gegen aufständis<strong>ch</strong>e naturales an. Der Kleinkrieg<br />

mit Wilden wurde ihm vertraut.<br />

So ging es drei Jahre lang. Au<strong>ch</strong> in Haiti hatte Cortés zahllose Liebs<strong>ch</strong>aften und ebenso<br />

zahllose Duelle. Bei einem Zweikampf wurde ihm die Unterlippe gespalten. Sonst blieb er immer<br />

Sieger.<br />

Im Jahr 1511 war Diego Colón, der Sohn des großen Admirals, Statthalter von Haiti. Da die<br />

Silbergruben bereits ers<strong>ch</strong>öpft waren, bes<strong>ch</strong>loss er, das bena<strong>ch</strong>barte, s<strong>ch</strong>on von seinem Vater<br />

entdeckte Kuba zu besiedeln und sandte zur Eroberung der Insel ein Heer von dreihundert Mann<br />

aus. Zum Anführer ernannte er Diego de Velásquez. Dieser war einer der ersten Kolonisten der


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 10<br />

Neuen Welt; er hatte s<strong>ch</strong>on Cristoforo Colón auf der zweiten Reise begleitet und galt als tü<strong>ch</strong>tiger<br />

Heerführer, da er siebzehn Jahre lang in europäis<strong>ch</strong>en Kriegen Dienst getan hatte. Velásquez eroberte<br />

Kuba, erwirkte dur<strong>ch</strong> seine Beziehungen zum Präsidenten des Indis<strong>ch</strong>en Amtes in Sevilla,<br />

Juan Rodríguez de Fonseca, Bis<strong>ch</strong>of von Burgos, dass er zum Gobernador Kubas ernannt wurde,<br />

und spra<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> selbst jeder Verpfli<strong>ch</strong>tung gegen Diego Colón los. Das Vertrauen, das Diego<br />

Colón in Velásquez gesetzt hatte, wurde ihm übel gelohnt: Dankbarkeit galt ni<strong>ch</strong>ts in der Welt der<br />

Glücksritter und Emporkömmlinge. So sollte au<strong>ch</strong> Undank Diego de Velásquez später strafen.<br />

Damals s<strong>ch</strong>on ein Se<strong>ch</strong>ziger, korpulent und träge, überließ er die Pazifikation der Insel seinem<br />

skrupellosen Neffen, dem Leutnant Pánfilo de Narváez. Der s<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tete die Indianer ab und<br />

ließ kaum genug übrig, um sie als Sklaven in die Silbergruben zu bringen. Narváez war mittelgroß,<br />

kurzhalsig, mit rotem Bart und rotem Haar. Seine Überhebli<strong>ch</strong>keit und Geistlosigkeit waren so unermessli<strong>ch</strong><br />

wie sein Geiz, obglei<strong>ch</strong> er mit der rei<strong>ch</strong>en Erbin María de Valenzuela verheiratet war.<br />

Mit Diego de Velásquez war Cortés na<strong>ch</strong> Kuba gekommen und musste den hohlköpfigen<br />

Leutnant Narváez als Vorgesetzten erdulden. Pánfilo de Narváez sah in Cortés keinen Rivalen und<br />

ließ si<strong>ch</strong> herab, ihn mit seinem Vertrauen, zuweilen sogar mit seinem Lob zu beehren. Während<br />

des Feldzugs hatte Cortés si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Uners<strong>ch</strong>rockenheit und Tatkraft hervorgetan, und Diego de<br />

Velásquez ernannte ihn zu seinem Privatsekretär.<br />

*<br />

König Ferdinand der Katholis<strong>ch</strong>e starb 1516. Die Kronen von Spanien, beider Sizilien und Flandern<br />

erbten gemeinsam die in geistiger Umna<strong>ch</strong>tung dahindämmernde Johanna von Kastilien und<br />

ihr Sohn, der no<strong>ch</strong> minderjährige Karl. Für die Wahnsinnige und den Knaben führte der kluge, aber<br />

s<strong>ch</strong>on gealterte Kardinal Ximenes die Regents<strong>ch</strong>aft. Er sah, dass si<strong>ch</strong> die indianis<strong>ch</strong>en Angelegenheiten<br />

in s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten Händen befanden. Do<strong>ch</strong> seine Ma<strong>ch</strong>t war ni<strong>ch</strong>t Allma<strong>ch</strong>t, und er vermo<strong>ch</strong>te<br />

den Präsidenten des Indis<strong>ch</strong>en Rates, Juan Rodríguez de Fonseca, Bis<strong>ch</strong>of von Burgos, ni<strong>ch</strong>t<br />

seines Amtes zu entheben. Fonseca liebte und häts<strong>ch</strong>elte die Mittelmäßigkeit, darum s<strong>ch</strong>ätzte er<br />

Talent und Begabung anderer ni<strong>ch</strong>t, und kein Mittel war ihm zu gering, um einen verdienstvollen<br />

Mann zu demütigen.<br />

Dieser kir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Würdenträger hatte Colón in Ketten legen lassen und dem großen Entdecker<br />

den Lebensabend vergällt. Fonseca trug die S<strong>ch</strong>uld daran, dass der ho<strong>ch</strong> begabte Vasco<br />

Núñez de Balboa, der Entdecker der Südsee, Peru ni<strong>ch</strong>t errei<strong>ch</strong>te und s<strong>ch</strong>uldlos den Kopf auf den<br />

Henkerblock legen musste. Und das S<strong>ch</strong>icksal sollte si<strong>ch</strong> diesen Bis<strong>ch</strong>of als den<br />

unversöhnli<strong>ch</strong>sten, gehässigsten und gefährli<strong>ch</strong>sten Feind des Cortés aussu<strong>ch</strong>en.<br />

Kardinal Ximenes konnte den Bis<strong>ch</strong>of von Burgos ni<strong>ch</strong>t entma<strong>ch</strong>ten, setzte dessen verderbli<strong>ch</strong>em<br />

Einfluss aber wenigstens einen Wall entgegen. S<strong>ch</strong>on bald na<strong>ch</strong> der Entdeckung hatten die<br />

Leiden der Indianer die Dominikaner-Mön<strong>ch</strong>e auf Haiti zu einem leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en, mit geistigen<br />

Waffen ausgefo<strong>ch</strong>tenen Feldzug veranlasst. Sie kämpften vor allem gegen die Einführung der<br />

repartimientos – der brutalen Verteilung indianis<strong>ch</strong>er Leibeigener an Kolonisten. Zwar waren die<br />

Urbewohner der Antillen nackte Wilde, do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die wilden Inselbewohner waren für sie Mens<strong>ch</strong>en<br />

– ein Standpunkt, der von vielen Weißen ni<strong>ch</strong>t geteilt wurde. Die spanis<strong>ch</strong>en Kolonisatoren<br />

hatten ihre Gründe für die Behauptung, die naturales seien minderwertig und hätten au<strong>ch</strong> keine<br />

Seele, denn damit waren die Wilden von Gott praktis<strong>ch</strong>erweise zu den Sklaven der Kolonisatoren<br />

bestimmt worden. Von den Dominikanern allerdings wurden die Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te für ihre rothäutigen<br />

S<strong>ch</strong>ützlinge proklamiert. Die Franziskaner stellten si<strong>ch</strong> auf den entgegengesetzten Standpunkt.<br />

Sie verteidigten die Re<strong>ch</strong>te der Kolonisten und ma<strong>ch</strong>ten geltend: Ohne Arbeitskräfte sei das<br />

Land wertlos, und nur dur<strong>ch</strong> strenge Zu<strong>ch</strong>t könnte die Arbeitss<strong>ch</strong>eu der Wilden überwunden werden.<br />

Ausgere<strong>ch</strong>net die Franziskaner ma<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> zu Verteidigern sämtli<strong>ch</strong>er Maßnahmen des<br />

Statthalters Diego de Velásquez; sie fanden au<strong>ch</strong> die Zustimmung des Bis<strong>ch</strong>ofs von Burgos, denn<br />

Diego de Velásquez hatte dem Bis<strong>ch</strong>of ein repartimiento mit a<strong>ch</strong>thundert indianis<strong>ch</strong>en Leibeigenen<br />

zum Ges<strong>ch</strong>enk gema<strong>ch</strong>t.<br />

Kardinal Ximenes tat einen ges<strong>ch</strong>ickten S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>zug und ernannte den kleinen Mön<strong>ch</strong>sorden<br />

der Hieronymiten auf Haiti zum Oberstatthalter der Neuen Welt.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 11<br />

*<br />

Allegoris<strong>ch</strong>e Darstellung des Untergangs<br />

der kubanis<strong>ch</strong>en Ureinwohner: Die Weissen<br />

teilen Land und Rei<strong>ch</strong>tum unter si<strong>ch</strong><br />

auf, treiben die Kubaner in die Sklaverei<br />

und töten die Widerspenstigen.<br />

Cortés blieb ni<strong>ch</strong>t lange Secretarius<br />

des Diego de Velásquez, do<strong>ch</strong> lange<br />

genug, um si<strong>ch</strong> des Statthalters<br />

Gunst und Vertrauen zu erwerben.<br />

Velásquez beförderte ihn zum Alkalden<br />

seiner Residenzstadt St. Jago<br />

de Cuba, denn es kam seiner altersmüden<br />

Bequemli<strong>ch</strong>keit gelegen,<br />

dass Cortés si<strong>ch</strong> als fähig erwies, die<br />

Last der Regierungssorgen zu tragen.<br />

Die stets glei<strong>ch</strong> bleibende Freundli<strong>ch</strong>keit des Cortés gewann des alten Mannes Herz. Er war<br />

kinderlos und liebte Cortés wie einen Sohn. S<strong>ch</strong>on ma<strong>ch</strong>te er Pläne, ihn dur<strong>ch</strong> eine Heirat no<strong>ch</strong><br />

enger an si<strong>ch</strong> zu binden. Aus Granada waren damals vier S<strong>ch</strong>western namens Suárez Pa<strong>ch</strong>eco,<br />

entfernte Verwandte des Diego de Velásquez, na<strong>ch</strong> St. Jago de Cuba gekommen. Sie waren jung,<br />

s<strong>ch</strong>ön und arm. Sie verhehlten ni<strong>ch</strong>t, dass sie Granada verlassen hatten, weil sie in der Neuen<br />

Welt das Glück und einen Gatten zu finden hofften. Diego de Velásquez nahm die s<strong>ch</strong>utzlosen<br />

Mäd<strong>ch</strong>en auf und missbrau<strong>ch</strong>te bald seine vormunds<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Gewalt. Dass die älteste Suárez<br />

das Bett mit ihm teilte, war bald stadtbekannt. An der Jüngsten, Catalina Suárez Pa<strong>ch</strong>eco, fand<br />

Cortés Gefallen. Und bald s<strong>ch</strong>on verfiel das blei<strong>ch</strong>e Mäd<strong>ch</strong>en dem s<strong>ch</strong>önen jungen Mann. Gerührt<br />

dur<strong>ch</strong> ihre Hingebung, verspra<strong>ch</strong> Cortés ihr in einer s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Stunde die Ehe, zog si<strong>ch</strong> dann<br />

aber plötzli<strong>ch</strong> zurück, da ihm Gerü<strong>ch</strong>te zu Ohren kamen, alle vier S<strong>ch</strong>western seien der Lüsternheit<br />

des Diego de Velásquez zum Opfer gefallen. Ob es stimmte oder ni<strong>ch</strong>t: Diego de Velásquez<br />

erinnerte Cortés an sein Eheverspre<strong>ch</strong>en. Der zu Zornausbrü<strong>ch</strong>en neigende, an Gehorsam gewohnte<br />

alte Mann ließ si<strong>ch</strong> sogar dazu hinreißen, Cortés zu bes<strong>ch</strong>impfen. Es kam zum offenen<br />

Bru<strong>ch</strong>.<br />

Hatte der Günstling viele Neider und Hasser gehabt, so sah si<strong>ch</strong> der Feind des Statthalters plötzli<strong>ch</strong><br />

von zahlrei<strong>ch</strong>en Freunden umgeben. Wer missvergnügt war – und auf Kuba waren es die<br />

Meisten –, s<strong>ch</strong>loss si<strong>ch</strong> Cortés an. Die Unzufriedenen berieten, wie den Übergriffen des Gewaltherrs<strong>ch</strong>ers<br />

ein Riegel vorzus<strong>ch</strong>ieben sei. Eine Anklages<strong>ch</strong>rift wurde aufgesetzt und Cortés dazu<br />

ausersehen, mit einem kleinen Boot na<strong>ch</strong> Haiti zu segeln, um dem kürzli<strong>ch</strong> ernannten Oberstatthalter<br />

der Neuen Welt – dem Mön<strong>ch</strong>sorden der Hieronymiten –, die Vorwürfe zu überbringen.<br />

Do<strong>ch</strong> Cortés wurde verraten, auf See ergriffen und in Ketten gelegt. Ein Spei<strong>ch</strong>ellecker des<br />

Gobernadors hatte Diego de Velásquez bena<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>tigt. In seiner Wut wollte er Cortés sofort aufhängen<br />

lassen, aber das S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zen und Gejammer der Catalina Suárez, die si<strong>ch</strong> ihm vor die Füße<br />

geworfen hatte, hielt ihn davon ab. So ließ er Cortés im zweiten Stock des Gefängnisgebäudes<br />

einkerkern. Do<strong>ch</strong> Cortés konnte fliehen: Es gelang ihm, die Fesseln zu lösen und, s<strong>ch</strong>lank wie er<br />

war, dur<strong>ch</strong> die Eisenstäbe des Fensters zu s<strong>ch</strong>lüpfen. Er entkam und su<strong>ch</strong>te Asyl in einer Kir<strong>ch</strong>e.<br />

Da vorauszusehen war, dass Cortés sein Leben teuer verkaufen würde, wagte Diego de<br />

Velásquez ni<strong>ch</strong>t, das heilige Haus dur<strong>ch</strong> ein Gemetzel zu entweihen. Er begnügte si<strong>ch</strong> damit, die<br />

Ausgänge des Gotteshauses bewa<strong>ch</strong>en zu lassen. Einige Tage blieb Cortés unbehelligt. Er glaubte<br />

si<strong>ch</strong> geborgen. Do<strong>ch</strong> als er einmal a<strong>ch</strong>tlos auf den Stufen vor der Kir<strong>ch</strong>e saß, fühlte er si<strong>ch</strong><br />

plötzli<strong>ch</strong> von hinten gepackt. Von allen Seiten stürzten Häs<strong>ch</strong>er herbei, und ehe er si<strong>ch</strong> ihrer erwehren<br />

konnte, wurden ihm die Hände auf den Rücken gebunden. Ergriffen hatte ihn Pedro<br />

Escudero, der Cortés später in Mexico no<strong>ch</strong> weiteres Ungema<strong>ch</strong> bereiten sollte.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 12<br />

Diesmal wurde Cortés auf ein S<strong>ch</strong>iff gebra<strong>ch</strong>t und erneut in Ketten gelegt. Do<strong>ch</strong> wieder gelang<br />

es ihm, Hände und Füße aus den eisernen Ringen zu befreien. Er wartete die Na<strong>ch</strong>t ab und<br />

s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> an Deck. Ein Boot war am S<strong>ch</strong>iff festgebunden. Geräus<strong>ch</strong>los ließ er si<strong>ch</strong> hinabgleiten,<br />

dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nitt das Belegtau, und die Strömung trieb die Jolle ins offene Meer hinaus. Da er keine<br />

Ruder hatte, sprang er ins Wasser, s<strong>ch</strong>wamm an Land zurück und su<strong>ch</strong>te in derselben Kir<strong>ch</strong>e Zuflu<strong>ch</strong>t.<br />

In jenen Tagen kehrte der zweite von Diego de Velásquez ausgesandte und von seinem Neffen<br />

Grijalva befehligte Freibeuterzug von den Küsten Yucatáns na<strong>ch</strong> Kuba zurück. An der Expedition<br />

hatten au<strong>ch</strong> Pedro Alvarado und Alonso Puertocarrero als Kapitäne teilgenommen. Grijalva<br />

hatte den Auftrag, Handelsges<strong>ch</strong>äfte zu ma<strong>ch</strong>en, vor allem aber Sklaven zu fangen. Grijalva<br />

bra<strong>ch</strong>te zwar keine Sklaven mit, dafür aber Gold im Wert von zwanzigtausend Piastern und die<br />

aufregende Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t von Eldorado, einem Goldland namens Mexico. Als Alvarado, dessen S<strong>ch</strong>iff<br />

früher als die anderen eingetroffen war, dem Statthalter die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t überbra<strong>ch</strong>te, zeigte der dicke<br />

Greis große Freude und ließ sofort eine neue Flotte rüsten. Aber ihm fehlte ein<br />

Kommandant. Mit Grijalva war er unzufrieden. Dieser, meinte er, hätte Mexico<br />

glei<strong>ch</strong> in Besitz nehmen sollen.<br />

Juan de Grijalva (1490–1527), spanis<strong>ch</strong>er Entdecker, setzte<br />

als erster Europäer 1518 seinen Fuß auf aztekis<strong>ch</strong>es Gebiet.<br />

Seither hatte si<strong>ch</strong> unausrottbar die Fiktion von Eldorado in die Herzen aller Conquistadoren<br />

gebrannt: Gegen Sonnenuntergang, hieß es, läge ein Land, dessen Pra<strong>ch</strong>t und Rei<strong>ch</strong>tum jede<br />

Vorstellungskraft überstiege; der König dort, der über das Land herrs<strong>ch</strong>t, bade jeden Morgen in<br />

einem See aus Gold und sei – wenn er den See na<strong>ch</strong> dem Bad wieder verlasse – über und über<br />

mit Goldstaub und Goldplätt<strong>ch</strong>en bedeckt.<br />

Obglei<strong>ch</strong> Cortés' Asyl streng bewa<strong>ch</strong>t wurde, waren die Kir<strong>ch</strong>entüren ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>lossen.<br />

Zum Morgen- und Abendgebet strömte das Volk ein und aus. Und da Diego de Velásquez wenig<br />

beliebt war, fehlte es dem Märtyrer seiner Willkür ni<strong>ch</strong>t an Speis und Trank. Auf die Gefahr hin,<br />

si<strong>ch</strong> den Hass des Statthalters zuzuziehen, wagten es Puertocarrero und Alvarado, Cortés in der<br />

Kir<strong>ch</strong>e zu besu<strong>ch</strong>en. Sie erzählten ihm von den Mühseligkeiten und Überras<strong>ch</strong>ungen ihrer abenteuerli<strong>ch</strong>en<br />

Fahrt: wie sie auf der Insel Cozumel Bisams<strong>ch</strong>weine sahen; wie sie an der Küste von<br />

Champoton von s<strong>ch</strong>warz und weiß bemalten Indianern überfallen wurden, während ein Heus<strong>ch</strong>reckens<strong>ch</strong>warm<br />

den Himmel verfinsterte, sodass man die fliegenden Pfeile ni<strong>ch</strong>t von den Insekten<br />

unters<strong>ch</strong>eiden konnte und sämtli<strong>ch</strong>e Kastilier Pfeilwunden davontrugen; wie sie auf einer Insel so<br />

vielen Hirs<strong>ch</strong>en und Kanin<strong>ch</strong>en begegneten, dass ihr Jagdhund vor rasendem Eifer entlief, und<br />

dass sie ihn bei der Rückreise so vollgefressen wieder auffanden, dass er si<strong>ch</strong> kaum no<strong>ch</strong> bewegen<br />

konnte; wie sie Freunds<strong>ch</strong>aft mit einem Kaziken s<strong>ch</strong>lossen und dieser ihnen dur<strong>ch</strong> zwei Indianer<br />

namens Mel<strong>ch</strong>orejo und Julianillo sagen ließ, das Land des Goldes liege gegen Sonnenuntergang<br />

und nenne si<strong>ch</strong> Mexico; wie sie bei Aguayaluco Indianer sahen, die große S<strong>ch</strong>ildkrötens<strong>ch</strong>alen<br />

als S<strong>ch</strong>ilde trugen; wie sie vom Meer aus ewigen S<strong>ch</strong>nee von Glets<strong>ch</strong>ern erblickten, und wie<br />

Alvarado einen na<strong>ch</strong> ihm benannten Fluss stromaufwärts fuhr und sämtli<strong>ch</strong>e Tempel ausraubte;<br />

wie als erster Europäer auf mexikanis<strong>ch</strong>em Boden landete und von einem Statthalter des Königs<br />

von Mexico ausgefragt wurde; und wie sie endli<strong>ch</strong> zu einer Insel gelangten, der Isla de Sacrificios,<br />

wo in einem Tempel vor einem Fur<strong>ch</strong>t erregenden Götzenbild die Lei<strong>ch</strong>en von fünf kurz zuvor ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>teten<br />

Indianerknaben lagen: aus den klaffenden Brustkörben waren die Herzen herausgerissen<br />

und lagen nun auf dem S<strong>ch</strong>oß des Gottes; mit Beilhieben hatte man die Arme und S<strong>ch</strong>enkel<br />

der Knaben abgehackt, und die Tempelwände und das Götzenbild waren mit dem fris<strong>ch</strong>en Blut der<br />

Opfer bes<strong>ch</strong>miert.<br />

Cortés laus<strong>ch</strong>te mit gespannter Aufmerksamkeit und wie im Fieber glänzenden Augen.<br />

»I<strong>ch</strong> muss na<strong>ch</strong> Mexico!«, rief er.<br />

»Ja, wir haben an Eu<strong>ch</strong> geda<strong>ch</strong>t«, sagte Alvarado. »Diego de Velásquez rüstet s<strong>ch</strong>on eine<br />

neue Expedition aus. Er su<strong>ch</strong>t einen Anführer, Don Hernándo. Glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> meiner Ankunft habe<br />

i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> als Generalkapitän vorges<strong>ch</strong>lagen, denn i<strong>ch</strong> wusste no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts von den Misshelligkeiten<br />

zwis<strong>ch</strong>en ihm und Eu<strong>ch</strong>. Kaum hatte i<strong>ch</strong> Euren Namen genannt, geriet er in sol<strong>ch</strong>e<br />

Wut, dass i<strong>ch</strong> davon abließ, ihn weiter zu drängen.«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 13<br />

»I<strong>ch</strong> will selbst mit ihm spre<strong>ch</strong>en! Heute no<strong>ch</strong>! Jetzt glei<strong>ch</strong>!«, rief Cortés und lief zur Kir<strong>ch</strong>entür.<br />

Puertocarrero hielt ihn am Ärmel fest. »Seid ihr toll, Don Hernándo? Er hat ges<strong>ch</strong>woren,<br />

Eu<strong>ch</strong> hängen zu lassen!«<br />

Cortés riss si<strong>ch</strong> los und stürmte hinaus.<br />

Der Profos Escudero bemerkte die Flu<strong>ch</strong>t erst, als Cortés längst auf und davon war. In größter<br />

Bestürzung lief er zum Hause des Statthalters, die Flu<strong>ch</strong>t des Verbre<strong>ch</strong>ers zu melden und si<strong>ch</strong><br />

selbst herauszureden, so gut es ging. Aber als er von einem Diener vor den Gobernador geführt<br />

wurde, konnte er nur no<strong>ch</strong> staunen. Den ho<strong>ch</strong>mögenden Don Diego de Velásquez und den Delinquenten<br />

Cortés fand er bei der Siesta vor, gemeinsam ausgestreckt auf einem Ruhebett.<br />

Don Diego s<strong>ch</strong>ickte Escudero la<strong>ch</strong>end weg; er war gnädig gelaunt, denn Cortés hatte si<strong>ch</strong><br />

bereit erklärt, Doña Catalina Suárez Pa<strong>ch</strong>eco zu heiraten. Don Diegos altes Kriegerherz s<strong>ch</strong>lug<br />

höher angesi<strong>ch</strong>ts der dreimal geglückten Flu<strong>ch</strong>t des Cortés, und er staunte ob der Tollkühnheit des<br />

jungen Mannes, dass dieser es gewagt hatte, ohne Waffen vor ihn hinzutreten. Na<strong>ch</strong> wenigen<br />

Worten waren sie si<strong>ch</strong> wieder um den Hals gefallen.<br />

Kurz darauf führte Cortés Doña Catalina heim. Nun knüpften ihn verwandts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Bande<br />

an Velásquez. Er ging im Statthalterpalais ein und aus und fand so Gelegenheit, mit zwei einflussrei<strong>ch</strong>en<br />

Personen unauffällig Zwiespra<strong>ch</strong>e zu halten. Es waren die Vertrauten des Gobernadors:<br />

sein Sekretär Andrés del Duero und der S<strong>ch</strong>atzmeister Seiner Majestät, Amador de Lluños. Cortés<br />

verpfli<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong>, allen Gewinn des Unternehmens mit ihnen zu teilen. Den beiden Helfershelfern<br />

fiel es ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>wer, dem Statthalter eindringli<strong>ch</strong> klarzuma<strong>ch</strong>en, dass er keinen umsi<strong>ch</strong>tigeren, klügeren<br />

und verwegeneren Führer finden könne als Hernándo Cortés. Der alte Mann vergötterte<br />

seinen neuen Verwandten seit dessen dreimaliger Flu<strong>ch</strong>t. So ernannte er ihn zum capitán generál<br />

der neuen Expeditionsflotte und zum caudillo der Truppen, und er ließ die Bestallung dur<strong>ch</strong> den<br />

Secretario Andrés del Duero mit bester Tinte s<strong>ch</strong>reiben: de muy buen tinta.<br />

Verwandte des Diego de Velásquez hatten damit gere<strong>ch</strong>net, dass einer aus ihren Reihen<br />

das Kommando erhalten würde. Alle Hebel wurden in Bewegung gesetzt, den Statthalter umzustimmen.<br />

Cortés wusste, wie lei<strong>ch</strong>t dieser zu beeinflussen war, und tat das Mens<strong>ch</strong>enmögli<strong>ch</strong>e, die<br />

Abfahrt zu bes<strong>ch</strong>leunigen. Vor der Ho<strong>ch</strong>zeit hatte er seine Braut wie eine Königin mit S<strong>ch</strong>muck<br />

behängt und dabei sein letztes Bargeld vers<strong>ch</strong>leudert. Es gelang ihm, sein repartimiento sowie<br />

eine Silbergrube, die er besaß, für viertausend Dukaten zu versetzen. Er kaufte Munition, Lebensmittel,<br />

Mais, Heu für Pferde und au<strong>ch</strong> Taus<strong>ch</strong>waren: venezianis<strong>ch</strong>e Glasperlen, kleine Spiegel und<br />

Tas<strong>ch</strong>enmesser. Er s<strong>ch</strong>rieb Hunderte von Briefen, und aus allen <strong>Teil</strong>en des Landes strömten<br />

Abenteurer herbei, um si<strong>ch</strong> unter seine Fahnen zu stellen.<br />

Um seiner Person mehr Ansehen zu verleihen, trug Cortés jetzt einen Samtrock, eine s<strong>ch</strong>were<br />

Goldkette um den Hals, die ihm bis an den Gurt rei<strong>ch</strong>te, und ein Barett mit hoher Hahnenfeder.<br />

Am Sonntag na<strong>ch</strong> seiner Ernennung begab si<strong>ch</strong> Diego de Velásquez mit großem Gefolge –<br />

wie es si<strong>ch</strong> für einen Ma<strong>ch</strong>thaber s<strong>ch</strong>ickt – zur Messe in den Dom. Neben ihm s<strong>ch</strong>ritten Cortés und<br />

Andrés del Duero. Da tänzelte plötzli<strong>ch</strong> der bucklige Possenreißer und Narr Cervantes auf der<br />

Straße vor ihnen her. Kreis<strong>ch</strong>end, damit alles Volk es vernehmen könne, rief er:<br />

»O Gobernador, bist du blind?<br />

Du hast – das merkt do<strong>ch</strong> jedes Kind –<br />

Den Fals<strong>ch</strong>en ernannt zum Admiral:<br />

Leid wird’s dir tun no<strong>ch</strong> man<strong>ch</strong>es Mal!<br />

Wie konntest du nur ihn erwählen?<br />

Er wird dir deine Flotte stehlen<br />

Und übers Meer, das sieht ein jeder,<br />

winkt nur no<strong>ch</strong> seine Hahnenfeder!«<br />

Andrés del Duero prügelte den Narren dur<strong>ch</strong> und nannte ihn el <strong>ch</strong>ocarrero, Trunkenbold und<br />

Possenreißer. Velásquez äußerte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t; aber der verbissene Zug in seinem as<strong>ch</strong>grauen Gesi<strong>ch</strong>t<br />

war beredt genug. Die Freunds<strong>ch</strong>aft zu Cortés kühlte seit diesem Tag ab, und er veranlasste<br />

seinen Haushofmeister, Diego de Ordás, als Hauptmann mitzuziehen, um Cortés auf die Finger zu<br />

s<strong>ch</strong>auen.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 14<br />

Dann galt es, s<strong>ch</strong>nell zu handeln. Andrés del Duero und Amador de Lluños ließen Cortés wissen,<br />

dass Diego de Velásquez den Ents<strong>ch</strong>luss gefasst habe, seine Ernennung zu widerrufen und einen<br />

anderen Befehlshaber zu ernennen. Am späten Na<strong>ch</strong>mittag hatte Cortés die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t erhalten,<br />

und s<strong>ch</strong>on am Abend desselben Tages wurden in aller Heimli<strong>ch</strong>keit die Manns<strong>ch</strong>aften einges<strong>ch</strong>ifft.<br />

In der Na<strong>ch</strong>t ließ Cortés sämtli<strong>ch</strong>e Fleis<strong>ch</strong>erläden der Stadt ausrauben und hinterließ seine goldene<br />

Halskette als Bezahlung. Am anderen Morgen ma<strong>ch</strong>ten die Bewohner St. Jagos die Entdeckung,<br />

dass ihnen das Fleis<strong>ch</strong> zur Suppe fehlte. Hausfrauen, Kö<strong>ch</strong>e<br />

und Kü<strong>ch</strong>enmäd<strong>ch</strong>en strömten in S<strong>ch</strong>aren lärmend zum Statthalterpalais.<br />

Don Diego lief halb angekleidet zum Hafen, den Possenreißer<br />

Cervantes auf den Fersen. Cortés erblickte den Statthalter am Ufer,<br />

bestieg ein Boot und ruderte zu ihm herüber. In respektvoller Entfernung<br />

hielt er und ließ den Na<strong>ch</strong>en in den Wellen s<strong>ch</strong>aukeln.<br />

Diego de Velásquez (1465–1524),<br />

Gouverneur von Kuba und Cortés Förderer<br />

»Nehmt Ihr so von mir Abs<strong>ch</strong>ied? Wahrli<strong>ch</strong>, das nenne i<strong>ch</strong> ein feines<br />

Benehmen!«, rief der dicke alte Mann zornig.<br />

»Ents<strong>ch</strong>uldigt«, versetzte Cortés, »do<strong>ch</strong> die Zeit drängt; und s<strong>ch</strong>neller<br />

als ein Gedanke muss sol<strong>ch</strong> eine Tat sein, wenn sie gelingen soll.<br />

Wenn Ihr no<strong>ch</strong> ein Anliegen habt, sagt es mir jetzt, denn Gott weiß,<br />

wann wir uns wieder sehen werden.«<br />

Don Diego streckte stumm die geballte Faust zum Morgenhimmel<br />

empor, dann wandte er si<strong>ch</strong> um und ging davon. Mit seiner gepflegten Hand winkte ihm Cortés<br />

freundli<strong>ch</strong> einen Abs<strong>ch</strong>iedsgruß na<strong>ch</strong>. Der Narr Cervantes war derweil an das Boot heranges<strong>ch</strong>wommen,<br />

um es zum Kentern zu bringen. Aber seine Kräfte rei<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t, und um ein Haar<br />

wäre er ertrunken. Mit spöttis<strong>ch</strong>em Mitleid zog Cortés den Ers<strong>ch</strong>öpften ins Boot und nahm ihn mit<br />

auf das Flaggs<strong>ch</strong>iff. Dann wurden unverzügli<strong>ch</strong> die Anker geli<strong>ch</strong>tet, und die Flotte verließ St. Jago.<br />

Der Possenreißer musste gegen seinen Willen Mexico erobern helfen.<br />

*<br />

An der Südküste Kubas, in den Häfen Trinidad und La Havanna, ma<strong>ch</strong>te die Flotte Zwis<strong>ch</strong>enstation<br />

und nahm den Rest der Manns<strong>ch</strong>aft, Ges<strong>ch</strong>ütze, Munition und die se<strong>ch</strong>zehn Pferde an Bord.<br />

Francisco Verdago, der Alcalde von Trinidad und S<strong>ch</strong>wager des Diego de Velásquez, sowie Pedro<br />

Barba, der Stadtkommandant von La Havanna, erhielten dur<strong>ch</strong> Eilboten vom Statthalter den<br />

s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>en Befehl, Cortés zu fangen, ihn abzusetzen und in Ketten zu legen. Do<strong>ch</strong> beide erkannten<br />

die Unmögli<strong>ch</strong>keit, einem ausgeruhten Heer den beliebten Kommandanten zu entreißen. Pedro<br />

Barba händigte Cortés sogar den Haftbefehl (und einen zweiten Brief, der später no<strong>ch</strong> Bedeutung<br />

erlangen sollte) aus und ließ si<strong>ch</strong> als Hauptmann der Armbrusts<strong>ch</strong>ützen von ihm anwerben. Au<strong>ch</strong><br />

an seinen bisherigen Haushofmeister Ordás hatte Velásquez einen Brief ges<strong>ch</strong>rieben und verlangt,<br />

er solle Cortés zu einem Festessen laden und an der Tafel von gedungenen Banditen überfallen<br />

lassen. Do<strong>ch</strong> der ritterli<strong>ch</strong>e Ordás warf das S<strong>ch</strong>reiben ins Feuer.<br />

Na<strong>ch</strong>dem die Watterüstungen für die Soldaten genäht, die Lanzenspitzen ges<strong>ch</strong>miedet und<br />

alle erhältli<strong>ch</strong>en Pfeile aufgekauft waren, segelten am 18. Februar 1519 die elf Karavellen von Kuba<br />

ab und steuerten westwärts dem unbekannten, geheimnisrei<strong>ch</strong>en Land des Goldes, der Wunder<br />

und der S<strong>ch</strong>recken entgegen.<br />

Bei der Abreise von Kuba hatten die Kastilier zwei Indianer, die s<strong>ch</strong>on erwähnten Julianillo<br />

und Mel<strong>ch</strong>orejo, als Dolmets<strong>ch</strong>er mitgenommen. Als Don Diego de Velásquez zwei Jahre zuvor<br />

drei S<strong>ch</strong>iffe unter Führung des Feldhauptmannes Hernández de Córdova ausgesandt hatte, Sklaven<br />

zu fangen, war Yucatán wieder entdeckt worden. (S<strong>ch</strong>on Colón hatte es berührt und über die<br />

Sittsamkeit der Mayafrauen gestaunt, die an den S<strong>ch</strong>iffsleitern emporkletternd ihre Röcke festhielten.)<br />

Die Manns<strong>ch</strong>aft des Córdova – unter der si<strong>ch</strong> man<strong>ch</strong> <strong>Teil</strong>nehmer befand, der nun mit Cortés<br />

gezogen war – hatte na<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>werem Kampf mit den Einheimis<strong>ch</strong>en diese beiden Indianer aufgegriffen.<br />

Trotz dem unerbetenen Taufwasser des fetten Lizentiaten Juan Díaz, trotz der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en<br />

Namengebung, europäis<strong>ch</strong>er Kleidung und zweijährigem Aufenthalt auf der Insel Kuba waren »der


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 15<br />

kleine Julian« und »der alte Mel<strong>ch</strong>ior« nur oberflä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> zivilisiert. Aber na<strong>ch</strong> ihrer Abreise von Havanna<br />

war Cortés auf sie angewiesen, wie wenig Verlass auf die vers<strong>ch</strong>mitzt grinsenden, vers<strong>ch</strong>lossenen<br />

Burs<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong> sein mo<strong>ch</strong>te.<br />

Diego Veláqsquez fuhr mit Kolumbus 1493 in die Neue Welt.<br />

Als Statthalter von Kuba rüstete er später mehrere Expeditionen<br />

aus, die in der Karibis<strong>ch</strong>en See na<strong>ch</strong> Gold su<strong>ch</strong>en sollten.<br />

Eine dieser Expeditionen — wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> die von Francisco<br />

de Córdova — zeigt das zeitgenössis<strong>ch</strong>e Bild links. Alle Unternehmen<br />

stießen auf heftigen Widerstand bei den Indianern,<br />

deren Bogen und S<strong>ch</strong>werter keine glei<strong>ch</strong>wertigen Waffen gegen<br />

den Stahl und die S<strong>ch</strong>ußwaffen der Spanier bildeten. Das<br />

Bild unten stellt eine sol<strong>ch</strong>e Kampfszene aus der Si<strong>ch</strong>t eines<br />

Künstlers im 19. Jahrhundert dar.<br />

Auf der Reise berührte Cortés die Küste von<br />

Yucatán, wo s<strong>ch</strong>on vor ihm Córdova und Grijalva gelandet<br />

waren. Bei der Insel Cozumel hörte er von Indianern<br />

öfter das Wort Kastilan. Au<strong>ch</strong> Córdova hatte<br />

diese Beoba<strong>ch</strong>tung gema<strong>ch</strong>t. Dur<strong>ch</strong> Mel<strong>ch</strong>orejo und Julianillo ließ er die Indianer ausfragen und<br />

erfuhr, dass auf dem Festland, zwei Tagesreisen von der Küste entfernt, zwei Kastilier als Sklaven<br />

eines Kaziken lebten. Cortés s<strong>ch</strong>ickte indianis<strong>ch</strong>e Boten mit einem Brief an die weißen Sklaven<br />

und gab ihnen für den Kaziken einen Haufen Glaskorallen als Lösegeld mit. Die Händler reisten ab<br />

und übermittelten Brief und Ges<strong>ch</strong>enk. Der Kazike nahm das Lösegeld gern an und gestattete den<br />

weißen Sklaven, si<strong>ch</strong> zur Küste und in den S<strong>ch</strong>utz ihrer Landsleute zu begeben. Die beiden waren<br />

der Franziskaner-Frater Jerónimo de Aguilár und ein Matrose namens Gonzalo Guerrero. Ein<br />

S<strong>ch</strong>iffbru<strong>ch</strong> hatte sie sieben Jahre zuvor mit vielen anderen Weißen an diese Küste vers<strong>ch</strong>lagen.<br />

Ihre Leidensgefährten waren auf den Götzenaltären verblutet; nur sie beide hatte man am Leben<br />

gelassen – den Matrosen, weil er si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Dienstfertigkeit beliebt gema<strong>ch</strong>t hatte, und den Frater,<br />

weil die Indianer ihn seiner ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Enthaltsamkeit wegen als Heiligen verehrten. Der<br />

Kazike hatte ihm eine Indianerin als Ehefrau angeboten – ein Gnadenbeweis, den der fromme Frater<br />

mit Dankesbeteuerungen zurückweisen musste. Als Grund für seine Weigerung hatte er auf die<br />

Fragen des gekränkten Kaziken erklärt, ein Gelübde untersage es ihm, Frauen zu berühren. Das<br />

ers<strong>ch</strong>ien dem Maya-Fürsten so ungeheuerli<strong>ch</strong> und unglaubli<strong>ch</strong>, dass er si<strong>ch</strong> vornahm, der Sa<strong>ch</strong>e<br />

auf den Grund zu gehen. Drei Nä<strong>ch</strong>te lang wurde die Reinheit Aguilárs auf die Probe gestellt:<br />

halbwü<strong>ch</strong>sige nackte Mäd<strong>ch</strong>en umtanzten ihn, reihten si<strong>ch</strong> in hockender Stellung vor ihm auf, verhöhnten<br />

ihn ki<strong>ch</strong>ernd, s<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elten und strei<strong>ch</strong>elten, zupften ihn an Gewand und Bart und ließen<br />

ni<strong>ch</strong>ts unversu<strong>ch</strong>t, ihn zu verführen. Seitdem er ihren Lockungen widerstanden, behandelte der<br />

Kazike ihn wie einen Freund und vertraute ihm die Aufsi<strong>ch</strong>t über seine zahlrei<strong>ch</strong>en Haupt- und<br />

Nebenfrauen an.<br />

Glückli<strong>ch</strong> über die Freilassung wollte Jerónimo de Aguilár soglei<strong>ch</strong> mit Gonzalo Guerrero zur<br />

Küste aufbre<strong>ch</strong>en, zu den S<strong>ch</strong>iffen der Befreier. Do<strong>ch</strong> der Matrose war ein Indianer geworden und<br />

hielt ni<strong>ch</strong>t viel von den Segnungen europäis<strong>ch</strong>er Zivilisation. An Nahrung fehlte es ihm ni<strong>ch</strong>t, und<br />

Palmen gaben kühlen S<strong>ch</strong>atten. Mehr ersehnte er si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t.<br />

»Geht allein!«, sagte er zu Aguilár. »Was soll i<strong>ch</strong> dort? Mi<strong>ch</strong> hänseln lassen, weil meine Nase<br />

und meine Lippen dur<strong>ch</strong>bohrt sind? Mi<strong>ch</strong> abplagen für mein tägli<strong>ch</strong> Brot und do<strong>ch</strong> im Elend verkommen,<br />

wenn die Kno<strong>ch</strong>en alt und müde geworden sind? Für so freundli<strong>ch</strong>e Aussi<strong>ch</strong>ten verlasse<br />

i<strong>ch</strong> dies hier ni<strong>ch</strong>t!«<br />

Aguilár hielt ihm vor, dass er Christ sei; seit sieben Jahren sei er ni<strong>ch</strong>t zur Messe und ni<strong>ch</strong>t<br />

zum Abendmahl gegangen! Er könne seine Familie ja mitnehmen.<br />

»Lasst es gut sein, compadre«, versetzte der Matrose. »Messe und Abendmahl sind vortreffli<strong>ch</strong><br />

für Grafen und Herzöge. Wäre i<strong>ch</strong> einer, verspürte i<strong>ch</strong> viellei<strong>ch</strong>t Sehnsu<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> meinem<br />

S<strong>ch</strong>loss, na<strong>ch</strong> Kaldaunenbraten und s<strong>ch</strong>önen Frauen. Do<strong>ch</strong> in Europa werden die armen Leute<br />

s<strong>ch</strong>on im Elternhaus misshandelt, vom Leben verprügelt und – wenn wir alt sind – auf den Kehri<strong>ch</strong>thaufen<br />

geworfen. I<strong>ch</strong> habe mir einen lateinis<strong>ch</strong>en Seefahrerspru<strong>ch</strong> übersetzen lassen und<br />

auswendig gelernt: Navigare necesse est, vivere non necesse est. I<strong>ch</strong> weiß was das bedeutet!«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 16<br />

»Aber Ihr seid Christ«, hielt Aguilar ihm entgegen. »Wir können wieder unter Christen leben,<br />

können die Wärme und die Segnungen unserer heiligen Kir<strong>ch</strong>e...«<br />

Guerrero unterbra<strong>ch</strong> ihn. »Unsere heilige Kir<strong>ch</strong>e? Eure viellei<strong>ch</strong>t, aber ist sie no<strong>ch</strong> die meine?<br />

I<strong>ch</strong> habe mit den Maya den heidnis<strong>ch</strong>en Göttern geopfert! In den Augen der Kir<strong>ch</strong>e bin i<strong>ch</strong> ein<br />

Abtrünniger und Ketzer. Da wird wohl eher die Wärme des S<strong>ch</strong>eiterhaufens auf mi<strong>ch</strong> warten...<br />

wenn unsere ›Landsleute‹ mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t sofort aufhängen, rädern oder vierteilen.«<br />

Aguilár trat allein die Reise zur Küste an, er war halb nackt, als Indianer gekleidet und mit<br />

Bogen und Pfeilen bewaffnet. Als er an Bord der Capitána vor Cortés geführt wurde, legte er Bogen<br />

und Pfeile auf dem S<strong>ch</strong>iffsverdeck nieder, fiel auf die Knie, s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zte und rief: »Kreuz!...<br />

Kreuz!... Kreuz!... Christus!« Der Franziskaner konnte si<strong>ch</strong> vor freudiger Erregung nur mühsam in<br />

seiner Mutterspra<strong>ch</strong>e ausdrücken.<br />

Hernándo Cortés nahm seinen Mantel ab und bedeckte Aguilár. Na<strong>ch</strong> wenigen Tagen war er<br />

imstande, seinem Retter wi<strong>ch</strong>tige Aufs<strong>ch</strong>lüsse über Verfassung, Religion und Sitten der Kulturvölker<br />

Zentralamerikas zu geben.<br />

*<br />

Als sie die Anker wieder li<strong>ch</strong>teten, sahen sie, dass si<strong>ch</strong> ein Boot dem Flaggs<strong>ch</strong>iff näherte. Im Boot<br />

waren zwanzig Sklavinnen - ein Ges<strong>ch</strong>enk des Kaziken. Eine der Sklavinnen war Marina.<br />

Puertocarrero, dem Marina als Kriegsbeute zugeteilt wurde, trauerte einer toten Geliebten<br />

na<strong>ch</strong> und trat die Sklavin an Cortés ab. Puertocarrero war der vornehmste <strong>Teil</strong>nehmer dieses Freibeuterzuges,<br />

der einer alten kastilis<strong>ch</strong>en Adelsfamilie entstammte. Als Jüngling hatte er eine glänzende<br />

Laufbahn am kastilis<strong>ch</strong>en Hofe in Aussi<strong>ch</strong>t gehabt, die jedo<strong>ch</strong> ein jähes Ende fand, als seine<br />

Leidens<strong>ch</strong>aft zu einer verheirateten Frau entflammte. Sie war eine Ni<strong>ch</strong>te von Juan Rodriguez<br />

de Fonseca, des mä<strong>ch</strong>tigen Bis<strong>ch</strong>ofs von Burgos und Präsidenten des für neue überseeis<strong>ch</strong>e Gebiete<br />

Spaniens zuständigen Indis<strong>ch</strong>en Rates. Puertocarrero floh mit ihr na<strong>ch</strong> Kuba und fand dort in<br />

der Vers<strong>ch</strong>ollenheit einige Jahre sein Glück; dann aber starb sie am Biss einer Gifts<strong>ch</strong>lange. Da<br />

s<strong>ch</strong>loss er si<strong>ch</strong> Freibeutern an, um seinen S<strong>ch</strong>merz zu betäuben. Do<strong>ch</strong> sein Herz und seine Augen<br />

blieben tot, und darum sah er Marinas S<strong>ch</strong>önheit ni<strong>ch</strong>t.<br />

S<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> kurzer Zeit konnte Marina si<strong>ch</strong> auf Spanis<strong>ch</strong> verständigen, und während der eintönigen,<br />

mehrere Wo<strong>ch</strong>en währenden Segelfahrt fand Cortés Zerstreuung und Vergnügen am Geplauder<br />

mit der jungen Mexica. Ihr Lerneifer und ihre Wissbegier waren unersättli<strong>ch</strong>. Als Frater<br />

Jerónimo de Aguilár ihr von Christus und der katholis<strong>ch</strong>en Religion erzählte, erwärmte sie si<strong>ch</strong><br />

sofort für den Glauben der weißen Männer. Voll Inbrunst laus<strong>ch</strong>te sie den heiligen Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten<br />

des Alten und Neuen Testaments.<br />

Einmal erzählte Cortés ihr vom Erzvater Jakob und seinen zwölf Söhnen, und wie Josef na<strong>ch</strong><br />

Ägypten kam und dort rei<strong>ch</strong> und mä<strong>ch</strong>tig wurde. Da füllten Marinas Augen si<strong>ch</strong> mit Tränen.<br />

»Das ist meine Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te«, sagte sie.<br />

»Wie meinst du das?«, fragte Cortés.<br />

»Die eine Hälfte habe i<strong>ch</strong> erlebt. Und gebe Gott, dass i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> das andere erlebe!«<br />

»Du spri<strong>ch</strong>st in Rätseln! Erkläre es mir!«, sagte Cortés.<br />

»Ihr werdet es glei<strong>ch</strong> verstehen«, fuhr Marina fort. »Seht, die<br />

Brüder zeigten das blutige Ärmelkleid vor und hatten do<strong>ch</strong> Josef<br />

na<strong>ch</strong> Ägypten verkauft. Das ist es, was i<strong>ch</strong> selbst s<strong>ch</strong>on erlebte. Und<br />

nun mö<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> mit Gottes Hilfe gern no<strong>ch</strong> erleben, wie Josef ein<br />

großer Herr wurde, Vater und Ges<strong>ch</strong>wister zu Gast lud und ihnen<br />

Böses mit Gutem vergalt.«<br />

Marina (eigentli<strong>ch</strong> »Malin<strong>ch</strong>e«)<br />

in einer Darstellung des 19. Jahrhunderts<br />

Dann erzählte Marina ihr junges, do<strong>ch</strong> seltsames Leben. Im Südosten des mexicanis<strong>ch</strong>en<br />

Rei<strong>ch</strong>es, in der Provinz Coatzacualco, war sie zur Welt gekommen, als einziges Kind eines hohen


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 17<br />

Würdenträgers. Ihrem Rang und dem Rei<strong>ch</strong>tum ihres Vaters gemäß wurde sie in den Künsten und<br />

Wissens<strong>ch</strong>aften erzogen, wie alle vornehmen Erbinnen des Landes. Sie war dreizehn Jahre alt, als<br />

der Vater starb. Sein Besitz, die rei<strong>ch</strong>e Stadt Oaxaca und die großen Güter in der Umgebung,<br />

wurde Eigentum ihrer Mutter. Bald darauf ging diese eine neue Ehe ein und bekam von ihrem<br />

zweiten Gatten einen Sohn, den sie über alles liebte. Die To<strong>ch</strong>ter aber mo<strong>ch</strong>te sie ni<strong>ch</strong>t mehr, da<br />

diese die Erbansprü<strong>ch</strong>e des kleinen Stiefbruders beeinträ<strong>ch</strong>tigen konnte. Eine Haussklavin hatte<br />

eine To<strong>ch</strong>ter in Marinas Alter; das Mäd<strong>ch</strong>en erlag einer Krankheit. Marinas Mutter kaufte der Sklavin<br />

die Kinderlei<strong>ch</strong>e ab und s<strong>ch</strong>loss die eigene To<strong>ch</strong>ter in ein dunkles Gema<strong>ch</strong> ein. Prunkvoll bahrte<br />

sie die Lei<strong>ch</strong>e auf und ließ bekanntgeben, Marina sei tot. Vom dunkeln Gelass aus, in dem sie<br />

gefangen war, hörte Marina die Litaneien ihres eigenen Begräbnisses, die heu<strong>ch</strong>leris<strong>ch</strong>en Wehklagen<br />

der Mutter, die Tröstungen der Verwandten und die Grabgesänge der Priester. Dann aber<br />

wurde ihr Kerker heimli<strong>ch</strong> und in dunkler Na<strong>ch</strong>t von fremden Männern geöffnet, und sie wurde<br />

na<strong>ch</strong> Xicalanco ges<strong>ch</strong>afft und auf der Reise vergewaltigt. Im Auftrag ihrer Mutter wurde sie an<br />

Sklavenhändler verkauft, und diese bra<strong>ch</strong>ten sie na<strong>ch</strong> Yucatán. Der Kazike vers<strong>ch</strong>enkte sie<br />

s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> an die Kastilier.<br />

Ohne Trauer, Groll und Anklage erzählte Marina diese Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, denn nun leu<strong>ch</strong>tete ein<br />

strahlendes Ziel vor ihr: so zu werden wie Josef, der Reinste der Reinen, und den blutigen Ärmelrock<br />

mit Güte und Beglückung zu vergelten.<br />

3. Silberpuma<br />

»Ihre Kriegstra<strong>ch</strong>t und ihre Waffen sind ganz aus Eisen gema<strong>ch</strong>t, und sie kleiden si<strong>ch</strong> ganz<br />

in Eisen, und mit Eisen bedecken sie ihren Kopf. Aus Eisen sind ihre S<strong>ch</strong>werter, ihre Bogen,<br />

ihre S<strong>ch</strong>ilde und Lanzen. Sie werden von Hirs<strong>ch</strong>en auf dem Rücken getragen, wohin sie<br />

wollen...«<br />

(Codex Florentino, Bu<strong>ch</strong> XII, Beri<strong>ch</strong>t der mexicanis<strong>ch</strong>en Gesandten an Moctezuma)<br />

Die Wä<strong>ch</strong>ter Moctezumas bewa<strong>ch</strong>ten das Meer, unermüdli<strong>ch</strong> und gewissenhaft, wie man einen<br />

gefangenen Verbre<strong>ch</strong>er bewa<strong>ch</strong>t. Do<strong>ch</strong> unberührt davon leckten die Wellen den Strand, spülten<br />

Mus<strong>ch</strong>eln, Korallen und Seetang, au<strong>ch</strong> hölzerne S<strong>ch</strong>iffstrümmer an, und ganz selten blieb eine<br />

Perle im Auf und Ab der Tiden im Küstensand zurück - wie immer. Do<strong>ch</strong> eines Tages blies der<br />

stete Ostwind elf Karavellen heran. Kleine Punkte erst, die langsam größer wurden und für die<br />

erstaunten Wä<strong>ch</strong>ter bald als leu<strong>ch</strong>tend weiße Segel zu erkennen waren. Es waren Wasserhäuser,<br />

die zu melden seit einem Jahr ihre Aufgabe war. So mä<strong>ch</strong>tige S<strong>ch</strong>iffe hatten sie nie zuvor gesehen;<br />

wie riesige Vögel segelten sie heran! Am Ufer einer Bu<strong>ch</strong>t klats<strong>ch</strong>ten s<strong>ch</strong>were Anker in den<br />

Grund, und die Riesenvögel falteten die gigantis<strong>ch</strong>en weißen Segelflügel ein. Nun ragten nur no<strong>ch</strong><br />

nackte Stangen speerartig in den Himmel. Merkwürdig gekleidete Gestalten wimmelten an Bord,<br />

die bald kleine Boote zu Wasser ließen, dass es aussah, als würden Entenküken um ihre Mütter<br />

herum s<strong>ch</strong>wimmen. Ma<strong>ch</strong>tlos mussten die Wä<strong>ch</strong>ter zusehen, wie fünfhundertfünfzig fremde Männer<br />

mexicanis<strong>ch</strong>es Land betraten.<br />

Do<strong>ch</strong> bevor einer der Fremden den Fuß an Land gesetzt hatte, versu<strong>ch</strong>ten einige Wä<strong>ch</strong>ter<br />

auszukunds<strong>ch</strong>aften, wel<strong>ch</strong>e Absi<strong>ch</strong>t die unheimli<strong>ch</strong>en Fremden hergeführt haben möge. In ihren<br />

s<strong>ch</strong>ön ges<strong>ch</strong>nitzten Baumkähnen ruderten sie unter dem Vorwand hinaus, Taus<strong>ch</strong>handel treiben<br />

zu wollen. Am Mast eines der großen Wasserhäuser erblickten sie eine s<strong>ch</strong>warze Samtfahne mit<br />

einem Goldkreuz, das von weißen und blauen Flammen umgeben war. Da zweifelten sie ni<strong>ch</strong>t,<br />

dass si<strong>ch</strong> dort ein tlatoani befinde, ein großer Herr, und sie kletterten die S<strong>ch</strong>iffstreppe empor.<br />

Etli<strong>ch</strong>e Tage später knieten sie im Saal der Bots<strong>ch</strong>aften vor Moctezuma und beri<strong>ch</strong>teten:


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 18<br />

»Wir küssten den Bug des Wasserhauses. Denn wir da<strong>ch</strong>ten: Kam ni<strong>ch</strong>t viellei<strong>ch</strong>t Unser Herr<br />

Quetzalcoatl vom Meer des Himmels herab auf dem Haus der Fluten? Als wir eine Treppe hinaufgestiegen,<br />

sahen wir ein Mäd<strong>ch</strong>en aus einer Tür treten, herrli<strong>ch</strong> wie die Göttin der Blumen und der<br />

Liebe. Sie redete unsere Spra<strong>ch</strong>e und ist eine Frau aus unserm Volk. Sie führte die Fremden hierher.<br />

Ihr Name ist Malintzín, und sie geleitete uns vor Unseren Herrn. Der gab uns diese dur<strong>ch</strong>si<strong>ch</strong>tigen<br />

Perlen - sie funkeln wie zu Stein gefrorene Regentropfen -, und Unser Herr fragte uns dur<strong>ch</strong><br />

den Mund des Mäd<strong>ch</strong>ens: ›Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Seid ihr aus Mexico? Wie nennt si<strong>ch</strong><br />

der König in Mexico?‹ Und dann: ›Meldet eurem König Moctezuma, dass i<strong>ch</strong> als Gesandter ges<strong>ch</strong>ickt<br />

bin von einem König, der mä<strong>ch</strong>tiger ist als er - wie au<strong>ch</strong> der Gott, dem wir dienen, mä<strong>ch</strong>tiger<br />

ist als alle Götter Mexicos. Die Bots<strong>ch</strong>aft, die i<strong>ch</strong> überbringe, kann i<strong>ch</strong> eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t sagen und<br />

keinem der Großen dieses Landes. Nur Moctezuma selbst werde i<strong>ch</strong> sie ausri<strong>ch</strong>ten, Auge in Auge.‹«<br />

So ges<strong>ch</strong>ah es im unheilvollen Jahr Eins-S<strong>ch</strong>ilfrohr der Mexica und im Jahre 1519 europäis<strong>ch</strong>er<br />

Zeitre<strong>ch</strong>nung.<br />

*<br />

An einer trostlosen, sonnengedörrten Sandwüste war das kleine Heer kastilis<strong>ch</strong>er Abenteurer gelandet.<br />

Den kleinen wasserarmen Fluss, der si<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en den Sanddünen dahins<strong>ch</strong>längelte,<br />

nannten sie Rio Tabasco. Sie waren von Kuba gekommen, um Gold, Ruhm und Abenteuer zu su<strong>ch</strong>en.<br />

Man<strong>ch</strong>e wollten au<strong>ch</strong> das Kreuz aufri<strong>ch</strong>ten als wahre Na<strong>ch</strong>fahren der Kreuzritter, aber alle<br />

hatten sie das Eldorado mit prä<strong>ch</strong>tigen Zaubergärten erträumt, Mär<strong>ch</strong>enländer voll s<strong>ch</strong>immernder<br />

S<strong>ch</strong>lösser und liebeglühender Frauen, wie sie in den viel gelesenen Ritterromanen der Zeit gemalt<br />

waren. Die dunkle Kunde von Mexicos Herrli<strong>ch</strong>keit war seit Jahren bis na<strong>ch</strong> Kuba gedrungen. Nun<br />

befanden sie si<strong>ch</strong> auf Mexicos Boden – und was sie sahen, war Ödnis: ein Streifen dünenähnli<strong>ch</strong>er<br />

Sandhügel zwis<strong>ch</strong>en Weltmeer und Urwald.<br />

Vielen sank der Mut. Das Feldlager musste eingeri<strong>ch</strong>tet werden. Ein weißes Zelt, das sie an<br />

Land gebra<strong>ch</strong>t hatten, war bald kohls<strong>ch</strong>warz – bedeckt von Myriaden Ste<strong>ch</strong>mücken und angefressen<br />

von Termiten, no<strong>ch</strong> ehe es aufgeri<strong>ch</strong>tet war. Die Offiziere erteilten Befehl, belaubte Zweige<br />

aus dem Urwald zu holen. Unter Aufsi<strong>ch</strong>t der Zimmerleute wurden Laubhütten erri<strong>ch</strong>tet, je eine für<br />

drei Mann. Dann wurden die zuckenden, von der Seereise no<strong>ch</strong> benommenen Pferde ausges<strong>ch</strong>ifft.<br />

Es waren nur se<strong>ch</strong>zehn, denn Pferde und Neger waren in Kuba fast uners<strong>ch</strong>wingli<strong>ch</strong>. Auf der kargen<br />

Wiese am Rio Tabasco hatten sie eine Koppel umzäunt, um die Tiere na<strong>ch</strong> der langen Seereise<br />

wieder an festen Boden zu gewöhnen. Sie riefen »Holla« und »Hü-hü«, knallten mit den Peits<strong>ch</strong>en<br />

und jagten die Tiere im Kreis herum. Der Walla<strong>ch</strong> des Reiters Enrico Lares lahmte; er hatte<br />

ein Hufeisen verloren. Au<strong>ch</strong> bei einigen anderen Rössern wurden Mängel festgestellt: einigen fehlten<br />

Hufnägel, und Gonzalo de Sandovals dunkelbrauner Hengst Motilla hatte Hornverwa<strong>ch</strong>sungen<br />

am re<strong>ch</strong>ten Vorderhuf. Die S<strong>ch</strong>miede bekamen Arbeit. Bald fau<strong>ch</strong>te der Blasebalg in die Esse,<br />

Eisen glühte rot, und mit hellem Kling-Klang fuhren die S<strong>ch</strong>miedehämmer auf Eisen und Amboss<br />

nieder. Willig hielt der Walla<strong>ch</strong> den Hinterhuf auf den Bes<strong>ch</strong>lagbock, do<strong>ch</strong> Motilla, dem die Verwa<strong>ch</strong>sung<br />

vom Huf gefeilt werden sollte, trat wild aus und musste von mehreren Männern gebändigt<br />

werden.<br />

Au<strong>ch</strong> die Artillerie wurde an Land gebra<strong>ch</strong>t. Sie bestand aus einigen s<strong>ch</strong>mä<strong>ch</strong>tigen Falkonetten<br />

und zehn kupfernen Kanonen. Unter diesen fanden si<strong>ch</strong> se<strong>ch</strong>s lange Kartaunen, zwei kurze<br />

Kartaunen und einige Feuers<strong>ch</strong>langen. Die umfangrei<strong>ch</strong>ste der Kartaunen war Singende Na<strong>ch</strong>tigall<br />

getauft worden.<br />

Der Feuerwerker Alonso de Mesa – der s<strong>ch</strong>on in Italien unter dem großen Capitán Consalvo<br />

Ferrante gedient und Ges<strong>ch</strong>ütze gegen Cesare Borgia geri<strong>ch</strong>tet hatte – stellte jetzt, unterstützt von<br />

den Artilleristen, die kupfernen, mit Essig und Wein blank ges<strong>ch</strong>euerten Kanonen und Falkonette<br />

rings um das Lager auf, was ihm das Aussehen einer Wagenburg verlieh. Na<strong>ch</strong> den vier Windri<strong>ch</strong>tungen<br />

war je ein größerer Zwis<strong>ch</strong>enraum zwis<strong>ch</strong>en den Ges<strong>ch</strong>ützen gelassen – so genannte Tore<br />

–, in wel<strong>ch</strong>e die Gassen des Feldlagers mündeten. Posten bewa<strong>ch</strong>ten die Tore.<br />

Nä<strong>ch</strong>st dem Strand und den S<strong>ch</strong>iffen waren die Lauben der Marketender erri<strong>ch</strong>tet worden.<br />

Dort wurden die Viktualien gestapelt, Essig- und Ölfässer, Kisten mit gesalzenem Fleis<strong>ch</strong>, weißem


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 19<br />

Zwieback und geröstetem Kassavebrot, au<strong>ch</strong> Mehlsäcke. Do<strong>ch</strong> erwies das Mehl si<strong>ch</strong> als größtenteils<br />

von Meerwasser verdorben und musste wegges<strong>ch</strong>üttet werden.<br />

Der Wein hatte die Seereise besser überstanden. Die Marketenderin Catalina Márquez, genannt<br />

die Goldhyazinte, hatte bald alle Hände voll zu tun, den sonnenversengten, pfli<strong>ch</strong>ttreuen<br />

Soldaten na<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>werer Tagesmühe eine Erfris<strong>ch</strong>ung zu rei<strong>ch</strong>en. Die Ni<strong>ch</strong>tstuer des Heeres aber<br />

wi<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t von ihrer Seite: der Galicier Mansilla, den sie den Durstigen nannten; der kurzbeinige<br />

Pedro Baracoa, geheißen fanfarrón sin obra, der Prahlhans ohne Leistungen, und der S<strong>ch</strong>wätzer<br />

Lope Cano mit den sauberen Händen, de las maños pulcros. Au<strong>ch</strong> eine junge Mulattin, Beatriz de<br />

Acevedo, war bei ihnen und trank viel und hastig, bis sie betrunken kreis<strong>ch</strong>te und von ihrem alten<br />

Gatten Suárez s<strong>ch</strong>impfend weggetragen wurde.<br />

Die s<strong>ch</strong>önste und vornehmste unter den Abenteuerinnen war ohne Zweifel die olivenblei<strong>ch</strong>e<br />

Isabel de Ojeda, die To<strong>ch</strong>ter eines verarmten Granden aus Salamanca, die mit ihrem jungen Bruder<br />

Alonso zum Heer gestoßen war. Rassig s<strong>ch</strong>ön war au<strong>ch</strong> die rei<strong>ch</strong>e, knabenhafte María de Estrada.<br />

Selbst die Lagerdirne Rosario Rossano, ihrer eckigen Grazie wegen »die hagere Rosario«<br />

genannt, fand Anbeter. Ein besonderes Wesen aber war die kleine La Bailadora mit den s<strong>ch</strong>wermütigen<br />

Augen. Sie hatte einen hübs<strong>ch</strong>en, jungen Körper, aber im Gesi<strong>ch</strong>t war sie keine S<strong>ch</strong>önheit,<br />

da hatte sie die Natur stiefmütterli<strong>ch</strong> beda<strong>ch</strong>t. Do<strong>ch</strong> wenn sie sang – und wie sie singen konnte!<br />

–, blühte ihre Liebli<strong>ch</strong>keit auf wie eine Rose im Wasserglas. Und tanzen konnte sie! Der Bergmann<br />

Ortiz, der beste Gitarrespieler und Tanzmeister des Heeres, bewunderte La Bailadora und<br />

erklärte sie zu seiner Meisterin.<br />

In der Mitte des Lagers befand si<strong>ch</strong> ein freier Platz, eingesäumt von den größeren Laubbaracken<br />

der Offiziere sowie der Regierungsbeamten. Die s<strong>ch</strong>warze Standarte mit dem<br />

flammenumloderten Kreuz wehte über der Laubhütte des Hernándo Cortés. Dort war au<strong>ch</strong> ein<br />

S<strong>ch</strong>andpfahl erri<strong>ch</strong>tet und ein aus Feldsteinen roh erbauter Altar. Und über alle Laubdä<strong>ch</strong>er hinweg<br />

sah man einen hohen Galgen ragen. Das Ho<strong>ch</strong>geri<strong>ch</strong>t befand si<strong>ch</strong> außerhalb der Tore. Aber<br />

das Gespenst der Meuterei s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on am ersten Abend dur<strong>ch</strong>s Heerlager. Cortés wusste, dass<br />

unter seinen Männern nur wenig Ehrenhafte waren, obwohl do<strong>ch</strong> alle auf ihre Ehre großen Wert<br />

legten. Sein Heer bestand aus einem Haufen Abenteurer, Haderlumpen, Verbre<strong>ch</strong>er, Bigamisten,<br />

entlaufenen Sträflingen und bislang no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gefassten Mördern. Es waren Männer mit viel Haltung<br />

und wenig guten Eigens<strong>ch</strong>aften. Diese würde Cortés no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>mieden müssen. Sein<br />

s<strong>ch</strong>warzbrauner Hengst hatte si<strong>ch</strong> bei der Auss<strong>ch</strong>iffung ein Bein gebro<strong>ch</strong>en und musste getötet<br />

werden. Cortés war missgelaunt – für seinen Kämmerer Rodrigo Rangel ni<strong>ch</strong>ts Unbekanntes.<br />

Rangel war ein exzentris<strong>ch</strong>er Mens<strong>ch</strong> mit langem Spitzbart, gutmütig, etwas philosophis<strong>ch</strong> und<br />

zerfahren. Er hielt Cortés eine langatmige Rede:<br />

»Euer Liebden werden do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zu Fuß ins Fabelland Mexico vorrücken? Euer Liebden hat<br />

einen Stallmeister, aber kein Ross. Gut. Aber, und das verstehe i<strong>ch</strong> vollkommen, Euer Liebden will<br />

keinen Offizier des Streitrosses berauben; und was Euer Liebden Gegner unter den Offizieren betrifft,<br />

so werden diese Euer Liebden weder für die S<strong>ch</strong>ätze Venedigs no<strong>ch</strong> für alle Perlen der Kleopatra<br />

ein Ross herleihen – und wäre es nur, um Seiner Exzellenz, dem Statthalter von Kuba, eine<br />

kleine Freude zu bereiten. Bleiben unsere vier braven Kavalleristen. Do<strong>ch</strong> was ist ein Vogel ohne<br />

Flügel, ein Fis<strong>ch</strong> ohne Flossen und ein Kavallerist ohne S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tross? Daher kommen für Euer<br />

Liebden nur drei Pferde in Betra<strong>ch</strong>t. Der Musikus und Tanzlehrer Ortiz besitzt eins, gemeinsam mit<br />

dem S<strong>ch</strong>mied García. Es ist ein Rotfu<strong>ch</strong>s, ein ganz elender Klepper. Ferner ist da die braune Stute<br />

des Jacobo Hurtado aus La Havanna. Do<strong>ch</strong> die hat heute früh, kurz vor der Landung, Mutterfreuden<br />

erlebt und ein kräftiges Graufüllen geworfen! Und ihr glückli<strong>ch</strong>er Besitzer ist, wie Ihr wisst, der<br />

rei<strong>ch</strong>ste Mann unter uns und nennt ein S<strong>ch</strong>iff, einen Neger und eine Ladung Salzfleis<strong>ch</strong> sein Eigen<br />

– was könnt Ihr dem no<strong>ch</strong> bieten? Also, um es kurz zu ma<strong>ch</strong>en: Der S<strong>ch</strong>arfs<strong>ch</strong>ütze Vaeña aus<br />

Trinidad hat einen Rappen, ein vortreffli<strong>ch</strong>es Tier. Sagt selbst, was kann ein S<strong>ch</strong>arfs<strong>ch</strong>ütze mit<br />

einem Rappen Besseres anfangen, als ihn si<strong>ch</strong> berappen zu lassen?« So spra<strong>ch</strong> Rodrigo Rangel.<br />

Cortés ließ den S<strong>ch</strong>arfs<strong>ch</strong>ützen Vaeña zu si<strong>ch</strong> in die Baracke rufen. Er redete dem Mann<br />

freundli<strong>ch</strong> zu und erstand na<strong>ch</strong> einigem Feils<strong>ch</strong>en das wertvolle Tier – für die Goldborte eines seiner<br />

Galakleider. Eigenhändig trennte er die Borte ab und rei<strong>ch</strong>te sie dem Arkebusier. Cortés nannte<br />

sein neues Pferd Romo, was so viel heißt wie Maultier.<br />

Der S<strong>ch</strong>ütze entfernte si<strong>ch</strong>, hielt aber die Goldborte in der Wamstas<strong>ch</strong>e versteckt. Er wusste<br />

selbst ni<strong>ch</strong>t, warum er si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ämte, sie zu zeigen. Ein wenig reute ihn wohl der Kaufhandel. Seine


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 20<br />

mürris<strong>ch</strong>en Äußerungen wurden im Lager dahin gedeutet, dass sein Ross ihm mit Gewalt weggenommen<br />

worden war. Alle, die zum Statthalter von Kuba hielten, Don Diego de Velásquez – und<br />

das waren ni<strong>ch</strong>t wenige unter den Soldaten –, steckten die Köpfe zusammen. No<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>welte und<br />

glomm erst das Feuer der Rebellion, no<strong>ch</strong> loderte es ni<strong>ch</strong>t zur Flamme empor. Und Juan Díaz, der<br />

fette Dominikanermön<strong>ch</strong>, war mal bei dieser, mal bei jener flüsternden Gruppe zu sehen und blies<br />

mit wulstigen Lippen in die Glut.<br />

Am anderen Morgen ordnete Cortés an, die Pferde wieder an die Reiter zu gewöhnen. Er<br />

ließ sie satteln und die Zügel anlegen, dann wurden erst kurze Ritte um das Lager gema<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong><br />

bald s<strong>ch</strong>on ritten sie in Gruppen in die nähere Umgebung, übten Galopp, s<strong>ch</strong>nelles Anhalten, Aufund<br />

Abspringen; sie drehten Volten, ließen ihre Pferde si<strong>ch</strong> aufbäumen, ahmten Zweikämpfe na<strong>ch</strong>,<br />

zwangen die Tiere über Hindernisse, lobten sie und täts<strong>ch</strong>elten ihnen begütigend den Hals. Kurz,<br />

Pferde und Reiter gewöhnten si<strong>ch</strong> wieder aneinander, und bald waren sämtli<strong>ch</strong>e Tiere einsatzbereit.<br />

*<br />

S<strong>ch</strong>on am Ostersonnabend hatten si<strong>ch</strong> Indianer eingefunden, hatten Maisbrot, Truthähne, Gemüse<br />

und Kaktusfeigen überbra<strong>ch</strong>t als Ges<strong>ch</strong>enk des mexicanis<strong>ch</strong>en Statthalters, dessen baldigen<br />

Besu<strong>ch</strong> sie ankündigten. Au<strong>ch</strong> hatten sie bereitwillig geholfen, die am Gründonnerstag flü<strong>ch</strong>tig<br />

gezimmerten Laubhütten auszubessern; ja, in emsiger Beflissenheit hatten sie sogar die Hütte des<br />

Cortés mit einem Baumwolltu<strong>ch</strong> überspannt, um den tlatoani, den großen Herrn, vor Sonnenstrahlen<br />

zu bes<strong>ch</strong>irmen.<br />

Am Morgen des Ostersonntags, kurz vor Beginn der Messe, wurde von Wa<strong>ch</strong>tposten gemeldet,<br />

zwei rei<strong>ch</strong> gekleidete Kaziken mit vielen Begleitern näherten si<strong>ch</strong> dem Lager. Mit dem Wort »Kazike«<br />

bezei<strong>ch</strong>neten die Kastilier sämtli<strong>ch</strong>e Indianer von Rang, mo<strong>ch</strong>ten es Könige, Feldherrn und<br />

Würdenträger ho<strong>ch</strong> stehender Kulturvölker oder au<strong>ch</strong> nur Häuptlinge wilder Stämme sein. Pinotl,<br />

der Silberpuma, Statthalter der Provinz Roter Berg, und Teudile, der Gebundene Falke, ein<br />

Steuererheber Moctezumas, waren die Besu<strong>ch</strong>er. In zwei mit kunstvollen Ornamenten verzierten<br />

Sänften trugen sie ihre Sklaven dur<strong>ch</strong> die Gassen des Lagers, ma<strong>ch</strong>ten in der Mitte halt, entstiegen<br />

den Tragsesseln und s<strong>ch</strong>ritten lei<strong>ch</strong>t wiegenden Ganges der Hütte mit der s<strong>ch</strong>warzsamtenen<br />

Standarte zu, wo Cortés, umgeben von den zehn kastilis<strong>ch</strong>en Offizieren, sie stehend erwartete.<br />

Re<strong>ch</strong>ts: Die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Eroberung Mexikos wurde<br />

ni<strong>ch</strong>t nur von europäis<strong>ch</strong>en, sondern viel häufiger<br />

au<strong>ch</strong> von aztekis<strong>ch</strong>en Künstlern dargestellt. Die nebenstehende<br />

Szene aus einer aztekis<strong>ch</strong>en Hands<strong>ch</strong>rift<br />

zeigt einen Spanier mit Kreuz, Fahne und<br />

S<strong>ch</strong>wert, der von einem indianis<strong>ch</strong>en Gesandten begrüßt<br />

wird. Darunter ein Text in aztekis<strong>ch</strong>er Bilders<strong>ch</strong>rift.<br />

Diademges<strong>ch</strong>mückt und mit ho<strong>ch</strong>ragenden<br />

Edelfederkronen, gepanzert in Harnis<strong>ch</strong>e aus kleinen<br />

Goldplatten und geziert mit juwelenflirrendem Brusts<strong>ch</strong>muck,<br />

s<strong>ch</strong>lohweißen S<strong>ch</strong>ulterbinden und metallen<br />

glitzernden Pra<strong>ch</strong>tmänteln aus karminroten,<br />

ockergelben und grasgrünen Kehldaunen von Kolibris,<br />

goldene Glöck<strong>ch</strong>en an den Goldsandalen, und in


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 21<br />

den bemalten Händen den runden Fä<strong>ch</strong>er und den Krummstab, ma<strong>ch</strong>ten die zwei Würdenträger<br />

einen befremdli<strong>ch</strong>en und beklemmenden Eindruck auf das <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Heer, das si<strong>ch</strong> eben um den<br />

Altar zur Messe versammelte. Ho<strong>ch</strong>mütig war der Gang, ho<strong>ch</strong>mütig das Gebaren, ho<strong>ch</strong>mütig die<br />

Kleidung dieser ersten Boten einer neuen, unbezwingbaren Welt!<br />

Do<strong>ch</strong> Cortés ließ si<strong>ch</strong> sein Erstaunen ni<strong>ch</strong>t anmerken. In lässiger Haltung, lebhaft mit seiner<br />

Umgebung plaudernd und la<strong>ch</strong>end, stand er da in seinem ein wenig verknüllten Wams aus Brokat,<br />

dem nun die Goldborte fehlte. Dazu trug er s<strong>ch</strong>warzseidene Kniehosen, weiße Strümpfe und<br />

S<strong>ch</strong>nallens<strong>ch</strong>uhe. Sein Samtbarett war von der legendären Hahnenfeder ges<strong>ch</strong>mückt. Cortés, erst<br />

vierunddreißig Jahre alt, war s<strong>ch</strong>lank, die ihm eigene geistige Überlegenheit maskierte er dur<strong>ch</strong><br />

eine stets glei<strong>ch</strong> bleibende, gewinnende Freundli<strong>ch</strong>keit. Der hellbraune Vollbart verdeckte die untere<br />

Gesi<strong>ch</strong>tshälfte und mo<strong>ch</strong>te wohl au<strong>ch</strong> ein Lauern um den Mundwinkel verbergen; der Bart jedo<strong>ch</strong><br />

überdeckte ni<strong>ch</strong>t die tiefe S<strong>ch</strong>ramme in der Unterlippe, ein Andenken an eines der zahllosen<br />

Duelle, die Cortés, s<strong>ch</strong>önen Frauen zuliebe, in Altkastilien und auf Kuba hatte ausfe<strong>ch</strong>ten müssen.<br />

Die Kastilier warteten die Begrüßung der Mexica ab. Der Silberpuma und Teudile verbeugten<br />

si<strong>ch</strong>, berührten mit der re<strong>ch</strong>ten Hand die Erde und führten die Finger dann zur Stirn. Es war ihr<br />

herkömmli<strong>ch</strong>er Gruß. Cortés s<strong>ch</strong>ritt auf die beiden zu und umarmte sie. Einen Augenblick s<strong>ch</strong>ien<br />

es, als wollte der indianis<strong>ch</strong>e Statthalter der Umarmung auswei<strong>ch</strong>en, do<strong>ch</strong> mit kühler Haltung ertrug<br />

er die körperli<strong>ch</strong>e Berührung wie eine Zudringli<strong>ch</strong>keit. Den Ho<strong>ch</strong>mut ließ Cortés ihn soglei<strong>ch</strong><br />

entgelten. Die Mexica waren gekommen, um ein politis<strong>ch</strong>es Gesprä<strong>ch</strong> zu führen. Do<strong>ch</strong> kaum hatte<br />

der Silberpuma seine wohlgesetzte Rede begonnen, fiel Cortés ihm ins Wort und forderte ihn<br />

dur<strong>ch</strong> Zei<strong>ch</strong>en auf, mit den Kavalieren, Soldaten, Dirnen und Marketendern an der heiligen Handlung<br />

teilzunehmen. Die Mexica waren auf sol<strong>ch</strong> einen Empfang ni<strong>ch</strong>t gefasst, fügten si<strong>ch</strong> jedo<strong>ch</strong><br />

mit herablassender Höfli<strong>ch</strong>keit und stellten si<strong>ch</strong> unter die Andä<strong>ch</strong>tigen vor den mit einem Kruzifix<br />

ges<strong>ch</strong>mückten Altar.<br />

Die Messe sang der Hieronymitenpater Bartolomé de Olmedo vom Kloster der Gnadenmutter<br />

De Nuestra Señora de la Merced in Havanna. Wenn au<strong>ch</strong> man<strong>ch</strong>er barmherzige Bruder zum<br />

Hohn der barmherzigen Mutter unter die armen Heiden gezogen war – Pater Olmedo wahrli<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t. Man<strong>ch</strong>er <strong>Teil</strong>nehmer dieses romantis<strong>ch</strong>en Kreuzzuges war mehr Zelot als er. Und redete<br />

Olmedo als gehorsamer Sohn der spanis<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>e bisweilen au<strong>ch</strong> ihre finstere Spra<strong>ch</strong>e – seine<br />

Taten waren immer mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>. Bartolomé war ein Hüne. Bis an den Gürtelstrick der Kutte rei<strong>ch</strong>te<br />

ihm der graugesprenkelte Bart. Mä<strong>ch</strong>tig wie sein Körperbau war seine Stimme; er wurde als vortreffli<strong>ch</strong>er<br />

Sänger gerühmt. Predigte er, so hallte sein Bass weit über die Tore des Lagers hinaus.<br />

Die Responsorien las der fette Dominikanermön<strong>ch</strong> Juan Díaz mit den wulstigen Lippen. Und<br />

als Messdiener, in spitzenverbrämten Röck<strong>ch</strong>en, waltete der junge Kaplan Francisco López de<br />

Gómera seines Amtes. In Ermangelung einer Orgel begleiteten der Tanzmeister Ortiz und der Musikus<br />

Rodrigo Morón die geistli<strong>ch</strong>en Herren auf ihren Gitarren. Und Canillas, der s<strong>ch</strong>on in Italien<br />

Tambour gewesen war, rührte die Trommel, um auf die mexicanis<strong>ch</strong>en Gäste Eindruck zu ma<strong>ch</strong>en.<br />

Die Predigt des Pater Olmedo nahm au<strong>ch</strong> auf die Mexica Bezug: »Seht hier die verlorenen<br />

Kinder des allgütigen Vaters«, rief er donnernd und mit ausdrucksvollen Armbewegungen. »Sie<br />

gleißen in Gold und Smaragden wie die große Hure Babylon, die auf dem Tier daherritt und die<br />

S<strong>ch</strong>ale göttli<strong>ch</strong>en Zorns austrank. Arme, verblendete Götzenanbeter! Ihr wisst ni<strong>ch</strong>t, dass am Ostersonntag,<br />

heute vor bald tausend und fünfhundert Jahren, Er vom Tode auferstand, der am Freitag<br />

verblutet war, – eurethalben verblutet war, ja, eurethalben!« Die Mexica wussten es wirkli<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t. Sie verstanden von der Predigt kein Wort und sahen au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>uldbewusst aus.<br />

Na<strong>ch</strong> der Messe s<strong>ch</strong>ob Cortés die Unterredung no<strong>ch</strong> einmal auf. Er lud die beiden vornehmen<br />

Mexica zum Frühstück. Sein Leibko<strong>ch</strong> hatte einige der Truthähne gebraten, wel<strong>ch</strong>e die Begleiter<br />

des Statthalters nebst Gemüse und gedörrten Fis<strong>ch</strong>en überbra<strong>ch</strong>t hatten.<br />

Mit Verwunderung beoba<strong>ch</strong>tete Cortés, dass die kultivierten Mexica das Geflügel sauberer<br />

mit den Händen zerlegten als Diego de Ordás, Cristóbal de Olíd und die anderen Kavaliere von<br />

altkastilis<strong>ch</strong>em Adel. An den Weingläsern, die ihre Lippen berührt hatten, war kein Fettrand zu sehen<br />

wie beispielsweise am Glas des Don Alonso de Avila.<br />

Der Statthalter befahl seinem Mens<strong>ch</strong>enmaler, die essenden Christen auf Pergament aus<br />

Hirs<strong>ch</strong>haut mit Zypressenharzfarbe abzubilden. Do<strong>ch</strong> der Malaga mundete den Mexica, und sie


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 22<br />

tranken viel davon.<br />

Endli<strong>ch</strong> ließ Cortés La Lengua rufen, die Zunge, und kurz drauf trat die Indianerin Marina,<br />

gefolgt vom Franziskaner Jerónimo de Aguilár, in die Laubhütte. Marina hatte erstaunli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>nell<br />

Spanis<strong>ch</strong> reden gelernt; jedo<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t genug, um bei so wi<strong>ch</strong>tigem Anlass zu dolmets<strong>ch</strong>en.<br />

Dafür konnte sie si<strong>ch</strong> als geborene Mexica elegant in Nahuatl ausdrücken, dem Idiom der Azteken,<br />

und sie beherrs<strong>ch</strong>te überdies die einem anderen Spra<strong>ch</strong>stamm angehörende Spra<strong>ch</strong>e der Maya,<br />

der Bewohner Yucatáns. Und der Spanier Jerónimo de Aguilár hatte si<strong>ch</strong> in siebenjähriger Gefangens<strong>ch</strong>aft<br />

im Innern Yucatáns die Mayaspra<strong>ch</strong>e angeeignet. Das Glück hatte Cortés in die Lage<br />

versetzt, dank Marina auf die zweifelhaften Dienste von Julianillo und Mel<strong>ch</strong>orejo verzi<strong>ch</strong>ten zu<br />

können.<br />

Marina war fünfzehn Jahre alt. Die Wä<strong>ch</strong>ter des Meeres hatten ni<strong>ch</strong>t übertrieben, als sie<br />

Moctezuma von ihr beri<strong>ch</strong>teten: das Mäd<strong>ch</strong>en Malintzín – so spra<strong>ch</strong>en sie den Namen Marinas<br />

na<strong>ch</strong> – sei der Göttin der Blumen und der Liebe zu verglei<strong>ch</strong>en, der Xo<strong>ch</strong>iquetzal. Sie war so<br />

s<strong>ch</strong>ön, dass sie, die do<strong>ch</strong> nur eine Sklavin war, von den Soldaten ehrfür<strong>ch</strong>tig Doña Marina genannt<br />

wurde, wennglei<strong>ch</strong> sie eine Sklavin war. Selbst Aguilár, den sein Sklavenhalter drei Tage lang einer<br />

Keus<strong>ch</strong>heitsprüfung unterzogen hatte und der dank seiner Weibers<strong>ch</strong>eu dem Opfertod entronnen<br />

war, senkte die brennenden Asketenaugen, wenn er mit ihr spra<strong>ch</strong>, oder er blickte an ihr vorbei,<br />

um ni<strong>ch</strong>t der Versu<strong>ch</strong>ung des Teufels zu erliegen.<br />

Na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> erst wurde sie Cortés’ Beraterin, seine Freundin, seine Führerin. Na<strong>ch</strong> und<br />

na<strong>ch</strong> erst weckte ihre Glockenstimme im Goldsu<strong>ch</strong>er den Kreuzfahrer. Anfangs sah er nur das<br />

zauberhafte Weib, die Geliebte, von denen er s<strong>ch</strong>on allzu viele besessen hatte. Do<strong>ch</strong> als er sie<br />

na<strong>ch</strong> Jahren fortwarf, sollte ihn au<strong>ch</strong> sein Glück verlassen...<br />

Wel<strong>ch</strong>en Wert Marina für die spanis<strong>ch</strong>en Desperados als Dolmets<strong>ch</strong>erin hatte, erkannte man<br />

erst beim Besu<strong>ch</strong> der Wä<strong>ch</strong>ter des Meeres auf den S<strong>ch</strong>iffen. Es stellte si<strong>ch</strong> heraus, dass weder<br />

Aguilár no<strong>ch</strong> Julianillo und Mel<strong>ch</strong>orejo die Spra<strong>ch</strong>e der Mexica verstanden. Da aber meldete si<strong>ch</strong><br />

Marina. Sie übertrug die Worte der Mexica ins Maya, und Aguilár übertrug sie aus dem Maya ins<br />

Spanis<strong>ch</strong>e. Damit war der Riegel des Ni<strong>ch</strong>tverstehens fortges<strong>ch</strong>oben; dur<strong>ch</strong> den Mund Marinas<br />

konnte si<strong>ch</strong> nun au<strong>ch</strong> Cortés mit dem mexicanis<strong>ch</strong>en Statthalter verständigen.<br />

*<br />

Auf der Universität Salamanca hatte Cortés einst ni<strong>ch</strong>t nur Weintavernen und die Wohnungen freier<br />

Damen besu<strong>ch</strong>t. Au<strong>ch</strong> mit Poesie und Rhetorik hatte er si<strong>ch</strong> befasst, bevor er seine militäris<strong>ch</strong>en<br />

Talente entdeckte. Seit jener Studentenzeit war seine Zunge ein glatt ges<strong>ch</strong>liffenes Rapier<br />

und sollte ihm no<strong>ch</strong> zu so man<strong>ch</strong>em Sieg verhelfen. Sein Redestrom floss lei<strong>ch</strong>t dahin, mäanderte<br />

dur<strong>ch</strong> die Argumente, verließ aber niemals das Bett des zielgeri<strong>ch</strong>teten Stromes. Ohne Stocken<br />

und mit lei<strong>ch</strong>t zurückgeworfenem Kopf, setzte er dem Statthalter auseinander, warum das <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e<br />

Heer sol<strong>ch</strong>e Sehnsu<strong>ch</strong>t hatte, die s<strong>ch</strong>öne Stadt Mexico zu sehen. Sie seien als Boten des<br />

mä<strong>ch</strong>tigsten Kaisers der Welt ausgesandt, Don Carlos von Brabant, Kastilien, Aragon und beider<br />

Sizilien, Erzherzog von Austria, Herzog von Burgund und Graf von Flandria und Tyrolia. Er herrs<strong>ch</strong>e<br />

über el mayor parte del mundo; alle Länder des Ostens seien ihm untertan, übertrieb er<br />

s<strong>ch</strong>amlos, und sie, die Spanier, seien ausgesandt, weil der König vom Fürsten der Azteken, Moctezuma,<br />

vernommen und in seiner Gnade bes<strong>ch</strong>lossen habe, ihn si<strong>ch</strong> zum Freund zu ma<strong>ch</strong>en und<br />

ihm eine Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t von großer Bedeutung für das mexicanis<strong>ch</strong>e Rei<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> seinen kaiserli<strong>ch</strong>en<br />

Gesandten Hernándo Cortés Auge in Auge zu überbringen. Am S<strong>ch</strong>luss seiner Rede forderte Cortés<br />

den Statthalter auf, ihn und sein Heer unverzügli<strong>ch</strong> vor Moctezuma zu führen.<br />

Marina übersetzte: »Mein Herr sagt, er sei aus dem Sonnenland des Ostens gekommen, wie<br />

es vor Zeiten verkündet wurde. Dort herrs<strong>ch</strong>e sein Herr, Don Carlos, der größte Kaiser des Ostens;<br />

alle Länder liegen vor ihm im Staub und leisten ihm Tribut. Mein Herr hat den Auftrag, König<br />

Moctezuma in Freunds<strong>ch</strong>aft aufzusu<strong>ch</strong>en und ihm eine außergewöhnli<strong>ch</strong>e und bedeutungsvolle<br />

Mitteilung dieses Herrs<strong>ch</strong>ers zu ma<strong>ch</strong>en.«<br />

Die Antwort des Mexicas entspra<strong>ch</strong> dem aufre<strong>ch</strong>ten Stolz eines alten Kulturvolks, der dur<strong>ch</strong><br />

das taktlose Ansinnen dieses Abenteurers verletzt worden war. Der Silberpuma sagte: »Erst zwei<br />

Tage bist du im Lande und willst s<strong>ch</strong>on den Huei-Tlatoani Moctezuma sehen? Es genügt<br />

vollkommen, wenn du seine Ges<strong>ch</strong>enke siehst und sie deinem Herrn überbringst.«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 23<br />

Jedes wertvolle S<strong>ch</strong>muckstück, das die<br />

Spanier von den Küstenindianern erhielten,<br />

bestärkte sie nur in ihrem<br />

Glauben, daß sie im Innern des Landes<br />

no<strong>ch</strong> größere Rei<strong>ch</strong>tümer erwarteten.<br />

Auf dem Bild unten erhält Cortez von<br />

einer Eingeborenengesandts<strong>ch</strong>aft ein<br />

prä<strong>ch</strong>tiges Perlenhalsband.<br />

Darauf winkte der Statthalter seinen Begleitern und ließ eine mit Ges<strong>ch</strong>enken gefüllte Truhe<br />

herbeis<strong>ch</strong>affen. Außerhalb der Baracke breiteten die Lastträger des Statthalters auf einer Matte,<br />

die über den Sandboden gerollt war, die Gaben aus: Edelsteine in kunstrei<strong>ch</strong>er Goldfassung, bunt<br />

gemustertes Baumwollgewebe und mit Golddraht gebundene Büs<strong>ch</strong>el kostbarer Federn.<br />

Die Gaben stammten ni<strong>ch</strong>t aus Moctezumas S<strong>ch</strong>atzhäusern. Der Statthalter hatte si<strong>ch</strong> damit<br />

begnügt, der eigenen Kleiderkammer ein paar entbehrli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>muckstücke und Stoffe zu entnehmen.<br />

Do<strong>ch</strong> für die Spanier war es ein unvorstellbar wertvoller S<strong>ch</strong>atz. Nur Cortés hatte Mühe, seinen<br />

Ärger mit ho<strong>ch</strong>trabenden Dankesworten und zur S<strong>ch</strong>au getragener Freude zu bemänteln.<br />

Wenn der Kazike glaubte, dur<strong>ch</strong> Beste<strong>ch</strong>ung seine Abreise erkaufen und ihn, Hernándo Cortés,<br />

von seinem Ziel abbringen zu können, sollte er si<strong>ch</strong> täus<strong>ch</strong>en! Jetzt galt es, Zeit zu gewinnen.<br />

Dur<strong>ch</strong> Marina und Aguilár ließ er dem Statthalter sagen: Au<strong>ch</strong> der Herr des Ostens habe<br />

Gaben gesandt für den Herrn des Westens. Dann befahl er seinem Haushofmeister Simon de<br />

Cuenca, die bereitgehaltenen Ges<strong>ch</strong>enke zu bringen. Es war ein Lehnstuhl mit einer<br />

Abruzzenlands<strong>ch</strong>aft auf der Rückenlehne – gute Florentiner Intarsienarbeit (nur s<strong>ch</strong>ade, dass ein<br />

Bein des Sessels abgebro<strong>ch</strong>en und eben erst notdürftig vom Zimmermann Cristóbal de Jaén angeleimt<br />

worden war). Ferner ein ges<strong>ch</strong>liffener Aquamarin, in ein mit Levantiner Rosenöl parfümiertes<br />

Spitzentu<strong>ch</strong> gewickelt, und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> eine S<strong>ch</strong>nur blauer Glasperlen und eine karmesinrote<br />

Na<strong>ch</strong>thaube na<strong>ch</strong> Art der Dogenmützen, an wel<strong>ch</strong>er ein emailliertes Heiligenbild von Dukatengröße<br />

befestigt war, das den heiligen Georg mit dem Dra<strong>ch</strong>en zeigte.<br />

»Dies alles sendet mein kaiserli<strong>ch</strong>er Herr dem König Moctezuma«, sagte Cortés. »Überbringe<br />

ihm die Kleinodien und frage ihn, wann er mi<strong>ch</strong> empfangen will, auf diesem Thron und gekrönt<br />

mit dieser uns<strong>ch</strong>ätzbaren Krone.«<br />

Der Austaus<strong>ch</strong> der Ges<strong>ch</strong>enke hatte viel Neugierige angelockt. In ehrfur<strong>ch</strong>tsvoller Entfernung<br />

bildeten die Soldaten einen Halbkreis um die Feldobristen und ihre Gäste. Na<strong>ch</strong> den letzten<br />

Worten des Cortés drängte si<strong>ch</strong> plötzli<strong>ch</strong> der Possenreißer Cervantes dur<strong>ch</strong> die Zus<strong>ch</strong>auermenge.<br />

Er war klein, bucklig, und seine Hühnerbrust sprang wie ein S<strong>ch</strong>iffss<strong>ch</strong>nabel vor. Nie verlor sein<br />

rasiertes, überlanges Gesi<strong>ch</strong>t den s<strong>ch</strong>wermütigen Ausdruck eines krähenden Hahnes. Blitzs<strong>ch</strong>nell,<br />

sodass niemand ihn hindern konnte, stellte er si<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong>t vor die Mexica und kreis<strong>ch</strong>te aus Leibeskräften:<br />

»Man s<strong>ch</strong>ickt eu<strong>ch</strong> zum Hohn,<br />

Einen wackligen Thron<br />

Und die fals<strong>ch</strong>e Pra<strong>ch</strong>t<br />

einer Mütze der Na<strong>ch</strong>t.<br />

Er wird au<strong>ch</strong> mit Lügen<br />

Den König betrügen!<br />

Sollt’ ni<strong>ch</strong>t auf ihn hören!<br />

Er wird eu<strong>ch</strong> zerstören,<br />

Kein Kaiser hat ihn gesandt,<br />

Das liegt auf der Hand...«<br />

Weiter kam er ni<strong>ch</strong>t. Ein junger s<strong>ch</strong>mucker Fähnri<strong>ch</strong>, Bernal Díaz del Castillo, von seinen<br />

Waffengenossen »der Ritterli<strong>ch</strong>e« genannt, hatte den Spaßma<strong>ch</strong>er am Kragen gepackt und in den<br />

Sand geworfen. Er blickte Cortés fragend an.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 24<br />

»Soll i<strong>ch</strong> ihn peits<strong>ch</strong>en lassen?«<br />

»Nein«, spra<strong>ch</strong> Cortés. »Ein Hanswurst kann mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t kränken.«<br />

Der Silberpuma wandte si<strong>ch</strong> an Marina. »Was hat dieser Krieger gesagt?«, fragte er.<br />

»Es ist ein umna<strong>ch</strong>teter Zauberer«, antwortete Marina. »Er hat geweissagt.« Geisteskranke<br />

galten den Indianern als unantastbar, da aus ihrem Mund die Götter spra<strong>ch</strong>en.<br />

»Was hat er prophezeit?«<br />

»Dass Moctezuma meinen Herrn empfangen wird.«<br />

Der Statthalter überlegte. Dann beriet er si<strong>ch</strong> flüsternd mit dem Steuererheber. Den Wert<br />

oder Unwert des Sessels und der roten Na<strong>ch</strong>tmütze vermo<strong>ch</strong>ten sie ni<strong>ch</strong>t zu bemessen. Die Glasperlen<br />

s<strong>ch</strong>ienen Juwelen zu sein. Dem Großkönig sol<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ätze und ihres Überbringers kühn<br />

gefordertes Verlangen zu unters<strong>ch</strong>lagen, wäre ein todwürdiges Verbre<strong>ch</strong>en.<br />

»I<strong>ch</strong> bin Moctezumas Sklave«, sagte der Statthalter zu Marina. »Sag deinem Herrn, i<strong>ch</strong> werde<br />

die Ges<strong>ch</strong>enke vor das Angesi<strong>ch</strong>t meines Huei-Tlatoani tragen. Mag sein Mund ents<strong>ch</strong>eiden,<br />

ob Malin<strong>ch</strong>e vor ihn treten darf.«<br />

»Mein Herr wird Moctezuma aufsu<strong>ch</strong>en!«, antwortete Marina mit Bestimmtheit.<br />

»Warum bist du so si<strong>ch</strong>er?«<br />

»Weil aus dem Zauberer die Zukunft spra<strong>ch</strong>.«<br />

Der Silberpuma wollte no<strong>ch</strong> etwas wissen: »Was war das für ein Zauber vorhin? Die<br />

Demütigkeiten der Krieger des Ostens vor dem Kreuz und ihre Gesänge, das Gebrüll des großen<br />

Mannes im härenen Gewand und der Gesang des dicken Magiers? Warum räu<strong>ch</strong>erten sie das<br />

Kreuz an, und warum fielen dabei alle auf die Knie? «<br />

»Sie beteten zu ihrem Gott.«<br />

»Quetzalcoatl? Das Kreuz war au<strong>ch</strong> sein Zei<strong>ch</strong>en! Was gab ihnen der Zauberer zu essen?«<br />

»Sie essen vom Leib ihres Gottes.«<br />

»Sie essen vom Leib ihres Gottes?« Pinotl verlor vor Staunen beinahe seine würdevolle<br />

Fassung. »Wir opfern unseren Göttern die Leiber der Mens<strong>ch</strong>en! Tun sie das ni<strong>ch</strong>t?«<br />

»Nein, sie lehnen das Mens<strong>ch</strong>enopfer ab.«<br />

»Und was trank der große Zauberer aus dem goldenen Glas?«<br />

»Das goldene Glas nennen sie ›Kel<strong>ch</strong>‹. Er trank vom Blut ihres Gottes.«<br />

»Blut ihres Gottes? Seltsam! Unsere Götter verlangen das Blut der Mens<strong>ch</strong>en!«<br />

Cortés hatte mit wa<strong>ch</strong>sender Ungeduld dem Wortwe<strong>ch</strong>sel gelaus<strong>ch</strong>t. »Was hat er gesagt?«,<br />

fragte er nun den Frater.<br />

Marina antwortete Aguilár: »Er will die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten und Ges<strong>ch</strong>enke Malin<strong>ch</strong>es aus dem Land<br />

des Sonnenaufgangs seinem Huei-Tlatoani überbringen und getreuli<strong>ch</strong> beri<strong>ch</strong>ten, was er von Eu<strong>ch</strong><br />

erfahren hat.«<br />

»Was heißt Huei-Tlatoani?«<br />

»Es bedeutet ›Ehrwürdiger Spre<strong>ch</strong>er‹ und ist ein Ehrentitel Moctezumas, des Zornigen<br />

Herrn.«<br />

»Des Zornigen Herrn?«<br />

»Moctezuma bedeutet ›Zorniger Herr‹.«<br />

»Und was heißt Malin<strong>ch</strong>e?«<br />

Röte breitete si<strong>ch</strong> auf Marinas Wangen aus. »Das bedeutet ›Gebieter Marinas‹.«<br />

Aguilár zögerte. »Hat er das gesagt?«, fragte er Marina.<br />

Sie bemerkte sein Misstrauen. »So waren seine Worte!«<br />

Cortés fragte ungeduldig: »Was habt ihr da zu reden? Übersetzt endli<strong>ch</strong>!«<br />

»Sie sagt, ›Malin<strong>ch</strong>e‹ bedeute ›Gebieter Marinas‹.« Aguilars Augen glänzten fiebrig. »Aber<br />

i<strong>ch</strong> weiß ni<strong>ch</strong>t, ob man ihren Übersetzungen trauen darf.«<br />

Sieh an, da<strong>ch</strong>te Cortés, der Bruder Mön<strong>ch</strong> ist eifersü<strong>ch</strong>tig! Nun hat Marina s<strong>ch</strong>on einen Stellenwert<br />

in unserem S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>spiel – und i<strong>ch</strong> habe einen Namen.<br />

Cortés wollte die Gäste ni<strong>ch</strong>t ziehen lassen, ohne ihnen einen Begriff von der Verni<strong>ch</strong>tungskraft<br />

europäis<strong>ch</strong>er Kriegswaffen zu geben. Der Mens<strong>ch</strong>enmaler hatte nur friedli<strong>ch</strong>e Genrebilder auf<br />

das Hirs<strong>ch</strong>hautpergament gemalt: die heilige Handlung vor dem Altar mit Gitarrebegleitung, das<br />

Mittagsmahl in der Laubhütte, die Darbietung der Gaben sowie Bildnisse der elf Feldobristen und<br />

der Malintzín. Jetzt aber sollte er bewegte Manöverszenen malen, damit Moctezuma, wenn er sie<br />

zu Gesi<strong>ch</strong>t bekäme, es si<strong>ch</strong> wohl überlege, einem so unüberwindli<strong>ch</strong>en Kriegsführer Wüns<strong>ch</strong>e abzus<strong>ch</strong>lagen.<br />

S<strong>ch</strong>on beim Essen hatte Cortés seinem Stallmeister Martín de Gamba den Auftrag<br />

erteilt, Romo zu satteln und dafür Sorge zu tragen, dass au<strong>ch</strong> die übrigen Pferde des Heeres be-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 25<br />

reitstünden.<br />

»Meine Herren«, sagte er zu den Hauptleuten, »wir wollen den Kaziken unsere Reitkünste<br />

vorführen und ihnen zeigen, wie kastilis<strong>ch</strong>e Ritter zu stürmen vermögen. Bei der Gelegenheit können<br />

wir feststellen, wer von uns am besten im Sattel sitzt.«<br />

Die Kavalkade bestand aus fünfzehn Reitern. Cortés wollte seinem Romo einen Ehrentag<br />

bereiten. Aussi<strong>ch</strong>t auf den Preis hatten aber au<strong>ch</strong> die Fu<strong>ch</strong>sstute des Alvarado – feurig wie ihre<br />

Farbe –, sowie der Hellbraune des Cristóbal de Olíd und der Graus<strong>ch</strong>immel von Juan Velásquez<br />

de León, ein riesenhaftes Tier, »Stumpfs<strong>ch</strong>wanz« genannt. Die anderen Pferde taugten ni<strong>ch</strong>t viel,<br />

wenn au<strong>ch</strong> der Tanzlehrer Ortiz versi<strong>ch</strong>erte, sein Klepper, der Rotfu<strong>ch</strong>s, könne fliegen wie Pegasus.<br />

Der von Trompetenfanfaren und Musketens<strong>ch</strong>üssen begleitete Sturmangriff auf den unsi<strong>ch</strong>tbaren<br />

Feind am Meeresufer war eine Überras<strong>ch</strong>ung, ni<strong>ch</strong>t nur für die zus<strong>ch</strong>auenden Mexica.<br />

Dur<strong>ch</strong>s Ziel – zwei leere Weinfässer – lief Romo als Dritter, Stumpfs<strong>ch</strong>wanz sogar als A<strong>ch</strong>ter. Der<br />

Rotfu<strong>ch</strong>s hatte vor einem toten Tintenfis<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>eut und den Tanzmeister im hohen Bogen ins<br />

Meer geworfen. Sieger war der Fähnri<strong>ch</strong> Gonzalo de Sandoval auf seinem dunkelbraunen Hengst<br />

Motilla.<br />

Sandoval war erst zweiundzwanzig Jahre alt und der geborene Reiter; er war zwar ni<strong>ch</strong>t<br />

groß von Gestalt, jedo<strong>ch</strong> muskulös und breits<strong>ch</strong>ultrig, und hatte lei<strong>ch</strong>t gekrümmte Beine. Ein kleiner<br />

herabhängender S<strong>ch</strong>nurrbart zierte das breite, stets ernste Gesi<strong>ch</strong>t. Cortés hatte die S<strong>ch</strong>riften<br />

des Plutar<strong>ch</strong> und anderer Klassiker auf die Reise mitgenommen und kannte die Namen seiner<br />

fünfhundertundfünfzig Begleiter. Von vielen aber wusste er kaum mehr als den Namen. Do<strong>ch</strong> was<br />

Sandoval betraf, wusste Cortés, dass er aus seinem Heimatort stammte, aus Medellín.<br />

»I<strong>ch</strong> beglückwüns<strong>ch</strong>e Eu<strong>ch</strong>, Sandoval!«, sagte Cortés.<br />

Sandoval stotterte oft, wenn er verlegen oder aufgeregt war. Er errötete und täts<strong>ch</strong>elte verlegen<br />

sein Pferd. Dann sagte er stockend: »Motilla... ist ein gu... gutes Pferd.«<br />

»Und Ihr ein guter Reiter. Ihr reitet besser, als Ihr spre<strong>ch</strong>t. I<strong>ch</strong> ernenne Eu<strong>ch</strong> zum Capitán!«<br />

Der aztekis<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>enmaler, der – wie alle Indianer – in seinem Leben no<strong>ch</strong> nie ein Pferd<br />

gesehen hatte, zei<strong>ch</strong>nete mit leu<strong>ch</strong>tenden Farben wild umherspringende Ungeheuer auf das<br />

Hirs<strong>ch</strong>hautpergament: bis zum Nabel Mens<strong>ch</strong>en, unterhalb des Nabels Tiere. Er vergaß au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

den hohen Flug des Tanzmeisters von Rücken eines dieser Ungeheuer.<br />

Inzwis<strong>ch</strong>en hatten die Artilleristen mehrere der langen Kartaunen auf die Spitze der vierzig<br />

Fuß hohen Düne ges<strong>ch</strong>afft. Als die Singende Na<strong>ch</strong>tigall zu brüllen begann, verloren selbst der<br />

Statthalter und der Steuererheber ihre würdevolle Fassung. Sie fielen zu Boden, husteten, niesten<br />

und erstickten fast im ungewohnten Pulverdampf. Steinkugeln, groß wie Kinderköpfe, s<strong>ch</strong>wirrten<br />

zis<strong>ch</strong>end über die verängstigten Mexica hinweg in den nahen Wald und knickten dort einige Bäume.<br />

Mit Genugtuung sah Cortés, dass die erhoffte Wirkung ni<strong>ch</strong>t ausblieb. Das Ers<strong>ch</strong>recken der<br />

Mexica war offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, wie sehr sie si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> zu steinerner Ruhe zwangen. Der Mens<strong>ch</strong>enmaler,<br />

der eben erst Fabelwesen, Dämonen mit Mens<strong>ch</strong>enleib und Tierbeinen, aufs Pergament gemalt<br />

hatte, musste jetzt das Übermens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e malen, die geistverstörenden, grauenhaften Zauberkräfte<br />

der Sonnensöhne. Ratlos stand er da, als man die Gäste an den Waldrand geführt hatte: Sie<br />

sollten die verni<strong>ch</strong>tende Ma<strong>ch</strong>t der Zauberei bewundern. Cortés zeigte ihnen einen Baum, dem<br />

eine Steinkugel die Krone weggerissen hatte.<br />

»Hat Moctezuma so fur<strong>ch</strong>tbare Waffen?«, ließ er dur<strong>ch</strong> Marina und Aguilár den Silberpuma<br />

fragen.<br />

»Nein«, erwiderte der. »Wir haben nur hölzerne S<strong>ch</strong>werter, gefiederte Pfeile und Speere.<br />

Do<strong>ch</strong> ein mexicanis<strong>ch</strong>es S<strong>ch</strong>wert vermag das au<strong>ch</strong>.«<br />

»Das mö<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> sehen!«, rief Cortés.<br />

Der Statthalter winkte einem seiner bewaffneten Begleiter. Es war ein s<strong>ch</strong>ildtragender Krieger<br />

mit einem habi<strong>ch</strong>tgroßen, stilisierten S<strong>ch</strong>metterling aus Federmosaik an den S<strong>ch</strong>ultern. In den<br />

Händen hielt er außer dem bunt bemalten S<strong>ch</strong>ild das gefährli<strong>ch</strong>e Säges<strong>ch</strong>wert der Azteken. Zwar<br />

war es nur aus Holz, do<strong>ch</strong> an beiden S<strong>ch</strong>neiden waren Obsidianspitzen eingelassen, s<strong>ch</strong>arf wie<br />

Rasiermesser.<br />

Auf Befehl des Statthalters dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nitt der Krieger den Baumstamm mit einem einzigen<br />

Hieb. Da staunten die stolzen Kastilier. »Sol<strong>ch</strong> ein Säbel dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>neidet einen Stahlpanzer wie<br />

Butter«, bemerkte der stets spöttis<strong>ch</strong>e Francisco de Lugo ein wenig beklommen. Nur die elf Offiziere<br />

besaßen Harnis<strong>ch</strong>e. Die anderen Landskne<strong>ch</strong>te der Expedition hatten si<strong>ch</strong> mit wattierten


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 26<br />

S<strong>ch</strong>utzröcken versehen, wie man sie auf den Inseln Haiti und Kuba trug, zur Abwehr von Pfeilen<br />

nackter Wilder.<br />

»Habt Ihr den Verstand verloren, Don Hernándo?«, platzte der verträumte und stets melan<strong>ch</strong>olis<strong>ch</strong>e<br />

Diego de Ordás heraus. »Wollt Ihr mit so treffli<strong>ch</strong> bewaffneten Leuten Händel su<strong>ch</strong>en?<br />

Das ist Narretei!«<br />

»Wenn Ihr glaubt, an Moctezumas Tafelfreuden teilnehmen zu müssen«, sagte der unges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>te<br />

Alonso de Avila, »so reitet allein hin mit Eurem Romo! Guten Appetit! I<strong>ch</strong> prophezeie<br />

Eu<strong>ch</strong>, Ihr kommt ni<strong>ch</strong>t weiter als bis zur nä<strong>ch</strong>sten Stadtmauer. Aber setzt gefälligst Eure Kameraden<br />

ni<strong>ch</strong>t der Gefahr aus, als Rostbraten in der Kü<strong>ch</strong>e des Mexicakönigs zu s<strong>ch</strong>moren.«<br />

»I<strong>ch</strong> da<strong>ch</strong>te, Don Diego«, sagte Cortés, ohne Avila zu bea<strong>ch</strong>ten, »ein Ritter wie Ihr für<strong>ch</strong>tet<br />

weder Tod no<strong>ch</strong> Teufel.«<br />

»Válgame Dios! I<strong>ch</strong> für<strong>ch</strong>te weder den Teufel no<strong>ch</strong> seine Großmutter! Aber dieser Moctezuma<br />

s<strong>ch</strong>eint hunderttausend Teufel zu haben. Übrigens – dort, den roten Satan, der den Baum geköpft<br />

hat, wie kein Henker es besser ma<strong>ch</strong>t –, werde i<strong>ch</strong> zum Zweikampf fordern!«<br />

»Und was wollt Ihr mit dem Teufelsurteil beweisen?«, fragte Alvarado.<br />

Ordás blieb die Antwort s<strong>ch</strong>uldig. Cortés ließ ihn gewähren, obglei<strong>ch</strong> der Vors<strong>ch</strong>lag des<br />

Zweikampfs ni<strong>ch</strong>ts als ein töri<strong>ch</strong>ter, grillenhafter Einfall war. Marina musste die großspurige Herausforderung<br />

des Ordás, die Aguilár ihr vorspra<strong>ch</strong>, den verdutzt dreins<strong>ch</strong>auenden Mexica übersetzen.<br />

Der junge Krieger mit dem großen Falter auf dem Rücken s<strong>ch</strong>ien ni<strong>ch</strong>t übel Lust zu haben,<br />

seine Haut zu Markt zu tragen. Do<strong>ch</strong> die Besonnenheit des Silberpumas vereitelte das unsinnige<br />

Duell. No<strong>ch</strong> benommen vom Pulverdampf und Getöse der Singenden Na<strong>ch</strong>tigall, war der Statthalter<br />

si<strong>ch</strong> bewusst, dass er Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten – ungeheure S<strong>ch</strong>reckensna<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten – na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán zu<br />

tragen habe. Er wollte ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> Überbringer der betrübenden Kunde sein, dass s<strong>ch</strong>on ein<br />

Waffengang stattgefunden habe. Mit artigen Worten lehnte er ab. Es sei Zeit, aufzubre<strong>ch</strong>en. Er<br />

habe Eile, die Ges<strong>ch</strong>enke und die Bots<strong>ch</strong>aft dem Zornigen Herrn vorzulegen.<br />

Man war ins Lager zurückgekehrt. Die Träger standen mit den Sänften bereit. Der Sessel,<br />

der parfümierte Aquamarin, die Glasperlen und die karmesinrote Tu<strong>ch</strong>mütze mit dem emaillierten<br />

Dra<strong>ch</strong>enkämpfer wurden sorgfältig verpackt. No<strong>ch</strong> fehlten drei S<strong>ch</strong>ildträger von der Gefolgs<strong>ch</strong>aft<br />

des Statthalters. Man musste na<strong>ch</strong> ihnen su<strong>ch</strong>en.<br />

Kastilis<strong>ch</strong>e Soldaten hatten si<strong>ch</strong> an sie herangema<strong>ch</strong>t und einen Taus<strong>ch</strong>handel mit ihnen<br />

begonnen. Ohne Dolmets<strong>ch</strong>er, nur dur<strong>ch</strong> die Spra<strong>ch</strong>e der Finger und Augen, hatten sie einander<br />

verstanden und sogar Freunds<strong>ch</strong>aft ges<strong>ch</strong>lossen. Arm in Arm war man s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> zur Marketenderlaube<br />

der Goldhyazinte gewandert, um mit erhitzendem Portwein auf die Verbrüderung des<br />

kastilis<strong>ch</strong>en und aztekis<strong>ch</strong>en Volkes zu trinken. Dort wurden die Gesu<strong>ch</strong>ten gefunden. S<strong>ch</strong>uldbewusst<br />

kamen sie jetzt auf den freien Platz vor die Hütte mit der s<strong>ch</strong>warzen Standarte. Den drei<br />

Mexica, die an den einheimis<strong>ch</strong>en Raus<strong>ch</strong>trank Pulque gewöhnt waren, hatte der spanis<strong>ch</strong>e Wein<br />

ni<strong>ch</strong>t sonderli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>adet; nur dass sie Barette statt der Federbüs<strong>ch</strong>e auf den harzigen Strähnen<br />

trugen. Dafür prangte Mansilla der Durstige in einer Federkrone; der s<strong>ch</strong>önhändige Lope Cano<br />

s<strong>ch</strong>wenkte ein mexicanis<strong>ch</strong>es Säges<strong>ch</strong>wert, verlor das Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t und stolperte bei jedem<br />

S<strong>ch</strong>ritt; Pedro Baracoa s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong>, der Aufs<strong>ch</strong>neider, angetan mit einem Lendens<strong>ch</strong>urz, den er<br />

über die Pluderhosen gestreift hatte wie eine Badehose, erzählte den mexicanis<strong>ch</strong>en Kriegern seine<br />

alten Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten von Don Pedro Jirón und dem Grafen von Urueña. Am tollsten aber benahm<br />

si<strong>ch</strong> die junge Mulattin Beatriz de Acevedo. Sie hatte einem der Mexica auf dem S<strong>ch</strong>oß gesessen<br />

und aus seinem Glas getrunken, nun trug sie sein Nasengehänge als Ohrring, rollte dem Statthalter<br />

betrunken vor die Füße und übergab si<strong>ch</strong>, wobei sie des stolzen Herrn Goldsandalen bes<strong>ch</strong>mutzte.<br />

Der Statthalter fragte liebenswürdig: »Ist die Blume des Ostens krank?«<br />

Cortés ließ dur<strong>ch</strong> Marina und Aguilár antworten: »Die junge Frau leidet an der Krankheit des<br />

Meeres, weil sie lange auf der See gefahren ist. Wir alle leiden an dieser Krankheit.«<br />

Der Statthalter drückte in bildrei<strong>ch</strong>en Wendungen sein Bedauern über die Leiden aus. Cortés<br />

fuhr fort: »Es gibt nur ein Heilmittel gegen diese s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>e Krankheit. Aber die Medizin ist hier<br />

auf den Sandhügeln s<strong>ch</strong>wer erhältli<strong>ch</strong>. Wenn Moctezuma Freunds<strong>ch</strong>aft hegt für uns und unsern<br />

kaiserli<strong>ch</strong>en Herrn Don Carlos, soll er uns viel von der Medizin gegen die Seekrankheit senden.«<br />

»Wie heißt die Medizin?«, fragte der Statthalter.<br />

Und Cortés antwortete: »Gold!«<br />

Zu den seltsamsten Gestalten des Abenteurerheeres gehörte ein Soldat, der in der vordersten<br />

Reihe der Umstehenden stand. Er war no<strong>ch</strong> ziemli<strong>ch</strong> jung und ungewöhnli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ön. In vier


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 27<br />

Spra<strong>ch</strong>en – spanis<strong>ch</strong>, italienis<strong>ch</strong>, französis<strong>ch</strong> und lateinis<strong>ch</strong> – konnte er si<strong>ch</strong> gewandt ausdrücken.<br />

Er musste von hoher Herkunft sei, do<strong>ch</strong> ihm fehlte die re<strong>ch</strong>te Hand. Und er ma<strong>ch</strong>te kein Hehl daraus,<br />

dass ein Henker sie ihm auf dem Block eines Blutgerüsts zur Strafe für ein s<strong>ch</strong>weres Vergehen<br />

abges<strong>ch</strong>lagen hatte. Sonst aber behielt er das Rätsel seines S<strong>ch</strong>icksals für si<strong>ch</strong>. Einen Namen<br />

hatte er ni<strong>ch</strong>t. Darum hieß er bei den Waffengenossen »der Namenlose«. Er selbst nannte si<strong>ch</strong> so.<br />

Wusste man au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, woher er kam, so war do<strong>ch</strong> eins gewiss: Er musste an den Kämpfen in<br />

Italien teilgenommen haben, denn er trug einen in Italien ges<strong>ch</strong>miedeten Degen, und seine Sturmhaube<br />

unters<strong>ch</strong>ied si<strong>ch</strong> von den Eisenhüten der Kastilier: Sie war aus Bronze, gute S<strong>ch</strong>miedearbeit,<br />

verziert mit einem geflügelten Dra<strong>ch</strong>en.<br />

Der Silberpuma starrte mit weit aufgerissenen Augen die Sturmhaube an. Dann fragte er, ob<br />

er sie mit na<strong>ch</strong> Mexico tragen dürfe, um sie Moctezuma zu zeigen.<br />

Cortés rief den Namenlosen heran. Ohne Widerrede stellte der ihm die Sturmhaube zur Verfügung.<br />

Cortés rei<strong>ch</strong>te sie dem Statthalter und sagte: »Unter der Bedingung, dass Moctezuma mir<br />

diesen Helm bis an den Rand mit Gold gefüllt zurücksendet, gebe i<strong>ch</strong> ihn dir mit. Aber erkläre mir,<br />

warum du glaubst, dass der Anblick dieses Helmes Moctezuma Freude bereiten wird.«<br />

Der Silberpuma gab zur Antwort: »Ni<strong>ch</strong>t nur was Freude bereitet, ist gut zu sehen. Einen<br />

Helm wie diesen trug Unser Herr Quetzalcoatl, als er auf der Erde wandelte. In seinem Tempel<br />

bewahrt man das alte Waffenges<strong>ch</strong>meide auf. Moctezuma wird die beiden Helme verglei<strong>ch</strong>en, um<br />

festzustellen, ob Ihr die Enkel seid, von denen Unser Herr geweissagt hat.«<br />

Cortés konnte die Bedeutung dieser dunklen Worte ni<strong>ch</strong>t ermessen. Der Silberpuma dagegen<br />

hatte genug verstanden. Es gab ein Heilmittel, die Söhne der Sonne gefügig zu ma<strong>ch</strong>en: Gold,<br />

viel Gold! Den S<strong>ch</strong>reckensna<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten, die er Moctezuma zu melden hatte, konnte er wenigstens<br />

diesen Trost beifügen. Denn in Teno<strong>ch</strong>titlán mangelte es ni<strong>ch</strong>t an dem Metall, das man hier Götterkot<br />

nannte.<br />

Eilig verließen der Statthalter und sein Stab das Lager.<br />

*<br />

Ohne si<strong>ch</strong> Ruhe zu gönnen, legte der Silberpuma den weiten Weg na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán zurück. Als<br />

er im Großen Palast anlangte, war es Mitterna<strong>ch</strong>t. Der Zornige Herr s<strong>ch</strong>lief. Der Silberpuma ließ<br />

den Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e rufen und bestand darauf, dass Moctezuma geweckt<br />

werde.<br />

Moctezuma erwa<strong>ch</strong>te aus s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>en Träumen zur s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>eren Wirkli<strong>ch</strong>keit. Unerhörtes<br />

musste ges<strong>ch</strong>ehen sein, dass man ihn um diese Stunde weckte! Der Gottkönig erinnerte si<strong>ch</strong>,<br />

wie er vor Jahresfrist s<strong>ch</strong>on einmal gestört wurde, als ein S<strong>ch</strong>nellläufer zum ersten Male Kunde<br />

von den Wasserhäusern vor seinen Thron trug. Dunkle Ahnungen bes<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en ihn, erfüllten seine<br />

Seele mit Beklemmung und verursa<strong>ch</strong>ten ihm Herzklopfen. In seinem engen runden S<strong>ch</strong>lafgema<strong>ch</strong><br />

wollte er die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten des Statthalters ni<strong>ch</strong>t entgegennehmen. Der Vorsteher des Hauses der<br />

Teppi<strong>ch</strong>e musste daher den Silberpuma und seine Begleiter in den Saal der Bots<strong>ch</strong>aften führen.<br />

Inzwis<strong>ch</strong>en ließ Moctezuma ein Prunkkleid, auf das Totens<strong>ch</strong>ädel gestickt waren, von seinen Sklaven<br />

bringen. Festli<strong>ch</strong> gewandet, in funkelndem S<strong>ch</strong>muck, begab er si<strong>ch</strong> in den Saal der Bots<strong>ch</strong>aften<br />

und nahm auf dem Silberthron unter dem Balda<strong>ch</strong>in aus Adlerdaunen Platz. Neben ihn stellten<br />

si<strong>ch</strong> sein Kanzler Weibli<strong>ch</strong>er Zwilling und der s<strong>ch</strong>weigsame Feldherr Sengende Glut.<br />

Kienfackeln, von Haus-Erleu<strong>ch</strong>tern gehalten, füllten den weiten Saal mit Rau<strong>ch</strong>streifen.<br />

S<strong>ch</strong>ummrig erhellt vom hüpfenden Flammens<strong>ch</strong>immer tau<strong>ch</strong>ten die blank polierten Götzenskulpturen<br />

der Jaspiswände wie aus Nebelfernen auf. Ni<strong>ch</strong>t weniger geisterhaft s<strong>ch</strong>webten und wogten<br />

die Mens<strong>ch</strong>en im gaukelnden Feuers<strong>ch</strong>ein.<br />

Moctezuma hatte Befehl erteilt, fünf gefangenen Huaxteca das Gesi<strong>ch</strong>t und den Körper mit<br />

Kreide zu weißen. Die fünf wurden von s<strong>ch</strong>warz gekleideten Opferpriestern hereingeführt, nackt,<br />

s<strong>ch</strong>neeig, wie aus Alabaster gemeißelt. Das toll gewordene Li<strong>ch</strong>t konnte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t genug tun, auf<br />

den weißen Leibern zu tanzen. Auf die Marmorfliesen wurden die fünf nebeneinander zu Boden<br />

gestoßen, die Obsidiandol<strong>ch</strong>e der Priester blitzten auf, und der Edelstein, das Herz, wurde ihnen<br />

entrissen. Ihr Blut aber – aus den klaffenden Brüsten zis<strong>ch</strong>te es empor wie fünf rubinrote Fontänen<br />

–, ihr Blut wurde auf Anordnung Moctezumas dem Statthalter übers Haupt gegossen; und ebenso<br />

seinen Begleitern – dem Grausen zu Ehren, das sie erblickt hatten. »Denn ihr habt vor dem Ange-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 28<br />

si<strong>ch</strong>t der Götter geweilt«, spra<strong>ch</strong> Moctezuma düster, »habt mit Göttern Reden gewe<strong>ch</strong>selt!«<br />

Der Statthalter beri<strong>ch</strong>tete: »Ihre Kriegstra<strong>ch</strong>t und ihre Waffen sind ganz aus Eisen gema<strong>ch</strong>t.<br />

Sie kleiden si<strong>ch</strong> ganz in Eisen, mit Eisen bedecken sie ihren Kopf, aus Eisen sind ihre S<strong>ch</strong>werter,<br />

ihre Bogen, ihre S<strong>ch</strong>ilde und Lanzen. Sie werden von Hirs<strong>ch</strong>en auf dem Rücken getragen, wohin<br />

sie wollen. Herr, auf diesen Hirs<strong>ch</strong>en sind sie so ho<strong>ch</strong> wie Dä<strong>ch</strong>er. Ihr Körper ist ganz verborgen,<br />

nur die Gesi<strong>ch</strong>ter sind ni<strong>ch</strong>t bedeckt. Ihre Haut ist weiß, heller als die unsere. Ihr Haar ist gelb, bei<br />

einigen s<strong>ch</strong>warz. Sie haben au<strong>ch</strong> gelbe Bärte, die Backenbärte sind glei<strong>ch</strong>falls gelb. Ihr Haar ist<br />

gelockt, in glänzenden Strähnen. Ihre Hunde sind gewaltige Ungeheuer mit fla<strong>ch</strong>en Ohren und<br />

langen, hängenden Zungen. Sie haben feurige gelbe Augen, die Funken sprühen und blitzen. Ihre<br />

Bäu<strong>ch</strong>e sind fla<strong>ch</strong> wie Löffel, ihre Flanken lang und s<strong>ch</strong>mal. Sie sind wild und unermüdli<strong>ch</strong>, springen<br />

hierhin und dahin, keu<strong>ch</strong>en immerzu und lassen die Zunge hängen. Und gefleckt sind sie wie<br />

der Jaguar.«<br />

Ers<strong>ch</strong>rocken hörte der König au<strong>ch</strong> davon, wie die Kanone brüllt, wie ihr Donner trifft, dass<br />

man taub und ohnmä<strong>ch</strong>tig wird. Die Gesandten sagten: »Sie haben Feuerrohre. Ein Ding wie ein<br />

Ball aus Stein fliegt aus ihrem Bau<strong>ch</strong> heraus, sprüht Funken und regnet Feuer. Der Rau<strong>ch</strong> stinkt<br />

wie S<strong>ch</strong>wefel oder fauliger S<strong>ch</strong>lamm. Er ma<strong>ch</strong>t den Kopf benommen, denn er dringt bis ins Hirn.<br />

Wenn die Kugel den Berg trifft, spaltet er si<strong>ch</strong> und birst in Stücke. Trifft sie den Baum, verweht er in<br />

Splitter, als hätte ein Zauberer in seinem Innern ihn fortgeblasen.«<br />

Moctezuma s<strong>ch</strong>wieg lange. »Sind sie Götter?«, fragte er dann beklommen.<br />

»Zorniger Herr, sie essen die glei<strong>ch</strong>en Speisen wie wir.«<br />

»Sind sie Götter?«, wiederholte Moctezuma.<br />

»Viellei<strong>ch</strong>t sind sie Abgesandte eines großen Herrs<strong>ch</strong>ers von jenseits des großen Wassers«,<br />

gab der Statthalter zweifelnd zu bedenken.<br />

»Und die Feuerrohre? Woher sollen Mens<strong>ch</strong>en so etwas haben?«<br />

»Viellei<strong>ch</strong>t sind sie Unsterbli<strong>ch</strong>e. Jedenfalls sind sie keine Götter, denn sie benehmen si<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t mit göttli<strong>ch</strong>er Würde.«<br />

»Und ihr Anführer? Ist er Quetzalcoatl, ›die Gefiederte S<strong>ch</strong>lange‹, der vor langer Zeit übers<br />

Ostmeer ging und nun zurückkommt? Will er uns unterwerfen und zu seinen Vasallen ma<strong>ch</strong>en?«<br />

»Er lehnt das Mens<strong>ch</strong>enopfer ab – so wie Quetzalcoatl. Sie sind weißhäutig – so wie Quetzalcoatl.<br />

Er trägt s<strong>ch</strong>warze Kleidung. S<strong>ch</strong>warz ist au<strong>ch</strong> eine der Farben Quetzalcoatls. Auf seiner<br />

Standarte ist ein Kreuz zu sehen, viele seiner Männer haben Kreuze auf der Kleidung – und das<br />

Kreuz ist au<strong>ch</strong> ein Zei<strong>ch</strong>en Quetzalcoatls. Und der Helm, den wir mit Götterkot füllen sollen –<br />

Quetzalcoatl trug au<strong>ch</strong> einen sol<strong>ch</strong>en. Viellei<strong>ch</strong>t sind es teules, göttli<strong>ch</strong>e, aber böse Geister. Do<strong>ch</strong><br />

au<strong>ch</strong> das fällt mir s<strong>ch</strong>wer zu glauben.«<br />

Moctezuma starrte seinen Gesandten an. »Warum sind die bärtigen Männer auf ihren Wasserhäusern<br />

zu uns gekommen?«<br />

»Ihr Anführer sagt, er stehe im Dienst eines mä<strong>ch</strong>tigen Königs des Ostens, dem alle Völker<br />

dort untertan seien und die ihm Tribut leisten müssten. Dieser König habe bedeutungsvolle Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten<br />

und Ges<strong>ch</strong>enke für di<strong>ch</strong>, o großer Huei-Tlatoani, und nur dir persönli<strong>ch</strong> dürfe er sie überbringen.<br />

Er will na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán vor dein erhabenes Angesi<strong>ch</strong>t ziehen.«<br />

Moctezumas Blick irrte fiebrig über die S<strong>ch</strong>ulter des Silberpumas in unbestimmte Ferne. »Er<br />

ist zurückgekehrt«, flüsterte er heiser. Die Weissagungen erfüllen si<strong>ch</strong>. »Es gibt keine Handlung<br />

ohne Vorbedeutung! Glaubst du das au<strong>ch</strong>?«, fragte er den Statthalter.<br />

Der Silberpuma antwortete mürris<strong>ch</strong>: »Nein, i<strong>ch</strong> kann es ni<strong>ch</strong>t glauben, denn i<strong>ch</strong> habe die<br />

Fremden gesehen. Und gero<strong>ch</strong>en. Sie stinken! Sie was<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> kaum und s<strong>ch</strong>lafen in ihren Kleidern.«<br />

Sengende Glut da<strong>ch</strong>te na<strong>ch</strong>. Dann sagte er ents<strong>ch</strong>lossen: »Nein, es sind keine Götter.<br />

Zwar verlangen sie ständig na<strong>ch</strong> Götterkot, do<strong>ch</strong> ihre Exkremente – verzeih, erhabener König –<br />

sind wie die unseren, und sie s<strong>ch</strong>eißen au<strong>ch</strong> wie wir.«<br />

»Und ihr Anführer?«<br />

»Au<strong>ch</strong> ihr Anführer ist ein Mens<strong>ch</strong> wie i<strong>ch</strong> und andere. I<strong>ch</strong> nenne ihn ›Malin<strong>ch</strong>e‹ – Gebieter<br />

der Malintzín, des Mäd<strong>ch</strong>ens, die unsere Spra<strong>ch</strong>e redet und eine Frau aus unserem Volk ist.«<br />

Der Statthalter zeigte das Hirs<strong>ch</strong>hautpergament seines Mens<strong>ch</strong>enmalers vor. Do<strong>ch</strong> Moctezuma<br />

warf kaum einen Blick auf die Malereien. Er sagte au<strong>ch</strong> kein Wort. Er weinte. Tränen zu vergießen<br />

war den Mexica kein Zei<strong>ch</strong>en der Feigheit, sondern die Bezeugung tiefen seelis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>merzes.<br />

Von unendli<strong>ch</strong>er Trauer ergriffen wusste Moctezuma: Der Untergang seines Volkes war vorherbe-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 29<br />

stimmt.<br />

Niemand spra<strong>ch</strong> mehr im niedrigen, lang gestreckten Palastsaal. Und die Tanzwut des Li<strong>ch</strong>ts wurde<br />

zum Fiebers<strong>ch</strong>auer; in rasenden Zuckungen und Sprüngen hüpften die Li<strong>ch</strong>ters<strong>ch</strong>atten auf den<br />

fünf mit silbriger Kreide und glühendem Blut getün<strong>ch</strong>ten Lei<strong>ch</strong>en.<br />

4. S<strong>ch</strong>ilfrohr<br />

»Ein Mann aus Cempoala, ein Häuptling des Hauses der Pfeile, hieß sie als Erster willkommen.<br />

Er spra<strong>ch</strong> Náhuatl und diente ihnen als Führer. Er beriet sie, er zeigte ihnen die besten<br />

Straßen und wies ihnen die kürzesten Wege.«<br />

(Codex Florentino, Bu<strong>ch</strong> XII)<br />

Der Steuererheber Teudile war ni<strong>ch</strong>t mit na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán gereist. Am Ostermontag und den folgenden<br />

Tagen ers<strong>ch</strong>ien er im Lager und ließ jedes Mal rei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Mengen gedörrter Fis<strong>ch</strong>e, Maisbrot,<br />

Gemüse und Obst abliefern. Das war den Spaniern umso mehr erwüns<strong>ch</strong>t, weil der weiße<br />

Zwieback und das aus Kuba mitgebra<strong>ch</strong>te Kassavebrot von Würmern wimmelten und das eingesalzene<br />

Fleis<strong>ch</strong> verdorben war. Rodrigo Rangel hielt an Cortés folgende Anspra<strong>ch</strong>e:<br />

»Unser Brot und das Fleis<strong>ch</strong> sind ungenießbar. Leider steht fest, dass au<strong>ch</strong> viele Mens<strong>ch</strong>en<br />

ungenießbar sind. Freili<strong>ch</strong> der Wurm im Sarg, Euer Liebden, hat keine feine Zunge und findet alle<br />

Mens<strong>ch</strong>enkinder s<strong>ch</strong>mackhaft. Und au<strong>ch</strong> die Mexica sind keine Feins<strong>ch</strong>mecker: Sie bringen uns<br />

Maisbrot und Zwergbohnen, um uns für kannibalis<strong>ch</strong>e Gelage zu mästen. Sie wollen das Werk der<br />

Moskitos vollenden, die uns s<strong>ch</strong>on halb aufgezehrt haben. Denn Mücken sind ungesittet, ges<strong>ch</strong>macklos<br />

und gar ni<strong>ch</strong>t wähleris<strong>ch</strong>. Sie finden den Buckel des Narren Cervantes ebenso genießbar<br />

wie die Rinderbrust Juan Garcías des Aufgeblasenen und den Hintern unseres Seemanns<br />

Alvara aus Palos, der auf Kuba im Lauf von drei Jahren dreißig Kinder von dreißig Indianerinnen<br />

bekam. Wahrli<strong>ch</strong>, Euer Liebden, zu beneiden ist Galleguillo, der kleine Galicier, weil er kurz ist.<br />

Seht, die hagere Rosario bietet mehr Angriffspunkte. Au<strong>ch</strong> die vornehmen Kavaliere werden von<br />

den blutgierigen Insekten ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>mäht; ihr blaues Blut ist offenbar so s<strong>ch</strong>mackhaft wie das<br />

rote der gewöhnli<strong>ch</strong>en Sterbli<strong>ch</strong>en. Bleiben wir hier auf den Sandhügeln, werden wir aufgefressen.<br />

Also, um es kurz zu ma<strong>ch</strong>en: entweder zurück auf die S<strong>ch</strong>iffe ohne Proviant und Ruhmestaten,<br />

oder geradewegs in den Urwald. Helden können Löwen und eine vielköpfige Hydra bewältigen –<br />

aber kein mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Ungeziefer!« So spra<strong>ch</strong> Rodrigo Rangel.<br />

Mit den Offizieren Alvarado, Ordás, Lugo und Tapia unternahm Cortés einen Rekognoszierungsritt.<br />

Es stellte si<strong>ch</strong> heraus, dass der Wald kein Urwald war, und dass si<strong>ch</strong> Dörfer in unmittelbarer<br />

Nähe befanden. Indessen, dank der Fürsorge des Gebundenen Falken, fehlte es an den<br />

Tafeln der Offiziere und kaiserli<strong>ch</strong>en Regierungsbeamten vorderhand ni<strong>ch</strong>t an Lebensmitteln. Und<br />

um im guten Einvernehmen mit den Mexica zu bleiben, untersagten die Offiziere ihren Soldaten<br />

streng, in den Dorfs<strong>ch</strong>aften zu furagieren. Die armen Kerle mussten das Meer plündern; sie angelten,<br />

nährten si<strong>ch</strong> von Austern und Krabben, kratzten si<strong>ch</strong> und flu<strong>ch</strong>ten.<br />

*<br />

Eine Wo<strong>ch</strong>e war so vergangen. Der Geist der Meuterei grinste unheimli<strong>ch</strong>er denn je vom hohen<br />

Galgen herab auf das Gewimmel unter der Mückenwolke; do<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>laflosen Nä<strong>ch</strong>ten waren


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 30<br />

die hohläugigen Gestalten zu zers<strong>ch</strong>lagen, ihrem Unmut lärmenden Ausdruck zu geben.<br />

Da traf die lang erwartete Antwort Moctezumas ein. Der Großkönig hatte seinen s<strong>ch</strong>weigsamen<br />

Freund, den Feldherrn die Sengende Glut zum Gesandten ausersehen und ihm den Silberpuma<br />

als Berater beigegeben. Begleitet von viertausend Soldaten, nahte die Sengende Glut dem<br />

Lager. Seine Krieger ließ er außerhalb; sie waren zu entbehren, denn die Sengende Glut führte die<br />

Medizin bei si<strong>ch</strong>, die sie überflüssig ma<strong>ch</strong>te: Hundertundzwanzig Lastträger trugen Körbe und Kisten<br />

voll lei<strong>ch</strong>ter Edelfedern und s<strong>ch</strong>werem Götterkot dur<strong>ch</strong> die Tore und Gassen des Lagers bis vor<br />

die Laubhütte mit der s<strong>ch</strong>warzen Standarte.<br />

Hatten si<strong>ch</strong> neuli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on die Mexica ho<strong>ch</strong>fahrend gezeigt, benahmen sie si<strong>ch</strong> jetzt erst<br />

re<strong>ch</strong>t dünkelhaft. Der Tonfall von Sengende Glut war beim auffallend kurzen Besu<strong>ch</strong> verletzend<br />

kalt und stand in grellem Widerspru<strong>ch</strong> zum Übers<strong>ch</strong>wang seiner Worte.<br />

»Malin<strong>ch</strong>e«, sagte er, wobei er den starr melan<strong>ch</strong>olis<strong>ch</strong>en Ausdruck seines mit blauen Streifen<br />

bemalten Gesi<strong>ch</strong>ts dur<strong>ch</strong> ein Lä<strong>ch</strong>eln verzerrte, »Euer Kne<strong>ch</strong>t Moctezuma, der sein Rei<strong>ch</strong> aus<br />

seinem Palast inmitten des Wassers des Tezcocosees regiert, befahl mir, Eu<strong>ch</strong> zu sagen: Mit Jubel<br />

vernahm er die Kunde, dass er den mä<strong>ch</strong>tigen Fürst des Sonnenaufgangs zum Freund hat;<br />

und Freude erfüllt ihn, dass die Abgesandten des großen Königs den Fuß wieder auf das Land<br />

gesetzt haben, das ihr Eigentum ist. Wir tragen Ges<strong>ch</strong>enke für Unseren Herrn, den Fürsten des<br />

Ostens, dargebra<strong>ch</strong>t von Eurem Kne<strong>ch</strong>t Moctezuma. Und wüns<strong>ch</strong>t Ihr mehr no<strong>ch</strong>, sollt Ihr mehr<br />

haben, damit Ihr es vor das Angesi<strong>ch</strong>t des Herrn des Sonnenaufgangs bringt, als Wahrzei<strong>ch</strong>en der<br />

Freude Eures Kne<strong>ch</strong>tes Moctezuma!«<br />

Darauf ließ die Sengende Glut die Gaben auf Matten ausbreiten. Was da lag, war mehr, als<br />

Goldsu<strong>ch</strong>er in verwegensten Phantasien si<strong>ch</strong> hätten erträumen können. Viele Kastilier trauten ihren<br />

Augen ni<strong>ch</strong>t, rieben si<strong>ch</strong> die Lider – gebannt, geblendet, aufgepeits<strong>ch</strong>t vom Goldfieber. Hauptmann<br />

Don Alonso de Avila stand mit blutunterlaufenen Augen gekrümmt da, dumpf keu<strong>ch</strong>end;<br />

seine Kameraden mussten ihn an den Armen festhalten wie einen von Tobsu<strong>ch</strong>t befallenen Irren.<br />

»Tretet weiter zurück, meine Herren!«, mahnte Cortés. »Ein Fünftel gehört Seiner Majestät.<br />

Re<strong>ch</strong>nungsführer Albornoz wird alles bu<strong>ch</strong>en.« Worauf Re<strong>ch</strong>nungsführer Albornoz mit der Arbeit<br />

begann, überwa<strong>ch</strong>t vom S<strong>ch</strong>atzmeister Mejía und beglaubigt vom königli<strong>ch</strong>en Notar Godoy. Der<br />

junge Kaplan Fray López de Gómera ging ihnen als S<strong>ch</strong>reiber zur Hand. Ihm fiel auf, dass die Herren<br />

Gold und Silber wohl zu s<strong>ch</strong>ätzen und den Millionen übersteigenden Goldwert sa<strong>ch</strong>kundig zu<br />

taxieren wussten. Den anderen Wert, den uns<strong>ch</strong>ätzbaren, künstleris<strong>ch</strong>en Wert, erkannten sie<br />

ni<strong>ch</strong>t. Wozu au<strong>ch</strong>? Gold wird umges<strong>ch</strong>molzen und bleibt do<strong>ch</strong> immer Gold. Völker werden umges<strong>ch</strong>molzen,<br />

do<strong>ch</strong> Gold bleibt Gold. Verloren gehen nur die Zeugnisse überwältigter Völker. Eine<br />

Weile no<strong>ch</strong> lebt die Erinnerung in ihren Kunsterzeugnissen, so wie das Meeresraus<strong>ch</strong>en no<strong>ch</strong> in<br />

der Mus<strong>ch</strong>el wohnt; und dann, im S<strong>ch</strong>melzofen der Zeit, verdunsten sie – unwiederbringli<strong>ch</strong>.<br />

Unter den Ges<strong>ch</strong>enken waren Bilderhands<strong>ch</strong>riften, heilige Ritualbü<strong>ch</strong>er, über und über mit<br />

Zei<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>rift bedeckt, älteste Aufzei<strong>ch</strong>nungen über den weißen Kreuzträger Quetzalcoatl. Eine<br />

goldene Mus<strong>ch</strong>el erzählte von den Wundern des Meeres. Verloren, unwiederbringli<strong>ch</strong> verloren!<br />

Das kostbarste Ges<strong>ch</strong>enk war eine S<strong>ch</strong>eibe aus gestanztem Gold, groß wie ein Wagenrad; darauf<br />

war als gehämmertes Relief die Sonne dargestellt, und um die Sonne herum zogen si<strong>ch</strong> die Sternbilder<br />

und der Tierkreis der Tolteken. Na<strong>ch</strong> Meinung des S<strong>ch</strong>atzmeisters Mejía hatte die S<strong>ch</strong>eibe<br />

einen Goldwert von zwanzigtausend Dukaten. Verloren, für immer verloren! Eine glei<strong>ch</strong> große<br />

S<strong>ch</strong>eibe aus Silber stellte den Mond dar, umgeben von den Gestalten des Herrn der Morgenröte.<br />

Man sah au<strong>ch</strong> Tiere, naturgetreu aus Gold geformt, zwanzig goldene Enten und drei Leoparden<br />

waren darunter. Selbst die Perlengewandung des Quetzalcoatl, die allein bei feierli<strong>ch</strong>en Festen<br />

dem Götterbild umgetan wurde, hatte Moctezuma hergegeben, wie au<strong>ch</strong> des weißen Gottes Gesi<strong>ch</strong>tsmaske,<br />

über und über besetzt mit weißen und blauen Edelsteinen. Der Helm des Namenlosen<br />

war ni<strong>ch</strong>t vergessen worden. Bis an den Rand war er gefüllt mit Körnern reinsten Goldes. Den<br />

Wert dieser Goldkörner allein bere<strong>ch</strong>nete S<strong>ch</strong>atzmeister Mejía auf dreitausend Dukaten. Die<br />

S<strong>ch</strong>melzöfen Spaniens sollten Arbeit bekommen.<br />

Mit s<strong>ch</strong>wungvollen Worten erstattete Cortés seines Kaisers Dank. Der Herzensdrang des<br />

Spaniers, den lieben Freund Moctezuma zu umarmen, war ins Unermessli<strong>ch</strong>e gestiegen.<br />

»Wann will der König von Mexico mi<strong>ch</strong> empfangen?«, fragte er dur<strong>ch</strong> Marina und Aguilár.<br />

»Nie«, antwortete die Sengende Glut. »Denn König Moctezuma ist krank und kann ni<strong>ch</strong>t ans<br />

Meeresufer kommen.«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 31<br />

»I<strong>ch</strong> habe ni<strong>ch</strong>t verlangt«, sagte Cortés bes<strong>ch</strong>eiden, »dass Moctezuma si<strong>ch</strong> die Mühe ma<strong>ch</strong>t.<br />

I<strong>ch</strong> und mein Heer s<strong>ch</strong>euen die Strapazen der Reise ni<strong>ch</strong>t und wollen ihm in seiner s<strong>ch</strong>önen Stadt<br />

einen Besu<strong>ch</strong> abstatten.«<br />

Die s<strong>ch</strong>wermütigen Augen der Sengenden Glut s<strong>ch</strong>ienen zu la<strong>ch</strong>en.<br />

»S<strong>ch</strong>lag dir das aus dem Sinn, Malin<strong>ch</strong>e, lässt dir Moctezuma sagen. Denn zwanzig Sonnenläufe<br />

entfernt liegt Mexico-Teno<strong>ch</strong>titlán; unüberwindli<strong>ch</strong>e Gebirge ragen zwis<strong>ch</strong>en dem Meer und<br />

dem großen Moctezuma; dur<strong>ch</strong> Wüsten führt der Weg, wo ihr vor Hunger und Durst umkommt. Die<br />

Straße führt dur<strong>ch</strong> Länder, wo unbotmäßige Völker wohnen, Feinde der Mexica. Sie würden keinen<br />

von eu<strong>ch</strong> am Leben lassen, da ihr Freunde Moctezumas seid.«<br />

Na<strong>ch</strong> diesen Worten stiegen die Sengende Glut und der Silberpuma in ihre Sänften, ohne<br />

den Kastiliern no<strong>ch</strong> weiter ihr Ohr zu leihen. Und seither ließ si<strong>ch</strong> kein Indianer mehr im kastilis<strong>ch</strong>en<br />

Lager blicken.<br />

Wie vor Jahresfrist ließ Moctezuma in Teno<strong>ch</strong>titlán wieder jeden Tag einen Knaben opfern,<br />

um mit des Himmels Segen die weißen Fremden in Ketten legen zu können, falls sie das Land<br />

ni<strong>ch</strong>t verließen. Die weißen Sonnensöhne – so hatte er bes<strong>ch</strong>lossen – sollten zum Kinderzeugen<br />

benutzt werden, bevor sie auf Altären verbluteten. Aztekis<strong>ch</strong>e Frauen und Mäd<strong>ch</strong>en sollten Götterfru<strong>ch</strong>t<br />

in ihrem S<strong>ch</strong>oß austragen, und das Volk der Mexica sollte ein Volk von Göttern werden!<br />

*<br />

Die Indianer blieben fort, bra<strong>ch</strong>ten keine Körbe voll Maisbrot und Gemüse mehr. Unter der brütenden<br />

Sonne waren die Lebensmittel zusammenges<strong>ch</strong>molzen. Denno<strong>ch</strong> untersagten die Offiziere<br />

den Manns<strong>ch</strong>aften no<strong>ch</strong> immer, in den bena<strong>ch</strong>barten Dörfern Furage zu holen. Der gute Freund<br />

Moctezuma durfte ni<strong>ch</strong>t verstimmt werden.<br />

Da s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> ein Soldat, Gregorio Burgueño, aus den Toren des Lagers. Als er na<strong>ch</strong> mehreren<br />

Stunden zurückkam, trug er zwei gestohlene Truthähne unter dem Arm. Sein Hauptmann,<br />

Alonso de Avila, erfuhr davon und verurteilte ihn zum Tod dur<strong>ch</strong> den Strang. Ohne Cortés in<br />

Kenntnis zu setzen, ließ er die Strafe vollstrecken.<br />

An diesem Tag hatte Alvarado einen Spazierritt unternommen, um seine hitzige Fu<strong>ch</strong>sstute<br />

ausgaloppieren zu lassen. Pra<strong>ch</strong>tvoll sah er auf dem Tier aus, denn Alvarado kleidete si<strong>ch</strong> stets<br />

sauber und mit ausgesu<strong>ch</strong>tem Ges<strong>ch</strong>mack. Sein s<strong>ch</strong>lanker Körper s<strong>ch</strong>miegte si<strong>ch</strong> jeder Bewegung<br />

des Rosses an, sodass ein Juwel, das er an einer Goldkette um den Hals trug, so glei<strong>ch</strong>mäßig wie<br />

ein Pendel s<strong>ch</strong>wang. Golden flossen ihm lange blonde Locken über die S<strong>ch</strong>ultern, golden umrahmte<br />

ein blonder, gestutzter Vollbart das gebräunte Gesi<strong>ch</strong>t, und hell leu<strong>ch</strong>tete das Feuer seiner großen<br />

hellblauen Augen, dass s<strong>ch</strong>on die Wä<strong>ch</strong>ter des Meeres beim ersten Besu<strong>ch</strong> auf den Karavellen<br />

ihm den Namen Tonatiuh verliehen hatten, die Sonne, die er den indianis<strong>ch</strong>en Völkern bis an<br />

sein Lebensende blieb – eine funkelnde, s<strong>ch</strong>öne, man<strong>ch</strong>mal segenbringende, aber au<strong>ch</strong> versengende,<br />

todbringende Sonne.<br />

Die Kavalleristen Domínguez und Lares begleiteten Alvarado bei seinem Ausritt. Die drei<br />

trabten erst am Meeresufer entlang, dann in den Wald hinein, aber glei<strong>ch</strong> am Waldrand hörten sie<br />

ein Ras<strong>ch</strong>eln, ein Knacken von Zweigen – und ganz in der Nähe sprang ein aufges<strong>ch</strong>eu<strong>ch</strong>ter<br />

Hirs<strong>ch</strong> vor ihnen her und vers<strong>ch</strong>wand im Unterholz. Von Jagdlust gepackt, verfolgten sie ihn eine<br />

Weile; do<strong>ch</strong> die Spur ging verloren. Dafür bot si<strong>ch</strong> ihnen auf einer Waldwiese ein unerwarteter Anblick<br />

– die Kleider eines Europäers: Wams, Hose, Stiefel, Hemd und Mütze hingen an den Ästen<br />

eines Baumes.<br />

Spra<strong>ch</strong>los vor Staunen hielten Alvarado und seine Begleiter ihre Pferde an. Gab es hier no<strong>ch</strong><br />

andere Weiße? War einer aus dem Lager herges<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en? Oder war er ermordet worden? Und<br />

von wem? Domínguez und Lares holten die Kleidungsstücke vom Baum herab und bra<strong>ch</strong>ten sie<br />

Alvarado.<br />

»Jetzt weiß i<strong>ch</strong> es!«, rief Domínguez, »Mel<strong>ch</strong>orejo, der grinsende Pavian, hat dieses Wams<br />

getragen!«<br />

»Der vers<strong>ch</strong>mitzte S<strong>ch</strong>uft ist ein Überläufer, kein Zweifel!«, rief Lares. »Neuli<strong>ch</strong>, als die<br />

Mexica kamen, habe i<strong>ch</strong> beoba<strong>ch</strong>tet, wie der Kerl Fratzen s<strong>ch</strong>nitt und mit den Armen fu<strong>ch</strong>telte.«<br />

»Er kann nur Maya, aber kein Wort Mexicanis<strong>ch</strong>«, bemerkte Alvarado.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 32<br />

»Seine Finger können Mexicanis<strong>ch</strong>!«, rief Lares erregt. »Mit Fingern lässt si<strong>ch</strong> verraten, wie<br />

gering an Zahl wir sind und wo unser Lager si<strong>ch</strong> erstürmen lässt.«<br />

»Das ist kein gutes Zei<strong>ch</strong>en – au<strong>ch</strong> die Mexica sind spurlos vers<strong>ch</strong>wunden«, sagte Alvarado.<br />

»Und es kann kein Zufall sein, dass Mel<strong>ch</strong>orejo gerade jetzt entfloh. Wir wollen es Cortés melden.<br />

Nehmt die Kleider mit!«<br />

Sie kehrten um. Als sie si<strong>ch</strong> dem Lager näherten, sahen sie, dass der Galgen von Soldaten<br />

umringt war. Und sie erkannten beim Näherkommen, dass Burgueño auf der Leiter stand; soeben<br />

wurde sie ihm unter den Füßen weggezogen. Burgueño war ein wackerer, ein wenig einfältiger<br />

Burs<strong>ch</strong>e, den Alvarado gut leiden mo<strong>ch</strong>te. Domínguez und Lares hatten kurz vor dem Ausritt von<br />

dem Unglück Burgueños erfahren und konnten Alvarado über den Geflügeldiebstahl und des<br />

Hauptmanns Avila hartes Urteil Auskunft geben.<br />

Da drückte Alvarado seiner Stute die Sporen in den Bau<strong>ch</strong> und galoppierte s<strong>ch</strong>nell heran,<br />

sodass die Zus<strong>ch</strong>auer auseinander wi<strong>ch</strong>en; während er unter dem Galgen hindur<strong>ch</strong>sprengte, hieb<br />

er mit dem Degen den Strick des Gehängten dur<strong>ch</strong>.<br />

Burgueño war no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t tot, glaubte es aber zu sein. Na<strong>ch</strong> dem dumpfen Fall in den Sand<br />

erhob er si<strong>ch</strong> ras<strong>ch</strong>, bekreuzte si<strong>ch</strong> und stierte entgeistert um si<strong>ch</strong>. Das Paradies hatte er si<strong>ch</strong><br />

ganz anders vorgestellt.<br />

»Jesús Maria y José«, murmelte er fast bedauernd, »bin i<strong>ch</strong> denn ni<strong>ch</strong>t tot?« Und er kniff<br />

si<strong>ch</strong> in die Wangen.<br />

Die Umstehenden la<strong>ch</strong>ten. Dem wuts<strong>ch</strong>naubenden Hauptmann Avila zum Trotz bildeten sie<br />

jetzt eine lebende S<strong>ch</strong>utzmauer um den Auferstandenen und übergaben ihn der Pflege des Physikus,<br />

wie der pedantis<strong>ch</strong>e Apotheker des Heeres genannt wurde – Leonel de Cerro, ein verrückter<br />

Sonderling, dessen s<strong>ch</strong>lummernder Wahnsinn von den Landskne<strong>ch</strong>ten für gelehrte Skurrilität gehalten<br />

und hingenommen wurde. Arm in Arm mit Burgueño zog er dur<strong>ch</strong> die Gassen des Lagers<br />

und brüllte: »Selig sind die Toten! Die Toten sollen leben...!«<br />

*<br />

Die Tat Alvarados wurde als elegantes Reiterstück bewundert, bra<strong>ch</strong>te ihm aber au<strong>ch</strong> Feinde. Zum<br />

Beispiel den Büttel Pedro Escudero. Vor Jahren in Kuba hatte er Cortés in seinen Henkershänden<br />

und musste ihn freilassen, weil Cortés si<strong>ch</strong> bereit erklärte, mit der armen Verwandten des<br />

Gobernadors Diego de Velásquez statt mit des Seilers To<strong>ch</strong>ter Ho<strong>ch</strong>zeit zu halten. Obglei<strong>ch</strong><br />

Escudero si<strong>ch</strong> einmal ges<strong>ch</strong>woren hatte, nie wieder herauszugeben, was des Galgens war, musste<br />

er es nun do<strong>ch</strong> zum zweiten Mal zulassen. Er und sein Freund, der fette Lizentiat Juan Díaz,<br />

standen überflüssig und lä<strong>ch</strong>erli<strong>ch</strong> auf dem Ho<strong>ch</strong>geri<strong>ch</strong>t – sie, die treuen Reisebegleiter des Delinquenten,<br />

der gewissenhafte Henker und der seelsorgende Priester! Die wulstigen Lippen des Lizentiaten<br />

waren rot und anges<strong>ch</strong>wollen vor Ärger, wie die Kropfhäute eines Puters. Hatte er do<strong>ch</strong><br />

Burgueño mit Zuspru<strong>ch</strong> für die Fahrt ins läuternde Feuer versehen und ihm mehrere tausend Jahre<br />

Ablass in Aussi<strong>ch</strong>t gestellt, wenn er si<strong>ch</strong> unten gut führe. Jetzt musste er zusehen, wie man der<br />

Hölle ihr Eigentum stahl.<br />

Völlig außer Rand und Band aber gebärdete si<strong>ch</strong> Alonso de Avila. Es brau<strong>ch</strong>te ja ni<strong>ch</strong>t viel,<br />

um den Dreiunddreißigjährigen wütend zu ma<strong>ch</strong>en. Wie neuli<strong>ch</strong> beim Anblick des Goldes bekam<br />

er wieder einen Tobsu<strong>ch</strong>tsanfall. So beliebt Alvarado war, so verhasst war Avila bei Untergebenen<br />

und Kameraden. Au<strong>ch</strong> Cortés konnte seinen Widerwillen gegen diesen derben Patron nur mühsam<br />

verbergen. Erbarmungslos hart gegen die Soldaten, war Avila au<strong>ch</strong> im Umgang mit den Hauptleuten<br />

streitsü<strong>ch</strong>tig, eitel und anmaßend. Nur beim Kriegsrat und im S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tgewühl erwies er si<strong>ch</strong> als<br />

brau<strong>ch</strong>bar.<br />

»Seid Ihr des Teufels?«, fuhr er Alvarado nun an. »Wollt Ihr, dass mein Degen Eu<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>lö<strong>ch</strong>ert<br />

wie ein Sieb? Was untersteht Ihr Eu<strong>ch</strong>?«<br />

»Ihr hängt einen braven Burs<strong>ch</strong>en«, entgegnete Alvarado, »weil er si<strong>ch</strong> herausnahm, Hunger<br />

zu haben. Ihr hängt ihn ohne Profos und ohne dass unser Befehlshaber Hernándo Cortés das Urteil<br />

gutgeheißen hat!«<br />

»Unser Befehlshaber ist Seine Exzellenz Don Diego de Velásquez, Statthalter von Kuba!«,<br />

s<strong>ch</strong>rie Avila. »Cortés ist ni<strong>ch</strong>t mehr als wir anderen Hauptleute!«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 33<br />

Ein Wort gab das andere. Der Streit hatte eine andere Ri<strong>ch</strong>tung genommen. Man zankte si<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t um die vereitelte Henkerei; der einfältige Truthahndieb war bald vergessen. Aber der Streit<br />

um den Oberbefehl sollte ni<strong>ch</strong>t mehr zur Ruhe kommen.<br />

Der Aufruhr wäre wohl s<strong>ch</strong>on an diesem Abend ausgebro<strong>ch</strong>en, hätte ni<strong>ch</strong>t ein merkwürdiges<br />

Ereignis die Erregung abgelenkt. Die Feldobristen Velásquez de León, Olíd, Ordás und Montejo<br />

hatten si<strong>ch</strong> offen auf die Seite Avilas gestellt. León, weil er der Neffe des Statthalters Diego de<br />

Velásquez war; Olíd, ein einstiger Galeerensklave, weil... er hätte es selbst ni<strong>ch</strong>t sagen können;<br />

viellei<strong>ch</strong>t, weil er zufällig neben León stand, als der Streit ausbra<strong>ch</strong>. Ordás, weil er si<strong>ch</strong> langweilte.<br />

Und Montejo – sonst vergnügli<strong>ch</strong> und friedliebend –, weil er soeben an den berü<strong>ch</strong>tigten Spieler<br />

Lope Márquez über zweitausend Dukaten verloren hatte, fast seine gesamte Habe.<br />

»Don Diego de Velásquez ist unser Befehlshaber!«, wurde ges<strong>ch</strong>rien. »Er hat uns ni<strong>ch</strong>t ausges<strong>ch</strong>ickt,<br />

Länder zu erobern. Wir haben s<strong>ch</strong>on fünfunddreißig Mann verloren die meisten dur<strong>ch</strong><br />

Hunger. Cortés ist ni<strong>ch</strong>t bei Sinnen, wenn er daran denkt, mit der kleinen Manns<strong>ch</strong>aft und ohne<br />

Lebensmittel si<strong>ch</strong> in dieses mä<strong>ch</strong>tige Rei<strong>ch</strong> hineinzuwagen. Die Flu<strong>ch</strong>t Mel<strong>ch</strong>orejos beweist, dass<br />

die Mexica Böses im S<strong>ch</strong>ilde führen. Diego de Velásquez gab uns ni<strong>ch</strong>t den Auftrag, einen Krieg<br />

zu fe<strong>ch</strong>ten; nur Gold sollten wir sammeln. Wir wollen na<strong>ch</strong> Kuba zurück, Moctezumas Ges<strong>ch</strong>enke<br />

heimbringen - damit ist unser Auftrag erfüllt!«<br />

Sie brüllten dur<strong>ch</strong>einander, und die Worte der Offiziere fanden ein lautes E<strong>ch</strong>o bei den<br />

Manns<strong>ch</strong>aften. Die Sonne war inzwis<strong>ch</strong>en untergegangen, und die gelbe S<strong>ch</strong>eibe des Mondes<br />

s<strong>ch</strong>immerte am fremden Horizont. Do<strong>ch</strong> im Frieden des Abends wu<strong>ch</strong>s die Empörung weiter.<br />

Kaum einer legte si<strong>ch</strong> zur Ruhe, die Laubhütten blieben leer. In Gruppen standen Glei<strong>ch</strong>gesinnte<br />

zusammen – hier Cortés, dort Diego de Velásquez! Man fasste Bes<strong>ch</strong>lüsse, konspirierte, s<strong>ch</strong>wor<br />

Tod und Ra<strong>ch</strong>e. Au<strong>ch</strong> die Seeleute mis<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> ein, vor allem die Steuermänner, S<strong>ch</strong>iffsmeister<br />

und Matrosen. Sie waren entrüstet, dass sie Infanteriedienst leisten sollten, und sie verziehen es<br />

Cortés ni<strong>ch</strong>t, dass er zwei von ihnen na<strong>ch</strong> Kriegsre<strong>ch</strong>t bestraft hatte. Nur der Seemann Alvaro aus<br />

Palos, der in drei Jahren dreißig Kinder von dreißig Indianerinnen bekommen hatte, setzte Hoffnungen<br />

auf Mexico.<br />

Unter den Anhängern des Velásquez sah man au<strong>ch</strong> Jacobo Hurtado, der Krösus des Heeres,<br />

hatte ni<strong>ch</strong>t nur ein S<strong>ch</strong>iff ausgerüstet, er besaß au<strong>ch</strong> eine Mutterstute samt einem bei der<br />

Landung geworfenen Fohlen, ferner einen Negersklaven – und jeder wusste, dass Pferde und Negersklaven<br />

in Kuba uners<strong>ch</strong>wingli<strong>ch</strong> waren. Kein Wunder, dass er Heimweh hatte na<strong>ch</strong> seiner<br />

s<strong>ch</strong>attigen Hazienda in La Havanna. Aber au<strong>ch</strong> Leute, die ni<strong>ch</strong>ts zu verlieren hatten, erwärmten<br />

si<strong>ch</strong> für den Statthalter Kubas. Ein gewisser Tarifa aus Sevilla, ein dummer S<strong>ch</strong>wätzer mit dem<br />

Spitznamen de los servicios, der Dienstbeflissene, deklamierte jedem, der es hören wollte, wel<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>weren Dienst er für jämmerli<strong>ch</strong>en Kupfersold leiste. Juan García der Aufgeblasene fand, seine<br />

Leistungen würden ni<strong>ch</strong>t ausrei<strong>ch</strong>end gewürdigt. Au<strong>ch</strong> Flores, der rothaarige Sänger, war unter<br />

den S<strong>ch</strong>reiern, weil seine s<strong>ch</strong>öne Stimme gern andere übertönte. Luis Paredes, ein unges<strong>ch</strong>liffener<br />

Grobian, liebte den Krakeel um des Krakeels willen. Und Domenico Mejía Hinojora, der Enkel<br />

der Räuberin Mejía (in den Zeiten des Königs Don Juan war sie der S<strong>ch</strong>recken Spaniens gewesen),<br />

entsann si<strong>ch</strong> plötzli<strong>ch</strong> seines Räuberblutes. Die Hetzer aber waren der Profos Escudero, der<br />

Lizentiat Juan Díaz und el <strong>ch</strong>ocarrero, der bucklige Narr Cervantes. Von Gruppe zu Gruppe eilend,<br />

forderten sie die Murrenden auf, si<strong>ch</strong> zusammenzus<strong>ch</strong>aren, no<strong>ch</strong> an diesem Abend die Hütte mit<br />

der s<strong>ch</strong>warzen Standarte zu umzingeln, in Brand zu stecken und Cortés gefangen zu nehmen.<br />

Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Anhänger des Cortés su<strong>ch</strong>ten no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ihr Na<strong>ch</strong>tlager auf; sie kamen hinter<br />

dem Magazin zusammen und bespra<strong>ch</strong>en die Ereignisse des Tages. Die Rettung des Gehängten<br />

ma<strong>ch</strong>te ihre Anhängli<strong>ch</strong>keit und Treue no<strong>ch</strong> größer. Gewiss, die Flu<strong>ch</strong>t des Überläufers Mel<strong>ch</strong>orejo<br />

war ein böses Zei<strong>ch</strong>en: Ihr elendes Feldlager war einem mögli<strong>ch</strong>en nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Überfall dur<strong>ch</strong><br />

feindli<strong>ch</strong>e Streitkräfte ausgesetzt; do<strong>ch</strong> sie waren ja Gefahren gewohnt. S<strong>ch</strong>limmer war die Gefahr<br />

innerhalb der Tore. Man musste auf der Hut sein, die Augen offen halten und Maßnahmen treffen.<br />

*<br />

Alle Hütten waren leer und verlassen, bis auf die La Bailadoras und einer Na<strong>ch</strong>barhütte, in der<br />

Pan<strong>ch</strong>o Luna wohnte, ein zwölfjähriger Junge. Pan<strong>ch</strong>o Luna war blind; eine verfrüht explodierte


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 34<br />

Kartus<strong>ch</strong>e hatte ihm an der Küste Yucatáns das Augenli<strong>ch</strong>t geraubt. Kaum war sie einges<strong>ch</strong>lafen,<br />

erwa<strong>ch</strong>te La Bailadora dur<strong>ch</strong> das Klagen einer weinerli<strong>ch</strong>en Stimme. Eine Stalllaterne erhellte ihre<br />

Hütte nur matt. Der Knabe tappte mit dem vorsi<strong>ch</strong>tigen S<strong>ch</strong>ritt der Blinden herein und stand im<br />

Hemd vor ihrem Bett. Er hielt etwas S<strong>ch</strong>warzes krampfhaft in Händen, Blut tropfte dünn vom Hals<br />

aufs Hemd.<br />

»I<strong>ch</strong> sterbe, Bailadora!«, stieß er hervor. »Als i<strong>ch</strong> erwa<strong>ch</strong>te, trank der Teufel an meinem<br />

Hals... Da packte i<strong>ch</strong> ihn. Er wird si<strong>ch</strong> rä<strong>ch</strong>en, wenn i<strong>ch</strong> ihn loslasse! Hilf mir, Bailadora, hilf mir!<br />

Halt ihn fest, sonst muss i<strong>ch</strong> sterben!«<br />

La Bailadora sprang aus dem Bett, nahm hastig die Laterne an si<strong>ch</strong> und hob sie empor.<br />

Kalkweiß starrte der Knabe ins Li<strong>ch</strong>t, und nun sah au<strong>ch</strong> La Bailadora die kleine Wunde an der<br />

Kehle des blinden Jungen und erblickte glei<strong>ch</strong> darauf das Ungeheuer, den Blutsauger. Mit Entsetzen<br />

krampften si<strong>ch</strong> die Finger des Knaben um den Körper des Vampirs, dessen hautbespannte<br />

Flügel wild um si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lugen. La Bailadora hatte no<strong>ch</strong> nie von einem sol<strong>ch</strong>en Wesen gehört, nie<br />

eins gesehen. Sie hielt es für mögli<strong>ch</strong>, dass es der Teufel sei und für<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong>, ihn anzurühren.<br />

Do<strong>ch</strong> irgendetwas musste ges<strong>ch</strong>ehen! Sie packte den Knaben, zerrte ihn aus der Hütte und lief mit<br />

ihm, ebenfalls im Hemd, dur<strong>ch</strong> die Gassen des Lagers zu den Soldaten.<br />

Diese wollten s<strong>ch</strong>on belustigte Zoten über ihren Aufzug ma<strong>ch</strong>en, do<strong>ch</strong> das<br />

aufgeregte Gehabe der beiden erstickte jeden Witz.<br />

»Rettet Pan<strong>ch</strong>o«, flehte La Bailadora, »der Teufel saß an seinem Hals und<br />

trank sein Blut!«<br />

Au<strong>ch</strong> die Männer, die no<strong>ch</strong> nie von Vampiren gehört hatten, packte die Fur<strong>ch</strong>t,<br />

do<strong>ch</strong> als Soldaten s<strong>ch</strong>ämten sie si<strong>ch</strong>, Angst zu zeigen. Mejía Hinojora, der Enkel der Räuberin,<br />

fasste si<strong>ch</strong> ein Herz und wollte dem blinden Jungen todesmutig das Ungeheuer aus der Hand reißen.<br />

Der Junge ließ aber zu früh los, sodass der Blutsauger davonflatterte und im Na<strong>ch</strong>tdunkel<br />

vers<strong>ch</strong>wand.<br />

Die Soldaten hatten plötzli<strong>ch</strong> Zweifel, ob es wirkli<strong>ch</strong> der Teufel gewesen war, vor dem sie<br />

si<strong>ch</strong> – mehr oder weniger zugegeben – gefür<strong>ch</strong>tet hatten. Nur Leonel de Cerro, der verrückte Physikus,<br />

la<strong>ch</strong>te hell heraus: »Eine Fledermaus, eine Hufeisennase war's, ihr Hasenfüße!«<br />

Der Grobian Paredes gab dem Apotheker einen Tritt in den Hintern. »Da, flieg selbst wie eine<br />

Fledermaus!« Aber die Männer s<strong>ch</strong>ämten si<strong>ch</strong>.<br />

Der s<strong>ch</strong>mä<strong>ch</strong>tige blinde Junge war vor S<strong>ch</strong>reck und Blutverlust in Ohnma<strong>ch</strong>t gefallen. La<br />

Bailadora nahm ihn auf die Arme und trug ihn in ihr Bett. Dort wus<strong>ch</strong> sie ihm beim S<strong>ch</strong>ein der Laterne<br />

die Wunde aus, legte ihn zu Bett, s<strong>ch</strong>lüpfte ebenfalls hinein und s<strong>ch</strong>miegte den Knaben mütterli<strong>ch</strong><br />

an ihren warmen Körper.<br />

Seither s<strong>ch</strong>lief er immer bei ihr.<br />

Die Streitlust der Soldaten war erlahmt. Sie redeten no<strong>ch</strong> eine Zeit lang vom geflügelten Satan,<br />

und dass er den blinden Knaben erwählt hatte. Pan<strong>ch</strong>o Luna musste wohl ein kleiner Heiliger<br />

sein! Dann su<strong>ch</strong>ten au<strong>ch</strong> die Männer verdrossen ihre Laubhütten auf.<br />

Als um elf Uhr abends die Wa<strong>ch</strong>tposten vor den Lagertoren abgelöst wurden, war Ruhe ins<br />

Lager eingekehrt.<br />

*<br />

Au<strong>ch</strong> Cortés war an diesem Abend ni<strong>ch</strong>t untätig. Mit seinen Freunden, den Offizieren Alvarado,<br />

Puertocarrero, Lugo, Barba und Tapia, hatte er Kriegsrat gehalten und in aller Stille Vorkehrungen<br />

getroffen, um einem mögli<strong>ch</strong>en Überfall von innerhalb oder von außerhalb des Lagers zu begegnen.<br />

Zum ersten Mal seit ihrer Abreise in Kuba zweifelte er am Gelingen seiner Pläne. Selbst wenn<br />

sie einig und ents<strong>ch</strong>lossen blieben, würde das Unternehmen sie alle Kraft kosten. Do<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong><br />

kleinli<strong>ch</strong>en Hass, Eifersü<strong>ch</strong>teleien und Missgunst rollten immer mehr Steine in ihren Weg.<br />

»Es wird uns wohl ni<strong>ch</strong>ts anderes übrig bleiben, als na<strong>ch</strong> Kuba zurückkehren!«, sagte er zu<br />

Marina.<br />

Marina sah ihn lange s<strong>ch</strong>weigend an. Seit sie vom Christentum vernommen hatte, war dieser<br />

Glaube für sie nur die Bestätigung, im gekreuzigten Jesus ihren weißen Kreuzträger Quetzalcoatl<br />

erkannt zu haben, der den Indianern das Friedensrei<strong>ch</strong> bringen würde, wie es in alten Überliefe-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 35<br />

rungen geweissagt war. So hatte sie Cortés jüngst die rätselhaften Worte des Silberpumas erklärt,<br />

die dieser beim Anblick der Sturmhaube gespro<strong>ch</strong>en hatte. Marina hielt insgeheim Cortés für den<br />

Gottgesandten, der an diese Küste gekommen war, um ihr Volk zu befreien, die Mens<strong>ch</strong>enopfer<br />

abzus<strong>ch</strong>affen und die Tränen der Witwen und Waisen zu trocknen. Marinas dienende Hingabe an<br />

Cortés war ni<strong>ch</strong>ts anderes als ein Auftrag, der Weissagung zum Dur<strong>ch</strong>bru<strong>ch</strong> zu verhelfen.<br />

Mit niederges<strong>ch</strong>lagenen Augen erwartete sie stets seine Anrede. Nun aber, da sie ihren Helden<br />

und Befreier mutlos sah, standen Trauer und Enttäus<strong>ch</strong>ung standen in ihren Augen, und eindringli<strong>ch</strong><br />

bes<strong>ch</strong>wor sie ihn, den Glauben an seinen Auftrag ni<strong>ch</strong>t zu verlieren. Als er sie erstaunt<br />

fragte, von wel<strong>ch</strong>em Auftrag sie rede, sprudelte es aus ihr heraus: Er sei der Kreuzträger, den ihr<br />

Volk seit Jahrhunderten erwarte, die Unterdrückten zu erlösen! Und nun, an der S<strong>ch</strong>welle, wolle er<br />

umkehren? Er sei ni<strong>ch</strong>t des Goldes, ni<strong>ch</strong>t des Ruhmes wegen ausgezogen, sondern um Freiheit<br />

und Frieden zu bringen – den Azteken, Totonaken, Otomis und allen Völkern Anahuacs. Das sei<br />

Gottes Wuns<strong>ch</strong> und das Verlangen der Völker, und gewiss werde Gott ihren Retter ni<strong>ch</strong>t im Sti<strong>ch</strong><br />

lassen!<br />

S<strong>ch</strong>weigend und mit wa<strong>ch</strong>sendem Erstaunen hörte er zu. Als sie s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> verstummte,<br />

küsste er sie und sagte: »Wenn die Gekne<strong>ch</strong>teten dir glei<strong>ch</strong>en, Marina, so sind sie jeder Anstrengung<br />

wert!« Dass sie ihn für Quetzalcoatl hielt, hatte er no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t begriffen.<br />

Dann s<strong>ch</strong>ickte er seinen Pagen Orteguilla zu Puertocarrero, Lugo und Tapia und ließ sie zu<br />

si<strong>ch</strong> rufen. Sie sollten einen geheimen Auftrag erledigen.<br />

*<br />

Beim Abendessen hielt Kämmerer Rodrigo Rangel wieder eine Anspra<strong>ch</strong>e an Cortés:<br />

»Julianillo wurde ho<strong>ch</strong>notpeinli<strong>ch</strong> verhört. Er hat gestanden, dass er gern mit<br />

Mel<strong>ch</strong>orejo geflohen wäre, hätte er gekonnt. Kann man das begreifen, Euer Liebden?<br />

Mel<strong>ch</strong>orejo war Christ, und wir haben ihn mit Güte und Taufwasser übers<strong>ch</strong>üttet. War<br />

das dankbar von ihm? War das klug? Alle Segnungen der Kultur wurden im zuteil –<br />

Kleidung, Wäs<strong>ch</strong>e und Bildung. Aber so sind die Wilden: Sie s<strong>ch</strong>ätzen ni<strong>ch</strong>t, was ihnen<br />

dur<strong>ch</strong> uns widerfährt, hängen alles an einen Baumast und verharren stur und töri<strong>ch</strong>t in ihren alten<br />

Ans<strong>ch</strong>auungen. Aber ni<strong>ch</strong>t nur Wilde wie Mel<strong>ch</strong>orejo sind starrköpfig und dumm. Au<strong>ch</strong> Eure Widersa<strong>ch</strong>er.<br />

Die Dummheit des Diego de Ordás heißt Langeweile. Er hat es satt, seinen langen<br />

S<strong>ch</strong>nauzbart zu drehen. Er ist auf den Tod krank vor Ni<strong>ch</strong>tstun und ärgerli<strong>ch</strong>, dass die Mexica seine<br />

Duellforderung ausges<strong>ch</strong>lagen haben. Euer Liebden s<strong>ch</strong>enke ihm Abenteuer, so ist er kuriert<br />

und Euer Liebden treuer Freund. Die Unvernunft des Avila ist Goldgier: Euer Liebden stopfe ihm<br />

das Maul und füttere ihn mit dem gelben Zeug, und er wird Euer Liebden wie ein Hund die Hand<br />

lecken. Die Bes<strong>ch</strong>ränktheit des Olíd liegt in seiner Unents<strong>ch</strong>lossenheit; dieser einstige Galeerensklave<br />

weiß nie, was er will. Euer Liebden zeige es ihm und helfe mit der Golds<strong>ch</strong>aufel na<strong>ch</strong>; dann<br />

wird er Euer Liebden ergeben sein – bis zum nä<strong>ch</strong>sten Mal. Die Torheit des Montejo ist seine<br />

Spielsu<strong>ch</strong>t. Euer Liebden zahle seine S<strong>ch</strong>ulden, und niemand wird treuer zu Euer Liebden halten.<br />

Und die Dummheit des Velásquez de León ist seine Leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit. Aber der kühle Kopf Euer<br />

Liebden wird au<strong>ch</strong> diese Mauer des Wahnwitzes erklimmen, heißt es do<strong>ch</strong>: ›Ein goldbeladener<br />

Esel ersteigt den hö<strong>ch</strong>sten Berg.‹ Ges<strong>ch</strong>enke lassen Probleme vers<strong>ch</strong>winden. An Gold fehlt es<br />

Euer Liebden ja ni<strong>ch</strong>t, und au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an diensteifrigen Eseln.« So spra<strong>ch</strong> Rodrigo Rangel.<br />

*<br />

Na<strong>ch</strong> dem Na<strong>ch</strong>tessen meldete Cortés' Page Orteguilla, dass ihn ein gemeiner Soldat namens<br />

Botello mögli<strong>ch</strong>st allein zu spre<strong>ch</strong>en wüns<strong>ch</strong>e. Hernándo s<strong>ch</strong>ickte seinen Kämmerer Rodrigo hinaus<br />

und empfing den Soldaten.<br />

»Señor Capitán, was i<strong>ch</strong> zu sagen habe, wird Eu<strong>ch</strong> sonderbar vorkommen, und viellei<strong>ch</strong>t<br />

werdet Ihr es ni<strong>ch</strong>t glauben. Aber jetzt, wo Hunger, drohende Meuterei und mä<strong>ch</strong>tige Gegner unser<br />

Ziel bedrohen, darf i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>weigen, was i<strong>ch</strong> weiß.«<br />

Botello war Italiener und hatte einst unter den Fahnen Cesare Borgias gekämpft. Er war groß


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 36<br />

und dürr und ging lei<strong>ch</strong>t gekrümmt, und auf den eingefallenen Wangen waren Narben früherer<br />

Verwundungen zu sehen. Er trug das s<strong>ch</strong>on ergraute Haar kurz ges<strong>ch</strong>nitten, und es ging etwas<br />

Tauriges von ihm aus. Er galt als Einzelgänger und hatte kaum Freunde im Heer.<br />

»Was wisst Ihr, Botello?«, fragte Cortés lä<strong>ch</strong>elnd.<br />

»Dass Ihr na<strong>ch</strong> Mexico gelangen werdet«, antwortete Botello.<br />

»Woher wisst Ihr das?«<br />

»Bevor i<strong>ch</strong> Kriegsdienste annahm, war i<strong>ch</strong> Astrologe und bere<strong>ch</strong>nete die Nativitäten.«<br />

»Das ist wohl lange her. Warum habt Ihr den Beruf gewe<strong>ch</strong>selt?«<br />

»Es s<strong>ch</strong>afft ni<strong>ch</strong>t nur Überlegenheit, wenn man um die Zukunft weiß, es ist au<strong>ch</strong> fur<strong>ch</strong>tbar.«<br />

»Und da habt Ihr Eure Instrumente verkauft?«<br />

»Nein.«<br />

»Fortgeworfen, verbrannt, zerbro<strong>ch</strong>en...?«<br />

»Nein, i<strong>ch</strong> habe sie no<strong>ch</strong>. Na<strong>ch</strong>ts funkeln die Sterne und locken...«<br />

»I<strong>ch</strong> nehme an, Ihr habt mir das Horoskop gestellt.«<br />

»Nein, Euer Gnaden. I<strong>ch</strong> kenne weder Tag no<strong>ch</strong> Stunde.«<br />

»Aber Euer eigenes S<strong>ch</strong>icksal kennt Ihr, Botello?«<br />

»Ja, Euer Gnaden, i<strong>ch</strong> werde in Mexico auf einem Blutaltar sterben.«<br />

»Wollt Ihr zurück na<strong>ch</strong> Kuba?«<br />

»Euer Gnaden ma<strong>ch</strong>en mi<strong>ch</strong> lä<strong>ch</strong>eln.«<br />

»Was habt Ihr sonst no<strong>ch</strong> in den Sternen gelesen?«<br />

»Viel Entsetzli<strong>ch</strong>es, Euer Gnaden.«<br />

»Redet!«<br />

»Velásquez de León, der Tanzmeister Ortiz, Pedro Baracoa, Soares, Lope Cano, Mansilla,<br />

der Namenlose und der Narr Cervantes, La Bailadora, der blinde Knabe Pan<strong>ch</strong>o – sie alle enden<br />

auf dem Opferstein. Und no<strong>ch</strong> viele andere!«<br />

Als Cortés ihn spra<strong>ch</strong>los anstarrte, fügte er na<strong>ch</strong> einer Weile leise hinzu: »Escalante werden<br />

sie den Kopf abs<strong>ch</strong>neiden! Es ist grauenhaft...«<br />

Der Capitán starrte ihn weiter an. Die Sterne! Die kosmis<strong>ch</strong>en Einflüsse! Wie konnte er sie<br />

vergessen! Sonne, Mond und Gestirne übten seit jeher einen unheimli<strong>ch</strong>en Einfluss auf das Gelingen<br />

oder Ni<strong>ch</strong>tgelingen aus! Na<strong>ch</strong> einer Weile fragte er: »Mit wem habt Ihr darüber gespro<strong>ch</strong>en?«<br />

»Mit niemandem außer Euer Gnaden.«<br />

»Hört, Botello, i<strong>ch</strong> nehme Eu<strong>ch</strong> in meinen persönli<strong>ch</strong>en Dienst – als Astrologen. Ihr versteht?<br />

I<strong>ch</strong> will Eu<strong>ch</strong> gut belohnen. Aber s<strong>ch</strong>weigt Eu<strong>ch</strong> über das alles aus.«<br />

»Ja, Euer Gnaden.«<br />

»Könnt Ihr mir bis morgen die Zukunft sagen?«<br />

»Da ist viel zu bere<strong>ch</strong>nen, Euer Gnaden, aber wenn Ihr mir Eure Daten gebt, sollte es bis<br />

morgen Abend mögli<strong>ch</strong> sein.«<br />

»Gut, Botello, i<strong>ch</strong> danke Eu<strong>ch</strong>.«<br />

*<br />

Der Soldat José Solér war ein seltsamer Kauz. Er hatte den Spitznamen detrás de la puerta, »der<br />

hinter der Tür«. Na<strong>ch</strong>ts, wenn er ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>lafen konnte – und er konnte oft ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>lafen –, beoba<strong>ch</strong>tete<br />

er die Vorübergehenden. Dabei war er kein Spion irgendeiner Partei; Don Diego de<br />

Velásquez war ihm so glei<strong>ch</strong>gültig wie Cortés. Als man ihn zur Rede stellte, ents<strong>ch</strong>uldigte er si<strong>ch</strong>.<br />

Er sei ein Weltbetra<strong>ch</strong>ter, wie der berühmte Diogenes im Fass, und beoba<strong>ch</strong>te gern, wie arme<br />

Fliegen si<strong>ch</strong> im Netz der Spinnen verfingen. Er freue si<strong>ch</strong> zu sehen, wie der Spieler Lope Márquez<br />

einfältige Tölpel zum Glücksspiel verleitete, wie der Flegel Paredes si<strong>ch</strong> sogar vor den Edeldamen<br />

Pilar de Elgueta und Dolores de Cuenca unflätig benahm, und wie die hagere Rosario von ihrem<br />

Galan, dem Aufwiegler Ignacio Morena, Prügel hinnahm, ohne si<strong>ch</strong> zu wehren, und ihm obendrein<br />

alle Ersparnisse gab. Ni<strong>ch</strong>ts wunderte ihn, ni<strong>ch</strong>ts bewunderte er. Er beoba<strong>ch</strong>tete nur und stellte<br />

fest.<br />

Au<strong>ch</strong> in dieser Na<strong>ch</strong>t stand José Solér hinter der Tür seiner Laubhütte und lauerte. Er traute<br />

der plötzli<strong>ch</strong>en Stille na<strong>ch</strong> all dem Lärm um Teufel und Fledermäuse ni<strong>ch</strong>t. José wartete. Gegen


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 37<br />

Mitterna<strong>ch</strong>t wurde sein Argwohn bestätigt. Ras<strong>ch</strong> ziehende Wolken verdeckten abwe<strong>ch</strong>selnd den<br />

Mond und gaben ihn wieder frei. Als die blanke S<strong>ch</strong>eibe wieder einmal mit blassem S<strong>ch</strong>ein über<br />

dem Feldlager stand, sah er drei Männer, die verstohlen von Hütte zu Hütte s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en. Er erkannte<br />

sie: Es waren der Hauptmann Francisco de Lugo, der Leutnant Puertocarrero und der alte Fähnri<strong>ch</strong><br />

Juan de Escalante. José Solér sah, wie sie in den Hütten Leute weckten und flüsternd herausriefen.<br />

»Nehmt Eure Waffen, Señor!«, hörte er Lugo sagen. »Ihr sollt Cortés begleiten, der die Runde<br />

ma<strong>ch</strong>t.«<br />

Trat der Mann heraus, nahmen sie ihn beiseite und redeten auf ihn ein. José Solér verstand<br />

nur no<strong>ch</strong> abgerissene Sätze: »Wir sind ruiniert... Diego de Velásquez wird unser Gold in die eigene<br />

Tas<strong>ch</strong>e stecken... so wie na<strong>ch</strong> der Grijalva-Expedition...« Dann wurden Eide ges<strong>ch</strong>woren, und die<br />

drei gingen weiter. Solér sah au<strong>ch</strong>, wie dunkle Gestalten in die abseits stehende Baracke des<br />

S<strong>ch</strong>atzmeisters Mejía s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en und beladen wieder heraustraten.<br />

José Solér war weder empört no<strong>ch</strong> erstaunt. Er kannte die Mens<strong>ch</strong>en. Götterkacke s<strong>ch</strong>meckt<br />

gut, da<strong>ch</strong>te er, ma<strong>ch</strong>t aber ni<strong>ch</strong>t satt! Lautlos glitten die Wolken vor dem Mond dahin. Vom Wald<br />

her hörte man einzelne S<strong>ch</strong>reie der Na<strong>ch</strong>tvögel, und ein Kojote bellte. Na<strong>ch</strong> einer Stunde wollte<br />

Solér si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lafen legen, als ein Posten das Lagertor öffnete und eine Sänfte einließ. Kräftige<br />

Indianer trugen s<strong>ch</strong>wer daran; fünf rei<strong>ch</strong> gekleidete weitere naturales folgten ihnen. Der Posten<br />

führte sie zur Hütte mit der s<strong>ch</strong>warzen Standarte. José Solér wartete. Na<strong>ch</strong> drei Stunden verließen<br />

die Sänfte und ihre Begleiter das Lager. Außer José Solér wussten nur wenige von dem nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />

Besu<strong>ch</strong>.<br />

*<br />

Gewarnt dur<strong>ch</strong> das Vers<strong>ch</strong>winden Mel<strong>ch</strong>orejos, hatte Cortés für diese Na<strong>ch</strong>t die zuverlässigsten<br />

Soldaten zum Wa<strong>ch</strong>tdienst ausgewählt. Au<strong>ch</strong> waren die Posten verstärkt worden. Vor dem südli<strong>ch</strong>en<br />

Tor wa<strong>ch</strong>ten der junge Fähnri<strong>ch</strong> Bernal Díaz del Castillo, der Ritterli<strong>ch</strong>e und Feind des Narren<br />

Cervantes, (weil er ihn am Kragen gepackt hatte, als er ein Spottlied auf den hinkenden Stuhl<br />

vortrug); ferner der Bogens<strong>ch</strong>ütze Pedro de Tirado, der Tü<strong>ch</strong>tigste im ganzen Heer und zuglei<strong>ch</strong><br />

der Bes<strong>ch</strong>eidenste, sowie Alonso Luís, ein baumstarker Hüne, der seinem s<strong>ch</strong>weren Wanst und<br />

dem wackelnden Doppelkinn zum Trotz flink wie eine Gazelle war und seines harmlosen La<strong>ch</strong>ens<br />

wegen el Niño genannt wurde, das Kind.<br />

Gegen ein Uhr na<strong>ch</strong>ts erspähte Pedro de Tirado die Indianer mit der Sänfte; sie näherten<br />

si<strong>ch</strong> ängstli<strong>ch</strong>, blieben oft stehen und blickten si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>eu um. Luís, das Kind, legte s<strong>ch</strong>on die Muskete<br />

an die S<strong>ch</strong>ulter, um zu feuern; do<strong>ch</strong> der Ritterli<strong>ch</strong>e flüsterte ihm zu, das sei unklug; man müsse<br />

die Feinde erst näher herankommen lassen.<br />

Do<strong>ch</strong> sie benahmen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wie Feinde. Beim Näherkommen grüßten sie ehrerbietig, berührten<br />

mit der Handflä<strong>ch</strong>e die Erde und ihre Stirn und gaben dur<strong>ch</strong> Zei<strong>ch</strong>en zu verstehen, dass<br />

sie zum Befehlshaber geführt sein wollten.<br />

Die drei Posten berieten si<strong>ch</strong>. Tirado und el Niño waren Manns genug, das Tor zu bewa<strong>ch</strong>en.<br />

Der Ritterli<strong>ch</strong>e übernahm es, die nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Besu<strong>ch</strong>er zu Cortés zu bringen.<br />

Was Cortés zu sehen bekam, als er vom Ritterli<strong>ch</strong>en bena<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>tigt aus seiner Laubhütte<br />

trat, hätte er nie und nimmer erwartet: Ein unförmiger dicker Mens<strong>ch</strong>, ein wahrer Fleis<strong>ch</strong>berg<br />

wu<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong> aus der Sänfte. Diener beräu<strong>ch</strong>erten ihn mit Kopalharz, während zwei der Sänftenträger<br />

ihn unter den s<strong>ch</strong>wammigen Armen stützen mussten. S<strong>ch</strong>wer atmend wats<strong>ch</strong>elte der Dicke<br />

herbei, do<strong>ch</strong> die Türöffnung der Laubhütte musste wegen seines gewaltigen Körperumfangs erweitert<br />

werden. Ein Feldstuhl bra<strong>ch</strong> unter der Fleis<strong>ch</strong>last zusammen; nur eine mit Kissen bedeckte<br />

Ei<strong>ch</strong>enkiste ertrug ä<strong>ch</strong>zend das fürstli<strong>ch</strong>e Gewi<strong>ch</strong>t. El Gordo – die Kastilier werden ihn nie anders<br />

nennen als den dicken Kaziken – hieß Xicocalcatl, S<strong>ch</strong>ilfrohr, und war König der Totonaken. Hier,<br />

an seiner Küste, war Cortés gelandet.<br />

Na<strong>ch</strong> der Begrüßung ents<strong>ch</strong>uldigte si<strong>ch</strong> der dicke Kazike, dass er erst jetzt gekommen sei,<br />

um seine Aufwartung zu ma<strong>ch</strong>en. Natürli<strong>ch</strong> habe er von der Ankunft der Sonnensöhne gewusst,<br />

do<strong>ch</strong> die Fur<strong>ch</strong>t vor Moctezuma, der jeden Verkehr mit den weißen Fremden untersage, habe ihn<br />

bisher abgehalten. Aber heute habe er si<strong>ch</strong> heimli<strong>ch</strong> her begeben, im S<strong>ch</strong>utz der Na<strong>ch</strong>t, um den


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 38<br />

Blicken der Kunds<strong>ch</strong>after Moctezumas zu entgehen.<br />

Cortés hatte na<strong>ch</strong> seinen Übersetzern Aguillar und Marina ges<strong>ch</strong>ickt. Er erkannte s<strong>ch</strong>nell,<br />

dass eine gütige Fügung ihm den dicken Kaziken ges<strong>ch</strong>ickt hatte. Von ihm konnte er wi<strong>ch</strong>tige Informationen<br />

über das Rei<strong>ch</strong> Moctezumas erhalten, und er bemühte si<strong>ch</strong>, dur<strong>ch</strong> Freundli<strong>ch</strong>keit das<br />

Vertrauen des dicken Mannes zu gewinnen und ihn dur<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ickt gestellte Fragen zum Reden<br />

zu bringen. Wie es denn mögli<strong>ch</strong> sei, rief er aus, dass der König der Totonaken vor Moctezuma<br />

zittere? Rei<strong>ch</strong>e der Arm Moctezumas denn zwanzig Sonnenläufe weit? Seien die Mexica denn<br />

unüberwindli<strong>ch</strong>? Wenn die Totonaken Hilfe brau<strong>ch</strong>ten, sei er bereit, si<strong>ch</strong> und sein Heer für sie einzusetzen.<br />

Die Augen des dicken Kaziken s<strong>ch</strong>immerten wässerig. »O großer Krieger, o weißer Herr des<br />

Ostens! Du kamst zu uns, damit wir uns unter deinen Mantel stellen!«, rief er, keu<strong>ch</strong>end na<strong>ch</strong> Luft<br />

s<strong>ch</strong>nappend wie ein alter Karpfen. Tränen und S<strong>ch</strong>weißtropfen glitten über die fleis<strong>ch</strong>igen Wangen<br />

und ließen die Gesi<strong>ch</strong>tsbemalung zerlaufen. Er seufzte tief; dann s<strong>ch</strong>üttete er dem weißen Herrn<br />

sein übervolles Herz aus.<br />

Die Totonaken seien immer ein freies Volk gewesen; erst vor wenigen Jahren habe Moctezuma<br />

ihnen das Jo<strong>ch</strong> der Dienstbarkeit aufgezwungen. Die nimmersatten Götter Mexicos hätten<br />

die Wasserstadt zum Entsetzen der Welt gema<strong>ch</strong>t, hätten den Zornigen Herrn in Blut gekleidet.<br />

Wie ein dur<strong>ch</strong>si<strong>ch</strong>tiger Smaragd, wie ein Kristall sei Moctezumas Palast – do<strong>ch</strong> abges<strong>ch</strong>nittene<br />

Mens<strong>ch</strong>enhände, Lei<strong>ch</strong>enköpfe und fleis<strong>ch</strong>lose Kiefer lägen auf den Wegen, und die Mens<strong>ch</strong>en<br />

sagen voller Angst: »Der Jaguar kam über uns...!« Und so wie den Totonaken sei es au<strong>ch</strong> anderen<br />

Völkern ergangen. Vom östli<strong>ch</strong>en bis zum westli<strong>ch</strong>en Weltmeer rei<strong>ch</strong>e die s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>e Gewaltherrs<strong>ch</strong>aft<br />

der Azteken. Und ni<strong>ch</strong>t nur Goldtribut – au<strong>ch</strong> Blutzoll müssten die Unterdrückten zahlen.<br />

Der Wahnsinnige auf dem Aztekenthron forderte adlige Knaben, um sie auf den Altären Teno<strong>ch</strong>titláns<br />

zu zers<strong>ch</strong>neiden; ihr Blut wird in Maisbrot verbacken und ans Volk verteilt. Au<strong>ch</strong> Mäd<strong>ch</strong>en<br />

müssten die Unterjo<strong>ch</strong>ten liefern, damit sie als Kriegerdirnen in Tanzhäusern leben.<br />

Cortés fragte, wie es komme, dass so viele tapfere Völker diese S<strong>ch</strong>eußli<strong>ch</strong>keiten über si<strong>ch</strong><br />

ergehen ließen; ob denn keine Aussi<strong>ch</strong>t bestehe, dass die Gekne<strong>ch</strong>teten si<strong>ch</strong> vereinten, um in<br />

gemeinsamem Aufstand das fur<strong>ch</strong>tbare Jo<strong>ch</strong> abzus<strong>ch</strong>ütteln und den Untergang Mexicos herbeizuführen.<br />

Das bedrückte Gesi<strong>ch</strong>t des dicken Kaziken erhellte si<strong>ch</strong>. »Der Untergang der Azteken hat<br />

s<strong>ch</strong>on begonnen!«, rief er. »Wir waren uneins, seit alters her verfeindet. Do<strong>ch</strong> Moctezuma hat uns<br />

einig gema<strong>ch</strong>t. Moctezuma selbst legte die S<strong>ch</strong>linge, die ihm das Herz abs<strong>ch</strong>nüren wird. Moctezuma<br />

selbst gab uns, was uns bis dahin fehlte: den Anführer, den sieghaften Feldherrn!«<br />

Und der dicke Kazike erzählte von der Blauen Feder. Der König von Tezcoco, der Herr des<br />

Fastens, hatte drei Söhne: Prinz Edler Betrübter, Prinz Blaue Feder und Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange.<br />

Na<strong>ch</strong> dem Tod des Königs bestimmten die Königswähler den ältesten Prinzen Edler Betrübter zum<br />

neuen König. Do<strong>ch</strong> sein junger Bruder, die Blaue Feder, war damit ni<strong>ch</strong>t einverstanden. Er eilte in<br />

die Gemä<strong>ch</strong>er seiner Mutter, der Herrin von Tula, und forderte stürmis<strong>ch</strong>, sie solle zwis<strong>ch</strong>en ihm<br />

und dem Edlen Betrübten S<strong>ch</strong>iedsri<strong>ch</strong>ter sein. Die Witwe des Herrn des Fastens gab ihrem Lieblingssohn,<br />

der Blauen Feder, Re<strong>ch</strong>t. Seiher war das Land Tezcoco in zwei Lager gespalten; denn<br />

die Mehrzahl seiner Bewohner beugte si<strong>ch</strong> dem Willen der Herrin von Tula, als wäre es der Wille<br />

des ents<strong>ch</strong>wundenen großen Königs.<br />

Der Edle Betrübte aber konnte die Niederlage ni<strong>ch</strong>t verwinden. Mit einigen Getreuen bra<strong>ch</strong>te<br />

er heimli<strong>ch</strong> den Staatss<strong>ch</strong>atz Tezcocos na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán, um ihn seinem Bruder zu entziehen.<br />

Moctezuma sollte den Golds<strong>ch</strong>atz treuhänderis<strong>ch</strong> verwahren, do<strong>ch</strong> der ließ ihn in aller Stille in seinen<br />

Palast s<strong>ch</strong>affen.<br />

Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange hatte anfangs die Ernennung seines Bruders Blaue Feder – die Mexico<br />

ni<strong>ch</strong>t genehm war – bekämpft und war mit dem Edlen Betrübten gegen den Bruder ins Feld<br />

gezogen. Do<strong>ch</strong> als er vom treulosen Diebstahl Moctezumas erfuhr, we<strong>ch</strong>selte er das Lager und<br />

unterstützte die Blaue Feder. Diese sammelte ein Heer von hunderttausend Mann und rief die unterdrückten<br />

Völker zum Aufstand gegen das verhasste Mexico auf. Dreißig Städte öffneten ihm die<br />

Tore, huldigten ihm als Befreier, waren glückli<strong>ch</strong>, endli<strong>ch</strong> die lastenden Ketten Mexicos abwerfen<br />

zu können. Moctezumas ho<strong>ch</strong>mütiger Feldherr die Rose hatte si<strong>ch</strong> erboten, ihn im Zweikampf lebend<br />

zu fangen und vor Moctezuma zu s<strong>ch</strong>leppen. Bei Otumba kam es zur S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t. Die Blaue<br />

Feder siegte und verfolgte die Rose bis vor die Tore Mexicos. Am Seeufer, angesi<strong>ch</strong>ts der Tore


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 39<br />

Teno<strong>ch</strong>titláns und vor den Augen des Empörerheeres, wurde der Zweikampf ausgefo<strong>ch</strong>ten. Mit<br />

einem einzigen S<strong>ch</strong>lag seines Säges<strong>ch</strong>werts streckte die Blaue Feder den Gegner nieder und verbrannte<br />

den no<strong>ch</strong> Lebenden auf einem S<strong>ch</strong>eiterhaufen, während Moctezuma mit seinem Hofstaat<br />

dem Tod seines Getreuen von den Mauern Teno<strong>ch</strong>titláns mitansehen musste.<br />

Und jetzt, vor wenigen Tagen, hatte die Blaue Feder Boten an die Totonaken ges<strong>ch</strong>ickt und<br />

sie aufgefordert, zwis<strong>ch</strong>en ihm und den weißen Fremdlingen zu vermitteln. Der dicke Kazike bot in<br />

seinem Namen ein Bündnis an und die Bereitwilligkeit, si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Verträge zu binden, auf dass sie<br />

gemeinsam Mexico zu Fall brä<strong>ch</strong>ten.<br />

Drei Stunden lang verhandelte Cortés mit dem dicken Kaziken und zog au<strong>ch</strong> den kaiserli<strong>ch</strong>en<br />

Notar Godoy hinzu. In der nahen Totonakenstadt Cempoala, wohin der dicke Kazike Cortés<br />

einlud, sollte der Vertrag bes<strong>ch</strong>woren und besiegelt werden.<br />

*<br />

In dieser Na<strong>ch</strong>t hatte si<strong>ch</strong> Cortés’ S<strong>ch</strong>icksal – und das Mexicos – ents<strong>ch</strong>ieden. Jetzt galt es nur<br />

no<strong>ch</strong>, das letzte Hindernis zu beseitigen: den Widerstand des zusammengewürfelten Haufen seines<br />

so genannten Heeres.<br />

Die Sonne stieg s<strong>ch</strong>on herauf, als Cortés si<strong>ch</strong> niederlegte. Na<strong>ch</strong> kurzem S<strong>ch</strong>laf wurde er von<br />

Lärm geweckt. Mit wilden Drohrufen eilten die Anhänger des Diego de Velásquez auf den freien<br />

Platz. Do<strong>ch</strong> die Freunde des Cortés hatten si<strong>ch</strong> vorher s<strong>ch</strong>on zusammenges<strong>ch</strong>art und umstanden<br />

bewaffnet die Hütte mit der s<strong>ch</strong>warzen Standarte. Cortés kleidete si<strong>ch</strong> gelassen an und verri<strong>ch</strong>tete<br />

wie jeden Morgen sein Morgengebet. Die Zahl seiner Anhänger war über Na<strong>ch</strong>t<br />

gewa<strong>ch</strong>sen, die des Diego de Velásquez hingegen arg ges<strong>ch</strong>rumpft. Neben<br />

Ordás und Velásquez de León sah man fast nur no<strong>ch</strong> die unentwegten Hetzer:<br />

den Lizentiaten Juan Díaz, den Profos Escudero, die Steuermänner Cardenás<br />

und Cermeño, den Narren Cervantes, den Pagen Escobar und den zügellosen<br />

Ignacio Morena, den Galan der hageren Rosario. Au<strong>ch</strong> Flores, der rothaarige<br />

Sänger, war dabei und übers<strong>ch</strong>rie mit seiner Stimme beide Parteien. Aber Avila,<br />

Olíd und Montejo ließen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t blicken.<br />

Der Lärm verstummte, als Cortés aus der Hütte trat. Er war, so s<strong>ch</strong>ien es,<br />

völlig ahnungslos. Verwundert wandte er si<strong>ch</strong> an Ordás und fragte na<strong>ch</strong> dem<br />

Grund des Aufruhrs. Ordás war in seiner Erregung kaum zu verstehen. Er stammelte<br />

etwas von den hunderttausend Teufeln Moctezumas und wollte Klage führen über die Verteilung<br />

des Goldes.<br />

Cortés s<strong>ch</strong>aute alle der Reihe na<strong>ch</strong> an. »I<strong>ch</strong> kenne meine Soldaten«, sagte er, »und weiß,<br />

dass ihnen Waffenruhm mehr gilt als Gold, dass ihnen die Aufri<strong>ch</strong>tung des Kreuzes auf blutigen<br />

Götzenaltären mehr am Herzen liegt als alle S<strong>ch</strong>ätze Moctezumas! Nein, ihr seid weder lüstern<br />

na<strong>ch</strong> Gold no<strong>ch</strong> feige! Eu<strong>ch</strong> ist der glühende Sand der Dünen hier verleidet, das ist es. Ihr für<strong>ch</strong>tet<br />

die s<strong>ch</strong>lafraubenden Moskitos mehr als hunderttausend Mexica mit S<strong>ch</strong>wert und S<strong>ch</strong>ild!«<br />

Seine Anhänger riefen: »Ja, wir wollen na<strong>ch</strong> Mexico ziehen! Na<strong>ch</strong> Mexico!«<br />

Velásquez de León trat vor. Der Neffe des Diego de Velásquez war no<strong>ch</strong> ein junger Mens<strong>ch</strong>,<br />

se<strong>ch</strong>sundzwanzig Jahre alt, s<strong>ch</strong>ön gewa<strong>ch</strong>sen, s<strong>ch</strong>mal sein Gesi<strong>ch</strong>t, tiefs<strong>ch</strong>warz sein Haupthaar<br />

und der kurze Spitzbart. Sein Blick war voller Feinds<strong>ch</strong>aft, aber Cortés bemerkte wohl, dass er<br />

unter seiner Abneigung litt. In kurzen Sätzen trug er die Klagen seiner Parteigänger vor: Don Diego<br />

de Velásquez habe die S<strong>ch</strong>iffe ausgerüstet, um an den Küsten Taus<strong>ch</strong>handel zu treiben. Eine Kolonie<br />

zu gründen und Krieg zu führen, davon wäre keine Rede gewesen! Der Auftrag sei erfüllt;<br />

nun sei es an der Zeit, na<strong>ch</strong> Kuba heimzusegeln.<br />

Cortés hatte das erwartet. Bekümmert erwiderte er: »I<strong>ch</strong> wollte, i<strong>ch</strong> könnte es leugnen. Do<strong>ch</strong><br />

auf mein Gewissen«, Cortés benutzte sein Lieblingsspri<strong>ch</strong>wort, »Ihr spre<strong>ch</strong>t die Wahrheit. Don<br />

Diego s<strong>ch</strong>ickte uns aus, Gold zu sammeln, meine Herren Kameraden! I<strong>ch</strong> bin bereit, na<strong>ch</strong> Kuba<br />

zurückzukehren.« Erregt und theatralis<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>leuderte er seinen Mantel von si<strong>ch</strong>.<br />

Jetzt waren es die Getreuen des Cortés, die außer Rand und Band gerieten. Dazu hätten sie<br />

si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t anwerben lassen, s<strong>ch</strong>rien sie; unverri<strong>ch</strong>teter Dinge wollten sie ni<strong>ch</strong>t heimkehren. Die<br />

Mexica würden nie wieder Weiße an ihrer Küste landen lassen, wenn diese Gelegenheit verpasst<br />

sei.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 40<br />

In der Na<strong>ch</strong>t hatte Cortés dem alten Fähnri<strong>ch</strong> Escalante Weisung gegeben, dass dieser im<br />

Fall einer Meuterei die s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>e Instruktion des Gobernadors verlangen sollte.<br />

»Wir glauben's au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t«, rief jetzt Escalante, »wenn wir's ni<strong>ch</strong>t mit eigenen Augen sehen!<br />

Zeigt uns das S<strong>ch</strong>riftstück, Don Hernándo!«<br />

Cortés zog das Pergament aus seinem Wams. Er ließ es vom Notar Godoy verlesen. Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>,<br />

der Auftrag bes<strong>ch</strong>ränkte si<strong>ch</strong> auf Handelsges<strong>ch</strong>äfte. Aber die Soldaten waren damit ni<strong>ch</strong>t<br />

zufrieden. Sie rasten und tobten. Wenn sie hier vor den S<strong>ch</strong>ätzen der Indianer warteten, wollten<br />

sie diese au<strong>ch</strong> holen! Die wenigen Anhänger des Diego de Velásquez wurden niederges<strong>ch</strong>rien, die<br />

Männer erklärten si<strong>ch</strong> für souverän. Das Heer lehnte den Gobernador Kubas als Befehlshaber ab.<br />

Es wollte nur dem Kaiser, Don Carlos, unterstellt sein und begehrte Hernándo Cortés zum Anführer.<br />

Erst spra<strong>ch</strong> Cortés dagegen und warnte vor dem Zorn Don Diegos. Die Soldaten aber überredeten<br />

ihn und gaben ihm das Verspre<strong>ch</strong>en, sie würden ihm, ebenso wie dem Kaiser, ein Fünftel<br />

aller Beute abtreten. Do<strong>ch</strong> Cortés lehnte bes<strong>ch</strong>eiden ab. Die Soldaten drohten, flehten und bestürmten<br />

ihn. Da ließ er si<strong>ch</strong> erwei<strong>ch</strong>en. Er nahm die Wahl an und stellte si<strong>ch</strong>, mit Umgehung des<br />

Statthalters von Kuba, unter den Oberbefehl des Hieronymitenordens auf Haiti.<br />

Darauf wurden drei Anträge Alvarados, Puertocarreros und Lugos dur<strong>ch</strong> Zurufe und Erheben<br />

der re<strong>ch</strong>ten Hand einhellig genehmigt: Es sollte eine Niederlassung unweit vom Feldlager gegründet<br />

werden – als Stützpunkt für das Heer und als befestigter Hafen für künftig landende S<strong>ch</strong>iffe.<br />

Zum Stadtkommandanten wurde der alte Escalante ernannt. Ferner sollte Cortés in einem Brief an<br />

den Kaiser den vorauszusehenden Verleumdungen des Diego de Velásquez zuvorkommen und<br />

ausführli<strong>ch</strong> den wahren Sa<strong>ch</strong>verhalt darstellen. Und endli<strong>ch</strong> sollten zwei Kavaliere mit den Ges<strong>ch</strong>enken<br />

Moctezumas auf der Capitána, dem Flaggs<strong>ch</strong>iff, na<strong>ch</strong> Kastilien segeln, dem Kaiser eigenhändig<br />

den Brief überrei<strong>ch</strong>en und den Inhalt, falls nötig, mündli<strong>ch</strong> bestätigen.<br />

Alles dies wurde zum Bes<strong>ch</strong>luss erhoben. Nun s<strong>ch</strong>lug Cortés den Leutnant Puertocarrero,<br />

seiner vornehmen Verwandts<strong>ch</strong>aft wegen – er war der Vetter der Grafen de Medellín – sowie wegen<br />

seiner vielfältigen Beziehungen zum kastilis<strong>ch</strong>en Hof, als Boten an den Kaiser vor. Und er riet,<br />

ihm einen Kavalier von der Gegenpartei, nämli<strong>ch</strong> Montejo, als Begleiter beizugeben; das würde die<br />

Unzufriedenen versöhnli<strong>ch</strong> stimmen. Au<strong>ch</strong> dies wurde bes<strong>ch</strong>lossen.<br />

Der Vors<strong>ch</strong>lag, Montejo na<strong>ch</strong> Europa zu senden, war der einzige, nie mehr gutzuma<strong>ch</strong>ende<br />

Fehler, den Cortés an diesem Tag beging. Er hatte ihm, wie Rodrigo Rangel geraten hatte, dur<strong>ch</strong><br />

den S<strong>ch</strong>atzmeister die Spiels<strong>ch</strong>ulden beglei<strong>ch</strong>en lassen und glaubte seinen Dankesbeteuerungen.<br />

Aber er würde es no<strong>ch</strong> bitter bereuen, weil er die Maske dieses ewig lä<strong>ch</strong>elnden, vergnügten Spielergesi<strong>ch</strong>ts<br />

ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>aut hatte.<br />

Ein letztes Mal flackerte die Meuterei auf, als die Bes<strong>ch</strong>lüsse im Lager bekannt wurden.<br />

Ordás, Velásquez de León, der Profos Escudero und drei der Musketiere eilten vor die Laubhütte<br />

des Cortés und bedrohten ihn mit gezückten S<strong>ch</strong>wertern. Da ließ Cortés sie in Ketten legen und<br />

auf die S<strong>ch</strong>iffe bringen. Do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> am selben Abend wurden auf seinen Befehl Escudero und die<br />

drei Soldaten wieder in Freiheit gesetzt. Aber die beiden Rädelsführer Ordás und Velásquez de<br />

León verhörte er selber an Bord der S<strong>ch</strong>iffe.<br />

Zuerst ging er in die Arrestzelle des Ordás. Zusammengekrümmt saß der langgliedrige<br />

Hauptmann auf einer Bank; der s<strong>ch</strong>male Kopf hing auf der Brust, wie von s<strong>ch</strong>weren Gedanken<br />

überlastet, und die dünnen Finger drehten und haspelten am überlangen, s<strong>ch</strong>wermütig wirkenden<br />

S<strong>ch</strong>nurrbart, knüpften Knoten und Fle<strong>ch</strong>ten hinein. Als ältester unter den Offizieren – er war a<strong>ch</strong>t<br />

Jahre älter als Cortés – hielt er si<strong>ch</strong> für überlegen, A<strong>ch</strong>tung gebietend, unantastbar. Das Bild, das<br />

er von seiner eigenen Herrli<strong>ch</strong>keit im Herzen trug, war zerstört! Do<strong>ch</strong> merkwürdigerweise hegte<br />

Diego de Ordás keinen Groll gegen Cortés – im Gegenteil, er bewunderte den Mann, dass er es<br />

gewagt hatte, ihn anzutasten. Ordás war, trotz seiner rauen S<strong>ch</strong>ale, im Kern ein gutherziger und<br />

ritterli<strong>ch</strong>er Mens<strong>ch</strong>. Als Cortés bei ihm eintrat und ihm die Eisenketten abnehmen ließ, bedankte er<br />

si<strong>ch</strong> stotternd. Do<strong>ch</strong> Cortés wollte ihn ni<strong>ch</strong>t nur versöhnen, sondern zum Freund ma<strong>ch</strong>en. Hatten<br />

Tatenlosigkeit und Langeweile den alten Raufbold zur Verzweiflung getrieben, so konnte Cortés<br />

ihm jetzt Abenteuer und Heldentaten in si<strong>ch</strong>ere Aussi<strong>ch</strong>t stellen. Cortés beri<strong>ch</strong>tete ihm vom Besu<strong>ch</strong><br />

des dicken Kaziken, vom Aufstand der Blauen Feder und vom Vertrag zwis<strong>ch</strong>en den<br />

Kastiliern und den Totonaken. Fünfhundertfünfzig Weiße, unterstützt von Bundesgenossen, deren<br />

Heer mehr als hunderttausend Mann zählte, konnten einen Besu<strong>ch</strong> am Hofe Moctezumas wohl<br />

wagen...


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 41<br />

Die Augen des Ritters begannen zu funkeln. Er erhob si<strong>ch</strong> in seiner ganzen Länge und reckte<br />

die hageren Arme, als wollte er Mexico ums<strong>ch</strong>lingen. Dabei stammelte er undeutli<strong>ch</strong> und vers<strong>ch</strong>luckte<br />

ganze Worthälften. Cortés erriet, dass es Dankesworte waren. Sie umarmten si<strong>ch</strong>,<br />

drückten si<strong>ch</strong> die Hände und blieben fortan Freunde.<br />

Dann begab Cortés si<strong>ch</strong> zu Velásquez de León. Der saß ni<strong>ch</strong>t gebeugt da, lehnte vielmehr<br />

trotzig in einem Winkel der S<strong>ch</strong>iffskammer. Als Cortés eintrat, stellte er si<strong>ch</strong> vor das Bullauge,<br />

starrte auf das abendli<strong>ch</strong>e Meer hinaus und drehte dem Befehlshaber verä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> den Rücken zu.<br />

Au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>dem er von den Ketten befreit war, starrte er unverwandt aufs Meer. Cortés s<strong>ch</strong>ickte<br />

seine Begleiter hinaus und blieb mit dem Gefangenen allein.<br />

»Ihr seid frei zu gehen, wohin Ihr wollt«, sagte Cortés. »Besteht Ihr darauf, na<strong>ch</strong> Kuba zurückzukehren,<br />

so stelle i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> das S<strong>ch</strong>iff mit der erforderli<strong>ch</strong>en Bemannung zur Verfügung. Aber<br />

i<strong>ch</strong> mö<strong>ch</strong>te Eu<strong>ch</strong> einen besseren Vors<strong>ch</strong>lag ma<strong>ch</strong>en: s<strong>ch</strong>ließt Eu<strong>ch</strong> Puertocarrero und Montejo an<br />

und segelt mit ihnen na<strong>ch</strong> Europa.«<br />

Velásquez de León rührte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Er sah aufs Meer hinaus, teilnahmslos, als wäre er<br />

taub. Cortés fuhr fort: »Voller Leidens<strong>ch</strong>aft seid Ihr für Euren Oheim Don Diego de Velásquez eingetreten.<br />

Er ist Eu<strong>ch</strong> nah verwandt, darum haltet Ihr ihn für Euren väterli<strong>ch</strong>en Freund. I<strong>ch</strong> muss<br />

Eu<strong>ch</strong> leider den Glauben nehmen. Wenn Ihr na<strong>ch</strong> Kuba kommt, wird Seine Exzellenz Eu<strong>ch</strong> den<br />

Kopf vor die Füße legen!«<br />

Velásquez de León wandte si<strong>ch</strong> um. Mit fragend aufgerissenen Augen su<strong>ch</strong>te er den Blick<br />

des Generalkapitäns.<br />

»Ihr seid der langgesu<strong>ch</strong>te Mörder des de Seda!«, sagte Cortés leise.<br />

Ein Zittern ging dur<strong>ch</strong> den Körper des jungen Mannes. Er wurde blass.<br />

»Woher wisst Ihr das?«, spra<strong>ch</strong> er mit as<strong>ch</strong>grauen Lippen.<br />

»Dur<strong>ch</strong> einen Brief Eures Oheims!«, erwiderte Cortés.<br />

»Ihr habt es gewusst und habt mi<strong>ch</strong> denno<strong>ch</strong> angeworben?«, rief León.<br />

»Ja. Am Tag vor unserer Abreise kamt Ihr auf der Flu<strong>ch</strong>t von Haiti na<strong>ch</strong> Kuba in La Havanna<br />

an. Am selben Tag erhielt der Stadtkommandant von La Havanna, Pedro Barba, zwei Briefe von<br />

Diego de Velásquez: Der eine war ein Haftbefehl gegen mi<strong>ch</strong>, der andere gegen Eu<strong>ch</strong>. Pedro<br />

Barba zeigte mir beide Briefe, denn er wusste, wie treu das Heer zu mir stand. Ebenso lei<strong>ch</strong>t hätte<br />

er die Sonne hinter S<strong>ch</strong>loss und Riegel bringen können. I<strong>ch</strong> steckte beide Briefe in die Tas<strong>ch</strong>e und<br />

ernannte Pedro Barba zum Hauptmann meiner Armbrusts<strong>ch</strong>ützen. Hier ist Euer Haftbefehl – lest<br />

ihn und zerreißt ihn!« Cortés rei<strong>ch</strong>te das Papier Velásquez de León. Der las, dann ergriff er Cortés'<br />

Hand. Erregt sagte er: »I<strong>ch</strong> bin kein Mörder! Nein, so wahr ein Gott im Himmel ist, Don Hernándo,<br />

i<strong>ch</strong> war ledigli<strong>ch</strong> der Rä<strong>ch</strong>er meiner Ehre. Zwei Jahre währte mein junges Eheglück, da fand i<strong>ch</strong><br />

den rei<strong>ch</strong>en de Seda, von einem Ausritt heimkehrend, bei ihr im Bett. I<strong>ch</strong> weiß ni<strong>ch</strong>t, was i<strong>ch</strong> tat<br />

und wie i<strong>ch</strong> es tat. Do<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> sah die Kissen und Laken voller Blut... und sie kniete vor mir und flehte<br />

um Erbarmen. Da ließ i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> sie ni<strong>ch</strong>t unversehrt und stieß zu. Dann floh i<strong>ch</strong> und entkam auf<br />

ein S<strong>ch</strong>iff, das na<strong>ch</strong> La Havanna bestimmt war.«<br />

»Auf mein Gewissen, Ihr müsst na<strong>ch</strong> Europa«, sagte Cortés mit großem Ernst. »I<strong>ch</strong> riet es<br />

Eu<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on. I<strong>ch</strong> will Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts verhehlen. Der Italiener Botello hat Eu<strong>ch</strong> das Horoskop gestellt.<br />

Es ist ni<strong>ch</strong>t gut, wenn Ihr na<strong>ch</strong> Mexico mitkommt.«<br />

Velásquez de León s<strong>ch</strong>üttelte bitter lä<strong>ch</strong>elnd den Kopf. »Eu<strong>ch</strong> verlasse i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr,<br />

Hernándo Cortés! I<strong>ch</strong> habe eine S<strong>ch</strong>uld zu sühnen. Wisst Ihr, wie die Franzosen jene Verzweifelten<br />

nennen, die si<strong>ch</strong> den Rotten voraus mit der Blutfahne in die di<strong>ch</strong>testen Speerhaufen stürzen?<br />

Les enfants perdus! I<strong>ch</strong> bleibe! Der einhändige Namenlose und i<strong>ch</strong>, wir sind die verlorenen Kinder<br />

Eures Heeres, Don Hernándo!«<br />

Velásquez de León hielt Wort. Erst der Tod sollte ihn von Cortés' Seite reißen.<br />

Am Abend desselben Tages bra<strong>ch</strong>te der Italiener Botello seine astrologis<strong>ch</strong>en Bere<strong>ch</strong>nungen.<br />

Mit unverändert betrübtem Gesi<strong>ch</strong>tsausdruck trug er beispiellose Glücksverheißungen vor.<br />

»Ihr seid in einer Glückshaube geboren!«, sagte er. »Au<strong>ch</strong> Alexander der Mazedonier und Julius<br />

Cäsar hatten sol<strong>ch</strong>e Sterne!«<br />

Cortés wollte den Astrologen belohnen, do<strong>ch</strong> der lehnte ab. Er fand keinen S<strong>ch</strong>laf in dieser<br />

Na<strong>ch</strong>t. Das Tor ins Wunderland stand offen. Colón hatte das Tor nur von weitem und mit Riegeln<br />

vers<strong>ch</strong>lossen gesehen. Nun kommt er, das Glückskind Hernándo, und po<strong>ch</strong>t an die Tore zum Land<br />

der tausend Wunder und der unvorstellbaren S<strong>ch</strong>ätze.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 42<br />

5. »Na<strong>ch</strong> Mexico!«<br />

»Cortés erfuhr, dass König Moctezuma das Küstenland erst unlängst in seine Gewalt gebra<strong>ch</strong>t<br />

hatte und dass die unterworfenen Gebiete insgeheim dana<strong>ch</strong> tra<strong>ch</strong>teten, wieder unabhängig<br />

zu werden. Diese Erkenntnis veranlasste den Feldherrn, si<strong>ch</strong> mit dem Volk der<br />

Cempoalaner zu verbünden.... Die Zahl der kriegsfähigen Männer im Ma<strong>ch</strong>tberei<strong>ch</strong> der<br />

Stadt s<strong>ch</strong>ätzte Cortés auf 50 000.«<br />

(A. S<strong>ch</strong>urig: Die Eroberung von Mexico dur<strong>ch</strong> Ferdinand Cortés)<br />

Die vom Heer gefassten Bes<strong>ch</strong>lüsse gelangten in wenigen Wo<strong>ch</strong>en zur Ausführung. An den Sanddünen,<br />

wenige Meilen nördli<strong>ch</strong> vom Feldlager, wurde der Ort Villa Rica de la Veracruz gegründet<br />

und ein Kastell, eine Kir<strong>ch</strong>e, ein Regierungsgebäude, Proviantmagazine, einige s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>te Wohnhäuser<br />

und eine »Stadtmauer« genannte Palisade mit S<strong>ch</strong>ießs<strong>ch</strong>arten und Türmen erbaut. Um<br />

seine Leute anzufeuern, nahm Cortés selbst den Spaten in die Hand, trug Erdkörbe, Mörtel und<br />

Kalk. Die Stadt erhielt eine kleine Besatzung, an deren Spitze der alte Fähnri<strong>ch</strong> Escalante stand.<br />

Puertocarrero, Montejo und der Obersteuermann Alaminos segelten auf der Capitána na<strong>ch</strong><br />

Europa ab, als Überbringer der Ges<strong>ch</strong>enke Mocte-zumas und zweier Briefe an den Kaiser. Das<br />

eine S<strong>ch</strong>reiben war von Cortés, sein erster langer Beri<strong>ch</strong>t; das andere war eine mit den Unters<strong>ch</strong>riften<br />

aller Offiziere und Soldaten versehene Bitts<strong>ch</strong>rift: Seine Majestät möge die Bes<strong>ch</strong>lüsse<br />

des Heeres und die Ernennung des Oberbefehlshabers genehmigen.<br />

Als das Heer mars<strong>ch</strong>bereit war, wurde eine neue Vers<strong>ch</strong>wörung aufgedeckt. Der Lizentiat<br />

Juan Díaz, der Profos Escudero und die Steuermänner Cermeño und Gonzalo de Umbría gestanden<br />

unter der Folter, sie wollten si<strong>ch</strong> eines S<strong>ch</strong>iffes bemä<strong>ch</strong>tigen und na<strong>ch</strong> Kuba zurücksegeln.<br />

Cortés ließ die S<strong>ch</strong>uldigen dur<strong>ch</strong> ein Kriegsgeri<strong>ch</strong>t seiner Offiziere aburteilen. Weil man zu wenige<br />

Priester hatte, wurde der Lizentiat begnadigt, dem Gonzalo de Umbría aber die Füße abgehauen,<br />

und Escudero sowie Cermeño erlitten den Tod dur<strong>ch</strong> den Strang. Als Cortés das Todesurteil seines<br />

einstigen Häs<strong>ch</strong>ers Escuder o unters<strong>ch</strong>rieb, rief er aus: »Auf mein Gewissen, i<strong>ch</strong> wollte, i<strong>ch</strong><br />

hätte nie s<strong>ch</strong>reiben gelernt!«<br />

Dann ließ er die S<strong>ch</strong>iffe verni<strong>ch</strong>ten. Sie wurden auf den Strand gezogen und abgetakelt. Alles<br />

no<strong>ch</strong> Brau<strong>ch</strong>bare – die Instrumente, das Tauwerk, die Segel und Anker – kam in ein Magazin<br />

an Land; dann wurden die Karavellen (bis auf eine) in<br />

Brand gesetzt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Stumm<br />

standen die Männer am Ufer, beleu<strong>ch</strong>tet vom flackernden<br />

S<strong>ch</strong>ein der brennenden S<strong>ch</strong>iffsrümpfe und den karminrot<br />

lodernden Fackeln der Masten. Sie ahnten ni<strong>ch</strong>ts<br />

von den Gefahren, die auf sie lauerten, kannten no<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t die Stärke des Gegners. Cortés erzählte, was der<br />

dicke Kazike ihm beri<strong>ch</strong>tet hatte: von den Totonaken, der<br />

Blauen Feder und den Grausamkeiten im Rei<strong>ch</strong><br />

Moctezumas.<br />

Die Zei<strong>ch</strong>nung unten s<strong>ch</strong>ildert die Ankunft der Spanier im späteren<br />

Hafen von Villa Rica de Vera Cruz. Im Hintergrund si<strong>ch</strong>tet ein<br />

Indianer gerade die spanis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>iffe, links vorne laden Matrosen<br />

Waffen, Tiere und Versorgungsgüter aus, während Doña<br />

Marina (re<strong>ch</strong>ts) einen Eingeborenen befragt und ein S<strong>ch</strong>reiber<br />

die Informationen aufzei<strong>ch</strong>net.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 43<br />

»Wir waren selbst vor zweitausend Jahren sol<strong>ch</strong>e Bestien!«, rief Rodrigo Rangel.<br />

»Gottlob, dass wir es ni<strong>ch</strong>t mehr sind«, bemerkte der blonde Alvarado.<br />

Und Cortés sagte: »Darum zogen wir aus, um diese Gräuel abzus<strong>ch</strong>affen!«<br />

Rot brandeten no<strong>ch</strong> immer die Flammen, als Cortés den Befehl zum Abmars<strong>ch</strong> gab. Die Soldaten<br />

s<strong>ch</strong>wenkten ihre Sturmhauben und s<strong>ch</strong>rien begeistert: »Na<strong>ch</strong> Mexico! Na<strong>ch</strong> Mexico!«<br />

*<br />

Die Spione hatten alles na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán gemeldet. Dass der dicke Kazike den Cortés eingeladen<br />

hatte. Dass die Kastilier auf mexicanis<strong>ch</strong>em Boden eine Stadt gründeten. Dass sie ins Innere des<br />

Landes aufgebro<strong>ch</strong>en waren, und dass in zweihundertundfünfzig totonakis<strong>ch</strong>en Orts<strong>ch</strong>aften die<br />

Häuser zu Ehren der weißen Ankömmlinge im Blumens<strong>ch</strong>muck prangten.<br />

Da traf die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t ein, dass das mexicanis<strong>ch</strong>e Heer einen Feldzug in Guatemala siegrei<strong>ch</strong><br />

beendete und dass die beiden Befehlshaber, der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian und der S<strong>ch</strong>lagende Falke,<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr fern von den Toren Teno<strong>ch</strong>titláns stünden. Spät, do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zu spät, kam diese gute<br />

Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t. Und man<strong>ch</strong>er Mund, der bisher aus Vorsi<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>wiegen hatte, nannte nun leise den<br />

Namen des S<strong>ch</strong>lagenden Falkens. Moctezuma, vor einem Jahr no<strong>ch</strong> ein selbstgenügsamer Gott,<br />

war zu einem tyrannis<strong>ch</strong>en, von Träumen gehetzten Zauderer geworden. In seine Ängste reihte<br />

si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Vorstellung ein, Cuauhtémoc, seinem Neffen S<strong>ch</strong>lagender Falke, bald Auge in Auge<br />

gegenüberstehen zu müssen. Er hatte ihm einst seine s<strong>ch</strong>öne To<strong>ch</strong>ter Prinzessin Maisblume verspro<strong>ch</strong>en,<br />

hatte sie dann aber dem Edlen Betrübten anverlobt, dem jungen König von Tezcoco.<br />

Die Heirat jedo<strong>ch</strong> war no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vollzogen, was es für ihn einfa<strong>ch</strong>er gema<strong>ch</strong>t hätte. Denn eine<br />

unre<strong>ch</strong>te Handlung gesteht ein König lei<strong>ch</strong>ter ein als eine unre<strong>ch</strong>te Absi<strong>ch</strong>t. Moctezuma würde<br />

dem S<strong>ch</strong>lagenden Falken erklären müssen, würde von politis<strong>ch</strong>en Rücksi<strong>ch</strong>tnahmen reden, von<br />

der staatspolitis<strong>ch</strong>en Si<strong>ch</strong>erheit, die Mexico erlangt, wenn es si<strong>ch</strong> mit dem bena<strong>ch</strong>barten Königrei<strong>ch</strong><br />

am S<strong>ch</strong>ilfsee verbindet und von der Größe, die Anahuac gewinnt.<br />

Sollte er nun die Ho<strong>ch</strong>zeit bes<strong>ch</strong>leunigen? Wenn aber der Edle Betrübte die Ma<strong>ch</strong>t in<br />

Tezcoco ni<strong>ch</strong>t zurückgewinnen kann? Hat die Verbindung mit Maisblume für Teno<strong>ch</strong>titlán dann<br />

no<strong>ch</strong> einen Wert?<br />

*<br />

Der Kampfgenosse des S<strong>ch</strong>lagenden Falken, der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian, war ein Otomi aus der<br />

Republik Tlaxcala. Tlaxcala mit seiner stolzen Unabhängigkeit war früher eine Insel inmitten der<br />

versklavten und tributpfli<strong>ch</strong>tigen Völker Mexicos. Das Land lag na<strong>ch</strong> Sonnenaufgang zu, etwa auf<br />

halbem Weg zwis<strong>ch</strong>en Teno<strong>ch</strong>titlán und der von Cortés jüngst gegründeten Hafenstadt Veracruz.<br />

Das von Seen umgebene Anahuac war ein fla<strong>ch</strong>es Ho<strong>ch</strong>land, begrenzt im Osten von den mä<strong>ch</strong>tigen<br />

Kordilleren. Die beiden mit ewigem S<strong>ch</strong>nee bekleideten Vulkane Popocatepetl und<br />

Iztaccihuatl, der Rau<strong>ch</strong>ende Berg und die Weiße Frau, die si<strong>ch</strong> im See von Teno<strong>ch</strong>titlán spiegelten,<br />

gehörten einer von vielen, kaum minder steilen S<strong>ch</strong>neebergketten an. Das davor liegende<br />

Gebirgsland jedo<strong>ch</strong>, das si<strong>ch</strong>, von wilden S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>ten dur<strong>ch</strong>zogen, viele Sonnenläufe weit erstreckte,<br />

war entgegen weit verbreiteter Meinung keine kahle Steinwüste. Dort, innerhalb der Bergs<strong>ch</strong>ranken,<br />

gab es neben Firns<strong>ch</strong>nee, Lavageröll und steilen Klippen mit blaus<strong>ch</strong>warzen Arven<br />

au<strong>ch</strong> taufris<strong>ch</strong>e Matten, Täler und Ebenen, rei<strong>ch</strong> und blühend an Siedlungen und Feldern, wenn<br />

au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t so prangend wie der Garten Anahuac. Dort lebten die Tlatepoca, »Die hinter den Bergen«,<br />

die Bewohner Tlaxcalas.<br />

Vor wenigen Jahren war der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian mit einem Trupp otomis<strong>ch</strong>er Krieger in<br />

einen aztekis<strong>ch</strong>en Hinterhalt und in Gefangens<strong>ch</strong>aft geraten. Der berühmte Tempelhüter besiegte<br />

ihn und bra<strong>ch</strong>te ihn gefesselt na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán. Dort sollte der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian den Göttern<br />

geopfert werden. Er wurde rei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> genährt und gut behandelt. Moctezuma hatte vor Jahren seinen<br />

erstgeborenen Sohn verloren, den Mens<strong>ch</strong>enfänger; nur die geliebte To<strong>ch</strong>ter Prinzessin Maisblume,<br />

der lasterhafte zweite Sohn, der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte, sowie Prinzessin Goldkolibri waren<br />

ihm verblieben. Moctezuma fand Gefallen am Gefangenen, denn der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian<br />

erinnerte ihn an seinen toten Sohn, und er begehrte ihn vom Tempelhüter zum Ges<strong>ch</strong>enk. Bald


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 44<br />

stieg der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian neben dem S<strong>ch</strong>lagenden Falken zum zweiten der obersten Befehlshaber<br />

des mexikanis<strong>ch</strong>en Heeres auf. Und er zog mit dem S<strong>ch</strong>lagenden Falken in das Land<br />

des Südens, wo er Siege und Ruhm errang. Aber in seiner Heimat galt er als Verräter.<br />

*<br />

Als das kastilis<strong>ch</strong>e Heer von der Meeresküste aufgebro<strong>ch</strong>en war, um dem Kaiser Moctezuma in<br />

seiner Hauptstadt Mexico einen Besu<strong>ch</strong> abzustatten, ritt Hauptmann Diego de Ordás an der Spitze<br />

des langen Zuges. Ordás war ein mittelmäßiger Reiter, und seine magere, unfru<strong>ch</strong>tbare Graus<strong>ch</strong>immelstute<br />

war ein ungern trabendes Pferd; do<strong>ch</strong> die Sporen, mit denen er die Stute kitzelte,<br />

spornten mit ihrer au<strong>ch</strong> seine eigene Tatenlust an. Er ritt seinen Kameraden hundert S<strong>ch</strong>ritte voraus,<br />

und hundert Meilen ihm voraus ritt sein Geist. Wahrli<strong>ch</strong>, er hatte Eile. War ihm do<strong>ch</strong> tags zuvor<br />

von einem reisenden indianis<strong>ch</strong>en Händler – von denen viele die halb fertige Stadt Veracruz<br />

bewundern kamen – ein Smaragd angeboten worden. Als Ordás den Stein mit brillantierten Glasperlen<br />

bezahlte und na<strong>ch</strong> der Herkunft des Smaragds fors<strong>ch</strong>te, hatte der Indianer na<strong>ch</strong> Westen<br />

gewiesen: »Vierzig Sonnenläufe westwärts«, glaubte der Hauptmann ihn verstanden zu haben,<br />

»ragt ein grüner Fels zum Himmel empor, der ist ein einziger, riesenhafter Smaragd!«<br />

Ordás behielt das Geheimnis für si<strong>ch</strong> und verriet es ni<strong>ch</strong>t einmal seinen besten Freunden, ja,<br />

er vers<strong>ch</strong>wieg es sogar der Doña Isabel de Ojeda, wie sehr er sie sonst au<strong>ch</strong> mit seiner väterli<strong>ch</strong>en,<br />

ein wenig verstiegenen Liebe beda<strong>ch</strong>te. Ein Smaragdfels! Mein Gott, wenn er ihn fände!<br />

Damit ließe si<strong>ch</strong> das Heilige Grab den Moslems abkaufen! S<strong>ch</strong>wierig würde es freili<strong>ch</strong> sein, ihn<br />

ungebro<strong>ch</strong>en an die Küste zu s<strong>ch</strong>affen. Ordás war dem Generalkapitän dankbar, dass er ihn an<br />

die Kette gelegt und dur<strong>ch</strong> die Einkerkerung auf dem S<strong>ch</strong>iff seinen vom Ni<strong>ch</strong>tstun krankenden<br />

Geist zur Vernunft gebra<strong>ch</strong>t hatte. Nun war seiner Phantasie ein strahlendes Ziel gesetzt! Darum<br />

hatte er es eilig und ritt allen Kameraden voran – dem Smaragdfels entgegen.<br />

Die Vorhut bildeten Armbrusts<strong>ch</strong>ützen und Musketiere. Es waren gut siebzig Mann; viele von<br />

ihnen hatten si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on bei den Expeditionen von Córdova und Grijalva Narben und Ruhm erworben<br />

– wie Juan Soares, den man mit Re<strong>ch</strong>t das Auge des Heeres nannte, da er ebenso umsi<strong>ch</strong>tig<br />

wie s<strong>ch</strong>arfsi<strong>ch</strong>tig war. Glei<strong>ch</strong>es galt für den Bogens<strong>ch</strong>ützen Pedro de Tirado, einen der besten<br />

Soldaten des Heeres. Sebastián Rodríguez, im Nebenberuf Trompeter, und der alte Santisteban<br />

waren ebenfalls ausgezei<strong>ch</strong>nete Armbrusts<strong>ch</strong>ützen.<br />

Santisteban war einer der drei Überlebenden des Gemetzels beim Hafen Matanzas auf Kuba.<br />

Dreißig Kastilier und zwei Kastilierinnen waren dort gestrandet. Ihr S<strong>ch</strong>iff war zur Sklavenjagd<br />

ausgelaufen. Vom S<strong>ch</strong>iffbru<strong>ch</strong> angelockte Indianer hatten si<strong>ch</strong> freundli<strong>ch</strong> erboten, sie in Kanus<br />

über den Fluss zu setzen. Do<strong>ch</strong> mitten auf dem Fluss sta<strong>ch</strong>en die Indianer die Wehrlosen nieder<br />

und ließen nur die beiden Frauen und drei der Männer am Leben, nämli<strong>ch</strong> den alten Santisteban,<br />

Pedro Lope Cano mit den sauberen Händen und Domenico Mejía Hinojora, den Enkel der Räuberin.<br />

Eine der beiden Frauen, des Lope Cano vor kurzem erst angetraute junge Gattin Elvira, nahm<br />

si<strong>ch</strong> der Häuptling. Die drei Kastilier wurden an andere Indianer vers<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>ert und lernten als weiße<br />

Sklaven die Kehrseite des Sklavenhandels kennen. Ein Jahr später war es Cortés gelungen,<br />

Santisteban, Cano und Hinojora aus der Hand ihrer Peiniger freizukaufen. Die beiden Frauen aber<br />

waren von den Indianern na<strong>ch</strong> der tierra ferma hinübergerudert worden und blieben unauffindbar.<br />

Die Vorhut wurde von drei Reitern angeführt. Außer Diego de Ordás, der voraneilte, waren<br />

es der Hauptmann Francisco de Lugo und der jüngst zum Capitán ernannte Gonzalo de Sandoval.<br />

Pedro Barba, der Hauptmann der Armbrusts<strong>ch</strong>ützen, bis vor kurzem no<strong>ch</strong> Vizestatthalter und<br />

Stadtkommandant von La Havanna auf Kuba, hatte ni<strong>ch</strong>t mehr die Zeit gehabt, si<strong>ch</strong> vor der Eins<strong>ch</strong>iffung<br />

ein Pferd zu kaufen, als er Cortés – statt ihn in Ketten zu legen – die Haftbefehle des<br />

Gobernadors Diego de Velásquez aushändigte. So musste Barba an der Spitze seiner Truppe zu<br />

Fuß na<strong>ch</strong> Mexico mars<strong>ch</strong>ieren. Zwei Hunde trabten neben, vor und hinter den Armbrusts<strong>ch</strong>ützen<br />

und umkreisten sie wie eine S<strong>ch</strong>afherde. Der eine war der Jagdhund, der dem Grijalva auf der<br />

kanin<strong>ch</strong>enrei<strong>ch</strong>en Insel entlaufen war und den dann Alvarado so wohlbeleibt wieder fand, dass das<br />

Tier si<strong>ch</strong> kaum no<strong>ch</strong> bewegen konnte. Do<strong>ch</strong> jetzt hatte der Hund seine natürli<strong>ch</strong>e Gestalt wiedererlangt.<br />

Er hieß Moro.<br />

Der andere Hund, eine Dänis<strong>ch</strong>e Dogge, gehörte dem Hauptmann Francisco de Lugo und


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 45<br />

war sein Stolz, denn das Tier war ein Enkel des berühmten Becerrico, der si<strong>ch</strong> in den Antillen als<br />

hervorragender Sklavenfängerhund erwiesen hatte. Von den Indianern wurde er für einen abgeri<strong>ch</strong>teten<br />

Puma gehalten; s<strong>ch</strong>on sein Anblick nahm ihnen allen Mut. Bei S<strong>ch</strong>armützeln sprang er<br />

den Feinden an die Gurgeln und erwürgte in kurzer Zeit mehr Gegner, als zehn Spanier im selben<br />

Zeitraum zu töten vermo<strong>ch</strong>ten. Und er verstand es au<strong>ch</strong>, ganze Indianerhaufen einzukreisen und<br />

einzufangen. Seiner Taten wegen wurden diesem Tier mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Ehren erwiesen. Während die<br />

Krone von Kastilien ein Fünftel aller Beute zugewiesen bekam, erhielt Becerrico anderthalb <strong>Teil</strong>e.<br />

So wurde der Hund zum Besitzer von Beute und Land. Sein Herr verwaltete die Güter im Namen<br />

des Hundes. Au<strong>ch</strong> der Hund des Hauptmanns hieß wie sein berühmter Großvater Becerrico. Sein<br />

edles Geblüt bere<strong>ch</strong>tigte zu allen Hoffnungen; nur seiner Jugend war es zuzus<strong>ch</strong>reiben, wenn er<br />

bisher keine Ruhmestaten vollbra<strong>ch</strong>t hatte. Hauptmann Lugo s<strong>ch</strong>ätzte den Stammbaum seiner<br />

Dogge umso höher ein, als er selbst der Bastard eines verarmten kastilis<strong>ch</strong>en Kavaliers war.<br />

Cortés hatte Befehl gegeben, ein Stück Weges am Strand entlang na<strong>ch</strong> Süden zu ziehen,<br />

wo die Dünen si<strong>ch</strong> verfla<strong>ch</strong>ten und wo es lei<strong>ch</strong>ter sein würde, die Artillerie und den Tross voranzubringen;<br />

bei einer einsam stehenden Federpalme sollte das Heer na<strong>ch</strong> Westen abbiegen. Als sie<br />

die Stelle errei<strong>ch</strong>ten, stieg der Generalkapitän von seinem Ross. Er hatte eine runde Elfenbeindose<br />

aus der Tas<strong>ch</strong>e gezogen, den Deckel aufgeklappt und seinen Blick hineingesenkt. Marina, die<br />

alles beoba<strong>ch</strong>tete, was ihr Idol tat, trat näher und betra<strong>ch</strong>tete neugierig den Behälter, der etwas<br />

größer als eine Männerhand und eine halbe Hand ho<strong>ch</strong> war.<br />

»Was habt Ihr da, Herr?«, fragte sie auf Nahuatl.<br />

Er verstand ni<strong>ch</strong>t, was sie sagte, do<strong>ch</strong> ihr Blick auf die Dose war beredt genug. »Eine Bussole«,<br />

antwortete er freundli<strong>ch</strong> und ließ sie einen Blick ins Gehäuse tun. Dort drehte si<strong>ch</strong> hinter Glas<br />

eine runde S<strong>ch</strong>eibe, auf die ein vielzackiger Stern gemalt war. Die S<strong>ch</strong>eibe s<strong>ch</strong>wamm in Alkohol –<br />

als Dämmflüssigkeit, was ihrer Drehbewegung eine gewisse Laufruhe gab. Auffällig war au<strong>ch</strong> eine<br />

blumenähnli<strong>ch</strong>e Zei<strong>ch</strong>nung am Rand der S<strong>ch</strong>eibe sowie eine ähnli<strong>ch</strong>e, aber kleinere Blumenranke<br />

im re<strong>ch</strong>ten Winkel re<strong>ch</strong>ts davon.<br />

»Bussole? Was ma<strong>ch</strong>t man damit?«, fragte sie, wiederum in der Spra<strong>ch</strong>e der Mexica.<br />

Cortés verstand nur Bussole. Er winkte Aguilár herbei. »Fragt sie, was sie gesagt hat.«<br />

Der Pater sah auf die Dose und antwortete widerwillig: »Ihr wollt der Wilden do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t etwa<br />

dieses Teufelszeug näher bringen?«<br />

»Marina ist keine Wilde, sondern eine s<strong>ch</strong>öne und kluge Frau, wie sogar Ihr bemerkt haben<br />

dürftet«, antwortete Cortés na<strong>ch</strong>si<strong>ch</strong>tig. »Und die Bussole ist kein Teufelszeug, Padre, sondern ein<br />

sehr vernünftiges Instrument, das uns die Ri<strong>ch</strong>tungen des Himmels zuverlässig anzeigt.«<br />

»Ein Instrument des Satans!«, rief Aguilár fiebernden Auges, »der die Mens<strong>ch</strong>en damit in die<br />

Irre treiben kann. In Kastilien hat die Heilige Inquisition s<strong>ch</strong>on Anhänger dieses Aberglaubens verbrannt.«<br />

»Fraile, Ihr wart zu lange in indianis<strong>ch</strong>er Gefangens<strong>ch</strong>aft. Inzwis<strong>ch</strong>en ist dieser Kompass ein<br />

anerkanntes Mittel der Seefahrer, das sie den Weg übers Meer finden lässt. Das Sanctum Officium<br />

sieht keinen Anlass mehr zu seiner Ä<strong>ch</strong>tung. Für seine Eigenart, die Nordri<strong>ch</strong>tung anzuzeigen, gibt<br />

es eine ganz einfa<strong>ch</strong>e Erklärung. Unter dieser Lilie«, Cortés zeigte auf die blumenartige Vers<strong>ch</strong>nörkelung,<br />

»befindet si<strong>ch</strong> ein Stück Magnetit, ein magnetis<strong>ch</strong>es Metall, das si<strong>ch</strong> stets na<strong>ch</strong><br />

Norden ausri<strong>ch</strong>tet, wie man seit der Entdeckungsfahrt des Cristóbal Colón weiß. Die große Lilienzei<strong>ch</strong>nung<br />

ist die stilisierte Form des Bu<strong>ch</strong>stabens T – für Tramontana, der Nordwind.«<br />

»Und die kleine Zei<strong>ch</strong>nung re<strong>ch</strong>ts davon?«<br />

»Das ist das Symbol für Levante, der Ostwind. Er zeigt uns die Ri<strong>ch</strong>tung na<strong>ch</strong> Jerusalem.<br />

Wie kann so etwas des Teufels sein? Also, fragt sie jetzt.«<br />

Aguilár s<strong>ch</strong>ien beruhigt. Wie das Gerät funktionierte, war ihm zwar immer no<strong>ch</strong> undur<strong>ch</strong>si<strong>ch</strong>tig,<br />

do<strong>ch</strong> dass im dunklen Norden die finsteren Mä<strong>ch</strong>te hausten, war ihm selbstverständli<strong>ch</strong>. Wenn<br />

das Instrument überdies zu den heiligen Stätten der Christenheit wies, wurde sein böser Einfluss<br />

gewiss neutralisiert. Der Fraile war überzeugt, dass die Kir<strong>ch</strong>e dies in ihrer Allma<strong>ch</strong>t bewerkstelligt<br />

hatte, bevor die Seefahrer das Instrument benutzen durften. So folgte er der Aufforderung des<br />

caudillo und fragte Marina in Maya. »Sie will wissen, was das ist«, erklärte er dann.<br />

Marina s<strong>ch</strong>aute mit Inbrunst auf den Generalkapitän. »Das ist ein Kompass, er zeigt die<br />

Ri<strong>ch</strong>tungen an«, ließ dieser Aguilár ausri<strong>ch</strong>ten.<br />

Zwis<strong>ch</strong>en Marina und dem Frater entwickelte si<strong>ch</strong> ein lebhafter Dialog. Cortés bemerkte,


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 46<br />

dass der Mön<strong>ch</strong> heftig und unwirs<strong>ch</strong> diskutierte, während Marina eher verunsi<strong>ch</strong>ert s<strong>ch</strong>ien. Na<strong>ch</strong><br />

einer Weile unterbra<strong>ch</strong> Aguilár die Diskussion. »Sie versteht es ni<strong>ch</strong>t! I<strong>ch</strong> habe versu<strong>ch</strong>t, ihr dieses...<br />

dieses Instrument begreifli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en, do<strong>ch</strong> vergebli<strong>ch</strong>. Für sie ist es eine Zauberbü<strong>ch</strong>se!<br />

Sie will wissen, wel<strong>ch</strong>e Ma<strong>ch</strong>t Ihr damit auszuüben imstande seid. I<strong>ch</strong> habe ihr gesagt, dass sie<br />

ketzeris<strong>ch</strong>e Gedanken hegt, aber au<strong>ch</strong> das hat sie ni<strong>ch</strong>t begriffen.« Der Franziskaner ereiferte<br />

si<strong>ch</strong>.<br />

»Hört zu, Aguilár, das ist ni<strong>ch</strong>t verwunderli<strong>ch</strong>. Wie sollte sie etwas begreifen, das ihr völlig<br />

fremd ist? Selbst uns ers<strong>ch</strong>eint die physica der Materie no<strong>ch</strong> immer geheimnisvoll, selbst wenn wir<br />

ihre Wirkungen kennen. Sagt ihr, dass i<strong>ch</strong> damit weder Ma<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> Einfluss ausübe, sondern nur<br />

den ri<strong>ch</strong>tigen Weg finde.«<br />

Aguilár widerspra<strong>ch</strong>: »Aber das Ding zeigt Eu<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> nur den Norden an! Wie kann i<strong>ch</strong> da<br />

sagen, es zeigt Eu<strong>ch</strong> den Weg?«<br />

»Der Kompass zeigt immer na<strong>ch</strong> Norden, au<strong>ch</strong> in der Na<strong>ch</strong>t und wenn die Sonne ni<strong>ch</strong>t<br />

s<strong>ch</strong>eint. Und davon kann man alle anderen Ri<strong>ch</strong>tungen ableiten. I<strong>ch</strong> muss es erklären, wie sie es<br />

versteht. Sagt es Ihr jetzt.«<br />

Der Frater übersetzte, und Marina antwortete ihm mit si<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>em Erstaunen. »Sie fragt, ob<br />

die Zauberbü<strong>ch</strong>se Eu<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> den Weg über das große Ostmeer gezeigt hat.«<br />

»Sagt ihr, gerade dort hat si<strong>ch</strong> ihre Kraft bewährt. Wir haben kein Land gesehen, do<strong>ch</strong> die<br />

Bussole zeigt uns, in wel<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tung wir den Bug unserer S<strong>ch</strong>iffe ri<strong>ch</strong>ten mussten. Und erklärt ihr,<br />

dass die Kompassrose ständig na<strong>ch</strong> Jerusalem zeigt, wo unser Herr am Kreuz gestorben ist.«<br />

Marina s<strong>ch</strong>aute mit s<strong>ch</strong>euer Ehrfur<strong>ch</strong>t auf den S<strong>ch</strong>iffskompass. Sie hatte s<strong>ch</strong>on gewusst:<br />

Mein Herr ist au<strong>ch</strong> ein mä<strong>ch</strong>tiger Zauberer! Er kam über den großen Ozean, und in der Zauberbü<strong>ch</strong>se<br />

ist eine S<strong>ch</strong>eibe – oder ist es ein Spiegel? – die ihm sagt, wo der Gott Xesu Quilisto von<br />

seinen Feinden ermordet wurde. Ihr Herr war unfassbar und rätselhaft!<br />

Cortés drängte zum Weitermars<strong>ch</strong>, und bald zog das Heer wieder westwärts. Jenseits der<br />

Dünen breitete si<strong>ch</strong> eine öde, steinige Ebene aus. Der Mars<strong>ch</strong> war wenig reizvoll und anstrengend<br />

in der grellen Junisonne. Wasser war knapp und die Vegetation spärli<strong>ch</strong>, dafür hatten sie einen<br />

überwältigenden Anblick auf die in der Ferne emporragende Kordillerenkette.<br />

Na<strong>ch</strong> der Vorhut war das Gros des Heeres und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong>, ni<strong>ch</strong>t ohne Mühe, au<strong>ch</strong> die Artillerie<br />

und der Tross über die Düne in die Ebene gelangt. Als einer der letzten, in Begleitung seines<br />

neu gewonnenen Freundes Juan Velásquez de León und des Pagen Orteguilla, ritt Cortés hinter<br />

der Na<strong>ch</strong>hut und sah zum ersten Mal den beängstigend hohen, s<strong>ch</strong>neebedeckten Bergwall, den es<br />

zu übersteigen galt. Zwei glets<strong>ch</strong>erweiße Spitzen vor allem, der später von den Spaniern Cofre de<br />

Perote genannte erlos<strong>ch</strong>ene Vulkan im Norden und der no<strong>ch</strong> höhere Pico de Orizaba im Süden,<br />

überragten das gewaltige Gebirge. Neben dem siebzehntausend Fuß hohen Orizaba ers<strong>ch</strong>ienen<br />

alle Berge, die Cortés in seiner Heimat gesehen hatte, wie lä<strong>ch</strong>erli<strong>ch</strong>e Hügel. Dem Generalkapitän<br />

dämmerte allmähli<strong>ch</strong>, wel<strong>ch</strong>e Strapazen sie erwarten würden; trotzdem sagte er lei<strong>ch</strong>thin zu<br />

Velásquez de León: »Glei<strong>ch</strong> beim ersten S<strong>ch</strong>auspiel, das si<strong>ch</strong> uns bietet, wird die Alte Welt von<br />

der Neuen in den S<strong>ch</strong>atten gestellt! Die kaiserli<strong>ch</strong>en Kartographen werden begierig sein, den Namen<br />

dieses Ungetüms zu erfahren. Ob der Berg wohl einen Namen hat?«<br />

»Der Berg dort im Süden heißt Citlaltépetl, Euer Gnaden!«, sagte der Page. Er war der Sohn<br />

eines Infanteristen, ein s<strong>ch</strong>öner Knabe von zwölf Jahren.<br />

»Wie?«, sagte Cortés. »Sitatpepet...? Der Teufel hat diese Spra<strong>ch</strong>e erfunden, um uns zu<br />

narren!«<br />

»Euer Gnaden spre<strong>ch</strong>en es fals<strong>ch</strong> aus. Ni<strong>ch</strong>t Sitatpepet, sondern Citlaltépetl – das bedeutet<br />

Sternberg. Citlatin heißt nämli<strong>ch</strong> Stern, und Tepetl heißt Berg.«<br />

»Du kannst Mexicanis<strong>ch</strong>?«, fragte Cortés erstaunt. »Wer hat es di<strong>ch</strong> gelehrt?«<br />

»Doña Marina«, antwortete der Page.<br />

Cortés s<strong>ch</strong>aute den Pagen na<strong>ch</strong>denkli<strong>ch</strong> an. Wenn Marina si<strong>ch</strong> mit Orteguilla unterhalten<br />

konnte, beherrs<strong>ch</strong>te sie das Spanis<strong>ch</strong>e wohl bald gut genug, dass man auf Aguilár als<br />

Mitübersetzer würde verzi<strong>ch</strong>ten können. Na<strong>ch</strong> einer Weile sagte er zu Velásquez de León: »I<strong>ch</strong><br />

habe es versu<strong>ch</strong>t, musste es aber aufgeben. Die Spra<strong>ch</strong>e lernt kein Erwa<strong>ch</strong>sener. Marina beherrs<strong>ch</strong>t<br />

sie, weil sie sie als Kind erlernt hat. Ni<strong>ch</strong>t umsonst nennen wie sie La Lengua – die Zunge.<br />

Was unsere Dolmets<strong>ch</strong>erin wert ist, hat uns jeder Tag gezeigt. Bald wird sie uns erst re<strong>ch</strong>t unentbehrli<strong>ch</strong><br />

sein. Do<strong>ch</strong> es könnte ihr etwas zustoßen, sie könnte erkranken – was Gott verhüte! I<strong>ch</strong>


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 47<br />

denke daher, es wäre angebra<strong>ch</strong>t, diesen Knaben das Mexicanis<strong>ch</strong>e gründli<strong>ch</strong> erlernen zu lassen.«<br />

»Gute Idee, i<strong>ch</strong> muss Euer Gnaden zustimmen«, antwortete Velásquez de León. »Der Verstand<br />

eines Kindes ist wie ein S<strong>ch</strong>wamm; seine Ohren lassen mehr ein als unsere Augen. Ein Kind<br />

lernt diese Teufelsspra<strong>ch</strong>e spielend. Und der Orteguilla zeigt Lust und Begabung dafür. Wenn wir<br />

in die Stadt Cempoala zum dicken Kaziken kommen, sollte man ihm den Knaben in die Lehre geben.«<br />

Cortés nickte und winkte dem Pagen, ihm ras<strong>ch</strong> zu folgen. Dann ritt er an den Tross heran.<br />

Die Frauen des Heeres gingen zu Fuß. Nur die rei<strong>ch</strong>e Abenteuerin María de Estrada hatte den<br />

Rappen des Puertocarrero erstanden, als die Karavelle mit der Bots<strong>ch</strong>aft des Heeres an Kaiser<br />

Karl na<strong>ch</strong> Europa lossegelte. Und gegen Bezahlung waren au<strong>ch</strong> der Stahlpanzer des Montejo und<br />

sein Helm in ihren Besitz übergegangen. Sie ritt unternehmungslustig im Gros des Heeres unter<br />

den Reitern und Hauptleuten. Die anderen Frauen aber s<strong>ch</strong>ritten ho<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>ürzt und der Hitze wegen<br />

halb entkleidet mitten im Tross dahin, breite, strohgeflo<strong>ch</strong>tene Federhüte auf den Köpfen und<br />

Bündel auf dem Rücken.<br />

Von zwei Negersklaven wurde in einer vom Tis<strong>ch</strong>ler Cristóbal de Jaén aus<br />

Kassavebrotkisten gezimmerten Sänfte die Sklavin Marina getragen. Dies hatte Cortés angeordnet,<br />

damit sie ni<strong>ch</strong>t ermüde, ni<strong>ch</strong>t erkranke und ni<strong>ch</strong>t in die Gefahr komme, von Dornen gesto<strong>ch</strong>en<br />

oder einer S<strong>ch</strong>lange gebissen zu werden. Marina war unersetzli<strong>ch</strong>! Weil er den Neid der zu Fuß<br />

gehenden Damen und ihrer Liebhaber kannte, hatte er einem seiner vornehmsten Soldaten, dem<br />

rei<strong>ch</strong>en und ni<strong>ch</strong>t mehr jungen Juan Pérez Arteaga, Befehl erteilt, nie von Marinas Sänfte zu wei<strong>ch</strong>en<br />

und ihr Bes<strong>ch</strong>ützer, Hofmeister, Diener und Gesells<strong>ch</strong>after zu sein.<br />

Als er ihre Sänfte errei<strong>ch</strong>te, sagte er, der Knabe Orteguilla werde ihr von nun an als Page<br />

dienen. Dafür sollte sie ihn Mexicanis<strong>ch</strong> lehren. Marina s<strong>ch</strong>wieg vor Ergriffenheit. Wennglei<strong>ch</strong> sie<br />

Sklavin war, hatte sie einen ho<strong>ch</strong> angesehenen Hofmeister und nun au<strong>ch</strong> einen zierli<strong>ch</strong>en Pagen.<br />

Sie da<strong>ch</strong>te an Josef in Ägypten und das blutige Hemd.<br />

Frater Aguilár, der Dolmets<strong>ch</strong>er, ging auf der anderen Seite der Sänfte. Als Marina wie zufällig<br />

hinübers<strong>ch</strong>aute, sah sie seinen versengenden Blick auf si<strong>ch</strong> geri<strong>ch</strong>tet. Sie ers<strong>ch</strong>rak und wandte<br />

si<strong>ch</strong> unwillig ab. Es war ni<strong>ch</strong>t das erste Mal, dass der Asket sie anstarrte, do<strong>ch</strong> wenn Aguilár mit ihr<br />

spra<strong>ch</strong>, hielt er stets den Blick gesenkt. Was hatte das zu bedeuten? War es Eifersu<strong>ch</strong>t, Neid oder<br />

Anbetung?<br />

*<br />

Zwei Tage später hinderte ein von hohen Bäumen umsäumter breiter Fluss mit starkem Gefälle<br />

den Weitermars<strong>ch</strong>. Obwohl in weiser Voraussi<strong>ch</strong>t zwei Boote mitgeführt wurden, dauerte es do<strong>ch</strong><br />

Stunden, bis das ganze Heer übergesetzt war. Auf den Na<strong>ch</strong>en, in denen jeweils nur wenige Mann<br />

Platz fanden, konnten die Pferde und die Artillerie ni<strong>ch</strong>t hinübergebra<strong>ch</strong>t werden; und das Herri<strong>ch</strong>ten<br />

der Flöße nahm viel Zeit in Anspru<strong>ch</strong>. So zogen es einige vor, hinüberzus<strong>ch</strong>wimmen. Bernal<br />

Díaz del Castillo, der Ritterli<strong>ch</strong>e, war der erste, der si<strong>ch</strong> in den Fluss wagte. Als er glückli<strong>ch</strong> ans<br />

andere Ufer gelangt war, folgten sein Freund Martín Ramós und no<strong>ch</strong> einige Soldaten, darunter<br />

Pedro de Tirado, Gonzalo Domínguez und Galleguillo, der kleine Galicier. Andere konnten gegen<br />

die reißende Strömung ni<strong>ch</strong>t ankämpfen und kehrten um.<br />

Da entledigte si<strong>ch</strong> María de Estrada, die blondlockige Amazone, ihres Helms und Panzers<br />

und warf die Kleider ab. Die Weißhand Lope Cano stieg mit der Mulattin Beatriz de Acevedo in<br />

einen der Na<strong>ch</strong>en; María bat ihn, Rüstung und Kleider mit hinüberzunehmen. Als sie ihr Hemd<br />

abwarf, stießen alle, die am Ufer zusahen, S<strong>ch</strong>reie der Bewunderung aus; knabens<strong>ch</strong>lank stieg sie<br />

ins Wasser, und als sie zu s<strong>ch</strong>wimmen begann, s<strong>ch</strong>illerten S<strong>ch</strong>enkel und Hüften wie leu<strong>ch</strong>tendes<br />

Emaille im s<strong>ch</strong>äumenden Wasser. María de Estrada s<strong>ch</strong>wamm neben dem Boot und gab s<strong>ch</strong>lagfertig<br />

und fröhli<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>erze der Insassen zurück. Der Mulattin Beatriz de Acevedo war vom<br />

S<strong>ch</strong>aukeln des Bootes s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t geworden. Sie hatte si<strong>ch</strong> Cano auf den S<strong>ch</strong>oß gesetzt und ums<strong>ch</strong>lang<br />

mit den Armen seinen Hals. Plötzli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>rie sie auf und zeigte auf den aus dem Wasser<br />

ragenden Kopf eines Kaimans. Der große Alligator näherte si<strong>ch</strong> ras<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>wimmenden, die ihn<br />

– vom S<strong>ch</strong>rei gewarnt – jetzt ebenfalls sah. Die Ruderer im Boot waren ohne Waffen. Cano hatte


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 48<br />

die Hände ni<strong>ch</strong>t frei, musste si<strong>ch</strong> erst von der Umklammerung der Mulattin befreien. Ihm blieb gerade<br />

no<strong>ch</strong> Zeit genug, eine Hellebarde zu ergreifen und sie dem Kaiman in den Ra<strong>ch</strong>en zu stoßen.<br />

Das Tier vers<strong>ch</strong>wand mitsamt der Hellebarde. María war gerettet und konnte unversehrt das Ufer<br />

errei<strong>ch</strong>en. Nackt wie sie war, ging sie auf Lope Cano zu, als dieser aus dem Boot stieg, und küsste<br />

seine saubere Hand.<br />

»Mein Leben war verloren, Señor! Es gehört in Zukunft Eu<strong>ch</strong>!«, sagte sie mit strahlendem<br />

Blick. Die Mulattin Beatriz de Acevedo bekam einen Weinkrampf und war ni<strong>ch</strong>t mehr zu beruhigen.<br />

Ihr alter Gatte, der kahlköpfige Suárez, musste sie davontragen.<br />

Erst am späten Na<strong>ch</strong>mittag, na<strong>ch</strong>dem die Artilleristen die Ges<strong>ch</strong>ütze, die Singende Na<strong>ch</strong>tigall<br />

und die anderen Kanonen, Kartaunen, Feuers<strong>ch</strong>langen und Falkonette über den Fluss ges<strong>ch</strong>afft<br />

hatten, konnte der Mars<strong>ch</strong> fortgesetzt werden. Da der Fluss na<strong>ch</strong> Westen abbog, befahl<br />

Cortés, am Ufer entlang zu ziehen. Die Lands<strong>ch</strong>aft wurde freundli<strong>ch</strong>. War den Soldaten der steinige<br />

Weg bis zum Fluss wie der Weg in die Hölle ers<strong>ch</strong>ienen, so glaubten sie si<strong>ch</strong> jetzt in ein Land<br />

der Seligen versetzt. Sie hatten die Küstengegend, die ihnen bislang so öde ers<strong>ch</strong>ienen war, das<br />

»glühende Land« genannt, la tierra caliente. Jetzt tauften sie die Gegend um und nannten sie das<br />

»irdis<strong>ch</strong>e Paradies«, el paraíso terrestre. Im hohen Gras blühten exotis<strong>ch</strong>e Blumen, von handgroßen<br />

Atlasfaltern, Kolibris und Honigsaugern ums<strong>ch</strong>wirrt. Sie sahen äsende Hirs<strong>ch</strong>herden in der<br />

Ferne. Marder, Gürteltiere und Kanin<strong>ch</strong>en sprangen davon; in tropis<strong>ch</strong>em Gebüs<strong>ch</strong> hingen Faultiere,<br />

tollten und kreis<strong>ch</strong>ten Affen, s<strong>ch</strong>warze Wassermarder und Papageien.<br />

Cortés s<strong>ch</strong>ickte einen Trupp Berittener aus, Fris<strong>ch</strong>fleis<strong>ch</strong> zu jagen. Die Mars<strong>ch</strong>ierenden legten<br />

in Erwartung eines saftigen Abends<strong>ch</strong>mauses im Mars<strong>ch</strong>tempo zu, do<strong>ch</strong> einige wenige erfreuten<br />

si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> an den Blumen. Ein gutmütiger kleiner Soldat, Hernándo Alonso aus Villanueva, der<br />

während der Grijalva-Expedition bei den Kämpfen in Tabasco seinen linken Arm eingebüßt hatte,<br />

trat aus Reih und Glied, um eine Cypurablüte zu pflücken. Er hatte ni<strong>ch</strong>t beda<strong>ch</strong>t, dass der jähzornige<br />

Hauptmann Avila hinter ihm ritt. Flu<strong>ch</strong>end galoppierte Avila mit angelegtem Speer heran und<br />

dur<strong>ch</strong>bohrte dem Einarmigen den leeren Ärmel. Das ma<strong>ch</strong>te viel böses Blut. Der kleine Soldat<br />

aber wurde – weil es im Heer no<strong>ch</strong> mehr Einarmige gab – von nun an el Maneguillo de Villanueva<br />

genannt, der Einarmige von Villanueva.<br />

Gegen Abend errei<strong>ch</strong>ten sie ein Dorf, do<strong>ch</strong> außer ein paar Truthühnern trafen sie niemand<br />

an. Die Dorfbewohner hatten die Soldaten heranfluten sehen; in panis<strong>ch</strong>er Angst vor den Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en,<br />

den Reitern, und der Dogge Becerrico, die sie für einen abgeri<strong>ch</strong>teten Puma hielten,<br />

hatten sie das Weite gesu<strong>ch</strong>t.<br />

Hier wurde das Na<strong>ch</strong>tlager aufges<strong>ch</strong>lagen. Indianis<strong>ch</strong>e Männer zur Hilfeleistung, aber mehr<br />

no<strong>ch</strong> indianis<strong>ch</strong>e Mäd<strong>ch</strong>en zum Zeitvertreib wären erwüns<strong>ch</strong>t gewesen. An Fackeln, Ko<strong>ch</strong>gerät<br />

und Mahlsteinen fehlte es ni<strong>ch</strong>t; Feuer brannten no<strong>ch</strong> in den Herden der sauberen, mit Stroh und<br />

Binsen pilzförmig überdeckten Hütten. Von Kaktusfeigen, Zwergbohnen, Mais und Chayotte – einer<br />

kürbisartigen Fru<strong>ch</strong>t – fanden si<strong>ch</strong> rei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Vorräte, und die Jäger hatten etli<strong>ch</strong>e Hirs<strong>ch</strong>e und<br />

eine ganze Reihe Kanin<strong>ch</strong>en erlegt.<br />

Wenig höher als die Häuser erhob si<strong>ch</strong> am Dorfende eine bes<strong>ch</strong>eidene, aus Lehm erbaute<br />

Tempelpyramide. Der Namenlose stieg die Stufen des verlassenen Gotteshauses empor. Auf der<br />

kleinen Plattform vor dem Heiligtum wandte er si<strong>ch</strong> um und ließ den Blick über die Grasebene<br />

s<strong>ch</strong>weifen, von deren leu<strong>ch</strong>tendem Wiesengrün si<strong>ch</strong> die langen blauen Abends<strong>ch</strong>atten der Bäume<br />

und Berge dunkel abhoben. Mit dem Armstumpf bes<strong>ch</strong>attete er seine Augen, während die untergehende<br />

Sonne Frieden auf die Lands<strong>ch</strong>aft ringsum senkte. Selbst das Klappern und Lärmen der<br />

im Dorf si<strong>ch</strong> tummelnden Soldaten klang wie aus weiter Ferne herauf. Er war von allen der Einzige,<br />

der die S<strong>ch</strong>önheit dieser Stunde empfand. Ein Kardinalsvogel sang im nahen Gebüs<strong>ch</strong>, und<br />

zwei Reiher, mit lang herabhängenden, pendelnden Beinen, flogen am violetten Himmel der Sonne<br />

zu. Angerührt vom Zauber der Stunde ging er in den Tempelraum hinein, kam aber glei<strong>ch</strong> darauf<br />

wieder herausgestürzt und floh entsetzt ins Lager zurück.<br />

Er s<strong>ch</strong>aute verstört. Die Kameraden fragten ihn, was los sei. »Der Tempel!« Er wies na<strong>ch</strong><br />

oben. »Geht selbst hin... i<strong>ch</strong> kann es ni<strong>ch</strong>t bes<strong>ch</strong>reiben!«, stieß er hervor.<br />

Dort fanden sie fünf ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tete Kinder! Vor kaum einer Stunde mo<strong>ch</strong>ten die armen Wesen<br />

geopfert worden sein. Marina erklärte es: Die Dorfbewohner wollten die weißen Götter besänftigen,<br />

denn ihr Herannahen hatte die Leute in S<strong>ch</strong>recken versetzt. S<strong>ch</strong>recken soll den S<strong>ch</strong>recken<br />

bannen! Den Kindern – drei Knaben und zwei Mäd<strong>ch</strong>en – waren die Brustkörbe aufges<strong>ch</strong>nitten, die


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 49<br />

Herzen herausgerissen und Arme und Beine abgehackt worden. Die Gliedmaßen hatten die Dorfbewohner<br />

mitgenommen, um sie zu verzehren, wie es dem Ritus entspra<strong>ch</strong>. Den weißen Göttern<br />

war das Opfer dargebra<strong>ch</strong>t; do<strong>ch</strong> die weißen Götter lehnten es ab.<br />

»Sol<strong>ch</strong>e Gräuel auszurotten, ist unser Ziel. Dafür wollen wir unser Leben hingeben!«, rief Pater<br />

Olmedo aus. Was er sagte, empfanden die meisten. Mo<strong>ch</strong>te Abenteuerlust oder Goldgier sie in<br />

dieses Land gelockt haben, so hielten sie si<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> vor allem für Kreuzritter.<br />

*<br />

Vor den Zelten brannten die Feuer, brodelten die Kessel. Die Marketenderin Catalina Márquez<br />

hatte ihre Augen überall, war überall, half überall und wis<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>weiß von den roten<br />

Wangen – mit Re<strong>ch</strong>t trug sie den Spitznamen die Goldhyazinte. In Gruppen saßen und lagen die<br />

Männer um die Feuer, s<strong>ch</strong>wätzten, la<strong>ch</strong>ten, aßen. Den Gräuel der geopferten Kinder hatten die<br />

rauen Männer ras<strong>ch</strong> verdrängt. Die flackernden Flammen malten wabernde Flecke auf die Lederwämser,<br />

Stahlwaffen, Sturmhauben und sonnenverbrannten Gesi<strong>ch</strong>ter.<br />

Au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Na<strong>ch</strong>tmahl wollte si<strong>ch</strong> keine Müdigkeit einstellen – kurz war der Tagesmars<strong>ch</strong><br />

gewesen. Der Mond hatte die Sonne abgelöst; sein blei<strong>ch</strong>er Metallglanz tau<strong>ch</strong>te in den von<br />

den Wiesen ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>leiernden Nebel. Weißglühende, heus<strong>ch</strong>reckengroße Leu<strong>ch</strong>tkäfer flogen umher.<br />

Ein Kojote heulte irgendwo weit draußen in der Grasebene, und Moro und Becerrico antworteten<br />

mit sehnsü<strong>ch</strong>tigem Gebell.<br />

»Wir wollen tanzen!«, rief el Niño, der feiste Alonso Luís. Der Bergmann und Tanzmeister<br />

Ortiz stimmte seine Gitarre und rief na<strong>ch</strong> La Bailadora. Sie hatte soeben ihren S<strong>ch</strong>ützling, den<br />

blinden Knaben Pan<strong>ch</strong>o Luna, s<strong>ch</strong>lafen gelegt. Als sie vernahm, dass ihr Tanz begehrt werde,<br />

kleidete sie si<strong>ch</strong> um und ers<strong>ch</strong>ien alsbald in einem kurzen, kaum bis zu den Knien rei<strong>ch</strong>enden<br />

Röck<strong>ch</strong>en und einem straff ges<strong>ch</strong>nürten Mieder. Winzige Messings<strong>ch</strong>eiben an Rock und Mieder<br />

klirrten bei jedem ihrer S<strong>ch</strong>ritte; auf dem Kopf trug sie eine Kappe, auf der – wie S<strong>ch</strong>uppen eines<br />

Goldkarpfens übereinander gesetzt – ebenfalls Messingplätt<strong>ch</strong>en genäht waren. Ihre s<strong>ch</strong>warze<br />

Lockenmähne quoll verführeris<strong>ch</strong> darunter hervor.<br />

Der Tanzmeister Ortiz stimmte das Lied Unsere Frau der Sieben S<strong>ch</strong>werter an, und La<br />

Bailadora tanzte! Andä<strong>ch</strong>tig und konzentriert, voller Hingabe zwang sie die Soldaten zu lautloser<br />

Anda<strong>ch</strong>t. Sie zeigte ihre Blöße, do<strong>ch</strong> ihr Tanz war Gebet, und keinem der Spanier wäre etwas anderes<br />

dazu eingefallen. Als sie geendet hatte und si<strong>ch</strong> ermüdet, mit rot glühenden Wangen, dem<br />

Beifall zu entziehen su<strong>ch</strong>te, kam Jacobo Hurtado, der Rei<strong>ch</strong>e, auf sie zu.<br />

»Werde mein Weib«, flüsterte er. »I<strong>ch</strong> meine es ni<strong>ch</strong>t wie die anderen. Pater Olmedo soll<br />

uns trauen!«<br />

Sie entwand si<strong>ch</strong> seinem Griff und su<strong>ch</strong>te Zuflu<strong>ch</strong>t bei ihrem blinden Knaben.<br />

Dann tanzten au<strong>ch</strong> die anderen, die Soldaten und die mitreisenden Frauen. Sogar der bucklige,<br />

stets missmutige Narr Cervantes wurde von der allgemeinen Ausgelassenheit mitgerissen,<br />

sprang und wats<strong>ch</strong>elte grotesk umher, Arm in Arm mit dem verrückten Physikus und Apotheker de<br />

Cerro. Der Bogens<strong>ch</strong>ütze Pedro de Tirado aber drehte si<strong>ch</strong> zierli<strong>ch</strong> im Kreise, wobei er die vornehme<br />

Pilar de Elgueta herzhaft an si<strong>ch</strong> drückte. Und während er darüber na<strong>ch</strong>sann, wie federlei<strong>ch</strong>t<br />

sie in seinen Armen lag, reifte sein Ents<strong>ch</strong>luss, sie no<strong>ch</strong> fester an si<strong>ch</strong> zu fesseln.<br />

María de Estrada hatte si<strong>ch</strong> ihren Lebensretter Lope Cano zum Tänzer gewählt. Aus<br />

S<strong>ch</strong>merz darüber warf si<strong>ch</strong> die Mulattin Beatriz de Acevedo dem wüsten Mansilla, dem Durstigen,<br />

an den Hals. Dass au<strong>ch</strong> die anderen Frauen sehr umworben waren, versteht si<strong>ch</strong> von selbst. Dolores<br />

de Cuenca, die eine S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e für Italiener hatte, tanzte mit dem Venezianer Maldonato, einem<br />

frühreifen, se<strong>ch</strong>zehnjährigen Burs<strong>ch</strong>en. Und Isabel de Ojeda, die olivenblei<strong>ch</strong>e, ließ si<strong>ch</strong> vom<br />

stattli<strong>ch</strong>en Alonso de Barrientos im Kreise herumwirbeln.<br />

Da trat der junge Fähnri<strong>ch</strong> Antonio Villaroel an sie heran und rei<strong>ch</strong>te ihr zwei große, grünbraune<br />

Or<strong>ch</strong>isblumen. Er war der Untergebene des Diego de Ordás. Eitel war er auf diese fris<strong>ch</strong>en<br />

Lorbeeren, eitler aber no<strong>ch</strong> auf sein anziehendes Äußeres. Sein Kummer war sein bürgerli<strong>ch</strong>er<br />

Name, der dem des portugiesis<strong>ch</strong>en Markgrafen Villareal so ähnli<strong>ch</strong> klang. Neuerdings nannte er<br />

si<strong>ch</strong> Villareal statt Villaroel. Er überrei<strong>ch</strong>te Isabel die Blumen und sagte:<br />

»Don Diego de Ordás s<strong>ch</strong>ickt Eu<strong>ch</strong>, Doña Isabel, diese Venuss<strong>ch</strong>uhe als Wahrzei<strong>ch</strong>en sei-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 50<br />

ner Liebe und als Bewunderung für Eure liebreizenden, kleinen Füße.«<br />

Die olivenblei<strong>ch</strong>e Isabel sah ihn nur an. »I<strong>ch</strong> bin s<strong>ch</strong>uldlos an seiner Liebe, Señor«, sagte<br />

sie.<br />

»Wollt Ihr den alten Mann so kränken, Doña Isabel, und seinen Gruß zurückweisen?«, fragte<br />

Villareal beinahe flehentli<strong>ch</strong>.<br />

Isabel warf ihm einen abweisenden Blick zu. Do<strong>ch</strong> bald glätteten si<strong>ch</strong> ihre Züge. Sie wunderte<br />

si<strong>ch</strong>, dass sie diesen Jüngling bisher ni<strong>ch</strong>t bea<strong>ch</strong>tet hatte. Gewiss war er einer der S<strong>ch</strong>önsten im<br />

Heer. Und sie war – das wusste sie – die S<strong>ch</strong>önste!<br />

»I<strong>ch</strong> will die Blumen nehmen, Señor, weil sie aus Eurer Hand kommen!«, sagte sie. »Geht zu<br />

Eurem Herrn Don Diego und überbringt ihm meinen Dank und meinen Kuss, den i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> für ihn<br />

gebe!« Isabel beugte si<strong>ch</strong> vor und küsste ihn auf den Mund.<br />

Hauptmann Ordás hatte diesen Auftritt von weitem beoba<strong>ch</strong>tet. Als Villareal ihm Isabels Bots<strong>ch</strong>aft<br />

ausri<strong>ch</strong>tete, nickte er nur s<strong>ch</strong>wermütig. Auf den Kuss verzi<strong>ch</strong>tete er. Einsam inmitten der<br />

tollenden Lebenslust stieg er die Tempeltreppen hinauf und nahm auf der obersten Stufe Platz. Er<br />

kannte Isabel de Ojeda und ihren jüngeren Bruder Alonso seit ihrer Kindheit. Vor zehn Jahren war<br />

er Reisebegleiter und Freund ihres Vaters gewesen – jenes pra<strong>ch</strong>tvollen, unglückli<strong>ch</strong>en Alonso de<br />

Ojeda, der die Küstenstri<strong>ch</strong>e nördli<strong>ch</strong> des Orinoko entdeckt und dem Land, seiner Pfahlbauten<br />

wegen, den Namen Venezuela gegeben hatte, Klein-Venedig.<br />

Die Lebensges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te von Isabels Vater mutete wie eine Sage aus der<br />

Wikingerzeit an. Als vor Jahren Königin Isabella von Kastilien in seiner Heimatstadt<br />

Salamanca zu Besu<strong>ch</strong> auf weißem Zelter dur<strong>ch</strong> die Gassen ritt,<br />

stieg er, ein Jüngling no<strong>ch</strong>, auf den hohen Giralda-Turm, wo ein zwanzig Fuß<br />

langer Balken aus einem Fenster ragte. Alonso s<strong>ch</strong>ritt auf dem s<strong>ch</strong>malen Balken<br />

dahin, bis ans Ende, und hob ein Bein, wobei er si<strong>ch</strong> im Kreis drehte.<br />

S<strong>ch</strong>on glaubten Volk und Königin, er stürze herab. Do<strong>ch</strong> ohne zu s<strong>ch</strong>wanken,<br />

kehrte er ans Fenster zurück und verbeugte si<strong>ch</strong> anmutig vor Isabella. Sie<br />

nahm ihn in ihren Dienst!<br />

Alonso de Ojeda (um 1466–1516),<br />

spanis<strong>ch</strong>er Seefahrer und Entdecker<br />

Na<strong>ch</strong> der Entdeckung Venezuelas wurde er vom Vorsteher der indianis<strong>ch</strong>en Angelegenheiten,<br />

dem Bis<strong>ch</strong>of Fonseca von Burgos, zum Gobernador des an Veragua grenzenden Landes<br />

Urabá ernannt. Mehr als den Titel gab ihm Spanien ni<strong>ch</strong>t; den Besitz der ihm verliehenen Provinz<br />

sollte er si<strong>ch</strong> erst erkämpfen. Der erste Kartograph Amerikas, Juan de la Cosa, und Diego de<br />

Ordás begleiteten Ojeda auf dieser s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t ausgerüsteten, dem Untergang geweihten Expedition.<br />

Um die indianis<strong>ch</strong>e Stadt Calamar einzunehmen, war Ojeda mit Juan de la Cosa und siebzig Mann<br />

an Land gegangen; seinem Freund Ordás hatte er die Aufsi<strong>ch</strong>t über die Karavellen übertragen. Als<br />

na<strong>ch</strong> fünf Tagen keiner der Ausgezogenen zur Küste zurückkehrte, bra<strong>ch</strong> Ordás mit Bewaffneten<br />

auf, die Gefährten zu su<strong>ch</strong>en. Sie fanden sie in einem Wald, tot, alle siebzig niedergemetzelt; die<br />

Lei<strong>ch</strong>e des Kartographen war s<strong>ch</strong>warz, aufgedunsen und entstellt vom Pfeilgift der Indianer. Nur<br />

Ojeda fehlte. Weitab von den anderen wurde au<strong>ch</strong> er s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> entdeckt, im Gebüs<strong>ch</strong> liegend,<br />

fast verhungert, halb verblutet, do<strong>ch</strong> ohne Giftwunden. Es war ihm gelungen, si<strong>ch</strong> zu verstecken<br />

und dank seiner Löwennatur zu überleben. In seinem S<strong>ch</strong>ild staken dreißig Pfeile.<br />

Beim nä<strong>ch</strong>sten, diesmal siegrei<strong>ch</strong>en Gefe<strong>ch</strong>t mit Indianern dur<strong>ch</strong>bohrte ein Giftpfeil den<br />

S<strong>ch</strong>enkel Ojedas. Da befahl er seinem Arzt, eine Eisenstange weiß glühend zu ma<strong>ch</strong>en und dur<strong>ch</strong><br />

den S<strong>ch</strong>enkel zu stoßen. S<strong>ch</strong>reckensblei<strong>ch</strong> weigerte si<strong>ch</strong> der Arzt, bis Ojeda ihm den Galgen androhte.<br />

Während der grässli<strong>ch</strong>en Prozedur ließ Ojeda si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t festhalten, wie man<strong>ch</strong> anderer es<br />

getan hätte; er setzte si<strong>ch</strong> so, dass er Zus<strong>ch</strong>auer der Ausbrennung wurde. Das weiß glühende<br />

Eisen verkohlte ni<strong>ch</strong>t nur einen <strong>Teil</strong> des S<strong>ch</strong>enkels, es dörrte au<strong>ch</strong> den übrigen Körper so sehr,<br />

dass Bau<strong>ch</strong>, Brust und Hals no<strong>ch</strong> lange herna<strong>ch</strong> mit Weinessig gekühlt werden mussten.<br />

Der Mangel an Lebensmitteln trieb das dezimierte Eroberungsheer bald zur Verzweiflung.<br />

Die Ankunft eines genuesis<strong>ch</strong>en Korsaren mit Namen Talavera, auf dessen S<strong>ch</strong>iff si<strong>ch</strong> viel Piratenbeute<br />

befand, bra<strong>ch</strong>te wieder Hoffnung. Die Soldaten gaben ihre Habe her, um dem Seeräuber


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 51<br />

Brot und gesalzenes Fleis<strong>ch</strong> abzukaufen. Ojeda konnte den Korsaren überreden, ihn und seine<br />

Leute na<strong>ch</strong> Haiti zu bringen. Mit Diego de Ordás und den übrigen Begleitern bestieg der Statthalter<br />

das S<strong>ch</strong>iff des Freibeuters. Ein Sturm vers<strong>ch</strong>lug es an die Westspitze Kubas; dann zers<strong>ch</strong>ellte es<br />

in der Meerenge zwis<strong>ch</strong>en Kuba und Yucatán. Ein <strong>Teil</strong> der Besatzung rettete si<strong>ch</strong> auf die Insel<br />

Cozumel, fiel den Eingeborenen in die Hände und wurde einer na<strong>ch</strong> dem andern verspeist. Nur<br />

zwei kamen mit dem Leben davon: der Frater Jerónimo de Aguilár, der spätere Dolmets<strong>ch</strong>er des<br />

Cortés, und jener Matrose Gonzalo Guerrero, der es vorzog, Indianer zu bleiben, als er die Mögli<strong>ch</strong>keit<br />

hatte, zu den Christen zurückzukehren.<br />

Den anderen S<strong>ch</strong>iffbrü<strong>ch</strong>igen aber gelang es, an Planken und S<strong>ch</strong>iffstrümmer geklammert,<br />

die östli<strong>ch</strong> gelegene, äußerste Spitze der lang gestreckten Insel Kuba zu errei<strong>ch</strong>en. Von dort bis zu<br />

den europäis<strong>ch</strong>en Niederlassungen war ein Fußmars<strong>ch</strong> von Wo<strong>ch</strong>en zu bewältigen. Er führte<br />

dur<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wülfeu<strong>ch</strong>ten Ds<strong>ch</strong>ungel und endlosen Morast. Als ein indianis<strong>ch</strong>es Kanu gefunden wurde,<br />

befahl Ojeda, Ordás solle na<strong>ch</strong> Jamaica hinüberrudern, um Hilfe zu erbitten. Der Statthalter<br />

s<strong>ch</strong>ickte umgehend eine Karavelle mit Lebensmitteln, Kleidung und Hilfsmanns<strong>ch</strong>aften ab, obwohl<br />

Ojeda einst ges<strong>ch</strong>woren hatte, ihm den Garaus zu ma<strong>ch</strong>en, wenn er ihn träfe. Der Anführer dieses<br />

S<strong>ch</strong>iffes war Pánfilo de Narváez, der Neffe des Diego de Velásquez, des Statthalters von Kuba.<br />

Die Gestrandeten wurden an Bord gebra<strong>ch</strong>t. Als das Kanu mit Ojeda an der Karavelle anlegte,<br />

rief ihm der redegewandte Pánfilo de Narváez mit mä<strong>ch</strong>tiger Stimme freundli<strong>ch</strong>e Trostworte zu<br />

und begrüßte den in Lumpen gekleideten, gebro<strong>ch</strong>enen Mann als Statthalter von Urabá. Do<strong>ch</strong><br />

Ojeda antwortete darauf nur:<br />

»Mi remo no rema.« Mein Ruder reagiert ni<strong>ch</strong>t mehr!<br />

Wenige Monate später starb er an Ers<strong>ch</strong>öpfung. Der Gobernador von Urabá hinterließ nur<br />

S<strong>ch</strong>ulden und zwei Kinder, die a<strong>ch</strong>tjährige Isabel und ihren um ein Jahr jüngeren Bruder. Ordás<br />

nahm si<strong>ch</strong> der beiden Waisen an und gab ihnen die Erziehung, wie sie Kindern eines Statthalters<br />

zukam. Seine väterli<strong>ch</strong>e Zuneigung wurde zur Vergötterung, als Isabel zu außergewöhnli<strong>ch</strong>er<br />

S<strong>ch</strong>önheit heranwu<strong>ch</strong>s. Um sie ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>utzlos zurückzulassen, hatte er sie und ihren Bruder Alonso<br />

überredet, mit na<strong>ch</strong> Mexico zu ziehen. Er wollte der Wä<strong>ch</strong>ter ihrer S<strong>ch</strong>önheit sein und hoffte, ihr<br />

mehr sein zu können. Sie aber dankte ihm auf eine Weise, die wehtat.<br />

*<br />

Spät an diesem Abend hielt der Kämmerer Rodrigo Rangel wieder eine Anspra<strong>ch</strong>e an Cortés:<br />

»Wäre i<strong>ch</strong> eine Kuh in Andalusien, i<strong>ch</strong> würde bei einem Gang dur<strong>ch</strong> die Gassen Sevillas den Kopf<br />

ni<strong>ch</strong>t unmutiger s<strong>ch</strong>ütteln als i<strong>ch</strong> es hier tun muss, auf dem Weg ins Fabelland Mexico. In Sevilla<br />

gibt es Fleis<strong>ch</strong>erläden – ja, ein bitterer Anblick für eine Kuh. Do<strong>ch</strong> hier gibt es einen Opfertempel –<br />

ein bitterer Anblick für einen Mens<strong>ch</strong>en! Su<strong>ch</strong>e i<strong>ch</strong> aber na<strong>ch</strong> einem Unters<strong>ch</strong>ied, dann finde i<strong>ch</strong><br />

keinen. Würde Moctezuma ein Stück Mens<strong>ch</strong>enfleis<strong>ch</strong> essen, wenn er denken könnte wie wir?<br />

Würden wir ein Stück Rindfleis<strong>ch</strong> essen, wenn wir denken könnten wie eine Kuh? Das ist es: Wir<br />

denken ni<strong>ch</strong>t, wenn wir essen! Dem Namenlosen ist die Hand bei lebendigem Leibe abgehackt<br />

und auf den S<strong>ch</strong>indanger geworfen worden, wo sie von Ratten und anderem Ges<strong>ch</strong>meiß gedankenlos<br />

zernagt wurde; die Indianer aber hacken den Lei<strong>ch</strong>en die Arme ab, bereiten sie appetitli<strong>ch</strong><br />

zu mit Öl, Pfeffer und anderen Gewürzen, s<strong>ch</strong>moren sie, verzehren sie selbst und sagen: ›I<strong>ch</strong> kaue<br />

und esse meinen Gott!‹ I<strong>ch</strong> bitte Euer Liebden, was ist <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>er? Dass Avila den leeren Ärmel<br />

Maneguillos de Villanueva dur<strong>ch</strong>bohrt, oder wenn Ordás einen toten Walfis<strong>ch</strong> aufspießt? Kann ein<br />

toter Fis<strong>ch</strong> den Tod verdienen? So wenig wie ein leerer Ärmel. So wenig wie ein rotes Tu<strong>ch</strong>. Aber<br />

au<strong>ch</strong> die Stiere denken ni<strong>ch</strong>t; nur die Kuh tut es, weil sie besinnli<strong>ch</strong> ist und keinem Ziel na<strong>ch</strong>jagt.<br />

Womit i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t behauptet haben will, dass ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> Pferde denken. Aber was denkt si<strong>ch</strong> so ein<br />

Pferd, wie der Hengst des Tanzmeisters Ortiz, wenn es unablässig wiehernd hinter der Stute des<br />

rei<strong>ch</strong>en Hurtado hertrabt? Oder wenn der Jammergaul Lope Cano hinter María de Estrada (die i<strong>ch</strong><br />

für eine verzauberte Edelstute halte) hertrabt? Hat das einen Sinn? Verdient ein toter Fis<strong>ch</strong> den<br />

Tod, mö<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong>mals fragen. Nein, er verdient den Tod ni<strong>ch</strong>t! Au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t den Opfertod; au<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t den Tod im Fleis<strong>ch</strong>erladen. Folgli<strong>ch</strong> – um es kurz zu ma<strong>ch</strong>en – sollten wir ziellos sein. Nur<br />

das würde uns befähigen, zu beruhigt-unbesorgten Kühen zu werden.« So spra<strong>ch</strong> Rodrigo Rangel.<br />

Am nä<strong>ch</strong>sten Morgen wurde der caudillo unerwartet früh geweckt. Pedro, ein getaufter India-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 52<br />

nersklave aus Manzanilla auf Kuba, war aus Veracruz mit einem Brief des alten Escalante eingetroffen.<br />

Cortés überflog den Brief und gab Martín de Gamba, dem Stallmeister, den Auftrag, den<br />

Romo zu satteln. Glei<strong>ch</strong>zeitig ließ er Alvarado, Sandoval und den Kavalleristen Enrico Lares in<br />

sein Zelt bitten.<br />

»Escalante s<strong>ch</strong>reibt«, sagte er, »dass si<strong>ch</strong> ein fremdes S<strong>ch</strong>iff dem Hafen nähert, und er erbittet<br />

Verhaltensmaßregeln. Zum Glück sind wir no<strong>ch</strong> nahe genug, dass i<strong>ch</strong> selbst hinreiten und<br />

na<strong>ch</strong> dem Re<strong>ch</strong>ten s<strong>ch</strong>auen kann. Viellei<strong>ch</strong>t will uns Diego de Velásquez einen Besu<strong>ch</strong> abstatten.<br />

I<strong>ch</strong> nehme Eu<strong>ch</strong>, Sandoval und Lares, als Begleiter mit. Und Ihr, Alvarado, sollt mi<strong>ch</strong> während<br />

meiner Abwesenheit vertreten. I<strong>ch</strong> weiß, dass die Leute Eu<strong>ch</strong> mögen und Ihr daher keine S<strong>ch</strong>wierigkeiten<br />

zu erwarten habt; aber haltet die Zügel ni<strong>ch</strong>t zu locker!«<br />

*<br />

Die drei Reiter s<strong>ch</strong>lugen einen s<strong>ch</strong>arfen Trab an. Mühelos hielt der Indianer Pedro S<strong>ch</strong>ritt mit ihnen,<br />

als wäre er ein nebenher tollender Windhund. Sie benötigten zwei Stunden na<strong>ch</strong> Veracruz;<br />

das Heer hatte dafür einen Tag gebrau<strong>ch</strong>t.<br />

Das S<strong>ch</strong>iff war inzwis<strong>ch</strong>en gelandet. Der alte Escalante erzählte, der S<strong>ch</strong>iffskapitän sei ein<br />

gewisser Francisco de Salcedo. Aus Veragna kommend, habe er in La Havanna zu spät von der<br />

Unternehmung des Cortés gehört, habe si<strong>ch</strong> mit zehn unzufriedenen Soldaten zusammengetan,<br />

habe ein S<strong>ch</strong>iff und drei Pferde gekauft und sei ihnen na<strong>ch</strong>gereist, ohne Wissen des Statthalters<br />

Don Diego de Velásquez.<br />

»Mein guter Stern hat ihn hergeführt«, meinte Cortés. »Zehn Mann sind uns viel wert; und<br />

no<strong>ch</strong> mehr wert sind uns ihre drei Pferde!«<br />

Da irrte er freili<strong>ch</strong>. Denn als er auf den Marktplatz ritt, wo vor dem halb fertigen Magistratsgebäude<br />

die Neuankömmlinge auf ihn warteten, stellte si<strong>ch</strong> heraus, dass mit den Pferden kein<br />

Staat zu ma<strong>ch</strong>en war: das eine hatte die Mauke und musste in Veracruz zurückgelassen werden;<br />

die beiden anderen lahmten und waren infolge der Seefahrt ausgemergelt. Die Männer jedo<strong>ch</strong><br />

waren gesund und tatkräftig.<br />

Der Anführer Salcedo gefiel Cortés am wenigsten. Der Mann trug eine Freundli<strong>ch</strong>keit zur<br />

S<strong>ch</strong>au, die ihn misstrauis<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>te. Wenn er ein Bein über das andere s<strong>ch</strong>lug, geziert den Ellenbogen<br />

und den kleinen Finger hob, sein S<strong>ch</strong>nurrbärt<strong>ch</strong>en strei<strong>ch</strong>elte, vor allem aber, wenn er mit<br />

einer zur S<strong>ch</strong>au getragenen Eleganz spra<strong>ch</strong>, konnten Cortés und seine Begleiter si<strong>ch</strong> eines ironis<strong>ch</strong>en<br />

Lä<strong>ch</strong>elns nur s<strong>ch</strong>wer erwehren. Salcedo war ein aufgeblasener Lackaffe!<br />

»Wir haben Bernal Díaz unre<strong>ch</strong>t getan«, flüsterte Cortés Sandoval ins Ohr, »als wir ihn den<br />

Ritterli<strong>ch</strong>en nannten! Er wird den Spottnamen abtreten müssen!«<br />

Leutnant Luis Marín ma<strong>ch</strong>te da einen besseren Eindruck. Er war ein hässli<strong>ch</strong>er Kerl – grobs<strong>ch</strong>lä<strong>ch</strong>tig,<br />

rotbärtig, blatternarbig, mit Säbelbeinen, breiten Wangenkno<strong>ch</strong>en und einer auffallenden<br />

Spitznase; do<strong>ch</strong> in grauen Augen spiegelte si<strong>ch</strong> Besonnenheit. Sandoval erkannte in dem<br />

Blatternarbigen mit dem roten Vollbart einen Jugendfreund, von dem er ni<strong>ch</strong>ts mehr gehört hatte,<br />

seit er von Europa fort war. Der ein paar Jahre jüngere Sandoval hatte einst in seinen Jugendjahren<br />

mit Luis Marín und dessen Freund Pedro Baracoa, dem prahleris<strong>ch</strong>en Aufs<strong>ch</strong>neider, man<strong>ch</strong>e<br />

Na<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>wärmt. Nun überbra<strong>ch</strong>te Marín ihm Grüße von seinem Vater, dem Festungskommandanten<br />

Gregorio de Sandoval. Als Cortés den Leutnant befragte, antwortete er sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und<br />

kurz. Cortés fühlte sofort, dass er einen tü<strong>ch</strong>tigen Offizier vor si<strong>ch</strong> habe.<br />

Ein baumlanger Kerl stand neben Luis Marín: der Infanterist Antonio de Quiñones, stämmig<br />

und lässig in der Haltung, mit pe<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>warzem, verwildert-struppigem Bart und ebensol<strong>ch</strong>em Haar;<br />

s<strong>ch</strong>malstirnig, brutal und gutmütigem Gesi<strong>ch</strong>t. Dass dieser Se<strong>ch</strong>sundzwanzigjährige sein Lebensretter<br />

werden würde, konnte Cortés ni<strong>ch</strong>t ahnen; aber dass sein guter Stern ihm einen Dienst erwies,<br />

indem er ihm diesen Mann zuführte, sagte ihm die Mens<strong>ch</strong>enkenntnis.<br />

Da standen au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> zwei Freunde, s<strong>ch</strong>lank und gepflegt: die Reiter Francisco Martín de<br />

Vendobal und Don Pedro Gallejo. Auf der Universität zu Salamanca hatten sie si<strong>ch</strong> gefunden und<br />

waren unzertrennli<strong>ch</strong>. Die Hidalgos unters<strong>ch</strong>ieden si<strong>ch</strong> von den meisten der unter diesem Himmelsstri<strong>ch</strong><br />

dem Eldorado na<strong>ch</strong>jagenden Abenteurern dur<strong>ch</strong> ihre Universitätsbildung und das anerzogene<br />

Kavaliertum. Sie waren ernste und s<strong>ch</strong>weigsame Männer, besonders Don Pedro Gallejo,


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 53<br />

wie es Cortés s<strong>ch</strong>ien.<br />

Cortés ordnete an, dass Pedro, der flinke Läufer, die Neuangekommenen zum Feldlager begleiten<br />

solle. Er selbst ritt, na<strong>ch</strong> einstündigem Aufenthalt, mit Sandoval und Enrico Lares zurück.<br />

Als sie das Stadttor hinter si<strong>ch</strong> hatten, sagte Cortés zu Sandoval:<br />

»Zu einem Freund wie diesem Luis Marín kann i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> nur beglückwüns<strong>ch</strong>en, Señor. Dass<br />

aber Pedro Baracoa Euer Freund ist, nimmt mi<strong>ch</strong> wunder!«<br />

»I<strong>ch</strong> war vierzehn Jahre alt, als i<strong>ch</strong> ihn kennen lernte, Euer Gnaden! I<strong>ch</strong> staunte ihn an wie<br />

ein Meerwunder, weil er mir sein Erlebnis mit dem Grafen de Urueña und einem Don Pedro Jirón<br />

erzählte«, antwortete Sandoval und fügte na<strong>ch</strong> einer Pause hinzu: »I<strong>ch</strong> hatte derglei<strong>ch</strong>en nie vernommen<br />

und habe seitdem au<strong>ch</strong> nie Ähnli<strong>ch</strong>es gehört.«<br />

»Vom Grafen de Urueña«, sagte Cortés, »soll Baracoa au<strong>ch</strong> jetzt no<strong>ch</strong> immerwährend fabulieren,<br />

sobald er ein Glas zu viel getrunken hat. Aber niemand glaubt ihm, wie i<strong>ch</strong> hörte. Der Graf<br />

de Urueña ist ein großer Herr, ein Grande von Spanien. Muss man ni<strong>ch</strong>t annehmen, dass Baracoa<br />

lügt?«<br />

»Er mag viellei<strong>ch</strong>t ein wenig übertreiben, Euer Gnaden. Aber er lügt ni<strong>ch</strong>t.«<br />

»Ist das ein Unters<strong>ch</strong>ied, Señor?«<br />

»Gewiss. Wie zwis<strong>ch</strong>en einem Körper und einem Kleid. Er s<strong>ch</strong>neidet nur das Kleid zure<strong>ch</strong>t,<br />

wenn er prahlt. Pedro Baracoa hat ni<strong>ch</strong>t umsonst den Spitznamen fanfarrón sin obra, Prahlhans<br />

ohne Leistungen.«<br />

»So, so. I<strong>ch</strong> hoffe, Ihr habt Re<strong>ch</strong>t, und er hat si<strong>ch</strong>'s ni<strong>ch</strong>t aus den Fingern gesogen. Erzählt<br />

mir Baracoas Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te!«<br />

»Eine seltsame Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, Euer Gnaden.«<br />

»Erzählt, Señor. Es wird uns die Zeit vertreiben.«<br />

Und Sandoval erzählte. Als Sohn eines Tu<strong>ch</strong>webers war Pedro Baracoa zur Welt gekommen;<br />

in seiner Jugend hatte er zwar keine Lese- und Re<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>ule besu<strong>ch</strong>t, war aber dur<strong>ch</strong> die<br />

harte S<strong>ch</strong>ule der Not gegangen. Im Alter von zwanzig Jahren, na<strong>ch</strong>dem er si<strong>ch</strong> als Lastträger, Kü<strong>ch</strong>enjunge,<br />

Eseltreiber, Glasbläser, Orangenverkäufer, ja, sogar als S<strong>ch</strong>neiderlehrling versu<strong>ch</strong>t<br />

hatte, verdingte er si<strong>ch</strong> beim Grafen de Urueña als Stallkne<strong>ch</strong>t, wo er lernte, Pferde zu füttern und<br />

zu striegeln. Na<strong>ch</strong> einiger Zeit stieg er zum Reitkne<strong>ch</strong>t auf und durfte den Grafen bei seinen Ausritten<br />

begleiten. So ging es eine Zeit lang. Eines Morgens, als sie aus einem Wald auf eine Wiese<br />

kamen, verlangsamte der Graf den Trab und ließ – was er no<strong>ch</strong> nie getan hatte – den Reitkne<strong>ch</strong>t<br />

neben si<strong>ch</strong> kommen.<br />

»Willst du dir ein Stück Geld verdienen, Burs<strong>ch</strong>e?«, fragte er ihn unvermittelt.<br />

Pedro Baracoa gestand, dass für ihn ein Stück Geld keine Kleinigkeit sei. Der Graf fuhr fort:<br />

»In meinem Haus wohnt ein Weibsstück, das ihrem Namen und ihrer Familie S<strong>ch</strong>ande ma<strong>ch</strong>t.«<br />

Der Graf s<strong>ch</strong>wieg eine Weile. Und Baracoa sann verwundert über seine Worte na<strong>ch</strong>. Denn<br />

no<strong>ch</strong> nie war ihm zu Ohren gekommen, dass der alte Witwer eine lei<strong>ch</strong>te Person bei si<strong>ch</strong> beherbergte.<br />

Der Graf fuhr fort:<br />

»Na<strong>ch</strong>dem sie si<strong>ch</strong> herumgetrieben und si<strong>ch</strong> mit allerlei Lumpenpack eingelassen hatte,<br />

steckte man sie ins Kloster. Fünfmal. Aber jedes Mal wurde sie von einem Liebhaber befreit. Kein<br />

Kloster nimmt sie mehr auf. Die Ärzte behaupten, sie sei krank, mannstoll. Nur ein Mann könne sie<br />

heilen. Aber wel<strong>ch</strong>er Mann ihres Ranges würde sie nehmen! Und wäre sie no<strong>ch</strong> rei<strong>ch</strong>er, als sie's<br />

s<strong>ch</strong>on ist – ein getragenes Hemd kauft kein Edelmann. Darum raten mir die Ärzte, ihr einen Galan<br />

zu su<strong>ch</strong>en, damit das Gerede ein Ende hat.«<br />

Wieder s<strong>ch</strong>wieg der Graf. Dem Reitkne<strong>ch</strong>t aber s<strong>ch</strong>lug bereits das Herz bis zum Hals.<br />

»I<strong>ch</strong> habe di<strong>ch</strong> dazu ausersehen, Burs<strong>ch</strong>e«, sagte s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> der Graf. »Du sollst gut dafür<br />

bezahlt werden.«<br />

Am Abend desselben Tages wurde der Reitkne<strong>ch</strong>t mit verbundenen Augen von einem alten<br />

Diener über Treppen und dur<strong>ch</strong> Säle und Korridore in ein Zimmer geführt. Dort nahm der Diener<br />

ihm die Binde von den Augen, ließ ihn allein und s<strong>ch</strong>loss die Tür. Pedro Baracoa befand si<strong>ch</strong> in<br />

einem s<strong>ch</strong>ummerig von einer Ampel beleu<strong>ch</strong>teten S<strong>ch</strong>lafzimmer. Goldene Ledertapeten, Ölgemälde<br />

in goldenen Rahmen, Gobelins an den Wänden. Auf einem Prunkbett lag, nur mit einem Spitzenhemd<br />

bekleidet, ein junges Mäd<strong>ch</strong>en, etwa a<strong>ch</strong>tzehnjährig, mit blonden Locken und weißer<br />

Haut. Baracoa war verwirrt und unsi<strong>ch</strong>er, wollte fliehen, aber die Tür war ja vers<strong>ch</strong>lossen.<br />

»Pedro«, hau<strong>ch</strong>te das Mäd<strong>ch</strong>en und streckte ihm sehnsü<strong>ch</strong>tig die Arme entgegen.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 54<br />

Als er si<strong>ch</strong> näherte, starrte sie ihn an, s<strong>ch</strong>rie auf und bra<strong>ch</strong> in wildes S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zen aus.<br />

»Ihr seid ni<strong>ch</strong>t Pedro! Wer seid Ihr, was wollt Ihr?«<br />

Sie s<strong>ch</strong>rie um Hilfe, jammerte, flehte. Ihre S<strong>ch</strong>reie verhallten ungehört. Sie kratzte ihm blutige<br />

Striemen ins Gesi<strong>ch</strong>t, biss ihn in die Finger. Es half ihr ni<strong>ch</strong>ts.<br />

Seit jener Na<strong>ch</strong>t wurde er immer wieder zu ihr geführt. Er hatte keinen Grund zu klagen.<br />

Geld hatte er nun mehr als je zuvor, und da sie ihn bald besser behandelte, ni<strong>ch</strong>t mehr kratzte und<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr um si<strong>ch</strong> biss wie eine Wildkatze, ja, na<strong>ch</strong> einiger Zeit sogar zärtli<strong>ch</strong> zu ihm wurde, entwarfen<br />

sie Flu<strong>ch</strong>tpläne. Sie würde ihn heiraten, aber nur, wenn sie von hier fort kämen!<br />

In einer stürmis<strong>ch</strong>en Herbstna<strong>ch</strong>t gelang es ihm, die Bewa<strong>ch</strong>er zu überlisten und seine Geliebte<br />

aus dem S<strong>ch</strong>loss zu entführen. Einen <strong>Teil</strong> des erworbenen Geldes hatte er verwendet, in<br />

einem Dorf der Umgegend einen Kaplan zu beste<strong>ch</strong>en, der die heimli<strong>ch</strong>e Ehe einsegnen sollte.<br />

Sie rannten auf vers<strong>ch</strong>wiegenen Pfaden über die na<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>warze Ebene, der Kir<strong>ch</strong>e entgegen,<br />

deren Tür offen stand. Kerzenli<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>ien matt in die Na<strong>ch</strong>t. Der Kaplan wartete s<strong>ch</strong>on auf<br />

das Paar. Da sprengten geharnis<strong>ch</strong>te Reiter heran. Der Vorderste sprang aus dem Sattel und hielt<br />

dem Kaplan eine Muskete unter die Nase.<br />

»I<strong>ch</strong> heiße Don Pedro Jirón, und diese Doncella ist meine Braut. Ihr werdet uns trauen, wenn<br />

Ihr vernünftig seid!«<br />

Pedro Baracoa erlaubte si<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>eiden zu bemerken, dass die Braut seine Braut sei. Die<br />

Umstehenden bra<strong>ch</strong>en höhnis<strong>ch</strong>es Gelä<strong>ch</strong>ter aus.<br />

»Die To<strong>ch</strong>ter des Grafen de Urueña? Seid Ihr verrückt?«<br />

Als er das hörte, glaubte er es fast au<strong>ch</strong>, denn das Fräulein sagte zu ihrem Verlobten – ganz<br />

leise zwar, do<strong>ch</strong> so, dass Pedro Baracoa es hören konnte: »I<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>rieb Eu<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong>, dass der<br />

Mann, der mi<strong>ch</strong> herbegleiten werde, ni<strong>ch</strong>t re<strong>ch</strong>t bei Verstand sei. Es ist ein Reitkne<strong>ch</strong>t meines Vaters.«<br />

»Dann mag er als Trauzeuge hier bleiben. Mi<strong>ch</strong> stört er ni<strong>ch</strong>t!«, rief Don Pedro Jirón.<br />

So ges<strong>ch</strong>ah es. Pedro Baracoa blieb und wohnte der Zeremonie verwirrt bei. Der Fris<strong>ch</strong>vermählte<br />

ließ si<strong>ch</strong> von ihm den Steigbügel halten, als er si<strong>ch</strong> triumphierend wieder in den Sattel<br />

s<strong>ch</strong>wang. Für das Herauss<strong>ch</strong>muggeln der jungen Frau aus dem väterli<strong>ch</strong>en Gefängnis gab er dem<br />

Reitkne<strong>ch</strong>t ein großzügiges Trinkgeld.<br />

Das aber war Pedro Baracoa zu viel. Er erwa<strong>ch</strong>te aus seiner <strong>Teil</strong>nahmslosigkeit, sprang auf,<br />

stieß Jirón ein Messer in den Rücken und floh in die Dunkelheit der wolkenverhangenen Ebene.<br />

Später erfuhr er, dass der Dol<strong>ch</strong>stoß ni<strong>ch</strong>t tödli<strong>ch</strong> gewesen war. Der alte Graf aber ließ ihm trotzdem<br />

einige Hundert Pesos auszahlen.<br />

»Eine unglaubli<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, fürwahr«, sagte Cortés. »Do<strong>ch</strong> mir fällt auf, dass Ihr ni<strong>ch</strong>t<br />

mehr so oft stottert. Wie habt Ihr das ges<strong>ch</strong>afft?«<br />

»I<strong>ch</strong> weiß es au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t! Seit Ihr mi<strong>ch</strong> befördert habt, Señor Capitán, fühle i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> freier und<br />

weniger behindert.«<br />

Cortés fand Sandovals Erzählung unterhaltsam. Besonders amüsierte es ihn, wie der alte<br />

Graf den Stallkne<strong>ch</strong>t seinem adligen S<strong>ch</strong>wiegersohn vorzog.<br />

»Dass Baracoa zum Messer griff«, sagte Sandoval, »versöhnt mit dem Vorangegangenen.«<br />

»Allerdings!«, meinte Cortés. »Blut ist ein gründli<strong>ch</strong>es Reinigungsmittel, besser als Seife.<br />

Vom Geld, das er bekam, kann er wohl sagen, es stinkt ni<strong>ch</strong>t – non olet –, seit es mit Blut gewas<strong>ch</strong>en<br />

wurde. Er hat ja au<strong>ch</strong> den Kaplan bezahlt, um seinen Nebenbuhler zu verheiraten.«<br />

Sie hatten inzwis<strong>ch</strong>en den Fluss errei<strong>ch</strong>t und ritten jetzt am Ufer entlang.<br />

»Was s<strong>ch</strong>wimmt da?«, fragte Cortés und bra<strong>ch</strong>te seinen Rappen zum Stehen.<br />

»Es s<strong>ch</strong>eint eine Tonne zu sein, Señor Capitán«, sagte der Reiter Lares.<br />

»Seht na<strong>ch</strong>!«, befahl Cortés.<br />

Lares ritt nah ans Ufer heran. Die Tonne war vom Geäst eines überhängenden Ceibabaums<br />

festgehalten worden und s<strong>ch</strong>wankte in der reißenden Strömung auf und ab. Lares kletterte auf den<br />

s<strong>ch</strong>räg über den Fluss geneigten Baumstamm, zerrte und s<strong>ch</strong>ob die Tonne ans Ufer und rollte sie<br />

dann Romo vor die Füße.<br />

»Die Tonne ist ni<strong>ch</strong>t leer, Señor Capitán!«, meldete er keu<strong>ch</strong>end.<br />

»Öffnet sie und s<strong>ch</strong>aut, was darin ist«, sagte Cortés. »Sie stammt aus unserem Lager, das<br />

ist klar. Und wir sind ni<strong>ch</strong>t so überrei<strong>ch</strong> an Lebensmitteln, dass wir sie sorglos in den Fluss werfen<br />

dürfen.«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 55<br />

»I<strong>ch</strong> ka-kann mir ni<strong>ch</strong>t de-de-denken, dass einer aus unserem Heer so etwas tun würde.«<br />

Sandoval fing wieder an zu stottern, wie au<strong>ch</strong> weiterhin, wenn er aufgeregt war.<br />

»Der Galgen wäre zu gelinde für ihn«, meinte Lares.<br />

Sandoval stieg vom Pferd und half Lares, die Tonne zu öffnen. Sie würden wohl gesalzenes<br />

Fleis<strong>ch</strong> oder Kassavemehl finden. Aber dann bot si<strong>ch</strong> ihnen ein grausiger Anblick: In der Tonne<br />

steckten fünf Wesen: ein Mens<strong>ch</strong>, eine Ratte, ein Marder, ein Affenweib<strong>ch</strong>en und eine Gifts<strong>ch</strong>lange.<br />

Ein encubamiento, die Lyn<strong>ch</strong>justiz, hatte die fünf Sterbensgenossen lebendig in die Tonne gepfer<strong>ch</strong>t<br />

und in den Fluss geworfen. Der Mens<strong>ch</strong>, der Truthahn und das Affenweib<strong>ch</strong>en waren tot.<br />

Die Ratte und die Gifts<strong>ch</strong>lange aber lebten no<strong>ch</strong>. Die Ratte hüpfte über den Rand und flü<strong>ch</strong>tete ins<br />

Ufergras; die S<strong>ch</strong>lange kro<strong>ch</strong> davon.<br />

Die encubamiento genannte Tötung eines Mens<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong> eine aufgeregte Menge war damals<br />

no<strong>ch</strong> häufig in Spanien, allen Regierungsverboten zum Trotz. Eigentli<strong>ch</strong> mussten dem Verurteilten<br />

ein Hund, ein Hahn, ein Affenweib<strong>ch</strong>en und eine Viper in die Tonne beigegeben werden –<br />

alle no<strong>ch</strong> lebend. In Ermangelung eines Hahnes hatte man einen Truthahn genommen; und da<br />

Becerrico und Moro zu wertvoll waren, war der Hund dur<strong>ch</strong> eine Ratte ersetzt worden.<br />

»Wer ist es?«, fragte Cortés.<br />

»Der alte Suárez, der Mann der Mulattin Beatriz de Acevedo!«, sagte Lares.<br />

»Lebt der Alte no<strong>ch</strong>?«, fragte Cortés, rot vor Zorn.<br />

»Nein, Euer Gnaden. Die S<strong>ch</strong>lange hat ihn gebissen.«<br />

»Kommt, meine Herren, Alvarado muss Rede und Antwort stehen!«<br />

*<br />

Marina wartete im Zelt auf Cortés. Sie hörte ein Geräus<strong>ch</strong>, und plötzli<strong>ch</strong> stand der Dolmets<strong>ch</strong>er<br />

Aguilár da. Marina sprang vom Feldstuhl auf; Aguilárs Blick war ihr unheimli<strong>ch</strong>.<br />

»Was wollt Ihr?«, fuhr sie ihn an.<br />

»Marina!«, stöhnte er.<br />

Aguilár warf si<strong>ch</strong> vor ihr auf die Knie, küsste den Saum ihres Kleides und versu<strong>ch</strong>te, den Arm<br />

um ihre Hüfte zu legen. Sie riss ihm den Rock aus den Händen, stieß ihn von si<strong>ch</strong>.<br />

»Geht!«, herrs<strong>ch</strong>te sie ihn an. »Geht, oder i<strong>ch</strong> rufe um Hilfe!«<br />

Er keu<strong>ch</strong>te, rang na<strong>ch</strong> Atem. »Nein, hört mi<strong>ch</strong> an. I<strong>ch</strong> bin in Not! Nur Ihr könnt mir helfen! Nur<br />

Eu<strong>ch</strong> kann i<strong>ch</strong> bei<strong>ch</strong>ten!«<br />

»I<strong>ch</strong> bin ni<strong>ch</strong>t Pater Olmedo!«, sagte sie mit Spott.<br />

»Hört mi<strong>ch</strong> an«, flehte er. »I<strong>ch</strong> bin ein Verflu<strong>ch</strong>ter! I<strong>ch</strong> habe ni<strong>ch</strong>t alles erzählt von der<br />

Keus<strong>ch</strong>heitsprobe des Kaziken. Es wird mi<strong>ch</strong> befreien, wenn i<strong>ch</strong> es erzähle. Na<strong>ch</strong>dem die Mäd<strong>ch</strong>en<br />

mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verführen konnten, ließ der Maya-Fürst mi<strong>ch</strong> in der vierten Na<strong>ch</strong>t allein mit einer<br />

kleinen Nackten, die no<strong>ch</strong> liebreizender war als die anderen. Und ihr war der Tod in Aussi<strong>ch</strong>t gestellt,<br />

wenn es ihr ni<strong>ch</strong>t gelänge, mi<strong>ch</strong> zur Sünde zu verleiten. Do<strong>ch</strong> mein Gebet zu Gott ma<strong>ch</strong>te<br />

mi<strong>ch</strong> hart. Der Stolz auf meine Keus<strong>ch</strong>heit war stärker als die Lust und das Mitleid mit dem Kind.<br />

Das Kind weinte, und als der Morgen dämmerte, s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zte es laut aus Fur<strong>ch</strong>t vor dem Tod. I<strong>ch</strong><br />

hatte die Wahl, entweder mi<strong>ch</strong> zu retten oder das Kind. I<strong>ch</strong> habe mi<strong>ch</strong> gerettet und zugelassen,<br />

dass das Mäd<strong>ch</strong>en grauenvoll ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet wurde. Seitdem ist meine Keus<strong>ch</strong>heit verflu<strong>ch</strong>t: Das<br />

tote Kind hat si<strong>ch</strong> gerä<strong>ch</strong>t und rä<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> immerzu; sein Bild verfolgt mi<strong>ch</strong>. Und die Soldaten halten<br />

mi<strong>ch</strong> für einen Heiligen! Mi<strong>ch</strong>, der i<strong>ch</strong> ein Sünder bin! Nur du kannst mir die Last von der Seele<br />

nehmen, Marina! Das Bild der Kleinen s<strong>ch</strong>windet vor deinem reinen Anblick. Halte mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t für so<br />

wahnwitzig, dass i<strong>ch</strong> glauben könnte, du würdest mi<strong>ch</strong> je lieben, aber erlaube mir, dass i<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong><br />

liebe.«<br />

Marina hatte ihm ers<strong>ch</strong>rocken zugehört. »Fraile«, antwortete sie, als sie si<strong>ch</strong> gefasst hatte,<br />

»am besten behaltet Ihr diese Erlebnisse für Eu<strong>ch</strong>. Die Männer und Frauen hier betra<strong>ch</strong>ten Eu<strong>ch</strong><br />

tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> als Heiligen – und i<strong>ch</strong> werde s<strong>ch</strong>weigen.«<br />

Aguilár s<strong>ch</strong>aute mit fiebrigem Blick auf Marina. »Nur du... i<strong>ch</strong> liebe di<strong>ch</strong>, Marina!«<br />

»Ihr seid ni<strong>ch</strong>t bei Trost! Reißt Eu<strong>ch</strong> zusammen, Aguilár! Ihr seid ni<strong>ch</strong>t mehr jung! Es wird<br />

Eu<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> wohl gelingen, dass Ihr Eu<strong>ch</strong> beherrs<strong>ch</strong>t!«<br />

Wieder wollte der Frater sie umarmen, do<strong>ch</strong> Marina wi<strong>ch</strong> ihm ges<strong>ch</strong>ickt aus. Da fuhr er sie


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 56<br />

unbeherrs<strong>ch</strong>t an: »Du bist vom Teufel gesandt! Du bist eine Hexe! Was du den Mexica übersetzt,<br />

sind ni<strong>ch</strong>t die Worte des caudillo! Und wie du Don Hernándo umgarnst, ist Arglist und S<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elei!«<br />

Marina wusste im Moment ni<strong>ch</strong>ts zu sagen. Von draußen war Pferdegetrappel zu vernehmen;<br />

dann hörte man Cortés rufen: »Alvarado! Wo ist Hauptmann Alvarado?« Aguilár war plötzli<strong>ch</strong><br />

vers<strong>ch</strong>wunden.<br />

Von Velásquez de León, den Cortés vor dem Zelt traf, erfuhr er, dass Alvarado mit Lugo,<br />

Olíd und Tapia auf die Jagd geritten sei; für die Zeit seiner Abwesenheit habe er Avila die Beaufsi<strong>ch</strong>tigung<br />

des Lagers übertragen.<br />

Böse lä<strong>ch</strong>elnd sagte Cortés: »Und Avila hat die Oberaufsi<strong>ch</strong>t dem Narren Cervantes übertragen!<br />

Und der Narr Cervantes, el <strong>ch</strong>ocarrero, hat sie dem Hund Becerrico übertragen! S<strong>ch</strong>uld bin<br />

nur i<strong>ch</strong>, dass i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t von vornherein über die Köpfe meiner Hauptleute weg den Hund Becerrico<br />

zum stellvertretenden Generalkapitän gema<strong>ch</strong>t habe!« Cortés war wütend, und Léon musste ihm<br />

beri<strong>ch</strong>ten, was vorgefallen war.<br />

Am frühen Morgen hatte man außerhalb des Lagers die Mulattin Beatriz de Acevedo mit zertrümmerter<br />

S<strong>ch</strong>ädeldecke aufgefunden. Man hielt sie für tot, und der Zimmermann Cristóbal de<br />

Jaén hämmerte s<strong>ch</strong>on an einem Sarg für sie. Do<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> einer Stunde wa<strong>ch</strong>te sie no<strong>ch</strong> einmal auf<br />

und bes<strong>ch</strong>uldigte ihren Gatten, den kahlköpfigen Suárez, ihr mit einem Mühlstein den S<strong>ch</strong>ädel einges<strong>ch</strong>lagen<br />

zu haben. Er hatte die vermeintli<strong>ch</strong> Tote heimli<strong>ch</strong> im Dunkel der Na<strong>ch</strong>t aus dem Lager<br />

ges<strong>ch</strong>afft in der Hoffnung, sie werde zwar vermisst, aber ni<strong>ch</strong>t gefunden. Dass sie mit dem S<strong>ch</strong>önhändigen<br />

oder dessen Freunden s<strong>ch</strong>äkerte, hatte er ihr immer na<strong>ch</strong>gesehen, aber dass sie si<strong>ch</strong><br />

dem derberen und weit weniger zurückhaltenden Mansilla, dem Durstigen, an den Hals geworfen<br />

hatte, konnte der Alte ni<strong>ch</strong>t ertragen.<br />

Na<strong>ch</strong> dieser Aussage fiel die Mulattin wieder in Ohnma<strong>ch</strong>t. Alle glaubten, sie sei nun gestorben.<br />

Da hatte si<strong>ch</strong> im Lager ein Geheul erhoben, dass alle zusammenliefen, und als von irgendwo<br />

das Wort »Tonne« gerufen wurde, fing die ra<strong>ch</strong>sü<strong>ch</strong>tige Menge das Wort wie einen Spielball auf,<br />

und eine Zeit lang hüpfte der Ball hierhin und dorthin. Ratte, Truthahn, Affenweib<strong>ch</strong>en und S<strong>ch</strong>lange<br />

waren bald herbeiges<strong>ch</strong>afft; nur der alte Suárez fehlte no<strong>ch</strong>. Au<strong>ch</strong> er wurde s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> gefunden,<br />

lei<strong>ch</strong>enblass, mit verweinten Augen. Und die Menge vollstreckte das Todesurteil!<br />

»Warum habt Ihr den Wahnsinn ni<strong>ch</strong>t verhindert, Señor?«, fuhr Cortés den Velásquez de<br />

León an.<br />

»I<strong>ch</strong> tat mein Mögli<strong>ch</strong>stes, Euer Gnaden. Aber Avila gab mir zu verstehen, dass der Oberbefehl<br />

ihm und ni<strong>ch</strong>t mir übertragen sei. I<strong>ch</strong> solle mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in Dinge mis<strong>ch</strong>en, die mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts angingen.<br />

Die Sa<strong>ch</strong>e geriet außer Kontrolle.«<br />

»Also hat er davon gewusst! Er ließ es ges<strong>ch</strong>ehen, und Ihr habt zuges<strong>ch</strong>aut!«, rief Cortés.<br />

»Und das sind die Hauptleute, mit denen i<strong>ch</strong> ein rebellis<strong>ch</strong>es Heer zum Sieg führen soll? Auf mein<br />

Gewissen, i<strong>ch</strong> zweifle an meiner Aufgabe!«<br />

Cortés s<strong>ch</strong>ickte na<strong>ch</strong> Avila, um ihn zur Rede zu stellen. Da kehrte Alvarado mit den anderen<br />

Hauptleuten von der Jagd zurück. Er strahlte übers ganze Gesi<strong>ch</strong>t, denn sie hatten einen Hirs<strong>ch</strong><br />

und viel anderes Wild erlegt. Cortés konnte ihm ni<strong>ch</strong>t ernstli<strong>ch</strong> zürnen, trotz seiner Pfli<strong>ch</strong>tvergessenheit.<br />

Er ma<strong>ch</strong>te ihm Vorhaltungen und erzählte ihm von der Tonne. Der versteckte Sarkasmus,<br />

mit dem Cortés seine Unzufriedenheit tarnte, bedrückte Alvarado. Seine gute Laune verflog. Er<br />

war bes<strong>ch</strong>ämt. Seitdem er den kleinen Soldaten Burgueños vom Galgen ges<strong>ch</strong>nitten hatte, war<br />

sein Verhältnis zu Avila belastet. Er hatte geglaubt, eine Gelegenheit zur Aussöhnung mit Avila<br />

gefunden zu haben, und dass es Avila s<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>eln musste, ihm statt einem der anderen Hauptleute<br />

den Oberbefehl zu übertragen.<br />

»Wie i<strong>ch</strong> ihn kenne, hat er das angestiftet, um mir eine Verlegenheit zu bereiten!«, rief Alvarado.<br />

Im glei<strong>ch</strong>en Augenblick kam Avila hinzu.<br />

»Hört, Señor«, sagte Cortés, »Ihr habt gestern dem Einarmigen aus Villanueva ein Lo<strong>ch</strong> in<br />

den leeren Ärmel gestoßen. I<strong>ch</strong> habe es gesehen, wollte es aber ni<strong>ch</strong>t sehen, denn sonst müsste<br />

i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> vor ein Kriegsgeri<strong>ch</strong>t stellen. Au<strong>ch</strong> was heute ges<strong>ch</strong>ehen ist, ist eine gesetzlose Zügellosigkeit.<br />

Aber sie soll um des Friedens im Heer ungesühnt bleiben. Do<strong>ch</strong> eine Verwarnung kann i<strong>ch</strong><br />

Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ersparen!«<br />

Avila antwortete unwirs<strong>ch</strong>; es kam zu einem heftigen Wortwe<strong>ch</strong>sel. Die anderen Feldobristen,<br />

weniger zartfühlend als Cortés, s<strong>ch</strong>ütteten ihren lange aufgestauten Zorn aus. Avila wehrte


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 57<br />

si<strong>ch</strong> wie ein Wolf gegen eine Hundemeute. Mit Alvarado verbiss er si<strong>ch</strong> so grimmig, dass beide die<br />

Rapiere zogen und getrennt werden mussten. Cortés untersagte streng, den Streit fortzusetzen. Er<br />

zwang die Wütenden, si<strong>ch</strong> die Hand zur Aussöhnung zu rei<strong>ch</strong>en. Aber seit diesem Tag blieben<br />

Avila und Alvarado heimli<strong>ch</strong>e Gegner.<br />

Als sie wieder allein waren, sagte Cortés zu Alvarado: »Wenn unsere Aufgabe s<strong>ch</strong>eitern sollte,<br />

wird es ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> die Feinde da draußen ges<strong>ch</strong>ehen. Uns werden Mens<strong>ch</strong>en in den Arm fallen,<br />

die uns näher stehen.«<br />

Beatriz de Acevedo erwa<strong>ch</strong>te später aus der Ohnma<strong>ch</strong>t, aber da konnte ni<strong>ch</strong>ts mehr rückgängig<br />

gema<strong>ch</strong>t werden. Der Sarg wurde zu ihrem Krankenbett und Transportbehälter, als die<br />

Truppe auf dem Weg na<strong>ch</strong> Mexico weiterzog.<br />

Mais<br />

6. Cempoala<br />

»Es lag den Leuten von Cempoala ungemein daran, dass wir in ihrem<br />

Gebiet verweilten, dieweil sie si<strong>ch</strong> immer mehr vor der Ra<strong>ch</strong>e des Königs<br />

Moctezuma für<strong>ch</strong>teten. Um ihr Bündnis mit uns zu festigen, tra<strong>ch</strong>teten sie<br />

dana<strong>ch</strong>, Cortés und seine Offiziere in Verwandts<strong>ch</strong>aft mit ihren Häuptlingen<br />

zu bringen, und so führten sie uns a<strong>ch</strong>t vornehme Indianerinnen zu.«<br />

(Denkwürdigkeiten des Feldhauptmanns Bernal Díaz del Castillo, Bild)<br />

Gegen Mittag traf Salcedo mit seiner Manns<strong>ch</strong>aft aus Veracruz ein. Der Mars<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Mexico<br />

konnte fortgesetzt werden. Niemand kannte den Weg. Irgendwo im Westen lag Eldorado, das<br />

Goldland – jenseits der Savanne und der S<strong>ch</strong>neeberge, unsi<strong>ch</strong>tbar, nebelfern wie der Smaragdfels<br />

des Ordás. Aber ni<strong>ch</strong>t einmal der Weg zur nahen Stadt Cempoala war bekannt. Ni<strong>ch</strong>t lange na<strong>ch</strong><br />

dem Aufbru<strong>ch</strong> wurde Cortés gemeldet, dass zwölf naturales, augens<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> in friedli<strong>ch</strong>er Absi<strong>ch</strong>t,<br />

dem Heer entgegenkämen. Marina und Aguilár fors<strong>ch</strong>ten sie aus. Totonaken wären sie, abgesandt<br />

von S<strong>ch</strong>ilfrohr (dem dicken Kaziken); sie brä<strong>ch</strong>ten Maisku<strong>ch</strong>en und Geflügel und böten ihre Dienste<br />

als Lastträger und Führer zu ihrer Hauptstadt Cempoala an.<br />

Se<strong>ch</strong>s der Totonaken behielt er bei si<strong>ch</strong>, die anderen s<strong>ch</strong>ickte er mit Ordás und einigen<br />

s<strong>ch</strong>nellfüßigen und kriegeris<strong>ch</strong> anzusehenden Infanteristen voraus in die Stadt. Er wählte Ordás<br />

vor allem deshalb, weil der hagere Ritter in seiner blaus<strong>ch</strong>warzen, strahlenden Turnierrüstung<br />

mehr als andere geeignet war, dem Volk von Cempoala einen Begriff von der Erhabenheit der<br />

weißen Göttersöhne zu geben.<br />

»Haltet die Augen offen!«, sagte Cortés zu ihm. »Indianer sind Indianer, au<strong>ch</strong> wenn sie<br />

Freunde sind. A<strong>ch</strong>tet auf jedes Zei<strong>ch</strong>en, das auf Heimtücke deuten könnte.«<br />

Unter der kleinen S<strong>ch</strong>ar, die Ordás begleitete, befanden si<strong>ch</strong> Tirado und der eben erst gelandete<br />

Quiñones. So gut zu Fuß sie au<strong>ch</strong> waren, konnten sie dem vorausreitenden Ritter kaum<br />

folgen, der si<strong>ch</strong> nie na<strong>ch</strong> ihnen ums<strong>ch</strong>aute. Umso häufiger s<strong>ch</strong>aute seine Graus<strong>ch</strong>immelstute si<strong>ch</strong><br />

na<strong>ch</strong> ihnen um und blieb sogar des Öfteren trotz Sporendruck des Ritters stehen – einfa<strong>ch</strong>, weil<br />

sie warten wollte.<br />

Bald und immer häufiger gelangten sie zu bebauten Feldern. Maisfelder, gut bestellt, von<br />

kleinen Wassergräben umzogen, we<strong>ch</strong>selten mit Feldern ab, auf denen Chillipfeffer, Kürbisse, Tabak,<br />

Zwergbohnen, Bataten und Baumwolle gepflanzt waren; dazwis<strong>ch</strong>en wu<strong>ch</strong>sen Kakaobäume,<br />

Kirs<strong>ch</strong>bäume und Bananenstauden. Und überall sah man die Traubengewinde dunklen Weines.<br />

Bald tau<strong>ch</strong>ten hinter den Hügeln Quadermauern und Turmzacken auf, unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> greifbar in<br />

der klaren Luft.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 58<br />

Der Einzug des Ordás gli<strong>ch</strong> einem Triumph. S<strong>ch</strong>on eine Meile vor der Stadt warteten Indianer,<br />

näherten si<strong>ch</strong> fur<strong>ch</strong>tlos; Frauen und Mäd<strong>ch</strong>en rei<strong>ch</strong>ten Frü<strong>ch</strong>te und Blumen. Das aber hielt auf<br />

und dauerte dem Ritter Ordás zu lange. Er ließ seine S<strong>ch</strong>ar im Sti<strong>ch</strong> und galoppierte allein der<br />

Stadt entgegen. Es grenzte an ein Wunder, dass er niemand in der Menge niederritt und niemanden<br />

zertrampelte und dass es ihm gelang, si<strong>ch</strong> und sein Pferd dur<strong>ch</strong> das verstopfte Tor zu bringen.<br />

Die Gassen waren von Mens<strong>ch</strong>en überfüllt. Ordás gelangte, umwogt von der flutenden Menge, auf<br />

einen großen Platz. Die Indianer staunten ehrfür<strong>ch</strong>tig. Alle wollten den Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en sehen,<br />

dieses Fabeltier mit den zwei Köpfen, zwei Armen und vier Beinen! Ehrfür<strong>ch</strong>tig knieten sie vor dem<br />

Wesen nieder und ließen Weihrau<strong>ch</strong> aus Kopal-Harz aufsteigen. Der Träumer Ordás ließ es si<strong>ch</strong><br />

gefallen und fand es ni<strong>ch</strong>t seltsam. Mäd<strong>ch</strong>en rei<strong>ch</strong>ten ihm Blumen. Er sah sie ni<strong>ch</strong>t. Er s<strong>ch</strong>ien nur<br />

eins zu sehen: die Häuser, die weißgetün<strong>ch</strong>ten Häuser. Das Li<strong>ch</strong>t taumelte und tanzte vor seinen<br />

Augen. Ordás, überwältigt, geblendet, s<strong>ch</strong>loss die Augen. Als er sie wieder öffnete, zuckte gewaltige<br />

Freude auf seinem kno<strong>ch</strong>enmageren Gesi<strong>ch</strong>t. Die Stadtbewohner ers<strong>ch</strong>raken – was ging mit<br />

dem Sohn der Sonne vor? Warum la<strong>ch</strong>te er so laut? War er hungrig? Hungrig na<strong>ch</strong> Blut?<br />

Ordás ritt den Weg zurück, den er gekommen war. S<strong>ch</strong>eu ma<strong>ch</strong>te die Menge Platz. Vor dem<br />

Tor gab er dem Pferd die Sporen. Plötzli<strong>ch</strong> hatte er keine Zeit mehr. Einer jungen Indianerin konnte<br />

er ni<strong>ch</strong>t mehr auswei<strong>ch</strong>en; das Mäd<strong>ch</strong>en erhielt von der Stute einen Tritt und blieb verletzt zurück.<br />

Er raste weiter, bis er seiner S<strong>ch</strong>ar begegnete. Von weitem s<strong>ch</strong>on brüllte er ihnen zu:<br />

»Die Häuser sind aus Silber! Begreift ihr, was das heißt? Nein, ihr begreift es ni<strong>ch</strong>t! Die Häuser<br />

sind vom Fundament bis unters Da<strong>ch</strong> aus massivem Silber! Zuhause wird man uns segnen!«<br />

Und er jagte vorbei, galoppierte weiter, seinem Reittier bei jedem Hopser die Wei<strong>ch</strong>en mit<br />

den spannenlangen Rittersporen kitzelnd. Quiñones, als Neuling, ließ si<strong>ch</strong> von Tirado belehren,<br />

dass der Hauptmann si<strong>ch</strong>er ni<strong>ch</strong>t an der Wahrheit seiner Behauptungen zweifelte.<br />

Inzwis<strong>ch</strong>en war Ordás bis zu den Arkebusieren der Vorhut gelangt und stürmte, seine Freudenbots<strong>ch</strong>aft<br />

wie Almosenmünzen ausstreuend, am ganzen Heerzug entlang, bis er, stockheiser<br />

und s<strong>ch</strong>weißtriefend wie sein Gaul, endli<strong>ch</strong> Cortés fand, der mit Velásquez de León hinter dem<br />

Tross her ritt. Ordás krä<strong>ch</strong>zte:<br />

»I<strong>ch</strong> war in der Stadt. Alle Häuser sind aus Silber erbaut, Euer Gnaden! I<strong>ch</strong> weiß wohl, es<br />

klingt unglaubli<strong>ch</strong>; aber es ist so. Der Stein der Weisen ist gefunden! Mit dem Silber lässt si<strong>ch</strong> die<br />

Armut aus der Welt s<strong>ch</strong>affen! Für unsere Glasperlen können wir ein Stadtviertel kaufen, die Silberhäuser<br />

auf S<strong>ch</strong>iffe verladen – es wird keinen Bettler mehr in Kastilien geben!«<br />

Als Cortés Zweifel äußerte, hatte Ordás nur no<strong>ch</strong> ein müdes Lä<strong>ch</strong>eln: »Colón ging es ebenso!<br />

Wer hat ihm geglaubt?«<br />

Gegen Abend zog das Heer in Cempoala ein. Die Häuser waren aus Lehmziegeln erbaut<br />

und mit blendend weißer Kreide getün<strong>ch</strong>t. Das Spottgelä<strong>ch</strong>ter der Soldaten, die dur<strong>ch</strong> die Gassen<br />

mars<strong>ch</strong>ierten, befremdete die Stadtbewohner und s<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>terte sie ein, weil die Soldaten ohne ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en<br />

Grund kindis<strong>ch</strong> vergnügt waren. Den Indianern war ni<strong>ch</strong>t wohl zumute. »Wenn die Götter<br />

la<strong>ch</strong>en, weinen die Mens<strong>ch</strong>en«, besagte eines ihrer Spri<strong>ch</strong>wörter.<br />

Überhaupt war die Begrüßung ni<strong>ch</strong>t so herzli<strong>ch</strong>, wie Cortés erwartet hatte. Von Marina erfuhr<br />

von zwei Frauen, dass der erste der Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en eine Jungfrau niedergetreten und mit den<br />

Hufen s<strong>ch</strong>wer verletzt habe. Cortés wollte Ordás zur Rede stellen, unterließ es aber, als er ihm ins<br />

Gesi<strong>ch</strong>t sah. S<strong>ch</strong>am, Ekel und Lebensüberdruss verzerrten die as<strong>ch</strong>fahlen, qualverzerrten Züge.<br />

Mit einer Abwehrbewegung der längli<strong>ch</strong>en Kno<strong>ch</strong>enhand flehte er:<br />

»Lasst gut sein, Señor. I<strong>ch</strong> weiß... I<strong>ch</strong> weiß es selbst... Cervantes und i<strong>ch</strong>, wir Narren...« Er<br />

zwinkerte unbeholfen, um eine Träne zu zerquets<strong>ch</strong>en.<br />

*<br />

Cempoala war auf einem Hügel erbaut. Die Gassen – no<strong>ch</strong> fla<strong>ch</strong> in der Nähe der Tore – stiegen im<br />

Stadtinnern an und wurden zu Treppen. In der Mitte, auf der Höhe des Hügels, wu<strong>ch</strong>s eine Tempelpyramide<br />

in die Himmelsbläue; ihr gegenüber – getrennt dur<strong>ch</strong> einen ausgedehnten, rasenbewa<strong>ch</strong>senen<br />

Platz – breitete si<strong>ch</strong> der Tecpan aus, der einstöckige, lange Königspalast, ein Steinhaus<br />

mit re<strong>ch</strong>twinklig gebro<strong>ch</strong>enen Ornamenten und spiralförmigen Dämonenvers<strong>ch</strong>lingungen auf<br />

der Granitfassade. Auf dem Rasenplatz zwis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>loss und Haupttempel sammelte si<strong>ch</strong> das


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 60<br />

Tempels waren mit aufgereihten S<strong>ch</strong>ädeln verziert. Unbehagen befiel Cortés und seine Offiziere.<br />

Er beriet si<strong>ch</strong> mit Pater Bartolomé de Olmedo und dem Lizentiaten Juan Díaz. Seit dem Strafgeri<strong>ch</strong>t<br />

über die Aufwiegler Escudero, Cermeño und Gonzalo de Umbría trug der Lizentiat eine krie<strong>ch</strong>eris<strong>ch</strong>e<br />

Unterwürfigkeit zur S<strong>ch</strong>au. Er wurde mit zu Rate gezogen, weil er als Dominikaner die<br />

Meinungen des Hieronymiten Olmedo mit messers<strong>ch</strong>arfer Dialektik zu zerlegen und zerfasern<br />

pflegte. Cortés liebte es, entgegengesetzte Meinungen zu hören, unter denen er si<strong>ch</strong> bisweilen die<br />

bequemere, meist aber die ges<strong>ch</strong>eitere heraussu<strong>ch</strong>te.<br />

Er wolle, sagte er zu den beiden Priestern, no<strong>ch</strong> heute den dicken Kaziken wegen der Mens<strong>ch</strong>enopfer<br />

zur Rede stellen, mit oder ohne seine Einwilligung die s<strong>ch</strong>eußli<strong>ch</strong>en Götzen zertrümmern<br />

und das Kreuz an ihrer Stelle erri<strong>ch</strong>ten. Der Lizentiat fing den Gedanken mit Enthusiasmus<br />

auf. Das an die Tempelwände gespritzte Blut stinke zum Himmel, führe Klage vor Gottes Thron.<br />

Der Na<strong>ch</strong>twind habe ihm den Gestank in die Nase geweht, sodass er kaum habe s<strong>ch</strong>lafen können;<br />

wäre es ihm gestattet, würde er als Erster diese Wohnstätten des Teufels in Stücke s<strong>ch</strong>lagen,<br />

selbst wenn er dafür den Märtyrertod erleiden müsse.<br />

Pater Olmedo da<strong>ch</strong>te anders. Und er drückte seine kluge Warnung im Jargon der Mön<strong>ch</strong>e aus:<br />

»Der ho<strong>ch</strong>mütige Teufel, el soberio demonio, ist ein gefährli<strong>ch</strong>er Feind und no<strong>ch</strong> allmä<strong>ch</strong>tig in diesem<br />

Land!«, sagte er zu Cortés. »Euer<br />

Eifer ist verständli<strong>ch</strong>, do<strong>ch</strong> übereilt.<br />

Das Ziel ist ni<strong>ch</strong>t Cempoala, sondern<br />

Mexico. Darum brau<strong>ch</strong>t Ihr die<br />

Freunds<strong>ch</strong>aft des dicken Kaziken,<br />

mag er au<strong>ch</strong> ein Kne<strong>ch</strong>t des Teufels<br />

sein. Wartet ab. Viellei<strong>ch</strong>t gelingt es<br />

Eu<strong>ch</strong>, den Totonaken einen Dienst zu<br />

erweisen. Dann ist die Zeit gekommen,<br />

Forderungen zu stellen.«<br />

Aztekis<strong>ch</strong>e Zei<strong>ch</strong>nung der Stadt Cempoala.<br />

Der name Cempoala bedeutet »Ort der<br />

zwanzig Gewässer« und war eine der größten<br />

Städte am Golf von Mexiko und die<br />

Hauptstadt des Königrei<strong>ch</strong>s Totonacapan.<br />

(Benson Latin American Collection.)<br />

Cortés gab Olmedo Re<strong>ch</strong>t, verwarf<br />

den Gedanken einer gewaltsamen<br />

Bekehrung und behielt si<strong>ch</strong> vor,<br />

dem dicken Kaziken bei Gelegenheit<br />

die Vorteile und Segnungen des<br />

Taufwassers darzulegen. No<strong>ch</strong> während<br />

sie si<strong>ch</strong> bespra<strong>ch</strong>en, wurde der<br />

Besu<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>ilfrohrs gemeldet.<br />

In Begleitung vieler Edelleute<br />

kam er, seine Aufwartung zu ma<strong>ch</strong>en. Hinter ihm her s<strong>ch</strong>ritt eine ältli<strong>ch</strong>e Sklavin mit einem Gefäß,<br />

die Na<strong>ch</strong>ttopf-Trägerin. Er umarmte Cortés. Ob die weißen Götter si<strong>ch</strong> wohl fühlten in Cempoala?<br />

Sie fühlten si<strong>ch</strong> wohl. Ob sie gut ges<strong>ch</strong>lafen und gegessen hätten? Sie hatten gut ges<strong>ch</strong>lafen und<br />

gegessen. Das erfreue sein Herz, sagte der dicke Kazike; sie sollten weiterhin fröhli<strong>ch</strong> sein und<br />

genießen; darum wolle er von ernsten Dingen ni<strong>ch</strong>t reden. Und s<strong>ch</strong>on verließ er sie.<br />

Das war ein kurzer Besu<strong>ch</strong>! Für einen Fleis<strong>ch</strong>berg eine bes<strong>ch</strong>werli<strong>ch</strong>e Reise und umso höher<br />

zu bewerten, meinte der kaiserli<strong>ch</strong>e Re<strong>ch</strong>nungsführer Albornoz, als er – wieder mit Hilfe von<br />

Francisco López de Gómera – den hinterlassenen Golds<strong>ch</strong>muck auf gut zweitausend Dukaten<br />

s<strong>ch</strong>ätzen konnte. Au<strong>ch</strong> die bunt gewirkten Baumwollmäntel waren ein nützli<strong>ch</strong>es Ges<strong>ch</strong>enk, gingen<br />

do<strong>ch</strong> einige der weißen Götter in geflickten Lumpen. Der Re<strong>ch</strong>nungsführer hatte seit langer Zeit –<br />

seit dem Besu<strong>ch</strong> des mexicanis<strong>ch</strong>en Feldherrn Sengende Glut – ni<strong>ch</strong>ts mehr zu bu<strong>ch</strong>en gehabt.<br />

Cortés erwiderte den Besu<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on eine Stunde später. Fünfzig Mann und seine Hauptleute


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 61<br />

im Galastaat begleiteten ihn und umgaben seine Person mit königli<strong>ch</strong>em Gepränge. Außerdem<br />

nahm er Marina und den Pagen Orteguilla mit. La Lengua Marina spra<strong>ch</strong> das Spanis<strong>ch</strong>e bereits<br />

fließend, und man konnte Aguilár entbehren. Sie hatte vom Überfall im Zelt und der Zudringli<strong>ch</strong>keit<br />

des Diakons kein Wort gesagt, do<strong>ch</strong> Cortés war ni<strong>ch</strong>t entgangen, dass ihr die Nähe des Fraters<br />

Unbehagen bereitete.<br />

Am großen Portal wurden sie vom dicken Kaziken und seinem Hofstaat begrüßt und mit Kopal<br />

angeräu<strong>ch</strong>ert. Dass sie gestiefelt und gespornt kamen, war eigentli<strong>ch</strong> ein Verstoß gegen die<br />

Landessitte. Aber viellei<strong>ch</strong>t waren sie ja Götter – unwissende Götter! Sie wurden dur<strong>ch</strong> Säle geführt,<br />

so groß wie Turnierhöfe; die Wände waren niedrig, verwirrend s<strong>ch</strong>illernd und voll von gemeißelten<br />

Fle<strong>ch</strong>tmustern: skurile Gestalten, Sternbildern, Totenweltszenen. Man<strong>ch</strong>e Säle hatten keine<br />

Decke, sondern waren offene Hallen, von windgeblähtem Zelttu<strong>ch</strong> oder vom Blau des Himmels<br />

gedeckt, andere mit Balkendecken aus kunstvoll ges<strong>ch</strong>nitztem Zedernholz und getragen von klafterdicken<br />

Steinsäulen.<br />

Alles, au<strong>ch</strong> das Überwältigende, gelassen hinnehmen, als wäre man von Kind auf gewöhnt,<br />

dur<strong>ch</strong> Prunkhallen zu wandeln, das hatte Cortés seinen Feldobristen einges<strong>ch</strong>ärft. Olíd, dem einstigen<br />

Galeerensklaven, gelang es gut; au<strong>ch</strong> Ordás s<strong>ch</strong>ritt unbeeindruckt dahin. Die anderen aber<br />

rissen Maul und Augen auf und konnten ihre Verblüffung kaum meistern. Wenn ein Vasall<br />

Moctezumas, ein kleiner Provinzherrs<strong>ch</strong>er so wohnte, wie mo<strong>ch</strong>ten da erst die Paläste Mexicos<br />

bes<strong>ch</strong>affen sein?<br />

Darüber na<strong>ch</strong>zudenken, hatten die Hauptleute und die fünfzig Mann der Leibwa<strong>ch</strong>e Zeit genug,<br />

da sie in einem der Säle etli<strong>ch</strong>e Stunden warten mussten. Der dicke Kazike zog si<strong>ch</strong> mit Cortés<br />

in ein angrenzendes kleineres Gema<strong>ch</strong> zurück, und nur Marina und der Page Orteguilla durften<br />

mit hinein. Die wartenden Götter erhielten in der Zwis<strong>ch</strong>enzeit von Sklaven Ananas und Kakao, als<br />

S<strong>ch</strong>okolade zubereitet. Das hatte no<strong>ch</strong> keine Europäerzunge gekostet. Die Äpfel des Paradieses<br />

mo<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t köstli<strong>ch</strong>er munden. Das Entzücken war maßlos. Avila überaß si<strong>ch</strong> so sehr, dass ihm<br />

übel wurde.<br />

»Diese Frü<strong>ch</strong>te«, meinte Lugo, »geben uns einen Vorges<strong>ch</strong>mack von der Süße Mexicos!«<br />

»Au<strong>ch</strong> diese Fru<strong>ch</strong>t werden wir pflücken!«, rief Alvarado.<br />

»Do<strong>ch</strong> dürfen wir uns den Magen an ihr ni<strong>ch</strong>t verderben wie Avila!«, sagte der ernste<br />

Hauptmann Tapia.<br />

Inzwis<strong>ch</strong>en konferierten Cortés und der dicke Kazike auf niedrigen, mit Jaguarfellen bedeckten<br />

S<strong>ch</strong>emeln im kleinen Gema<strong>ch</strong>.<br />

»I<strong>ch</strong> bringe Eu<strong>ch</strong> einen Knaben«, sagte Cortés. »Er soll in Eurer Nähe bleiben, bis er<br />

Mexicanis<strong>ch</strong> gelernt hat.«<br />

Der dicke Kazike begriff ni<strong>ch</strong>t. Dreimal ließ er es si<strong>ch</strong> von La Lengua erklären. Und als er es<br />

verstand, fasste er es fals<strong>ch</strong> auf. Man s<strong>ch</strong>enkte ihm einen kleinen weißen Gott! Seine Augen quollen<br />

aus den Höhlen: Er sollte einen kleinen Gott besitzen, liebkosen, verhäts<strong>ch</strong>eln, tägli<strong>ch</strong> mit ihm<br />

spielen dürfen! Sofort rief er einen Sklaven herbei, ließ einen damastenen Talar, einen Nasenpflock<br />

und gelbe S<strong>ch</strong>minke bringen. Damit bes<strong>ch</strong>enkte er den Knaben, täts<strong>ch</strong>elte ihn verliebt,<br />

küsste ihn mit gespitzten Lippen. Der Page Orteguilla fing an zu weinen.<br />

Cortés intervenierte mit gestrenger Miene. Der Knabe sei dem dicken Kaziken nur leihweise<br />

überlassen. Die Nasens<strong>ch</strong>eidewand zu dur<strong>ch</strong>bohren sei in Europa verpönt. Und Knabenliebe werde<br />

mit dem Tod bestraft, und überhaupt – nun vergaß Cortés den Rat Pater Olmedos und ereiferte<br />

si<strong>ch</strong> – überhaupt wäre es an der Zeit, mit den Teufelsgräueln in diesem Land aufzuräumen. Darum<br />

habe der Kaiser, Don Carlos de Austria, ihn hergesandt, und der sei mä<strong>ch</strong>tiger als der große Moctezuma.<br />

Die s<strong>ch</strong>eußli<strong>ch</strong>en Götzen seien als Götter verkleidete Teufel und Statthalter der Hölle. Der<br />

wahrhaftige Gott aber wolle kein Blut, nur die Glückseligkeit der Mens<strong>ch</strong>en. Und Cortés erzählte<br />

von der Erbsünde und der Erlösung, vom Baum der Erkenntnis und dem Kreuz, von Eva und der<br />

süßen Gottesmutter Maria. Seine Worte wurden leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>, verwandelten si<strong>ch</strong> in der Übersetzung<br />

Marinas zu flammender Bes<strong>ch</strong>wörung. Der dicke Kazike laus<strong>ch</strong>te aufmerksam.<br />

»Wie du spri<strong>ch</strong>st«, sagte er, »so spra<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong> die Könige von Tezcoco, der Hungrige<br />

S<strong>ch</strong>akal und der Herr des Fastens. Nur einen Gott gäbe es, tloque yn nahuaque heiße er, ›der in<br />

und bei allem ist‹. Kein Blut wolle er, nur die Glückseligkeit der Mens<strong>ch</strong>en. Aber was haben sie<br />

errei<strong>ch</strong>t? Die anderen Götter sind ma<strong>ch</strong>tvoller. Vor tausend Jahren spra<strong>ch</strong> Quetzalcoatl, dessen<br />

Enkel du bist, ebenso. Kein Blut wollte er, nur die Glückseligkeit der Mens<strong>ch</strong>en. Außer Landes


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 62<br />

musste er ziehen! I<strong>ch</strong> will gern an deinen Gott glauben, do<strong>ch</strong> meinen alten Göttern bleibe i<strong>ch</strong> treu.<br />

Sie sind ni<strong>ch</strong>t so s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t, wie du sagst. Denn sie ma<strong>ch</strong>en, dass Mais und Frü<strong>ch</strong>te wa<strong>ch</strong>sen und<br />

haben mein Volk seit Urvätertagen ernährt. Und außerdem...« Er stockte.<br />

»Außerdem?«<br />

El Gordo wurde verlegen und druckste herum.<br />

»Was außerdem?«, hakte Cortés mit Hilfe Marinas na<strong>ch</strong>. »Rede frei heraus.«<br />

»Nur Feiglinge kämpfen ›aus der Ferne‹!«, sagte S<strong>ch</strong>ilfrohr mit s<strong>ch</strong>iefem Blick.<br />

»Was meinst du?«<br />

»Die Krieger Cempoalas, Tlaxcalas, die Otomis und aller Völker Mexicos kämpfen Mann gegen<br />

Mann und wollen viele Gefangene für die Opfertis<strong>ch</strong>e der Götter heimbringen. Aber ihr Männer<br />

des Ostens tötet mit langen Eisenstangen, Pfeilbolzen und Feuerrohren. Das ist für unsere Krieger<br />

unehrenhaft und feige.«<br />

Der caudillo la<strong>ch</strong>te erlei<strong>ch</strong>tert auf. »Ja, so ist es nun einmal: Da wir keine Mens<strong>ch</strong>en opfern,<br />

müssen wir sie im Kampf töten.« Und zu seinen Offizieren gewandt, fügte er hinzu: »Sollen sie uns<br />

für Feiglinge halten! Nur dur<strong>ch</strong> die Ma<strong>ch</strong>t unserer Waffen erlangen wir Gewissheit, dass eine Hand<br />

voll Kastilier Tausenden von Heiden widerstehen kann! Den Sieger fragt am Ende niemand, wie er<br />

den Sieg errungen hat!«<br />

Seine Rede würde na<strong>ch</strong>wirken,<br />

hoffte er. Und er wollte Pater Olmedos<br />

Warnung beherzigen und den Bogen<br />

ni<strong>ch</strong>t überspannen. So we<strong>ch</strong>selte er<br />

das Thema und fragte na<strong>ch</strong> der Blauen<br />

Feder und dem Bruderkrieg in Tezcoco,<br />

von wel<strong>ch</strong>em ihm S<strong>ch</strong>ilfrohr damals, bei<br />

seinem nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Besu<strong>ch</strong> im Lager,<br />

beri<strong>ch</strong>tet hatte. Der vom Notar Godoy<br />

entworfene Vertrag zwis<strong>ch</strong>en der Blauen<br />

Feder, den Totonaken und Kastiliern<br />

sollte hier in Cempoala erörtert und<br />

besiegelt werden; so war es damals<br />

verabredet worden.<br />

Auf dem spanis<strong>ch</strong>en Gemälde<br />

festigt er ein Bündnis mit einem<br />

Kaziken aus Cempoala, indem er<br />

Trinks<strong>ch</strong>okolade und geweihte<br />

Speisen entgegennimmt.<br />

Der dicke Kazike ma<strong>ch</strong>te ein bekümmertes<br />

Gesi<strong>ch</strong>t; seine Unterlippe<br />

s<strong>ch</strong>ob si<strong>ch</strong> vor, hing s<strong>ch</strong>wammig und<br />

klägli<strong>ch</strong> herab. Dur<strong>ch</strong> die Rückkehr des<br />

S<strong>ch</strong>arfen Obsidians und des S<strong>ch</strong>lagenden<br />

Falkens aus Guatemala na<strong>ch</strong><br />

México, setzte er verlegen auseinander,<br />

habe die Blaue Feder si<strong>ch</strong> letzthin<br />

gezwungen gesehen, einen S<strong>ch</strong>einfrieden<br />

mit seinen Brüdern zu s<strong>ch</strong>ließen,<br />

dem Edlen Betrübten und Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange,<br />

und si<strong>ch</strong> mit Mexico auszusöhnen.<br />

Do<strong>ch</strong> habe die Blaue Feder<br />

ihm heimli<strong>ch</strong> Bots<strong>ch</strong>aft gesandt. Sein Bündnisangebot bestehe no<strong>ch</strong>, vorausgesetzt, dass es den<br />

Söhnen der Sonne gelinge, Tlaxcalas Freunds<strong>ch</strong>aft und Beistand zu erringen. Dann beri<strong>ch</strong>tete der<br />

dicke Kazike vom Land Tlaxcala und von einer Großen Mauer, die das Land ums<strong>ch</strong>ließe, von der<br />

Grenzwa<strong>ch</strong>t der Otomis und vom uralten Hass gegen Mexico. Die Kastilier sollten auf ihrem Weg


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 63<br />

na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán dur<strong>ch</strong> Tlaxcala ziehen, au<strong>ch</strong> wenn Moctezuma sie überreden sollte, einen anderen<br />

Weg einzus<strong>ch</strong>lagen. Er selbst habe s<strong>ch</strong>on Boten na<strong>ch</strong> Tlaxcala gesandt. Leider ohne Antwort<br />

bisher, do<strong>ch</strong> er zweifle ni<strong>ch</strong>t daran, dass die Tlaxcalteken dem Bund beitreten würden, sobald sie<br />

die Unbesiegbarkeit der weißen Männer erkannt hätten. Cortés und nahm es zur Kenntnis fragte,<br />

ob er seinem Gastgeber irgendeinen Gefallen tun, einen Dienst erweisen könne?<br />

Der dicke Kazike s<strong>ch</strong>wieg eine Weile und seufzte s<strong>ch</strong>wer. Das Totonakenland, erzählte er,<br />

sei seit a<strong>ch</strong>thundert Jahren von seinen Ahnen beherrs<strong>ch</strong>t worden. Jeder der Totonakenkönige regierte<br />

a<strong>ch</strong>tzig Jahre. Ni<strong>ch</strong>t mehr und ni<strong>ch</strong>t weniger als a<strong>ch</strong>tzig Jahre. Ein Wunder s<strong>ch</strong>eine das; und<br />

do<strong>ch</strong> verhielte es si<strong>ch</strong> so: genau a<strong>ch</strong>tzig Jahre saß jeder dieser Könige auf dem Thron.<br />

Cortés beglückwüns<strong>ch</strong>te ihn. Ni<strong>ch</strong>t jeder habe sol<strong>ch</strong>e Aussi<strong>ch</strong>ten.<br />

Das Vorre<strong>ch</strong>t, so alt zu werden, fuhr der dicke Kazike betrübt fort, sei neuerdings jedo<strong>ch</strong> in<br />

Frage gestellt, seit sein Großvater zwei Söhne statt einen zu Na<strong>ch</strong>folgern bestimmt und damit die<br />

von den Göttern gewollte Ordnung umgestürzt habe. Das Doppelkönigtum erwies si<strong>ch</strong> als verhängnisvoll.<br />

Die Brüder vertrugen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, das Volk spaltete si<strong>ch</strong>. Der jüngere Bruder verließ<br />

Cempoala und siedelte mit seinem Anhang in der kleinen Na<strong>ch</strong>barstadt Tzimpantzinco. Dass es<br />

Moctezuma gelang, das Totonakenland zu unterwerfen, habe seinen Grund in dieser Aufspaltung<br />

der Kräfte. Nun hätten die Mexica sogar Zauberer zu den Leuten von Tzimpantzinco ges<strong>ch</strong>ickt,<br />

Zauberer, die si<strong>ch</strong> in Pumas, Wölfe und fliegende S<strong>ch</strong>langen verwandeln könnten. Sie drangsalierten<br />

sein Volk und brands<strong>ch</strong>atzten na<strong>ch</strong>ts die bestellten Felder.<br />

Cortés erbot si<strong>ch</strong>, ihn von den Zauberern zu befreien; er hoffe au<strong>ch</strong>, fügte er hinzu, ihn mit<br />

seinen Blutsverwandten in Tzimpantzinco aussöhnen zu können. Sorgenvoll s<strong>ch</strong>üttelte der dicke<br />

Kazike den Kopf.<br />

»O großer Krieger, o weißer Gott!«, sagte er. »Du kennst ni<strong>ch</strong>t die Ma<strong>ch</strong>t der mexicanis<strong>ch</strong>en<br />

Zauberer!«<br />

»Meine Zauberer sind mä<strong>ch</strong>tiger!«, erwiderte Cortés lä<strong>ch</strong>elnd und erhob si<strong>ch</strong>.<br />

*<br />

Am nä<strong>ch</strong>sten Morgen zog das kastilis<strong>ch</strong>e Heer gegen die Stadt Tzimpantzinco. Zum Transport des<br />

Gepäcks und der Artillerie hatte der dicke Kazike fünfhundert tlamamas zur Verfügung gestellt. Die<br />

Soldaten waren begeistert, brau<strong>ch</strong>ten sie do<strong>ch</strong> nun Sack und Pack ni<strong>ch</strong>t mehr auf dem Rücken zu<br />

tragen; und zwar ni<strong>ch</strong>t nur diesmal, sondern künftighin immer, da es in mexicanis<strong>ch</strong>en Landen<br />

althergebra<strong>ch</strong>te Sitte war – wie bald dur<strong>ch</strong> Marina bekannt wurde –, jedem Dur<strong>ch</strong>reisenden, mo<strong>ch</strong>te<br />

er darum bitten oder ni<strong>ch</strong>t, eine rei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Anzahl Lastträger zuzuweisen.<br />

In gebührendem Abstand ließ si<strong>ch</strong> der dicke Kazike in einer mit Papageiendaunen tapezierten<br />

Sänfte hinterher tragen, begleitet von seinem Feldherrn Tehu<strong>ch</strong> und einem <strong>Teil</strong> des<br />

Totonakenheeres. Die Na<strong>ch</strong>ttopf-Trägerin kam keu<strong>ch</strong>end hinterdrein. Es war klar; die Totonaken<br />

wollten Zus<strong>ch</strong>auer sein und si<strong>ch</strong> mit eigenen Augen überzeugen, wer beim bevorstehenden grauenvollen<br />

Ringen Sieger blieb – die Zauberer Mexicos oder die Zauberer der weißen Götter.<br />

Tzimpantzinco erwies si<strong>ch</strong> beim Näherkommen als ein enttäus<strong>ch</strong>end kleines Felsennest.<br />

Kein würdiger Gegner! Bes<strong>ch</strong>ämend das große Aufgebot, das Auffahren der Singenden Na<strong>ch</strong>tigall<br />

vor einem so mickrigen Ziel.<br />

Cortés rief die Hauptleute zu einer Beratung zusammen.<br />

»Die naturales tun so«, sagte er, »als hielten sie uns für Götter. Wie weit sie das wirkli<strong>ch</strong><br />

glauben, steht dahin. Einige mögen viellei<strong>ch</strong>t Zweifel hegen, während die abergläubis<strong>ch</strong>e Menge –<br />

die Häuptlinge und Fürsten ni<strong>ch</strong>t ausgenommen – uns gewiss für höhere Wesen ansieht. Es wäre<br />

klug, wir könnten sie in ihrer Meinung bestärken. Dazu ist jetzt Gelegenheit. Die Stadt im Sturm zu<br />

nehmen, ist ein Kinderspiel, aber keine Heldentat. Do<strong>ch</strong> wenn wir einen einzelnen Mann hins<strong>ch</strong>icken<br />

könnten, einen Mann, dessen bloße Gegenwart, dessen fur<strong>ch</strong>terregendes Äußere, dessen<br />

lähmende Entsetzli<strong>ch</strong>keit uns die Festung in die Hand liefern würde...«<br />

»I<strong>ch</strong> bin bereit!«, erklärte Ordás.<br />

»Bei allen Tafelfreuden seid Ihr bes<strong>ch</strong>eiden, Señor«, sagte Hauptmann Olíd zu Ordás, blass<br />

vor Erregung, »und Ihr nehmt Eu<strong>ch</strong> kaum halb so viel auf den Teller als wir anderen. Wo aber<br />

Ruhm serviert wird, beanspru<strong>ch</strong>t Ihr die ganze S<strong>ch</strong>üssel für Eu<strong>ch</strong>!«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 64<br />

»Weder an Olíd no<strong>ch</strong> an Ordás habe i<strong>ch</strong> geda<strong>ch</strong>t«, fuhr Cortés fort. »Ihr seht zu mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />

aus, meine Herren! Eu<strong>ch</strong> kann i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gebrau<strong>ch</strong>en – i<strong>ch</strong> su<strong>ch</strong>e ein S<strong>ch</strong>eusal, das Fur<strong>ch</strong>t einjagt.«<br />

»Wenn Euer Gnaden an meinen Hund Becerrico denkt...«, begann Francisco de Lugo gekränkt.<br />

»Nein, au<strong>ch</strong> den meine i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t«, antwortete Cortés la<strong>ch</strong>end, »denn er ist ja ein Held! Hier<br />

handelt es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t um einen Ritterkampf. Der dicke Kazike und die zweitausend<br />

Totonakenkrieger seines Heeres wollen ein anderes S<strong>ch</strong>auspiel sehen; sie wollen Zauber im Wettkampf<br />

mit Zauber erleben. Darum s<strong>ch</strong>lage i<strong>ch</strong> vor, dass wir den alten Heredia s<strong>ch</strong>icken.«<br />

»Heredia? Den alterss<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Greis?«, riefen die Hauptleute erstaunt.<br />

»Ja, ihn!«, sagte Cortés. »Glei<strong>ch</strong>t er ni<strong>ch</strong>t aufs Haar den hässli<strong>ch</strong>en Götzenbildern dieses<br />

Landes? Vor seiner grauenerregenden Hässli<strong>ch</strong>keit wird die tapferste S<strong>ch</strong>ar die Flu<strong>ch</strong>t ergreifen!«<br />

Die Feldobristen stimmten la<strong>ch</strong>end, wenn au<strong>ch</strong> mit Vorbehalten zu. Der alte Heredia wurde<br />

herbeigerufen. Seine Hässli<strong>ch</strong>keit überstieg tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> jedes Maß. Sein Bocksgesi<strong>ch</strong>t war von<br />

S<strong>ch</strong>wertwunden kreuz und quer gezei<strong>ch</strong>net, ein Auge ausgelaufen, der Mund hasens<strong>ch</strong>artig, fast<br />

zahnlos und mit zwei vorbleckenden gelben Hauern versehen; die Nase war gebro<strong>ch</strong>en, kropfig<br />

der Hals, einer quabbeligen S<strong>ch</strong>weinsblase ni<strong>ch</strong>t unähnli<strong>ch</strong>. Er trug ein Holzbein; das gesunde<br />

Bein war krumm wie die Mondsi<strong>ch</strong>el.<br />

Cortés unterwies ihn, was er zu tun habe. Der alte Musketier grinste fratzenhaft und fand die<br />

Spiegelfe<strong>ch</strong>terei, die man ihm zumutete, keineswegs entwürdigend; im Gegenteil, er war ges<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elt,<br />

fühlte si<strong>ch</strong> im Mittelpunkt, bea<strong>ch</strong>tet, auserwählt unter den vielen Kameraden, ein Zielpunkt<br />

für Tausende von Augen. Die große Stunde seines Lebens war gekommen!<br />

Na<strong>ch</strong>dem er eingewiesen war, führte Cortés ihn zur Sänfte des dicken Kaziken und ließ diesem<br />

dur<strong>ch</strong> Marina sagen:<br />

»So spri<strong>ch</strong>t der Sohn der Sonne: Die Stadt Tzimpantzinco ist das Blut keines der Meinen<br />

wert. Darum ziehe mit meinem besten Zauberer hin, dass er dir die Stadt übergebe!«<br />

Der dicke Kazike und seine Begleiter blickten der Reihe na<strong>ch</strong> Marina, Cortés und den fur<strong>ch</strong>tbaren<br />

Zauberer an. Einen Augenblick s<strong>ch</strong>ien er ärgerli<strong>ch</strong> zu werden, ein ungutes Misstrauen. Hielt<br />

man sie für Kinder, für S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>köpfe, für Narren? Do<strong>ch</strong> der Anblick Heredias vers<strong>ch</strong>eu<strong>ch</strong>te alsbald<br />

die Zweifel. Wel<strong>ch</strong> ein Unhold! Die drüben hatten keinen sol<strong>ch</strong>en! Der dicke Kazike wollte<br />

au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t als Feigling gelten; so ma<strong>ch</strong>ten er und sein Heer si<strong>ch</strong> mit dem weißen Zauberer auf den<br />

Weg.<br />

Der alte Heredia spielte seine Rolle äußerst ges<strong>ch</strong>ickt. Vor den Toren der Stadt kniete er<br />

nieder, hob seine Muskete und gab einen S<strong>ch</strong>uss ab. Das E<strong>ch</strong>o rollte über den Talboden, stieß<br />

si<strong>ch</strong> an Hügeln, s<strong>ch</strong>lug an Felsen, prallte von Türmen ab, rollte in die Höhe bis zu den Wolken und<br />

verlor si<strong>ch</strong>. Das hatten die feindli<strong>ch</strong>en Krieger auf der Stadtmauer und vor dem Stadttor no<strong>ch</strong> nie<br />

gesehen. Ein grausig anzusehender Zauberer hob ein Rohr kerzengerade in den Himmel; hellrot<br />

spuckte Feuer und Rau<strong>ch</strong> mit lautem Getöse aus diesem Rohr hervor. Sol<strong>ch</strong> mä<strong>ch</strong>tiger Magie war<br />

s<strong>ch</strong>werli<strong>ch</strong> zu widerstehen! Ängstli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>reiend stoben sie davon. Der dicke Kazike und sein Zauberer<br />

konnten dur<strong>ch</strong> die unverteidigten Tore in die Stadt eindringen und mit ihnen das Heer der<br />

zweitausend Totonaken. Sie raubten, plünderten, s<strong>ch</strong>ändeten und s<strong>ch</strong>leppten Opfersklaven für<br />

ihre Götteraltäre hinweg.<br />

Einigen Edelleuten und Priestern Tzimpantzincos war es gelungen, aus der Festung zu entkommen,<br />

Hilfe su<strong>ch</strong>end traten sie vor Cortés: Er möge die Stadt vor Verni<strong>ch</strong>tung bewahren – sofern<br />

es wahr sei, dass er über das Wasser des Himmels in dies Land gekommen sei, um alles<br />

Elend der Völker dur<strong>ch</strong> Glück, Kne<strong>ch</strong>tung dur<strong>ch</strong> Freiheit und Re<strong>ch</strong>tlosigkeit dur<strong>ch</strong> Gere<strong>ch</strong>tigkeit zu<br />

ersetzen.<br />

Cortés eilte mit Alvarado und Velásquez de León in die Stadt und trat den Gräueln entgegen.<br />

Zornig s<strong>ch</strong>rie er den dicken Kaziken und dessen Heerführer an, zwang sie, das Geplünderte wieder<br />

herzugeben und die Opfersklaven in Freiheit zu setzen. Der dicke Kazike war dermaßen vers<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tert,<br />

dass er einwilligte, als Cortés verlangte, mit den Leuten von Tzimpantzinco Frieden zu<br />

s<strong>ch</strong>ließen. Die Stadt wurde begnadigt, die Aussöhnung sollte si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> in Zukunft als dauerhaft<br />

erweisen. Der König von Tzimpantzinco und Gegenspieler des dicken Kaziken war entkommen,<br />

aber Cortés hatte einen neuen Bundesgenossen gewonnen.<br />

Der dicke Kazike ließ dur<strong>ch</strong> La Lengua den Zauberer fragen, wel<strong>ch</strong>en Lohn er begehre.<br />

»Überlegt es Eu<strong>ch</strong>, Heredia!«, sagte Alvarado s<strong>ch</strong>erzend. »Ihr habt nur den einen Wuns<strong>ch</strong>


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 65<br />

gut... und Ihr kennt do<strong>ch</strong> die Fabel von den drei Wüns<strong>ch</strong>en!«<br />

Heredia sann na<strong>ch</strong> und s<strong>ch</strong>munzelte verlegen.<br />

»Nun, was wüns<strong>ch</strong>t Ihr Eu<strong>ch</strong>?«, wurde er no<strong>ch</strong>mals gefragt.<br />

»Ein hübs<strong>ch</strong>es Mäd<strong>ch</strong>en!«, sagte der Alte mit dem Bocksgesi<strong>ch</strong>t.<br />

Der dicke Kazike verspra<strong>ch</strong> es ihm.<br />

*<br />

Bei der Rückkehr na<strong>ch</strong> Cempoala wurden die Kastilier wie Helden empfangen. War für ihr leibli<strong>ch</strong>es<br />

Wohl s<strong>ch</strong>on vorher gut gesorgt worden, so fanden sie jetzt in den Tempelvorhöfen, wo sie ihr<br />

Quartier hatten, die doppelte Anzahl von Körben mit Maispasteten, Pfeffer, ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>teten Truthühnern,<br />

gerösteten Heus<strong>ch</strong>recken und Wasserkäfern vor. In S<strong>ch</strong>üsseln gärte weiß s<strong>ch</strong>äumender<br />

Pulque und Honigwein. Selbst S<strong>ch</strong>alen mit Kakaosaft und Ananas standen bereit.<br />

An diesem Abend hielt Rodrigo Rangel folgende Anspra<strong>ch</strong>e, während er Cortés die gelben<br />

Reiterstiefel auszog:<br />

»Um es kurz zu ma<strong>ch</strong>en, Euer Liebden, i<strong>ch</strong> verstehe die Welt ni<strong>ch</strong>t. Der arme Tropf, der Heredia,<br />

hat si<strong>ch</strong> ein Mäd<strong>ch</strong>en gewüns<strong>ch</strong>t. Ist das ni<strong>ch</strong>t zum Weinen? Er hätte si<strong>ch</strong> eine Gurke an die<br />

Nase wüns<strong>ch</strong>en können oder eine Krone auf den Kopf. Do<strong>ch</strong> er zog ein Mäd<strong>ch</strong>en vor. Ist das zu<br />

verstehen? Aber so ist die wunderli<strong>ch</strong>e Welt! Alles hat eine Daseinsbere<strong>ch</strong>tigung, au<strong>ch</strong> die Hässli<strong>ch</strong>keit,<br />

und sie will si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ausrotten lassen, will si<strong>ch</strong> fortpflanzen – wie au<strong>ch</strong> die Dummheit.<br />

Ignotus (ein sehr berühmter Mann) hat einmal gesagt: Verbanne die Dummheit, und die Welt stirbt<br />

aus! Er hätte das von der Hässli<strong>ch</strong>keit sagen sollen! Zum Glück ist ni<strong>ch</strong>t alles hässli<strong>ch</strong>, was hässli<strong>ch</strong><br />

ist, weil ja ni<strong>ch</strong>t alles Gold ist, was glänzt, und ni<strong>ch</strong>t alles Zauber ist, was bezaubert. Um es<br />

kurz zu ma<strong>ch</strong>en: Ordás glaubte, im Fabelland Mexico seien die Häuser aus Silber, und er hat damit<br />

bewiesen, dass au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t alles Silber ist, was glänzt.« Also spra<strong>ch</strong> Rodrigo Rangel.<br />

*<br />

Früh am folgenden Morgen wurde Cortés der Besu<strong>ch</strong> des dicken Kaziken angekündigt. Umgeben<br />

von seinem Hofstaat ging er ihm bis vor das Tempeltor entgegen. Auf dem großen Rasenplatz, im<br />

fremdartigen, s<strong>ch</strong>arla<strong>ch</strong>farbenen Frühsonnenli<strong>ch</strong>t, trafen sie si<strong>ch</strong>, zwis<strong>ch</strong>en dem riesigen Granitpalast<br />

und der hohen Tempelpyramide mit dem Gesims aus Mens<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>ädeln. Hernándo kam die<br />

Szene unwirkli<strong>ch</strong> vor. Eine Mondgegend! Bauwerke der Mondbewohner! Und Mondmens<strong>ch</strong>en in<br />

grellen Farben! Mondmens<strong>ch</strong>en, die eigentli<strong>ch</strong> Vögel waren, gekleidet in Vogelgefieder! Ein Mondkönig,<br />

dieser Fleis<strong>ch</strong>berg, auf kräftige Sklaven gestützt. In der Unterlippe drei Perlmutterknöpfe,<br />

einen S<strong>ch</strong>metterling aufs Gesi<strong>ch</strong>t gemalt, in der Hand eine Rassel, mit der er lärmte wie ein Säugling!<br />

Ließ si<strong>ch</strong> von einer Na<strong>ch</strong>ttopf-Trägerin ein Ges<strong>ch</strong>irr für die Notdurft na<strong>ch</strong>tragen. (Wann benutzte<br />

er es?) Und seine Feldherrn – ihre Helme waren Adlerköpfe, die Augen s<strong>ch</strong>auten aus riesigen,<br />

weit aufgerissenen Adlers<strong>ch</strong>näbeln hervor, sie trugen Adlergewänder, waren Adler, gar ni<strong>ch</strong>t<br />

zu unters<strong>ch</strong>eiden von Adlern. Au<strong>ch</strong> der weiße Knabe, der Page Orteguilla, zwölf Jahre alt, hatte<br />

si<strong>ch</strong> verwandelt, trug Türkissandalen an den Füßen, war unbekleidet bis auf einen Lendens<strong>ch</strong>urz<br />

und eine Edelmarderdecke auf dem Rücken, hatte eine mäd<strong>ch</strong>enhafte Perücke aus lang<br />

herabwallenden ockergelben Papageienfedern auf dem Kopf, fä<strong>ch</strong>elte mit einem Kolibriwedel dem<br />

Totonakenkönig die Fliegen aus dem Gesi<strong>ch</strong>t!<br />

S<strong>ch</strong>ilfrohr war gekommen, seinen Dank zu entri<strong>ch</strong>ten. Er bringe, ließ er dur<strong>ch</strong> La Lengua mitteilen,<br />

a<strong>ch</strong>t Jungfrauen, darunter seine To<strong>ch</strong>ter, alles Erbinnen aus hohem Adelsges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t, Besitzerinnen<br />

einträgli<strong>ch</strong>er Landgüter in der Umgegend Cempoalas. Er käme, diese a<strong>ch</strong>t Mäd<strong>ch</strong>en, den<br />

weißen Hauptleuten und dem großen Zauberer als Gattinnen zuzuführen. Der Oberfeldherr aber<br />

solle seine To<strong>ch</strong>ter Freundli<strong>ch</strong>es Wasser erhalten.<br />

Die Söhne der Sonne blickten einander verdutzt an. Darauf waren sie ni<strong>ch</strong>t vorbereitet. Si<strong>ch</strong><br />

vers<strong>ch</strong>wägern, Wurzel s<strong>ch</strong>lagen in diesem Land? Warum ni<strong>ch</strong>t? Die Königsto<strong>ch</strong>ter war zwar unleugbar<br />

hässli<strong>ch</strong>; au<strong>ch</strong> der faustgroße Smaragd an ihrem Hals half darüber kaum hinweg. Aber die<br />

anderen! Es waren blutjunge, zierli<strong>ch</strong>e Dinger. Und wenn sie in die Hand spuckten, die Erde berührten<br />

und die Hand zum Gruß ans Herz führten, sah das ganz artig und anmutig aus.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 66<br />

Cortés flüsterte mit Pater Olmedo: Er habe seine Warnung beherzigt, habe gewartet, bis er<br />

den Leuten einen Dienst erweisen konnte. Nun sei die Zeit gekommen, Forderungen zu stellen!<br />

Pater Olmedo war na<strong>ch</strong> wie vor der Ansi<strong>ch</strong>t, jetzt no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts zu unternehmen; der dicke Kazike<br />

sei als Verbündeter gegen Moctezuma wi<strong>ch</strong>tig.<br />

Do<strong>ch</strong> Cortés bestürmte ihn: »Vergesst Diego de Velásquez ni<strong>ch</strong>t! Er wird alles daransetzen,<br />

unser Vorhaben zu vereiteln. Aber dazu brau<strong>ch</strong>t er Unterstützung bei Hofe! Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> wird<br />

ihm der Bis<strong>ch</strong>of von Burgos sein Ohr leihen und den König gegen uns aufhetzen. Die Heilige Inquisition<br />

wird unser Fürspre<strong>ch</strong>er sein, wenn wir hier Heiden dem Christentum zuführen!«<br />

Olmedo nickte. Das war ein überzeugendes Argument.<br />

Cortés ließ den Totonaken dur<strong>ch</strong> Marina eröffnen, nur getaufte Mäd<strong>ch</strong>en könnten Gattinnen<br />

der weißen Männer werden. El Gordo hatte ni<strong>ch</strong>ts einzuwenden. Aber Cortés forderte mehr: ni<strong>ch</strong>t<br />

nur die Mäd<strong>ch</strong>en, au<strong>ch</strong> der König, au<strong>ch</strong> die Würdenträger, das ganze Volk der Totonaken sollten<br />

dem Irrglauben entsagen, den blutrünstigen Göttern abs<strong>ch</strong>wören und die Götzenbilder in Stücke<br />

s<strong>ch</strong>lagen.<br />

Der dicke Kazike lief rot an. Ärgerli<strong>ch</strong> rief er: »Das geht zu weit! I<strong>ch</strong> habe es s<strong>ch</strong>on einmal<br />

gesagt!«<br />

Da wurde ihm eröffnet, dass das Tor der Tempelmauer ges<strong>ch</strong>lossen und er mit seinem Hofstaat<br />

Gefangene seien. Die Mäd<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zten auf, die dicke Prinzessin begann zu weinen, und<br />

die Adler hoben ihre Holzs<strong>ch</strong>werter. Do<strong>ch</strong> umsonst, sie wurden abgeführt.<br />

Cortés blieb mit dem dicken Kaziken allein und ließ ihn si<strong>ch</strong> austoben. König S<strong>ch</strong>ilfrohr rief<br />

aufgeregt, das sei Verrat und Treulosigkeit, und ob die Weißen alle ihre Bündnisgenossen so behandeln?<br />

Die Götter der Totonaken wa<strong>ch</strong>ten seit ungezählten Generationen über seinem Volk –<br />

wie könne er sie verraten?<br />

Als der Kurzatmige, ers<strong>ch</strong>öpft von seiner Erregung, zu weinen begann, ließ Cortés ihm dur<strong>ch</strong><br />

Marina gütig zureden: Er solle do<strong>ch</strong> sein Leben ni<strong>ch</strong>t aufs Spiel setzen! Der Kaiser Don Carlos<br />

habe allen, die si<strong>ch</strong> der Bekehrung widersetzten, den Tod angedroht. Do<strong>ch</strong> Cortés lasse ihm ja<br />

Zeit zum Überlegen. Er müsse do<strong>ch</strong> einsehen, dass Cortés sein Freund sei und nur das Beste für<br />

ihn und das Heil seiner Seele wolle.<br />

Der Widerstand des dicken Kaziken erlahmte. Er liebte seine Götter, do<strong>ch</strong> sein Leben liebte<br />

er no<strong>ch</strong> mehr. Er wis<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> die Tränen ab und griff na<strong>ch</strong> der Hand des weißen Herrn. Er für<strong>ch</strong>te<br />

si<strong>ch</strong> vor der unausspre<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> grausamen Ra<strong>ch</strong>e der Götter, und au<strong>ch</strong> vor der Strafe Moctezumas<br />

sei ihm bang. Sie redeten ihm seine Ängste aus. Ra<strong>ch</strong>e der Götter? Kinderei! Armselige Steingötzen,<br />

stumm und taub und unfähig, si<strong>ch</strong> zu wehren, wenn man sie s<strong>ch</strong>lüge! Wie sollten die si<strong>ch</strong><br />

rä<strong>ch</strong>en? Und gar der große Moctezuma – ein Steingötze wie diese hier. Moctezuma s<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tere<br />

ein, aber er sei genau so wehrlos, wenn die fällende Axt naht. Und wenn der Herr des Ostens den<br />

s<strong>ch</strong>ützenden S<strong>ch</strong>ild seines Wohlwollens vor einen Freund halte, treffe diesen die Strafe<br />

Moctezumas nimmermehr.<br />

Es war hö<strong>ch</strong>ste Zeit, S<strong>ch</strong>ilfrohr wieder zu beruhigen, denn ein tausendstimmiger Tumult war<br />

von irgendwo herangeflutet, näher und näher, und zum wahnwitzigen Kriegsges<strong>ch</strong>rei anges<strong>ch</strong>wollen;<br />

es brauste, brandete und prallte gegen das Gemäuer des Tempels, und gefiederte Rohrpfeile<br />

zis<strong>ch</strong>ten über die Wälle! Da kra<strong>ch</strong>ten die Explosionen eherner Felds<strong>ch</strong>langen und Musketen. Das<br />

war kein Geplänkel mehr. Das Volk der Totonaken wollte erbost seinen König befreien.<br />

Cortés ließ sofort das Feuer einstellen und alle Gefangenen in Freiheit setzen. Als der dicke<br />

Kazike mit seinen Adlern, Jaguaren und den a<strong>ch</strong>t Jungfrauen aus dem Tor des Tempels trat, war<br />

bereits Blut geflossen. Fünf indianis<strong>ch</strong>e Krieger waren der Zauberwirkung der Blitzrohre erlegen.<br />

Aber au<strong>ch</strong> den Kastiliern, die von den Mauerzinnen herabges<strong>ch</strong>ossen hatten, waren Verluste<br />

dur<strong>ch</strong> indianis<strong>ch</strong>en Wurfges<strong>ch</strong>osse und Pfeile beigebra<strong>ch</strong>t worden. Zwei Soldaten waren verletzt:<br />

Sandovals Freund Pedro Baracoa, der Prahlhans ohne Leistungen (der einstige Reitkne<strong>ch</strong>t des<br />

Grafen von Urueña), und Alonso de Grado, jener Zungendres<strong>ch</strong>er und Viels<strong>ch</strong>reiber, dessen Bitts<strong>ch</strong>rift<br />

Cortés zurückgewiesen hatte.<br />

Der Anblick des dicken Kaziken beruhigte das tobende Volk. König S<strong>ch</strong>ilfrohr hob beide<br />

Hände und gebot Ruhe, do<strong>ch</strong> es bedurfte seiner väterli<strong>ch</strong>en Ermahnung kaum. Die Bogen wurden<br />

entspannt, die Pfeile von den Sehnen genommen. Der dicke Kazike erklärte, dass »Unser Herr,<br />

der weiße Göttersohn«, den mä<strong>ch</strong>tigsten Gott Quetzalcoatl verehre. Und das wollten nun au<strong>ch</strong> sie<br />

tun, die Totonaken, wenn der weiße Herr beweise, dass Quetzalcoatl tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> mä<strong>ch</strong>tiger sei als


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 67<br />

die Götter der Totonaken.<br />

Die Totonaken mo<strong>ch</strong>ten wohl erwarten, dass na<strong>ch</strong> ihrem König nun »Unser Herr der weiße<br />

Göttersohn« dur<strong>ch</strong> den Mund seiner s<strong>ch</strong>önen Sklavin Malintzín zu ihnen reden werde. Do<strong>ch</strong> eine<br />

andere wurde diesmal Dolmets<strong>ch</strong>erin seines Willens. Cortés hatte s<strong>ch</strong>on seine Befehle erteilt, und<br />

so öffnete die Singende Na<strong>ch</strong>tigall ihren Feuer speienden Mund, spuckte eine klafterweite Flamme<br />

und Rau<strong>ch</strong> aus und traf dur<strong>ch</strong> zauberis<strong>ch</strong>e Fernwirkung das steinerne Bildnis des Gottes<br />

Tezcatlipoca auf der Tempelterrasse. Der Kopf des Gottes wackelte, s<strong>ch</strong>wankte, fiel ab und rollte<br />

die Treppe der Pyramide hinunter, hüpfend wie ein Ball. Der Feuerwerker Mesa hatte einen Meisters<strong>ch</strong>uss<br />

getan.<br />

Das Volk der Totonaken erstarrte. Klagelaute und Seufzer waren zu vernehmen und stiegen<br />

ins wolkenlose Himmelsblau empor. Aus den Tempeltoren stürzten voller Entsetzen s<strong>ch</strong>warz bemalte,<br />

langkrallige Priester, starrten zu ihrem König und erwarteten dessen rä<strong>ch</strong>enden Bannstrahl.<br />

Do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts ges<strong>ch</strong>ah. Der dicke Kazike rührte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t – er war selber erstarrt und erwartete die<br />

Ra<strong>ch</strong>e der Götter. Kein Erdbeben – ni<strong>ch</strong>ts! Der kopflose Gott saß regungslos und stumpfsinnig da.<br />

Nun spra<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> Cortés, und Marina war La Lengua, seine Zunge: »S<strong>ch</strong>läft euer Gott?<br />

Weckt ihn do<strong>ch</strong>, wenn ihr könnt! Oder starb er gar, der Geköpfte? Vor ihm habt ihr gezittert, vor<br />

diesem tauben Steinklotz?«<br />

Cortés hob die Hand, der S<strong>ch</strong>arfs<strong>ch</strong>ütze und Trompeter Rodríguez setzte die lilienförmige<br />

Kupfertrompete an den Mund, entlockte ihr ein s<strong>ch</strong>metterndes Signal, und ein Trupp Kastilier<br />

stürmte über die Tempeltreppe na<strong>ch</strong> oben, s<strong>ch</strong>lug auf den kopflosen Gott mit Stahlhämmern und<br />

Äxten ein, zers<strong>ch</strong>metterte ihn wie einen tönernen Topf und s<strong>ch</strong>leuderte die Trümmer die steile<br />

Tempelpyramide hinunter.<br />

Die Totonaken erwa<strong>ch</strong>ten aus der Erstarrung. Die Ma<strong>ch</strong>tlosigkeit der Götter war bewiesen;<br />

der Strahlenglanz ihrer Autorität verbli<strong>ch</strong>. Quetzalcoatl war übers Meer zurückgekommen, er war<br />

mä<strong>ch</strong>tiger als sie alle! Ein Raus<strong>ch</strong> der Zerstörungswut packte die Menge. No<strong>ch</strong> zwanzig Tempel<br />

ragten über die Dä<strong>ch</strong>er Cempoalas empor. Von einem zum anderen zogen die Kastilier und<br />

Totonaken, um das Zerstörungswerk zu vollenden. Na<strong>ch</strong> ein paar Stunde war es getan. Es gab<br />

keine Götter mehr in Cempoala!<br />

Der Page Orteguilla erzählte später, bis in die Na<strong>ch</strong>t hinein habe der dicke Kazike seine toten<br />

Götter bes<strong>ch</strong>impft. Seine To<strong>ch</strong>ter aber, die dicke Prinzessin Freundli<strong>ch</strong>es Wasser, habe stolz<br />

erklärt, sie werde wirkli<strong>ch</strong>e Götter zur Welt bringen, denn sie sei die Braut des hö<strong>ch</strong>sten wirkli<strong>ch</strong>en<br />

Gottessohnes und vera<strong>ch</strong>te die toten Götter; sie habe sie überhaupt seit jeher vera<strong>ch</strong>tet!<br />

Drei Tage lang musste aufgeräumt werden. Die Tempelterrassen wurden von den Trümmern,<br />

S<strong>ch</strong>erben und Splittern der zers<strong>ch</strong>lagenen Bilder und Opferblutsteine gesäubert; das zu dickem<br />

Gallert verhars<strong>ch</strong>te, stinkende, brauns<strong>ch</strong>warze Mens<strong>ch</strong>enblut an den Wänden und am Fußboden<br />

wurde abgekratzt, abges<strong>ch</strong>euert, heruntergewas<strong>ch</strong>en. Indianis<strong>ch</strong>e Bauarbeiter tün<strong>ch</strong>ten die<br />

gesäuberten Wände weiß mit Kalk, um sie für <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Heilige wohnli<strong>ch</strong> zu ma<strong>ch</strong>en. Der S<strong>ch</strong>iffszimmermann<br />

Cristóbal de Jaén musste ein mä<strong>ch</strong>tiges Holzkreuz für die Da<strong>ch</strong>spitze des Haupttempels<br />

anfertigen. Im Innenraum des Haupttempels stellten Pater Olmedo und der Lizentiat Díaz<br />

ein auf Leinwand gemaltes Bildnis der Erlösermutter auf. Kein Kunstwerk, Dutzendware vielmehr –<br />

mit dreißig ähnli<strong>ch</strong>en Bildern auf dem Markt von Havanna zur Erhebung von Heidenherzen billig<br />

erstanden.<br />

Ans<strong>ch</strong>ließend wurden die Tempelpriester gesäubert, ihre s<strong>ch</strong>warzen Priestergewänder zu<br />

Haufen ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tet und angezündet. Was Wasser ni<strong>ch</strong>t reinigt, reinigt Feuer! Die nackten Priester<br />

aber trieb man in den Fluss – zur Taufe. Dann wurden sie in wallende weiße Gewänder gekleidet.<br />

So verwandelt, zogen sie am dritten Tag in langer Prozession dur<strong>ch</strong> die Stadt, von Tempel zu<br />

Tempel, und räu<strong>ch</strong>erten sie mit Kopal-Harz, während Pater Olmedo und der Lizentiat die alten<br />

heidnis<strong>ch</strong>en Kultstätten dem Christengott und seinen Aposteln und Märtyrern weihten.<br />

Zur Beaufsi<strong>ch</strong>tigung der gewas<strong>ch</strong>enen, nunmehr <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Priester – die von Xesu Quilisto<br />

(so spra<strong>ch</strong>en sie Jesus Christus aus) oder von Xesu Nazaleno oder Santa Malía kaum die Namen<br />

kannten – wurde ein alter Soldat bestimmt, Juan Torrés, denn auf Olmedo und Fray Juan Díaz<br />

konnte die Truppe ni<strong>ch</strong>t verzi<strong>ch</strong>ten.<br />

»Der Alte weiß von unserm Glauben ni<strong>ch</strong>t viel mehr als seine S<strong>ch</strong>utzbefohlenen«, sagte<br />

Velásquez de León zu Cortés. »Wie soll er sie bekehren?«<br />

»Das hat s<strong>ch</strong>on das Wasser besorgt!«, erwiderte Cortés. »Zum Kriegsdienst ist der Alte


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 68<br />

kaum mehr taugli<strong>ch</strong> – hier aber kann er uns nützen! Und wenn er bloß den Pfaffen beibringt, aus<br />

Wa<strong>ch</strong>s Kerzen zu drehen und sie dazu anhält, die Li<strong>ch</strong>ter und Lämp<strong>ch</strong>en vor den Heiligens<strong>ch</strong>reinen<br />

ni<strong>ch</strong>t ausgehen zu lassen, muss das Gottesdienst genug sein!« Ihm war es egal, ob die<br />

Totonaken bekehrt wurden oder ni<strong>ch</strong>t. Wi<strong>ch</strong>tig war, dass König Carlos davon erfuhr. »Übrigens«,<br />

fuhr er fort, »wird si<strong>ch</strong> der Page Orteguilla mit ihm beraten können, sollte uns im Rücken Gefahr<br />

drohen; au<strong>ch</strong> wird der Knabe si<strong>ch</strong> lei<strong>ch</strong>ter mit seiner Verlassenheit und der Papageienfederperücke<br />

abfinden, wenn der alte Torrés mit ihm in Cempoala zurückbleibt.«<br />

Pater Olmedo hatte alle Hände voll zu tun. Auf die Reinigung der Gotteshäuser und der<br />

Priester folgte die Taufe der a<strong>ch</strong>t Bräute und ihrer Verwandten. Ein Glück, dass der Fluss die Stadt<br />

dur<strong>ch</strong>querte; in Reihen am Ufer aufgestellt, mussten die Täuflinge – Männlein und Weiblein –, bis<br />

zum Hals ins Wasser steigen. Pater Olmedo spra<strong>ch</strong> für alle zuglei<strong>ch</strong> die Taufformel, die weißen<br />

Männer und Frauen sahen als Taufpaten zu. Nur am Totonakenkönig und seiner To<strong>ch</strong>ter wurde<br />

ihres hohen Ranges wegen – au<strong>ch</strong> weil die dicke Prinzessin si<strong>ch</strong> geweigert hatte, ihre hüllenlosen<br />

Reize profanen Blicken preiszugeben – die Handlung gesondert vorgenommen. Cortés, als Bräutigam,<br />

und nur wenigen seiner Getreuen war es gestattet, Zeugen dieser Zeremonie zu sein.<br />

»Ein rötli<strong>ch</strong>es Nilpferd«, flüsterte Lugo, als die Prinzessin im Wasser pläts<strong>ch</strong>erte. Den Verglei<strong>ch</strong><br />

weiter zu spinnen, hinderte ihn ein strenger Blick des Generalkapitäns. Do<strong>ch</strong> in seinen Augen<br />

blitzte Ironie.<br />

*<br />

Dann wurde Ho<strong>ch</strong>zeit gehalten. Drei Tage dauerten die Feierli<strong>ch</strong>keiten. Es half ni<strong>ch</strong>ts – Cortés<br />

musste mit Doña Catalina India (so war »Freundli<strong>ch</strong>es Wasser« getauft worden) Beilager halten.<br />

Wohl hatte er Ausflü<strong>ch</strong>te gesu<strong>ch</strong>t und dur<strong>ch</strong> Marina der Braut und ihrem Vater mitteilen lassen, er<br />

habe eine Ehefrau daheim – glei<strong>ch</strong>falls Catalina genannt –, und Doppelehen einzugehen gestatte<br />

die <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Religion ni<strong>ch</strong>t. Do<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>merzvolle Enttäus<strong>ch</strong>ung, die jede Falte im Antlitz des<br />

dicken Kaziken no<strong>ch</strong> tiefer fur<strong>ch</strong>te, die as<strong>ch</strong>graue Hoffnungslosigkeit, mit der er versi<strong>ch</strong>erte, er<br />

wolle niemandem sein Kind aufdrängen, das Entsetzen des indianis<strong>ch</strong>en Hofstaates, der S<strong>ch</strong>recken<br />

und die klagenden Wehrufe der dicken Prinzessin – dies alles erwei<strong>ch</strong>te Cortés' Herz, und er<br />

da<strong>ch</strong>te darüber na<strong>ch</strong>, ob er der Politik ni<strong>ch</strong>t das Opfer bringen müsse.<br />

Marina, mit der er si<strong>ch</strong> beriet, überredete ihn selbstlos dazu. Es tat ihr in der Seele weh, ihrem<br />

Geliebten, ihrem Gott Cortés zur Ho<strong>ch</strong>zeitsna<strong>ch</strong>t zu raten, aber sie war au<strong>ch</strong> mit einem ausgeprägten<br />

Sinn für Strategie und politis<strong>ch</strong>e Notwendigkeiten begabt. Den Auss<strong>ch</strong>lag gab Doña<br />

Catalina India selbst. Sie hatte si<strong>ch</strong> in den Kopf gesetzt, weiße Götter – sollten sie au<strong>ch</strong> uneheli<strong>ch</strong><br />

sein – zur Welt zu bringen. Das war ihre vom S<strong>ch</strong>icksal zugeda<strong>ch</strong>te Lebensaufgabe, davon war sie<br />

nun überzeugt, und von diesem Ents<strong>ch</strong>luss ging sie ni<strong>ch</strong>t ab. Und sie war so verliebt, dass sie Cortés<br />

ihren faustgroßen Smaragd zum Ges<strong>ch</strong>enk anbot. Cortés s<strong>ch</strong>ätzte ihn gut und gerne auf 20<br />

000 Dukaten. Diesem Argument konnte er ni<strong>ch</strong>t widerstehen! Damit s<strong>ch</strong>molz das Eis. Cortés<br />

bra<strong>ch</strong>te es ni<strong>ch</strong>t übers Herz, eine so beharrli<strong>ch</strong>e Liebe mitsamt dem Smaragd zurückzuweisen. Er<br />

nahm das Ges<strong>ch</strong>enk an und damit au<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>enkerin. Von nun an trug der Anführer der Kastilier<br />

den S<strong>ch</strong>muck an einer Kette um den Hals. Die Eingeborenen gaben ihm den Namen »Grüner<br />

Stein« – denn der Smaragd war au<strong>ch</strong> ein Symbol Quetzalcoatls.<br />

Do<strong>ch</strong> Bigamie war ein s<strong>ch</strong>weres Vergehen. Pater Olmedo jedo<strong>ch</strong> half Cortés aus der Pats<strong>ch</strong>e.<br />

Man würde keine e<strong>ch</strong>te Trauung vornehmen, und die Sünde des Ehebru<strong>ch</strong>s sei weniger zu<br />

sühnen als eine verbotene Doppelehe. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> gab es in europäis<strong>ch</strong>en Fürstenhäusern immer<br />

wieder morganatis<strong>ch</strong>e Ehen.<br />

Cortés wusste, dass er no<strong>ch</strong> man<strong>ch</strong>en Widersa<strong>ch</strong>er im Heer hatte, darum ließ er sofort verbreiten,<br />

die dicke Prinzessin werde nur seine Konkubine sein. Dur<strong>ch</strong> Marina ins Mexicanis<strong>ch</strong>e<br />

übersetzt, hieß das: »des Sonnensohnes zweite Gemahlin«, und die Totonaken sowohl wie Doña<br />

Catalina India waren es zufrieden. Cortés allerdings weniger. Als ihn die Hauptleute mit heiterer<br />

Freundli<strong>ch</strong>keit beglückwüns<strong>ch</strong>ten, ers<strong>ch</strong>ien ihm dies in seinem s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten Gewissen teils bemitleidend,<br />

teils sarkastis<strong>ch</strong>. (Hatte ni<strong>ch</strong>t Alvarado ein ironis<strong>ch</strong>es Zucken um den Mund? Aber viellei<strong>ch</strong>t<br />

kam es Cortés nur so vor.) Den Hauptleuten musste es wohl einleu<strong>ch</strong>ten, dass die Politik einen<br />

Feldherrn vor s<strong>ch</strong>were Aufgaben stellt. Nur vor Marina ents<strong>ch</strong>uldigte er si<strong>ch</strong> unter vier Augen. Sie


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 69<br />

reagierte verständnisvoll und so wenig eifersü<strong>ch</strong>tig, dass es eigentli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on wieder kränkend war.<br />

Für die sieben anderen Bräute Männer zu finden war indes ni<strong>ch</strong>t ganz so lei<strong>ch</strong>t, wie die<br />

Totonaken es si<strong>ch</strong> geda<strong>ch</strong>t hatten. Die Kavaliere im kastilis<strong>ch</strong>en Heer verhielten si<strong>ch</strong> sehr zurückhaltend.<br />

Man befand si<strong>ch</strong> ja no<strong>ch</strong> nahe der Küste und wollte abwarten; in den Ländern Tlaxcala,<br />

Cholula und Mexico gab es ja au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> Prinzessinnen! Nur der stille, stets blei<strong>ch</strong>wangige Hauptmann<br />

Andrés de Tapia ließ si<strong>ch</strong> herbei, eines der adeligen Mäd<strong>ch</strong>en, seit der Taufe Doña Francisca<br />

genannt, zum Altar zu führen – die To<strong>ch</strong>ter des totonakis<strong>ch</strong>en Heerführers Cuhextecatl und<br />

eine der rei<strong>ch</strong>sten Erbinnen des Landes. Unter den übrigen Bräuten durfte der alte<br />

bocksgesi<strong>ch</strong>tige Heredia — der fur<strong>ch</strong>tbare Zauberer von Tzimpantzinco – Auss<strong>ch</strong>au halten und<br />

si<strong>ch</strong> ein liebli<strong>ch</strong>es, zartes junges Ding aneignen. Die Freier der fünf anderen Bräute waren Fähnri<strong>ch</strong>e<br />

und Kavalleristen, keine Hidalgos.<br />

Auf dem Rasenplatz zwis<strong>ch</strong>en Haupttempel und Königspalast wurde ein Traualtar erri<strong>ch</strong>tet.<br />

Wieder sang der fette Franziskanermön<strong>ch</strong> und Lizentiat Juan Díaz mit den wulstigen Lippen die<br />

Responsorien; als Messdiener in spitzenverbrämtem Röck<strong>ch</strong>en waltete Kaplan Francisco López<br />

de Gómera. Weil es au<strong>ch</strong> hier keine Orgel gab, begleiteten der Tanzmeister Ortiz und der Musiker<br />

Rodrigo Morón auf ihren Gitarren, der Trommler Canillas, der s<strong>ch</strong>on in Italien Tambour gewesen<br />

war, rührte dazu die Trommel. Die Feier war erhebend. Der dicke Kazike s<strong>ch</strong>wamm in Tränen.<br />

Cortés und Doña Catalina India wurden gesegnet, aber ni<strong>ch</strong>t getraut. Es war ja sozusagen eine<br />

Heirat linker Hand. Denno<strong>ch</strong> barst das dicke Mäd<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>ier vor Glück und verriet die Glut ihrer<br />

Empfindungen, indem sie si<strong>ch</strong> wie rasend fä<strong>ch</strong>elte. »Sie könnte ein Ei in der Hand ko<strong>ch</strong>en«, flüsterte<br />

Hauptmann Francisco de Lugo.<br />

Pater Olmedo hatte sodann die sieben anderen Paare eheli<strong>ch</strong> zu kopulieren, und außer diesen<br />

no<strong>ch</strong> einige kastilis<strong>ch</strong>e Ho<strong>ch</strong>zeiter. Denn in einer Armee gibt es viele na<strong>ch</strong> Liebe hungernde<br />

Männer, und heiraten ist ansteckend. Die s<strong>ch</strong>öne Amazone María de Estrada we<strong>ch</strong>selte die Ringe<br />

mit ihrem Lebensretter, dem s<strong>ch</strong>önhändigen Lope Cano; der Bogens<strong>ch</strong>ütze Pedro de Tirado, der<br />

Tü<strong>ch</strong>tigsten einer, führte die vornehme Abenteuerin Pilar de Elgueta zum Altar, wie er es si<strong>ch</strong> erst<br />

kürzli<strong>ch</strong> beim Abendtanz im Indianerdorf vorgenommen hatte; und zum Bedauern Vieler wurde die<br />

reizende, ein wenig rundli<strong>ch</strong>e Rosita Muños die Frau des Tarifa, des dienstbeflissenen de los<br />

servicios, der allzu häufig davon spra<strong>ch</strong>, wel<strong>ch</strong>e Dienste er Seiner Majestät dem Kaiser leiste und<br />

wie s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t er dafür entlohnt werde.<br />

Eigentli<strong>ch</strong> hatten au<strong>ch</strong> Antonio Villareal, der junge Fähnri<strong>ch</strong> des Diego de Ordás, und die olivenblei<strong>ch</strong>e<br />

Isabel de Ojeda vorgehabt, si<strong>ch</strong> trauen zu lassen. Seit er ihr an jenem Tanzabend die<br />

beiden Venuss<strong>ch</strong>uhblumen überrei<strong>ch</strong>t und sie ihm den Kuss für Ordás gegeben hatte, waren sie<br />

ineinander verliebt und hatten si<strong>ch</strong> wieder und wieder gesehen, hatten si<strong>ch</strong> geküsst und Treue<br />

ges<strong>ch</strong>woren. Do<strong>ch</strong> als sie am Morgen dieses Tages vor Don Diego hintraten, sein Einverständnis<br />

zu erbitten, und der s<strong>ch</strong>wermütige Rittersmann sie mit einem verwundeten Blick ansah, verloren<br />

sie den Mut und redeten von glei<strong>ch</strong>gültigen Dingen.<br />

Eine Stunde vor der Trauungsfeier trat der alte Armbrusts<strong>ch</strong>ütze Santisteban zu Lope Cano<br />

dem S<strong>ch</strong>önhändigen, als dieser eben sein bestes Seidenwams angelegt und damit bes<strong>ch</strong>äftigt<br />

war, si<strong>ch</strong> mit Mos<strong>ch</strong>usduft zu parfümieren; ni<strong>ch</strong>t umsonst hieß er der S<strong>ch</strong>önhändige.<br />

Besorgt fragte Santisteban: »Ma<strong>ch</strong>t Ihr Eu<strong>ch</strong> keine Gedanken, Señor?«<br />

Nun war es gewiss ni<strong>ch</strong>t die Art des S<strong>ch</strong>önhändigen, si<strong>ch</strong> Gedanken zu ma<strong>ch</strong>en. Und heute<br />

hatte er weniger Grund dazu als sonst. Er begriff die Frage gar ni<strong>ch</strong>t – jedermann hatte ihn beglückwüns<strong>ch</strong>t.<br />

Was wollte der Alte eigentli<strong>ch</strong>? Santisteban nestelte verlegen an seinem Ärmel und<br />

sagte erst na<strong>ch</strong> einigem Stottern und Zaudern:<br />

»Stellt Eu<strong>ch</strong> vor, Señor, Doña Elvira lebt no<strong>ch</strong>! Ihr würdet S<strong>ch</strong>uld auf Eu<strong>ch</strong> laden!«<br />

»Pater Olmedo hat mi<strong>ch</strong> beruhigt«, erwiderte Cano kalt und betra<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong> in einem kleinen<br />

Spiegel, den er stets in seinem Barett trug. »Sie ist tot!«<br />

»Woher wisst Ihr das?«<br />

»Doña Elvira war zart und kränkli<strong>ch</strong>. Sie muss tot sein. Es sind zehn Jahre her. Als Sklavin<br />

verkauft – i<strong>ch</strong> bitte Eu<strong>ch</strong>, wer hält das aus!« Er war selbst Sklavenhändler gewesen; er musste es<br />

wissen. »Nein, nein, sie ist tot«, wiederholte er.<br />

»I<strong>ch</strong> wüns<strong>ch</strong>e ihr und Eu<strong>ch</strong>, dass Gott sie bald zu si<strong>ch</strong> nahm!«, murmelte Santisteban und<br />

entfernte si<strong>ch</strong> kopfs<strong>ch</strong>üttelnd.<br />

Das Ho<strong>ch</strong>zeitsmahl wurde im Atrium eingenommen, einem da<strong>ch</strong>losen, mit grellbunten Zelt-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 70<br />

tü<strong>ch</strong>ern gedeckten Prunkhof des Königspalastes. Das gesamte kastilis<strong>ch</strong>e Heer und zweiunddreißig<br />

Frauen nahmen daran teil. Gemis<strong>ch</strong>t saßen die weißen Götter und Göttinnen zwis<strong>ch</strong>en ihren<br />

rothäutigen Anbetern mit Nasen- und Lippenpflöcken aus Perlmutt und s<strong>ch</strong>lossen Brüders<strong>ch</strong>aften.<br />

Reden auszutaus<strong>ch</strong>en war umständli<strong>ch</strong>, umso mehr spra<strong>ch</strong> man den Speisen und Getränken zu.<br />

Neue Genüsse für Nase und Gaumen boten si<strong>ch</strong> dar, und au<strong>ch</strong> die Totonaken erhielten Gelegenheit,<br />

die Ko<strong>ch</strong>kunst der östli<strong>ch</strong>en Hemisphäre zu bewundern, denn die Marketenderin Catalina<br />

Márquez, die man die Goldhyazinte nannte, hatte in einem der zauberhaften Königssäle ihre Marketenderbude<br />

und einen Kredenztis<strong>ch</strong> aufges<strong>ch</strong>lagen, s<strong>ch</strong>morte, ko<strong>ch</strong>te, buk und s<strong>ch</strong>enkte von<br />

den beliebten spanis<strong>ch</strong>en Süßweinen aus. Ihre Pasteten und Tortillas fanden den Beifall der Indianer.<br />

Mit dem spanis<strong>ch</strong>en Wein freili<strong>ch</strong> musste gespart werden; daher durfte nur die königli<strong>ch</strong>e Familie<br />

davon kosten; und sie tat es ausgiebig.<br />

Die Europäer fanden die vorgesetzte Speisenfolge überaus mannigfaltig, konnten ihr jedo<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t bedingungslos Anerkennung zollen. Die in Erdlö<strong>ch</strong>ern gebratenen Hirs<strong>ch</strong>e, Wa<strong>ch</strong>teln und<br />

Faultiere mundeten allerdings ausgezei<strong>ch</strong>net. Au<strong>ch</strong> siebzig kleine Hunde, mit Chillipfeffer und Tomaten<br />

ges<strong>ch</strong>mort und mit Truthahnfleis<strong>ch</strong> überdeckt, waren zart und lecker. Do<strong>ch</strong> nur wenigen<br />

Weißen gelang es, gerösteten Heus<strong>ch</strong>recken, Wasserkäfern und den weißen Maiswürmern Ges<strong>ch</strong>mack<br />

abzugewinnen. Da zog man die geko<strong>ch</strong>ten Iguanas und S<strong>ch</strong>wanzlur<strong>ch</strong>e vor; oder man<br />

hielt si<strong>ch</strong> an die Maisku<strong>ch</strong>en.<br />

Na<strong>ch</strong> dem Mahl bra<strong>ch</strong>ten cocos, Dienerinnen des königli<strong>ch</strong>en Haushalts, Wasser zum Händewas<strong>ch</strong>en<br />

und Mundspülen. Dann wurden Tabakpfeifen herumgerei<strong>ch</strong>t und ein Getränk, bereitet<br />

aus Kakaomehl und Vanille. Zum S<strong>ch</strong>luss boten die Gastgeber unbekannte Frü<strong>ch</strong>te an. Die Fru<strong>ch</strong>t<br />

des Zapotebaumes s<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elte dem Gaumen, do<strong>ch</strong> die Europäer kannten die süße Tücke der<br />

apfelgroßen Fru<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t. Die Totonaken ma<strong>ch</strong>ten Zei<strong>ch</strong>en, dass man nur mäßig davon genießen<br />

dürfe, aber die Zei<strong>ch</strong>en wurden ni<strong>ch</strong>t verstanden. Zu süß war die Fru<strong>ch</strong>t. So trat s<strong>ch</strong>icksalhaft das<br />

Unheil ein: Die stark abführenden Zapoteäpfel taten ihre Wirkung, und flu<strong>ch</strong>tartig musste ein <strong>Teil</strong><br />

des kastilis<strong>ch</strong>en Heeres den Königspalast verlassen. Die Zurückgebliebenen fanden das sehr erheiternd.<br />

Der dicke Kazike ließ an seine kastilis<strong>ch</strong>en Gäste tausend buntgewirkte Mäntel und vierhundert<br />

S<strong>ch</strong>ambinden dur<strong>ch</strong> den Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e verteilen. Obglei<strong>ch</strong> das na<strong>ch</strong><br />

landläufiger Sitte ein großzügiges Ges<strong>ch</strong>enk war, spra<strong>ch</strong> er unterwürfig die Bitte aus, ihm die geringe<br />

Anzahl der Mäntel ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>zutragen. Dann hielt er eine Festrede, die mit den Worten begann:<br />

»Vereinigt seid ihr in meinem Palast, o ihr Krieger, o ihr Tapferen! Ihr habt die Mühe ni<strong>ch</strong>t<br />

ges<strong>ch</strong>eut, eu<strong>ch</strong> an diesen bes<strong>ch</strong>eidenen Ort zu begeben, trotz eures Ansehens!« Und dann bra<strong>ch</strong>te<br />

er eine Ents<strong>ch</strong>uldigung hervor. »Das Mahl, das i<strong>ch</strong> eu<strong>ch</strong> vorsetzte, war rei<strong>ch</strong>haltig für gewöhnli<strong>ch</strong>e<br />

Sterbli<strong>ch</strong>e, aber do<strong>ch</strong> kein Göttermahl, denn die beste Speise fehlt!«<br />

Und während Marina übersetzte, rollten ihm Tränen der Entsagung über die gemalten Wangen:<br />

Glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>dem er seine To<strong>ch</strong>ter dem Hö<strong>ch</strong>sten der weißen Männer anverlobt hatte – na<strong>ch</strong><br />

der Einnahme Tzimpantzincos dur<strong>ch</strong> den großen Zauberer Heredia und no<strong>ch</strong> vor der Zerstörung<br />

der Götterbilder –, hatte der dicke Kazike si<strong>ch</strong> auf den Sklavenmarkt begeben, um seinem göttli<strong>ch</strong>en<br />

S<strong>ch</strong>wiegersohn zur Ho<strong>ch</strong>zeit die Speise der Götter vorzusetzen. Bei einem als redli<strong>ch</strong> beleumundeten<br />

Mens<strong>ch</strong>enhändler aus Tlatelolco setzte er si<strong>ch</strong> nieder und ließ si<strong>ch</strong> die Ware zeigen.<br />

Der Mann führte keine anderen Sklaven als nur sol<strong>ch</strong>e, die gegessen wurden und die man tlaltiltin<br />

nannte, die »Gutgewas<strong>ch</strong>enen«. Da sie dazu bestimmt waren, als Speise zu dienen, wurde Gewi<strong>ch</strong>t<br />

darauf gelegt, dass sie sauber und wohlgenährt aussahen und dass ihr Fleis<strong>ch</strong> wei<strong>ch</strong>, saftig<br />

und gesund war.<br />

Mit redseligem Worts<strong>ch</strong>wall pries der Händler dem dicken Kaziken seine Ware an, ma<strong>ch</strong>te<br />

ihn auf die zierli<strong>ch</strong>en Tanzbewegungen des einen der Gutgewas<strong>ch</strong>enen aufmerksam, auf die<br />

wohlproportionierte Körperform eines anderen, auf die Zartheit der S<strong>ch</strong>enkel eines dritten, auf die<br />

klangvolle Stimme eines vierten und so weiter. Leute mit Körperfehlern führe er überhaupt ni<strong>ch</strong>t,<br />

gab er zu verstehen, und wenn er für diesen oder jenen nur dreißig Mäntel als Preis verlangte, so<br />

sei es, weil sie weniger Grazie beim Reigen zeigten. Die aber, die ges<strong>ch</strong>mackvoll singen und tanzen<br />

konnten, kosteten vierzig Mäntel! Von diesem Preis ging er ni<strong>ch</strong>t ab, und mo<strong>ch</strong>te selbst ein<br />

König Käufer bei ihm sein. Der dicke Kazike wählte zwölf Gutgewas<strong>ch</strong>ene, se<strong>ch</strong>s Jünglinge und<br />

se<strong>ch</strong>s Mäd<strong>ch</strong>en, und bezahlte sie mit vierhunderta<strong>ch</strong>tzig Mänteln. Tags darauf aber waren die alten<br />

Götter tot, und die vierhunderta<strong>ch</strong>tzig Mäntel waren umsonst vertan.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 71<br />

Cortés dankte König S<strong>ch</strong>ilfrohr mit artigen Worten und sagte, da sie nun Christen seien, dürften<br />

sie au<strong>ch</strong> keine Mens<strong>ch</strong>en mehr essen. Zwar gebe es immer Arme und Rei<strong>ch</strong>e, Glückli<strong>ch</strong>e und<br />

Betrübte, Tapfere und Feige – do<strong>ch</strong> auf getaufte Christen warte na<strong>ch</strong> ihrem Hins<strong>ch</strong>eiden das ewige<br />

Leben im Himmelrei<strong>ch</strong>, und vor Gott seien alle Mens<strong>ch</strong>en glei<strong>ch</strong>. Er freue si<strong>ch</strong>, in König S<strong>ch</strong>ilfrohr<br />

einen tapferen und treuen Verbündeten gefunden zu haben, dessen S<strong>ch</strong>wiegersohn er nun<br />

au<strong>ch</strong> sei und dem er seinen allzeitigen S<strong>ch</strong>utz gewähren werde. Sie würden gemeinsam na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán<br />

ziehen, König Moctezuma entthronen und die Totonaken von der Bedrohung dur<strong>ch</strong> die<br />

Azteken befreien.<br />

7. S<strong>ch</strong>lagender Falke<br />

»Cortés s<strong>ch</strong>ickte si<strong>ch</strong> an, von Cempoala aufzubre<strong>ch</strong>en. Ein Bote, den Juan de Escalante<br />

von der Küste ges<strong>ch</strong>ickt hatte, überbra<strong>ch</strong>te die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t, einige kastilis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>iffe seien vor<br />

Veracruz aufgetau<strong>ch</strong>t. Es handelte si<strong>ch</strong> um eine Flotte von vier S<strong>ch</strong>iffen, die unter dem<br />

Kommando von Alonso Álvarez de Pineda stand. Pineda kam im Auftrag von Francisco de<br />

Garay, dem ruhelosen Gouverneur von Jamaika, der no<strong>ch</strong> immer glaubte, zukünftig eine<br />

wi<strong>ch</strong>tige Rolle auf dem Kontinent spielen zu können.«<br />

(H. Thomas: Die Eroberung Mexikos)<br />

Das Ho<strong>ch</strong>zeitsfest wurde fünf Tage lang gefeiert und artete in der ersten Na<strong>ch</strong>t gegen Morgen zur<br />

Orgie aus. Betrunkenen Soldaten hatten die bedienenden cocos und sogar vornehme Indianerinnen<br />

belästigt. Daher überna<strong>ch</strong>teten auf Anordnung des Cortés die Kastilier fortan wieder in ihren<br />

Tempelwohnungen. Trotzdem wurde im Königshaus weiter geze<strong>ch</strong>t und ges<strong>ch</strong>lemmt, gegrölt und<br />

s<strong>ch</strong>armiert – fünf Tage und Nä<strong>ch</strong>te lang war es ein Kommen und Gehen, Fressen und Saufen,<br />

Grölen und Rülpsen, Ze<strong>ch</strong>en und Kotzen.<br />

Am Vormittag des fünften Tages s<strong>ch</strong>ritt Cortés mit Marina über den großen Rasenplatz, um<br />

si<strong>ch</strong> in den Tecpan zu begeben. Eine Menge Neugieriger, Handwerker und Bürger, die zum Palast<br />

keinen Zutritt hatten, wartete vor dem großen S<strong>ch</strong>losstor, in der Hoffnung, die zierli<strong>ch</strong>e Gestalt<br />

Marinas zu erspähen oder einen Blick, ein Lä<strong>ch</strong>eln, einen Gruß des Hö<strong>ch</strong>sten der Sonnensöhne<br />

zu erhas<strong>ch</strong>en. Do<strong>ch</strong> plötzli<strong>ch</strong> erhob si<strong>ch</strong> ein Raunen, und fragendes Kopfwenden hus<strong>ch</strong>te über die<br />

hundertköpfige Menge. Cortés und Marina in der Mitte des Rasenplatzes sahen, wie das Volk auseinander<br />

wi<strong>ch</strong> und vier phantastis<strong>ch</strong> bunt gekleideten Indianern Platz ma<strong>ch</strong>te. Zwei von ihnen waren<br />

als Jaguare, die beiden anderen als Adler verkleidet. Lässig s<strong>ch</strong>ritten sie dem Eingang des<br />

Palastes entgegen. Besonders einer der Adler fiel dur<strong>ch</strong> seine stolze Haltung auf. Die Kostbarkeit<br />

seines Panzers und Helms überstieg alles, was Cortés bisher unter den Begleitern des Silberpumas<br />

und der Sengenden Glut bei den Sanddünen und unter den Adlern und Jaguaren des dicken<br />

Kaziken an Pra<strong>ch</strong>t gesehen hatte. Unna<strong>ch</strong>ahmli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Arroganz seiner Kopfhaltung, seines<br />

Arms<strong>ch</strong>lenkerns, seines lässigen und dünkelhaften S<strong>ch</strong>rittes. Er sah Cortés, aber er übersah ihn<br />

und würdigte ihn keines Blickes. Dann betrat er den Königspalast, als wäre dieser sein eigenes<br />

Haus.<br />

»Wer sind sie?«, fragte Cortés Marina erstaunt.<br />

»Mexica!«, erwiderte sie. »So benehmen si<strong>ch</strong> nur Mexica!«<br />

Von den umherstehenden Totonaken vermo<strong>ch</strong>te sie keine weiteren Auskünfte zu erhalten;<br />

offenbar waren die vier Mexica eben erst in Cempoala angelangt. Cortés und Marina begaben si<strong>ch</strong><br />

eilig in den Tecpan. Als sie si<strong>ch</strong> dem großen Festsaal näherten, fiel ihnen die ungewöhnli<strong>ch</strong>e Stille<br />

auf. Das Be<strong>ch</strong>erklirren, Singen und Grölen der Kastilier war ebenso verstummt wie der s<strong>ch</strong>wermütige<br />

Ton der Trommeln, das klappernde Kürbisgerassel und das Flötenspiel der indianis<strong>ch</strong>en Musi-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 72<br />

kanten. An der Tür des Festsaales bot si<strong>ch</strong> ihren Augen ein unglaubli<strong>ch</strong>es Bild: el Gordo wälzte<br />

si<strong>ch</strong> auf den Knien vor den vier Mexica, rang die Hände und s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zte. Die dicke Prinzessin lag<br />

platt und ohnmä<strong>ch</strong>tig auf dem Fußboden; der Page Orteguilla, der ni<strong>ch</strong>ts weiter trug als seine<br />

S<strong>ch</strong>ambinde und seine Perücke aus lang herabwallenden gelben Papageienfedern, besprengte<br />

sie mit Kräuterwasser. Die Totonaken mit ihren Frauen folgten dem Beispiel ihres Königs und knieten<br />

bestürzt nieder. Selbst die Kastilier, soweit sie ni<strong>ch</strong>t sinnlos betrunken waren und s<strong>ch</strong>nar<strong>ch</strong>ten,<br />

waren aufgesprungen und standen starr, gelähmt, rat- und tatenlos herum. Die rothäutigen jungen<br />

Edelmäd<strong>ch</strong>en aber, dreißig an der Zahl, waren wie ein Rudel verängstigte Rehe in eine Ecke des<br />

Saales geflü<strong>ch</strong>tet. Do<strong>ch</strong> sie hatten einen Verteidiger: Mansilla der Durstige fu<strong>ch</strong>telte (wenn au<strong>ch</strong><br />

unsi<strong>ch</strong>er auf den Beinen) mit einem großen Ko<strong>ch</strong>löffel herum, den er der Goldhyazinte aus der<br />

Hand gerissen hatte, und s<strong>ch</strong>wankte vor den Indianermäd<strong>ch</strong>en auf und ab, willens, sie – falls nötig<br />

– mit dieser Waffe zu verteidigen. Do<strong>ch</strong> wenn er geglaubt hatte, die Mexica zu beeindrucken, so<br />

hatte er si<strong>ch</strong> verre<strong>ch</strong>net. Ohne dem Gewinsel des knienden Königs Gehör zu geben, s<strong>ch</strong>ritt der<br />

s<strong>ch</strong>öne Adlerjüngling auf die Mäd<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>ar zu, wählte einige der S<strong>ch</strong>önsten und zerrte sie heraus.<br />

Als Mansilla Anstalten ma<strong>ch</strong>te, den Ko<strong>ch</strong>löffel zu heben, stieß er ihn verä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> beiseite, dass der<br />

Betrunkene zu Boden stürzte.<br />

An die Göttli<strong>ch</strong>keit der Weißen glaubte dieser Mexica augens<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Marina, die in<br />

aller Eile von Umstehenden unterri<strong>ch</strong>tet wurde, erklärte Cortés, dass die vier Mexica gekommen<br />

waren, um im Namen und auf Befehl Moctezumas ein Strafgeri<strong>ch</strong>t über die Totonaken wegen der<br />

Zerstörung der Götterbilder und der Verbrüderung mit den Weißen zu halten. Der König und seine<br />

adlige Umgebung würden später bestraft. Zuerst verlangten sie einen sofort zu entri<strong>ch</strong>tenden Blutzoll<br />

von zwanzig adligen Jünglingen und Mäd<strong>ch</strong>en, Kindern der hö<strong>ch</strong>sten Würdenträger. Die Jünglinge<br />

sollten in Teno<strong>ch</strong>titlán auf den Altären Huitzilopo<strong>ch</strong>tlis und Tezcatlipocas ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet, die<br />

Mäd<strong>ch</strong>en aber der Göttin der Lust geweiht und dem großen Freudenhaus überwiesen werden.<br />

Cortés hatte glei<strong>ch</strong> beim Betreten des Saales na<strong>ch</strong> seinen Feldobristen s<strong>ch</strong>icken lassen, von<br />

denen keiner zugegen war. Die Leibwa<strong>ch</strong>e wurde alarmiert und besetzte die Ausgänge. Einige der<br />

Hauptleute rieten, die Mexica festzunehmen, andere meinten, man solle sie unverzügli<strong>ch</strong> hängen;<br />

Cristóbal de Olíd aber, der einstige Galeerensklave, legte wert darauf, die Mexica ausgepeits<strong>ch</strong>t zu<br />

sehen.<br />

Cortés verwarf alle diese Vors<strong>ch</strong>läge.<br />

»Wir haben jetzt Gelegenheit«, sagte er, »die Totonaken in ein Netz zu locken, aus dem sie<br />

si<strong>ch</strong> nie mehr werden lösen können. Wir müssen sie dazu bringen, die Mexica gefangen zu nehmen<br />

und das Band zwis<strong>ch</strong>en ihnen und Moctezuma für immer zu zerreißen. Diese S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> kann<br />

der Aztekenherrs<strong>ch</strong>er ni<strong>ch</strong>t hinnehmen, und die Totonaken sind für immer an uns gekettet.«<br />

Bis auf Ordás, der den rei<strong>ch</strong> gekleideten Adler zum Duell fordern wollte, waren alle einverstanden.<br />

Do<strong>ch</strong> Cortés befahl ihm, dem no<strong>ch</strong> immer knienden dicken Kaziken auf die Füße zu helfen.<br />

Er und Cristóbal de Olíd aber vermo<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t, die Körpermasse des Fleis<strong>ch</strong>bergs zu heben,<br />

und sie mussten si<strong>ch</strong> Hilfe von Tapia und Luis Marín erbitten. Lei<strong>ch</strong>teres Spiel hatte die Überredungskunst<br />

Marinas. Der König räumte mit verlegenem Grinsen ein, dass er den Kopf verloren<br />

habe. Ein Rückfall. Die alte Gewohnheit. Der S<strong>ch</strong>recken des Namens Moctezuma. Aber nie wieder<br />

werde er, mit Cortés an seiner Seite, vor Moctezuma zittern. Er sei ja jetzt ein Christ und glaube an<br />

den Gott Dios. Und gewiss brau<strong>ch</strong>e er mit einem Heer von vielen tausend Totonaken die kleine<br />

S<strong>ch</strong>ar – bloß vier Mexica – ni<strong>ch</strong>t zu für<strong>ch</strong>ten!<br />

Seine jämmerli<strong>ch</strong>e Feigheit s<strong>ch</strong>lug in Ra<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>t um. Er s<strong>ch</strong>rie die Mexica an, bes<strong>ch</strong>impfte<br />

sie und erteilte mit laut krä<strong>ch</strong>zender Stimme Befehle. Sofort traten zweihundert totonakis<strong>ch</strong>e Krieger<br />

in den Saal und stürzten si<strong>ch</strong> mit wildem Kampfgeheul auf die vier Adler und Jaguare. Die Gesandten<br />

Moctezumas verkauften ihre Freiheit teuer. Die weißen Or<strong>ch</strong>ideen, die den Fußboden des<br />

Ho<strong>ch</strong>zeitssaales s<strong>ch</strong>mückten, färbten si<strong>ch</strong> rot, und zehn Totonaken verrö<strong>ch</strong>elten, ehe die vier<br />

überwältigt und gefesselt waren. Der dicke Kazike befahl, sie unverzügli<strong>ch</strong> abzuführen und in Käfige<br />

zu sperren.<br />

Mittlerweile war Doña Catalina India aus ihrer Ohnma<strong>ch</strong>t erwa<strong>ch</strong>t. Und als die Gefangenen<br />

abgeführt wurden, stellte sie si<strong>ch</strong>, eine böse Spinne, dem vornehmen Adler in den Weg und spukte<br />

ihm ins Gesi<strong>ch</strong>t. Der Adler sah sie ni<strong>ch</strong>t einmal an.<br />

Die Totonaken wollten die gefangenen vier Mexica sofort ihrer neuen Göttin Santa Malía –<br />

wie sie das Bild der Jungfrau Maria auf dem Tempelberg nannten – s<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ten, aber Cortés sagte,


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 73<br />

das sei un<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>. Verlegen fragte S<strong>ch</strong>ilfrohr, was er denn mit den Gefangenen tun solle. Cortés<br />

lehnte es ab, ihm einen Rat zu erteilen. Ni<strong>ch</strong>t Kastilier, sondern Totonaken hätten die Mexica festgenommen.<br />

Also wäre es Sa<strong>ch</strong>e der Totonaken, sie abzuurteilen und hinzuri<strong>ch</strong>ten, falls sie es verdienten.<br />

Der dicke König fragte, was das sei – hinri<strong>ch</strong>ten?<br />

Cortés antwortete, das könne ihm der Narr Cervantes erklären. Und der setzte ihm auseinander:<br />

Das bedeute, dass man Leute an einen Baum hängt oder ihnen den Hals dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>neidet<br />

oder sie lebendig verbrennt. Man könne sie au<strong>ch</strong> ertränken, vierteilen, köpfen, erwürgen...<br />

Der dicke Kazike s<strong>ch</strong>wieg und fragte ni<strong>ch</strong>t mehr. Aber es s<strong>ch</strong>ien ihm ni<strong>ch</strong>t in den Kopf zu<br />

wollen, warum eine Hinri<strong>ch</strong>tung erlaubt sei und das Opfers<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t.<br />

Cortés ließ dur<strong>ch</strong> Marina auskunds<strong>ch</strong>aften, wer denn die Gefangenen seien und erfuhr, dass<br />

der eine ein Neffe Moctezumas war und Cuauhtémoc heiße, der S<strong>ch</strong>lagende Falke. In der Na<strong>ch</strong>t<br />

ließ er dur<strong>ch</strong> zwei verwegene und vers<strong>ch</strong>wiegene Soldaten – Tirado und Domínguez – den S<strong>ch</strong>lagenden<br />

Falken und einen zweiten Gefangenen heimli<strong>ch</strong> befreien und vor si<strong>ch</strong> führen. Er ließ die<br />

Mexica mit Speise und Trank bewirten und stellte ihnen seine Feldobristen vor. Dann zog er si<strong>ch</strong><br />

mit Cuauhtémoc in ein anderes Gema<strong>ch</strong> zurück. Nur Marina durfte zugegen sein. Sie spra<strong>ch</strong>en<br />

eine Stunde lang miteinander. Cortés drückte Cuauhtémoc sein Bedauern aus. Ein Missverständnis.<br />

Er sei stets ein Freund Moctezumas gewesen. Er missbillige die Gewalttat der Totonaken.<br />

Aber, bei Gott, die Kastilier seien s<strong>ch</strong>uldlos und viel zu wenige, um Derartiges zu verhindern. Er,<br />

Cortés, finde es unerhört, dass man Hand an die unantastbaren Abgesandten des Weltherrn gelegt<br />

habe.<br />

Cuauhtémoc spra<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t viel, gab si<strong>ch</strong> höfli<strong>ch</strong>, kühl und weltgewandt. Leere Worte wurden<br />

gewe<strong>ch</strong>selt und vers<strong>ch</strong>leierten die wahren Absi<strong>ch</strong>ten und Gedanken beider Männer. Cortés erkannte,<br />

dass er einem ges<strong>ch</strong>eiten Mann und tapferen Krieger gegenübersaß.<br />

Inzwis<strong>ch</strong>en war unauffällige Kleidung herbeiges<strong>ch</strong>afft worden. Als Totonaken verkleidet,<br />

wurden die beiden Mexica von Tirado und Domínguez dur<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>tfinstere Gassen zum Fluss geführt,<br />

wo ein Kanu bereitlag.<br />

*<br />

Kaum eine Wo<strong>ch</strong>e zuvor war der S<strong>ch</strong>lagende Falke als siegrei<strong>ch</strong>er Feldherr aus den südli<strong>ch</strong>en<br />

Maya-Ländern na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán zurückgekehrt, in die Stadt des Feigenkaktus. Er und der General<br />

des mexicanis<strong>ch</strong>en Heeres, der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian, hatten in einjährigem Krieg den Ruhm<br />

Mexicos bis na<strong>ch</strong> Guatemala und Nicaragua getragen und neue Länder dem Weltrei<strong>ch</strong> der Azteken<br />

einverleibt. Bei ihrer Rückkehr na<strong>ch</strong> Mexico waren sie ni<strong>ch</strong>t mit Jubel empfangen worden, wie<br />

sie es hätten erwarten dürfen. Den Unheil kündenden Ges<strong>ch</strong>ehnissen, den Vorzei<strong>ch</strong>en des Weltendes,<br />

die seit einem Jahrzehnt die Gemüter ängstigten, hatte si<strong>ch</strong> eine neue hinzugesellt: die<br />

S<strong>ch</strong>reckensna<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t von der Zertrümmerung der Götter im Cempoala.<br />

Do<strong>ch</strong> Cuauhtémoc war ein Liebling des Volkes. Deshalb verlangte das Volk na<strong>ch</strong> dem Triumphzug,<br />

den Moctezuma der Landestrauer wegen abgesagt hatte. Die Bewohner der Wasserstadt<br />

hatten s<strong>ch</strong>on seit einiger Zeit die Fäuste geballt; nun begehrten sie den S<strong>ch</strong>lagenden Falken<br />

zu feiern. Moctezuma musste dem Volkswillen na<strong>ch</strong>geben und den Triumphzug erlauben. Die große<br />

Trommel auf dem Gipfel der S<strong>ch</strong>langenberg-Pyramide ließ ihre dumpfen Laute ertönen. Kopalrau<strong>ch</strong><br />

der Räu<strong>ch</strong>erpriester tau<strong>ch</strong>te die Stadt in weiße Nebelwolken. Fellpauken donnerten, Mus<strong>ch</strong>elhörner<br />

s<strong>ch</strong>metterten. An der Spitze des Heeres, das zehntausend gefesselte S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>topfer<br />

für die hungrigen Götter Mexicos mit si<strong>ch</strong> führte, s<strong>ch</strong>ritten der S<strong>ch</strong>lagende Falke und der Ges<strong>ch</strong>liffene<br />

Obsidian über den großen Steindamm von Iztapalapá, dur<strong>ch</strong> Siegespforten aus<br />

Blumengehängen und Papierfähn<strong>ch</strong>en, über Kanalbrücken und Plätze und dur<strong>ch</strong> die Haupt- und<br />

Prozessionsstraße Teno<strong>ch</strong>titláns, wel<strong>ch</strong>e man die Straße der blauen S<strong>ch</strong>eibe (d. h. des Erdenrunds)<br />

nannte. Flötenspielende Mäd<strong>ch</strong>en umtanzten sie, Greise zogen ihnen ehrwürdig entgegen.<br />

Und als sie si<strong>ch</strong> dem Großen Palast näherten, trat au<strong>ch</strong> Moctezuma in Kriegstra<strong>ch</strong>t aus dem Palasttor,<br />

einem türkisenen S<strong>ch</strong>ild am linken Arm und umgeben von seinen Krüppeln, Narren und<br />

dem Rat der Alten. Auf den langen Treppenstufen vor dem Palasttor wurden der S<strong>ch</strong>lagende Falke<br />

und der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian vor den Augen des Volkes entkleidet, und ihre nackten Körper


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 74<br />

ockergelb, ihre Gesi<strong>ch</strong>ter karminrot bemalt. Auf das geflo<strong>ch</strong>tene Haar setzte man ihnen Siegerkronen,<br />

pra<strong>ch</strong>tvoll gearbeitet aus aufre<strong>ch</strong>t stehenden Federn des S<strong>ch</strong>langenhalsvogels. Und Moctezuma<br />

spra<strong>ch</strong> die Worte, mit denen seit toltekis<strong>ch</strong>en Zeiten alle Könige Anahuacs ihre siegrei<strong>ch</strong>en<br />

Feldherren begrüßten:<br />

»Die Mexica und i<strong>ch</strong>, wir sind zufrieden mit euren Taten! Ihr habt eu<strong>ch</strong> vor dem Feind gut<br />

gehalten; nun aber erholt eu<strong>ch</strong> und ruht eu<strong>ch</strong> aus!«<br />

Und zum S<strong>ch</strong>arfen Obsidian gewandt fuhr der König fort: »Du sollst mir no<strong>ch</strong> einen zweiten<br />

Dienst leisten! Na<strong>ch</strong> Tlaxcala sollst du gehen, zu deinen Bergen und Tälern!«<br />

Der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian rührte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Verständnislos blickte er den Großkönig an.<br />

»O mutiger Krieger, du Junger!«, fuhr Moctezuma fort. »Du wirst als mein Abgesandter zu<br />

deinen Bergen und Tälern gehen. Denn nur deine Treue kann dem weißen Sohn der Sonne den<br />

Weg versperren!«<br />

*<br />

Von Iztapalapá aus war Cuauhtémoc, der S<strong>ch</strong>lagende Falke, in einem Boot, nur von einem Sklaven<br />

begleitet, auf den S<strong>ch</strong>ilfsee hinausgerudert. Merkwürdig fremd und leblos lag der Terrassengarten<br />

da, als das Boot si<strong>ch</strong> näherte. Herrli<strong>ch</strong> wie immer zwar glitzerten die polierten<br />

Porphyrtreppen, dunkelten si<strong>ch</strong> die Lorbeerwipfel, glühten die Zedernäste, purpurn von Abendsonnengold<br />

verbrämt. Cuauhtémoc gab dem Sklaven ein Zei<strong>ch</strong>en, langsam zurückzurudern. Als aber<br />

das Boot si<strong>ch</strong> wandte, gewahrte er ein Kanu, das ihm mit s<strong>ch</strong>nellen Ruders<strong>ch</strong>lägen entgegenkam.<br />

Im Kanu saß ein Mann, in der Tra<strong>ch</strong>t eines huaxtekis<strong>ch</strong>en Tonwarenhändlers und mit einer zuckerhutähnli<strong>ch</strong>en<br />

spitzen Kopfbedeckung aus Kanin<strong>ch</strong>enhaarfilz. Trotz der Verkleidung erkannte<br />

der S<strong>ch</strong>lagende Falke im Nahenden alsbald seinen Vetter Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange aus Tezcoco. Sie<br />

begrüßten si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Indianerart mit spröder Herzli<strong>ch</strong>keit. Seit frühester Kindheit waren sie Spielgefährten<br />

gewesen. Stets eines Sinnes, waren sie in fester Freunds<strong>ch</strong>aft und Treue verbunden. Aber<br />

ein Stern leu<strong>ch</strong>tet nur in der Dunkelheit, und Treue nur, wenn Leid sie umgibt. Heute sollte zum<br />

ersten Mal ihre Freunds<strong>ch</strong>aft geprüft und in kommenden Tagen auf eine harte Probe gestellt werden.<br />

Do<strong>ch</strong> ehe Felsens<strong>ch</strong>lange zu reden begann, warf er einen misstrauis<strong>ch</strong>en Blick auf den<br />

Sklaven und lud den S<strong>ch</strong>lagenden Falken ein, in sein Kanu zu kommen. Der kletterte in das andere<br />

Boot hinüber, bemerkte jedo<strong>ch</strong> lä<strong>ch</strong>elnd, dass der Sklave kaum ein Wort Mexicanis<strong>ch</strong> verstünde.<br />

Und in der Tat, fremdartig genug sah der Mann aus. Er trug das Sklavenhalsband und am<br />

S<strong>ch</strong>eitel die Sklavenfeder, zuglei<strong>ch</strong> aber au<strong>ch</strong> die Insignien eines Heerführers der Maya, hatte Ohren<br />

und Nase mit Kristallpflöcken dur<strong>ch</strong>bohrt; seine Haut war sonnengerötet, jedo<strong>ch</strong> auffallend hell,<br />

und sein s<strong>ch</strong>malkno<strong>ch</strong>iges Gesi<strong>ch</strong>t umrahmte ein wilder roter Vollbart.<br />

»Mein Sklave ist ein weißer Gott!«, sagte der S<strong>ch</strong>lagende Falke.<br />

Erst seit kurzem besaß er diesen Mann, für ihn das kostbarste Beutestück des Feldzuges.<br />

Als er aus Guatemala und Nicaragua heimkehrte, waren die Mexica dur<strong>ch</strong> Yucatán gezogen und in<br />

das Rei<strong>ch</strong> jenes Mayakönigs eingefallen, der den Franziskaner Jerónimo de Aguilár, na<strong>ch</strong>dem er<br />

ihn einer Keus<strong>ch</strong>heitsprobe unterzogen, zum Aufseher seiner Frauen ernannt hatte. Als die S<strong>ch</strong>iffe<br />

des Cortés die Insel Cozumel anliefen, wurde ihm die Freiheit zurückgegeben. Der Leidensgefährte<br />

Aguilárs, der Matrose Gonzalo Guerrero, hatte si<strong>ch</strong> geweigert, zu seinen Landsleuten zurückzukehren.<br />

Als Seemann hatte er S<strong>ch</strong>iffbru<strong>ch</strong> erlitten. Und was er vordem in zwanzig Jahren als Matrose<br />

dur<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>en musste, ers<strong>ch</strong>ien ihm wie eine nie abreißende Kette von Mühsalen und Erniedrigungen<br />

dur<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>iffsreeder und Seeoffiziere. Hass hatte si<strong>ch</strong> in sein Herz gefressen gegen die<br />

gottgewollte Ordnung der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Welt, gegen die Lehre vom Zinsgros<strong>ch</strong>en, wel<strong>ch</strong>e die Bena<strong>ch</strong>teiligten<br />

auf ein Entgelt im Paradies vertröstete, auf Erden aber dem Kaiser geben wollte, was<br />

des Kaisers war. Das alles hatte es ihm lei<strong>ch</strong>t gema<strong>ch</strong>t, ein Indianer zu werden. Er hatte dem<br />

Christentum abges<strong>ch</strong>woren, war zur Religion der Maya übergetreten, er ließ si<strong>ch</strong> tätowieren und<br />

Ohren, Nase und Lippen dur<strong>ch</strong>bohren. Als Renegat, der er war, stieg er die Erfolgsleiter Stufe um<br />

Stufe empor. Unter Ojeda hatte er die Strategie der Weißen kennen gelernt und war imstande,<br />

seinem Fürsten wertvolle Rats<strong>ch</strong>läge zu geben, als dieser mit seinen Na<strong>ch</strong>barstaaten Krieg führte.<br />

In den Kämpfen zei<strong>ch</strong>nete er si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Uners<strong>ch</strong>rockenheit und taktis<strong>ch</strong>e Klugheit aus. So wurde


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 75<br />

ihm das weiße Purpurkrani<strong>ch</strong>hemd verliehen, ein Abzei<strong>ch</strong>en hohen Kriegerranges. Und jüngst<br />

beim Einfall der Mexica, wel<strong>ch</strong>er der Unabhängigkeit der kleinen Mayaländer ein Ende ma<strong>ch</strong>te,<br />

führte Gonzalo Guerrero das Heer seines Fürsten an. Aber er wurde trotz verwegener Heldentaten<br />

besiegt. Die Mexica vermieden es, in den Kämpfen ihre Feinde zu töten. Sklaven zu ma<strong>ch</strong>en war<br />

das Hauptziel des Krieges, und jede Lei<strong>ch</strong>e auf dem S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tfeld beeinträ<strong>ch</strong>tigte den Glanz des<br />

Triumphzugs und die Speisung der hungrigen Götter. In der Ents<strong>ch</strong>eidungss<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t gelang es dem<br />

S<strong>ch</strong>lagenden Falken, eigenhändig den rotbärtigen Anführer des Mayaheeres zu fangen.<br />

Tausende von Mayas waren gefangen worden. Und wie die Mehrzahl dieser Gefangenen<br />

war au<strong>ch</strong> Gonzalo Guerrero ursprüngli<strong>ch</strong> dazu ausersehen, auf der großen Adlers<strong>ch</strong>ale Mexicos<br />

zu verbluten. Do<strong>ch</strong> um über die S<strong>ch</strong>lupfwinkel seiner no<strong>ch</strong> unbesiegten Bundesgenossen Aufs<strong>ch</strong>luss<br />

zu erhalten, ließ Cuauhtémoc ihn foltern und dur<strong>ch</strong> Dolmets<strong>ch</strong>er ausfors<strong>ch</strong>en. Da ergab es<br />

si<strong>ch</strong>, dass er ein weißer Mann war. Der S<strong>ch</strong>lagende Falke befahl, dies geheim zu halten, erfasste<br />

er do<strong>ch</strong> sofort die Tragweite dieser Entdeckung. Als er den einstigen Matrosen verhörte, erkannte<br />

er au<strong>ch</strong> dessen indianis<strong>ch</strong>e Lebensans<strong>ch</strong>auung; staunend erfuhr er, dass der ehemalige Christ die<br />

Christen vera<strong>ch</strong>tete. Jetzt erst begriff Cuauhtémoc, wel<strong>ch</strong> wertvolles Beutestück ihm das Glück in<br />

die Hände gespielt hatte. Da wäre er dumm gewesen, den weißen Sklaven zu opfern! Er gab ihm<br />

den Namen Gefleckter Berglöwe und behielt ihn in seinen Diensten.<br />

Als der S<strong>ch</strong>lagende Falke ins Kanu hinüberstieg, ging gerade die Sonne unter. Und es wurde<br />

tiefe Na<strong>ch</strong>t, bis Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange seinen Beri<strong>ch</strong>t beendete. Ihr Zusammentreffen auf der Lagune<br />

war kein Zufall. Felsens<strong>ch</strong>lange hatte ihm aufgelauert, um ihn heimli<strong>ch</strong> spre<strong>ch</strong>en zu können, um<br />

seine Handlungsweise zu re<strong>ch</strong>tfertigen, seinen Abfall von Mexico, seinen Bru<strong>ch</strong> mit Moctezuma<br />

und dem Edlen Betrübten wegen des gestohlenen Staatss<strong>ch</strong>atzes von Tezcoco und seinen Übertritt<br />

zum Rebellenheer der Blauen Feder.<br />

»Au<strong>ch</strong> dein Leben, Cuauhtémoc, wird Moctezuma ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>onen«, sagte Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange<br />

abs<strong>ch</strong>ließend. »Das Volk ist seiner zaghaften und ungere<strong>ch</strong>ten Führung s<strong>ch</strong>on lange<br />

überdrüssig. Seit deinen Siegen in Guatemala bist du der neue Hoffnungsträger. Aber wehe dir,<br />

Moctezuma vernimmt davon.«<br />

»I<strong>ch</strong> will mein Leben ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>onen, wenn es um das Wohl Anahuacs geht!«<br />

Beide Freunde s<strong>ch</strong>wiegen lange. Dann spra<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>lagende Falke: »I<strong>ch</strong> habe den Grünen<br />

Stein gesehen!«<br />

»Was?« Felsens<strong>ch</strong>lange starrte Cuauhtémoc an.<br />

»Ja, sie nennen ihn Cortés. Er hat mir das Leben gerettet. I<strong>ch</strong> will es dir erzählen. Na<strong>ch</strong> dem<br />

Triumphzug ließ i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> bei Moctezuma melden. Unruhe flackerte auf dem Antlitz des Weltherrn.<br />

I<strong>ch</strong> beantragte meine Entsendung na<strong>ch</strong> Cempoala, wo i<strong>ch</strong> die Totonaken wegen ihres Abfalls von<br />

Mexico und ihren Göttern zur Re<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>aft ziehen wollte. Zwanzig Jünglinge und Mäd<strong>ch</strong>en für die<br />

Altäre Mexicos sollte der Blutzoll betragen, und i<strong>ch</strong> würde ihnen eine spätere Bestrafung der<br />

S<strong>ch</strong>uldigen in Aussi<strong>ch</strong>t stellen. Der Zauderer Moctezuma s<strong>ch</strong>reckte zurück, wie er vor jeder Ents<strong>ch</strong>eidung<br />

zurücks<strong>ch</strong>reckt. Mein Vors<strong>ch</strong>lag wäre eine klare Stellungnahme gegen die weißen Götter,<br />

sagte er. Er su<strong>ch</strong>te na<strong>ch</strong> Ausflü<strong>ch</strong>ten, um si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ents<strong>ch</strong>eiden zu müssen. Die<br />

mexicanis<strong>ch</strong>en Soldaten seien ermüdet, sehnten si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Weib und Kind, wollten ihre Maisfelder<br />

bestellen... I<strong>ch</strong> sagte, i<strong>ch</strong> bräu<strong>ch</strong>te keine Soldaten, weder um die Totonaken zu s<strong>ch</strong>recken no<strong>ch</strong> zu<br />

meinem S<strong>ch</strong>utz. Der Name des großen Moctezuma, dessen Bote i<strong>ch</strong> wäre, genüge vollkommen.<br />

Ohne Heer, mit nur drei Begleitern, würde i<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Cempoala gehen.<br />

Moctezumas Finger krampften si<strong>ch</strong> an die Armlehnen seines silbernen Thrones. Er s<strong>ch</strong>wieg<br />

und da<strong>ch</strong>te na<strong>ch</strong>. I<strong>ch</strong> bemerkte, dass Misstrauen in ihm erwa<strong>ch</strong>te. No<strong>ch</strong> war in seinen Ohren das<br />

Triumphges<strong>ch</strong>rei ni<strong>ch</strong>t verklungen, mit dem das Volk dem S<strong>ch</strong>arfen Obsidian und mir zugejubelt<br />

hatte. Eigentli<strong>ch</strong> bot i<strong>ch</strong> ihm an, in mein Verderben zu rennen. Moctezuma fand keine Antwort. Er<br />

wollte erst mit si<strong>ch</strong> zu Rate gehen, sagte er.<br />

Da trat sein Sohn, der Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmte, in den großen Thronsaal, unterwürfig begrüßt<br />

von den zahllosen Höflingen. I<strong>ch</strong> begrüßte Den-Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmten förmli<strong>ch</strong> und höfli<strong>ch</strong>.<br />

Er hatte seinen Lustknaben dabei. I<strong>ch</strong> fragte ihn na<strong>ch</strong> dem Namen seines s<strong>ch</strong>mucken Begleiters<br />

und fügte hinzu: ›Einen so s<strong>ch</strong>önen Mann habe i<strong>ch</strong> weder in Mexico no<strong>ch</strong> in fernen Ländern<br />

gesehen.‹<br />

Der Königssohn nannte den Namen Xoctemecl, Purpurkrani<strong>ch</strong>. Da packte i<strong>ch</strong> – im Thronsaal,<br />

angesi<strong>ch</strong>ts des Herrn der Welt – mit flinkem Griff, wie man Kriegssklaven zu fangen pflegt,


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 76<br />

den langen Haars<strong>ch</strong>opf Xoctemecls, drückte seinen Kopf na<strong>ch</strong> hinten, bis Hinterhaupt und Rücken<br />

si<strong>ch</strong> berührten, hielt ihn so mit der linken Hand, zog blitzs<strong>ch</strong>nell mit der Re<strong>ch</strong>ten den Feuersteindol<strong>ch</strong><br />

aus dem Gurtgehenk und s<strong>ch</strong>nitt dem s<strong>ch</strong>önen Höfling die Nase ab. Und während die herumstehenden<br />

Höflinge und Spei<strong>ch</strong>ellecker aufheulten, trat i<strong>ch</strong> vor den Thron Moctezumas. ›O großer<br />

König, o Herrs<strong>ch</strong>er‹, fragte i<strong>ch</strong> ihn, ›gingst du mit dir zu Rat?‹<br />

Die S<strong>ch</strong>ranzen im Saal standen erstarrt. Moctezuma saß unbewegli<strong>ch</strong>. Na<strong>ch</strong> einer Weile<br />

sagte er leise: ›Geh na<strong>ch</strong> Cempoala!‹«<br />

Felsens<strong>ch</strong>lange hatte regungslos zugehört. »Das sollte dein Todesurteil sein«, sagte er nun.<br />

»Ja, aber es kam anders.« Der S<strong>ch</strong>lagende Falke s<strong>ch</strong>ilderte, was er in Cempoala erlebte<br />

und wie Cortés ihn heimli<strong>ch</strong> hatte entkommen lassen. »Der Grüne Stein ist ein ernst zu nehmender<br />

Gegner«, s<strong>ch</strong>loss er seinen Beri<strong>ch</strong>t, »und er wird ni<strong>ch</strong>t aufgeben, bis er Teno<strong>ch</strong>titlán in seinen Besitz<br />

gebra<strong>ch</strong>t hat. I<strong>ch</strong> liebe Mexico, und i<strong>ch</strong> liebe Moctezumas To<strong>ch</strong>ter Maisblume, die er mir einst<br />

anverlobte und dann dem Edlen Betrübten verspra<strong>ch</strong>. Und es ist au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wer, den Freund hinzugeben!«<br />

Felsens<strong>ch</strong>lange rei<strong>ch</strong>te ihm die Hand. »Au<strong>ch</strong> als Gegner wollen wir Freunde bleiben!«, sagte<br />

er. So s<strong>ch</strong>ieden sie.<br />

*<br />

Der capitán generál ließ Fray Francisco López de Gómera in sein Zelt rufen. Er hatte si<strong>ch</strong> vorher<br />

mit Fray Olmedo abgespro<strong>ch</strong>en.<br />

»Nehmt den jungen Kaplan«, hatte der zugestimmt, »das Pfäfflein taugt mehr zum Chronisten<br />

und weniger als Kämpfer für die Christenheit. Er wird Eu<strong>ch</strong> als escribiente gute Dienste leisten!«<br />

Der Pater ers<strong>ch</strong>ien – ein hübs<strong>ch</strong>er, kaum zwanzigjähriger Mann – und bemerkte Papier, Feder<br />

und Tinte auf dem Tis<strong>ch</strong>.<br />

»I<strong>ch</strong> hörte, Ihr lebt s<strong>ch</strong>on eine Weile in Neuspanien.«<br />

»Ja, Euer Gnaden. 1514, da war i<strong>ch</strong> 15 Jahre alt, kam i<strong>ch</strong> mit meiner S<strong>ch</strong>wester na<strong>ch</strong><br />

Darien, das man au<strong>ch</strong> Panama nennt.«<br />

»Was trieb Eu<strong>ch</strong> von daheim fort?«<br />

»Nun, i<strong>ch</strong> bin der Zweitgeborene eines ni<strong>ch</strong>t gerade begüterten Granden aus San Sebastián<br />

de Gómera. Mein Vater hat s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t spekuliert. Er starb ho<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>uldet an den Pocken, und<br />

au<strong>ch</strong> meine S<strong>ch</strong>wester wurde von der Seu<strong>ch</strong>e dahingerafft. I<strong>ch</strong> half bei der Epidemie, im Kloster<br />

der Madonna de la Concepción Immaculata die Kranken zu Pflegen, ja – und dann bin i<strong>ch</strong> dort als<br />

Priesters<strong>ch</strong>üler geblieben. Ihr wisst si<strong>ch</strong>er, Señor: Hidalgos ohne Geld und Einfluss haben nur die<br />

Wahl zwis<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>e, Seefahrt oder Königshof!«<br />

»Da habt Ihr Re<strong>ch</strong>t, iglesia, mar o casa real!«, sagte der caudillo lä<strong>ch</strong>elnd.<br />

»Als i<strong>ch</strong> von Eurer Unternehmung hörte, bei der es no<strong>ch</strong> viel zu entdecken gäbe, habe i<strong>ch</strong><br />

mi<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> anges<strong>ch</strong>lossen.«<br />

Cortés su<strong>ch</strong>te einen S<strong>ch</strong>reiber. »Als Priester könnt Ihr Lesen und S<strong>ch</strong>reiben?«<br />

»Natürli<strong>ch</strong>, Euer Gnaden.« Eine lei<strong>ch</strong>te Röte breitete si<strong>ch</strong> über Franciscos Gesi<strong>ch</strong>t.<br />

»Nehmt mir die Frage ni<strong>ch</strong>t übel, i<strong>ch</strong> habe damit gere<strong>ch</strong>net, aber i<strong>ch</strong> kenne genug Pfaffen,<br />

die das S<strong>ch</strong>wert besser führen als den Griffel.«<br />

»I<strong>ch</strong> habe mi<strong>ch</strong> Eurer Expedition anges<strong>ch</strong>lossen, weil i<strong>ch</strong> neugierig auf fremde Länder bin.<br />

Aber i<strong>ch</strong> bin kein Soldat. Mut und Heldentum sind ni<strong>ch</strong>t unbedingt meine Sa<strong>ch</strong>e, Señor Capitán.<br />

Wenn es um Eroberungen geht, will i<strong>ch</strong> die Seelen der armen Heiden hier für unsere Heilige Kir<strong>ch</strong>e<br />

erobern.«<br />

Cortés s<strong>ch</strong>aute den jungen Priester na<strong>ch</strong>denkli<strong>ch</strong> an. »Lasst mi<strong>ch</strong> erklären«, sagte er dann.<br />

»Wir sind ein Heer des Kaisers! Es ist unsere Pfli<strong>ch</strong>t, seiner Majestät getreuli<strong>ch</strong> zu beri<strong>ch</strong>ten, was<br />

wir in diesen Neuen Ländern in seinem Namen erobern. Und dazu benötige i<strong>ch</strong> einen Chronisten.<br />

Wollt Ihr diese Aufgabe übernehmen?«<br />

»I<strong>ch</strong> soll nieders<strong>ch</strong>reiben, was wir hier antreffen, was wir erleben, was wir errei<strong>ch</strong>en?«<br />

»Ja. Haltet die Augen offen und notiert, was Eu<strong>ch</strong> wi<strong>ch</strong>tig dünkt. Meine Eindrücke werde i<strong>ch</strong><br />

Eu<strong>ch</strong> diktieren. Seid Ihr bereit?«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 77<br />

»Euer Gnaden müssen nur befehlen.«<br />

»Wohlan.« Cortés deutete zum Tis<strong>ch</strong>. »Nehmt Platz, dort stehen Eure Utensilien. Wir wollen<br />

soglei<strong>ch</strong> beginnen.«<br />

Und Cortés diktierte Francisco López de Gómera in die Feder:<br />

»I<strong>ch</strong>, Hernándo Cortés, capitán generál einer Flotte Eurer Majestät, habe am 16. Juli des<br />

Jahres 1519 dur<strong>ch</strong> meine Offiziere Puertocarrero und Francisco Montejo einen umfassenden Beri<strong>ch</strong>t<br />

an Eure Majestät mit allen Begebnissen, die seit meiner Landung hier in Neu-Hispanien, am<br />

Karfreitag, dem 22. April desselben Jahres, si<strong>ch</strong> zugetragen haben, alleruntertänigst übersandt.<br />

Dort habe i<strong>ch</strong> eine Stadt Veracruz in Allerhö<strong>ch</strong>stdero Namen gegründet. Seither habe i<strong>ch</strong> keinerlei<br />

Gelegenheit gehabt, Eurer Kaiserli<strong>ch</strong>en Majestät Weiteres zu melden, dieweil es mir an S<strong>ch</strong>iffen<br />

mangelte und weil die Eroberung dieses Landes mi<strong>ch</strong> allezeit bes<strong>ch</strong>äftigte...<br />

I<strong>ch</strong> bin im S<strong>ch</strong>reiben unges<strong>ch</strong>ickt, denn i<strong>ch</strong> hatte in den Händeln des Krieges ni<strong>ch</strong>t Gelegenheit,<br />

mi<strong>ch</strong> darin zu üben... S<strong>ch</strong>on in meinem ersten Beri<strong>ch</strong>t habe i<strong>ch</strong> Kunde gegeben von einem<br />

gewaltigen König, den man Moctezuma nennt und dessen Hauptstadt Teno<strong>ch</strong>titlán na<strong>ch</strong> der<br />

Re<strong>ch</strong>nung hiesiger Leute 75 bis 80 Leguas vom Meer zu su<strong>ch</strong>en ist. I<strong>ch</strong> habe mir vorgenommen,<br />

mit Gottes Hilfe und zu Euer Kaiserli<strong>ch</strong>en Majestät Ehre und Ruhm an den Ort vorzudringen, wo<br />

dieser König seinen Sitz hat... I<strong>ch</strong> will Eurer Majestät im Vertrauen auf mi<strong>ch</strong> selbst verspre<strong>ch</strong>en,<br />

ihn entweder als Gefangenen zu bringen oder ihn seines Lebens zu berauben.<br />

Mit sol<strong>ch</strong>em Ents<strong>ch</strong>luss bin i<strong>ch</strong> am 16. August 1519 mit 15 Reitern und 500 wohlgerüsteten<br />

Fußkne<strong>ch</strong>ten von Cempoala aufgebro<strong>ch</strong>en, dem Hauptquartier meines bis dahin eroberten Gebiets.<br />

In Veracruz ließ i<strong>ch</strong> 150 Mann und zwei Reiter mit dem Befehl zurück, die Stadt zu befestigen,<br />

was inzwis<strong>ch</strong>en ges<strong>ch</strong>ehen ist. Dem Offizier der zurückbleibenden Spanier unterstellte i<strong>ch</strong> die<br />

gesamte Lands<strong>ch</strong>aft Cempoala, was an die 50 000 streitfähige Männer in fünfzig Städten und Orten<br />

bedeutet, allesamt treue Untertanen Eurer Kaiserli<strong>ch</strong>en Majestät. Sie waren dem König Moctezuma<br />

no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t lange untertan, und dies nur dur<strong>ch</strong> Gewalt. Sie begehrten, Eurer Kaiserli<strong>ch</strong>en<br />

Majestät Untertanen und meine Freunde zu werden. Sie baten, i<strong>ch</strong> mö<strong>ch</strong>te sie vor besagtem Moctezuma<br />

bes<strong>ch</strong>ützen, der sie kne<strong>ch</strong>te, ihnen die Kinder raubte und sie seinen Götzen opferte...<br />

Mir war zur Kenntnis gekommen, dass es man<strong>ch</strong>en der mit mir gelandeten Männer Verdruss<br />

bereitete, was i<strong>ch</strong> in Eurer Kaiserli<strong>ch</strong>en Majestät Namen mit Glück erobert habe. Etli<strong>ch</strong>e hatten<br />

si<strong>ch</strong> zusammengetan, um von mir abzufallen und aus diesem Lande wieder abzureisen. Sie wollten<br />

einen meiner Kapitäne ermorden und sein S<strong>ch</strong>iff übernehmen, das in Veracruz verproviantiert<br />

vor Anker lag. Sie alle waren Freunde des Diego de Velásquez und wollten zurück zur Insel Kuba<br />

segeln. Und dann gab es andere, die au<strong>ch</strong> dana<strong>ch</strong> tra<strong>ch</strong>teten, das Land zu verlassen, weil sie erkannten,<br />

wie groß dieses Rei<strong>ch</strong> ist, das i<strong>ch</strong> zu erobern gedenke. Sie sahen, dass wenigen<br />

Hispaniern gar viel feindli<strong>ch</strong>es Volk gegenüberstand. So bin i<strong>ch</strong> zu der Meinung gekommen, die<br />

S<strong>ch</strong>iffe ni<strong>ch</strong>t hinter mir zu lassen, weil damit alle entwei<strong>ch</strong>en könnten, die zum Abfall neigten. Daher<br />

habe i<strong>ch</strong> erklärt, die S<strong>ch</strong>iffe seien zur Seefahrt untaugli<strong>ch</strong>, habe sie auf Land laufen und verbrennen<br />

lassen. Indem i<strong>ch</strong> so meinen Rücken si<strong>ch</strong>erte, ward i<strong>ch</strong> aller Fur<strong>ch</strong>t ledig, ma<strong>ch</strong>te das<br />

kastilis<strong>ch</strong>e Heer bereit, vom Land der gastfreundli<strong>ch</strong>en Totonaken Abs<strong>ch</strong>ied zu nehmen und nunmehr<br />

guten Mutes meinen Mars<strong>ch</strong> auf das unbekannte Rei<strong>ch</strong> Moctezumas anzutreten...«<br />

*<br />

Der Aufbru<strong>ch</strong> war mehrmals hinausgezögert worden. Der Narr Cervantes behauptete, die dicke<br />

Prinzessin habe ihren Gemahl verzaubert, um ihn für si<strong>ch</strong> zu behalten. In Wirkli<strong>ch</strong>keit verging Cortés<br />

vor Ungeduld, aber eine unheimli<strong>ch</strong>e Krankheit war ausgebro<strong>ch</strong>en und hatte den Aufbru<strong>ch</strong> verhindert.<br />

Das s<strong>ch</strong>warze Erbre<strong>ch</strong>en, vómito negro, au<strong>ch</strong> gelbes Fieber genannt, raffte viele Erkrankte<br />

dahin. Au<strong>ch</strong> Cortés und die Feldobristen hatten lei<strong>ch</strong>tere Fieberanfälle zu überstehen. Sandoval<br />

war der Einzige unter den Hauptleuten, der ni<strong>ch</strong>t von der Krankheit befallen wurde und seinen<br />

Dienst verri<strong>ch</strong>ten konnte.<br />

Unter den Soldaten waren etli<strong>ch</strong>e vom Fieber so ermattet, dass sie für den Zug über die<br />

Kordilleren zu s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> waren und mit Pedro Baracoa und Alonso de Grado, die beim Kampf vor<br />

der Verni<strong>ch</strong>tung der Götzenbilder verwundet worden und no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t geheilt waren, zurückbleiben<br />

mussten. Und die Mulattin Beatriz de Acevedo s<strong>ch</strong>lief zwar ni<strong>ch</strong>t mehr im Sarg, genas jedo<strong>ch</strong> nur


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 78<br />

langsam von ihrer S<strong>ch</strong>ädelverletzung, la<strong>ch</strong>te irr mit flackernden Augen, handelte und redete wie<br />

eine Mondsü<strong>ch</strong>tige.<br />

Es wurde bes<strong>ch</strong>lossen, die Kranken na<strong>ch</strong> Veracruz zu s<strong>ch</strong>affen. Cortés hatte Escalante in<br />

einem Brief beauftragt, mit einer Eskorte na<strong>ch</strong> Cempoala zu kommen, um die Kranken abzuholen.<br />

Escalante bra<strong>ch</strong>te eine Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t mit, wel<strong>ch</strong>e den Abmars<strong>ch</strong> des Heeres von neuem um etli<strong>ch</strong>e<br />

Tage hinauss<strong>ch</strong>ob. Zwei S<strong>ch</strong>iffe hatten si<strong>ch</strong> an der Küste gezeigt und kreuzten südli<strong>ch</strong> von Veracruz.<br />

Escalante hatte dur<strong>ch</strong> Fis<strong>ch</strong>er in Erfahrung bringen können, dass diese S<strong>ch</strong>iffe Francisco de<br />

Garay gehörten, dem Statthalter der Insel Jamaica, aber von einem Kapitän namens Alonso Álvarez<br />

de Pineda kommandiert wurden.<br />

Seine Exzellenz Juan Rodríguez de Fonseca – Bis<strong>ch</strong>of von Burgos und Erzbis<strong>ch</strong>of von<br />

Rosano, Leiter der Casa de Contratación, des Amtes für indianis<strong>ch</strong>en Angelegenheiten in Sevilla,<br />

der Unterdrücker jeder Begabung – war ein Gönner des unbedeutenden Francisco de Garay und<br />

hatte ihm ein Patent ausgefertigt, das ihm Sklavenfang und Taus<strong>ch</strong>handel an der Festlandküste<br />

westli<strong>ch</strong> von Florida gestattete. Garay hatte von Kuba her vage Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten über den Freibeuterzug<br />

des Cortés erhalten und fühlte si<strong>ch</strong> bena<strong>ch</strong>teiligt. Er hatte die beiden S<strong>ch</strong>iffe ausgesandt, um<br />

zu verhindern, dass die Kubaner in seinem Gebiet Sklaven raubten. Über Moctezuma und Mexico<br />

hatte er no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts gehört und von den eigentli<strong>ch</strong>en Zielen des Cortés keine Ahnung. Aber er<br />

wollte ni<strong>ch</strong>t dulden, dass ein anderer ihm ins Gehege kam. Eigentli<strong>ch</strong> begann die »ihm zugespro<strong>ch</strong>ene<br />

Küstenstrecke« viele Meilen nördli<strong>ch</strong> von Veracruz, do<strong>ch</strong> seine Kapitäne und Piloten hatten<br />

si<strong>ch</strong> um einige Breitengrade geirrt, was bei der Standortbere<strong>ch</strong>nung mittels Quadrant und Astrolabium<br />

auf s<strong>ch</strong>wankendem S<strong>ch</strong>iff ni<strong>ch</strong>t selten vorkam.<br />

Cortés bes<strong>ch</strong>loss, selbst na<strong>ch</strong> dem Re<strong>ch</strong>ten zu sehen. Er übergab Alvarado und Sandoval<br />

die Aufsi<strong>ch</strong>t über das Heer, begleitete den Krankentransport bis zur Hafenstadt und ritt dann die<br />

Dünen entlang weiter na<strong>ch</strong> Süden, in Begleitung von Escalante, Galleguillo (dem kleinen Galicier),<br />

den Bogens<strong>ch</strong>ützen Soares, Peñalosa und vier weiteren Soldaten.<br />

Bald stießen sie auf drei Leute des Garay, die in einer S<strong>ch</strong>aluppe an Land gerudert waren<br />

und an einem ins Meer mündenden Ba<strong>ch</strong> eine Tonne mit Trinkwasser gefüllt hatten. Beim Anblick<br />

der Bewaffneten flohen sie zurück zur S<strong>ch</strong>aluppe, do<strong>ch</strong> die Reiter s<strong>ch</strong>nitten ihnen den Weg ab. Ein<br />

kleiner, dickli<strong>ch</strong>er Mann mit Spitznase, im s<strong>ch</strong>warzseidenen Rock eines Geri<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reibers, mit<br />

Silbers<strong>ch</strong>nallen an den S<strong>ch</strong>uhen und einem sauberen, do<strong>ch</strong> zerrissenen Spitzenkragen, begann,<br />

als er si<strong>ch</strong> umstellt sah, ein pergamentenes S<strong>ch</strong>riftstück auseinanderzufalten, wel<strong>ch</strong>es mehr Umfang<br />

hatte als er selbst.<br />

Im Jahre 1513 entdeckte Ponce de<br />

Léon die Halbinsel Florida. Er wurde<br />

1521 dur<strong>ch</strong> den vergifteten Pfeil<br />

eines Indianers tödli<strong>ch</strong> verwundet.<br />

Der Holzs<strong>ch</strong>nitt aus dem 18. Jahrhundert<br />

stellt, natürli<strong>ch</strong> ohne ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />

Treue, dieses Ges<strong>ch</strong>ehnis<br />

dar.<br />

Cortés redete ihn freundli<strong>ch</strong> an: »I<strong>ch</strong> hoffe, Ihr kommt uns in guter Absi<strong>ch</strong>t besu<strong>ch</strong>en,<br />

Señor!«<br />

Der Kleine antwortete ebenso freundli<strong>ch</strong>: »Da s<strong>ch</strong>eint Ihr mir do<strong>ch</strong> zu irren, Señor. Die Besu<strong>ch</strong>enden<br />

werdet Ihr wohl sein, wenn Ihr mir Zeit lasst, meinen Auftrag auszuführen.« Und er fuhr<br />

fort, sein großes Pergament zu entfalten.<br />

»Ob i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> Zeit lasse, hängt von Eurem Auftrag ab«, sagte Cortés und stieg vom Pferd.<br />

»Was habt Ihr vor?«<br />

»Mein Name ist Guillén de la Loa. I<strong>ch</strong> bin Notar und Geri<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reiber und ergreife Besitz<br />

von diesem Land, Señor, im Namen unseres Kaisers Don Carlos und des Statthalters Francisco<br />

de Garay von Jamaica – vor diesen meinen beiden Zeugen!« Der kleine Geri<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reiber zeigte<br />

auf seine beiden Begleiter. Es waren einfa<strong>ch</strong>e Matrosen.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 79<br />

Cortés klopfte ihm auf die S<strong>ch</strong>ulter. »Zu spät, lieber Freund. Vom Land nahm i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on Besitz.<br />

Nun aber mö<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> von Eu<strong>ch</strong> Besitz nehmen!« Eine kleine Verstärkung spanis<strong>ch</strong>er<br />

Männer in seinem do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on etwas dezimierten Heer war ihm in dieser Situation willkommen.<br />

Und der Generalkapitän, der bezaubern konnte, wenn er wollte, bezauberte nun den kleinen<br />

S<strong>ch</strong>reiber. Er s<strong>ch</strong>ob alle S<strong>ch</strong>uld den nautis<strong>ch</strong>en Instrumenten, dem Astrolabium und der magnetis<strong>ch</strong>en<br />

Abwei<strong>ch</strong>ung des Kompasses zu. Und dann malte er ein Bild von Mexico, vom Mär<strong>ch</strong>enland,<br />

vom Goldland Anahuac. Wel<strong>ch</strong>e Mögli<strong>ch</strong>keiten für unternehmende Männer! Der Notar sei ein<br />

Mann von Willenskraft und s<strong>ch</strong>arfsinnigem Verstand – das sehe man ihm an! Ni<strong>ch</strong>t minder Wagemutige<br />

befänden si<strong>ch</strong> gewiss unter der Besatzung der beiden S<strong>ch</strong>iffe, bereit, alles daranzugeben,<br />

wenn ein sol<strong>ch</strong>es Ziel winke!<br />

Es fiel Cortés ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>wer, den kleinen Mann und seine beiden Begleiter zu gewinnen. Sie<br />

erboten si<strong>ch</strong>, die S<strong>ch</strong>iffsbesatzung an Land zu rufen. Do<strong>ch</strong> ihre Bemühungen waren erfolglos.<br />

Wohl brüllten die beiden Matrosen stimmgewaltig die frohe Bots<strong>ch</strong>aft zu den ankernden S<strong>ch</strong>iffen<br />

hinüber. Do<strong>ch</strong> die Leute auf den S<strong>ch</strong>iffen hatten, wenn au<strong>ch</strong> aus der Entfernung, die Umzingelung<br />

ihrer drei Kameraden beoba<strong>ch</strong>tet und glaubten, ihr Winken und Rufen sei dur<strong>ch</strong> Drohungen veranlasst.<br />

»Auf die Weise errei<strong>ch</strong>en wir ni<strong>ch</strong>ts!«, sagte der alte Escalante missmutig. »Wenn wir aber<br />

hinrudern, so empfangen sie uns mit Musketens<strong>ch</strong>üssen!«<br />

»Viellei<strong>ch</strong>t haben wir mit einer Kriegslist mehr Glück«, s<strong>ch</strong>lug Galleguillo vor. »Wir sollten so<br />

tun, als hätten wir unsere Absi<strong>ch</strong>t aufgegeben und ritten den Weg zurück, den wir gekommen<br />

sind.«<br />

Der kleine Geri<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reiber und seine Gefährten wurden in die Mitte genommen; und der<br />

si<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> enttäus<strong>ch</strong>te Trupp ritt in Ri<strong>ch</strong>tung Veracruz, bis sie hinter einer Düne vers<strong>ch</strong>wanden. Hinter<br />

der Düne ließ Cortés Halt ma<strong>ch</strong>en. Auf seinen Befehl mussten der Geri<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reiber und die<br />

beiden Matrosen ihre Kleider mit Galleguillo, Soares und Peñalosa we<strong>ch</strong>seln. Der S<strong>ch</strong>reiber protestierte<br />

gutmütig gegen die Maskerade, fügte si<strong>ch</strong> jedo<strong>ch</strong> ins Unvermeidli<strong>ch</strong>e. Die Kleider des<br />

kleinen Galiciers s<strong>ch</strong>lotterten an ihm wie an einer Vogels<strong>ch</strong>eu<strong>ch</strong>e, während Galleguillo in der kurzen<br />

Amtstra<strong>ch</strong>t wie ein ho<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>ossener Bub aussah. Es war s<strong>ch</strong>on Abend geworden, und Cortés<br />

meinte, sie sollten das Morgengrauen abwarten, ehe sie an die Ausführung des Planes gingen.<br />

Na<strong>ch</strong> mehrstündiger Rast hinter der Düne s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en sie im S<strong>ch</strong>utz der mondlosen Na<strong>ch</strong>t an den<br />

Strand zurück und legten si<strong>ch</strong> hinter bus<strong>ch</strong>igem Gehölz auf die Lauer. Die Pferde hatte man jenseits<br />

der Düne an Bäume gebunden.<br />

Kurz vor Sonnenaufgang liefen der kleine Galicier, Soares und Peñalosa am Strand auf und<br />

ab, s<strong>ch</strong>rien und winkten, dass die S<strong>ch</strong>iffsmanns<strong>ch</strong>aften – im Glauben, die Kameraden wären aus<br />

der Gefangens<strong>ch</strong>aft geflohen – den Hilferufen diesmal Gehör s<strong>ch</strong>enkten. Bald näherte si<strong>ch</strong> ein<br />

Boot mit se<strong>ch</strong>s Mann dem Strand. Um ni<strong>ch</strong>t zu früh erkannt zu werden, fielen, während das Boot<br />

heranruderte, der vermeintli<strong>ch</strong>e Geri<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reiber und die vermeintli<strong>ch</strong>en Matrosen am Meeresufer<br />

wie ers<strong>ch</strong>öpft nieder. Zwei von den Leuten im Boot kamen an Land, um – wie tags zuvor ihre Gefährten<br />

– eine Tonne mit Trinkwasser zu füllen; sie eilten dem Ba<strong>ch</strong> zu. Die anderen im Boot Verbliebenen<br />

jedo<strong>ch</strong> wunderten si<strong>ch</strong>, dass Guillén de la Loa und seine Begleiter keine Anstalten<br />

ma<strong>ch</strong>ten, si<strong>ch</strong> zu erheben.<br />

»Ihr seht, dass wir eu<strong>ch</strong> holen kommen, Don Guillén! Was fackelt ihr so lange!«, rief einer<br />

der Garay-Leute.<br />

»Kommt ihr do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> an Land!«, entgegnete der kleine Galicier. »Hier gibt es pflaumengroße<br />

Honigameisen!« Seine Stimme gli<strong>ch</strong> zwar kaum der des Geri<strong>ch</strong>tss<strong>ch</strong>reibers, trotzdem hätten<br />

die Angeredeten viellei<strong>ch</strong>t Vertrauen gefasst, aber da wieherte hinter der Düne eines der Pferde.<br />

»Ein Hinterhalt!«, rief einer der Matrosen.<br />

Sofort stieß das Boot von Land ab und entfernte si<strong>ch</strong>. Dann fielen S<strong>ch</strong>üsse. Die hinter dem<br />

Gebüs<strong>ch</strong> versteckt Liegenden waren aufgesprungen und s<strong>ch</strong>ossen zurück. Eine Musketenkugel<br />

dur<strong>ch</strong>bohrte Escalantes Hut, streifte ihm die S<strong>ch</strong>läfe.<br />

»Genug!«, rief Cortés, »das S<strong>ch</strong>ießen ist zwecklos.« Und an Escalante gewandt fragte er:<br />

»Ihr seid do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t etwa verwundet, Señor?«<br />

Der alte Escalante la<strong>ch</strong>te, dass sein weißer Knebelbart wackelte. »I<strong>ch</strong> habe eine gute Waffensalbe<br />

und einen Krötenstein, Don Hernándo, die zwingen jede Kugel aus der Bahn!«<br />

»Vorsi<strong>ch</strong>t ist ein besserer Lebenstalisman!«, sagte Cortés. »Wenn ni<strong>ch</strong>t um Euretwillen, so


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 80<br />

s<strong>ch</strong>ont Eu<strong>ch</strong> mir zuliebe! I<strong>ch</strong> habe ni<strong>ch</strong>t viele Getreue wie Eu<strong>ch</strong>.« Seit ihm der Italiener Botello, der<br />

Astrologe, etwas über Escalantes S<strong>ch</strong>icksal gesagt hatte, sorgte Cortés si<strong>ch</strong> um den alten Mann.<br />

Die Festnahme der beiden Garay-Leute, die Trinkwasser holen wollten, bra<strong>ch</strong>te eine Überras<strong>ch</strong>ung.<br />

Der eine von ihnen, ein junger Matrose, hatte auf einer der elf Karavellen des Cortés<br />

Dienst getan. Im Nebenberuf war er Musikus; und wie der Tanzmeister Ortiz und Flores, der rothaarige<br />

Sänger, hatte er oft zur Unterhaltung und Aufmunterung des hungergeplagten und moskitozersto<strong>ch</strong>enen<br />

Heeres während des Lagerlebens an der Seeküste beigetragen. Da er eine kleine<br />

Harfe besaß, auf der er seine Romanzen zu begleiten pflegte, hatten sie ihn Pedro de la harpa<br />

genannt. Als na<strong>ch</strong> der Gründung von Veracruz vor drei Monaten auf dem Flaggs<strong>ch</strong>iff (dem einzigen<br />

ni<strong>ch</strong>t verbrannten S<strong>ch</strong>iffe) Puertocarrero und Montejo mit dem Auftrag na<strong>ch</strong> Spanien segelten,<br />

die Ges<strong>ch</strong>enke Moctezumas – die wagenradgroße S<strong>ch</strong>eibe aus gestanztem Gold mit den Sternbildern<br />

und dem Tierkreis der Tolteken, die ni<strong>ch</strong>t minder große Silbers<strong>ch</strong>eibe mit der Darstellung des<br />

Mondes und des Morgensterns sowie alle anderen uns<strong>ch</strong>ätzbaren Gaben und Goldbarren – dem<br />

jungen Kaiser Karl V. persönli<strong>ch</strong> zu überbringen, vor allem aber den Brief des Cortés und das Bitts<strong>ch</strong>reiben<br />

des Heeres, hatte der S<strong>ch</strong>iffskapitän, der Pilot Alaminos, den Pedro de la harpa mit auf<br />

die Reise genommen.<br />

Domínguez und Lares, die die Gefangenen dingfest ma<strong>ch</strong>ten, hatten zuerst an eine zufällige<br />

Ähnli<strong>ch</strong>keit geglaubt; den Harfenspieler hier zu treffen, war kaum denkbar. Aber der gab si<strong>ch</strong><br />

selbst zu erkennen und redete die alten Kameraden mit ihren Namen an. Da gab es erstaunte<br />

Ausrufe, Händes<strong>ch</strong>ütteln, Hänseleien und Gelä<strong>ch</strong>ter. Do<strong>ch</strong> Cortés wurde ernst; er verlor selten die<br />

Fassung, aber jetzt aber war seine Unterlippe weiß geworden. Cortés nahm den Mann ins Gebet.<br />

»Ist die Capitána untergegangen?«<br />

»Nein, Señor, sie ist auf dem Weg na<strong>ch</strong> Kastilien.«<br />

»Wie kamst denn du na<strong>ch</strong> Jamaica?«<br />

»Erst war i<strong>ch</strong> in Kuba, Señor.«<br />

»Zum Teufel! I<strong>ch</strong> habe Puertocarrero verboten, Kuba anzulaufen!«<br />

»Der Teniente Puertocarrero war seekrank.«<br />

»Aha, also Montejo, der Fals<strong>ch</strong>spieler! Ihr seid gelandet?«<br />

»Nein, Señor. Do<strong>ch</strong> als wir am Landgut des Hauptmanns Montejo vorbeisegelten, ging er vor<br />

Anker und er s<strong>ch</strong>ickte mi<strong>ch</strong> mit einem Brief an seinen Pä<strong>ch</strong>ter.«<br />

»Was stand in dem Brief? Heraus damit! Lüg mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t an, Kerl, sonst lass i<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong> hängen!«<br />

»Den Brief gab i<strong>ch</strong> ungeöffnet ab, Señor. Erst später habe i<strong>ch</strong> erfahren, dass im Brief ein<br />

weiterer Brief einges<strong>ch</strong>lossen war.«<br />

»An wen?«<br />

»An den Statthalter Don Diego de Velásquez.«<br />

Cortés blieben fast die Worte weg. »Alles verraten«, bra<strong>ch</strong>te er mühsam hervor.<br />

»Ja, alles, Señor. I<strong>ch</strong> erfuhr es später. Denn als das S<strong>ch</strong>iff weitersegelte, musste i<strong>ch</strong> in Kuba<br />

bleiben. Dort pfiffen es die Spatzen von den Dä<strong>ch</strong>ern. Als Erstes hatte Don Diego de Velásquez<br />

zwei bewaffnete Karavellen auf die Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> der Capitána ges<strong>ch</strong>ickt, um sie mit allem Gold<br />

Moctezumas na<strong>ch</strong> Havanna zu bringen. Do<strong>ch</strong> das misslang. Eine Zeit lang soll der Statthalter niederges<strong>ch</strong>lagen<br />

gewesen sein. Dann hat er Leute anwerben lassen, um einen Feldzug gegen Eu<strong>ch</strong><br />

zu rüsten.«<br />

»Wie stark sind diese Streitkräfte?«<br />

»Dreizehnhundert Mann, Señor. Er hat au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on a<strong>ch</strong>tzehn S<strong>ch</strong>iffe bereit.«<br />

»Wer soll das Heer anführen? Wohl kaum der dicke Gouverneur selber!«<br />

»Nein, Señor. Als Befehlshaber hat er seinen Neffen Pánfilo de Narváez ausersehen.«<br />

»Wie das? Narváez war do<strong>ch</strong> um Weihna<strong>ch</strong>ten na<strong>ch</strong> Europa abgereist.«<br />

»Das ist ri<strong>ch</strong>tig, Señor. Er weilt au<strong>ch</strong> jetzt no<strong>ch</strong> in Europa. Don Diego de Velásquez hat ihn<br />

na<strong>ch</strong> Kuba zurückrufen lassen, aber bis er dort wieder eintreffen kann, vergehen einige Monate.«<br />

Cortés ritt na<strong>ch</strong>denkli<strong>ch</strong> mit Escalante und den anderen na<strong>ch</strong> Cempoala zurück. Bisher hatte<br />

er kaltblütig sein Spiel gespielt, und die Mens<strong>ch</strong>en in diesem Spiel waren nur S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>figuren. Nun<br />

sah er den nie mehr gutzuma<strong>ch</strong>enden Fehler in seinen Bere<strong>ch</strong>nungen. Er hatte mit der Dankbarkeit<br />

Montejos gere<strong>ch</strong>net! Er, der s<strong>ch</strong>arfsinnige Stratege, war von einem Glücksspieler matt gesetzt<br />

worden. Do<strong>ch</strong> eine Gefahr, die erkannt ist, kann dur<strong>ch</strong> beherztes und kluges Vorgehen ihren


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 81<br />

S<strong>ch</strong>recken verlieren. Bis zur Rückkehr des Narváez konnte ein halbes Jahr vergehen, wenn ni<strong>ch</strong>t<br />

mehr. Und bis dahin war Mexico sein!<br />

*<br />

Im spanis<strong>ch</strong>en Heer gab es no<strong>ch</strong> einen zweiten Chronisten. Im Gegensatz zu Francisco López de<br />

Gómera, dem Cortés seine Briefe an Kaiser Karl V. diktierte, begann ein anderer Kastilier, Bernal<br />

Díaz del Castillo, aus eigenem Antrieb seine Erlebnisse aufzus<strong>ch</strong>reiben. Er hatte aus Havanna<br />

etli<strong>ch</strong>e Bögen Papier in seinem Gepäck mitgebra<strong>ch</strong>t, die er wie seine Augäpfel hütete. Eines<br />

Abends saß er vor seinem ersten Blatt und s<strong>ch</strong>rieb in gerundeten Bu<strong>ch</strong>staben:<br />

»Denkwürdigkeiten des Bernal Díaz del Castillo oder Wahre Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Entdeckung und<br />

Eroberung von Neuspanien.«<br />

Zufrieden betra<strong>ch</strong>tete er den Titel, sinnierte vor si<strong>ch</strong> hin und begann seinen Beri<strong>ch</strong>t, der später<br />

als authentis<strong>ch</strong>es Dokument in die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te eingehen sollte:<br />

»I<strong>ch</strong>, Bernal Díaz del Castillo, bin nur s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>ter Abstammung; mein Vater war Sattelma<strong>ch</strong>er<br />

in Medina del Campo in der Provinz León, und ein guter dazu. Trotzdem rei<strong>ch</strong>te sein Einkommen<br />

kaum für die siebenköpfige Familie. Da kam mir ein Angebot des Francisco Hernández de<br />

Córdova gerade re<strong>ch</strong>t, mit ihm na<strong>ch</strong> Darien zu reisen. I<strong>ch</strong> nahm 1517 au<strong>ch</strong> an seiner Expedition<br />

und ein Jahr später an der des Grijalva teil. 1519 trat i<strong>ch</strong> in das Heer des Hernándo Cortés ein, der<br />

mit einer Flotte von Kuba na<strong>ch</strong> Tabasco wenig nördli<strong>ch</strong> der Halbinsel Yucatán<br />

reiste, um neues Land in Besitz zu nehmen... S<strong>ch</strong>on 1511 war ein S<strong>ch</strong>iff des<br />

Kapitäns Valdivia an der Ostküste Yucatáns s<strong>ch</strong>iffbrü<strong>ch</strong>ig geworden, und wir<br />

reisten zuerst dorthin, um die Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> versklavten Christen aufzunehmen,<br />

konnten aber nur Jerónimo de Aguilár und Gonzalo Guerrero finden. Sie hatten<br />

seither unter den Indianern gelebt und ihre Spra<strong>ch</strong>e erlernt. Aguilár, ein Franziskaner,<br />

s<strong>ch</strong>loss si<strong>ch</strong> unserem Heer als Dolmets<strong>ch</strong>er an. Guerrero war inzwis<strong>ch</strong>en<br />

zu einem Indianer geworden, hatte eine indianis<strong>ch</strong>e Frau und Kinder mit ihr, und<br />

wollte ni<strong>ch</strong>t mehr zurückkehren...«<br />

*<br />

Büste von Bernal Díaz del Castillo<br />

in Medina del Campo, Spanien<br />

An einem s<strong>ch</strong>wülen Na<strong>ch</strong>mittag befand si<strong>ch</strong> Prinzessin Maisblume auf der untersten Gartenterrasse<br />

des Palasts in Chapultepec. Zwis<strong>ch</strong>en den beiden Steinbildnissen König Himmelspfeils und<br />

König Wassergeists lag der Eingang in eine natürli<strong>ch</strong>e, sehr geräumige und kühle Grotte. Die Prinzessin<br />

bereitete der Göttin Siebens<strong>ch</strong>lange eine Opfergabe zu. Unweit vom Eingang saßen ihre<br />

Gefährtinnen im S<strong>ch</strong>atten hoher Magnolienhecken auf dem Rasen – ein wenig s<strong>ch</strong>läfrig an diesem<br />

heißen Sommerna<strong>ch</strong>mittag.<br />

Die von der Prinzessin bereitete Opfergabe war ein am Kopf blau ges<strong>ch</strong>minkter und von den<br />

Lenden abwärts mit einem bunten Mäd<strong>ch</strong>enröck<strong>ch</strong>en bekleideter gebratener Fros<strong>ch</strong>. Die Prinzessin<br />

hatte dem toten Tier das Röck<strong>ch</strong>en bereits umgebunden, da kam eine ihrer Gefährtinnen atemlos<br />

herbeigestürzt.<br />

»Der Gott...«, stammelte das Mäd<strong>ch</strong>en.<br />

»Wel<strong>ch</strong>er Gott?«, fragte Maisblume ruhig, do<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> verstimmt darüber, dass man sie<br />

beim Opfer zu stören wagte. »Wel<strong>ch</strong>er Gott?«, wiederholte sie ihre Frage, da das Mäd<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t<br />

glei<strong>ch</strong> eine Antwort fand.<br />

»Tezcatlipoca kommt zu dir!«, s<strong>ch</strong>rie das Mäd<strong>ch</strong>en grell und stürzte hinaus. Ihr S<strong>ch</strong>rei brandete<br />

an die Grottenwände.<br />

Erstaunt blickte die Prinzessin zum Grottenausgang, wo das Mäd<strong>ch</strong>en vers<strong>ch</strong>wunden war.<br />

Und nun sah sie ihn, den Gott. Jünglingshaft stand er im flirrenden Li<strong>ch</strong>t, sein linkes Bein ges<strong>ch</strong>wärzt<br />

bis an den S<strong>ch</strong>enkel, an den Sandalen goldene Glöck<strong>ch</strong>en und S<strong>ch</strong>ellen, im Kopfs<strong>ch</strong>muck<br />

die weiße Truthahnfeder. Ja, es war Tezcatlipoca, der oberste der Götter. Offen fiel ihm<br />

das langsträhnige Haar auf die Hüften herab; sein Antlitz war dur<strong>ch</strong> eine Goldmaske verdeckt. Er<br />

s<strong>ch</strong>ritt auf die völlig Gelähmte, vor Ehrfur<strong>ch</strong>t Erstarrte zu, nahm sie bei der Hand und führte sie in<br />

den inneren <strong>Teil</strong> der Grotte.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 82<br />

Erst na<strong>ch</strong> geraumer Zeit wagten si<strong>ch</strong> die Gefährtinnen der Prinzessin zurück, aber da war der Gott<br />

vers<strong>ch</strong>wunden. Vom Seeufer her hörte man sein s<strong>ch</strong>wermütiges Flötenspiel, dort s<strong>ch</strong>ritt er mit seinen<br />

vier Gattinnen und seinen a<strong>ch</strong>t Begleitern. Die To<strong>ch</strong>ter Moctezumas aber stand wie vordem<br />

nahe beim Höhleneingang über einen hölzernen Teller gebeugt, auf wel<strong>ch</strong>em ein mit einem Mäd<strong>ch</strong>enröck<strong>ch</strong>en<br />

bekleideter Fros<strong>ch</strong> lag. Sie hatte einen feinen Pinsel in der Hand und bemalte mit<br />

blauer Farbe den Kopf des gebratenen Fros<strong>ch</strong>es.<br />

*<br />

Als die Sonne am nä<strong>ch</strong>sten Morgen aus dem Glets<strong>ch</strong>ers<strong>ch</strong>nee emporstieg, saß Maisblume in ihrer<br />

zierli<strong>ch</strong>en Sänfte und ließ si<strong>ch</strong> die Porphyrtreppen der Gartenterrassen hinab und über den Steindamm<br />

der Lagune tragen. Sie fragte die Sänftenträger, ob sie wüssten, wo der alte Zauberer<br />

Sacusín wohne. Ja, es sei ihnen bekannt, es sei eine verrufene Gegend. Die Prinzessin befahl<br />

ihnen trotzdem, sie in die Wohnung des Zauberers zu tragen, und so kam es, dass die Sänftenträger<br />

na<strong>ch</strong> Norden abbogen, anstatt wie sonst den Weg na<strong>ch</strong> dem südwestli<strong>ch</strong>en Stadtviertel<br />

Moyotla zum Großen Palast zu nehmen. Der Weg führte zuerst an prunkvollen Wohnhäusern der<br />

Kaufmanns<strong>ch</strong>aft Tlatelolcos vorbei, do<strong>ch</strong> bald gelangten sie in das Gassengewirr ärmli<strong>ch</strong>er Stadtviertel,<br />

eilten über bes<strong>ch</strong>attete Plätze und zahllose Kanalbrücken. Huren standen umher und zeigten<br />

ki<strong>ch</strong>ernd ihre mit Co<strong>ch</strong>enille rot gefärbten Zähne.<br />

Maisblume hatte von den Verlorenen s<strong>ch</strong>on gehört, sie aber no<strong>ch</strong> nie mit eigenen Augen gesehen.<br />

So starrte sie ni<strong>ch</strong>t minder erstaunt zurück, als sie von den Dirnen angestarrt wurde. Kaum<br />

dass eine ehrerbietig ihrer Sänfte aus dem Wege ging, hielt man sie do<strong>ch</strong> für eine begüterte Insassin<br />

des Tanzhauses von Mexico, wo die den unvereheli<strong>ch</strong>ten Kriegern zugewiesenen Mäd<strong>ch</strong>en<br />

vom Staat unterhalten wurden. Dass eine To<strong>ch</strong>ter des großen Moctezuma si<strong>ch</strong> in diesen Gassen<br />

zeigen könnte – auf den Gedanken wäre keine verfallen.<br />

Vor einem uns<strong>ch</strong>einbaren Häus<strong>ch</strong>en hielten die Sänftenträger an. Während Maisblume no<strong>ch</strong><br />

zögerte, in die dunkle Türöffnung zu treten, kam ihr ein Knabe entgegen, nahm sie bei der Hand<br />

und führte sie hinein. Der Knabe war blind, er trug eine brennende Kienfackel in der Hand. Sie<br />

erleu<strong>ch</strong>tete ihr – ni<strong>ch</strong>t ihm – den Weg. Und so wie sie eben zum ersten Mal die käufli<strong>ch</strong>en Mäd<strong>ch</strong>en<br />

gesehen hatte, so nahm die verwöhnte Königsto<strong>ch</strong>ter zum ersten Mal die hässli<strong>ch</strong>e Seite der<br />

Armut wahr. Die Räume waren kahl, s<strong>ch</strong>mutzig, modrig, Brutstätten für Ratten und Ungeziefer.<br />

Der Knabe führte sie in einen sonnenerhitzten Hof. Nur unter der einen Wand war ein wenige<br />

Fuß breiter S<strong>ch</strong>atten. Dort hockte auf einem S<strong>ch</strong>emel der alte Zauberer. Sein Borstenbart, sein<br />

weißes Strähnenhaar, die zers<strong>ch</strong>lissene, fleckig geflickte Kleidung unters<strong>ch</strong>ied ihn kaum von den<br />

vielen im Lande umherziehenden Zauberern, deren Künste darin gipfelten, aus Töpfen Hornissen<br />

und S<strong>ch</strong>langen, Feuersbrünste oder Quellen zu zaubern. Ungepflegt und zerlumpt saß er da, do<strong>ch</strong><br />

aus seinem uralten Gesi<strong>ch</strong>t leu<strong>ch</strong>teten zwei klare, alles und jeden dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>auende Augen. Im Volk<br />

galt er als mä<strong>ch</strong>tigster Zauberer in Anahuac; man flüsterte, er esse die Herzen lebender Mens<strong>ch</strong>en<br />

und trage, in eine fliegende S<strong>ch</strong>lange verwandelt, die S<strong>ch</strong>lafenden auf dem Rücken dur<strong>ch</strong> die<br />

Na<strong>ch</strong>t.<br />

Wenn die Prinzessin gehofft hatte, ihren Rang vor ihm verbergen zu können, so nahm er ihr<br />

diese Hoffnung mit den ersten Worten, indem er sie ehrerbietig als Prinzessin anredete und na<strong>ch</strong><br />

ihrem Begehr fragte.<br />

Sie erzählte ihm, sie hätte geträumt, in der Grotte habe der Gott sie erwählt. Das stand für<br />

sie fest; es zu glauben, zwang sie ihr Stolz, und sie bat den Zauberer, ihr den Traum zu deuten.<br />

Lange sann er na<strong>ch</strong>. In der Hand hielt er einen verdorrten mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unterarm und zog<br />

damit kreuzweise Stri<strong>ch</strong>e in ein vor ihm liegendes, mit Sand bestreutes Brett. Auf die Felder legte<br />

er je ein, zwei oder drei Maiskörner.<br />

»Es war kein Traum«, sagte er endli<strong>ch</strong>.<br />

»War es Tezcatlipoca?«, fragte sie s<strong>ch</strong>audernd.<br />

Der Wahrsager s<strong>ch</strong>üttelte den Kopf. »Du wärst eine Tote, hätte sein Mund deinen Mund berührt.«<br />

Die Prinzessin starrte ihn stumm, ratlos, flehentli<strong>ch</strong> an. Der Zauberer fuhr fort:<br />

»Au<strong>ch</strong> der Opfersklave kann es ni<strong>ch</strong>t gewesen sein, wel<strong>ch</strong>er ein Jahr lang der Gott ist und


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 83<br />

Flöte blasend mit den vier Mäd<strong>ch</strong>en einherzieht. Vor siebzehn Tagen wurde er geopfert. Der an<br />

seiner statt neu gewählte Gott wird erst zum Gott erzogen und streng beaufsi<strong>ch</strong>tigt. Er war es<br />

ni<strong>ch</strong>t.«<br />

»Dann muss i<strong>ch</strong> sterben«, sagte die Prinzessin leise.<br />

»Nein«, spra<strong>ch</strong> der Zauberer. »Do<strong>ch</strong> du musst erfahren, wer es war. Er wird wiederkommen.<br />

Und nun höre und befolge meinen Rat. Halte in der Grotte einen Topf mit rotgelber Axinfarbe bereit<br />

und tau<strong>ch</strong>e die Finger hinein, wenn der Gott di<strong>ch</strong> an der Hand fasst. Selbst heiße Bäder was<strong>ch</strong>en<br />

das Axin ni<strong>ch</strong>t ab. Es frisst si<strong>ch</strong> in die Haut ein, und mindestens fünf Tage lang bleibt es si<strong>ch</strong>tbar.<br />

So wirst du ihn finden und wiedererkennen. Dann vollbringe eine S<strong>ch</strong>reckenstat, die deine Uns<strong>ch</strong>uld<br />

vor aller Welt dartut.«<br />

Maisblume rei<strong>ch</strong>te ihm ihre Edelsteinkette als Bezahlung. Der Zauberer wies sie lä<strong>ch</strong>elnd zurück.<br />

»O Prinzessin«, sagte er, »die Weisheit der Sterne hat keinen Preis.«<br />

8. Mä<strong>ch</strong>tiger Felsen<br />

»Wir zogen drei Tagesmärs<strong>ch</strong>e dur<strong>ch</strong> ödes Land... Dann gelangten wir in ein Tal, das stark<br />

bewohnt war. Wir wurden vom Kaziken mit fröhli<strong>ch</strong>em Gesi<strong>ch</strong>t empfangen und gut beherbergt.<br />

Na<strong>ch</strong>dem i<strong>ch</strong> ihn im Namen Eurer Kaiserli<strong>ch</strong>en Majestät angeredet und ihm die Ursa<strong>ch</strong>e<br />

meiner Ankunft erzählt hatte, fragte i<strong>ch</strong> ihn, ob er Untertan des Herrn Moctezuma wäre<br />

oder eines anderen Fürsten. Meine Frage verwunderte ihn arg, und er gab zur Antwort:<br />

›Wer lebt auf der Erde und ist ni<strong>ch</strong>t Kne<strong>ch</strong>t des großen Moctezuma?‹«<br />

(Hernán Cortés, 2. Brief an Karl V. vom 30. Oktober 1520)<br />

Sie hatten auf dem blumenprangenden Hausda<strong>ch</strong> seines Freundes, des gelehrten<br />

Annalens<strong>ch</strong>reibers Weißer Mondstein, mit heiterem Munde von finsteren Dingen geredet. Sie hatten<br />

die flü<strong>ch</strong>tigen Stunden genossen und trübe Gedanken niedergeze<strong>ch</strong>t, denn beide waren ni<strong>ch</strong>t<br />

taub für die Not der Zeit. Beraus<strong>ch</strong>ten Sinnes, aber mit klarem Blick sahen sie das herannahende<br />

Weltende. Sie diskutierten lange, wägten ab, tranken wieder und wieder vom süßen, trostspendenden<br />

Honigwein und erkannten in der Klarheit der Betrunkenen, wie hoffnungslos und unfähig<br />

sie wären, das Rad des Ges<strong>ch</strong>ehens aufzuhalten.<br />

Nun war er auf dem Heimweg, aber der junge, raus<strong>ch</strong>selige Di<strong>ch</strong>ter, den sie den Träumer<br />

nannten, fand – trunken wie er war – sein eigenes Haus ni<strong>ch</strong>t und verirrte si<strong>ch</strong> im Gassengewirr<br />

des ärmli<strong>ch</strong>en Stadtviertels Teno<strong>ch</strong>titláns. Der Träumer wankte dur<strong>ch</strong> eine fremde Gasse und blieb<br />

vor einem Häus<strong>ch</strong>en stehen, das er für das seine hielt, da es baufällig aussah wie seines. Die Tür<br />

war unvers<strong>ch</strong>lossen. Er torkelte dur<strong>ch</strong> ein na<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>warzes Gema<strong>ch</strong>, wo Ratten bei seinem Eintritt<br />

davonsprangen, und kam auf einen Li<strong>ch</strong>thof. Hier sah er si<strong>ch</strong> einem Greis und einem blinden Knaben<br />

gegenüber. Er war in die Wohnung des Wahrsagers Sacusín getreten. In seinem von Alkohol<br />

umnebelten Verstand fand der Träumer das ni<strong>ch</strong>t weiter verwunderli<strong>ch</strong>.<br />

Der Alte wies ihn ni<strong>ch</strong>t hinaus, begrüßte ihn vielmehr freundli<strong>ch</strong>, als hätte er ihn erwartet, und<br />

bereitete ihm auf einer Strohmatte ein Lager. Der Betrunkene s<strong>ch</strong>lief sofort ein.<br />

Am nä<strong>ch</strong>sten Morgen war es dem Träumer peinli<strong>ch</strong>, do<strong>ch</strong> seine Ents<strong>ch</strong>uldigungen wurden<br />

von Sacusín verständnisvoll zurückgewiesen. Sie kamen ins Gesprä<strong>ch</strong>, die Zeit verstri<strong>ch</strong> und der<br />

Tag ging hin, bis sie Abs<strong>ch</strong>ied nahmen. Und als sie s<strong>ch</strong>ieden, waren sie Freunde.<br />

Seitdem besu<strong>ch</strong>ten sie si<strong>ch</strong> gegenseitig. Im Garten des Träumers lernte Sacusín bald darauf<br />

Weißer Mondstein kennen. Der Annalens<strong>ch</strong>reiber, obglei<strong>ch</strong> ein Höfling und rei<strong>ch</strong>er Mann, s<strong>ch</strong>eute


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 84<br />

si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, mit dem Träumer au<strong>ch</strong> den ärmli<strong>ch</strong> gekleideten Zauberer einzuladen oder Gast in dessen<br />

einfa<strong>ch</strong>er Behausung zu sein. Eines Na<strong>ch</strong>ts saßen die drei in der Wohnung des Zauberers.<br />

Das nie verlös<strong>ch</strong>ende Feuer auf dem Hausherd inmitten des Li<strong>ch</strong>thofes flackerte rötli<strong>ch</strong>. Eine Kienfackel<br />

flammte an der Hofmauer. Der alte Wahrsager hatte drei Holzs<strong>ch</strong>emel in den Li<strong>ch</strong>thof gestellt.<br />

Seine Gäste zu bewirten, fiel ihm wegen seiner kärgli<strong>ch</strong>en Armut ni<strong>ch</strong>t lei<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong> die Gebote<br />

der Gastfreunds<strong>ch</strong>aft und sein Stolz ließen ihn immer eine Mögli<strong>ch</strong>keit finden. Die große<br />

Pulques<strong>ch</strong>ale, aus wel<strong>ch</strong>er sie s<strong>ch</strong>lürften, hatte der Annalens<strong>ch</strong>reiber dur<strong>ch</strong> einen seiner Sklaven<br />

hins<strong>ch</strong>affen lassen.<br />

Wie sie aßen und ze<strong>ch</strong>ten, spielten na<strong>ch</strong> einer Weile die vierhundert kleinen Pulquegötter<br />

dem Di<strong>ch</strong>ter wieder einen Strei<strong>ch</strong>, dass sie ihn, als er eben aufstehen wollte, vom niedrigen S<strong>ch</strong>emel<br />

sanft auf die Erde gleiten ließen, wo er, wie leblos ausgestreckt, in tiefen S<strong>ch</strong>laf verfiel. Da trat<br />

der blinde Knabe in den Hof, tastete si<strong>ch</strong> am Gemäuer entlang zum Wahrsager vor und flüsterte<br />

ihm eine Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t ins Ohr. Sacusín nickte, erhob si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>nell und stellte das fast leere<br />

Pulquegefäß in ein angrenzendes, nur von einer zers<strong>ch</strong>lissenen Binsenmatte abgetrenntes dunkles<br />

Gema<strong>ch</strong>. Dort hinein bat er au<strong>ch</strong> seinen Freund zu treten, weil zwei späte Gäste eingetroffen<br />

seien, die er weder abweisen no<strong>ch</strong> in Gegenwart anderer empfangen könne. Den Träumer hingegen<br />

zu wecken, war ein vergebenes Unterfangen. Weißer Mondstein und der Wahrsager mussten<br />

ihn in die finstere Kammer tragen.<br />

Der blinde Knabe war, na<strong>ch</strong>dem er die Zaubergeräte bereitgestellt hatte, wieder mit erstaunli<strong>ch</strong>er<br />

Si<strong>ch</strong>erheit hinausgegangen, um die Gäste hereinzurufen. Im Li<strong>ch</strong>thof hockte Sacusín an der<br />

Wand, vor si<strong>ch</strong> ein mit Sand bestreutes Brett. Mit dem verdorrten mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unterarm als Griffel<br />

stri<strong>ch</strong>elte er geometris<strong>ch</strong>e Figuren und legte auf jede zwei oder drei Maiskörner.<br />

Die beiden Fremden waren in ärmli<strong>ch</strong>e Mäntel gehüllt. Der eine ließ seinen Mantel zu Boden<br />

fallen, und Sacusín sah, dass er Dienerkleidung trug. Als der Diener aber mit untertäniger Gebärde<br />

dem anderen den Mantel von den S<strong>ch</strong>ultern nahm, füllte königli<strong>ch</strong>er Glanz den armseligen Hof:<br />

Saphire, Gold, Türkise und Smaragde blitzten im Kienfackels<strong>ch</strong>ein.<br />

»Du bist ni<strong>ch</strong>t der große Moctezuma, obglei<strong>ch</strong> du ihm sehr ähnli<strong>ch</strong> siehst!«, sagte der Zauberer<br />

zu Moctezumas Doppelgänger. Es war Tziuacpopocatzin, der Tempelhüter, der prunkvoll in<br />

Moctezumas Kleidung und S<strong>ch</strong>muck vor ihm stand. »Dein Diener ist der Herr der Herren!«<br />

Und Sacusín kniete nieder und küsste die Füße des Dieners.<br />

»O großer Zauberer, du Kluger!«, spra<strong>ch</strong> Moctezuma. »Wer ist s<strong>ch</strong>arfsinnig wie du? Nun<br />

aber sollst du mir sagen, was mir droht.«<br />

Sacusín hockte wieder an der Mauer nieder. Mit dem mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Unterarm als S<strong>ch</strong>reibgriffel<br />

zog er Stri<strong>ch</strong>e auf der Sandtafel und legte Maiskörner auf die Felder. Lange, allzu lange<br />

währten seine Bere<strong>ch</strong>nungen, und seufzend sagte er endli<strong>ch</strong>:<br />

»O großer König, o Zorniger Herr! Die Körner liegen ni<strong>ch</strong>t günstig...«<br />

»O Zauberer, du Kluger!«, spra<strong>ch</strong> Moctezuma, »für<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t zu sagen, was die Körner mir<br />

drohen.«<br />

Da spra<strong>ch</strong> Sacusín: »O großer König! Die Körner warnen di<strong>ch</strong>: Hüte di<strong>ch</strong> vor Tlaxcala!«<br />

*<br />

In der Na<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> diesem Gesprä<strong>ch</strong> verfiel Moctezuma in tiefe S<strong>ch</strong>wermut. Die Warnung Sacusíns<br />

vor Tlaxcala (was immer si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> dahinter verbergen mo<strong>ch</strong>te), bereitete ihm Fur<strong>ch</strong>t. Und als die<br />

Mus<strong>ch</strong>eltrompeten von der S<strong>ch</strong>langenberg-Pyramide herab die Mitterna<strong>ch</strong>t verkündeten, gab der<br />

König den Befehl, vier Sklaven zu s<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ten, ihnen die Haut abzuziehen und ihm die vier Mens<strong>ch</strong>enhäute<br />

sofort zu bringen. Der Befehl wurde ras<strong>ch</strong> ausgeführt. Ein Priester, s<strong>ch</strong>warz bemalt,<br />

mit einer Kno<strong>ch</strong>enrassel im Gürtel, bra<strong>ch</strong>te die vier Mens<strong>ch</strong>enhäute, legte sie vor dem König nieder<br />

und entfernte si<strong>ch</strong> stumm.<br />

Und Moctezuma starrte lange auf die Häute; dann ließ er na<strong>ch</strong> Sacusín rufen, man solle ihn<br />

holen – jetzt, mitten in der Na<strong>ch</strong>t. Als dem König der alte Zauberer gemeldet wurde, befahl Moctezuma,<br />

ihn hereinzuführen. Sacusín erkannte mit kundigem Auge, in wel<strong>ch</strong>em Zustand si<strong>ch</strong> der<br />

König befand. Er warf si<strong>ch</strong> vor ihm zu Boden und küsste ihm die türkisenen Sandalen.<br />

»O großer König, o Herrs<strong>ch</strong>er, was befiehlst du?«, fragte er.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 85<br />

Und Moctezuma spra<strong>ch</strong>: »Als meinen Boten sende i<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong> in die Unterwelt zu König<br />

Huhemac, und als ein Ges<strong>ch</strong>enk von mir wirst da ihm diese vier Mens<strong>ch</strong>enhäute überbringen. In<br />

den unterirdis<strong>ch</strong>en Palast von Cincalco sollst du hinabsteigen, König Huhemac die Hände küssen<br />

und ihm sagen: ›Moctezuma, dein Kne<strong>ch</strong>t, sendet dir diese Gewandungen.‹ Und dann komm zurück<br />

und beri<strong>ch</strong>te mir!«<br />

Sacusín entfernte si<strong>ch</strong>, ließ aber den Leibdienern ein s<strong>ch</strong>lafspendendes Heilkraut für den<br />

König zurück. Als er im Morgengrauen zum Großen Palast zurückkehrte, wurde er ni<strong>ch</strong>t mehr vorgelassen,<br />

denn der Herr der Herren hatte das S<strong>ch</strong>lafkraut zu si<strong>ch</strong> genommen, um zu vergessen,<br />

was ihn bedrohte. Da verlangte der Zauberer, bei seinem Freund Weißer Mondstein vorgelassen<br />

zu werden. Trotz der frühen Stunde war der Annalens<strong>ch</strong>reiber s<strong>ch</strong>on auf. Sein Gelehrtenzimmer,<br />

in dem er den Wahrsager empfing, war angehäuft mit alten Chroniken, Sammlungen heiliger Gesänge,<br />

astronomis<strong>ch</strong>en Werken und farbigen Bilderhands<strong>ch</strong>riften. Man<strong>ch</strong>e auf Hirs<strong>ch</strong>hautpergament,<br />

andere auf körniges, gelbli<strong>ch</strong>-weißes Agavefaserpapier gemalt. In einem offenen Wandregal<br />

lagerten uns<strong>ch</strong>ätzbar wertvolle, aus Ruinen von Gräberstädten stammende toltekis<strong>ch</strong>e Altertümer.<br />

Sacusín erzählte ihm, wel<strong>ch</strong>en unausführbaren Auftrag der angstbesessene König ihm gegeben<br />

hatte. Weißer Mondstein antwortete: »O Zauberer, sag mir: Warum kehrtest du in den Palast<br />

zurück? Wolltest du den großen Moctezuma belügen? Denn in die Höhle zum s<strong>ch</strong>on seit Jahrhunderten<br />

toten König von Tula stiegst du ni<strong>ch</strong>t hinab.«<br />

»Alle Worte sind Bilder!«, entgegnete Sacusín. »Seit mir befohlen war, zu König Huhemac<br />

hinabzusteigen, weilte i<strong>ch</strong> bei König Huhemac!«<br />

Der Annalens<strong>ch</strong>reiber sann na<strong>ch</strong> und sagte: »Wenn der Zornige Herr erwa<strong>ch</strong>t, weiß er viellei<strong>ch</strong>t<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr, was er befohlen hatte.«<br />

Sacusín s<strong>ch</strong>üttelte den Kopf. »Der Tempelhüter wird ihn daran erinnern. Er war es, der ihm<br />

dies eingeflüstert hat. Er war es, der Moctezuma zu mir führte. Der Listenrei<strong>ch</strong>e wird unser Volk<br />

dur<strong>ch</strong> einen s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en König an den Abgrund führen. Ni<strong>ch</strong>t die kleine S<strong>ch</strong>ar weißer Eindringlinge<br />

ist das hereinbre<strong>ch</strong>ende Unglück, sondern die Unstetigkeit, das unheilvolle S<strong>ch</strong>wanken<br />

Moctezumas.« Viellei<strong>ch</strong>t könne er dem s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en König das Gewissen wecken. Darum werde<br />

er vor ni<strong>ch</strong>ts mehr zurücks<strong>ch</strong>recken, werde vollführen, wozu er dur<strong>ch</strong> Götterspru<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> berufen<br />

fühle.<br />

Die Glut von Sacusíns Antwort versetzte den Annalens<strong>ch</strong>reiber in Erstaunen. Wer war der<br />

Alte? Niemand wusste, woher er stammte. Den S<strong>ch</strong>leier, der seine Vergangenheit umhüllte, hatte<br />

er nie gelüftet. Bei den Zusammenkünften mit dem Träumer hatte er mitunter ein kluges Wort ins<br />

Gesprä<strong>ch</strong> fallen lassen, war aber nie aus seiner geheimnisvollen Zurückhaltung herausgetreten.<br />

Und nun legte er rückhaltlos sein Herz offen, zeigte, dass er wegen der ungewissen Zukunft des<br />

aztekis<strong>ch</strong>en Volkes litt. Weißer Mondstein da<strong>ch</strong>te wie der Zauberer. Als Sacusín ihn beim Abs<strong>ch</strong>ied<br />

um ein uns<strong>ch</strong>ätzbar wertvolles alttoltekis<strong>ch</strong>es Gefäß im Regal bat, s<strong>ch</strong>lug er es ihm ni<strong>ch</strong>t<br />

ab. Das Trinkglas war aus gehämmertem Gold und stammte aus einem Grabhügel bei Tula, der<br />

sagenrei<strong>ch</strong>en Toltekenstadt.<br />

Sacusín trug das Kleinod unter dem Mantel verborgen in seine armselige Wohnung. Mehrere<br />

Tage wartete er, dass Moctezuma ihn holen lasse, um Auskunft über das Ges<strong>ch</strong>enk des Königs an<br />

Huhemac zu verlangen. Do<strong>ch</strong> in einer der folgenden Nä<strong>ch</strong>te meldete der blinde Knabe dem Wahrsager,<br />

dass die beiden vermummten Fremden wieder um Einlass bäten. Sacusín empfing Moctezuma<br />

im Li<strong>ch</strong>thof, wo das nie verlös<strong>ch</strong>ende Feuer auf dem Hausherd rötli<strong>ch</strong> flackerte. Der Tempelhüter,<br />

der mit dem König eingetreten war, verließ auf einen Wink des Königs den Li<strong>ch</strong>thof.<br />

Wieder warf Sacusín si<strong>ch</strong> zu Boden und küsste die Türkissandalen des Königs, dann hieß er<br />

mit einem Segensspru<strong>ch</strong> den hohen Gast willkommen.<br />

Moctezuma fors<strong>ch</strong>te ihn aus: »O kluger Zauberer, du Alter!«, sagte er, »bist du hinabgestiegen<br />

in die Höhle? Hast du dem König Huhemac die vier Mens<strong>ch</strong>enhäute von mir überbra<strong>ch</strong>t? Hast<br />

du ihn gefragt, ob i<strong>ch</strong> wohnen darf im Haus der Glückseligkeit, seinem unterirdis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>loss?«<br />

Und Sacusín beri<strong>ch</strong>tete, was er si<strong>ch</strong> über seine Reise in die aztekis<strong>ch</strong>e Mythen zure<strong>ch</strong>tgelegt<br />

hatte: »O großer König, o Zorniger Herr! I<strong>ch</strong> stieg hinab in die Höhle von Cincalco, wie dein<br />

Mund es mir befahl. Der Weg spaltete si<strong>ch</strong> in vier Ri<strong>ch</strong>tungen, und i<strong>ch</strong> wählte den engsten Pfad,<br />

der am steilsten hinabführt in die blaue Hölle. Tiefer und tiefer stieg i<strong>ch</strong> hinab, da kam mir ein blinder<br />

Mann entgegen, auf einen Stab gestützt. Und der Mann nannte si<strong>ch</strong> Felsengesi<strong>ch</strong>t. Und Felsengesi<strong>ch</strong>t<br />

fragte mi<strong>ch</strong>, wohin i<strong>ch</strong> ginge. Als i<strong>ch</strong> ihm gesagt, dass i<strong>ch</strong> von Moctezuma ein Sendbo-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 86<br />

te sei, unterwegs zum König der blauen Hölle, führte er mi<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> einen Wald vor den König<br />

Huhemac. Der saß auf einem Thron aus weiß geblei<strong>ch</strong>tem Gebein und war in ein Gewand aus<br />

Gras gekleidet; au<strong>ch</strong> sein königli<strong>ch</strong>es Stirnband und sein Kopfputz waren aus Gräsern geflo<strong>ch</strong>ten<br />

– denn Gräser welken so s<strong>ch</strong>nell dahin wie die Mens<strong>ch</strong>en. Und Huhemac fragte mi<strong>ch</strong>: ›Von woher<br />

kommst du, Mens<strong>ch</strong>? Was begehrst du, Mens<strong>ch</strong>?‹ I<strong>ch</strong> meldete ihm, dass du, o großer König, mir<br />

aufgetragen habest, ihm die Hände und Füße zu küssen und ihm die vier Mens<strong>ch</strong>enhäute zu<br />

überbringen als Ges<strong>ch</strong>enk von dir und ihn zu fragen, ob er di<strong>ch</strong> im Haus der Glückseligkeit wohnen<br />

lassen werde, seinem unterirdis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>loss. Da rief Huhemac aus: ›Armer Moctezuma! Ist seine<br />

Pein so groß? Su<strong>ch</strong>t er S<strong>ch</strong>utz im Haus des Vergessens? Glaubt er, bei mir Zuflu<strong>ch</strong>t zu finden –<br />

er, der nie auf Warnungen hörte? Denkt Moctezuma, er könne hier herrs<strong>ch</strong>en wie in der oberen<br />

Welt? Tanz und Gesang sind hier ni<strong>ch</strong>t wie droben! Moctezuma würde fliehen, blickte er in mein<br />

Haus, und keinen Tag würde er hier verweilen. Do<strong>ch</strong> wenn es sein heißer Wuns<strong>ch</strong> ist, wenn sein<br />

Herz ihn treibt, mag er kommen. I<strong>ch</strong> werde ihm zeigen, was ihm droht. Bring ihm diesen Trank,<br />

dass er ihn trinke. Denn ohne ihn gelangt er nie zu mir.‹ Als Huhemac so gespro<strong>ch</strong>en, rei<strong>ch</strong>te er<br />

mir dieses Gefäß, auf dass i<strong>ch</strong> es dir überbringe, o großer König, o Herrs<strong>ch</strong>er!«<br />

Der Zauberer hatte nun seinen Beri<strong>ch</strong>t beendet. Moctezuma saß sinnend auf seinem S<strong>ch</strong>emel<br />

und bra<strong>ch</strong>te lange Zeit kein Wort hervor. Dann fragte er na<strong>ch</strong> dem Gefäß, ließ si<strong>ch</strong> das Trinkglas<br />

aus gehämmertem Gold zeigen. Es war angefüllt mit einem duftenden Kräutertrank.<br />

»I<strong>ch</strong> will hinab zu Huhemac!«, spra<strong>ch</strong> Moctezuma. »Wann soll i<strong>ch</strong> den Trank zu mir nehmen?«<br />

»O großer König! Trinke, wenn die Stunde günstig ist.«<br />

»Ist sie es jetzt?«<br />

»Ob jetzt die Stunde günstig ist? I<strong>ch</strong> werde das Herdfeuer befragen, ›den Herrn mit dem gelben<br />

Gesi<strong>ch</strong>t‹!«<br />

Im Herd lebte der alte Feuergott. Sacusín trat zum Hausherd, der würfelförmig, aus drei<br />

Quadersteinen erbaut, in der Mitte des Hofes stand, und warf drei Kakaobohnen in das rote Herdfeuer.<br />

Bläuli<strong>ch</strong> flammten sie auf – »der alte Herr« bejahte die Frage.<br />

Da trank Moctezuma den Kräutertrank des Königs der Toten.<br />

*<br />

Vor den Augen Moctezumas war s<strong>ch</strong>warze Na<strong>ch</strong>t; denn er war in die Höhle von Cincalco eingetreten.<br />

Und obglei<strong>ch</strong> er ni<strong>ch</strong>ts sah außer Finsternis, wusste er, dass der alte Zauberer neben ihm war<br />

und ihn hinabführte. Der Weg spaltete si<strong>ch</strong> in vier Ri<strong>ch</strong>tungen, und der Zauberer s<strong>ch</strong>ritt voraus und<br />

wählte den engsten Pfad, der am steilsten abstürzte in die blaue Hölle. Tiefer und tiefer stiegen<br />

sie, bis ihnen von unten ein bläuli<strong>ch</strong>er Li<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>ein entgegendämmerte. Das Li<strong>ch</strong>t wurde heller und<br />

blieb do<strong>ch</strong> nur ein matter S<strong>ch</strong>immer, als sie im Land ohne Sonne angelangt waren. Es gab weder<br />

Straßen no<strong>ch</strong> Gassen, keine Fußpfade und Wegweiser, und Rosen blühten traurig-weiß wie Kno<strong>ch</strong>en.<br />

Moctezuma wollte zurückeilen und konnte es ni<strong>ch</strong>t. Er hörte die Stimme des Zauberers neben<br />

si<strong>ch</strong>, der fragte: »Siehst du den Todesboten, o großer König, siehst du den Affen mit dem Totenkopf?«<br />

Voll Entsetzen wandte Moctezuma si<strong>ch</strong> um, wollte wieder davonlaufen und konnte es<br />

wieder ni<strong>ch</strong>t. Ein großer Affe mit weißgeblei<strong>ch</strong>tem S<strong>ch</strong>ädel anstelle eines Kopfes sprang auf ihn zu<br />

und versperrte ihm den Rückweg. Der Zauberer drängte, weiter zu s<strong>ch</strong>reiten, immer weiter. Da<br />

kam ihnen auf einen Stab gestützt jener blinde Mann entgegen, der si<strong>ch</strong> Felsengesi<strong>ch</strong>t nannte. Der<br />

Mann fragte, wohin sie gingen. Und als der Zauberer zur Antwort gab, sie su<strong>ch</strong>ten den König<br />

Huhemac, führte der Blinde sie dur<strong>ch</strong> wogenden Nebel. Wieder hörte er die Stimme des Zauberers<br />

neben si<strong>ch</strong>, der fragte: »Erkennst du die a<strong>ch</strong>t stolzen Gestalten dort ni<strong>ch</strong>t? Die Könige! Deine Vorfahren<br />

sind es, die Mexico groß gema<strong>ch</strong>t haben!« Und Moctezuma sah a<strong>ch</strong>t Gestalten s<strong>ch</strong>weben,<br />

sie kamen näher und umringten ihn von allen Seiten. Moctezuma erkannte seinen Vorgänger König<br />

Mol<strong>ch</strong>, den Vater des S<strong>ch</strong>lagenden Falkens. Und er sah seinen Vater König Wassergeist und<br />

König Himmelspfeil und König Obsidians<strong>ch</strong>lange und die früheren Könige alle. Einige hoben anklagend<br />

die Geisterhände und ballten die Fäuste gegen ihn. Und wieder wollte Moctezuma davonlaufen<br />

und konnte es wieder ni<strong>ch</strong>t. Die Geister seiner Ahnen s<strong>ch</strong>webten um ihn her und riefen:<br />

»Elender Moctezuma, warum verni<strong>ch</strong>test du unser Werk? Du bist der Tod, du bist der Moder, du


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 87<br />

bist der Verfall für die Mauern, die wir aufgeri<strong>ch</strong>tet haben, für die Tempel, die wir ges<strong>ch</strong>mückt haben,<br />

für die Herzen, die wir stark gema<strong>ch</strong>t haben! Der s<strong>ch</strong>önen Blüte Anahuac waren wir wie<br />

fru<strong>ch</strong>tbarer Sommerwind, do<strong>ch</strong> in deinem Herbststurm muss sie dahinwelken!«<br />

Da s<strong>ch</strong>lug Moctezuma die Hände vor sein Antlitz. Und Felsengesi<strong>ch</strong>t, der blinde Totendiener,<br />

nahm ihn bei der Hand, zog ihn fort und bra<strong>ch</strong>te ihn vor Huhemac, den König der Toten. Er saß auf<br />

einem Thron aus weißgeblei<strong>ch</strong>tem Gebein und war in ein Gewand aus Gras gekleidet; au<strong>ch</strong> sein<br />

königli<strong>ch</strong>es Stirnband und sein Kopfputz waren aus Gräsern geflo<strong>ch</strong>ten. Vor ihn hintretend, gewahrte<br />

Moctezuma, dass ni<strong>ch</strong>t König Huhemac dort saß; es war kein anderer als sein eigener toter<br />

Bruder Prinz Grasstrick. Moctezuma stürzte nieder, küsste seinem unglückli<strong>ch</strong>en Bruder, dem König<br />

der Toten, Hände und Füße, und spra<strong>ch</strong> stammelnd: »I<strong>ch</strong> ließ dir vier Mens<strong>ch</strong>enhäute bringen<br />

als kleines Ges<strong>ch</strong>enk. Lass mi<strong>ch</strong> wohnen in deinem Palast.« Der S<strong>ch</strong>atten auf dem weißen Kno<strong>ch</strong>enthron<br />

rührte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Do<strong>ch</strong> neben ihm stand aufre<strong>ch</strong>t der blinde Totendiener Felsengesi<strong>ch</strong>t<br />

und gab die Antwort. Und als Moctezuma dem Totendiener ins augenlose Gesi<strong>ch</strong>t sah, erkannte er<br />

den dahinges<strong>ch</strong>iedenen König von Tezcoco, den Herrn des Fastens. Moctezuma zitterte vor<br />

Fur<strong>ch</strong>t.<br />

Der Herr des Fastens spra<strong>ch</strong>: »Wer ist dieser Moctezuma? Ist er ni<strong>ch</strong>t der S<strong>ch</strong>änder Mexicos?<br />

Watet er ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> Blut, seit er das blaue Stirnband trägt? Hat die Fur<strong>ch</strong>t ihn gepackt? Das<br />

Verderben ist ni<strong>ch</strong>t mehr aufzuhalten – zu viel Blut hat er vergossen. Die Götter haben si<strong>ch</strong> abgekehrt<br />

von Mexico, sie haben die Königin aller Städte verlassen! Wie will er sie zurückrufen? Dur<strong>ch</strong><br />

neue Verbre<strong>ch</strong>en? Hat er ni<strong>ch</strong>t eben erst den S<strong>ch</strong>lagenden Falken ausges<strong>ch</strong>ickt, eine Ruhmestat<br />

zu vollbringen? Wo weilt der S<strong>ch</strong>lagende Falke jetzt, der Liebling Mexicos? Wenn der beste Sohn<br />

Mexicos ni<strong>ch</strong>t zurückkehrt, kehren au<strong>ch</strong> die Götter nie mehr zurück...«<br />

Moctezuma s<strong>ch</strong>rie auf. Fast blieb ihm das Herz stehen. Er erstickte vor Grauen, erstickte im<br />

S<strong>ch</strong>leierdunst der Nebelwolken, die ihn di<strong>ch</strong>ter und di<strong>ch</strong>ter umhüllten, bis er ni<strong>ch</strong>ts mehr sah. Er<br />

rang na<strong>ch</strong> Atem, sah den Thron ni<strong>ch</strong>t mehr.<br />

Als es wieder li<strong>ch</strong>t wurde um ihn, als die Nebelwolken si<strong>ch</strong> zerteilten, befand er si<strong>ch</strong> im<br />

Li<strong>ch</strong>thof der Wohnung des Zauberers, und auf dem Hausherd qualmten und s<strong>ch</strong>welten Weihrau<strong>ch</strong>körner.<br />

Kurz ließ der König den Blick s<strong>ch</strong>weifen. Dann verließ er finster das Haus, ohne no<strong>ch</strong><br />

ein Wort zu spre<strong>ch</strong>en, als könne er ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>nell genug aus dem Berei<strong>ch</strong> der Toten flü<strong>ch</strong>ten.<br />

Kaum war er in seinen Großen Palast zurückgekehrt, befahl Moctezuma dem obersten Hofmeister,<br />

dem Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e: »Lass die Wohnung des Zauberers Sacusín<br />

heimli<strong>ch</strong> umstellen, sodass er ni<strong>ch</strong>t entkommen kann – falls er ni<strong>ch</strong>t wie eine S<strong>ch</strong>lange in ein Erdlo<strong>ch</strong><br />

krie<strong>ch</strong>t oder wie ein Vogel zum Himmel auffliegt. Nimm ihn gefangen, ihn und seinen blinden<br />

Diener. Sie sollen beide zu Tode gefoltert werden. Sein Haus aber lass niederreißen bis auf den<br />

letzten Stein, sodass das Wasser des Sees dort flutet, wo die Grundmauern gestanden haben!«<br />

Zwis<strong>ch</strong>en Fur<strong>ch</strong>t und Hoffnung erwartete er die Rückkunft des Haushofmeisters. Stunden<br />

vergingen, ehe der Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e wieder vor ihn trat und meldete, das Haus<br />

des Zauberers sei niedergerissen bis auf den letzten Stein, sodass nun das Wasser der Lagune<br />

dort flutete, wo einst die Grundmauern gestanden haben. Do<strong>ch</strong> den Zauberer und den blinden<br />

Knabe hätten sie ni<strong>ch</strong>t mehr angetroffen.<br />

*<br />

Fünf Tage lang s<strong>ch</strong>loss der König si<strong>ch</strong> ein, ließ niemanden vor, spra<strong>ch</strong> selbst zu den Sklaven<br />

ni<strong>ch</strong>t. Am fünften Tag wagte der Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e, ins S<strong>ch</strong>lafgema<strong>ch</strong> des Königs<br />

vorzudringen und ihm mitzuteilen, dass der S<strong>ch</strong>lagende Falke in Teno<strong>ch</strong>titlán eingetroffen sei.<br />

Der Grüne Stein selbst habe ihn aus totonakis<strong>ch</strong>er Gefangens<strong>ch</strong>aft befreit. Moctezuma bes<strong>ch</strong>enkte<br />

den Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e mit einer goldenen Armspange für diese freudige<br />

Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t und blickte wieder heiter. Die größte Last war ihm vom Herzen genommen. Er küsste<br />

den S<strong>ch</strong>lagenden Falken wie einen Sohn, der großen Gefahren entronnen war und belohnte ihn,<br />

indem er ihn als »Jaguar-Arm« anredete und ihm damit den hö<strong>ch</strong>sten Titel verlieh. Zuglei<strong>ch</strong> ernannte<br />

er ihn zum Vorsteher des Hauses der Edelsteine und legte so die Bewa<strong>ch</strong>ung der unermessli<strong>ch</strong>en<br />

S<strong>ch</strong>ätze Mexicos wie au<strong>ch</strong> des kürzli<strong>ch</strong> herbeiges<strong>ch</strong>afften Golds<strong>ch</strong>atzes von Tezcoco<br />

in seine Hand. Mit diesen hohen Auszei<strong>ch</strong>nungen, die er seinem neidzerfressenen Herzen abrang,


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 88<br />

bra<strong>ch</strong>te Moctezuma zuglei<strong>ch</strong> ein Dankopfer an das S<strong>ch</strong>icksal dar.<br />

Do<strong>ch</strong> die Harmonie war ni<strong>ch</strong>t von langer Dauer. Der Beri<strong>ch</strong>t des S<strong>ch</strong>lagenden Falkens über<br />

sein Gesprä<strong>ch</strong> mit dem Führer des fremden Heeres ließ Moctezumas Herz wieder s<strong>ch</strong>wer werden.<br />

Der goldhaarige Fremde sei kein sanftmütiger Büßer wie Quetzalcoatl. Er habe das Herz eines<br />

Helden und die Kraft eines Pumas. Diesen Mann na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán hereinzulassen, hieße ihm<br />

Mexico zu Füßen legen. S<strong>ch</strong>on seien die Söhne der Sonne im Begriff, von Cempoala aufzubre<strong>ch</strong>en<br />

und na<strong>ch</strong> Tlaxcala zu ziehen, um von dort na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán zu gelangen.<br />

Der Zauberer hatte es vorausgesehen! Seine untrügli<strong>ch</strong>en Maiskörner hatten gewarnt: »Hüte<br />

di<strong>ch</strong> vor Tlaxcala!«<br />

Der Zornige Herr beriet si<strong>ch</strong> mit dem einzigen Mann, der von dieser Warnung wusste, mit<br />

dem Tempelhüter. Dass der ihm na<strong>ch</strong> dem Munde spra<strong>ch</strong>, fiel ihm ni<strong>ch</strong>t auf. Der Tempelhüter gab<br />

den Rat, zwei Gesandts<strong>ch</strong>aften loszus<strong>ch</strong>icken. Eine an den Grünen Stein, um ihm seinen Dank für<br />

die Errettung des königli<strong>ch</strong>en Neffen zu überbringen und um ihm nahe zu legen, er möge, statt den<br />

Weg über das felsige, unwirtli<strong>ch</strong>e, Fremden stets feindli<strong>ch</strong> gesinnte Tlaxcala zu wählen, do<strong>ch</strong> lieber<br />

den bequemen über Cholula vorziehen, die Stadt der großen Pyramide, die heilige Stadt, wo<br />

einst sein Vorfahr Quetzalcoatl als Priesterkönig geherrs<strong>ch</strong>t hatte. Die andere Gesandts<strong>ch</strong>aft aber<br />

solle Moctezuma na<strong>ch</strong> Cholula mit rei<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>enken an die beiden Priesterkönige und den Hohen<br />

Rat entsenden und die Cholulteken als Vasallen und Freunde veranlassen, die teules in eine<br />

Falle zu locken, sie freundli<strong>ch</strong> in die heilige Stadt einzuladen, gastli<strong>ch</strong> zu empfangen, dann aber zu<br />

verabredeter Stunde innerhalb der Mauern Cholulas bis auf den letzten Mann niederzuma<strong>ch</strong>en.<br />

Moctezuma gefiel der Plan; denn wieder wurde ihm eine Ents<strong>ch</strong>eidung abgenommen. Ni<strong>ch</strong>t<br />

bei ihm, sondern beim Sohn der Sonne lag es nun, wel<strong>ch</strong>en Weg er wählte – und wählte er den<br />

verderbli<strong>ch</strong>en, so beging ni<strong>ch</strong>t Mexico, sondern Cholula die S<strong>ch</strong>andtat.<br />

Die Großmut des Grünen Steins, den S<strong>ch</strong>lagenden Falken freizugeben, musste mit königli<strong>ch</strong>em<br />

Dank, königli<strong>ch</strong>em Pomp und königli<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>enken erwidert werden. Zum Führer der<br />

Gesandts<strong>ch</strong>aft bestimmte Moctezuma seinen Freund, den Feldherrn Sengende Glut, und beauftragte<br />

ihn, Dank und Ges<strong>ch</strong>enke dem weißen Befehlshaber zu überbringen.<br />

Zum Führer der Gesandts<strong>ch</strong>aft na<strong>ch</strong> Cholula wurde der Tempelhüter ernannt. Moctezuma<br />

gab ihm zwei Trommeln aus s<strong>ch</strong>werem Gold als Ges<strong>ch</strong>enke für die beiden Priesterkönige der heiligen<br />

Stadt mit.<br />

*<br />

Und wieder ritt Don Diego de Ordás dem kastilis<strong>ch</strong>en Heer voraus. Ross und Reiter trieften vor<br />

Nässe. Es goss in Strömen. Dur<strong>ch</strong> Maispflanzungen, Wiesen und freundli<strong>ch</strong>e, rosenges<strong>ch</strong>mückte<br />

Orts<strong>ch</strong>aften zog si<strong>ch</strong> der Weg no<strong>ch</strong> zwei Tage im Irdis<strong>ch</strong>en Paradies dahin bis zum Fuß der jäh<br />

und unvermittelt aus der fla<strong>ch</strong>en Ebene aufragenden S<strong>ch</strong>neeriesen. Der Himmel war bewölkt, die<br />

Straße morastig. Die Regenperiode hatte eingesetzt. Tausend totonakis<strong>ch</strong>e Lastträger, bereitwillig<br />

vom dicken Kaziken zur Verfügung gestellt, s<strong>ch</strong>leppten, dur<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>lamm der Fußpfade watend,<br />

das feu<strong>ch</strong>te Gepäck der Soldaten. Sie spannten si<strong>ch</strong> vor die Lastwagen des Trosses und vor die<br />

s<strong>ch</strong>weren Ges<strong>ch</strong>ütze; sie trugen die hellgrün lackierten und im Innern mit buntem Federmosaik<br />

austapezierten Sänften der Dolmets<strong>ch</strong>erin Marina, sämtli<strong>ch</strong>er weißer Frauen und die der kürzli<strong>ch</strong><br />

verheirateten totonakis<strong>ch</strong>en Edelfrauen, die es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t nehmen lassen wollten, die Triumphe mit<br />

ihren weißen Gatten, aber au<strong>ch</strong> des Krieges Zufälle, Glücksfälle und Unglücksfälle zu teilen. Nur<br />

Doña Catalina India war trauernd in Cempoala zurückgeblieben.<br />

Am Abend des zweiten Mars<strong>ch</strong>tages wurde am Fuße der Kordilleren Rast gema<strong>ch</strong>t. Da hielt<br />

Rodrigo Rangel diese Anspra<strong>ch</strong>e an Cortés:<br />

»So sind wir denn in die Regenzeit hineingeraten. Als Euer Liebden den Totonaken beim<br />

Abs<strong>ch</strong>ied innig ans Herz gelegt hat, der bes<strong>ch</strong>worenen Treue, Freunds<strong>ch</strong>aft und S<strong>ch</strong>wagers<strong>ch</strong>aft<br />

stets eingedenk zu sein, begann der Himmel zu weinen, wie die Di<strong>ch</strong>ter si<strong>ch</strong> ausdrücken. Und als<br />

Euer Liebden so ergreifend ermahnten, mit den an der Küste zurückbleibenden siebzig Weißen,<br />

meist Kranken, Verwundeten und Krüppeln, gute Na<strong>ch</strong>bars<strong>ch</strong>aft zu halten, da regnete es über die<br />

Wangen der rothäutigen Christenpriester, denn sie geda<strong>ch</strong>ten vergangener kannibalis<strong>ch</strong>er Festtage.<br />

Und als Euer Liebden vors<strong>ch</strong>lug, das Volk der Totonaken solle den Weißen behilfli<strong>ch</strong> sein, in


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 89<br />

der s<strong>ch</strong>önen Stadt Veracruz eine Kir<strong>ch</strong>e, ein Gefängnis und re<strong>ch</strong>t, re<strong>ch</strong>t dicke Festungsmauern zu<br />

bauen, da weinte das Volk der Totonaken vor Rührung und Dankbarkeit. O wie hinreißend war es,<br />

als Euer Liebden die Hand des alten Escalante ergriff und ausrief: ›Seht, dieser ist mein Bruder;<br />

was er sagt, sage i<strong>ch</strong>, was er tut, tue i<strong>ch</strong>! Wenn er befiehlt, so gehor<strong>ch</strong>t, wie wenn i<strong>ch</strong> befehlen<br />

würde; und sollten Mexica eu<strong>ch</strong> drangsalen‹ (denn wer sonst?), ›so wendet eu<strong>ch</strong> an ihn, dass er<br />

eu<strong>ch</strong> beistehe!‹ Zwar sah der greise Escalante mit seinem s<strong>ch</strong>lohweißen Knebelbart Eurem Urgroßvater<br />

ähnli<strong>ch</strong>er als Eu<strong>ch</strong>, do<strong>ch</strong> da er nun mal Euer Bruder und ein so großer Kriegshäuptling<br />

war, hat ihn der dicke Kazike so gründli<strong>ch</strong> mit Kopal beweihräu<strong>ch</strong>ert, dass dem armen Escalante<br />

die Augen trieften. Do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>weigen will i<strong>ch</strong> (obglei<strong>ch</strong> es zum Herzerbre<strong>ch</strong>en war) von den Tränenbä<strong>ch</strong>en<br />

des Pagen Orteguilla, von den Tränenströmen des dicken Kaziken, vom Tränenmeer der<br />

dicken Prinzessin. Um es kurz zu ma<strong>ch</strong>en: Ihre Königli<strong>ch</strong>e Hoheit ist im Irdis<strong>ch</strong>en Paradies zurückgeblieben,<br />

um die Fru<strong>ch</strong>t auszutragen, die Ihr gepflanzt habt. Im Gebärzimmer des Königspalastes,<br />

von königli<strong>ch</strong>en Ammen betreut, will sie dur<strong>ch</strong>aus mit einem wirkli<strong>ch</strong>en Gott niederkommen.<br />

Dies wird das Denkmal sein, das sie Eu<strong>ch</strong> setzt.«<br />

So spra<strong>ch</strong> Rodrigo Rangel.<br />

*<br />

Einem Fabelungetüm, einem Lindwurm, einer endlosen S<strong>ch</strong>lange ähnli<strong>ch</strong> kro<strong>ch</strong> am dritten Mars<strong>ch</strong>tag<br />

der lange Heerzug der Kastilier und ihrer Bundesgenossen in langsam si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>längelnden<br />

Windungen aufwärts. Dur<strong>ch</strong> das Eingangstor der Kordilleren ging es die felsige, wolkennahe, wild<br />

s<strong>ch</strong>roffe Bergstraße hinauf. Eine via mala, wahrli<strong>ch</strong> ein böser Weg! Das Paradies grenzte unmittelbar<br />

an die Hölle. Der Blick in die erste graue S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t war au<strong>ch</strong> ein Blick in einen s<strong>ch</strong>warz gähnenden<br />

Höllenra<strong>ch</strong>en, der vers<strong>ch</strong>lingen wollte, was daherkommt. Der unablässig prasselnde Regen<br />

verdüsterte no<strong>ch</strong> die Trostlosigkeit der steinigen Bergwüste. Senkre<strong>ch</strong>te, himmelstrebende<br />

Felswände standen so nah beieinander, dass sie si<strong>ch</strong> zu berühren s<strong>ch</strong>ienen und dass die tiefe<br />

Kluft, in der das Heer si<strong>ch</strong> bewegte, zu einer bloßen Spalte im Gestein wurde. S<strong>ch</strong>mal klomm der<br />

Pfad an den Wänden zu Wolkenhöhen empor, dass Adler und Geier tief unter ihm nisteten.<br />

Die Trosswagen und die se<strong>ch</strong>s s<strong>ch</strong>weren Ges<strong>ch</strong>ütze über Geröll und Bergkuppen auf den<br />

s<strong>ch</strong>malen Pfaden voranzubringen, war s<strong>ch</strong>ier unmögli<strong>ch</strong>. Do<strong>ch</strong> das Unvorstellbare wurde von den<br />

totonakis<strong>ch</strong>en tlamamas vollbra<strong>ch</strong>t; die Lastträgern hoben und buckelten auf ihren<br />

bürdegewohnten S<strong>ch</strong>ultern, was si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr rollen ließ. Außer den tausend Trägern zogen<br />

dreizehnhundert bewaffnete Totonaken, Hilfstruppen des dicken Kaziken, mit den Kastiliern na<strong>ch</strong><br />

Mexico. Die Anführer dieser S<strong>ch</strong>ar, vierzig adlige Kriegshäuptlinge, hatte si<strong>ch</strong> Cortés vom dicken<br />

Kaziken als Ratgeber und Wegweiser ausgebeten, obglei<strong>ch</strong> er sie in Wirkli<strong>ch</strong>keit als Geiseln mitführen<br />

wollte. Unter ihnen befanden si<strong>ch</strong> Mamexi, Tehu<strong>ch</strong>, Tomali und des blei<strong>ch</strong>wangigen<br />

Hauptmanns Andrés de Tapia S<strong>ch</strong>wiegervater Cuhextecatl.<br />

Na<strong>ch</strong> zweitägigem Klettern errei<strong>ch</strong>te das Heer die kleine Orts<strong>ch</strong>aft Xalapa. Die Wolken hatten<br />

si<strong>ch</strong> verteilt und gaben den Blick frei auf die unübersteigbaren Kämme und Grate im Westen.<br />

Rosa leu<strong>ch</strong>tete in der Abendsonne das S<strong>ch</strong>neekleid des Bergs der Sterne, des Vulkans<br />

Citlaltepetl. Na<strong>ch</strong> Osten erhas<strong>ch</strong>te man no<strong>ch</strong> einen Blick auf die Gefilde des Irdis<strong>ch</strong>en Paradieses<br />

und gewahrte – ganz hinten am Horizont – eine letzte Ahnung vom Blau des Weltmeeres. Die Bevölkerung<br />

der spärli<strong>ch</strong> verstreuten Dörfer war den Totonaken freundli<strong>ch</strong> gesinnt, bewirtete ho<strong>ch</strong>herzig<br />

au<strong>ch</strong> deren Freunde aus dem Land des Sonnenaufgangs.<br />

Höher und höher klomm der S<strong>ch</strong>langendra<strong>ch</strong>en, dem Pass eines erlos<strong>ch</strong>enen Vulkans entgegen,<br />

zwölftausend Fuß ho<strong>ch</strong>. Wieder hatten si<strong>ch</strong> Wolken zusammengeballt; nebelglei<strong>ch</strong> wallten<br />

sie unterhalb und oberhalb, neben und mit den Wandernden, waberten dur<strong>ch</strong> die lang gezogene<br />

Kolonne. Es wurde kälter und kälter; der strömende Regen verwandelte si<strong>ch</strong> mit zunehmender<br />

Höhe in S<strong>ch</strong>nee, wurde zum S<strong>ch</strong>neesturm, raste und tobte s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> als Blizzard. Die S<strong>ch</strong>neeflocken<br />

peits<strong>ch</strong>ten herab, ritzten die Haut wie splitters<strong>ch</strong>arfer Hagel. Die Kastilier litten unsägli<strong>ch</strong>,<br />

waren aber dur<strong>ch</strong> ihre Kleidung ges<strong>ch</strong>ützt und von Europa her mit Eis und Kälte vertraut. Die Indianer<br />

jedo<strong>ch</strong>, nur an die Wärme der tierra caliente gewöhnt, erlagen ihm s<strong>ch</strong>nell. Dreißig Totonaken<br />

erfroren im S<strong>ch</strong>neeorkan.<br />

Do<strong>ch</strong> jede Drangsal und Mühe findet ein Ende. Na<strong>ch</strong> Überwindung der ersten Bergkette ka-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 90<br />

men sie in ein langgestrecktes Ho<strong>ch</strong>tal, das zum äußersten Zipfel der mexicanis<strong>ch</strong>en Provinz gehörte.<br />

Die blaue Halbkugel des Himmels stützte si<strong>ch</strong> auf die weißen Kuppen der Sierra Madre. Die<br />

Luft war kühl und klar. Blaugraue Riesenagaven gli<strong>ch</strong>en Urwelttieren mit ausladenden, s<strong>ch</strong>werts<strong>ch</strong>arfen<br />

Sta<strong>ch</strong>elpanzern, die großen Kakteen nahmen groteske Gestalten an, bewaffneten si<strong>ch</strong><br />

gegen jedermann, und die meisten Sträu<strong>ch</strong>er trugen Dornen. Aber au<strong>ch</strong> Nadelhölzer wu<strong>ch</strong>sen<br />

hier, Zedern und Pinien, und in gehegten, gut bewässerten Feldern war Mais gepflanzt.<br />

Als die Kastilier von der Passhöhe herabstiegen und die Ho<strong>ch</strong>ebene errei<strong>ch</strong>ten, sahen sie<br />

eine größere, kalkweiß leu<strong>ch</strong>tende Stadt vor si<strong>ch</strong>. Cortés zog die totonakis<strong>ch</strong>en Heerführer zu Rate.<br />

Die mit starken Mauern, Türmen und Wällen umgürtete Stadt hieß der Rote Berg und war eine<br />

mexicanis<strong>ch</strong>e Festung, do<strong>ch</strong> befand si<strong>ch</strong> nur eine kleine Garnison in der Zitadelle. Zwei vorausgesandte<br />

Totonaken bra<strong>ch</strong>ten weder die erbetene Zehrung no<strong>ch</strong> eine Einladung an Cortés. Trotzdem<br />

zog das Heer unbekümmert in die Stadt ein. Man traf auf keinen Widerstand, fand aber au<strong>ch</strong> keine<br />

sonderli<strong>ch</strong> freundli<strong>ch</strong>e Aufnahme. Die Mens<strong>ch</strong>en blieben in den Häusern, und für Taus<strong>ch</strong>ware gab<br />

es kaum anderes als Mais. Ungebeten und ungeladen ri<strong>ch</strong>teten si<strong>ch</strong> die ers<strong>ch</strong>öpften Soldaten und<br />

ihr Anhang auf mehrere Erholungstage inmitten der Gärten, Türme und Paläste des Roten Berges<br />

ein.<br />

Dreizehn Tempel standen in der Stadt, und eine S<strong>ch</strong>ädelpyramide von ungeheurer Höhe.<br />

Blank im Sonnenli<strong>ch</strong>t, mit dunkel vers<strong>ch</strong>atteten Augen- und Mundhöhlen, waren die S<strong>ch</strong>ädel in<br />

sol<strong>ch</strong>en Mengen übereinander ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tet, dass selbst die Tempelpyramide daneben klein ers<strong>ch</strong>ien.<br />

Bei einem Gang dur<strong>ch</strong> die Stadt besi<strong>ch</strong>tigten Cortés, Marina und Velásquez de León den<br />

großen Tempel und den S<strong>ch</strong>ädelberg. Sie trafen auf den s<strong>ch</strong>önen Namenlosen, der die teils weiß<br />

geblei<strong>ch</strong>ten, teils bräunli<strong>ch</strong> vergilbten S<strong>ch</strong>ädel zählte.<br />

»Wie viel habt Ihr gezählt, Señor?«, fragte Velásquez de León.<br />

»Hunderttausend S<strong>ch</strong>ädel, Señor!«, erwiderte der Namenlose. »Alle sauber aufeinander ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tet<br />

und gut erhalten in der ausdörrenden Sonne. Jeder gehörte einst einem Mens<strong>ch</strong>en, der<br />

Hoffnungen hatte! Und alle die Ges<strong>ch</strong>icke, Freuden und Leiden, bösen und guten Taten hat die<br />

Sonne gesehen – und ni<strong>ch</strong>ts hat sie erhalten außer diesen S<strong>ch</strong>ädeln, diesen hunderttausend<br />

S<strong>ch</strong>ädeln!«<br />

»Ungezählten Tausenden, meint Ihr gewiss. Gezählt haben könnt Ihr sie do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t!«, sagte<br />

Velásquez de León.<br />

»Ihr habt Re<strong>ch</strong>t, Señor! Do<strong>ch</strong> Geometrie und Arithmetik lehren uns, dies zu bere<strong>ch</strong>nen. Eher<br />

habe i<strong>ch</strong> die Zahl zu niedrig gegriffen.«<br />

»Ihr seid ein kampferprobter Soldat«, sagte Cortés. »Aber mir s<strong>ch</strong>eint, Eure Stimme zittert.«<br />

»I<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>äme mi<strong>ch</strong> dessen ni<strong>ch</strong>t, Euer Gnaden!«, spra<strong>ch</strong> der Namenlose. »Aber das ist zu<br />

Hause ni<strong>ch</strong>t viel anders, nur dass die S<strong>ch</strong>ädelberge Europas unsi<strong>ch</strong>tbar unter der Erde liegen.«<br />

»Sie sind viellei<strong>ch</strong>t höher als diese...«, bemerkte Velásquez de León.<br />

Marina klammerte si<strong>ch</strong> an den Arm ihres Herrn und Geliebten. »Heilbringer!«, flüsterte sie.<br />

»Mein Heimatland sehnt di<strong>ch</strong> herbei!«<br />

*<br />

Der Statthalter Moctezumas hieß Olintecl, der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen. Olintecl war ein großer Herr. Zweitausend<br />

Sklaven dienten ihm in den weiten, von sprudelnden Wasserbecken ges<strong>ch</strong>mückten Sälen<br />

seines prunkvollen Palasts. Außer hundert Nebenfrauen hatte er dreißig re<strong>ch</strong>tmäßige Gattinnen.<br />

Mehr als zwanzigtausend Kriegshäuptlinge waren ihm untertan. Aber er hatte Cortés weder begrüßt<br />

no<strong>ch</strong> eingeladen, also lud Cortés si<strong>ch</strong> selbst am zweiten Tag bei ihm ein.<br />

Der kühle Wind, der meist im Ho<strong>ch</strong>tal wehte, zog au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> den Palast: Die Kastilier wurden<br />

frostig empfangen. Do<strong>ch</strong> mexicanis<strong>ch</strong>er Ho<strong>ch</strong>mut würde Cortés' Evangelisationseifer ni<strong>ch</strong>t<br />

abs<strong>ch</strong>recken – no<strong>ch</strong> wirkten in ihm das Gesprä<strong>ch</strong> mit dem Namenlosen und die flehenden Worte<br />

Marinas na<strong>ch</strong>. In Begleitung seiner Feldobristen, Pater Olmedos, Marinas und einer Leibwa<strong>ch</strong>e<br />

betrat Cortés den Palast des Mä<strong>ch</strong>tigen Felsens. Nur Hauptmann Alonso de Avila hatte si<strong>ch</strong> wegen<br />

Unwohlseins beurlauben lassen; tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> aber konnte er den Anblick des strahlenden Alvarado<br />

und des bes<strong>ch</strong>eidenen Sandoval ni<strong>ch</strong>t ertragen. Denn aus dem glei<strong>ch</strong>en Grund, aus dem er<br />

seit langem Alvarado hasste, war ihm neuerdings au<strong>ch</strong> Sandoval unsympathis<strong>ch</strong>: Als Cortés mit


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 91<br />

Escalante den Krankentransport na<strong>ch</strong> Veracruz geleitete und zu den S<strong>ch</strong>iffen des Garay geritten<br />

war, hatte er Avila übergangen und Alvarado und den jugendli<strong>ch</strong>en Sandoval zu seinen Stellvertretern<br />

ernannt. Dem Dienstalter na<strong>ch</strong> aber war Avila der älteste der Feldobristen.<br />

Der Generalkapitän und seine Eskorte waren den Mexica an Zahl weit unterlegen. Alle, bis<br />

auf Marina, trugen stahlblanke Panzer und Waffen, au<strong>ch</strong> Pater Olmedo, und Hauptmann Francisco<br />

de Lugo führte seine Dogge mit, den berühmten Becerrico, der au<strong>ch</strong> hier als abgeri<strong>ch</strong>teter, unbesiegbarer<br />

Puma galt. So wurde der stolze Torhüter am Palasteingang dur<strong>ch</strong> das abgeri<strong>ch</strong>tete<br />

Raubtier mehr einges<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tert als dur<strong>ch</strong> den Anblick der Weißen und ihrer s<strong>ch</strong>önen Begleiterin.<br />

Eilig vers<strong>ch</strong>wand er, um sie anzumelden.<br />

Im großen Saal der Bots<strong>ch</strong>aften, umgeben von den Großen seines Landes, empfing der hakennasige,<br />

ältli<strong>ch</strong>e Mä<strong>ch</strong>tige Felsen stehend die Gäste, ging aber do<strong>ch</strong> aus Höfli<strong>ch</strong>keit Cortés einige<br />

S<strong>ch</strong>ritte entgegen. Ho<strong>ch</strong> und dürr, gli<strong>ch</strong> er dur<strong>ch</strong>aus ni<strong>ch</strong>t dem dicken Kaziken, ließ si<strong>ch</strong> aber<br />

trotzdem von zwei Sklaven unter den Armen stützen. Dies verlangte sein hoher Stand.<br />

Mit lässiger Handbewegung wies er den Kastiliern niedrige S<strong>ch</strong>emel zum Sitzen an, während<br />

er selbst auf einem Thronsessel unter einem farbenleu<strong>ch</strong>tenden Balda<strong>ch</strong>in Platz nahm. Was er mit<br />

kundigem Blick ras<strong>ch</strong> erkannte, bestätigte ihm au<strong>ch</strong> seine Nase: Die Fremden mo<strong>ch</strong>ten glänzend<br />

gekleidet und in Stahl gewappnet sein, do<strong>ch</strong> aufs Was<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>ienen sie ni<strong>ch</strong>t viel zu geben. Sie<br />

stanken erbärmli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Dreck und S<strong>ch</strong>weiß.<br />

Wer sie seien? Was sie wollten?<br />

Marina gab Auskunft auf ihre Weise: Diese großen Krieger seien Söhne aus dem Rei<strong>ch</strong> der<br />

Morgensonne und in s<strong>ch</strong>wimmenden Häusern übers Meer zu den Völkern Anahuacs gelangt, um<br />

ihnen Glück, Befreiung und Gere<strong>ch</strong>tigkeit zu bringen.<br />

Was bedeute ›Söhne aus dem Rei<strong>ch</strong> der Morgensonne‹? Er kenne nur Quetzalcoatl, den vor<br />

vielen Mens<strong>ch</strong>enleben vertriebenen Gott der Weisheit, habe aber nie von seinen Söhnen gehört.<br />

Marina übersetzte Cortés diese verblüffende Antwort. Jedes Kind in Mexico wusste von den<br />

Söhnen aus dem Rei<strong>ch</strong> der Morgensonne, aber dieser Statthalter angebli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Und er blieb<br />

dabei.<br />

Lugo kniff Becerrico in den S<strong>ch</strong>wanz. Der Hund knurrte. Der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen musterte das<br />

Tier mit glei<strong>ch</strong>gültigem Blick. Glück und Gere<strong>ch</strong>tigkeit bräu<strong>ch</strong>te ihm niemand zu bringen; dem Meer<br />

bringe man ja au<strong>ch</strong> kein Wasser.<br />

Ein großer Herr! da<strong>ch</strong>ten die Kastilier. Und Cortés ließ ihn dur<strong>ch</strong> Marina ausfors<strong>ch</strong>en: Ob<br />

dieses rei<strong>ch</strong>e Land und die Stadt mit den prangenden Tempeln, Türmen und Palästen sein Eigen<br />

seien? Ob er ein Bundesgenosse oder ein Lehnsfürst des Königs von Mexico sei?<br />

Über das bartlose, gut ges<strong>ch</strong>nittene Gesi<strong>ch</strong>t des Statthalters glitt ein verä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es Lä<strong>ch</strong>eln.<br />

»Wer lebt auf der Erde, ohne Kne<strong>ch</strong>t des großen Moctezuma zu sein?«, fragte der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen.<br />

Cortés ließ Marina antworten, dass jenseits des Meeres ein weit größerer König wohne, dem<br />

die Ma<strong>ch</strong>t über alle Herrs<strong>ch</strong>er der Welt gegeben sei und dem Könige dienten, die gewaltiger seien<br />

als Moctezuma. Umso mehr s<strong>ch</strong>ulde er, der ja nur Statthalter einer kleinen Provinz sei, dem Herrn<br />

jenseits des Meeres Gehorsam. Und diesen Gehorsam müsse er beweisen dur<strong>ch</strong> rei<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>enke<br />

an Edelsteinen und Gold.<br />

»Gold a<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> gering und besitze deshalb keines. Ges<strong>ch</strong>enke aber sollt ihr haben, wenn<br />

Moctezuma mir befiehlt, eu<strong>ch</strong> zu bes<strong>ch</strong>enken!«, sagte der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen mit hartem Blick.<br />

Marina übersetzte, und Lugo bemerkte leise: »Der spri<strong>ch</strong>t von Ges<strong>ch</strong>enken, wie wenn er den<br />

Tod auf einem seiner Bluttempel meinte!«<br />

»Der ist kein S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>ling!«, murmelte Ordás mit unverhohlener Bewunderung. Und<br />

Cristóbal de Olíd flüsterte Tapia ins Ohr: »Wir würden klüger daran tun, den Mann ni<strong>ch</strong>t zu reizen.<br />

Die Leute hier sind keine Totonaken.«<br />

Au<strong>ch</strong> Cortés hielt es für ratsam, die Missa<strong>ch</strong>tung des Goldes ni<strong>ch</strong>t in Frage zu stellen. Gewandt<br />

we<strong>ch</strong>selte er das Thema. Marina musste den Mexica bitten, ein Bild von der Ma<strong>ch</strong>t<br />

Moctezumas zu entwerfen. Hatte vordem Cortés die Weltherrs<strong>ch</strong>aft des römis<strong>ch</strong>en Kaisers Karl V.<br />

allzu sehr übertrieben, so übertrumpfte ihn jetzt der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen, indem er s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>t und wahrheitsgemäß<br />

die Gewalt Mexicos und des Moctezuma bes<strong>ch</strong>rieb. Er log ni<strong>ch</strong>t, wenn er sagte, dass<br />

auf der Lagune und in den Kanälen Teno<strong>ch</strong>titláns viele Tausend Boote s<strong>ch</strong>wammen. Es war au<strong>ch</strong><br />

keine Lüge, dass Moctezuma dreißig Vasallen hatte, von denen jeder hunderttausend gut ausge-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 92<br />

rüstete Krieger ins Feld stellen konnte. Hinreißend und ohne Übertreibung malte er die unverglei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />

herrli<strong>ch</strong>e Lage Teno<strong>ch</strong>titláns mitten im Texcocosee, den Prunk seiner Paläste, den träumeris<strong>ch</strong>en<br />

Zauber seiner Wassergassen und Steinbrücken, die Haus mit Haus verbanden, das<br />

Mens<strong>ch</strong>engewimmel, das Völkergemis<strong>ch</strong>, den Farbentaumel seines großen Marktplatzes und die<br />

Wolkenhöhe seiner edelsteinbeladenen Pyramiden. Uneinnehmbar sei die Stadt, da jedes Haus,<br />

mit Zinnen gekrönt, in eine Festung verwandelt werden konnte. Nur drei Zugänge habe die Stadt,<br />

drei breite Dämme, deren Steinmauerungen in Abständen unterbro<strong>ch</strong>en, dur<strong>ch</strong> Holzbrückenteile<br />

verbunden seien; und diese könnten entfernt werden, sollte Teno<strong>ch</strong>titlán je in Gefahr geraten.<br />

Wenn dies notwendig würde, käme niemand na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán hinein – aber au<strong>ch</strong> niemand heraus!<br />

Als Marina die Rede übersetzt hatte, saßen die Kastilier eine Weile s<strong>ch</strong>weigend.<br />

»Eine Mausefalle!«, knurrte Olíd.<br />

Cortés wollte keine gedrückte Stimmung aufkommen lassen. »Je größer das Wagnis, umso<br />

ruhmrei<strong>ch</strong>er der Erfolg!«, sagte er. Seine Begleiter nickten zustimmend und s<strong>ch</strong>ämten si<strong>ch</strong> ihrer<br />

Beklommenheit. Dem Statthalter aber ließ Cortés sagen:<br />

»Eure Bes<strong>ch</strong>reibung von Mexico steigert unser Verlangen, die s<strong>ch</strong>öne Stadt zu sehen!«<br />

Der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen antwortete ni<strong>ch</strong>t. Er erhob si<strong>ch</strong> von seinem Thron und ging mit festen<br />

S<strong>ch</strong>ritten auf den Hund Becerrico zu. Fur<strong>ch</strong>tlos strei<strong>ch</strong>elte er dem Tier den Kopf, täts<strong>ch</strong>elte ihm<br />

den Rücken. Der sonst so bissige Becerrico ließ si<strong>ch</strong> die Berührung gern gefallen und wedelte mit<br />

dem S<strong>ch</strong>wanz.<br />

Die Kastilier sahen es mit stiller Bewunderung, do<strong>ch</strong> der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen sagte: »I<strong>ch</strong> besitze<br />

einen abgeri<strong>ch</strong>teten Jaguar und weiß mit Raubtieren umzugehen. Soll i<strong>ch</strong> den Jaguar bringen lassen,<br />

dass die beiden hier kämpfen und wir sehen können, wer stärker ist, der Zahn der weißen<br />

Männer oder die Kralle des roten Kriegers?«<br />

Die Spanier waren (mit Ausnahme des Ritters Ordás) gegen den Vors<strong>ch</strong>lag. Das hieße, ein<br />

unnötiges Risiko einzugehen; der Hund war unentbehrli<strong>ch</strong> und unersetzli<strong>ch</strong>. Cortés ließ dur<strong>ch</strong> Marina<br />

entgegnen: »Mit Zahn und Kralle messen si<strong>ch</strong> nur Feinde. Wir aber sind Freunde<br />

Moctezumas.«<br />

Der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen lä<strong>ch</strong>elte. »Hat der große Moctezuma eu<strong>ch</strong>, seine Freunde, eingeladen,<br />

die Stadt im S<strong>ch</strong>ilfsee zu betreten?«, fragte er mit kaum verhohlenem Hohn.<br />

»Nein!«, erhielt er zur Antwort. Cortés mo<strong>ch</strong>te den stolzen Mann ni<strong>ch</strong>t anlügen.<br />

»Dann wird keiner von eu<strong>ch</strong> ankommen, wenn ihr ungebeten hinzieht!«, rief der Mä<strong>ch</strong>tige<br />

Felsen. »Au<strong>ch</strong> euer Hund ni<strong>ch</strong>t, denn hierzulande werden Hunde getötet und gegessen, auf dass<br />

sie den Toten Begleiter seien im Wald der Nebelhölle!«<br />

»Die Vorsehung hat uns hergeführt zu euren S<strong>ch</strong>ädelbergen«, rief Cortés, »und wird uns<br />

weiterführen bis na<strong>ch</strong> Mexico, um eure Mens<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tereien auszurotten und eu<strong>ch</strong> die neue<br />

Lehre Xesu Quilistos zu bringen!«<br />

Die mexicanis<strong>ch</strong>en Kriegshäuptlinge, die bisher regungslos den Thronsitz umstanden hatten,<br />

verloren ihre steinerne Unbewegtheit und begannen unwillig zu murren. Der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen gemahnte<br />

sie mit strengem Blick zur Ruhe. Er fragte Marina: »Was ist das – die neue Lehre von<br />

Xesu Quilisto?«<br />

Da predigte ihm Pater Olmedo das Evangelium. Marina übersetzte Satz für Satz, Wort für<br />

Wort. Dem Mä<strong>ch</strong>tigen Felsen entging keine Silbe – aufmerksam und do<strong>ch</strong> völlig glei<strong>ch</strong>gültig hörte<br />

er zu. Ein Weltmann, der das Gerede eines S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>sinnigen aus Höfli<strong>ch</strong>keit geduldig anhört; gerings<strong>ch</strong>ätzig,<br />

do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t ohne Neugier. Ah, das also lehren diese armen Narren! Und er nickte teilnahmslos,<br />

als wäre ihm das alles ni<strong>ch</strong>t neu. Weltverbesserer gab es au<strong>ch</strong> in Mexico. Als ob die<br />

Welt ohne Kampf bestehen könnte! Moctezuma sollte keine Länder mehr erobern, keine Völker<br />

mehr besiegen, keine Sklaven mehr opfern? Was da<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> diese weltfremden Narren? Wovon<br />

soll Mexico denn leben? Do<strong>ch</strong> immer wieder nickte er stumm, lä<strong>ch</strong>elte verä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>. Seine Götter<br />

wurden bes<strong>ch</strong>impft, do<strong>ch</strong> es erboste ihn ni<strong>ch</strong>t einmal; er nahm den begeisterten Prediger und Götterfeind<br />

ni<strong>ch</strong>t ernst.<br />

Als Pater Olmedo seine allzu feurige Bekehrungsrede s<strong>ch</strong>loss, merkte er, dass er seine Perlen<br />

vor die Säue geworfen hatte. Auf die Mexica hatte er keinen Eindruck gema<strong>ch</strong>t. Der Mä<strong>ch</strong>tige<br />

Felsen sagte zu Marina:<br />

»O meine To<strong>ch</strong>ter, siehe: Die weißen Männer wollen den Krieg dur<strong>ch</strong> den Krieg beseitigen,


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 93<br />

denn sie führen flammenspeiende Waffen, Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en und abgeri<strong>ch</strong>tete Raubtiere mit si<strong>ch</strong>.<br />

Sie wollen unsere Götter dur<strong>ch</strong> ihre Götter ersetzen. Moctezuma soll keine Länder mehr erobern,<br />

damit sie selbst diese Länder erobern können. Moctezuma soll keine Völker mehr kne<strong>ch</strong>ten, damit<br />

sie selbst diese Völker zu kne<strong>ch</strong>ten vermögen. Sie bringen ni<strong>ch</strong>t den Krieg, der den Krieg ausrottet<br />

– sie bringen einen neuen Krieg!«<br />

Marina antwortete ihm, ohne auf Cortés Vorgabe zu warten: »Die weißen Männer des Sonnenaufgangs<br />

werden den Bewohnern Anahuacs Glück, Befreiung und Frieden bringen, die Tränen<br />

der Witwen und Waisen trocknen und verhindern, dass die S<strong>ch</strong>ädelberge no<strong>ch</strong> höher wa<strong>ch</strong>sen!«<br />

»Die Fremden werden an die Stelle alter S<strong>ch</strong>ädelberge neue setzen. Der Krieg ist unausrottbar!«<br />

So spra<strong>ch</strong> der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen zu Marina. Dann bat er sie höfli<strong>ch</strong>, dem Cortés zu sagen,<br />

dass er ihm für die Erklärung der neuen Lehre danke. Do<strong>ch</strong> er und seine Vasallen würden nur von<br />

den Mens<strong>ch</strong>enopfern lassen, wenn der große Moctezuma es befehle. Au<strong>ch</strong> für<strong>ch</strong>te er, der große<br />

Moctezuma werde ihm viellei<strong>ch</strong>t zürnen, weil er die Fremden in seinem Palast geduldet und zugelassen<br />

habe, dass ihnen im Roten Berg Speise und Trank verabrei<strong>ch</strong>t wurden.<br />

Cortés war wütend. Auf<br />

Spanis<strong>ch</strong> sagte er zu den<br />

Hauptleuten: »Gutwillig<br />

wollen diese Blutvergießer<br />

das Heil ni<strong>ch</strong>t empfangen<br />

– so sollen sie es denn mit<br />

Gewalt erhalten! Da Worte<br />

sie ni<strong>ch</strong>t bekehren, mag<br />

das S<strong>ch</strong>wert es tun!«<br />

Die Religion der Azteken war<br />

ein Sonnenkult. Sie glaubten,<br />

dass die Sonne eines fernen<br />

Tages ni<strong>ch</strong>t mehr aufgehen<br />

würde. Um diesen Zeitpunkt<br />

weit na<strong>ch</strong> hinten zu vers<strong>ch</strong>ieben,<br />

bra<strong>ch</strong>ten sie Mens<strong>ch</strong>enopfer<br />

dar und rissen den Opfern<br />

die Herzen heraus. Damit<br />

und dem Blut der Geopferten<br />

glaubten sie, die Sonne am<br />

Leben zu erhalten, damit sie<br />

jeden Tag wieder aufgehe.<br />

(Codex Mendoza.)<br />

Da legte Pater Olmedo si<strong>ch</strong> ins Mittel. Der hünengroße Mön<strong>ch</strong> war ein streitbarer, s<strong>ch</strong>werttragender<br />

Priester. Sein graugesprenkelter Bart rei<strong>ch</strong>te ihm bis auf die Brust und verhüllte ni<strong>ch</strong>t<br />

den stählern funkelnden Panzer über der Kutte. Vom Bart kaum verdeckt, hing ein Silberkreuz an<br />

silbernem Kett<strong>ch</strong>en, und wenn Olmedo auss<strong>ch</strong>ritt, pendelte das Kreuz zwis<strong>ch</strong>en seiner re<strong>ch</strong>ten<br />

und linken S<strong>ch</strong>ulter hin und her und klimperte auf dem Kürass. Er sah das große Ziel dur<strong>ch</strong> Übereifer<br />

gefährdet und hielt Cortés das Unvernünftige einer gewaltsamen Bekehrung vor, die hier<br />

s<strong>ch</strong>wieriger als in Cempoala, viellei<strong>ch</strong>t unausführbar sein werde, denn sol<strong>ch</strong>e Kinder wie die<br />

Totonaken seien die Mexica ni<strong>ch</strong>t. Selbst wenn es gelänge, würde Cortés das Kreuz, das heilige<br />

Symbol, in einer nur äußerli<strong>ch</strong> bekehrten Stadt zurücklassen; na<strong>ch</strong> dem Abzug der Christen würde<br />

es gestürzt und ges<strong>ch</strong>ändet.<br />

Die Mexica sahen dem Palaver der Weißen mit gespannter Aufmerksamkeit zu, bereit, die<br />

Waffen spre<strong>ch</strong>en zu lassen. Während Pater Olmedo no<strong>ch</strong> spra<strong>ch</strong>, stürzte ein Sklave, der<br />

Verwahrer der Wohlgerü<strong>ch</strong>e, in den Saal, warf si<strong>ch</strong> vor dem Mä<strong>ch</strong>tigen Felsen zu Boden, küsste<br />

ihm die Hände und flüsterte ihm hastig ins Ohr. Miene und Haltung des ho<strong>ch</strong>mütigen Mexicas verwandelten<br />

si<strong>ch</strong> auf der Stelle. Freundli<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tete er nun die Kastilier. Leise erteilte er Befehle.<br />

Der Verwahrer der Wohlgerü<strong>ch</strong>e und mehrere Würdenträger entfernten si<strong>ch</strong>.<br />

Der Pater hatte mit ernsten Worten errei<strong>ch</strong>t, dass die Spanier si<strong>ch</strong> zurückhielten. Da traten,<br />

vom Vorsteher des Hauses der Teppi<strong>ch</strong>e und zwei anderen Hofbeamten hereingeführt, fünfzehn


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 94<br />

Diener und vier Sklavinnen in den Saal der Bots<strong>ch</strong>aften. Die Diener breiteten Cortés zu Füßen<br />

rei<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>enke auf dem steingetäfelten Boden aus: bunt gemusterte, mit Fransen versehene<br />

Mäntel, s<strong>ch</strong>ön gewebte Hemden aus feinstem Leinen, kunstvoll gearbeitete Federbandriemen,<br />

Halbedelsteine und viel Golds<strong>ch</strong>muck, Goldstaub, Goldbarren und Goldble<strong>ch</strong>e. Das hö<strong>ch</strong>ste der<br />

Wunder aber war, dass der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen die Gäste als Söhne der Sonne bezei<strong>ch</strong>nete und Marina<br />

ersu<strong>ch</strong>te, den weißen Männern zu sagen, er lege keinen Wert auf Gold. Und da si<strong>ch</strong> im Haus<br />

der Edelsteine no<strong>ch</strong> etwas Götterkot gefunden habe, gebe er es mit Freuden zum Ges<strong>ch</strong>enk. Au<strong>ch</strong><br />

die vier Sklavinnen s<strong>ch</strong>enke er ihnen, damit diese Brot für sie backen sollen; überdies habe er angeordnet,<br />

dass dem Heer der Sonnensöhne rei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> Nahrungsmittel verabrei<strong>ch</strong>t würden. Sie<br />

könnten baden und die fris<strong>ch</strong>en Hemden anziehen. Und wenn sie na<strong>ch</strong> Westen zu ziehen wüns<strong>ch</strong>ten,<br />

so wolle er ihnen gern Führer mitgeben. Do<strong>ch</strong> rate er ihnen, den südli<strong>ch</strong>en Weg über Cholula<br />

zu wählen, die gastfreundli<strong>ch</strong>e, friedli<strong>ch</strong>e und heilige Stadt Quetzalcoatls. Keinesfalls sollten sie<br />

dur<strong>ch</strong> Tlaxcala ziehen, denn die Tlatepoca seien die Feinde der Mens<strong>ch</strong>heit, blutrünstige Ungeheuer,<br />

deren s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>tenrei<strong>ch</strong>es Land wie ges<strong>ch</strong>affen sei für Hinterhalte.<br />

Erstaunt und mit höfli<strong>ch</strong>em Dank für die wertvolle Auskunft und die Ges<strong>ch</strong>enke verabs<strong>ch</strong>iedete<br />

si<strong>ch</strong> Cortés. Er hinterließ etli<strong>ch</strong>e Glasperlen, kleine Spiegel und Tas<strong>ch</strong>enmesser als Gegengaben.<br />

Er fragte Marina, was dieser plötzli<strong>ch</strong>e Sinneswandel zu bedeuten habe, do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal<br />

ihre s<strong>ch</strong>arfen Ohren hatten die geflüsterten Worte des Verwahrers der Wohlgerü<strong>ch</strong>e verstehen<br />

können. So blieb die Veränderung im Verhalten des Mä<strong>ch</strong>tigen Felsens vorerst im Dunkeln.<br />

Das Rätsel löste si<strong>ch</strong>, als Cortés mit seinem Stab zum kastilis<strong>ch</strong>en Heer zurückkehrte. Sie<br />

lagerten unter freiem Himmel auf dem geräumigsten Platz des Roten Berges; das Feldlager der<br />

totonakis<strong>ch</strong>en Bundesgenossen war außerhalb der Stadtmauern aufges<strong>ch</strong>lagen worden. Ein bena<strong>ch</strong>barter,<br />

den Totonaken befreundeter Stamm hatte Boten und Ehrengaben ges<strong>ch</strong>ickt, um den<br />

Söhnen der Sonne seine Ehrfur<strong>ch</strong>t zu bezeugen. Die Abgesandten Ixtacmaxtitláns, des Weißen<br />

Mondgefildes, stellten außerdem Hilfstruppen und Unterstützung im Kampf gegen Moctezuma in<br />

Aussi<strong>ch</strong>t. Die Hauptstadt des Weißen Mondgefildes lag eine Sonne westli<strong>ch</strong> an der Straße na<strong>ch</strong><br />

Mexico. Cortés wurde eingeladen, mit seinem Heer dort Aufenthalt zu nehmen. Kaum hatte er die<br />

neuen Bundesgenossen begrüßt, traf au<strong>ch</strong> eine Gesandts<strong>ch</strong>aft von Moctezuma ein und ersu<strong>ch</strong>te,<br />

unverzügli<strong>ch</strong> vorgelassen zu werden. Da wurde dem Generalkapitän das Verhalten des Mä<strong>ch</strong>tigen<br />

Felsens blitzartig klar, und mit si<strong>ch</strong>erem Instinkt demonstrierte er der aztekis<strong>ch</strong>en Delegation seine<br />

Überlegenheit.<br />

Zuerst ließ er die Abgesandten Moctezumas warten. In aller Ruhe bespra<strong>ch</strong> er mit den neuen<br />

Bundesgenossen, was zu bespre<strong>ch</strong>en war. Na<strong>ch</strong>dem er sie entlassen hatte, legte er Panzer<br />

und Helm ab, ließ si<strong>ch</strong> vom Kämmerer Rodrigo Rangel in sein prunkvollstes Staatskleid helfen und<br />

staffierte si<strong>ch</strong> mit seinem Hahnenfederbarett aus; au<strong>ch</strong> seinen Offizieren wurde »große Gala« befohlen.<br />

Er ließ Ges<strong>ch</strong>ütze neben sein Zelt auffahren und das Innere des Zeltes in einen kleinen<br />

Thronsaal verwandeln. Umgeben von seinen Heerführern war er nun für den Empfang bereit.<br />

Die Gesandten Moctezumas wurden dur<strong>ch</strong> die Lagergassen geführt, und als sie si<strong>ch</strong> dem<br />

Zelte näherten, vor dem die s<strong>ch</strong>warze Sammetfahne mit dem gestickten, von weißen und blauen<br />

Flammen umloderten Goldkreuz wehte, trat Cortés – prunkend wie ein König und von den Offizieren<br />

flankiert – aus dem Zelt.<br />

Anführer der aus angesehenen Mexica bestehenden Gesandts<strong>ch</strong>aft war des Großkönigs<br />

s<strong>ch</strong>weigsamer Freund Calpopoca, die Sengende Glut. Er war an Stelle des im Sterben liegenden<br />

Silberpumas zum Statthalter des Ostens, zum Verweser der Provinz Huaxteca ernannt worden –<br />

auf dem Weg zur Küste ers<strong>ch</strong>ien er vor Cortés, um Moctezumas Dank für die Befreiung und Errettung<br />

des S<strong>ch</strong>lagenden Falkens und Ges<strong>ch</strong>enke zu überbringen. In die huaxtekis<strong>ch</strong>e Provinz – sie<br />

grenzte nördli<strong>ch</strong> an die Hafenstadt Veracruz und das Land Totonacapan – begleitete ihn sein einziger<br />

Sohn, der Glänzende Harnis<strong>ch</strong>, ein zwanzigjähriger Jüngling mit ernstem, s<strong>ch</strong>ön geformtem<br />

Indianergesi<strong>ch</strong>t.<br />

Wie damals in den moskitoverseu<strong>ch</strong>ten Sanddünen war au<strong>ch</strong> jetzt das melan<strong>ch</strong>olis<strong>ch</strong>e Gesi<strong>ch</strong>t<br />

der Sengenden Glut wieder mit blauen Streifen bemalt. Cortés entsann si<strong>ch</strong> seines auffällig<br />

kurzen Besu<strong>ch</strong>es gut, des Dünkels und der kränkenden Unnahbarkeit des Mexicas. Absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong><br />

umarmte er ihn und wusste vorher, dass der Mexica vor der körperli<strong>ch</strong>en Berührung zurückzucken<br />

würde; do<strong>ch</strong> die Sengende Glut musste es si<strong>ch</strong> gefallen lassen. Cortés behandelte ihn wie einen<br />

alten Bekannten und klopfte ihm herablassend-leutselig auf die S<strong>ch</strong>ulter. Die neuen Gaben


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 95<br />

Moctezumas, von fünfzig tlamamas heranges<strong>ch</strong>leppt und auf Strohmatten ausgebreitet, glitzerten<br />

im Sonnenli<strong>ch</strong>t. Aber so überrei<strong>ch</strong> wie damals ers<strong>ch</strong>ienen die Ges<strong>ch</strong>enke ni<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong> der Re<strong>ch</strong>nungsführer<br />

Albornoz s<strong>ch</strong>ätzte den Goldwert immerhin auf vierzigtausend Dublonen.<br />

Außer S<strong>ch</strong>ulterdecken, Kolibrifedern, zwei jungen Jaguaren und Götterkot s<strong>ch</strong>ickte Moctezuma<br />

diesmal au<strong>ch</strong> Maisku<strong>ch</strong>en und fünf Sklaven. Feierli<strong>ch</strong> spra<strong>ch</strong> die Sengende Glut: »Malin<strong>ch</strong>e!<br />

Die Herren des Drei-Städte-Bundes – euer Kne<strong>ch</strong>t Moctezuma, der sein Rei<strong>ch</strong> aus seinem Palast<br />

inmitten des Wassers des Tezcocosees regiert, euer Kne<strong>ch</strong>t, der Edle Betrübte, der am Seeufer<br />

wohnt, und euer Kne<strong>ch</strong>t, der Dur<strong>ch</strong>-Wohlgestalt-Glänzende, der am Fuß der Berge herrs<strong>ch</strong>t – befahlen<br />

mir, eu<strong>ch</strong> zu sagen: Vor Freude s<strong>ch</strong>willt ihr Herz, weil ihr, o Söhne der Sonne, Anahuac<br />

aufsu<strong>ch</strong>en wollt, das Land, wo euer Ahnherr Quetzalcoatl geherrs<strong>ch</strong>t hat, dessen Thron von Moctezuma<br />

für eu<strong>ch</strong> bereitgehalten wird! Und vor Dank s<strong>ch</strong>willt das Herz eures Kne<strong>ch</strong>ts Moctezuma,<br />

weil sein Verwandter, der S<strong>ch</strong>lagende Falke, Sohn des Königs Mol<strong>ch</strong>, dur<strong>ch</strong> eu<strong>ch</strong> befreit wurde!<br />

Euer Kne<strong>ch</strong>t Moctezuma bittet eu<strong>ch</strong>, diese geringwertigen Gegenstände als Dankesgaben anzunehmen.<br />

Und da euer Kne<strong>ch</strong>t Moctezuma aus der großherzigen Errettung des S<strong>ch</strong>lagenden<br />

Falkens ersehen hat, dass ihr wahrhaftig Söhne der Sonne seid, hat er den Gaben die Speise der<br />

Götter beigefügt: Maisku<strong>ch</strong>en mit Mens<strong>ch</strong>enblut besprengt, und diese fünf Sklaven, auf dass ihr<br />

euren Durst an Mens<strong>ch</strong>enblut lös<strong>ch</strong>en können!«<br />

Die Sengende Glut wiederholte wörtli<strong>ch</strong>, was Moctezuma ihm zu sagen aufgetragen hatte.<br />

Die Mitglieder der Gesandts<strong>ch</strong>aft waren angewiesen, genau A<strong>ch</strong>t zu geben, wie die weißen Fremden<br />

die ihnen dargebra<strong>ch</strong>ten Opfergaben aufnehmen würden, ob sie die Blutku<strong>ch</strong>en essen, ob sie<br />

das fris<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>enblut trinken würden. Denn daraus würde man s<strong>ch</strong>ließen können, ob sie starke<br />

Herzen haben und wirkli<strong>ch</strong> Söhne der Sonne sind.<br />

Die Mexica wurden enttäus<strong>ch</strong>t. Mäntel, Feders<strong>ch</strong>muck, unges<strong>ch</strong>liffene Edelsteine und Götterkot<br />

nahmen die Männer des Ostens an, sie vers<strong>ch</strong>mähten jedo<strong>ch</strong> unter Gebärden des Ekels die<br />

mit Mens<strong>ch</strong>enblut besprengten Ku<strong>ch</strong>en, und den fünf Opfersklaven s<strong>ch</strong>enkten sie sofort die Freiheit.<br />

Nun war es erwiesen – sie hatten keine starken Herzen!<br />

Beim Abs<strong>ch</strong>ied erteilte die Sengende Glut Cortés den Rat, über das friedfertige Cholula zu<br />

ziehen und das hinterhältige Tlaxcala zu meiden.<br />

*<br />

Wieder zog das Heer westwärts dur<strong>ch</strong> die Ho<strong>ch</strong>ebene und dur<strong>ch</strong> ein Flusstal, dann den Fluss entlang<br />

und an zahlrei<strong>ch</strong>en wohlhabenden Dörfern vorbei. Das Angebot des Mä<strong>ch</strong>tigen Felsens, dem<br />

Cortés Führer zur Verfügung zu stellen, war keine Höfli<strong>ch</strong>keitsfloskel – er hatte den Kastiliern tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />

zwanzig Mann seiner Palastwa<strong>ch</strong>e als Wegweiser für den Zug na<strong>ch</strong> Anahuac mit auf den<br />

Weg gegeben. Mittags wurde auf einer Wiese gerastet. Als das Heer si<strong>ch</strong> wieder in Bewegung<br />

setzte, entdeckte Jacobo Hurtado der Rei<strong>ch</strong>e, dass sein Graufohlen entlaufen war. Hurtados Stute<br />

hatte vor einem halben Jahr gefohlt, glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der Landung. Das war zu Ostern gewesen; seitdem<br />

war das Fohlen ein stattli<strong>ch</strong>er kleiner Renner geworden – der nun das Weite gesu<strong>ch</strong>t hatte.<br />

Für Hurtado und das gesamte Heer war dies ein s<strong>ch</strong>werer S<strong>ch</strong>lag; sie hatten nur no<strong>ch</strong> siebzehn<br />

Pferde. Alvarado, dem Hurtado das Missges<strong>ch</strong>ick als Erstem mitgeteilt hatte, erkundigte si<strong>ch</strong>.<br />

»Wisst Ihr, Señor, in wel<strong>ch</strong>e Ri<strong>ch</strong>tung das Tier gelaufen sein könnte? Oder glaubt Ihr, dass<br />

es von Indianern gestohlen wurde?«<br />

»Nein, es wurde ni<strong>ch</strong>t gestohlen«, entgegnete Hurtado verwirrt. »Es ist entlaufen.«<br />

»Also habt Ihr gesehen, wohin es lief!«<br />

Hurtado zeigte auf einen bena<strong>ch</strong>barten Wald. Alvarado winkte die Amazone María de Estrada<br />

und die Reiter Domínguez und Lares heran, und gemeinsam galoppierten sie in den Wald.<br />

Na<strong>ch</strong> einigem Su<strong>ch</strong>en gelangten sie zu einer Li<strong>ch</strong>tung, auf der ein Rudel Hirs<strong>ch</strong>e äste. Das Graufohlen<br />

stand zwis<strong>ch</strong>en den rötli<strong>ch</strong>-grauen Hirs<strong>ch</strong>en, als gehörte es zu ihnen, und trank am Euter<br />

einer Hirs<strong>ch</strong>kuh. Alvarado gab Zei<strong>ch</strong>en, auszus<strong>ch</strong>wärmen, die Herde zu umzingeln und den Tieren<br />

die Flu<strong>ch</strong>t abzus<strong>ch</strong>neiden. Do<strong>ch</strong> die Tiere hatte sie s<strong>ch</strong>on gewittert und stoben plötzli<strong>ch</strong> davon,<br />

vers<strong>ch</strong>wanden im Unterholz. Au<strong>ch</strong> das Fohlen. Die Verfolgung musste aufgegeben werden.<br />

»Mir ist, als hätte i<strong>ch</strong> eine Rothaut im Dicki<strong>ch</strong>t gesehen«, sagte María de Estrada.<br />

»Kunds<strong>ch</strong>after unseres Freundes Moctezuma«, meinte Alvarado a<strong>ch</strong>selzuckend.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 96<br />

Na<strong>ch</strong> zehnstündigem Mars<strong>ch</strong> näherte si<strong>ch</strong> das Heer der Stadt Ixtacmaxtitlán, Weißes Mondgefilde,<br />

deren Bewohner Freunde der Totonaken waren. Die mexicanis<strong>ch</strong>en Führer des Mä<strong>ch</strong>tigen<br />

Felsens rieten Cortés, ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> das Weiße Mondgefilde zu ziehen, sondern einen südli<strong>ch</strong>eren<br />

Weg einzus<strong>ch</strong>lagen. Die totonakis<strong>ch</strong>en Kriegshäuptlinge Mamexi, Tehu<strong>ch</strong>, Tomali und Cuhextecatl<br />

widerspra<strong>ch</strong>en und warnten vor den Rats<strong>ch</strong>lägen der Bewohner des Roten Berges: Die südli<strong>ch</strong>e<br />

Straße führe na<strong>ch</strong> Cholula, der Vasallenstadt Mexicos; die nördli<strong>ch</strong>e Straße aber ginge na<strong>ch</strong><br />

Tlaxcala, das seit se<strong>ch</strong>zig Jahren Krieg mit dem Drei-Städte-Bund führte. Sollten die Tlaxcalteken<br />

zu den Waffen greifen, so sei die ehrli<strong>ch</strong>e Feinds<strong>ch</strong>aft Tlaxcalas der fals<strong>ch</strong>en Freunds<strong>ch</strong>aft<br />

Cholulas vorzuziehen. Cortés vertraute den Totonaken und war auf der Hut; die Rats<strong>ch</strong>läge der<br />

Mexica und Moctezumas hatten ihn misstrauis<strong>ch</strong> gema<strong>ch</strong>t. Allzu beflissen hatten sowohl der<br />

Mä<strong>ch</strong>tige Felsen wie au<strong>ch</strong> die Abgesandten Moctezumas Tlaxcala anges<strong>ch</strong>wärzt und die Friedfertigkeit<br />

Cholulas hervorgehoben. Er berief seine Feldobristen zu einem kurzen Kriegsrat, und sie<br />

ents<strong>ch</strong>ieden si<strong>ch</strong> endgültig für den Weg über Tlaxcala. Dann zog er seine Bussole aus der Tas<strong>ch</strong>e,<br />

klappte den Deckel auf und s<strong>ch</strong>aute konzentriert hinein.<br />

»Was tut Ihr da, capitán generál?«, fragte Alvarado.<br />

»Mummens<strong>ch</strong>anz treiben. Kürzli<strong>ch</strong> erst habe i<strong>ch</strong> eine magis<strong>ch</strong>e Kraft des Kompasses entdeckt,<br />

die weit über seine magnetis<strong>ch</strong>e hinausgeht. Doña Marina war sehr beeindruckt. Sie soll<br />

herkommen.«<br />

Er war gewitzt genug, La Lengua den Führern des Mä<strong>ch</strong>tigen Felsens die Bussole »erklären«<br />

zu lassen. Marina tat es im gewüns<strong>ch</strong>ten Sinn:<br />

»Mein Herr befragt seine Zauberbü<strong>ch</strong>se, die ihm stets den ri<strong>ch</strong>tigen Weg anzeigt. Darin ist<br />

ein Spiegel, der ihn eure Gedanken lesen lässt. So weiß er, ob ihr ehrli<strong>ch</strong> zu uns seid.«<br />

Die Indianer starrten stumm und unterwürfig auf Malin<strong>ch</strong>e und seine mä<strong>ch</strong>tige Zauberbü<strong>ch</strong>se.<br />

Bevor sie weiterzogen, bes<strong>ch</strong>loss Cortés, dem Rat der Alten in Tlaxcala Boten zu senden und<br />

die Antwort im Weißen Mondgefilde abzuwarten.<br />

Als Gesandte wählte er den Kriegshäuptling Tehu<strong>ch</strong>, einen Vetter des dicken Kaziken, sowie<br />

Cuhextecatl, S<strong>ch</strong>wiegervater des Hauptmanns Andrés de Tapias; außerdem no<strong>ch</strong> zwei zielsi<strong>ch</strong>ere<br />

totonakis<strong>ch</strong>e Speerwerfer. Der Notar und kaiserli<strong>ch</strong>e Sekretarius Diego de Godoy musste einen<br />

Brief an den Freistaat Tlaxcala aufsetzen, und Guillén de la Loa, den kleinen, aber ges<strong>ch</strong>ickten<br />

und pfiffigen S<strong>ch</strong>reiber des Garay, beauftragte er, das S<strong>ch</strong>riftstück in s<strong>ch</strong>öner, ges<strong>ch</strong>wungener<br />

Ziers<strong>ch</strong>rift auf Pergament zu s<strong>ch</strong>nörkeln. Da anzunehmen war, dass der Rat der Alten den Brief<br />

ni<strong>ch</strong>t werde entziffern können, wurden die Boten von Marina instruiert, den Inhalt des S<strong>ch</strong>reibens<br />

mündli<strong>ch</strong> vorzutragen. Cortés gab ihnen außer diesem Brief au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> eine venezianis<strong>ch</strong>e Mütze<br />

aus dunkelgrünem Seidensamt, einen Degen, eine lädierte Muskete und eine Armbrust mit ers<strong>ch</strong>laffter<br />

Sehne als Ehrenges<strong>ch</strong>enke an den Hohen Rat mit. Der Anblick der Waffen sollte dem<br />

Rat der Alten die Überlegenheit und Unbesiegbarkeit der Söhne der Sonne zu bedenken geben.<br />

Die vier Boten ritten eilig na<strong>ch</strong> Tlaxcala ab. Dann ließ Cortés sein Heer zum Einzug ins Weiße<br />

Mondgefilde antreten. Der Anblick des auf steiler Kuppe ragenden Kastells weckte die Bewunderung<br />

der Kastilier. Die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t vom Eintreffen der Sonnensöhne mit den abgeri<strong>ch</strong>teten Pumas<br />

und den Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en hatte si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on in Windeseile in der Stadt herumgespro<strong>ch</strong>en. Freundli<strong>ch</strong>e<br />

Bewohner des Weißen Mondgefildes empfingen an den Stadttoren die Einziehenden mit<br />

Weihrau<strong>ch</strong> und Blumengirlanden, hielten große Mengen delikater Erfris<strong>ch</strong>ungen und Maisku<strong>ch</strong>en<br />

bereit, warnten vor Cholula und empfahlen den Weg über Tlaxcala.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 97<br />

9. Goldmaske<br />

»Wir überfielen zwei Dörfer, wo i<strong>ch</strong> viele naturales tötete, und später no<strong>ch</strong> ein drittes Dorf,<br />

das, wie i<strong>ch</strong> später erfuhr, mehrere tausend Einwohner hatte. Das Volk darin lief ohne Wehr<br />

und Waffen aus den Häusern heraus, die Weiber und Kinder nackt, alles dur<strong>ch</strong>einander. Anfangs<br />

ma<strong>ch</strong>ten wir viele nieder, do<strong>ch</strong> als i<strong>ch</strong> sah, dass sie keinen Widerstand leisteten, kamen<br />

s<strong>ch</strong>on einige der Ältesten des Dorfes zu mir und baten mi<strong>ch</strong> demütig, i<strong>ch</strong> solle ihnen<br />

keinen S<strong>ch</strong>aden mehr antun. Sie wollen si<strong>ch</strong> Eurer Majestät ergeben und meine guten<br />

Freunde sein.«<br />

(Hernán Cortés, 2. Brief an Karl V. vom 30. Oktober 1520)<br />

Die Stimmung im Rat der Alten Tlaxcalas war in letzter Zeit spannungsgeladen, seit die beiden<br />

einflussrei<strong>ch</strong>sten Stammesoberhäupter – Wollring und Wespenring – in Zwietra<strong>ch</strong>t geraten waren.<br />

Die Ursa<strong>ch</strong>e dieses Zerwürfnisses war hö<strong>ch</strong>st seltsam.<br />

Die Söhne des hundertjährigen, blinden Xicotencatl hatte der Krieg dahingerafft. Nur no<strong>ch</strong><br />

ein Enkel, der Sohn seines jüngsten Sohnes, war Wespenring geblieben. Er hieß Goldmaske, war<br />

ho<strong>ch</strong>gewa<strong>ch</strong>sen, kaum dreißig Jahre alt, unbändig stolz, in seinen Leidens<strong>ch</strong>aften ungezügelt, wild<br />

und gutherzig, treulos und treu zuglei<strong>ch</strong>. Als Vorsteher des Hauses der Speere hatte er den Oberbefehl<br />

über die Hälfte der tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Truppen. Sein Steinpalast widerspiegelte seinen Rei<strong>ch</strong>tum<br />

und hohen Rang; s<strong>ch</strong>ier unermessli<strong>ch</strong> war die Zahl seiner Sklaven und ansehnli<strong>ch</strong> die Größe<br />

seines Frauenhauses: Er besaß fünfzig Gemahlinnen.<br />

Vor drei Jahren war ihm in den Gassen Tlaxcalas ein ärmli<strong>ch</strong> gekleidetes Mäd<strong>ch</strong>en von überirdis<strong>ch</strong>er<br />

S<strong>ch</strong>önheit begegnet. In seinen Augen s<strong>ch</strong>ien sie kein irdis<strong>ch</strong>es Wesen, sondern eine in<br />

Lumpen gehüllte Göttin zu sein. Ohne zu zögern s<strong>ch</strong>ickte er ihr einen seiner Sklaven na<strong>ch</strong>, ließ<br />

na<strong>ch</strong> ihrem Namen und ihrer Herkunft fors<strong>ch</strong>en. Sie hieß Iztapapalotl, Weißer Sommervogel, und<br />

war die To<strong>ch</strong>ter eines Ledergerbers. Obwohl sie von niederem Stand war, erbat er si<strong>ch</strong> die Vierzehnjährige<br />

von ihren Eltern und ma<strong>ch</strong>te sie zu seiner re<strong>ch</strong>tmäßigen Gattin. Er räumte ihr einen<br />

Flügel seines Palastes ein, s<strong>ch</strong>enkte ihr Sklavinnen – Fä<strong>ch</strong>erträgerinnen, Sandalenbinderinnen,<br />

Haarkämmerinnen, Girlandenfle<strong>ch</strong>terinnen – und behängte sie mit Juwelen und kostbarem Feders<strong>ch</strong>muck.<br />

In ihrer s<strong>ch</strong>lanken, knabenhaften Anmut und dem stets s<strong>ch</strong>neeweiß ges<strong>ch</strong>minkten Gesi<strong>ch</strong>t<br />

dünkte sie ihm als unverglei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>önheit, und seine Liebe zu ihr war ohne Maß. Do<strong>ch</strong><br />

der Krieg zwang ihn, von Weißer Sommervogel Abs<strong>ch</strong>ied zu nehmen und in den Kampf gegen die<br />

Heers<strong>ch</strong>aren Mexicos zu ziehen.<br />

Ein Jahr lang kämpfte Prinz Goldmaske und verteidigte sein Land an der Großen Mauer. Als<br />

er als Sieger na<strong>ch</strong> Tlaxcala heimkehrte, voller Sehnsu<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> Weißer Sommervogel, entdeckte<br />

er, dass zwei seiner Frauen s<strong>ch</strong>wanger waren. Ein unerhörter S<strong>ch</strong>impf, eine unglaubli<strong>ch</strong>e Beleidigung<br />

war Prinz Goldmaske angetan worden. Die Frauen hatten ihr Leben verwirkt; sie waren der<br />

strafenden Lustgöttin verfallen, die als Fros<strong>ch</strong> mit blutigem Maul verehrt wurde, »denn die Liebe<br />

frisst und vers<strong>ch</strong>lingt alles!« Die S<strong>ch</strong>wangeren wurden eingekerkert, Prinz Goldmaske ordnete eine<br />

strenge Untersu<strong>ch</strong>ung an. Was die Frauen unter der Folter aussagten, wollte er zuerst ni<strong>ch</strong>t glauben,<br />

musste es s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> aber do<strong>ch</strong> als Tatsa<strong>ch</strong>e akzeptieren. Es war so unvorstellbar wie außergewöhnli<strong>ch</strong>:<br />

Es kam ans Li<strong>ch</strong>t, dass Weißer Sommervogel, seine Lieblingsgattin, ein Hermaphrodit<br />

war, ein Zwitter – halb Knabe, halb Mäd<strong>ch</strong>en! Im Frauenhaus lebend, hatte die Unselige die<br />

zwei Frauen zum Beis<strong>ch</strong>laf verleitet. Prinz Goldmaske fiel zuerst in tiefe S<strong>ch</strong>wermut, dann erließ er<br />

den S<strong>ch</strong>wangeren die Todesstrafe, war er es do<strong>ch</strong> selbst gewesen, der die Knäbin in ihre Mitte<br />

gebra<strong>ch</strong>t hatte. Er vers<strong>ch</strong>enkte die Frauen und verheiratete sie an Untergebene. Den Hermaphro-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 98<br />

diten jedo<strong>ch</strong> erwartete eine grausame Strafe na<strong>ch</strong> altem Gesetz. Nackt wurde Weißer Sommervogel<br />

dur<strong>ch</strong> die Straßen Tlaxcalas der höhnenden Volksmenge vorgeführt. Er kam auf den Opfertis<strong>ch</strong>;<br />

öffentli<strong>ch</strong> wurde ihm die linke Bau<strong>ch</strong>seite aufges<strong>ch</strong>nitten, sodass die Eingeweide herausquollen.<br />

Dann musste das arme Wesen davonlaufen, wobei es die eigenen blutigen Gedärme mit der<br />

Hand vor dem Herausfallen s<strong>ch</strong>ützte, und musste versu<strong>ch</strong>en, der verfolgenden Volksmenge zu<br />

entkommen. Zwei Steinwürfe weit war der Vorsprung, den man dem Opfer gewährte, dann stürmte<br />

der Pöbel hinterher. Gelang es dem Verurteilten, den Verfolgern zu entkommen, war er frei und<br />

fortan unantastbar; so s<strong>ch</strong>rieb es das heilige Strafgesetz vor. Do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> nie hatte si<strong>ch</strong> ein Missetäter<br />

retten können, alle waren vorher zusammengebro<strong>ch</strong>en, eingeholt, gesteinigt worden.<br />

Au<strong>ch</strong> Weißer Sommervogel wäre es beinahe so ergangen. In panis<strong>ch</strong>er Angst stürzte er davon,<br />

die Hände vor dem Bau<strong>ch</strong> und in der Panik keine S<strong>ch</strong>merzen spürend. Hätte si<strong>ch</strong> während<br />

seines Todeslaufs ni<strong>ch</strong>t ein Palasttor geöffnet, in das er hineinflü<strong>ch</strong>tete und das sofort hinter ihm<br />

ges<strong>ch</strong>lossen wurde – Weißer Sommervogel wäre des Todes gewesen. Do<strong>ch</strong> der Volksmenge<br />

wurde der Eintritt verwehrt, Weißer Sommervogel war gerettet! Der Mann, der ihn rettete, war<br />

Pimoti, der Lanzenträger, Oberfeldherr von glei<strong>ch</strong>em Rang wie Prinz Goldmaske.<br />

Seitdem waren die Familien Goldmaskes und Pimotis verfeindet. Der Lanzenträger verweigerte<br />

die Herausgabe des Hermaphroditen, do<strong>ch</strong> Prinz Goldmaske ließ ni<strong>ch</strong>t ab, ihn zurückzufordern.<br />

Ni<strong>ch</strong>t, dass er ihn no<strong>ch</strong> hätte töten oder sonst wie strafen wollen; na<strong>ch</strong> der geglückten Flu<strong>ch</strong>t<br />

war Weißer Sommervogel unantastbar. Aber Prinz Goldmaske wurde mehr denn je von Liebe,<br />

Sehnsu<strong>ch</strong>t und Eifersu<strong>ch</strong>t verzehrt! Unerträgli<strong>ch</strong> war ihm der Gedanke, dass sein Rivale Lanzenträger<br />

das überirdis<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>öne androgyne Wesen gesund pflegen und dur<strong>ch</strong> Ges<strong>ch</strong>enke an si<strong>ch</strong><br />

fesseln konnte.<br />

Der Streit der Familien spaltete bald das Land und beeinflusste die Ents<strong>ch</strong>eidungen im Rat<br />

der Alten. Das Land war in zwei Parteien zerrissen, jeder Vors<strong>ch</strong>lag der einen Partei wurde von<br />

der anderen missbilligt und bekämpft.<br />

*<br />

Tehu<strong>ch</strong>, Cuhextecatl und ihre beiden Begleiter hatten Gesandtenkleidung angelegt und waren von<br />

weitem s<strong>ch</strong>on als Sendlinge erkennbar. An der Grenze Tlaxcalas wurden sie von den Grenzwä<strong>ch</strong>tern<br />

ehrerbietig behandelt, dur<strong>ch</strong> ein Tor der Großen Mauer eingelassen und in die Hauptstadt<br />

eskortiert. Man führte die Delegation in das Regierungsgebäude, rei<strong>ch</strong>te ihnen Speise und Trank<br />

und führte sie, na<strong>ch</strong> kurzer Erholungspause, in den Beratungssaal, wo die Sitzungen des Hohen<br />

Rates stattfanden. Der Rat der Alten war vollzählig versammelt, um die Bots<strong>ch</strong>aft der weißen<br />

Fremdlinge entgegenzunehmen. Die Boten wurden hereingebeten und willkommen geheißen. Sie<br />

übergaben das dunkelgrüne Samtbarett, den Degen, die Muskete und die Armbrust. Dann trat<br />

Tehu<strong>ch</strong> vor und begann, stehend vor der thronenden Ratsversammlung, zu reden:<br />

»O ihr ho<strong>ch</strong>mä<strong>ch</strong>tigen Väter, mögen die Götter eu<strong>ch</strong> Sieg über eure Feinde verleihen! Die<br />

Mexica sind seit Mens<strong>ch</strong>engedenken eure Feinde, und sie sind au<strong>ch</strong> die Feinde und Bedrücker der<br />

Totonaken. Darum gibt das Volk der Totonaken dur<strong>ch</strong> unseren Mund eu<strong>ch</strong> Kunde von den Enkeln<br />

Unseres Herrn Quetzalcoatl, den weißen Söhnen der Sonne, die in großen Wasserhäusern über<br />

das Meer des Himmels aus einem fernen östli<strong>ch</strong>en Rei<strong>ch</strong> herübergekommen und an der Küste<br />

unweit der Stadt Cempoala gelandet sind. Dort haben sie das Kreuz aufgeri<strong>ch</strong>tet, das Wahrzei<strong>ch</strong>en<br />

Unseres Herrn Quetzalcoatl. Sie haben jenseits des Himmelswassers von der Unmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>keit,<br />

der Länder- und Blutgier der Mexica erfahren. Darum hat ihr Fürst, der große König des<br />

Ostens, sie ausgesandt, dass sie die Völker, au<strong>ch</strong> die Tlaxcalteken, von der Gewaltherrs<strong>ch</strong>aft<br />

Moctezumas und vom Blutdurst der fals<strong>ch</strong>en Götter Anahuacs befreien. Diese haben einst Unseren<br />

Herrn Quetzalcoatl übers Meer na<strong>ch</strong> Osten fortgetrieben. Sie, seine Enkel, bitten um freien<br />

Dur<strong>ch</strong>zug dur<strong>ch</strong> euer Land und senden eu<strong>ch</strong> diesen Brief, diesen Kopfs<strong>ch</strong>muck und diese Waffen.<br />

Mögt ihr daran erkennen, wie erfinderis<strong>ch</strong>, mutig und unbesiegbar sie sind, und mögt ihr wie Brüder<br />

an ihrer Seite fe<strong>ch</strong>ten gegen das mörderis<strong>ch</strong>e, blutrünstige Mexico, bis sie eu<strong>ch</strong> erlösen, wie<br />

sie uns von der Kne<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>aft Moctezumas erlöst haben. Tut ihr das aber ni<strong>ch</strong>t, so wisst ihr selbst,<br />

o ihr ho<strong>ch</strong>mä<strong>ch</strong>tigen Väter, ihr edlen Herren, dass Mexico nie ablassen wird, eu<strong>ch</strong> zu bedrohen<br />

und zu kne<strong>ch</strong>ten.«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 99<br />

Stumm nahm die hundertköpfige Versammlung die Rede auf. Keine Äußerung wurde laut,<br />

weder des Missfallens no<strong>ch</strong> des Beifalls. Die Ges<strong>ch</strong>enke gingen von Hand zu Hand und wurden<br />

mit Befremden betra<strong>ch</strong>tet. Da erhob si<strong>ch</strong> einer der vier Tetrar<strong>ch</strong>en des Landes, Maxixcatzín, der<br />

angesehene alte Wollring, und spra<strong>ch</strong>:<br />

»O ihr Götterboten, ihr tapferen Krieger! Wir haben gehört, wir haben vernommen, was euer<br />

Mund verkündet hat vor dem Angesi<strong>ch</strong>t des Hohen Rates. Haben die Söhne der Sonne eu<strong>ch</strong> Beistand<br />

geleistet, haben sie eu<strong>ch</strong> befreit von der lastenden Hand Moctezumas? Wir freuen uns mit<br />

eu<strong>ch</strong> und danken dem großen weißen Feldherrn für seine Gaben. Geht, ruht eu<strong>ch</strong> aus, denn weite<br />

Wege seid ihr gegangen. Der Hohe Rat aber wird Ents<strong>ch</strong>luss fassen, wel<strong>ch</strong>e Antwort er erteilen<br />

will!«<br />

Darauf wurden Tehu<strong>ch</strong>, Cuhextecatl und ihre Begleiter aus dem Beratungssaal geführt.<br />

In der Beratenden Versammlung ergriff zuerst Wollring das Wort. Die vielen Vorzei<strong>ch</strong>en der<br />

letzten Jahrzehnte ma<strong>ch</strong>ten es glaubhaft, dass die in alten Bilders<strong>ch</strong>riften geweissagte Wiederkehr<br />

bärtiger, weißhäutiger Sonnensöhne na<strong>ch</strong> Anahuac eingetroffen und dass die Zeit der Befreiung<br />

der Völker und des Strafgeri<strong>ch</strong>ts über Moctezuma nahegerückt sei. Er, Wollring, era<strong>ch</strong>te es für<br />

ratsam, diese Fremden, da sie do<strong>ch</strong> Beistand gegen Mexico anböten und, wie ihre Taten und Waffen<br />

zeigten, eher Götter als Mens<strong>ch</strong>en zu sein s<strong>ch</strong>ienen, freundli<strong>ch</strong> in Tlaxcala einzulassen und<br />

ni<strong>ch</strong>t abzuwarten, dass sie si<strong>ch</strong> den Zutritt erzwängen.<br />

Na<strong>ch</strong> dieser klug beda<strong>ch</strong>ten und s<strong>ch</strong>öngefügten Rede des Wollrings erhob si<strong>ch</strong> der erblindete<br />

hundertjährige Führer der Gegenpartei, Wespenring, und widerspra<strong>ch</strong> leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>. Dabei<br />

bra<strong>ch</strong>te er hö<strong>ch</strong>st merkwürdige Vermutungen über die Herkunft der weißen Eindringlinge vor. Er<br />

sagte:<br />

»O ihr ho<strong>ch</strong>mä<strong>ch</strong>tigen Väter, o ihr edlen Herren, möge Huitzilopo<strong>ch</strong>tli, Er, dur<strong>ch</strong> den alles<br />

ges<strong>ch</strong>ieht, unsere Sinne erleu<strong>ch</strong>ten, unsere Sinne lenken, auf dass wir Tlaxcala, unserer alten<br />

Mutter, ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Söhne seien! Wer sind diese Fremden? Was werden sie uns bringen? Wir<br />

wissen es ni<strong>ch</strong>t! Wir kennen die Zukunft ni<strong>ch</strong>t! Do<strong>ch</strong> wir wissen, dass die Vergangenheit Tlaxcalas<br />

ruhmvoll war. Deshalb ers<strong>ch</strong>eint es mir vors<strong>ch</strong>nell und ni<strong>ch</strong>t würdig der großen Vergangenheit<br />

Tlaxcalas, wenn wir allzu dienstbereit den Fremden die Tore öffnen. Von alten Weissagungen hat<br />

man uns erzählt – do<strong>ch</strong> Weissagungen haben s<strong>ch</strong>on oft getrogen. Sind die Beri<strong>ch</strong>te wahr, dass<br />

diese Fremdlinge si<strong>ch</strong> von Gold ernähren und mit großen Hirs<strong>ch</strong>en einherziehen, so s<strong>ch</strong>einen sie<br />

mir ni<strong>ch</strong>t Mens<strong>ch</strong>en zu sein, sondern Ungeheuer, vom Meer ausgespuckt, das sie in seinem Innern<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr beherbergen wollte. Darum hört meinen Rat: Lasst uns ihnen bewaffnet<br />

entgegenziehen, eingedenk unserer Vergangenheit, unserer Götter, unserer Heimaterde, unserer<br />

Weiber und Kinder. Nur wenn wir ihnen den Eintritt verwehren, können wir erfahren, ob sie Mens<strong>ch</strong>en<br />

sind! Besiegen sie uns, die wir bisher unbesiegbar waren, so sind sie die Na<strong>ch</strong>kommen<br />

Quetzalcoatls, die uns verkündet wurden. Gottgesandten kann man si<strong>ch</strong> unterwerfen, ohne mit<br />

S<strong>ch</strong>ande bedeckt zu werden. Dann bleibt uns immer no<strong>ch</strong> Zeit, mit ihnen Freunds<strong>ch</strong>aft zu s<strong>ch</strong>ließen<br />

und eine Bundesgenossens<strong>ch</strong>aft gegen Moctezuma einzugehen!«<br />

Au<strong>ch</strong> die Rede Wespenrings ma<strong>ch</strong>te tiefen Eindruck auf die Versammlung, überzeugte aber<br />

die Gegenpartei ni<strong>ch</strong>t. Das Wort ergriffen no<strong>ch</strong> der Blutige S<strong>ch</strong>ild, der Listige Marder und mehrere<br />

Häuptlinge der Unterstämme. An diesem Tag jedo<strong>ch</strong> führten die Beratungen zu keinem Ergebnis.<br />

*<br />

Cortés wartete mehrere Tage vergebli<strong>ch</strong> auf Antwort aus Tlaxcala. Die erhoffte Einladung blieb<br />

aus, und au<strong>ch</strong> die totonakis<strong>ch</strong>en Boten kehrten ni<strong>ch</strong>t zurück. Am vierten Tag traf eine Gesandts<strong>ch</strong>aft<br />

aus Cholula im Weißen Mondgefilde ein. Der Gewandtheit des Tempelhüters war es gelungen,<br />

die heilige Stadt für den Plan Moctezumas zu gewinnen. Mit Ges<strong>ch</strong>ick hatte er seinen Auftrag<br />

ausgeführt, hatte den Cholulteken vor Augen geführt, dass es ein verdienstvolles Werk sei, die<br />

Fremdlinge in die Stadt zu locken und niederzuma<strong>ch</strong>en. Mit den zwei goldenen Trommeln hatte er<br />

die beiden Priesterkönige besto<strong>ch</strong>en, mit kostbarem Feders<strong>ch</strong>muck den Hohen Rat. Und nun<br />

sandte die Stadt den Federherrn, den neunzehnjährigen Sohn des verstorbenen Mitregenten, in<br />

das Weiße Mondgefilde mit der Einladung, die Sonnensöhne in die heilige Stadt zu bitten.<br />

Do<strong>ch</strong> Cortés ließ den Cholulteken dur<strong>ch</strong> La Lengua auseinandersetzen, dass er in Tlaxcala


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 100<br />

erwartet werde und daher ni<strong>ch</strong>t den Weg über Cholula nehmen könne. Die Enttäus<strong>ch</strong>ung der Gesandten<br />

war unverkennbar und versetzte sie in aufri<strong>ch</strong>tige Betrübnis. Sie baten, wenigstens einen<br />

späteren Besu<strong>ch</strong> der heiligen Stadt zu erwägen; Cortés stellte es ihnen zum Trost in Aussi<strong>ch</strong>t.<br />

Dann lud er zu einem üppigen Mittagsmahl ein. Juan Varela, Oberko<strong>ch</strong> und Tafelmeister des Cortés,<br />

durfte mit seinen Künsten Staat ma<strong>ch</strong>en; er solle ni<strong>ch</strong>t geizen, war ihm gesagt worden.<br />

*<br />

Die na<strong>ch</strong> Tlaxcala entsandten Boten waren ni<strong>ch</strong>t ins Weiße Mondgefilde zurückgekehrt. Vier Tage<br />

lang hatte man sie vergebli<strong>ch</strong> erwartet; dann hatte Cortés den Befehl zum Aufbru<strong>ch</strong> gegeben.<br />

Tehu<strong>ch</strong> und Cuhextecatl mussten auf ihrem Rückweg dem Heer begegnen. Do<strong>ch</strong> ihr Ausbleiben<br />

war rätselhaft und wurde als bedenkli<strong>ch</strong>es Zei<strong>ch</strong>en gedeutet. Deshalb ordnete der Generalkapitän<br />

wiederum an, dass die Soldaten nur bewaffnet s<strong>ch</strong>lafen dürften. Unterwegs funkelten bisweilen<br />

s<strong>ch</strong>warz glänzende Augen im Dicki<strong>ch</strong>t neben den Wegen. Sol<strong>ch</strong>e Augen hatte ja s<strong>ch</strong>on die Amazone<br />

María de Estrada im Gebüs<strong>ch</strong> gesehen, als sie das entlaufene Fohlen des rei<strong>ch</strong>en Hurtado<br />

su<strong>ch</strong>ten. Dass sie si<strong>ch</strong> mit ihrer Beoba<strong>ch</strong>tung ni<strong>ch</strong>t getäus<strong>ch</strong>t hatte, wurde jetzt von vielen bestätigt.<br />

Au<strong>ch</strong> andere seltsame Beoba<strong>ch</strong>tungen wurden gema<strong>ch</strong>t: Dünne bunte Fäden spannten si<strong>ch</strong><br />

über die Straße – man<strong>ch</strong>mal fünf, zuweilen zehn, alle eigenartig verknotet; Sträu<strong>ch</strong>er am Wegrand<br />

trugen kleine Papierstreifen und Papierfähn<strong>ch</strong>en: die Zauberer Moctezumas bes<strong>ch</strong>woren die weißen<br />

teules, ihren Weg do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> über Cholula zu nehmen.<br />

An einem blei<strong>ch</strong>en Herbsttag erblickte das Heer die Große Mauer. Vor den erstaunten<br />

Kastiliern tau<strong>ch</strong>te das Weltwunder als rötli<strong>ch</strong> gelbes Band auf, anges<strong>ch</strong>miegt an Berg und Tal, an<br />

Fluren und Hügel, Fels und S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>ten. Selbst über einem Fluss hing das Band als fla<strong>ch</strong>e steinerne<br />

Brücke, dass kein Boot sie hätte unterfahren können. Die unvorstellbare Endlosigkeit der Mauer<br />

offenbarte si<strong>ch</strong> in seiner ganzen Größe erst, als das Heer nahe genug herangekommen war, sodass<br />

man die Einzelheiten des Baues unters<strong>ch</strong>eiden konnte.<br />

»Wie ist das mögli<strong>ch</strong>?«, fragte der belesene Cortés. »Sind die Bewohner Untertanen des<br />

großen <strong>ch</strong>inesis<strong>ch</strong>en Khan? Au<strong>ch</strong> Marco Polo beri<strong>ch</strong>tet von einer ›Großen Mauer‹, die das östli<strong>ch</strong>e<br />

Kaiserrei<strong>ch</strong> ums<strong>ch</strong>ließt!«<br />

Ein Zyklopenbau! Die Riesenquadern waren ohne Kalk und Mörtel an- und aufeinander gefügt.<br />

Zwanzig Fuß breit, zehn Fuß ho<strong>ch</strong> und dur<strong>ch</strong>gehend mit einem Zinnenkranz überaus starker<br />

Brustwehren bestückt. Der Bau s<strong>ch</strong>ien ni<strong>ch</strong>t von Mens<strong>ch</strong>enhand gefügt zu sein.<br />

Cortés wartete auf einige der Totonakenhäuptlinge, die hinter ihm s<strong>ch</strong>ritten, und fragte sie<br />

über den Ursprung der Mauer aus; was Tlaxcala wohl veranlasst haben mo<strong>ch</strong>te, eine sol<strong>ch</strong>e<br />

S<strong>ch</strong>utzwehr zu erri<strong>ch</strong>ten. Die Häuptlinge erzählten, dass Tlaxcala von Mexico umzingelt, von der<br />

Außenwelt abges<strong>ch</strong>lossen, zur belagerten Festung gema<strong>ch</strong>t wurde; wie Tlaxcala lernen musste,<br />

auf Papageienfedern, Kakao, Baumwolle, sogar auf Salz zu verzi<strong>ch</strong>ten; wie Tlaxcala, als der<br />

Se<strong>ch</strong>zigjährige Krieg begann, in der Not gezwungen war, die Große Mauer zu erbauen, und wie<br />

der Ansturm der mexicanis<strong>ch</strong>en Heers<strong>ch</strong>aren an dieser Mauer zers<strong>ch</strong>ellte. Man<strong>ch</strong>es, was die<br />

Häuptlinge erzählten, wusste Cortés s<strong>ch</strong>on von Marina. Do<strong>ch</strong> zum ersten Mal wurde ihm das<br />

S<strong>ch</strong>icksalhafte im lange währenden Krieg zwis<strong>ch</strong>en Tlaxcala und Mexico klar.<br />

Der Anblick der gewaltigen Mauer stimmte ihn na<strong>ch</strong>denkli<strong>ch</strong>. »Die Mauer, die dieses Volk<br />

bes<strong>ch</strong>irmt, ist ni<strong>ch</strong>t nur aus Stein, sie ist vor allem aus zähem Widerstandswillen erbaut!«<br />

Marina sagte: »Au<strong>ch</strong> hinter diese Mauer werden wir gelangen, wenn ihre Tore so unbewa<strong>ch</strong>t<br />

sind wie die hier!« Und wunderbarerweise war das Tor, auf das sie zuritten, an diesem Tag ni<strong>ch</strong>t<br />

bewa<strong>ch</strong>t.<br />

Die Große Mauer hatte nur wenige Tore. Die Gassen dahinter waren so s<strong>ch</strong>mal, dass eindringende<br />

Feinde Mann für Mann gegen die Verteidiger kämpfen mussten. Außerhalb der Mauer<br />

konnte man indes ni<strong>ch</strong>t wissen, ob Verteidiger sie erwarteten oder ni<strong>ch</strong>t. Die zwanzig Krieger des<br />

Mä<strong>ch</strong>tigen Felsens warnten und erboten si<strong>ch</strong>, einen um die Mauer führenden Weg zu su<strong>ch</strong>en. Die<br />

Totonaken, von Ordás unterstützt, rieten jedo<strong>ch</strong>, den Dur<strong>ch</strong>gang dur<strong>ch</strong>s Tor zu wagen.<br />

Cortés ließ si<strong>ch</strong> von Pero del Corral, dem Fahnenträger, die s<strong>ch</strong>warze Standarte mit dem<br />

flammenumloderten Kreuz rei<strong>ch</strong>en. Ho<strong>ch</strong> reckte er sie empor und rief dem Heer zu: »Vorwärts,<br />

Soldaten! Das heilige Kreuz ist unser Banner! In diesem Zei<strong>ch</strong>en werden wir siegen!« Er gab


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 101<br />

Romo die Sporen, galoppierte auf das Tor zu und dur<strong>ch</strong> den halbkreisförmig dunklen Gang – und<br />

befand si<strong>ch</strong> auf Tlaxcalas Boden. Hinter ihm stürmten die Soldaten und indianis<strong>ch</strong>en Krieger na<strong>ch</strong>.<br />

Kein Feind war zu sehen, sie hatte die Große Mauer spielend überwunden! Erst später sollte Cortés<br />

erfahren, wel<strong>ch</strong> unerhörtem Zufall er es zu verdanken hatte, dass das Tor offen und unbewa<strong>ch</strong>t<br />

war. Sonst wäre Hernándo Cortés keine Notiz in den Annalen der Weltges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te wert gewesen,<br />

do<strong>ch</strong> das Glück wi<strong>ch</strong> ihm ni<strong>ch</strong>t von der Seite.<br />

Sämtli<strong>ch</strong>e Berittene trabten jetzt mit Cortés dem Heerhaufen voraus. Di<strong>ch</strong>t gestaffelt und in<br />

strenger Ordnung, langsam und voller Vorsi<strong>ch</strong>t, jederzeit einen Angriff erwartend, drangen sie ins<br />

Land vor. Pulver lag auf den Pfannen der Musketen, und die Sehnen der Armbrüste waren gespannt.<br />

Die Infanteristen, je drei nebeneinander, hielten die S<strong>ch</strong>ilde, Lanzen und S<strong>ch</strong>werter zur<br />

Verteidigung bereit. Allen war einges<strong>ch</strong>ärft worden, im Kampf mit den Lanzen na<strong>ch</strong> den Gesi<strong>ch</strong>tern<br />

der Gegner zu zielen und si<strong>ch</strong> vorzusehen, dass die Lanzen beim Zustoßen vom Feind ni<strong>ch</strong>t mit<br />

den Händen gepackt und ihnen entwunden würden.<br />

Immer tiefer mars<strong>ch</strong>ierten sie in tlaxcaltekis<strong>ch</strong>es Land ein; s<strong>ch</strong>on drei Meilen lag die Große<br />

Mauer hinter dem Heer, und no<strong>ch</strong> hatte si<strong>ch</strong> kein Feind blicken lassen. Steiler und rauer wurde der<br />

Weg. Die Flussebene, dur<strong>ch</strong> die man zog, wurde zusehends enger und mündete in ein Felsental.<br />

Als die vordersten Reiter einen Hügel erklommen hatten, bemerkten sie im jenseitigen Tal einen<br />

kleinen Trupp Indianer, zwanzig oder dreißig Mann. Die Totonaken erkannten sie als Otomis,<br />

Grenzwä<strong>ch</strong>ter des Freistaates Tlaxcala. Ihr Vorderhaupt war rasiert, und über den Rücken trugen<br />

sie einen lang fallenden Haars<strong>ch</strong>opf. In Kriegsrüstung standen sie da, mit grellbunten Federkronen<br />

und Helmmasken, bunt verzierten S<strong>ch</strong>ilden aus Leder und Bambusrohr. S<strong>ch</strong>warze und weiße<br />

Streifen zogen si<strong>ch</strong> über die Gesi<strong>ch</strong>ter. Ihre Bewaffnung bestand aus Steinbeilen, Bogen und Pfeilen<br />

mit Feuersteinspitzen, Speeren und s<strong>ch</strong>warzlackierten Säges<strong>ch</strong>wertern.<br />

Ordás, Alvarado und Lugo galoppierten auf sie zu. Die Otomis ergriffen die Flu<strong>ch</strong>t. Da Cortés<br />

ein größeres Heer in der Nähe vermutete, ließ er ras<strong>ch</strong> vorrücken.<br />

»Bringt die Artillerie auf dem Hügel in Stellung!«, befahl er und ließ fünf weitere Reiter Ordás,<br />

Alvarado und Lugo zu Hilfe eilen. Die Otomis erkannten, dass sie von den Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en eingeholt<br />

würden, ma<strong>ch</strong>ten Halt und setzten si<strong>ch</strong> zur Wehr. Im glei<strong>ch</strong>en Augenblick bra<strong>ch</strong>en tausend<br />

Otomis aus einem Seitental hervor. Ein Wolkenbru<strong>ch</strong> aus Pfeilen und Speeren ging auf die<br />

Kastilier und Totonaken nieder; die Feuerwaffen der Musketiere kra<strong>ch</strong>ten, und Armbrusts<strong>ch</strong>ützen<br />

zielten auf die indianis<strong>ch</strong>en Anführer. Dann donnerte die Artillerie und bra<strong>ch</strong>te die Ents<strong>ch</strong>eidung.<br />

Na<strong>ch</strong> einstündigem Kampf zogen si<strong>ch</strong> die Otomis zurück.<br />

Seit der Landung war dies die erste wirkli<strong>ch</strong>e Felds<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t gewesen. Die Überlegenheit der<br />

Waffen hatte den conquistadores den Sieg bes<strong>ch</strong>ert, und do<strong>ch</strong> konnte Cortés si<strong>ch</strong> seines Sieges<br />

ni<strong>ch</strong>t freuen. Der Nimbus der Söhne der Sonne, der Glaube an ihre Unbesiegbarkeit, Unverletzli<strong>ch</strong>keit<br />

und Unsterbli<strong>ch</strong>keit musste na<strong>ch</strong> einem sol<strong>ch</strong>en Kampf ins Wanken geraten. Denn keineswegs<br />

hatten nur die Stahlwaffen der Weißen Tod und Verderben verbreitet. Au<strong>ch</strong> das sägeartig<br />

gezahnte, messers<strong>ch</strong>arfe Obsidians<strong>ch</strong>wert der Indianer hatte mörderis<strong>ch</strong>e Wunden ges<strong>ch</strong>lagen.<br />

Dem Pferd des Reiters Manolo Huiguero s<strong>ch</strong>lug einer der Otomis mit einem einzigen Hieb den<br />

Kopf ab, und der niederstürzende Huiguero trug eine s<strong>ch</strong>were Verletzung davon. Au<strong>ch</strong> Tapias<br />

Pferd wurde niedergesto<strong>ch</strong>en und sein Reiter halb erdrückt. Tapia wäre dasselbe S<strong>ch</strong>icksal widerfahren<br />

wie Huiguero, wäre ihm die conquistadora María de Estrada ni<strong>ch</strong>t zu Hilfe gekommen: Mit<br />

der Lanze ersta<strong>ch</strong> sie den Otomi.<br />

Keiner der Reiter war ohne Wunden davongekommen. Von den Otomis blieben siebzig tot<br />

auf dem S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tfeld zurück.<br />

*<br />

Gegen Abend s<strong>ch</strong>leppte der verrückte Physikus und Apotheker Leonel de Cerro einen toten Otomi<br />

ins kastilis<strong>ch</strong>e Lager am Flussufer und hängte die Lei<strong>ch</strong>e mit dem Kopf na<strong>ch</strong> unten über ein<br />

Reisigfeuer. Er briet den Toten, bis diesem das Fett aus Mund und Nase floss. Süßli<strong>ch</strong>er Gestank<br />

breitete si<strong>ch</strong> aus. Die Soldaten protestierten, strömten zusammen, umringten die makabre Szene.<br />

Es war s<strong>ch</strong>on dunkel; rotgelb flackerte das Feuer, und grässli<strong>ch</strong> verzerrt, krümmte si<strong>ch</strong> der Körper<br />

der ges<strong>ch</strong>morten Lei<strong>ch</strong>e.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 102<br />

»Aufhören!« – »Barbaris<strong>ch</strong>!« – »Was soll das un<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Tun?« – »Der capitán generál soll<br />

eingreifen!«<br />

»Warum tut Ihr das, Señor?«, fragte der Namenlose.<br />

»Mir fehlt es an Salben«, antwortete der Apotheker. »Wie soll i<strong>ch</strong> Pferde- und Mens<strong>ch</strong>enwunden<br />

ohne Salben heilen? Man muss si<strong>ch</strong> zu helfen wissen! I<strong>ch</strong> tue das ni<strong>ch</strong>t zum Vergnügen<br />

und habe mi<strong>ch</strong> vorher mit dem Generalkapitän beraten. Er gab mir Re<strong>ch</strong>t und sagte: Im Krieg sind<br />

au<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Mittel erlaubt...«<br />

»Wie wollt Ihr denn aus einer toten Rothaut Salbe herstellen?«, fragte Juan Álvarez der<br />

Lahme.<br />

»A<strong>ch</strong>, das ist ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>wer! Heilende Öle, Salben und Tinkturen kann man mit einfa<strong>ch</strong>en Mitteln<br />

zubereiten. Außer vers<strong>ch</strong>iedenen Kräutern und etwas Bienenwa<strong>ch</strong>s, Weingeist, Spiritus und<br />

Honig wird dazu nur Fett benötigt – Olivenöl, Butter, S<strong>ch</strong>weines<strong>ch</strong>malz oder Talg. Und weil i<strong>ch</strong><br />

weder das eine no<strong>ch</strong> das andere habe, nehme i<strong>ch</strong> halt Mens<strong>ch</strong>enfett!«<br />

Der Narr Cervantes rief: »Und für wel<strong>ch</strong>e Salbe soll der Indianer sein Fett hergeben?<br />

Gerbfett für unsere Felle?«<br />

Der Physikus taxierte die Lei<strong>ch</strong>e mit Kennerblick. »Nun, der da ist wohlgenährt und fest, er<br />

gibt Fett für vers<strong>ch</strong>iedene Salben«, antwortete er ernsthaft. »In einem Heer wie dem unseren gibt's<br />

vers<strong>ch</strong>iedene Gebresten, die alle behandelt sein wollen. Sehr hilfrei<strong>ch</strong> sind Salben, die jeder Heilungsbeflissene<br />

lei<strong>ch</strong>t herstellen kann: Klettenwurzelsalbe, S<strong>ch</strong>afgarbensalbe, Breitwegeri<strong>ch</strong>salbe,<br />

Ringelblumensalbe, Odermennigsalbe, Linsensalbe oder Nusssalbe.«<br />

»Ma<strong>ch</strong>t Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wi<strong>ch</strong>tig, Señor de Cerro.« Der Narr s<strong>ch</strong>aute si<strong>ch</strong> herausfordernd im Kreise<br />

um. »Mi<strong>ch</strong> nimmt Wunder, ob Ihr überhaupt eine Ahnung habt, wel<strong>ch</strong>e Salben bei wel<strong>ch</strong>en<br />

Übeln und Leiden helfen können. Aus wel<strong>ch</strong>em klugen Bu<strong>ch</strong> habt Ihr denn Euer Wissen?«<br />

»Gottes Bu<strong>ch</strong> ist die Natur. S<strong>ch</strong>aut Eu<strong>ch</strong> um, Cervantes«, sagte der Apotheker, »wie übermüdet<br />

viele von uns na<strong>ch</strong> dem mühseligen Tag sind. Man<strong>ch</strong>em würde eine Einreibung mit Dillsalbe<br />

gegen seine müden Glieder helfen. Klettenwurzelsalbe ist besonders als Brandsalbe wertvoll.<br />

Ringelblumensalbe hilft vor allem bei fressenden, faulenden Wunden und bei Beinleiden. S<strong>ch</strong>afgarbensalbe<br />

heilt Brandwunden, Ges<strong>ch</strong>würe und Fisteln. Nur gegen Euren Buckel ist no<strong>ch</strong> kein<br />

Kraut gewa<strong>ch</strong>sen!«<br />

La<strong>ch</strong>end gingen die Männer auseinander. Der Narr war ni<strong>ch</strong>t sonderli<strong>ch</strong> beliebt, und die<br />

S<strong>ch</strong>lagfertigkeit des Apothekers gefiel ihnen.<br />

Um ihn her saßen die drei Samariterinnen des Heeres: Isabel Rodríguez, eine S<strong>ch</strong>wester<br />

des Bü<strong>ch</strong>senspanners und Trompeters Sebastian Rodríguez, Ines Florín und La Bailadora. Sie<br />

halfen dem Physikus mit ges<strong>ch</strong>ickten Händen, das Mens<strong>ch</strong>enfett in Salbenbü<strong>ch</strong>sen zu sammeln,<br />

und waren ihm au<strong>ch</strong> behilfli<strong>ch</strong>, die Wunden der Pferde und Mens<strong>ch</strong>en zu versorgen und zu verbinden.<br />

Auf Befehl von Cortés vers<strong>ch</strong>arrten Lares und Domínguez no<strong>ch</strong> in der Na<strong>ch</strong>t die beiden getöteten<br />

Pferde. Die Kadaver dieser Fabelwesen, der mens<strong>ch</strong>enfressenden Hirs<strong>ch</strong>ungeheuer, durften<br />

die Indianer ni<strong>ch</strong>t zu Gesi<strong>ch</strong>t bekommen.<br />

Kurz vor Mitterna<strong>ch</strong>t kam der Narr Cervantes an einem Zelt vorbei, in dem ein Kranker laut<br />

stöhnte. Ines Florín trat aus diesem Zelt und bat: »Helft uns, Señor. Wir brau<strong>ch</strong>en jemanden, der<br />

ihn festhält. Er hat um si<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>lagen, die Wunde ist aufgegangen... Er verblutet!«<br />

Cervantes trat ins Zelt. Ines Florín und Isabel Rodríguez mühten si<strong>ch</strong> um den sterbenden<br />

Huiguero. Kreideweiß, mit weit aufgerissenen Augen lag der Verwundete da. Isabel Rodríguez<br />

bes<strong>ch</strong>wor die Wunde. Sie murmelte:<br />

»I<strong>ch</strong> bitte den König Jesu Christ,<br />

der jedes Mens<strong>ch</strong>en Rettung ist,<br />

so mit Vertrauen an ihn glaubt,<br />

weil er des Satans Ma<strong>ch</strong>t geraubt.<br />

In seinem Namen will i<strong>ch</strong>’s sagen,<br />

will i<strong>ch</strong> den Abtrünnigen verjagen:<br />

›Blut, lege di<strong>ch</strong>, nimmer rege di<strong>ch</strong>‹!«<br />

Dann hau<strong>ch</strong>te sie dreimal auf die Wunden und flüsterte:


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 103<br />

»Es wa<strong>ch</strong>sen drei Lilien auf unseres Heilands Grab,<br />

die erste heißt mild,<br />

die zweite heißt gut,<br />

die dritte stillt dein Blut.«<br />

Es ist Marías Wille: Blut, steh stille!<br />

Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!«<br />

Der Sterbende phantasierte: »Morgen bin i<strong>ch</strong> in Mexico...! Wär's do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on morgen! Dort ist<br />

ein Fluss, draus fis<strong>ch</strong>t man Gold mit Netzen...! Ihr müsst mit anfassen... das Netz ist s<strong>ch</strong>wer...<br />

s<strong>ch</strong>ade... zu große Mas<strong>ch</strong>en... alles Gold sickert heraus!«<br />

»Er hat das Wundfieber«, flüsterte Ines Florín.<br />

»Nein, er hat das Goldfieber!«, höhnte der Narr.<br />

»I<strong>ch</strong> will Pater Olmedo rufen, dass er ihm die letzte Ölung gibt«, sagte Ines Florín und verließ<br />

das Zelt. Isabel Rodríguez murmelte wieder:<br />

»Feuer, Wasser, Luft und Erde,<br />

s<strong>ch</strong>webet her, dass Heilung werde.<br />

Lasst eure Körper si<strong>ch</strong> vereinen,<br />

und trennt sie wieder zu glei<strong>ch</strong>en <strong>Teil</strong>en.<br />

O glückselige Wunde,<br />

glückselige Stunde,<br />

glückselig ist der Tag,<br />

da Jesus Christus geboren ward.<br />

Es ist Marías Wille: Blut, steh stille!<br />

Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!«<br />

Huiguero starrte zur Zeltdecke: »Nun ziehe i<strong>ch</strong> ins Goldland! Zu spät? Wer sagt das? Als i<strong>ch</strong><br />

na<strong>ch</strong> Kuba kam, hieß es: zu spät! Kein Gold, kein Ruhm, die sieben S<strong>ch</strong>iffe sind fort... Und do<strong>ch</strong><br />

war's ni<strong>ch</strong>t zu spät, i<strong>ch</strong> holte die S<strong>ch</strong>iffe ein! Der capitán generál hat mi<strong>ch</strong> aufgefordert...«<br />

»Zum Totentanz hat Cortés Eu<strong>ch</strong> aufgefordert. Wisst Ihr, armes Bürs<strong>ch</strong><strong>ch</strong>en, wer der capitán<br />

generál ist?«, fragte der Narr und reckte seine Hühnerbrust. »Der leibhaftige Tod ist der capitán<br />

generál! Das ist er! Ihr, Señor, eröffnet den Reigen! «<br />

»Wel<strong>ch</strong>en Reigen?«, fragte der Sterbende.<br />

»Den Reigen der dürren Klappermänner. Wir alle, alle, alle folgen Eu<strong>ch</strong> bald. Gold su<strong>ch</strong>en,<br />

Ruhm su<strong>ch</strong>en, ei ja, Köder für dumme Karpfen! Hei, das wird eine lustige, lei<strong>ch</strong>tfertige Tanzerei,<br />

ein Knicksen und S<strong>ch</strong>wingen geblei<strong>ch</strong>ter Gebeine! Ihr seid der Vortänzer. Ihr führt den Ringelreihen<br />

an! Galant und s<strong>ch</strong>ön gewa<strong>ch</strong>sen seid Ihr ja, und Narr genug wart Ihr, Eu<strong>ch</strong> zur hüpfenden<br />

Narretei heranzudrängen. Wel<strong>ch</strong> ein Obernarr aber mag i<strong>ch</strong> sein, der i<strong>ch</strong> unfreiwillig und bucklig<br />

dabei sein muss bei diesem Veitstanz!«<br />

Ein Fußtritt von Pater Olmedo beförderte den Narren vors Zelt. Eine Stunde später war Manolo<br />

Huiguero gestorben.<br />

*<br />

Am nä<strong>ch</strong>sten Morgen – der Grabhügel über Huiguero war s<strong>ch</strong>on aufges<strong>ch</strong>üttet, und Pater Olmedo<br />

hatte eine kurze Messe gelesen – wurde der Weitermars<strong>ch</strong> befohlen. Na<strong>ch</strong> einer Viertelmeile meldeten<br />

die vorausgehenden indianis<strong>ch</strong>en Späher zwei Männer. Tehu<strong>ch</strong> und Cuhextecatl kamen<br />

verstört und jämmerli<strong>ch</strong> zugeri<strong>ch</strong>tet dem Heer entgegen. Sie waren kaum imstande, ein Wort hervorzubringen.<br />

Was sie dann aber erzählten, versetzte die Sonnensöhne in Erregung. Sie waren<br />

von den Tlatepoca anfangs gut behandelt worden und hatten die Bots<strong>ch</strong>aft und Ges<strong>ch</strong>enke der<br />

weißen Götter dem Rat der Alten überbra<strong>ch</strong>t. Dann hatte man sie höfli<strong>ch</strong> gebeten, als Gäste in der<br />

Stadt zu verweilen und die Antwort abzuwarten. Drei Tage lang hätten sie warten müssen, weil<br />

si<strong>ch</strong> der Hohe Rat zu keinem Ents<strong>ch</strong>luss dur<strong>ch</strong>ringen konnte. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> hatte der Hundertjährige


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 104<br />

Wespenring die meisten Stimmen gewonnen, und die Kriegspartei hatte gesiegt. Die Totonaken,<br />

obglei<strong>ch</strong> unverletzli<strong>ch</strong>e Gesandte, wurden gefangen gesetzt und sollten heute früh dem Kriegsgott<br />

der Tlatepoca geopfert werden, wie herna<strong>ch</strong> alle Christen. Do<strong>ch</strong> ein unaufmerksamer Wä<strong>ch</strong>ter<br />

habe das Tor offen gelassen, und sie hätten fliehen können. Die Tlaxcalteken träfen Kriegsvorbereitungen.<br />

Feuersignale hätten den Rat der Alten s<strong>ch</strong>on von der gestrigen S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t unterri<strong>ch</strong>tet;<br />

Prinz Goldmaske sei beauftragt worden, mit dreißigtausend Mann den weißen Eindringlingen<br />

entgegenzuziehen. Ein no<strong>ch</strong> größeres Heer, befehligt vom Rivalen des Prinzen Goldmaske, dem<br />

Feldherrn Pimoti, wurde soeben in Tlaxcala aktiviert.<br />

Tehu<strong>ch</strong> und Cuhextecatl nahmen ihre Federkronen ab und zeigten ihre blutende Kopfhaut.<br />

Wie allen zum Opfer bestimmten Gefangenen war au<strong>ch</strong> ihnen das Kopfhaar büs<strong>ch</strong>elweise ausgerissen<br />

worden. Leonel de Cerro, dem verrückten Apotheker, war Gelegenheit gegeben, seine Fettsalbe<br />

anzuwenden.<br />

Das Heer zog dur<strong>ch</strong> einen di<strong>ch</strong>ten Ei<strong>ch</strong>enwald. Die Spitze der Truppe hatte gerade sein Ende<br />

errei<strong>ch</strong>t, als sie si<strong>ch</strong> plötzli<strong>ch</strong> einem tausendköpfigen Heer der Otomis gegenübersahen. Aufgereiht<br />

und bewegungslos standen die Krieger eine halbe Meile vor ihnen und hielten kampfbereit<br />

S<strong>ch</strong>ilder und Speere in Händen; nur ihr Feders<strong>ch</strong>muck wogte im Wind.<br />

»Halt!«, befahl Cortés mit erhobenem Arm. Er ließ die Soldaten hinter si<strong>ch</strong> Aufstellung nehmen<br />

und dur<strong>ch</strong> den Notar und kaiserli<strong>ch</strong>en Sekretarius Godoy eine Aufforderung an die Otomis<br />

verlesen, die Feindseligkeiten sofort einzustellen. Feierli<strong>ch</strong> trat der Sekretarius in die Mitte zwis<strong>ch</strong>en<br />

beide Heere, und einen Augenblick lang verhielten si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die Indianer still, verwundert<br />

über sein Gehabe und gespannt, was nun folgen mo<strong>ch</strong>te. Im Namen des Kaisers Don Carlos –<br />

»und vor allen hier versammelten Zeugen« – forderte Godoy sie auf, Frieden zu halten. Die Indianer<br />

verstanden keine Silbe und hielten ihn für einen Zauberer. Um seine magis<strong>ch</strong>en Kräfte ni<strong>ch</strong>t<br />

wirksam werden zu lassen, erhoben sie plötzli<strong>ch</strong> wildes Geheul, stürmten vor und übers<strong>ch</strong>ütteten<br />

ihn und das kastilis<strong>ch</strong>e Heer mit Pfeilen, Speeren und Steinwürfen. Der Sekretarius rannte um sein<br />

Leben. Da gab Cortés die Losung aus: »Mit Gott und Santiago zum Sieg!«<br />

Hell s<strong>ch</strong>metterte der Trompeter Rodríguez auf seiner lilienförmigen Kupfertrompete das Angriffssignal.<br />

Die Kastilier stürmten heran. Die Front der Otomis geriet ins Wanken. Die Indianer<br />

zogen si<strong>ch</strong> in eine S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t zurück, verfolgt vom kastilis<strong>ch</strong>en Heer. Dort lauerten dreißigtausend<br />

Otomis und Tlatepocas. Zu spät erkannte Cortés, dass sie in einen Hinterhalt geraten waren; weder<br />

Kavallerie no<strong>ch</strong> Artillerie konnten eingesetzt werden. Verhängnisvoller als die Überzahl der<br />

Feinde war die Enge des Geländes; hier musste Mann gegen Mann kämpfen, einer gegen zehn.<br />

Auf die Dauer würden die Spanier ihren Gegnern unterliegen. S<strong>ch</strong>on sanken Soldaten blutüberströmt<br />

zu Boden. Der Reiter und Musikus Rodrigo Morón wurde aus dem Sattel gerissen; sein<br />

Pferd wurde getötet und von den Tlatepoca wegges<strong>ch</strong>leppt. Im Triumph s<strong>ch</strong>leppten die Tlatepoca<br />

das tote mens<strong>ch</strong>enfressende Hirs<strong>ch</strong>ungeheuer aus dem Kampfberei<strong>ch</strong>, und no<strong>ch</strong> am selben<br />

Abend wollten sie es zerhackten und die Gliedmaßen dieses Wundertieres an sämtli<strong>ch</strong>e Städte<br />

des Landes s<strong>ch</strong>icken.<br />

Die Lage wurde kritis<strong>ch</strong>. Die Totonaken wi<strong>ch</strong>en immer mehr zurück; ihre Führer verzagten<br />

und glaubten ni<strong>ch</strong>t mehr an den Sieg. Marina hielt ihnen die Allma<strong>ch</strong>t des Christengottes vor, der<br />

die Seinen nie im Sti<strong>ch</strong> ließ. Sie war überall, ri<strong>ch</strong>tete den Mut der Zweifelnden auf, wagte si<strong>ch</strong> ins<br />

di<strong>ch</strong>teste S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tgewühl, ermahnte und feuerte an. Und wie von höherer Ma<strong>ch</strong>t bes<strong>ch</strong>ützt, ritzte<br />

kein Pfeil ihr die Haut.<br />

Da ritt Diego de Ordás an Cortés heran und rief: »Gebt mir ein Fähnlein von fünfzig Mann,<br />

i<strong>ch</strong> will den Engpass dur<strong>ch</strong>bre<strong>ch</strong>en!«<br />

»Ihr wollt Eu<strong>ch</strong> opfern, Ordás!« Cortés winkte ab. »Ein nutzloses Opfer!«<br />

Do<strong>ch</strong> Ordás bestand darauf. Cortés spürte, dass der alte Ritter die viellei<strong>ch</strong>t letzte Chance<br />

wahrnehmen wollte.<br />

»Gut!«, rief er. »In Gottes Namen, nehmt sie Eu<strong>ch</strong>!« Und na<strong>ch</strong> rückwärts gewandt rief er:<br />

»Freiwillige zu Ordás! Se<strong>ch</strong>zig Mann! Pikeniere mit Langspießen und im Harnis<strong>ch</strong>!«<br />

Das Wunder ges<strong>ch</strong>ah: Unter Führung des Ordás s<strong>ch</strong>ritt der Pulk – gestaffelt, die Lanzen gefällt<br />

und von S<strong>ch</strong>ilden verdeckt – unaufhaltsam gegen die Verteidiger der S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t vor. In doppelter<br />

Halbmondformation drangen sie vor den Bergeins<strong>ch</strong>nitt, formierten si<strong>ch</strong> dort gekonnt mit einer<br />

Zangenbewegung zum pikensta<strong>ch</strong>eligen Verteidigungskarree und drangen – fur<strong>ch</strong>terregend laut<br />

stampfend – immer tiefer in die S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t und gegen die Verteidiger vor. Ein neuer Pfeilhagel der


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 105<br />

Tlatepoca und Otomis versu<strong>ch</strong>te sie aufzuhalten. Einige der Vorwärtsdrängenden wurden an Arm<br />

oder Bein getroffen und strau<strong>ch</strong>elten, aber das laute Klirren der an Harnis<strong>ch</strong> und Helm abprallenden<br />

Pfeile verunsi<strong>ch</strong>erten die Indianer. Der kra<strong>ch</strong>ende Widerhall stampfender Glei<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ritte versetzte<br />

die vordersten Gegner in Panik, und immer weiter mars<strong>ch</strong>ierten die kampferprobten spanis<strong>ch</strong>en<br />

Soldaten vorwärts, errei<strong>ch</strong>ten bald die Verteidiger. Lanzen drangen in Fleis<strong>ch</strong>; die Pikeniere<br />

stießen dabei animalis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>reie aus; Gefallene sanken dahin, s<strong>ch</strong>rien, stöhnten, rö<strong>ch</strong>elten.<br />

Wieder stießen die Lanzen zu, wieder und wieder. Da ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> Mutlosigkeit unter den Indianern<br />

breit. Sie wi<strong>ch</strong>en, drängten zurück, flohen dur<strong>ch</strong> den Engpass.<br />

Die Azteken griffen die Spanier immer wieder an. Angeführt von einem Offizier, der ein S<strong>ch</strong>ild mit dem roten<br />

Kreuz des Ordens von Santiago de Compostela trägt – mögli<strong>ch</strong>erweise Cortés selber –, erkämpfen si<strong>ch</strong> die ers<strong>ch</strong>öpften<br />

Conquistadoren ihren Weg aus einem Hinterhalt (American Heritage Publishing).<br />

Der Dur<strong>ch</strong>bru<strong>ch</strong> war gelungen! Die Tlatepoca und Otomis wurden von Ordás und seinen<br />

Leuten unter Vivat- und Victoria-Rufen verfolgt. Das übrige Christenheer drängte na<strong>ch</strong> in die Tiefe<br />

der S<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>t, die si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> kaum einer Meile zur tri<strong>ch</strong>terförmigen Öffnung weitete, und bald<br />

lag eine ausgedehnte Ebene vor ihnen. Hier war die Artillerie ni<strong>ch</strong>t mehr zur Untätigkeit verdammt,<br />

hier konnte die Kavallerie eine Attacke reiten, hier konnten die Fußsoldaten einen Wald von Hellebarden<br />

aufpflanzen. S<strong>ch</strong>nell und mit Umsi<strong>ch</strong>t nutzte Cortés sämtli<strong>ch</strong>e Vorteile des Geländes, gruppierte<br />

seine kleine Armee neu und ließ den Trompeter Rodríguez sein lilienförmiges Kupferinstrument<br />

ers<strong>ch</strong>allen:<br />

»Mit Gott und Santiago zum Sieg!«<br />

Ein neuer Angriff begann. Das Kriegsges<strong>ch</strong>rei der Indianer wurde nun vom Donnern der Ges<strong>ch</strong>ütze<br />

übertönt. Die Kugeln der Singenden Na<strong>ch</strong>tigall mähten Hunderte von Tlaxcalteken nieder.<br />

Als ges<strong>ch</strong>lossene Abteilung sprengten die Reiter mit angelegten Speeren ins Gewühl, überrannten,<br />

zerstampften, rissen Bres<strong>ch</strong>en in die feindli<strong>ch</strong>en Reihen. Na<strong>ch</strong> kurzem, wütendem Kampf war<br />

die S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t ents<strong>ch</strong>ieden. Trotz zehnfa<strong>ch</strong>er Überma<strong>ch</strong>t bra<strong>ch</strong> der Widerstand des Feindes. Die<br />

Indianer zogen si<strong>ch</strong> eilig zurück. Cortés ließ zum Sieg blasen und untersagte die Verfolgung; seine<br />

Leute hatten kaum no<strong>ch</strong> Kraftreserven.<br />

Der Jubel der Sieger war groß. In das freudige Ges<strong>ch</strong>metter der Trompete (Sebastián<br />

Rodríguez blies si<strong>ch</strong> fast die Lunge aus) sowie der Mus<strong>ch</strong>elhörner und Holzpauken der Totonaken<br />

mis<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Choräle und triumphierende Siegeslieder der rothäutigen Bundesgenossen.<br />

Die Soldaten umarmten si<strong>ch</strong>, weinten und la<strong>ch</strong>ten vor Glück, no<strong>ch</strong> einmal davongekommen<br />

zu sein. Sie hoben Ordás auf ihre S<strong>ch</strong>ilde, denn seinem Wagemut war der Dur<strong>ch</strong>bru<strong>ch</strong> und damit


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 106<br />

der Sieg zu verdanken. Dann trugen sie johlend Cortés dur<strong>ch</strong>s Lager. Au<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>öne Amazone<br />

María de Estrada wurde gefeiert, weil sie so zielsi<strong>ch</strong>er ihre Lanze eingesetzt hatte. Ihr Gatte, der<br />

S<strong>ch</strong>önhändige, verging fast vor Stolz über sol<strong>ch</strong> ein Weib! Der Kriegshäuptling Tehu<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ritt mit<br />

verbundenem S<strong>ch</strong>ädel dur<strong>ch</strong> die Reihen der Totonaken und wusste ni<strong>ch</strong>t genug des Lobes über<br />

Marina zu sagen, denn als alle zweifelten, hatte sie ihm geweissagt, dass der Christengott die Seinen<br />

ni<strong>ch</strong>t im Sti<strong>ch</strong> ließe. Auf Vors<strong>ch</strong>lag der Totonaken wurde zu guter Letzt au<strong>ch</strong> Doña Marina, La<br />

Lengua, auf das S<strong>ch</strong>ilderda<strong>ch</strong> gehoben und feierli<strong>ch</strong> umhergetragen.<br />

Unweit des S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tfeldes ragte aus der Ebene ein Hügel empor, der einen weiten Blick ins<br />

Land gewährte und si<strong>ch</strong> gut zur Verteidigung eignete. Dort, unterhalb des Hügels, ließ Cortés das<br />

Na<strong>ch</strong>tlager aufs<strong>ch</strong>lagen. Um seine Leute bei Stimmung zu halten, stiftete er das letzte Fass Alicante.<br />

Mundvorräte zu verteilen gab es ni<strong>ch</strong>t mehr; s<strong>ch</strong>on seit zwei Tagen hungerte das Heer.<br />

Gegen Abend und trotz der Müdigkeit streiften Cortés, Alvarado, Luis Marín, Olíd,<br />

Domínguez und Lares auf der Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> Proviant umher. Sie fanden nur ein leeres Dorf. Die<br />

Reiter bra<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t viel von ihrem Ausritt heim. Außer Maisku<strong>ch</strong>en und einer Anzahl Truthennen<br />

nur no<strong>ch</strong> einige essbare, gut gemästete Hunde. Wütend vor Enttäus<strong>ch</strong>ung ließ er mehrere Dörfer<br />

niederbrennen. Cortés würde später seinem S<strong>ch</strong>reiber Francisco López de Gómera für den Kaiser<br />

diktieren:<br />

»Wir überfielen zwei Dörfer, wo i<strong>ch</strong> viele naturales tötete, und später no<strong>ch</strong> ein drittes Dorf,<br />

das, wie i<strong>ch</strong> später erfuhr, mehrere tausend Einwohner hatte. Das Volk darin lief ohne Wehr und<br />

Waffen aus den Häusern heraus, die Weiber und Kinder nackt, alles dur<strong>ch</strong>einander. Anfangs<br />

ma<strong>ch</strong>ten wir viele nieder, do<strong>ch</strong> als i<strong>ch</strong> sah, dass sie keinen Widerstand leisteten, kamen s<strong>ch</strong>on<br />

einige der Ältesten des Dorfes zu mir und baten mi<strong>ch</strong> demütig, i<strong>ch</strong> solle ihnen keinen S<strong>ch</strong>aden<br />

mehr antun. Sie wollen si<strong>ch</strong> Eurer Majestät ergeben und meine guten Freunde sein...«<br />

Im Lager waren inzwis<strong>ch</strong>en die Verwundeten versorgt worden. Ines Florín musste man<strong>ch</strong>en<br />

Verband anlegen, Isabel Rodríguez wurde ni<strong>ch</strong>t müde, Wundsegen zu spre<strong>ch</strong>en, und La Bailadora<br />

half beim Samariterdienst. Kaum ein Soldat, der ohne Pfeilwunde oder Speersti<strong>ch</strong> davongekommen<br />

war. S<strong>ch</strong>weißtriefend erklärte der verrückte Physikus, er wisse ni<strong>ch</strong>t, wo ihm der Kopf stehe,<br />

er werde no<strong>ch</strong> wahnsinnig, denn s<strong>ch</strong>on ginge ihm das Indianers<strong>ch</strong>malz aus! Do<strong>ch</strong> von dem Apotheker<br />

abgesehen klagte niemand. Selbst die S<strong>ch</strong>werverwundeten bemühten si<strong>ch</strong>, ihr Stöhnen zu<br />

unterdrücken. Und die anderen, na<strong>ch</strong>dem sie si<strong>ch</strong> hatten verbinden lassen, sangen Seguidillas<br />

und Cantarcillos oder würfelten am Wa<strong>ch</strong>tfeuer um ihr Glück. Die Kost war s<strong>ch</strong>mal; dafür gab es<br />

Gesang und Tanz. Bis in die Morgenstunden wurde der Sieg gefeiert, und das Lärmen der Tamburine<br />

und Kastagnetten verstummte die ganze Na<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t. Der Bergmann und Tanzmeister Ortiz,<br />

der Musikus Morón, dessen Pferd von den Tlatepoca zerstückelt worden war, und Meister Pedro<br />

de la harpa, überboten einander auf ihren wimmernden Gitarren und erfüllten die Na<strong>ch</strong>t mit heimatli<strong>ch</strong>en<br />

Melodien. Flores, des rothaarigen Sängers Stimme rollte bes<strong>ch</strong>wörend. La Bailadora wurde<br />

verlangt und ers<strong>ch</strong>ien, mit Messings<strong>ch</strong>eib<strong>ch</strong>en behängt, in kurzem, kaum bis zu den Knien rei<strong>ch</strong>enden<br />

Flitterröck<strong>ch</strong>en und einem unterhalb der Brüste straff ges<strong>ch</strong>nürten Mieder. Mit nackten<br />

S<strong>ch</strong>enkeln tanzte sie wie ein Engel Fra Angelicos. Der junge Fähnri<strong>ch</strong> Antonio Villareal drehte si<strong>ch</strong><br />

dazu zierli<strong>ch</strong> mit der olivenblei<strong>ch</strong>en Isabel de Ojeda im Kreise. Heute, endli<strong>ch</strong>, war sie seine Braut!<br />

Als nämli<strong>ch</strong> Diego de Ordás von den Soldaten auf den S<strong>ch</strong>ild gehoben worden war, eilte sein<br />

Mündel, Isabel de Ojeda, zu ihm und beglückwüns<strong>ch</strong>te ihn. Mit Wehmut sah er sie an und sagte:<br />

»Den Engpass habe i<strong>ch</strong> gewonnen, aber Eu<strong>ch</strong> verloren, Doña Isabel!«<br />

»Wie meint Ihr das?«, fragte sie.<br />

»Nun so. Als i<strong>ch</strong> auf den Flas<strong>ch</strong>enhals zustürmte, tat i<strong>ch</strong> ein Gelübde. Wie Abraham, der<br />

seinen Sohn opferte, wollte i<strong>ch</strong>...« Ordás verstummte verlegen.<br />

»Ihr wollt mi<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t opfern?«, fragte sie lä<strong>ch</strong>elnd. »Und wenn, so hoffe i<strong>ch</strong>, dass Ihr mir<br />

Zeit lassen werdet, mein Mäd<strong>ch</strong>entum zu beweinen.«<br />

»Fragt Villareal, ob er Eu<strong>ch</strong> Zeit dazu lässt!«, sagte der alte Ritter grimmig und fügte hinzu:<br />

»Wenn i<strong>ch</strong> hier davonkomme, zahle i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> die Aussteuer, Isabel. Villareal ist ein eitler Mens<strong>ch</strong> –<br />

do<strong>ch</strong> Ihr liebt ihn, das weiß i<strong>ch</strong>!«<br />

Und Ordás winkte Villareal heran, der si<strong>ch</strong> wie meist in Isabels Nähe herumdrückte. Er legte<br />

ihre Hände ineinander.<br />

»Sie ist erst siebzehn, Fähnri<strong>ch</strong>!«, sagte er mit knarrender Stimme. »Gebt ihr Zeit, ihr<br />

Mäd<strong>ch</strong>entum zu beweinen!«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 107<br />

*<br />

Während das Heer seinen Sieg feierte, ließ Cortés mehrere tlaxcaltekis<strong>ch</strong>e Gefangene verhören.<br />

Do<strong>ch</strong> die Krieger blieben stumm und starrten bei Marinas oder Jerónimo de Aguilárs Fragen in die<br />

Ferne; einige spuckten sogar vor ihnen aus. Cortés befahl, sie zu foltern und ließ den Profos Pero<br />

Osorio kommen. Der Stockmeister des Heeres war ein früherer Matrose mit bus<strong>ch</strong>igen, über der<br />

Nasenwurzel zusammengewa<strong>ch</strong>senen Augenbrauen und breitem s<strong>ch</strong>warzem Bart. Er hatte si<strong>ch</strong><br />

seinerzeit freiwillig zu diesem Amt gemeldet. So wie es in jeder Armee strafbare Übertretungen<br />

gibt, so notwendig ist der Vollzug der Urteile. Pero Osorio ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> keine großen Gedanken<br />

darüber. Er hatte im Lager von Veracruz dem Büttel Escudero und dem Steuermann Cermeño auf<br />

den Galgen geholfen und dem Gonzalo de Umbría die Füße abgehauen. Und man<strong>ch</strong>mal muss<br />

man au<strong>ch</strong> zur Folter greifen; s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> brau<strong>ch</strong>t man die Informationen der Verbre<strong>ch</strong>er. So fehlte<br />

es ihm ni<strong>ch</strong>t an Folterwerkzeugen: Daumens<strong>ch</strong>rauben, Pe<strong>ch</strong>löffel, spanis<strong>ch</strong>e Stiefel, Zungenreißer,<br />

Halseisen und Brandmaleisen, Ketten und Henkersstricke konnten au<strong>ch</strong> in einem Heerzug<br />

mitgeführt werden.<br />

Während der Folterung standen Aguilár und Marina neben ihm. Marina war eine barmherzige<br />

S<strong>ch</strong>wester, die einer Amputation beiwohnt. Sie hatte starke Nerven und litt ni<strong>ch</strong>t mit den Opfern,<br />

denn das Fur<strong>ch</strong>tbare, das sie mit ansah, ges<strong>ch</strong>ah zum Segen ihres Volkes und auf Wuns<strong>ch</strong><br />

ihres Gottes. Ihr Gott, der Heilbringer Cortés, wüns<strong>ch</strong>te Antworten auf die Fragen, die sie und<br />

Aguilár an die Gefolterten stellten: Wie viele Otomis, wie viele Tlatepoca kämpften gegen die Spanier<br />

in dieser S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t? Wer sind ihre Anführer? Wie viel Mann kann Tlaxcala aufstellen? Warum<br />

haben die Tlatepoca zwei seiner Sendboten auf dem Opfertis<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet? und derglei<strong>ch</strong>en<br />

Fragen mehr.<br />

Zwei der Gefolterten starben mit Hohnworten auf den Lippen. Die anderen widerstanden<br />

lange; do<strong>ch</strong> als ihre Kraft und der Trotz erlahmten, redeten sie und verrieten ihre Heimat, um der<br />

Qual endli<strong>ch</strong> ein Ende zu ma<strong>ch</strong>en.<br />

Beglückt überbra<strong>ch</strong>te Marina ihre Aussagen dem Cortés, während Aguilár ein Vaterunser<br />

spra<strong>ch</strong> und Osorio die Gefangenen erwürgte.<br />

*<br />

Die Prinzen des Königshauses hatten si<strong>ch</strong> vor der Felsenskulptur in Chapultepec versammelt.<br />

Au<strong>ch</strong> Moctezuma wurde mit seinen Krüppeln, Narren und den Würdenträgern erwartet, war aber<br />

no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t eingetroffen. Da trat Prinzessin Maisblume hinzu. Sie war in einen bis an die bloßen<br />

S<strong>ch</strong>enkel rei<strong>ch</strong>enden Lederpanzer gekleidet, und ihre Stirn s<strong>ch</strong>mückte eine Federkrone, wie sie<br />

beim Ballspiel getragen wurde. Sie hatte ges<strong>ch</strong>meidige Lederhands<strong>ch</strong>uhe an, die au<strong>ch</strong> den Unterarm<br />

bis an den Ellenbogen bedeckten. In den Händen hielt sie zwei Kauts<strong>ch</strong>ukbälle und zwei polierte<br />

Gesi<strong>ch</strong>tsmasken aus s<strong>ch</strong>warzem Lavagestein.<br />

Heiter ging sie auf ihren Bruder zu, den Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmten, rei<strong>ch</strong>te ihm einen Ball und<br />

eine Gesi<strong>ch</strong>tsmaske und forderte ihn auf, mit ihr Ball zu spielen. Er solle als Erster mit ihr spielen,<br />

sagte sie, denn sie habe vor, mit allen Prinzen der Reihe na<strong>ch</strong> zu spielen. Das war den jungen<br />

Männern re<strong>ch</strong>t. Die Sänfte des Königs war no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t auf dem Lagunendamm zu sehen; also war<br />

no<strong>ch</strong> Zeit. Alle folgten der Prinzessin in das kleine Ballspielhaus auf der obersten Terrasse des<br />

Felsengartens.<br />

Der S<strong>ch</strong>önling Xoctemecl-Purpurkrani<strong>ch</strong>, der diensteifrige, allzu gefällige Gefährte des Von-<br />

Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmten mit der abges<strong>ch</strong>nittenen Nase, war diesem behilfli<strong>ch</strong>, die Rüstung des Ballspieles<br />

anzulegen. Als der Prinz si<strong>ch</strong> seiner Kleidungsstücke entledigt, den Lederpanzer aber no<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t angelegt hatte, stand plötzli<strong>ch</strong> Maisblume bei ihm und fragte, um wel<strong>ch</strong>en Preis sie spielen<br />

wollten. Und während sie dies fragte, entdeckte sie an seinem S<strong>ch</strong>lüsselbein den gelbroten Abdruck<br />

von fünf Fingern.<br />

Er war es! Ihr Bruder hatte sie vergewaltigt!<br />

Der Erdboden s<strong>ch</strong>ien unter ihr zu versinken. Sie glaubte zu taumeln. Do<strong>ch</strong> sie behielt si<strong>ch</strong> in<br />

der Gewalt. Selbst ihre Augen verrieten ni<strong>ch</strong>t den Sturm, der in ihr tobte. No<strong>ch</strong> immer lä<strong>ch</strong>elnd,


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 108<br />

verließ sie das Ballspielhaus und sagte, sie ginge jetzt den Preis des Spieles holen und werde bald<br />

zurück sein. Die Prinzen warteten und vertrieben si<strong>ch</strong> mit Albereien und S<strong>ch</strong>erzen die Zeit. Allmähli<strong>ch</strong><br />

aber wunderten sie si<strong>ch</strong>, dass die Prinzessin ni<strong>ch</strong>t zurückkehrte.<br />

Für Maisblume war die Welt zusammengebro<strong>ch</strong>en. Wie dur<strong>ch</strong> Nebel sah sie das kluge Antlitz<br />

des alten Zauberers und hörte seine Worte. Sein erster Rat hatte ihr zur Aufklärung des Rätsels<br />

verholfen. Nun wollte sie au<strong>ch</strong> seinen zweiten Rat befolgen. »Vollbringe eine S<strong>ch</strong>reckenstat,<br />

um der Welt deine Uns<strong>ch</strong>uld zu zeigen!«, hatte er gesagt. Unerhörtes war ihr ges<strong>ch</strong>ehen, nur Unerhörtes<br />

konnte sie reinwas<strong>ch</strong>en.<br />

In ihrem S<strong>ch</strong>lafgema<strong>ch</strong> entnahm sie einem Edelsteinkäst<strong>ch</strong>en sämtli<strong>ch</strong>e Kleinodien. Dann<br />

wählte sie unter ihren Obsidianmessern das s<strong>ch</strong>ärfste und öffnete das Lederwams. Mit si<strong>ch</strong>erem<br />

Griff hielt sie ihre linke Brust und s<strong>ch</strong>nitt sie mit einer s<strong>ch</strong>nellen Bewegung ab. S<strong>ch</strong>nell legte sie<br />

das weiße, blutige Fleis<strong>ch</strong> in das Edelsteinkäst<strong>ch</strong>en und s<strong>ch</strong>loss den Deckel.<br />

Blutbesudelt wankte sie zur Tür und rief ihre Frauen. Bevor ihr die Sinne s<strong>ch</strong>wanden, befahl<br />

sie einer Sklavin, das Edelsteinkäst<strong>ch</strong>en ihrem Bruder zu bringen, dem Von-Göttern-Bes<strong>ch</strong>irmten.<br />

»Sage ihm«, hau<strong>ch</strong>te sie, »i<strong>ch</strong> lasse ihm ausri<strong>ch</strong>ten: ›Da dir mein Leib so süß war, nimm<br />

au<strong>ch</strong> dies!‹«<br />

*<br />

In der Seele Moctezumas war die Sorge ni<strong>ch</strong>t verstummt. Ein Eilbote aus dem Roten Berg hatte<br />

beri<strong>ch</strong>tet: »Der Grüne Stein besitzt eine magis<strong>ch</strong>e Dose. Wenn er hineinsieht, sagt sie ihm, was<br />

die Mens<strong>ch</strong>en denken und warnt ihn vor fals<strong>ch</strong>en Wegen na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán!« Und au<strong>ch</strong> vom Küstenland<br />

war eine Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t eingetroffen. Die Eroberer hätten in Cempoala Götterbildnisse und Opferbluts<strong>ch</strong>alen<br />

zertrümmert und von den Plattformen der Tempel hinuntergestürzt. Sind das die<br />

Zei<strong>ch</strong>en der Zeit? Inzwis<strong>ch</strong>en dringen die mä<strong>ch</strong>tigen Fremden gegen Tlaxcala vor! Wer sind sie?<br />

No<strong>ch</strong> immer war es ni<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>er, ob sie Sterbli<strong>ch</strong>e oder Himmlis<strong>ch</strong>e sind. Do<strong>ch</strong> es hat Tote gegeben;<br />

die bärtigen Krieger sind offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t unsterbli<strong>ch</strong>. Und ihr Anführer? Götter können<br />

au<strong>ch</strong> in den Leib eines Mens<strong>ch</strong>en fahren und ihn beseelen. Der Grüne Stein beri<strong>ch</strong>te überall von<br />

seinem Herrn, einem mä<strong>ch</strong>tigen Herrs<strong>ch</strong>er jenseits des Ostmeeres, dem alle Länder dort tributpfli<strong>ch</strong>tig<br />

seien. Was kann er, Moctezuma, tun? Soll er seine Heere gegen die Eindringlinge aufbieten?<br />

No<strong>ch</strong> ist vieles unklar, no<strong>ch</strong> muss er abwarten.<br />

Und damit ni<strong>ch</strong>t genug! Eine weitere, fast no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>limmere Neuigkeit wartete auf den König.<br />

Glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> seiner Ankunft auf dem S<strong>ch</strong>loss von Chapultepec war sein Sohn, der Von-Göttern-<br />

Bes<strong>ch</strong>irmte, vor ihn hingetreten und hatte ihm weinend das Edelsteinkäst<strong>ch</strong>en hingehalten. Der<br />

Prinz klagte si<strong>ch</strong> an, erzählte, dass er seiner S<strong>ch</strong>wester Gewalt angetan habe und öffnete das<br />

Edelsteinkäst<strong>ch</strong>en. Und Moctezuma sah die blutige Brust seiner To<strong>ch</strong>ter.<br />

Nun erst begriff er alles. Die Götterbilder stürzten und rissen Mexico mit in die Tiefe. Mit beiden<br />

Händen bedeckte er sein Gesi<strong>ch</strong>t. Sein Zorn erlahmte an seinem S<strong>ch</strong>merz. Die Pfeile der<br />

Himmlis<strong>ch</strong>en hatten sein Herz dur<strong>ch</strong>bohrt. Den s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zenden Knaben, der um Sühne und Tod<br />

winselte, ließ er am Leben. Aber er befahl den Priestern, die Ehe der Verführten und ihres Verführers<br />

zu heiligen, no<strong>ch</strong> am selben Tag. Und er bestimmte, dass seine zweitälteste To<strong>ch</strong>ter Königin<br />

von Tezcoco werden solle. Nur einen Tag später heiratete der Edle Betrübte die Prinzessin Goldkolibri,<br />

do<strong>ch</strong> der hatte den Hort von Tezcoco Maisblume zuliebe na<strong>ch</strong> Mexico gebra<strong>ch</strong>t.<br />

*<br />

Cortés saß mit dem Astrologen Botello in seinem Zelt. Von draußen hörte man das Siegesfest der<br />

Soldaten, do<strong>ch</strong> die beiden Männer erörterten überirdis<strong>ch</strong>e Dinge, redeten von Elongationen, Quadraturen,<br />

sphäris<strong>ch</strong>en Dreiecken und Himmelszei<strong>ch</strong>en, von Konjunktionen, Oppositionen und<br />

Ephemeriden. Als Marina eintrat, erhob si<strong>ch</strong> der alte Italiener, setzte seinen s<strong>ch</strong>warzen Spitzhut<br />

auf und verließ mit bedä<strong>ch</strong>tigen S<strong>ch</strong>ritten das Zelt. Auf dem Tis<strong>ch</strong> lagen Papiere mit geheimnisvollen<br />

Zei<strong>ch</strong>en und Sternkonstellationen. Ein Öllämp<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>welte und gab trüben S<strong>ch</strong>ein. No<strong>ch</strong> trüber,<br />

das spürte Marina, war die Stimmung des Geliebten. Sie erstattete Beri<strong>ch</strong>t über die Aussagen<br />

der Gefolterten. Cortés nickte.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 109<br />

»Das nä<strong>ch</strong>ste Mal werden es also mehr als se<strong>ch</strong>zigtausend sein!«, murmelte er.<br />

»Und wieder wird der Christengott siegen!«, rief sie zuversi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>. »Was hat der Sterndeuter<br />

verkündet?«<br />

»Gutes«, sagte Cortés einsilbig.<br />

»Und denno<strong>ch</strong>...?«, fragte sie.<br />

»Und denno<strong>ch</strong> erdrückt mi<strong>ch</strong> die Verantwortung. Aber das wissen nur du, i<strong>ch</strong> und Gott«, sagte<br />

er und strei<strong>ch</strong>elte ihr über das blaus<strong>ch</strong>warze Haar. Eine Weile s<strong>ch</strong>wiegen sie. Laut drang der<br />

Lärm der Tanzenden von draußen herein.<br />

»Die dort wissen ni<strong>ch</strong>ts!«, fuhr er fort. »Sie mögen sorglos sein... sie können tanzen... sie<br />

kreisen umher wie die unbeeindruckten Sterne, die mir Gutes, allzu Gutes wahrsagen.«<br />

»Warum allzu Gutes?«, fragte Marina.<br />

»S<strong>ch</strong>limmes kann man für<strong>ch</strong>ten, Gutes erhoffen. Do<strong>ch</strong> auf mein Gewissen:<br />

An allzu Gutes wagt man ni<strong>ch</strong>t zu glauben. I<strong>ch</strong> bewundere diese tapferen<br />

Tlatepoca, dass sie aber meine Freunde werden sollen, wie Botello sagt – das<br />

kann i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t glauben.«<br />

»O Don Hernándo, Ihr wisst selbst no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, wer Ihr seid! Aber i<strong>ch</strong> weiß<br />

es«, sagte Marina und küsste ihm die Falten von der Stirn.<br />

*<br />

Botello Puerto de Plata,<br />

Astrologe in Cortés' Heer<br />

Zwei Tage später kam es zur Ents<strong>ch</strong>eidungss<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t. Die Sterne hatten wahr gespro<strong>ch</strong>en, Botello<br />

hat sie ri<strong>ch</strong>tig gedeutet. Unerhört war der Sieg, unerhört aber au<strong>ch</strong> das Glück des großen Abenteurers.<br />

Die Niederlage Tlaxcalas wurde dur<strong>ch</strong> Weißer Sommervogel verursa<strong>ch</strong>t, die s<strong>ch</strong>öne Knäbin.<br />

Und das kam so:<br />

Die Heere des Feldherrn Lanzenträger und des Prinzen Goldmaske hatten si<strong>ch</strong> zur Verteidigung<br />

des Rei<strong>ch</strong>es vereinigt. Im Krieg gegen die weißen Eindringlinge sollte aller Zwist zurückstehen.<br />

Aber Gefühle und Leidens<strong>ch</strong>aften sind oft stärker als Vernunft. Goldmaske war zu Ohren gekommen,<br />

dass Pimoti den Hermaphroditen in seinem Zelte beherberge. Goldmaske forderte von<br />

seinem Nebenbuhler, dass der ihm Weißer Sommervogel unverzügli<strong>ch</strong> ausliefere. Der Lanzenträger<br />

verweigerte das höhnis<strong>ch</strong>. Inzwis<strong>ch</strong>en hatten s<strong>ch</strong>on Geplänkel mit der Vorhut des Christenheers<br />

begonnen, und bald tobte die S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t. Pimoti befehligte seine Streitma<strong>ch</strong>t an der Front. Da<br />

ließ Prinz Goldmaske das Zelt Pimotis umstellen, Weißer Sommervogel herausholen und zu si<strong>ch</strong><br />

in sein Zelt bringen. Pimoti wurde von seinen Wä<strong>ch</strong>tern unterri<strong>ch</strong>tet, dass ihm Weißer Sommervogel<br />

geraubt wurde. Darauf verließ Pimoti mit seinen vierzigtausend Kriegern das S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tfeld. Der<br />

Abzug des größeren Heeresteils entmutigte die Zurückbleibenden. Die Kartaunen und Falkonetten<br />

rissen mörderis<strong>ch</strong>e Lücken in ihre Reihen. Als Alvarado und Sandoval den linken Flügel der<br />

Tlatepoca umgehen konnten und ihnen mit hundert Mann in den Rücken fielen, war kein Halten<br />

mehr. Die Tlaxcalteken und Otomis flohen zurück in die Stadt.<br />

Prinz Goldmaske musste si<strong>ch</strong> vor dem Hohen Rat Tlaxcalas re<strong>ch</strong>tfertigten, dabei s<strong>ch</strong>ob er<br />

alle S<strong>ch</strong>uld auf die Verräterei des Lanzenträgers und erbot si<strong>ch</strong>, die S<strong>ch</strong>arte wieder auszuwetzen.<br />

Do<strong>ch</strong> der Rat der Alten hatte den Glauben an den Sieg und die Kriegskunst von Goldmaske und<br />

Pimoti verloren. Er wollte das Orakel der Priester befragen, ob die Fremden viellei<strong>ch</strong>t do<strong>ch</strong> Götter<br />

seien. Denn gegen Götter zu kämpfen wäre aussi<strong>ch</strong>tslos!<br />

Die Priester zogen si<strong>ch</strong> ins innere Heiligtum des großen Tempels zurück, um na<strong>ch</strong> Stunden<br />

zu verkünden:<br />

»Die weißen Männer sind keine Götter! Do<strong>ch</strong> sind sie Söhne der Sonne und s<strong>ch</strong>öpfen ihre<br />

Kraft aus dem Sonnenli<strong>ch</strong>t; daher lassen sie si<strong>ch</strong> nur bei Mondli<strong>ch</strong>t besiegen.«<br />

Der Orakelspru<strong>ch</strong> war voller Widersprü<strong>ch</strong>e. Denn Kämpfe bei Na<strong>ch</strong>t waren bei den Völkern<br />

Anahuacs seit alters her von den Göttern untersagt – und nun rieten sie dazu! Prinz Goldmaske<br />

trat mit Leidens<strong>ch</strong>aft dafür ein, den Rat zu befolgen. Au<strong>ch</strong> sein hundertjähriger Großvater Wespenring<br />

und dessen Partei stimmten dafür, die Standarte des Freistaates, den goldenen Adler mit den<br />

ausgebreiteten Flügeln, no<strong>ch</strong> einmal zum Sieg zu tragen.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 110<br />

Umsonst warnte Wollring:<br />

»No<strong>ch</strong> mehr Blut wird fließen, und es wird uns ni<strong>ch</strong>ts nützen. Wir alle werden an der Bluts<strong>ch</strong>uld<br />

tragen, gegen den Himmel kämpfen zu wollen. Wenn unsere Krieger, unsere tapferen Söhne<br />

und Enkel, wenn die Blüte Tlaxcalas dahingemäht ist, werdet ihr beklagen, dass ihr ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on<br />

früher auf meine Worte gehört habt!«<br />

Do<strong>ch</strong> die Abstimmung zeigte, dass die Partei Wespenrings si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>setzen konnte.<br />

Sofort na<strong>ch</strong> der Sitzung verließ Prinz Goldmaske die Hauptstadt, um den nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Überfall<br />

vorzubereiten.<br />

Auf diesem Sti<strong>ch</strong> in der phantastis<strong>ch</strong>en Manier<br />

des ausgehenden 18. Jahrhunderts laus<strong>ch</strong>en die<br />

Kaziken von Tlascala den Kriegern, die Cortez<br />

gefangengenommen, aber wieder freigelassen<br />

hatte, damit sie seineFriedensvors<strong>ch</strong>läge in die<br />

Stadt brä<strong>ch</strong>ten.<br />

*<br />

In der Politik zählt ni<strong>ch</strong>t der Plan, sondern nur das<br />

Ergebnis! S<strong>ch</strong>on am nä<strong>ch</strong>sten Tag bekam Wollring<br />

die Genugtuung, dass Wespenring und seine Anhänger<br />

ihren Bes<strong>ch</strong>luss umstoßen mussten. Ein unerwarteter<br />

Gast war in Tlaxcala eingetroffen. Was er<br />

zu sagen hatte, war Grund genug, mit den Söhnen<br />

der Sonne Frieden zu s<strong>ch</strong>ließen. Der große<br />

Otomiheld, der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian, der dem Tod<br />

geweihte Kriegsgefangene der Mexica, war von<br />

Moctezuma in seine Berge und Täler mit dem Auftrag<br />

heimges<strong>ch</strong>ickt worden, Tlaxcala zum Kampf gegen die weißen Götter aufzusta<strong>ch</strong>eln.<br />

Vollzählig saß der Rat der Alten auf den Staatssesseln, um den berühmten, betrauerten und<br />

ges<strong>ch</strong>mähten großen Sohn Tlaxcalas anzuhören, der nun als Führer einer Gesandts<strong>ch</strong>aft<br />

Moctezumas in die Stadt gekommen war. Als er mit seinem stolzen mexicanis<strong>ch</strong>en Gefolge in den<br />

Saal trat, wurde er kühl begrüßt. Man wusste nur zu gut, dass er als Vorsteher des Hauses der<br />

Speere in Guatemala, Nicaragua und Yucatán mexicanis<strong>ch</strong>e Truppen befehligt hatte, wusste au<strong>ch</strong>,<br />

dass er ein Günstling des Zornigen Herrn war. Der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian war ein Landesverräter,<br />

der si<strong>ch</strong> beim Erzfeind einges<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elt, dabei Feldherrnrang und Rei<strong>ch</strong>tümer errungen hatte.<br />

Seine Worte gaben seinen Verä<strong>ch</strong>tern Re<strong>ch</strong>t. Gekleidet als Mexica, spra<strong>ch</strong> er als Mexica<br />

und zeigte kein S<strong>ch</strong>uldbewusstsein. Wörtli<strong>ch</strong> wiederholte der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian die Rede des<br />

Zornigen Herrn und erzählte s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>t, wie Moctezuma, besorgt na<strong>ch</strong> den drei Niederlagen der<br />

Tlaxcalteken, ihm befohlen habe, den Hohen Rat zu ermahnen, im Kampfe gegen die weißen<br />

Männer ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>zulassen. Als Belohnung stellte Moctezuma die Beendigung des Se<strong>ch</strong>zigjährigen<br />

Krieges in Aussi<strong>ch</strong>t.<br />

Einige s<strong>ch</strong>leuderten ihm das Wort »Verräter« entgegen. Der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian blieb unbeeindruckt.<br />

Er sagte, das seien Moctezumas Worte. Er aber, der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian, warne<br />

den Hohen Rat, dem Willen des Erzfeindes na<strong>ch</strong>zugeben. »Die Fü<strong>ch</strong>se sind klüger als der Wolf«,<br />

rief er, »sie erkennen am Wuns<strong>ch</strong> des Wolfs, was gut für sie ist!«<br />

»Hört ni<strong>ch</strong>t auf den Kne<strong>ch</strong>t Moctezumas!«, rief ein Anhänger der Kriegspartei.<br />

»Man kann das Gesi<strong>ch</strong>t eines Mens<strong>ch</strong>en kennen, aber seine Gedanken ni<strong>ch</strong>t! I<strong>ch</strong> bin kein<br />

Kne<strong>ch</strong>t Moctezumas, i<strong>ch</strong> bin sein Gefangener! Wenn i<strong>ch</strong> für ihn Krieg in den Ländern des Südens<br />

führte, dann au<strong>ch</strong>, um sein Vertrauen zu gewinnen.«<br />

»Und warum bist du jetzt hier? Um uns Moctezumas Willen aufzuzwingen und sein Rei<strong>ch</strong> auf<br />

Tlaxcala auszudehnen?«<br />

»Niemand liebt sein Vaterland, weil es groß ist, sondern weil es das Seine ist. Nur wenn i<strong>ch</strong><br />

Moctezumas Vertrauen genieße, kann i<strong>ch</strong> für Eu<strong>ch</strong> eintreten. Hört auf mi<strong>ch</strong>!« Und er ri<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong>


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 111<br />

empor und fuhr fort: »Verräter nennt ihr mi<strong>ch</strong>, weil i<strong>ch</strong> Moctezuma verrate und mein Volk zu retten<br />

tra<strong>ch</strong>te? O ihr mä<strong>ch</strong>tigen Väter, ihr edlen Herren, nie wieder werdet ihr Freunde finden wie die<br />

weißen Krieger, nie wieder sol<strong>ch</strong>e Bundesgenossen, vor denen der König Mexicos zittert. Mit ihnen<br />

werdet ihr unbesiegbar sein, mit ihnen könnt ihr die Stadt inmitten des Sees in Trümmer sinken<br />

lassen!«<br />

Jäh trat ein Ums<strong>ch</strong>wung ein. Er riss die Versammlung mit. Die Wirkung dieser Worte war unbes<strong>ch</strong>reibli<strong>ch</strong>.<br />

Alle gegneris<strong>ch</strong>en Stimmen verstummten. Der Ges<strong>ch</strong>liffene Obsidian wurde vom<br />

Rat der Alten mit dem Ehrentitel Retter Tlaxcalas beda<strong>ch</strong>t. Die mexicanis<strong>ch</strong>en Begleiter des S<strong>ch</strong>arfen<br />

Obsidians verließen daraufhin finsteren Gesi<strong>ch</strong>ts den Saal.<br />

Zwei Abgesandte des Hohen Rates von Tlaxcala wurden ins Feldlager des Prinzen Goldmaske<br />

ges<strong>ch</strong>ickt, mit dem Befehl, den Überfall zu unterlassen. Sie unterri<strong>ch</strong>teten ihn vom Verlauf<br />

der Sitzung, vom überwältigenden Eindruck der Rede des S<strong>ch</strong>arfen Obsidians und vom Bes<strong>ch</strong>luss<br />

des Rats, Frieden und Bundesgenossens<strong>ch</strong>aft mit den Söhnen der Sonne zu s<strong>ch</strong>ließen. Man wolle<br />

sie in der Hauptstadt festli<strong>ch</strong> empfangen und ihnen adelige Tö<strong>ch</strong>ter des Landes zu Gemahlinnen<br />

geben.<br />

Prinz Goldmaske la<strong>ch</strong>te wild. »Muss au<strong>ch</strong> meine s<strong>ch</strong>öne S<strong>ch</strong>wester eine Hündin der Weißen<br />

werden?«<br />

Die Abgesandten erwiderten verlegen, der Rat der Alten werde gewiss Sorge dafür tragen,<br />

dass Prinzessin Rabenblume den vornehmsten der Sonnensöhne zum Gemahl erhalte. Da s<strong>ch</strong>lug<br />

die unbändige Heiterkeit des Prinzen in Raserei um. Er ließ die beiden Boten des Hohen Rates<br />

gefangen nehmen und betrieb eifriger als zuvor die Vorbereitungen für den nä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Überfall.<br />

*<br />

In den Tropen haben Tag und Na<strong>ch</strong>t nahezu zwölf Stunden; na<strong>ch</strong> Sonnenuntergang sank ras<strong>ch</strong><br />

die Na<strong>ch</strong>t herein. Gegen neun Uhr abends s<strong>ch</strong>wamm die rotgelbe Kugel des aufsteigenden Vollmonds<br />

über der Glets<strong>ch</strong>erkuppe des großen Vulkans von Tlaxcala. Die Ebene lag weiß im Bodennebel.<br />

No<strong>ch</strong> immer befand si<strong>ch</strong> das Christenlager unterhalb des Opfertempels. Cortés hatte die<br />

Wa<strong>ch</strong>en verdoppelt.<br />

Einer der Posten, der Armbrusts<strong>ch</strong>ütze Juan Soares, das Auge des Heeres genannt, bemerkte<br />

im reflektierenden Nebelgrau einen S<strong>ch</strong>atten. Soares kniff die Augen zusammen und kauerte<br />

unbewegt. Dann erkannte er einen herans<strong>ch</strong>lei<strong>ch</strong>enden Indianer. Er ließ ihn auf S<strong>ch</strong>ussweite<br />

herankommen und legte die Muskete an. Aber au<strong>ch</strong> die Rothaut hatte gute Augen und ma<strong>ch</strong>te ihm<br />

Zei<strong>ch</strong>en. Glei<strong>ch</strong> darauf erkannte Soares, dass es eine Indianerin war. Sie war aufgestanden und<br />

kam auf ihn zu. Willig ließ sie si<strong>ch</strong> von ihm gefangen nehmen; Waffen hatte sie keine.<br />

Sie mo<strong>ch</strong>te dreißig Jahre alt sein und trug die Haartra<strong>ch</strong>t und Kleidung der Süßduftenden,<br />

der indianis<strong>ch</strong>en Huren.<br />

»Führt mi<strong>ch</strong> zu Eurem General«, stammelte sie auf Spanis<strong>ch</strong>.<br />

Soares starrte sie an. »Ihr redet Spanis<strong>ch</strong>, Señora?«, fragte er.<br />

»Ja. S<strong>ch</strong>nell... zum General!... Wi<strong>ch</strong>tig!... Sehr wi<strong>ch</strong>tig!«, stammelte sie.<br />

Soares führte sie dur<strong>ch</strong> das Lager. Soldaten, die in Gruppen herumlungerten, stellten obszöne<br />

Betra<strong>ch</strong>tungen über das Indianerweib an und riefen ihr Anzügli<strong>ch</strong>keiten na<strong>ch</strong>. Do<strong>ch</strong> einer, der<br />

alte Domenico Mejía Hinojora, der Enkel der Räuberin Mejía, stieß einen S<strong>ch</strong>rei des Erkennens<br />

aus:<br />

»Doña Elvira! Madre de Dio! Ihr?«<br />

Sie blieb stehen, starrte ihm ins Gesi<strong>ch</strong>t. Plötzli<strong>ch</strong> erkannte sie ihn. »Hinojora!«, flüsterte sie<br />

und klammerte si<strong>ch</strong> an seinen Arm.<br />

Nahebei saß der Bü<strong>ch</strong>senspanner Santisteban und versah Pfeils<strong>ch</strong>äfte mit Flugfedern.<br />

Hinojora rief: »Santisteban! S<strong>ch</strong>aut her, Doña Elvira ist wieder da!«<br />

Kaum hatte Santisteban sie erblickt, stürzte er auf sie zu, küsste ihre Hände und s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zte.<br />

Sie war ja eine der wenigen Überlebenden des Blutbades von Matanzas auf Kuba.<br />

»Mein Gott«, rief er aus, »zehn Jahre ist es her! Wir hielten Eu<strong>ch</strong> für tot.«<br />

Damals war ein Sklavensegler gestrandet. Indianer, vom Unglück angelockt, wollten die<br />

dreißig weißen S<strong>ch</strong>iffbrü<strong>ch</strong>igen über den Fluss setzen, ma<strong>ch</strong>ten die Wehrlosen jedo<strong>ch</strong> nieder und


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 112<br />

ließen nur zwei Frauen und drei Männer am Leben – Hinojora, Santisteban und Lope Cano. Doña<br />

Elvira, des S<strong>ch</strong>önhändigen Gattin, lebte ein Jahr lang als Nebenfrau bei einem Karaibenhäuptling<br />

und wurde dann aufs Festland verkauft.<br />

»Lebt Cano?«, fragte sie weinend.<br />

Der alte Santisteban wurde verlegen; er stand dem Konflikt hilflos gegenüber. Hinojora war<br />

weniger zartfühlend: »Ja, Señora, Cano lebt. Er ist hier. I<strong>ch</strong> will Eu<strong>ch</strong> zu ihm führen!«<br />

Ein Zittern ging dur<strong>ch</strong> ihren Körper. Sie nahm seinen Arm, war von der guten Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t ers<strong>ch</strong>reckt;<br />

sie hatte eine andere Antwort erwartet und rief nun ängstli<strong>ch</strong>: »Nein! Später!« Und zu<br />

Soares gewandt, sagte sie: »Zum caudillo!... S<strong>ch</strong>nell!... Wi<strong>ch</strong>tiges...!«<br />

Soares führte sie zu Cortés.<br />

Der Generalkapitän litt seit zwei Tagen an Fieber. Die Malaria hatte ihn gepackt. Die Mittel<br />

des verrückten Apothekers Leonel de Cerro bra<strong>ch</strong>ten ni<strong>ch</strong>t viel Erlei<strong>ch</strong>terung; mit eisernem Willen<br />

zwang Cortés seinen kranken Leib zum Gehorsam. Seit dem Sieg hatte er s<strong>ch</strong>on mehrere Rekognoszierungsritte<br />

unternommen, hatte Boten abgefertigt und Boten empfangen, hatte sogar den<br />

erneuten Versu<strong>ch</strong> einer Meuterei in seinem Heer dur<strong>ch</strong> kluge Vorkehrungen im Keim erstickt –<br />

kurz, es fehlte ihm an der Zeit, krank zu sein. Au<strong>ch</strong> war ihm ni<strong>ch</strong>t verborgen geblieben, dass si<strong>ch</strong><br />

das zersprengte Tlaxcaltekenheer wieder sammelte und näherrückte. Daraufhin hatte Cortés einen<br />

Boten mit Friedensvors<strong>ch</strong>lägen (einen vom Sekretarius Godoy ges<strong>ch</strong>riebenen Brief) an Prinz<br />

Goldmaske gesandt und war bald in Begleitung einer Gesandts<strong>ch</strong>aft des Prinzen zurückgekehrt.<br />

Statt auf das Friedensangebot einzugehen, hatten die Gesandten dreihundert Truthühner und<br />

zweihundert Körbe mit Maisku<strong>ch</strong>en gebra<strong>ch</strong>t. Sie ließen über Marina ausri<strong>ch</strong>ten, dies sei kein<br />

Friedensges<strong>ch</strong>enk. Und auf die Gegenfrage hatten sie geantwortet: »Prinz Goldmaske weiß, dass<br />

die Söhne der Sonne hungern. Sein Herz wüns<strong>ch</strong>t, dass sie gut genährt auf den Tempelhöfen<br />

Tlaxcalas tanzen sollen, bevor wir ihre Edelsteine Huitzilopo<strong>ch</strong>tli opfern. Darum s<strong>ch</strong>ickt er diese<br />

Speisen.« Da sie Hunger litten, wurden die Truthühner ras<strong>ch</strong> gegessen. Mit vollem Bau<strong>ch</strong> sah die<br />

Welt s<strong>ch</strong>on wieder besser aus, und viele Soldaten waren der Meinung, dass sie es den Rothäuten<br />

s<strong>ch</strong>on no<strong>ch</strong> zeigen würden.<br />

Das Ges<strong>ch</strong>enk aber hatte die Mutlosen unter ihnen no<strong>ch</strong> mutloser, die Aufsässigen no<strong>ch</strong><br />

aufsässiger gema<strong>ch</strong>t. S<strong>ch</strong>on länger waren viele der Soldaten verunsi<strong>ch</strong>ert. Als Abenteurer hatten<br />

sie davon geträumt, das Eldorado zu finden, das Goldland; mit S<strong>ch</strong>ätzen beladen wollten sie heim<br />

na<strong>ch</strong> Andalusien, Kastilien, Navarra, viellei<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Kuba oder in eine der neuen hispanis<strong>ch</strong>en<br />

Kolonien ziehen. Von einer Hazienda hatten sie geträumt, mit Sklaven und Dieners<strong>ch</strong>aft,<br />

und von s<strong>ch</strong>önen Frauen (denen sie rei<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>muck zu Füßen legen konnten und die dafür ihnen<br />

zu Füßen liegen würden!). Und was hatten sie gefunden? Steine, Hunger und Elend! Krieg<br />

und eine unübersehbare Überma<strong>ch</strong>t feindli<strong>ch</strong>er naturales bedrohte sie. Seit Pedro de la harpa, als<br />

er mit den Leuten des Garay gefangen worden war, die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t von den dreizehnhundert Mann<br />

und den a<strong>ch</strong>tzehn S<strong>ch</strong>iffen des Statthalters von Kuba, Don Diego de Velásquez, verbreitet hatte,<br />

die ihnen unter dem Oberbefehl seines Neffen Pánfilo de Narváez in den Rücken fallen sollten, seit<br />

der stolze Fürst des Roten Berges, der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen, ein überwältigendes Bild vom Rei<strong>ch</strong>tum<br />

und der mär<strong>ch</strong>enhaften Ma<strong>ch</strong>t Moctezumas entworfen und die Uneinnehmbarkeit der Stadt Teno<strong>ch</strong>titlán-Mexico<br />

ges<strong>ch</strong>ildert hatte, vor allem au<strong>ch</strong>, seit die drei siegrei<strong>ch</strong>en Gefe<strong>ch</strong>te gezeigt hatten,<br />

wie s<strong>ch</strong>wer Siege über diese Völker zu erringen waren – hob die Rebellion wieder ihr Haupt.<br />

Abenteuerli<strong>ch</strong>es war geglückt, do<strong>ch</strong> eine Fortsetzung des Abenteuers ers<strong>ch</strong>ien vielen wie eine<br />

frevelhafte Herausforderung des S<strong>ch</strong>icksals. Die heimli<strong>ch</strong>en Gegner des Generalkapitäns ma<strong>ch</strong>ten<br />

ihrem Unmut Luft; ni<strong>ch</strong>t nur im Flüsterton. Der bucklige Narr Cervantes fand willige Zuhörer, wenn<br />

er groteske Tänze vollführte und vom liebreizenden Reigen sang, den alle (ja, sie alle!) auf den<br />

Plattformen der Opfertempel bald würden singen und tanzen müssen.<br />

Cortés war kaum überras<strong>ch</strong>t, als ein großer <strong>Teil</strong> des Heeres den sofortigen Rückzug an die<br />

Küste verlangte. Er beriet si<strong>ch</strong> mit Velásquez de León und Alvarado, den treusten seiner Mitstreiter.<br />

»I<strong>ch</strong> glaube es ni<strong>ch</strong>t«, rief Cortés erregt.<br />

»Don Hernándo, einst stand i<strong>ch</strong> gegen Eu<strong>ch</strong>«, sagte Velásquez de León. »Von damals kenne<br />

i<strong>ch</strong> Eure Gegner!«<br />

»Ja, ja, Flores, Tirado, Cervantes und ein paar andere.«<br />

»Au<strong>ch</strong>! Do<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>wätzer Tarifa de los servicios, der Hausierer Tirado, der Sänger Flores,


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 113<br />

der Narr Cervantes – alles sind kleine Leute, jeder viellei<strong>ch</strong>t als Aufwiegler gefährli<strong>ch</strong>, aber ni<strong>ch</strong>t<br />

als Renegat und Führer dieser Armee. Sie werden von Höherstehenden ermutigt...«<br />

»Ihr meint Olíd?«, fragte Cortés fiebergerötet.<br />

»Olíd und Avila!«, ergänzte Velásquez de León.<br />

»I<strong>ch</strong> kann es ni<strong>ch</strong>t glauben!«, rief Cortés wieder.<br />

»Avila ist ni<strong>ch</strong>t mein Freund, das wisst Ihr. Aber sollte i<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>weigen, nur weil wir verfeindet<br />

sind?«, fragte Alvarado. »Do<strong>ch</strong> wenn Ihr Eu<strong>ch</strong> sträubt, mir zu glauben, Don Hernándo, so hört auf<br />

Velásquez de León. I<strong>ch</strong> habe Avila im Gesprä<strong>ch</strong> mit dem Lizentiaten Díaz belaus<strong>ch</strong>t und Worte<br />

vernommen, die keine Zweifel lassen.«<br />

»Genug! Keine Silbe mehr! I<strong>ch</strong> will es ni<strong>ch</strong>t wissen! Nein, und i<strong>ch</strong> will es ni<strong>ch</strong>t glauben!«, rief<br />

Cortés. »Und brä<strong>ch</strong>tet Ihr mir den s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>en Beweis...«<br />

Er unterbra<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>, blickte unwillig zum Eingang. Soares war eingetreten. Mit militäris<strong>ch</strong>er<br />

Kürze erstattete er Meldung, dass ihm eine Indianerin zugelaufen sei, und um wen es handle.<br />

Cortés hatte wahrli<strong>ch</strong> keine Zeit, krank zu sein. Er hatte aber au<strong>ch</strong> keine Zeit für mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e<br />

Anteilnahme an einem Einzels<strong>ch</strong>icksal. »Wartet draußen, Soares, aber s<strong>ch</strong>ickt Doña Elvira herein«,<br />

befahl er. Doña Elvira war ihm bekannt. Vor Jahren war sie eine der gefeierten S<strong>ch</strong>önheiten<br />

Kubas. Vage erinnerte er si<strong>ch</strong>. Aber ihm fehlte die Zeit, si<strong>ch</strong> weiterer Sentimentalitäten hinzugeben.<br />

Ohne Ums<strong>ch</strong>weife fragte er, was sie ihm brä<strong>ch</strong>te?<br />

In abgehackten Sätzen, kaum no<strong>ch</strong> der Mutterspra<strong>ch</strong>e mä<strong>ch</strong>tig, teilte sie mit, was sie im<br />

Tlaxcaltekenlager erfahren hatte. Heute gegen Mitterna<strong>ch</strong>t – im Mondli<strong>ch</strong>t, weil die Söhne der<br />

Sonne am Tage unbesiegbar wären – werde ein neuer Überfall stattfinden. Und sie erzählte von<br />

den Vorbereitungen und Aufstellung der feindli<strong>ch</strong>en Kräfte.<br />

Cortés überlegte kurz und erteilte Befehle. Alvarado und Velásquez de León stürmten hinaus.<br />

Dann rief er Soares zu si<strong>ch</strong>. »Steckt sie in ein Bad«, sagte er und entließ Doña Elvira mit einem<br />

Kopfnicken. Er hatte ihr spontan die Hand geben wollen, sie dann aber zurückgezogen, denn<br />

erst da hatte er bemerkt, wie s<strong>ch</strong>mutzstarrend Doña Elvira war.<br />

»Wir werden es Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vergessen«, sagte er steif und entließ sie mit einer Handbewegung,<br />

die besagte, sie könne nun gehen.<br />

»Ni<strong>ch</strong>t vergessen...«, wiederholte sie leise und s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> mit Soares davon.<br />

*<br />

Im Zelt des Lope Cano spielte si<strong>ch</strong> bald eine Tragikomödie ab. Der frühere Sklavenhändler war ein<br />

Bigamist! Ohne si<strong>ch</strong>er zu sein, dass seine in die Sklaverei vers<strong>ch</strong>leppte Gattin Elvira tot sei, hatte<br />

er die rei<strong>ch</strong>e Amazone María de Estrada geheiratet, die er vor dem Alligator gerettet hatte. Seit<br />

drei Tagen feierte er mit seinen Freunden Mansilla dem Durstigen, Vendella dem Dicken und<br />

Márquez dem Spieler seine unverglei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Frau und den letzten ents<strong>ch</strong>eidenden Sieg über die<br />

Tlatepoca. Denn wieder hatte si<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>öne Amazone hervorgetan, hatte unermüdli<strong>ch</strong> naturales<br />

mit ihrer Lanze dur<strong>ch</strong>bohrt. Mit Ruhm und Blut bedeckt, ließ sie si<strong>ch</strong> von ihrem Mann und seinen<br />

Kumpanen feiern.<br />

Hinojora, der Enkel der Räuberin, und der alte Santisteban kamen in Begleitung Doña Elviras<br />

herein. Sie hatte no<strong>ch</strong> die Indianerkleidung an. Unsi<strong>ch</strong>er und mit niederges<strong>ch</strong>lagenen Augen<br />

blieb sie am Zelteingang stehen.<br />

»Was bringt Ihr uns da? Habt Ihr eine Sklavin zu verkaufen?«, fragte Vendella der Dicke la<strong>ch</strong>end<br />

»Soll Cano sie s<strong>ch</strong>ätzen? Er versteht si<strong>ch</strong> ja darauf!« Der Spieler Márquez ki<strong>ch</strong>erte. Zum<br />

S<strong>ch</strong>önhändigen gewandt, sagte er:<br />

»Bestimmt den Preis, Cano! I<strong>ch</strong> mö<strong>ch</strong>te wissen, was sie wert ist.« Und na<strong>ch</strong> einem abs<strong>ch</strong>ätzigen<br />

Blick auf die Frau fügte er hinzu: »Viel kann es ni<strong>ch</strong>t sein.«<br />

Cano sah kurz auf das Indianerweib. »Keine zehn Kupferstücke – i<strong>ch</strong> kenne mi<strong>ch</strong> aus mit<br />

sol<strong>ch</strong>er Ware!«, rief er la<strong>ch</strong>end und angetrunken.<br />

»Ihr setzt den Preis nur so niedrig an, Cano, um sie billig kaufen zu können!«, gab der dicke<br />

Vendella zu bedenken.<br />

»I<strong>ch</strong> habe das Sklavenges<strong>ch</strong>äft aufgegeben. Aber die würde i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal umsonst neh-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 114<br />

men. Wäre sie ein Gaul, würde i<strong>ch</strong> sagen, dass sie reif für den S<strong>ch</strong>indanger ist, ohne ihr ins Maul<br />

zu sehen!«, erklärte Lope Cano.<br />

Die Indianerin s<strong>ch</strong>aute fassungslos und begann zu s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zen. Hilfe su<strong>ch</strong>end sah sie den alten<br />

Santisteban an.<br />

»Ja!«, sagte der verlegen. »Es ist so...« Mehr bra<strong>ch</strong>te er ni<strong>ch</strong>t über die Lippen.<br />

Da griff Domenico Mejía Hinojora ein, der Enkel der Räuberin. »Wir bringen Eu<strong>ch</strong> Euer Weib,<br />

Señor!«, meinte er lässig und mit unges<strong>ch</strong>minkter S<strong>ch</strong>adenfreude.<br />

Lope Cano verfärbte si<strong>ch</strong>. »Meine Frau sitzt hier!«, sagte er und zeigte auf María de Estrada.<br />

»Ri<strong>ch</strong>tig, Euer zweites Weib, ob sie aber überhaupt Euer Weib no<strong>ch</strong> ist, muss Pater Olmedo<br />

ents<strong>ch</strong>eiden!«, rief Hinojora. »Do<strong>ch</strong> Euer erstes Weib...«<br />

»... ist tot!«, sagte Cano ers<strong>ch</strong>reckt.<br />

»Nein, sie lebt, und Ihr wisst, dass Ihr lügt!«, s<strong>ch</strong>rie Hinojora ihn a. »Hier steht sie! Sie lebt!«<br />

Nun verlor au<strong>ch</strong> der alte Santisteban seine Verlegenheit. »Dies ist Doña Elvira«, sagte er<br />

vorwurfsvoll. »Wollt Ihr sie ni<strong>ch</strong>t begrüßen, Señor?«<br />

»Sán<strong>ch</strong>ez!«, flehte die Indianerin.<br />

Cano begann zu zittern. »I<strong>ch</strong> kenne dieses Weib... diese Frau ni<strong>ch</strong>t!«, stammelte er.<br />

María de Estrada hatte bisher still die Szene beoba<strong>ch</strong>tet. Jetzt bra<strong>ch</strong> sie in krampfhaftes La<strong>ch</strong>en<br />

aus und rief: »Sei verständig, Lope! Zahle die zehn Kupferstücke und behalte sie! Mi<strong>ch</strong> hast<br />

du jedenfalls verloren!«<br />

Do<strong>ch</strong> Cano wiederholte: »I<strong>ch</strong> kenne sie ni<strong>ch</strong>t!«<br />

María de Estrada erhob si<strong>ch</strong> und ging auf die Fremde zu, die no<strong>ch</strong> immer vers<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tert am<br />

Zelteingang stand. »Wisst Ihr mit Pferden umzugehen, Señora?«, fragte sie.<br />

»Nein«, erwiderte Doña Elvira s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zend.<br />

»I<strong>ch</strong> werde es Eu<strong>ch</strong> beibringen! Und jetzt heult ni<strong>ch</strong>t – es gibt S<strong>ch</strong>limmeres, als einen Mann<br />

zu verlieren«, sagte María mit bars<strong>ch</strong>er Güte. »Kommt nur herein! Ihr sollt in meinem Zelt bleiben!<br />

I<strong>ch</strong> will es so. Und ihn fragen wir überhaupt ni<strong>ch</strong>t! Auf ihn brau<strong>ch</strong>en wir au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t eifersü<strong>ch</strong>tig zu<br />

sein.«<br />

Seit diesem Tag lebte der S<strong>ch</strong>önhändige mit zwei Frauen. Do<strong>ch</strong> wurde er von seinen Kameraden<br />

ni<strong>ch</strong>t beneidet. Das Pferd der Amazone hatte es hinfort besser als er.<br />

*<br />

Das kleine Christenheer s<strong>ch</strong>webte no<strong>ch</strong> nie in so großer Gefahr. Zwei kastilis<strong>ch</strong>e Meilen westli<strong>ch</strong>,<br />

verborgen hinter Felsen und di<strong>ch</strong>tem Gehölz, lag das Feldlager der Tlatepoca. Mit ihrer Ortskenntnis<br />

und im S<strong>ch</strong>utz der Nebels<strong>ch</strong>waden wäre es ihnen lei<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong> gewesen, unbemerkt die Ebene<br />

zu dur<strong>ch</strong>queren, die Christen zu umzingeln und anzugreifen. Aber Doña Elvira hatte Cortés<br />

gewarnt, und nun wurde der Nebel sein Bundesgenosse. Vorsi<strong>ch</strong>tig s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en die Spanier voran,<br />

nahmen Deckung hinter hohen Kaktushecken und bra<strong>ch</strong>ten die Ges<strong>ch</strong>ütze in Stellung. Cortés hatte<br />

den Hauptleuten einges<strong>ch</strong>ärft, die Männer zu zwingen, lautlos hinter den Deckungen zu verweilen,<br />

bis er das Kommando zum Angriff gäbe.<br />

Von den Bergen begann eine kühle Brise zu wehen und vertrieb na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> den Nebel.<br />

Sie mussten ni<strong>ch</strong>t lange warten. Na<strong>ch</strong> kaum einer Stunde näherten si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>emenhafte S<strong>ch</strong>atten:<br />

Die Tlatepoca stiegen in die Ebene herab. Aufre<strong>ch</strong>t, aber geräus<strong>ch</strong>los – um von den Söhnen der<br />

Sonne, die sie weiter im Osten gelagert glaubten, ni<strong>ch</strong>t gehört zu werden – kamen sie heran. Im<br />

Mondli<strong>ch</strong>t funkelten die Rüstungen, Waffen und Standarten; s<strong>ch</strong>attenhafter Federkopfs<strong>ch</strong>muck<br />

bewegte si<strong>ch</strong> wippend vorwärts; wilde Helmmasken ragten auf, S<strong>ch</strong>ilde und Lanzen, Steinbeile,<br />

Speerbündel und kurze Bogen mit den gewundenen Sehnen wurden vorgetragen. Die Krieger trugen<br />

Wattepanzer, die der Häuptlinge aber waren aus Gold oder Silberplatten ges<strong>ch</strong>miedet und<br />

überhängt mit Kolibrifedern. Der Aufmars<strong>ch</strong> der Krieger nahm kein Ende!<br />

Man<strong>ch</strong>em aus dem Häuf<strong>ch</strong>en der wenigen Spanier, au<strong>ch</strong> den Tapferen, wurde bang beim<br />

Anblick dieser gewaltigen Armee. Herzen klopften laut unter den Rüstungen, und man<strong>ch</strong>es Stoßgebet<br />

stieg zum Himmel empor. Da endli<strong>ch</strong> kam der erlösende Befehl:<br />

»Mit Gott und Santiago zum Sieg!«, rief Cortés, und der Trompeter Rodríguez entlockte der<br />

lilienförmigen Kupfertrompete ein s<strong>ch</strong>metterndes Signal.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 115<br />

Der Kampf war kurz. Die Tlatepoca waren überras<strong>ch</strong>t und wussten ni<strong>ch</strong>t, wo der Feind si<strong>ch</strong><br />

befand. Blitze zuckten auf, und unsi<strong>ch</strong>tbare Mä<strong>ch</strong>te mähten sie nieder. Sie konnten si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wehren,<br />

da sie niemanden sahen, gegen den sie hätten kämpfen können. Links und re<strong>ch</strong>ts öffneten<br />

si<strong>ch</strong> die Feuers<strong>ch</strong>lünde, donnerten die Ges<strong>ch</strong>ütze. Die Mondna<strong>ch</strong>t, von der si<strong>ch</strong> Prinz Goldmaske<br />

den Sieg erhofft hatte, wurde ihm und seinen Kriegern zum Verderben. Sie wollten Mann gegen<br />

Mann kämpfen, do<strong>ch</strong> als sie endli<strong>ch</strong> den Feind erblickten, war er s<strong>ch</strong>on mitten unter ihnen. Die<br />

entsetzten Tlatepoca flü<strong>ch</strong>teten, und die Christen verfolgten die Fliehenden und metzelten nieder,<br />

bis sie vom Morden müde waren.<br />

Der Sieg hatte nur wenige Verwundete und keinen Toten gekostet. Mit dem Sieg starb au<strong>ch</strong><br />

die Rebellion. Und nur der Narr Cervantes betrauerte sie.<br />

Am Morgen des folgenden Tages ers<strong>ch</strong>ienen fünfzig Abgesandte des Prinzen Goldmaske<br />

vor Cortés. Sie überbra<strong>ch</strong>ten ein Friedensangebot. Cortés befahl, jedem der fünfzig Gesandten die<br />

re<strong>ch</strong>te Hand abzuhacken und s<strong>ch</strong>ickte die Verstümmelten an Goldmaske zurück. Er ließ ausri<strong>ch</strong>ten:<br />

»Bringt eurem Häuptling in Erinnerung, dass der Sieger bestimmt, wann Frieden sein soll!«<br />

Der Apotheker Leonel de Cerro musste dem S<strong>ch</strong>arfri<strong>ch</strong>ter Osorio einen Stärkungstrank<br />

brauen, so ers<strong>ch</strong>öpft war er.<br />

*<br />

Gegen Mittag trafen hohe Würdenträger im Feldlager ein, Abgesandte des Rates der Alten von<br />

Tlaxcala. Sie s<strong>ch</strong>wenkten kleine Fahnen als Zei<strong>ch</strong>en des Friedens. Prinz Goldmaske führte sie an,<br />

im opalisierend s<strong>ch</strong>immernden Türkis-Feders<strong>ch</strong>muck des Vorstehers des Hauses der Speere: Gesi<strong>ch</strong>t<br />

und Körper violett bemalt und begleitet von seinen vornehmsten Kriegshäuptlingen, Adlern,<br />

Jaguaren und Räu<strong>ch</strong>erpriestern, war er als Spre<strong>ch</strong>er der Gesandts<strong>ch</strong>aft ausersehen. Er kniete vor<br />

dem weißen Heerführer nieder, küsste ihm Hände und Füße und bat ihn im Namen Tlaxcalas um<br />

Frieden und Bundesgenossens<strong>ch</strong>aft. Er nahm alle S<strong>ch</strong>uld für vergangene Feinds<strong>ch</strong>aften auf si<strong>ch</strong> –<br />

habe er die Fremden für Freunde Moctezumas gehalten. Er bat, an seine künftige Treue zu glauben,<br />

und bot si<strong>ch</strong> selbst und seine Begleiter als Geiseln an. Cortés und die anderen weißen Männer<br />

mögen nun in der Stadt Tlaxcala Quartier nehmen. Goldmaske ließ Nahrungsmittel und Goldges<strong>ch</strong>enke<br />

überrei<strong>ch</strong>en (selbst für die Pferde, die Hirs<strong>ch</strong>ungeheuer, hatte er Truthähne, Fleis<strong>ch</strong><br />

und Brot mitgebra<strong>ch</strong>t). Zum S<strong>ch</strong>luss ließ er fünf Sklaven heranführen und spra<strong>ch</strong> zu Cortés:<br />

»O Sohn der Sonne, du S<strong>ch</strong>wert der Götter! Wenn du ein stürmis<strong>ch</strong>er Gott bist, so empfange<br />

die fünf Sklaven und verzehre sie! Wenn du ein stiller Gott bist, so gestatte, dass wir di<strong>ch</strong> mit Kopal<br />

beräu<strong>ch</strong>ern und mit Quetzalfedern behängen! Bist du aber ein Mens<strong>ch</strong>, so nimm diese Wa<strong>ch</strong>teln,<br />

Maisku<strong>ch</strong>en und Honigäpfel an als Nahrung für di<strong>ch</strong> und die deinen!«<br />

Cortés umarmte den Prinzen und versi<strong>ch</strong>erte ihm, dass er keine Mens<strong>ch</strong>en esse. Die Frage,<br />

ob er ein Gott sei, ließ er offen. Dann ließ er einen vom Sekretarius Godoy aufgestellten Friedensund<br />

Bundesvertrag verlesen und bes<strong>ch</strong>wören. Die Einladung, in die Stadt Tlaxcala einzuziehen,<br />

wurde angenommen. Cortés sagte zu Prinz Goldmaske: »I<strong>ch</strong> verließ das Rei<strong>ch</strong> des Sonnenaufgangs<br />

und zog über das Meer aus Mitleid mit den armen, von Moctezuma unterjo<strong>ch</strong>ten Völkern!<br />

I<strong>ch</strong> bin gekommen, die Tyrannei auszurotten und dem blutigen Gemetzel der Mens<strong>ch</strong>enopferung<br />

ein Ende zu ma<strong>ch</strong>en!«<br />

Der abenteuerli<strong>ch</strong>e Ausgang und Erfolg beraus<strong>ch</strong>te und blendete ihn. Der Weg zur Wasserstadt<br />

Teno<strong>ch</strong>titlán und ins Land seiner Sehnsu<strong>ch</strong>t – das Land des Goldes und der S<strong>ch</strong>recken – lag<br />

nun offen vor ihm.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 116<br />

Tlamamas<br />

10. Tlaxcala<br />

»In der Stadt Tlaxcala gibt es einen großen Markt, auf dem tägli<strong>ch</strong> mehr als 30 000 Mens<strong>ch</strong>en<br />

zusammenkommen, die da kaufen und verkaufen, und wo man allerlei Arten von<br />

Stoffen feilhält, Kleinodien aus Gold, Silber und Edelsteinen, vor allem aber feine Federstickereien,<br />

wie man sie in der ganzen Welt zierli<strong>ch</strong>er und feiner ni<strong>ch</strong>t finden kann.«<br />

(Hernán Cortés, 2. Brief an Kaiser Karl V. vom 30. Oktober 1520)<br />

Am Tag des Friedenss<strong>ch</strong>lusses leu<strong>ch</strong>tete die Sonne in die Täler Tlaxcalas, li<strong>ch</strong>t und hell wie jeden<br />

Tag zuvor – und do<strong>ch</strong> vergoldeten ihre Strahlen eine Sterbende. Es erging Tlaxcala, wie es einst<br />

dem blühenden Garten Anahuac ergangen war.<br />

Viele Generationen zuvor hatte si<strong>ch</strong> ein wunders<strong>ch</strong>öner Vogel mit blauer Brust und zwei ges<strong>ch</strong>weiften<br />

S<strong>ch</strong>wanzfedern am S<strong>ch</strong>ilfsee gezeigt. Und der König ließ dur<strong>ch</strong> Ausrufer verkünden,<br />

dass das Volk dem Wundervogel – dem Götterspe<strong>ch</strong>t, wie er ihn nannte – Nester bauen und ihn<br />

füttern müsse; und wer ihn töte, sei mit der Todesstrafe bedroht. Da hegte und pflegte das Volk<br />

den herrli<strong>ch</strong>en Vogel, bis Frauen, Kinder und Greise dur<strong>ch</strong> Hungersnot hingerafft wurden – denn<br />

der Vogel nährte si<strong>ch</strong> von Mais, und weil er unersättli<strong>ch</strong> war, hatte er bald alle Maispflanzungen<br />

verni<strong>ch</strong>tet.<br />

Ebenso hegte und pflegte Tlaxcala den weißen Mann, den unbesiegbaren Kampfgenossen<br />

gegen den Feind im Westen. Dass die Stadt den Tod zu Tis<strong>ch</strong> geladen hatte, ahnte sie ni<strong>ch</strong>t.<br />

*<br />

Tlaxcala rüstete si<strong>ch</strong>, die Fremden zu empfangen. Se<strong>ch</strong>s Tage vergingen, und die ersehnten Gäste<br />

trafen ni<strong>ch</strong>t ein. Zwar waren tägli<strong>ch</strong> Boten ins Feldlager ges<strong>ch</strong>ickt worden, freundli<strong>ch</strong>e Mahner,<br />

Überbringer dringender Einladungen. Au<strong>ch</strong> Prinz Goldmaske und andere Große des Freistaats<br />

gingen mehrmals den Weg zum Tempelhügel, begleitet von Sklaven mit Körben voll Wildbret, Tomaten,<br />

Kakaos<strong>ch</strong>oten, Kaktusfeigen und Agavesirup. Sie bes<strong>ch</strong>enkten au<strong>ch</strong> die Hirs<strong>ch</strong>ungeheuer<br />

mit Truthähnen, Fleis<strong>ch</strong> und Brot. Do<strong>ch</strong> stets wurden sie vertröstet, immer wieder aufs Neue, während<br />

die Stadt voller Ungeduld wartete.<br />

Die Sonnensöhne verstanden es, si<strong>ch</strong> bitten zu lassen! S<strong>ch</strong>on welkten die Girlanden in den<br />

blumenges<strong>ch</strong>mückten Straßen. Da ma<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> der Hohe Rat und die vier Könige Tlaxcalas –<br />

Wespenring, Wollring, der Listige Marder und der Blutige S<strong>ch</strong>ild – auf den Weg. In Sänften die<br />

einen, auf dem Rücken von Lastträgern die anderen, nahten sie dem Lager, ein Haufen greiser<br />

Bittsteller.<br />

S<strong>ch</strong>on von weitem wurden sie erblickt. Wie eine farbens<strong>ch</strong>illernde Raupe kro<strong>ch</strong> die Prozession<br />

heran. Oben auf dem Hügel, dessen kleinen Opfertempel die Kastilier den Turm des Sieges<br />

getauft hatten, la torre de la victoria, erwartete Cortés mit seinen Feldobristen und den Vornehmsten<br />

der totonakis<strong>ch</strong>en Heerführer - Mamexi, Tehu<strong>ch</strong> und Cuhextecatl - die Ankunft der Besu<strong>ch</strong>er.<br />

Der Zug ma<strong>ch</strong>te am Fuß des Hügels Halt. Die Alten stiegen aus den Sänften, glitten von den<br />

S<strong>ch</strong>ultern der Träger, ordneten si<strong>ch</strong> zu Zweien und erklommen gemä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> den kleinen Hügel. Sie<br />

trugen s<strong>ch</strong>warze Stäbe und Fä<strong>ch</strong>er zum Zei<strong>ch</strong>en der Unterwerfung. Eine der Sänften aber wurde<br />

vorangetragen. In ihr saß Wespenring, der blinde Hundertjährige. Vor Cortés angelangt, musste er<br />

aus der Sänfte gehoben werden. Vergli<strong>ch</strong>en mit dem Prunk, den die Abgesandten Moctezuma<br />

entfalteten, war Wespenring bes<strong>ch</strong>eiden gewandet. Sein geierhafter Kopf bedurfte keines silbernen<br />

Stirnbands, um alle Blicke auf si<strong>ch</strong> zu lenken. Eine Aura von Größe und Erhabenheit umgab<br />

die gebre<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gestalt.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 117<br />

»Wer ist das?«, fragte Cortés.<br />

Als Tehu<strong>ch</strong> und Cuhextecatl vor Wo<strong>ch</strong>en mit dem s<strong>ch</strong>riftli<strong>ch</strong>en Friedensangebot das dunkelgrüne<br />

Samtbarett, den Degen, die Muskete und die Armbrust dem Senat Tlaxcalas als Ges<strong>ch</strong>enk<br />

der weißen Götter überbra<strong>ch</strong>t hatten, war es Wespenring gewesen, der am eifrigsten gegen die<br />

fremden, goldfressenden Ungeheuer gewettert und errei<strong>ch</strong>t hatte, dass der Freistaat blutige Abwehr<br />

bes<strong>ch</strong>loss. Tehu<strong>ch</strong> und Cuhextecatl wussten aber au<strong>ch</strong> von der Sinnesänderung zu beri<strong>ch</strong>ten,<br />

die in der ents<strong>ch</strong>eidenden Ratsversammlung dur<strong>ch</strong> die mutige Rede des S<strong>ch</strong>arfen Obsidians<br />

bewirkt worden war.<br />

Die vier Könige Tlaxcalas verbrannten Kopalkugeln und begrüßten Cortés auf indianis<strong>ch</strong>e<br />

Weise. Au<strong>ch</strong> der Hundertjährige beugte si<strong>ch</strong>, von zwei Unterhäuptlingen gestützt, bis zur Erde,<br />

berührte den Boden mit seiner zittrigen Hand und führte sie dann zum Kuss an die dünnen Lippen.<br />

Cortés eilte zu ihm, half ihm auf und umarmte ihn.<br />

Da spra<strong>ch</strong> der Hundertjährige: »O Sohn der Sonne! Das Opfer, das i<strong>ch</strong> dir bringe, ist mein<br />

Herz! Seit i<strong>ch</strong> ein Kind war, wusste mein Herz, dass aus dem Land des Sonnenaufgangs die Enkel<br />

unseres Herrn Quetzalcoatl, der als Morgenstern am Himmel leu<strong>ch</strong>tet, wiederkehren würden, dass<br />

sie zurückkommen würden in unser Land, und dass sie herrs<strong>ch</strong>en würden auf dem Goldthron ihrer<br />

Ahnen. Und do<strong>ch</strong> hat mein Herz es ni<strong>ch</strong>t fassen können, hat si<strong>ch</strong> gesträubt zu glauben, dass du<br />

der Wunderbare seiest, der Verkündete! Jetzt aber weiß i<strong>ch</strong> es, denn du hast dein Volk gezü<strong>ch</strong>tigt<br />

wie ein Gott und bist unser Bes<strong>ch</strong>ützer und Wohltäter! Und i<strong>ch</strong> segne, dass mir gegönnt ist, diesen<br />

Tag zu erleben! Nun aber will i<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong> sehen, o weißer tlatoani!«<br />

Er trat ganz nah an Cortés heran und tastete mit seinen zitterigen Fingern langsam über<br />

Stirn, Augen, Nase, Mund und Kinn des Generalkapitäns. Cortés hielt still wie eine Bildsäule, während<br />

der Alte si<strong>ch</strong> das Ertastete einzuprägen versu<strong>ch</strong>te. Hunderte s<strong>ch</strong>auten zu und waren vom<br />

Ernst der Stunde ergriffen.<br />

Der Alte lä<strong>ch</strong>elte freudig: »Jetzt erblicke i<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong>, jetzt kenne i<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong>, jetzt habe i<strong>ch</strong> di<strong>ch</strong> in<br />

meinem Herzen, o Sohn der Sonne!«<br />

Dann beklagte er die Verzögerung des zugesagten Besu<strong>ch</strong>s und bes<strong>ch</strong>wor die Sehnsu<strong>ch</strong>t<br />

der Bevölkerung Tlaxcalas na<strong>ch</strong> den Söhnen Quetzalcoatls. Der Blutige S<strong>ch</strong>ild äußerte die Befür<strong>ch</strong>tung,<br />

dass die mexicanis<strong>ch</strong>e Gesandts<strong>ch</strong>aft das Gift des Misstrauens gegen Tlaxcala in die<br />

Seelen der weißen Männer gepflanzt haben könnte, do<strong>ch</strong> Cortés winkte ab:<br />

»Es ist wahr, Boten Moctezumas haben uns vor Tlaxcala gewarnt, wie es vordem s<strong>ch</strong>on der<br />

Mä<strong>ch</strong>tige Felsen und die Sengende Glut getan haben. Aber wir sind auf der Hut und leihen den<br />

mexicanis<strong>ch</strong>en Verdä<strong>ch</strong>tigungen und Zuflüsterungen kein Ohr.«<br />

»So bleibt nur die Erklärung«, meinte Wollring, »dass die Männer aus dem Land des Sonnenaufgangs<br />

immer no<strong>ch</strong> grollen, weil die Grenzwa<strong>ch</strong>t der Otomis ihnen den Eintritt in das Land<br />

verwehrt und das tlaxcaltekis<strong>ch</strong>e Heer Waffenhilfe geleistet hat. O ihr Unbesiegbaren, das dürft ihr<br />

ihnen ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>tragen, denn sie glaubten, Freunden Moctezumas gegenüberzustehen, als sie zu<br />

den Waffen griffen.«<br />

Cortés versi<strong>ch</strong>erte: »Wir hegen keinen Groll. Im Gegenteil sind wir von Bewunderung für euer<br />

Volk erfüllt, das so kühn für seine Freiheit kämpfte.« Und eine Niederlage na<strong>ch</strong> so tapferer Gegenwehr,<br />

fuhr er fort, sei so bewunderungswürdig wie ein Sieg. Wenn er und seine Soldaten bisher<br />

verhindert gewesen seien, in die Stadt einzuziehen, habe dies einen einfa<strong>ch</strong>en Grund: Es fehle<br />

ihnen an tlamamas – Lastträgern und Zugsklaven –, um den Tross mit der Bagage und den<br />

s<strong>ch</strong>weren Ges<strong>ch</strong>ützen fortzus<strong>ch</strong>affen.<br />

Die Mienen der Indianer hellten si<strong>ch</strong> auf, und man sah ihnen die Erlei<strong>ch</strong>terung an. Diesem<br />

Problem wäre abzuhelfen! Eine große Anzahl Träger war ja s<strong>ch</strong>on hier und wartete unten bei den<br />

Sänften; weitere konnten ohne Verzug aus Tlaxcala herbefohlen werden.<br />

Cortés dankte; aber so s<strong>ch</strong>nell ließen si<strong>ch</strong> die Vorbereitungen für den Aufbru<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t treffen.<br />

»Stellt uns für morgen früh ein halbes Tausend Träger bereit«, bat er.<br />

»Es soll ges<strong>ch</strong>ehen, wie du es befiehlst, großer Herr. Tlaxcala wird di<strong>ch</strong> und die Deinen im<br />

Triumph empfangen«, si<strong>ch</strong>erte Wespenring ihm zu.<br />

Da rief Olíd: »S<strong>ch</strong>aut! Dort hinten! Sollten dies etwa s<strong>ch</strong>on die Lastträger sein?« Er hatte<br />

no<strong>ch</strong> nie großen S<strong>ch</strong>arfsinn bewiesen.<br />

Ein langer Zug bunt gewandeter Mens<strong>ch</strong>en näherte si<strong>ch</strong> von Ferne dem Turm des Sieges.<br />

Er war no<strong>ch</strong> zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu lassen, do<strong>ch</strong> aus der Staubwolke war


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 118<br />

zu s<strong>ch</strong>ließen, dass dort eine große Gruppe zu Fuß herankam.<br />

»Ma<strong>ch</strong>t die Musketen bereit«, sagte Cortés. »Wer weiß, ob diese Halunken es ehrli<strong>ch</strong> mit<br />

uns meinen.«<br />

»Wartet no<strong>ch</strong>, Herr«, bat Marina und wandte si<strong>ch</strong> an Wollring: »Wer sind die, die dort kommen?«,<br />

fragte sie.<br />

»O Malintzín!«, sagte Wollring. »Du bist die Göttin unter den Göttern, die Kolibrifeder zwis<strong>ch</strong>en<br />

den Adlerfedern! Die Götter bra<strong>ch</strong>ten uns den Krieg, und du bra<strong>ch</strong>test uns den Frieden.<br />

Tlaxcala will si<strong>ch</strong> erkenntli<strong>ch</strong> erweisen und s<strong>ch</strong>enkt dir dreihundert Mäd<strong>ch</strong>en!«<br />

Marina blickte erstaunt, dann ers<strong>ch</strong>rocken, und lä<strong>ch</strong>elte s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> verlegen. Cortés musste<br />

mehrmals fragen, ehe sie si<strong>ch</strong> überwand, zu übersetzen.<br />

»Bes<strong>ch</strong>ämt es di<strong>ch</strong>, dass sie di<strong>ch</strong> wie eine Fürstin ehren? Freue di<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong>!«, sagte er voll<br />

Stolz. Do<strong>ch</strong> tief, ganz tief in seiner Seele und no<strong>ch</strong> kaum spürbar ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> ein Sta<strong>ch</strong>el bemerkbar.<br />

»I<strong>ch</strong> bin deine Sklavin!«, antwortete sie gesenkten Blickes.<br />

»Dann nimm das Ges<strong>ch</strong>enk an und bedanke di<strong>ch</strong>!«<br />

Die Mäd<strong>ch</strong>en waren bald heran und stiegen<br />

zum Turm des Sieges hinauf. Alle waren<br />

jung und traurig, und viele von ihnen weinten,<br />

weil man ihnen gesagt hatte, sie würden einer<br />

Göttin zum Ges<strong>ch</strong>enk gebra<strong>ch</strong>t. Es waren<br />

Kriegsgefangene aus dem letzten Feldzug gegen<br />

Cholula. Man hatte sie aufgespart, um am<br />

Fest der Göttin der Lust – der Fros<strong>ch</strong>göttin mit<br />

dem blutigen Maul – ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet zu werden.<br />

Do<strong>ch</strong> der Rat der Alten hatte si<strong>ch</strong> anders besonnen<br />

und befohlen, sie aus den Holzkäfigen<br />

zu holen, zu baden, zu kämmen und sauber zu<br />

kleiden. Nun waren sie angekommen. Tlaxcala<br />

s<strong>ch</strong>enkte sie der Göttin Malintzín! Die Kinder<br />

für<strong>ch</strong>teten um ihr S<strong>ch</strong>icksal.<br />

Plan der Stadt Tlaxcala, zirka 50 Jahre na<strong>ch</strong> der<br />

Eroberung, mit ihren Hütten und den s<strong>ch</strong>on<br />

erri<strong>ch</strong>teten <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>en.<br />

Marina fühlte die Blicke der Männer auf<br />

si<strong>ch</strong>. Obglei<strong>ch</strong> sie eine Sklavin war, nannten die<br />

Soldaten sie Doña Marina; sie gönnten ihr die<br />

außergewöhnli<strong>ch</strong>e Ehrung. Do<strong>ch</strong> sie wären<br />

keine Männer, würde ni<strong>ch</strong>t man<strong>ch</strong> lüsterner<br />

Blick auf den Mäd<strong>ch</strong>en ruhen. Aber Missgunst<br />

gegen Marina hegte keiner. Nur Cortés spürte, au<strong>ch</strong> wenn er es ni<strong>ch</strong>t wahrhaben wollte, wieder<br />

den Sta<strong>ch</strong>el des Neides. Er redete si<strong>ch</strong> ein, dass die Ehrung Marinas indirekt au<strong>ch</strong> ihm gelte, wird<br />

do<strong>ch</strong> der Fürst an seinem Hofstaat gemessen. Do<strong>ch</strong> Marina war der lei<strong>ch</strong>te Anflug von Eifersu<strong>ch</strong>t<br />

ni<strong>ch</strong>t entgangen. Sie für<strong>ch</strong>tete den Neid des S<strong>ch</strong>icksals, das sie über Gebühr verhäts<strong>ch</strong>elte und<br />

verwöhnte. S<strong>ch</strong>on vor Cempoala hatte ihr Cortés zwei Negersklaven ges<strong>ch</strong>enkt und ihr den rei<strong>ch</strong>en,<br />

ni<strong>ch</strong>t mehr jungen Juan Pérez Arteaga als Hofmeister gegeben. Orteguilla war ihr Page gewesen;<br />

als er beim dicken Kaziken zurückgelassen wurde, war er dur<strong>ch</strong> den Knaben Pero de Santa<br />

Clara aus Havanna ersetzt worden. Au<strong>ch</strong> vom dicken Kaziken waren ihr Sandalenbinderinnen<br />

und Haarkämmerinnen zum Ges<strong>ch</strong>enk gema<strong>ch</strong>t worden. Sie besaß bereits einen Hofstaat. Und sie<br />

da<strong>ch</strong>te an Josef in Ägypten, der von seinen Brüdern verkauft wurde und ihnen dann Böses mit<br />

Gutem lohnte. Das war das Ziel – alles andere war nur Weg. Sie durfte ni<strong>ch</strong>t abirren, und no<strong>ch</strong> lag<br />

Mexico hinter Bergen und Wolken. Sie würde si<strong>ch</strong> der allzu rei<strong>ch</strong>en Gabe bei Gelegenheit entledigen.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 119<br />

Na<strong>ch</strong>dem si<strong>ch</strong> der Rat der Alten Tlaxcalas verabs<strong>ch</strong>iedet hatte und sie wieder allein waren,<br />

sagte sie es ihm. Zuerst vers<strong>ch</strong>loss er si<strong>ch</strong> ihren Argumenten, aber s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> gab er na<strong>ch</strong>; eigentli<strong>ch</strong><br />

kam es seinen uneingestandenen Gefühlen entgegen. Um die Form zu wahren, bestand er<br />

darauf, dass sie mindestens dreißig Sklavinnen behielte. Marina ließ daraufhin dur<strong>ch</strong> Arteaga dreißig<br />

Mäd<strong>ch</strong>en auswählen, wobei er weniger auf das Äußere als auf Handfertigkeit und Bes<strong>ch</strong>eidenheit<br />

Gewi<strong>ch</strong>t legen sollte. Die anderen zweihundertundsiebzig Mäd<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>enkte Marina dem kastilis<strong>ch</strong>en<br />

Heer.<br />

*<br />

S<strong>ch</strong>on senkten si<strong>ch</strong> lange S<strong>ch</strong>atten über die Ebene; feurig glomm das Abendrot hinter den s<strong>ch</strong>roffen<br />

Zacken hervor, die Gestirne ma<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> blinzelnd bemerkbar. Der s<strong>ch</strong>öne Namenlose stieg<br />

mit einer halbwü<strong>ch</strong>sigen Cholultekin an der Hand die abgetretenen Stufen des torre de la victoria<br />

empor. Das Kind folgte gehorsam, konnte mit seinen kurzen Beinen kaum S<strong>ch</strong>ritt halten und<br />

s<strong>ch</strong>aute immer wieder zwis<strong>ch</strong>en Bangen und Hoffen zu ihrem neuen Herrn auf. Do<strong>ch</strong> der s<strong>ch</strong>öne<br />

Namenlose bemerkte es ni<strong>ch</strong>t; wie stets umwölkte ihn die Einsamkeit.<br />

Eigentli<strong>ch</strong> hatte er nur zusehen wollen, do<strong>ch</strong> bei der Verteilung der Sklavinnen war ihm das<br />

abgemagerte kleine Ding seine herben Anmut und s<strong>ch</strong>wermütigen S<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>ternheit wegen aufgefallen.<br />

Der Rohling Goya des Montes stri<strong>ch</strong> mit lüsternen Blicken um sie herum wie der fette Lizentiat<br />

Juan Díaz um eine Ketzerseele. Da beeilte si<strong>ch</strong> der Namenlose und ma<strong>ch</strong>te laut seinen Anspru<strong>ch</strong><br />

auf die kleine Sklavin geltend – er wusste selber ni<strong>ch</strong>t warum, vermutli<strong>ch</strong>, um sie vor dem Los zu<br />

bewahren, dass sie dem Goya zufiel.<br />

Was sollte er nun mit ihr anfangen? Er wollte sie ni<strong>ch</strong>t zur Geliebten, sie s<strong>ch</strong>ien ihm zu jung<br />

dafür. Zwar war er kein keus<strong>ch</strong>er Mens<strong>ch</strong> im eigentli<strong>ch</strong>en Sinne – dafür hatte der einhändige Soldat<br />

(die andere, sündige Hand hatte man ihm abgehackt!) s<strong>ch</strong>on zu viel erlebt und erfahren, und<br />

seine Seele war mit s<strong>ch</strong>werer, geheimnisvoller S<strong>ch</strong>uld beladen. Do<strong>ch</strong> Uns<strong>ch</strong>uld und Jungfräuli<strong>ch</strong>keit<br />

waren ihm trotzdem heilig. Zuneigung und Mitgefühl bedarf der Worte ni<strong>ch</strong>t. Das Mäd<strong>ch</strong>en<br />

sollte bald begreifen, dass er eine S<strong>ch</strong>wester in ihr sah.<br />

Die Septemberna<strong>ch</strong>t war lau, und wieder senkten si<strong>ch</strong> dünne Nebels<strong>ch</strong>leier über die Ebene.<br />

Zikaden zirpten, Na<strong>ch</strong>tvögel gaben einander Antwort. Von unten aus dem Lager stieg der Rau<strong>ch</strong><br />

fast senkre<strong>ch</strong>t empor, und es war das Gesumme und Geklapper der abendli<strong>ch</strong>en Tätigkeiten zu<br />

hören, die auf übli<strong>ch</strong>e Handrei<strong>ch</strong>ungen s<strong>ch</strong>ließen ließen – Holz spalten, Kessel zum Ko<strong>ch</strong>en vorbereiten,<br />

Ges<strong>ch</strong>irre was<strong>ch</strong>en, Pferde füttern. Man hörte au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on feurig-glutvolles Geklapper der<br />

Kastagnetten und Tamburine, in das si<strong>ch</strong> klagende Melodien der mexicanis<strong>ch</strong>en Flöten mis<strong>ch</strong>ten.<br />

La Bailadora tanzte dort unten und zeigte ihren in engem Mieder ges<strong>ch</strong>nürten Busen und ihre weißen<br />

S<strong>ch</strong>enkel; do<strong>ch</strong> sie fand keinen Bewunderer heute Abend – außer dem Knaben Pan<strong>ch</strong>o, ihrem<br />

erblindeten S<strong>ch</strong>ützling.<br />

An die Brüstung gelehnt, blickte der Namenlose auf das abendli<strong>ch</strong>e Land und auf S<strong>ch</strong>neekuppen<br />

und Gestirne. Er zog das Mäd<strong>ch</strong>en näher an si<strong>ch</strong> und legte den Arm um ihren Nacken.<br />

Dann hob er den Kopf und sah auf die Si<strong>ch</strong>el des s<strong>ch</strong>windenden Mondes.<br />

»Das ist der Mond!«, sagte er. »Der Mond!«<br />

Sie s<strong>ch</strong>aute zu ihm auf, folgte dann mit den Augen seinem Blick. »Mooond?«<br />

»Ja, der Mond!«<br />

»Mooond!«, wiederholte sie das fremde Wort. »Metztlit« sagte sie dann. Es war ihr Name<br />

des Mondes.<br />

Seine Augen s<strong>ch</strong>weiften na<strong>ch</strong> Norden, wo se<strong>ch</strong>s Meilen entfernt die Stadt Tlaxcala lag – ein<br />

Steinhaufen unter ragenden Felsen, in der dunstigen Luft eben no<strong>ch</strong> zu ahnen. Dahinter erhob<br />

si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>warz und steil die Passhöhe, die na<strong>ch</strong> Cholula und Huexotzinco führte. Dort reckten<br />

Iztaccihuatl, die Weiße Frau, und Popocatepetl, der Rau<strong>ch</strong>ende Berg, ihre ungefügen Flanken empor.<br />

Der Feuers<strong>ch</strong>ein des Popocatepetl-Kraters war in der s<strong>ch</strong>windenden Abendröte deutli<strong>ch</strong> zu<br />

sehen: Seit einer Wo<strong>ch</strong>e war der Vulkan aktiv, do<strong>ch</strong> in keiner der vorangegangenen Nä<strong>ch</strong>te war<br />

sein S<strong>ch</strong>ein so hell si<strong>ch</strong>tbar gewesen.<br />

»Tlatla!«, sagte die kleine Indianerin. Das hieß: »Er brennt!« Der Namenlose nickte, als hätte<br />

er verstanden. Man muss ja au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verstehen, was die Vögel singen. Er setzte si<strong>ch</strong> auf den


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 120<br />

obersten Treppenabsatz, und das Mäd<strong>ch</strong>en tat es ihm na<strong>ch</strong>. So s<strong>ch</strong>auten sie ins Land hinaus.<br />

Tiefer und tiefer senkte si<strong>ch</strong> die Na<strong>ch</strong>t herab. Plötzli<strong>ch</strong> legte sie s<strong>ch</strong>eu den Kopf an seine S<strong>ch</strong>ulter.<br />

Er rührte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, ließ es ges<strong>ch</strong>ehen.<br />

»Du bist wie eine, die einst mir lieb war!«, murmelte er.<br />

»Tlein titlatalhuia, nopiltzine?«, fragte sie. (Was sagst du, Herr?)<br />

Er sann ihren Worten na<strong>ch</strong>. Na<strong>ch</strong> einer Weile fuhr er fort: »Meine Liebe war ungestümes<br />

Feuer. Meine Sehnsu<strong>ch</strong>t verbrannte ihr Herz zu As<strong>ch</strong>e. Giftiger S<strong>ch</strong>ierling war mein Kuss. Du bist<br />

sanft, wie sie es war.« Wieder s<strong>ch</strong>wieg er, grübelte einer fernen Vergangenheit na<strong>ch</strong>, sagte dann:<br />

»Lippen, die den Be<strong>ch</strong>er der S<strong>ch</strong>uld geleert haben, s<strong>ch</strong>audern, einen reinen Be<strong>ch</strong>er zu entweihen,<br />

mein Kind...«<br />

Er verstummte. Jemand kam eilig die Tempeltreppe heraufgehinkt. Es war der Narr Cervantes.<br />

»Ei, Gevatter, s<strong>ch</strong>äkert Ihr an heiliger Stätte?«, rief er la<strong>ch</strong>end. »Lest Ihr eine S<strong>ch</strong>warze<br />

Messe mit der kleinen Jungfrau?«<br />

»Geh zum Teufel und pack di<strong>ch</strong>, Narr!«<br />

»Wohin, Señor? Zurück in den wimmelnden Haufen dort unten? Von dort bin i<strong>ch</strong> ja voller<br />

Ekel geflü<strong>ch</strong>tet. Eu<strong>ch</strong> freili<strong>ch</strong> hielt i<strong>ch</strong> für eine Ausnahme, für einen ehrli<strong>ch</strong>en Weiberfeind. Ihr habt<br />

mi<strong>ch</strong> enttäus<strong>ch</strong>t, seid au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t besser als die anderen. Es s<strong>ch</strong>eint, dass i<strong>ch</strong> der einzige Ges<strong>ch</strong>eite<br />

unter lauter Narren bin, der einzige Gerade unter lauter Buckligen!«<br />

Der Namenlose würdigte ihn keiner Antwort, do<strong>ch</strong> der Narr ließ si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t beirren: »I<strong>ch</strong> weiß,<br />

was Ihr denkt! I<strong>ch</strong> hätte kein Weibsstück erhalten? Do<strong>ch</strong>, ein fettes, s<strong>ch</strong>ön gemästetes! Der Seemann<br />

Alvaro aus Palos hat sie mir abgekauft – er liebt die runden, prallen Weiber, und wie Ihr<br />

wisst, hat er auf Kuba im Lauf von drei Jahren dreißig Kinder mit Indianerinnen gezeugt. Es wundert<br />

mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, dass er au<strong>ch</strong> anderen heute Abend weitere Mäd<strong>ch</strong>en abkaufte. Er hat mit Alkohol<br />

na<strong>ch</strong>geholfen!«<br />

»Alkohol? Soviel i<strong>ch</strong> weiß, ist der Wein zur Neige gegangen.«<br />

»Der Wein, aber ni<strong>ch</strong>t der Pulque. Die Rothäute haben genug davon, spre<strong>ch</strong>en ihm selber<br />

gern zu und liefern jeden Bedarf! Aber es gibt no<strong>ch</strong> andere, die ebensol<strong>ch</strong>en Taus<strong>ch</strong>handel treiben<br />

wie Alvaro. Von wüstem Taumel sind Männlein und Weiblein dort unten ergriffen – sie tanzen einen<br />

Totentanz und merken es ni<strong>ch</strong>t. Der klapperdürre Tod geigt voran, und alle folgen ihm tanzend,<br />

la<strong>ch</strong>end und girrend auf die Blutaltäre Mexicos, wo das Hüpfen enden wird! Das halst und<br />

ki<strong>ch</strong>ert, ums<strong>ch</strong>lingt und vermis<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong>, wie die Blutegel in einem Glas, wie die Glühwürmer der<br />

Johannisna<strong>ch</strong>t auf einer Wiese. Ekelhaft! Mens<strong>ch</strong>en können nur zeugen und sterben – ficken und<br />

töten! Alles andere, das Fressen, Saufen, S<strong>ch</strong>eißen und Rülpsen ist ni<strong>ch</strong>ts als Mittel und Weg!<br />

Wollüstig und grausam, so tanzen wir bis na<strong>ch</strong> Mexico, morden die Männer, küssen die Frauen,<br />

s<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ten Kinder und umarmen Greise, waten dur<strong>ch</strong> Blut und kopulieren, blumenbekränzt und<br />

weintrunken, stolz wie die Götter... und liederli<strong>ch</strong> wie die Götter...«<br />

Der Narr ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> Luft, während der Namenlose ihn anstarrte. Da wurde es plötzli<strong>ch</strong> li<strong>ch</strong>ter<br />

Tag, und glei<strong>ch</strong> darauf grollte Donner. Sie sprangen auf und starrten na<strong>ch</strong> Westen. Die Sterne<br />

waren fortgefegt; karminrot zuckte es in den Himmel; Erde, Bäume, Steine und Mens<strong>ch</strong>en wurden<br />

von roter Glut angestrahlt. Der Popocatepetl war explodiert! Urweltli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ossen Feuer und Wasser,<br />

Gestein und Dampf meilenweit ho<strong>ch</strong>, der Kratermund zerriss, und frei geworden begann ges<strong>ch</strong>molzene<br />

weiße Glut fä<strong>ch</strong>erförmig die Abhänge des Vulkans hinunter zu fließen.<br />

»Weltuntergang!«, flüsterte der Narr. »Wäre es s<strong>ch</strong>ade um sol<strong>ch</strong> eine Welt?«<br />

»Ja!«, sagte der Namenlose und eilte mit der kleinen Sklavin die Treppe hinunter.<br />

Der Narr lief ihm na<strong>ch</strong>. »Nennt mir ein Wesen, nennt mir ein Ding, um das es s<strong>ch</strong>ade wäre.«<br />

»Das Leben!«, antwortete der Namenlose. »Denn es ist einmalig! Do<strong>ch</strong> für di<strong>ch</strong>, Narr, mag<br />

das ni<strong>ch</strong>t gelten!«<br />

*<br />

No<strong>ch</strong> ein anderer hatte in dieser Na<strong>ch</strong>t seine Mens<strong>ch</strong>enkenntnis berei<strong>ch</strong>ert. Ni<strong>ch</strong>t verbittert, wie<br />

der Narr Cervantes, sondern mit s<strong>ch</strong>munzelndem Behagen. José Solér, der seltsame Kauz, den<br />

seine Kameraden »hinter der Tür«, detrás de la puerta, nannten, belä<strong>ch</strong>elte die S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en seiner


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 121<br />

Mitmens<strong>ch</strong>en. Er sah die Fliegen ins Netz gehen, do<strong>ch</strong> er half ni<strong>ch</strong>t, warnte ni<strong>ch</strong>t – er lä<strong>ch</strong>elte!<br />

Ni<strong>ch</strong>ts wunderte ihn! Wenn der Genueser Amadori die alte Portugiesin Samano betrog; wenn der<br />

Spieler Lope Márquez einfältige Tölpel zum Würfel- und Kartenspiel verleitete, wenn der flegelhafte<br />

Paredes, der große Spuckkünstler, sogar vor den Edeldamen Pilar de Elgueta und Dolores de<br />

Cuenca si<strong>ch</strong> den Spaß ma<strong>ch</strong>te, di<strong>ch</strong>t an ihren ges<strong>ch</strong>minkten Gesi<strong>ch</strong>tern vorbeizuspucken, oder<br />

wenn die Lagerdirne, die man die hagere Rosario nannte, von ihrem Zuhälter, dem wilden Ignacio<br />

Morena, lammfromm Prügel und Stocks<strong>ch</strong>läge hinnahm und ihm alle ihre Ersparnisse aushändigte<br />

– José Solér konnte ni<strong>ch</strong>ts ers<strong>ch</strong>üttern. Ni<strong>ch</strong>ts wunderte ihn. Ni<strong>ch</strong>ts bewunderte er. Er registrierte<br />

nur.<br />

In dieser Na<strong>ch</strong>t hatte er viel zu registrieren. Marinas Ges<strong>ch</strong>enk hatte ni<strong>ch</strong>t nur die Bes<strong>ch</strong>enkten<br />

in einen Liebestaumel versetzt, die Hitze der Sinne wirkte au<strong>ch</strong> auf die Frauen. José Solér<br />

konnte beoba<strong>ch</strong>ten, dass die Goldhyazinte, Marketenderin und Gattin des S<strong>ch</strong>miedes Martín, si<strong>ch</strong><br />

heimli<strong>ch</strong> mit Mansilla dem Durstigen aus dem Lager entfernte; dass die hübs<strong>ch</strong>e rundli<strong>ch</strong>e Rosita<br />

Muños – vor kurzem erst in Cempoala dem ledernen Gesellen Tarifa de los servicios, dem Dienstbeflissenen,<br />

angetraut – mit Juan García dem Aufgeblasenen davons<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>; dass Dolores de<br />

Cuenca der Lust des se<strong>ch</strong>zehnjährigen Maldonato verfiel; dass selbst die rührende, tapfere,<br />

pra<strong>ch</strong>tvolle Samariterin Ines Florín, die To<strong>ch</strong>ter des Seeräubers, si<strong>ch</strong> an Alfonso de Escobar vers<strong>ch</strong>enkte,<br />

den einstigen Pagen des Diego Velásquez, einen leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en und zügellosen<br />

Mens<strong>ch</strong>en.<br />

José Solér sah no<strong>ch</strong> mehr. Als La Bailadora Hand in Hand mit ihrem S<strong>ch</strong>ützling, ohne für ihren<br />

heutigen Tanz Beifall und Kupfermünzen geerntet zu haben, zu ihrer S<strong>ch</strong>lafstätte zurückkehrte,<br />

wurde sie vom rei<strong>ch</strong>en Jacobo Hurtado überfallen. So oft er ihr s<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong>gestellt hatte, so oft er<br />

abgewiesen wurde, heute wollte er sein Ziel errei<strong>ch</strong>en. Er zerrte sie hinter einen Bus<strong>ch</strong> und fiel<br />

über sie her. Der blinde Knabe s<strong>ch</strong>rie um Hilfe, das Mäd<strong>ch</strong>en wehrte si<strong>ch</strong> und kreis<strong>ch</strong>te wie ein<br />

gebissener S<strong>ch</strong>akal – do<strong>ch</strong> wer a<strong>ch</strong>tete in dieser Na<strong>ch</strong>t auf kreis<strong>ch</strong>ende Mäd<strong>ch</strong>en? José Solér<br />

hörte und sah, do<strong>ch</strong> er rührte si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t! Ramón Vallesocco, ein blutjunger Soldat, kam zufällig des<br />

Weges, rettete La Bailadora und vers<strong>ch</strong>eu<strong>ch</strong>te den rei<strong>ch</strong>en Lüstling.<br />

*<br />

Cortés war es re<strong>ch</strong>t, dass seine Soldaten zwis<strong>ch</strong>en überstandenen Mühen und anderen, die ihrer<br />

no<strong>ch</strong> harrten, si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Herzenslust des Lebens freuten. Morgen wollten sie in die Stadt Tlaxcala<br />

einziehen; wie s<strong>ch</strong>on zu Cempoala geda<strong>ch</strong>te er wieder seiner Vorsi<strong>ch</strong>t, dass naturales au<strong>ch</strong> naturales<br />

bleiben, selbst wenn sie Freunde sind. Es war seine Absi<strong>ch</strong>t, die Gastfreunds<strong>ch</strong>aft anzunehmen,<br />

das Pulver jedo<strong>ch</strong> trocken zu halten. In der fremden Stadt würde er auf strenge Manneszu<strong>ch</strong>t<br />

sehen müssen; sollen sie si<strong>ch</strong> heute no<strong>ch</strong> einmal austoben!<br />

Cortés war mit Marina allein. Den Pagen Juan de Salazar und den Kämmerer Rodrigo Rangel<br />

hatte er hinausges<strong>ch</strong>ickt, mo<strong>ch</strong>ten sie zur langen Elvira gehen oder zu anderen. Leu<strong>ch</strong>ter mit<br />

gelben Wa<strong>ch</strong>sli<strong>ch</strong>tern erhellten das Zelt nur matt, und auf dem Tis<strong>ch</strong> standen halb gefüllte Gläser.<br />

Sie tranken die letzte Flas<strong>ch</strong>e Pedro Ximenes und bra<strong>ch</strong>ten dem Glück einen stillen Dank dar.<br />

Wenn Cortés eine eitle Regung von Missgunst gespürt hatte, jetzt war alles verflogen.<br />

Seine Gedanken irrten ab na<strong>ch</strong> Kuba, zu Catalina Suárez, seiner s<strong>ch</strong>windsü<strong>ch</strong>tigen Frau.<br />

Diego Velásquez hatte ihn gezwungen, sie zu eheli<strong>ch</strong>en. An Papageien und Katzen hatte sie<br />

Freude, rau<strong>ch</strong>te Zigarillos und s<strong>ch</strong>aukelte in der Hängematte. Eine Puppe war sie ihm, die er mit<br />

Edelsteinen behängte. Do<strong>ch</strong> sie war seine Frau, todkrank, und musste jung sterben. Wann? Viellei<strong>ch</strong>t<br />

erst na<strong>ch</strong> Jahren. Viellei<strong>ch</strong>t war sie s<strong>ch</strong>on tot...? Er sträubte si<strong>ch</strong>, ihren Tod herbeizusehnen;<br />

und do<strong>ch</strong> konnte er ni<strong>ch</strong>t anders. Je tiefer seine Liebe zu Marina wurde, umso häufiger stellten<br />

si<strong>ch</strong> derartige Wüns<strong>ch</strong>e ein.<br />

Marina sah die Wolke über sein Gesi<strong>ch</strong>t ziehen. »Woran denkst du?«, fragte sie.<br />

»An Don Diego!«, gab er auswei<strong>ch</strong>end zur Antwort.<br />

Sie lä<strong>ch</strong>elte traurig. »Heute darfst du nur an uns denken!«, sagte sie. Dass sie si<strong>ch</strong> Mutter<br />

fühlte, behielt sie für si<strong>ch</strong>.<br />

Da bra<strong>ch</strong> urplötzli<strong>ch</strong> der Vulkan aus. Der Popocatepetl ließ sein Donnern vernehmen. Hellrot<br />

loderten die Flammen der eruptierenden Lava, dass das Innere des Zelts erglühte. Sie stürzten


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 122<br />

aus dem Zelt und sahen das überwältigende S<strong>ch</strong>auspiel. Vögel flogen in Panik davon, und in der<br />

Hürde wieherten aufges<strong>ch</strong>reckt die Pferde. In den Pausen zwis<strong>ch</strong>en dem Tosen und Brüllen hörten<br />

Marina und Cortés die Rufe besorgter Mens<strong>ch</strong>en. Soldaten und Dirnen gestikulierten, standen erstarrt,<br />

bekreuzigten si<strong>ch</strong>, murmelten Gebete. Diego de Ordás kam mit langen S<strong>ch</strong>ritten auf Cortés<br />

zu.<br />

»Man müsste dort hinaufsteigen!«, sagte er mit bebenden Lippen zu Cortés.<br />

»I<strong>ch</strong> verstehe Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, Ordás. Wo hinauf?«<br />

»Auf den Berg, zum Krater!«<br />

»Auf mein Gewissen, Ihr seid ni<strong>ch</strong>t bei Verstand!«, rief Cortés. »Habt Ihr Heimweh na<strong>ch</strong> der<br />

Hölle?«<br />

Ordás zuckte mit der S<strong>ch</strong>ulter. »Himmel oder Hölle, wo ist der Unters<strong>ch</strong>ied?«<br />

»Wir werden sehen«, sagte der Generalkapitän. Im Südwesten, einige Tagesreisen hinter<br />

der Stadt Tlaxcala und no<strong>ch</strong> vor dem gewaltigen Bergmassiv des Popocatepetl lag Cholula, die<br />

heilige Stadt der Cholulteken. Cortés wollte Cholula besu<strong>ch</strong>en, und von dort aus führte der Weg<br />

na<strong>ch</strong> Mexico di<strong>ch</strong>t am Popocatepetl vorbei. »Den Aufstieg auf den Feuerberg kann i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />

verspre<strong>ch</strong>en, Ordás. Bis wir dort vorbeikommen, wird Eure Glut – oder ist es Wut? – verrau<strong>ch</strong>t<br />

sein!«<br />

Diego de Ordás nickte, ohne den Doppelsinn zu bemerken.<br />

*<br />

Pater Olmedo war der Abendmahlwein ausgegangen. In der Na<strong>ch</strong>t vor der siegrei<strong>ch</strong>en<br />

Tlaxcaltekens<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t hatten alle im <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Heer gebei<strong>ch</strong>tet, die Kommunion empfangen und<br />

dabei den Wein verbrau<strong>ch</strong>t. Nun lag Pater Olmedo dem Cortés in den Ohren. Alle Kämpfer des<br />

Heeres (für Pater Olmedo waren die Frauen ebenfalls Kämpfer) hätten Anspru<strong>ch</strong> auf Trost und<br />

Stärkung dur<strong>ch</strong> die heilige Kir<strong>ch</strong>e; egal, ob vor einer S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t oder im Sterben dana<strong>ch</strong>. Cortés verspra<strong>ch</strong><br />

ihm Abhilfe. Ihm lag daran, die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t von seinem Triumph mögli<strong>ch</strong>st s<strong>ch</strong>nell den Verbündeten<br />

mitzuteilen, um so sein Ansehen und ihre Erwartungen zu re<strong>ch</strong>tfertigen. Er beauftragte<br />

Enrico Lares, eilig na<strong>ch</strong> Veracruz zu reiten, um einige Flas<strong>ch</strong>en Malvasier zu holen. Unterwegs<br />

solle er den Mä<strong>ch</strong>tigen Felsen im Roten Berg, den dicken Kaziken in Cempoala und die Sengende<br />

Glut an der huaxtekis<strong>ch</strong>en Küste vom siegrei<strong>ch</strong>en Heer der Sonnensöhne unterri<strong>ch</strong>ten. Escalante<br />

und die zurückgebliebenen Kranken, Verwundeten und alten Soldaten aber hätten die erfolgrei<strong>ch</strong>en<br />

Gefe<strong>ch</strong>te und das Friedensangebot Tlaxcalas mit einem Bankett, Vivatrufen und Freudens<strong>ch</strong>üssen<br />

zu feiern und mit festli<strong>ch</strong>er Beflaggung der Stadt Veracruz den bena<strong>ch</strong>barten Indianervölkern<br />

vor Augen zu führen, wie sehr das Kriegsglück die Kastilier begünstige.<br />

Zwei indianis<strong>ch</strong>e Begleiter, ein Totonake und einer der zwanzig Palastwä<strong>ch</strong>ter des Mä<strong>ch</strong>tigen<br />

Felsens, wurden Lares als Wegweiser mitgegeben; es waren zwei S<strong>ch</strong>nellläufer, die mit dem<br />

Pferd S<strong>ch</strong>ritt halten konnten, ohne zu ermüden. Der Totonake hatte si<strong>ch</strong> etli<strong>ch</strong>e spanis<strong>ch</strong>e Brocken<br />

angeeignet, sodass eine Verständigung mögli<strong>ch</strong> war.<br />

Enrico Lares ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> auf den Weg und ritt jene Strecke zurück, die das Heer mühsam<br />

heraufgezogen war. Er erkannte die Berge, Täler, Bä<strong>ch</strong>e, Felder und Bäume wieder, wenn au<strong>ch</strong><br />

die Einsamkeit die Lands<strong>ch</strong>aft verwandelt hatte. Der Weg war ni<strong>ch</strong>t mehr lei<strong>ch</strong>enübersät, die Indianer<br />

hatten ihre Toten begraben. Gräser, die La Bailadoras tanzender Fuß geknickt hatte, waren<br />

wieder aufgeri<strong>ch</strong>tet, kaum eine Spur mehr war von den Heldentaten und Gräueln der Kastilier und<br />

Tlaxcalteken zu sehen.<br />

Die große Mauer war diesmal ni<strong>ch</strong>t unbewa<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong> die Grenzwä<strong>ch</strong>ter ließen ihren Verbündeten<br />

anstandslos ein. Lares ritt dur<strong>ch</strong> das turmartig aufragende Tor und befand si<strong>ch</strong> auf<br />

mexicanis<strong>ch</strong>em Boden. Er trabte am Weißen Mondgefilde vorbei, näherte si<strong>ch</strong> dem Roten Berg.<br />

Fern am Waldsaum erblickte er ein Rudel Hirs<strong>ch</strong>e und glaubte, Hurtados entlaufenes Graufohlen<br />

zu erkennen. Es trank ni<strong>ch</strong>t mehr am Euter der Hirs<strong>ch</strong>kuh, sondern äste bereits mit den anderen.<br />

Lares ritt au<strong>ch</strong> am Roten Berg vorbei, ohne die Stadt zu betreten. Angesi<strong>ch</strong>ts der Türme und<br />

Wälle sandte er den Palastwä<strong>ch</strong>ter zum Mä<strong>ch</strong>tigen Felsen, er solle seinen Herrn vom großen Sieg<br />

in Tlaxcala unterri<strong>ch</strong>ten.<br />

Gegen Abend – der Rote Berg lag s<strong>ch</strong>on weit zurück – ma<strong>ch</strong>te ihn sein totonakis<strong>ch</strong>er Beglei-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 123<br />

ter auf eine Staubwolke aufmerksam. Lares saß ab, und sie versteckten si<strong>ch</strong> abseits des Weges<br />

im Gebüs<strong>ch</strong>. Ein Trupp mexicanis<strong>ch</strong>er Speerträger näherte si<strong>ch</strong> mit zwei gefesselten Männern.<br />

Erst als sie fast herangekommen waren, erkannte Lares diese Männer: Zu seinem Erstaunen -<br />

musste er Mel<strong>ch</strong>orejo und Julianillo wiedersehen!<br />

Lares lockerte den Degen und ritt den Indianern entgegen. Die mexicanis<strong>ch</strong>en Krieger griffen<br />

zu den Waffen, ers<strong>ch</strong>rocken über sein plötzli<strong>ch</strong>es Auftau<strong>ch</strong>en, erkannten dann aber den Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en<br />

und ma<strong>ch</strong>ten untertänige Friedensgebärden. Do<strong>ch</strong> eine Verständigung war unmögli<strong>ch</strong>.<br />

»Wohin führt man eu<strong>ch</strong>?«, rief er die Gefangenen auf Spanis<strong>ch</strong> an.<br />

»Na<strong>ch</strong> Mexico, Señor, zum König Moctezuma!«, antwortete Mel<strong>ch</strong>orejo voller Selbstmitleid.<br />

Lares ließ dem Anführer der Mexica dur<strong>ch</strong> den Totonaken sagen: Diese Opfersklaven seien<br />

Eigentum der Sonnensöhne und er verbiete, sie na<strong>ch</strong> Mexico zu Moctezuma zu bringen. Der Anführer<br />

ließ daraufhin den Sohn der Sonne fragen, was mit den Sklaven ges<strong>ch</strong>ehen solle, und ob er<br />

Anspru<strong>ch</strong> auf sie erhebe.<br />

Lares sah ein, dass er ni<strong>ch</strong>t imstande war, die beiden Ausreißer an erneuter Flu<strong>ch</strong>t zu hindern.<br />

Er ließ antworten, die Sklaven müssten na<strong>ch</strong> Tlaxcala ges<strong>ch</strong>afft werden, wo si<strong>ch</strong> das Feldlager<br />

der Kastilier befinde. Der Häuptling verspra<strong>ch</strong> es, und alle setzten ihren Weg fort. Do<strong>ch</strong> die<br />

kühl lä<strong>ch</strong>elnden Gesi<strong>ch</strong>ter der Mexica entgingen Lares ni<strong>ch</strong>t. Einen Augenblick s<strong>ch</strong>wankte er, ob er<br />

ihnen ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>reiten und si<strong>ch</strong> die Sklaven ausliefern lassen solle. Mel<strong>ch</strong>orejo und Julianillo hatten<br />

man<strong>ch</strong>erlei gesehen und beoba<strong>ch</strong>tet; ihre Aussagen wären in Mexico willkommen. Do<strong>ch</strong> Lares<br />

war an den Auftrag gebunden, Wein aus Veracruz zu holen. So ritt er weiter ostwärts in die herabsinkende<br />

Na<strong>ch</strong>t.<br />

Na<strong>ch</strong> kurzer Rast bra<strong>ch</strong>en die beiden s<strong>ch</strong>on vor dem Morgengrauen wieder auf und errei<strong>ch</strong>ten<br />

s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> Cempoala. Lares trabte zwis<strong>ch</strong>en den weißgetün<strong>ch</strong>ten Mauerwänden – den Silberhäusern<br />

des Ritters Ordás – den Palasthügel hinauf, wurde sofort beim dicken Kaziken vorgelassen<br />

und von Dienern beweihräu<strong>ch</strong>ert. Den <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en König der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Stadt hatte in der<br />

Zwis<strong>ch</strong>enzeit oft die Sorge geplagt, die alten misshandelten Götter könnten eines Tages wieder die<br />

Tempelstufen erklimmen über ihn zu Geri<strong>ch</strong>t sitzen, da er dem Gott Dios und der Göttin Santa<br />

Malía diente. Au<strong>ch</strong> wegen seiner Enthaltsamkeit – er aß kein Mens<strong>ch</strong>enfleis<strong>ch</strong> mehr – hatte er ein<br />

s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tes Gewissen. Die Siegesna<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t, die Lares ihm überbra<strong>ch</strong>te, befreite ihn zu seiner Erlei<strong>ch</strong>terung<br />

von seinen Zweifeln. Denn endgültig war damit klargelegt, dass die alten Götter tot<br />

blieben. Ihre einstigen, nunmehr getauften, ges<strong>ch</strong>orenen und mit Tonsuren versehen Priester<br />

mussten auf königli<strong>ch</strong>en Befehl in einer großen Prozession dur<strong>ch</strong> die Stadt s<strong>ch</strong>reiten und dem Gott<br />

Dios und seiner Göttin Santa Malía mit Kopalrau<strong>ch</strong> und Gedröhn der Mus<strong>ch</strong>eltrompeten für den<br />

Sieg danken. Mit Enrico Lares, dem phantastis<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>mückten Pagen Orteguilla und einer S<strong>ch</strong>ar<br />

von Würdenträgern begab si<strong>ch</strong> el Gordo, wie stets von zwei kräftigen Sklaven gestützt, über den<br />

Rasenplatz zum Haupttempel. Dort traf au<strong>ch</strong> die aus der Stadt zurückkehrende Prozession ein.<br />

Gemeinsam stieg man die Pyramidentreppe empor, wobei die beiden Sklaven des dicken Kaziken<br />

heftig ins S<strong>ch</strong>witzen kamen. Oben im dunklen, von wenigen Kerzen und einem ewigen Li<strong>ch</strong>t trüb<br />

beleu<strong>ch</strong>teten Heiligtum, wo an Stelle der zerstörten Steingötzen das rosenumrankte Ölbild der heiligen<br />

Jungfrau aufgestellt war, s<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>teten sie der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Göttin dreihundert Hunde. Eigentli<strong>ch</strong><br />

sollten es fünfhundert, besser no<strong>ch</strong> tausend Hunde sein, do<strong>ch</strong> mehr waren in der Stadt ni<strong>ch</strong>t<br />

aufzutreiben. Das Ersatzopfer war gut gemeint. Enrico Lares grinste in si<strong>ch</strong> hinein, der alte Invalide<br />

Juan Torrés jedo<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>üttelte ablehnend den Kopf, denn er war allen Tieren zugetan, fügte si<strong>ch</strong><br />

aber und spra<strong>ch</strong> eine Litanei. Seine Wa<strong>ch</strong>skerzen flackerten wie missbilligend im finsteren Sanktuarium.<br />

Na<strong>ch</strong> der heiligen Handlung wurde das Hundefleis<strong>ch</strong> von Kü<strong>ch</strong>ensklaven in Maisku<strong>ch</strong>en<br />

gebacken und mit dem Segen der Priester an das Volk verteilt.<br />

Die dicke Prinzessin nahm die Bots<strong>ch</strong>aft vom Sieg mit einer Würde entgegen, wie man die<br />

von der Gemahlin des größten der Sonnensöhne erwarten durfte. Sie erklärte, sie habe von den<br />

Söhnen der Sonne nie anderes als Siege erwartet; und der kleine weiße Sonnensohn, den sie unter<br />

dem Herzen trage, werde ebensol<strong>ch</strong>e Siege vollbringen. Da Doña Catalina India si<strong>ch</strong> ihrer<br />

S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aft wegen s<strong>ch</strong>onen musste, war sie ni<strong>ch</strong>t bei der Pyramide ers<strong>ch</strong>ienen, ließ es si<strong>ch</strong><br />

aber ni<strong>ch</strong>t nehmen, vor einem Messingkreuz eine Opferhandlung vorzunehmen. Sie riss ihrem<br />

liebsten Blaufinken den Kopf ab und stri<strong>ch</strong> mit den Händen das Vogelblut aufs Kreuz.<br />

Na<strong>ch</strong> dem Gottesdienst bat Lares den dicken Kaziken für si<strong>ch</strong> und seinen Läufer um Bad<br />

und Bett. Er wollte si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> kurzer Rast wieder in den Sattel s<strong>ch</strong>wingen und das letzte Wegstück


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 124<br />

na<strong>ch</strong> Veracruz ohne Unterbre<strong>ch</strong>ung zurückzulegen. Do<strong>ch</strong> der dicke Kazike ließ dies ni<strong>ch</strong>t zu und<br />

überredete ihn (der Page Orteguilla leistete Dolmets<strong>ch</strong>erdienste), die Abreise um einen Tag zu<br />

vers<strong>ch</strong>ieben: Gegen Abend werde er ein Festmahl geben, und da dürfe er ni<strong>ch</strong>t fehlen. Orteguilla<br />

war na<strong>ch</strong> wie vor der Liebling des dicken Kaziken. Die Wangen ges<strong>ch</strong>minkt, an sämtli<strong>ch</strong>en Gliedmaßen<br />

mit Zierrat behängt und in wallender Perücke aus bunten Tukanfedern, gli<strong>ch</strong> er mehr einer<br />

bengalis<strong>ch</strong>en Bajadere als einem Jungen.<br />

*<br />

Am nä<strong>ch</strong>sten Morgen ritt Lares na<strong>ch</strong> Veracruz. S<strong>ch</strong>on von weitem wurde er von einem Turmwä<strong>ch</strong>ter<br />

bemerkt und alsbald erkannt. Man geleitete ihn zum Stadthaus, das au<strong>ch</strong> »Kommandantenpalast«<br />

genannt wurde. Hier wurde Lares von Escalante, dem Ri<strong>ch</strong>ter Moreno Madrano, dem Viels<strong>ch</strong>reiber<br />

und S<strong>ch</strong>önredner Alonso de Grado, dem S<strong>ch</strong>wätzer Pedro Baracoa und dem auf zwei<br />

Stelzfüßen gehenden Steuermann Gonzalo de Umbría empfangen. Sie begrüßten ihn freudig,<br />

Lares wurde mit einen Be<strong>ch</strong>er roten Alcantaraweins bewillkommnet, den ihm die Mulattin Beatriz<br />

de Acevedo kredenzte. Ihre anges<strong>ch</strong>lagene S<strong>ch</strong>ädeldecke war zwar geheilt, ihr Geist jedo<strong>ch</strong> blieb<br />

krank.<br />

»Trinke auf unseren Sieg und auf das Gedeihen der Stadt, mein Bruder!«, sagte sie, denn<br />

sie redete alle Männer seither mit ›Bruder‹ an. »Die Stadt ist mit Blut erbaut. Nur was mit Blut erbaut<br />

ist, hat Dauer. Unter dem Stadttor liegen vier Lei<strong>ch</strong>en begraben: ein toter Hahn, ein toter Affe,<br />

eine tote Viper, ein toter Mens<strong>ch</strong>... Darum ist die Stadt so s<strong>ch</strong>ön geworden, wie alles, was flu<strong>ch</strong>beladen<br />

ist!« Sie spielte auf den alten Suárez an, den die Soldaten in der Tonne ertränkt hatten.<br />

Lares antwortete ni<strong>ch</strong>ts und trat mit Escalante ins Stadthaus. Er hatte s<strong>ch</strong>on auf dem Ritt<br />

dur<strong>ch</strong> die Straßen bemerkt, dass Veracruz eine s<strong>ch</strong>öne Stadt geworden war. Das Gefängnisgebäude,<br />

die kleine Kir<strong>ch</strong>e, die dicken Festungsmauern standen fest und dauerhaft; keine Kalkgruben<br />

und Mörtelkellen waren mehr zu sehen, kein S<strong>ch</strong>utt, keine gähnenden Fundamente oder unfertigen<br />

Mauern. Die Arbeit war binnen kurzer Zeit getan, wenn au<strong>ch</strong> die siebzig zurückgelassenen<br />

Invaliden wenig Verdienst daran hatten. Do<strong>ch</strong> was Beatriz de Acevedo gesagt hatte, dass sie mit<br />

Blut erbaut war, erkannte er bald als Wahrheit. Denn da der dicke Kazike über zu wenig Arbeiter<br />

verfügen konnte – die meisten Handwerker taten Kriegsdienste und waren mit Cortés na<strong>ch</strong><br />

Tlaxcala gezogen –, holten si<strong>ch</strong> die Kastilier aus der huaxtekis<strong>ch</strong>en Na<strong>ch</strong>bars<strong>ch</strong>aft Arbeiter und<br />

Arbeiterinnen. Sie hatten Raubzüge auf das rote Wild veranstalteten. Dabei floss immer wieder<br />

Blut, denn die naturales ließen si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t freiwillig in die Kne<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>aft führen! Die Sengende Glut,<br />

Statthalter der huaxtekis<strong>ch</strong>en Provinz, erhob Klage und drohte mit Gegenmaßnahmen. Escalante<br />

bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigte und ma<strong>ch</strong>te Verspre<strong>ch</strong>en, die zu halten er ni<strong>ch</strong>t imstande war.<br />

Cortés hatte fast nur Krüppel, Verwundete und Kranke als Besatzung zurückgelassen. Und<br />

man<strong>ch</strong>e, deren Wunden geheilt waren, blieben weiterhin arbeitss<strong>ch</strong>eu und untätig. Zwar waren<br />

einige am vómito negro erkrankt, dem s<strong>ch</strong>warzen Erbre<strong>ch</strong>en oder gelben Fieber, do<strong>ch</strong> fast alle<br />

Weißen litten an krankhafter Faulheit. Um die halb fertige Seefestung zu vollenden, holten sie si<strong>ch</strong><br />

Arbeitskräfte, wo sie wel<strong>ch</strong>e fanden.<br />

Jetzt, da die Stadt erbaut war, bedurften die Kastilier keiner Indianer mehr, wollten auf hübs<strong>ch</strong>e<br />

Indianerinnen aber ni<strong>ch</strong>t verzi<strong>ch</strong>ten. Si<strong>ch</strong> »Rote Ware« aus der Umgegend zu holen, war<br />

ihnen zur Gewohnheit geworden. Müßiggang tat sein übriges: Indianis<strong>ch</strong>e Kuppler verrieten, wo es<br />

s<strong>ch</strong>öne Mäd<strong>ch</strong>en zu erbeuten gab. Anführer war der s<strong>ch</strong>önredneris<strong>ch</strong>e Querulant Alonso de<br />

Grado. Vor zwei Monaten hatte er Cortés beweisen wollen – erst mündli<strong>ch</strong> und dann in einer kalligraphis<strong>ch</strong><br />

vers<strong>ch</strong>nörkelten Bitts<strong>ch</strong>rift –, dass er si<strong>ch</strong> besser als Escalante zum Kommandanten von<br />

Veracruz eignete; do<strong>ch</strong> Cortés hatte diesen Zungendres<strong>ch</strong>er ri<strong>ch</strong>tig einges<strong>ch</strong>ätzt und Grado musste<br />

mit dem Heer mitziehen. Bei der Zerstörung der Götzenbilder in Cempoala war er verwundet<br />

und mit den anderen Verletzten an die Küste zurückgebra<strong>ch</strong>t worden. Da er der Hafenstadt ni<strong>ch</strong>t<br />

als Alcalde vorstehen konnte, su<strong>ch</strong>te er si<strong>ch</strong> eine andere Bes<strong>ch</strong>äftigung.<br />

Er hatte passende Genossen gefunden: Pedro Baracoa, der einstige Reitkne<strong>ch</strong>t des Grafen<br />

de Urueña, und der Steuermann Gonzalo de Umbría, dem Cortés die Füße hatte abhacken lassen.<br />

Au<strong>ch</strong> als Krüppel hatte er ni<strong>ch</strong>ts von seiner Wildheit eingebüßt; so flink wie einst lief er nun auf<br />

kurzen Stelzen umher und wurde an Freibeuterzügen umso weniger gehindert, als er si<strong>ch</strong> – wie


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 125<br />

au<strong>ch</strong> de Grado und Baracoa – von indianis<strong>ch</strong>en Sänftenträgern an den jeweiligen Ort ihrer Untaten<br />

tragen ließ.<br />

»Wenn Ihr die Rückreise antretet«, sagte Escalante mit besorgter Miene, »werde i<strong>ch</strong> Eu<strong>ch</strong><br />

bis Cempoala begleiten, um dort na<strong>ch</strong> dem Re<strong>ch</strong>ten zu sehen. Cortés, der si<strong>ch</strong> viel von den Dolmets<strong>ch</strong>erdiensten<br />

Orteguillas verspri<strong>ch</strong>t, würde es mir nie verzeihen, wollte i<strong>ch</strong> die Dinge laufen<br />

lassen. Aber i<strong>ch</strong> verlasse Veracruz nur ungern.«<br />

»Droht Gefahr von der Küstenbevölkerung?«, fragte Lares.<br />

»Nein. Nur von Weißen! Sie treiben's hier s<strong>ch</strong>limm! Die Rothäute greifen verständli<strong>ch</strong>erweise<br />

zur Waffe, wenn S<strong>ch</strong>wester, Weib oder To<strong>ch</strong>ter angetastet wird. Bisher konnte i<strong>ch</strong> das S<strong>ch</strong>limmste<br />

immer no<strong>ch</strong> abwenden und den mexicanis<strong>ch</strong>en Statthalter bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigen. Aber das hat si<strong>ch</strong> vor<br />

ein paar Tagen geändert.«<br />

»Was ist ges<strong>ch</strong>ehen?«<br />

»I<strong>ch</strong> erfuhr, dass Mel<strong>ch</strong>orejo und Julianillo aufgegriffen wurden und si<strong>ch</strong> im Gewahrsam des<br />

Statthalters befänden. Daraufhin ließ i<strong>ch</strong> ihn auffordern, mir die beiden entlaufenen Sklaven auszuhändigen.<br />

Do<strong>ch</strong> er lehnte mit höfli<strong>ch</strong>em Bedauern ab und s<strong>ch</strong>ützte vor, er habe die beiden bereits<br />

an Moctezuma na<strong>ch</strong> Mexico gesandt.«<br />

»Ja, das stimmt!«, rief Lares und erzählte, dass er dem Trupp unterwegs begegnet sei und<br />

dem Anführer befohlen habe, die Gefangenen na<strong>ch</strong> Tlaxcala zu Cortés zu bringen.<br />

Escalantes Finger zupften missmutig am weißen Knebelbart. »I<strong>ch</strong> bezweifle, dass die<br />

Mexica si<strong>ch</strong> um die Wüns<strong>ch</strong>e eines weißen Mannes kümmern, Señor!«<br />

»I<strong>ch</strong> hätte sie ni<strong>ch</strong>t in meinen Besitz bringen können«, sagte Lares kleinlaut, »sie befanden<br />

si<strong>ch</strong> in der Überzahl. Außerdem wären sie mir viellei<strong>ch</strong>t wieder ausgerissen.«<br />

»Weder Eu<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> trifft S<strong>ch</strong>uld, hö<strong>ch</strong>stens das S<strong>ch</strong>icksal, das diesem König Moctezuma<br />

Kunds<strong>ch</strong>after in die Hände spielt!«<br />

Wie Cortés angeordnet hatte, wurde in Veracruz der Friedenss<strong>ch</strong>luss mit Tlaxcala dur<strong>ch</strong><br />

Freudens<strong>ch</strong>üsse, Beflaggung der Stadt und einem Dankgottesdienst gefeiert. Am Abend versammelten<br />

die Spanier si<strong>ch</strong> im großen Sitzungssaal des Magistratsgebäudes zu einem Bankett. Es<br />

war bereits bekannt geworden, dass Escalante tags darauf na<strong>ch</strong> Cempoala reiten würde und von<br />

Ri<strong>ch</strong>ter Moreno Madrano vertreten werden sollte. Die Abwesenheit des Kommandanten bes<strong>ch</strong>äftigte<br />

die Gemüter und allerlei Hoffnungen ma<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> im Festsaal breit.<br />

»Wisst Ihr, wen wir hier feiern?«, fragte Baracoa seinen stelzfüßigen Na<strong>ch</strong>barn.<br />

»Die Dummheit der Tlaxcalteken und unsere Gottähnli<strong>ch</strong>keit!«, antwortete der Steuermann.<br />

»Nein, die anbre<strong>ch</strong>ende Freiheit!«<br />

»Sagt lieber die ausbre<strong>ch</strong>ende... oder einbre<strong>ch</strong>ende!«, verbesserte ihn Gonzalo de Umbría.<br />

Lares wurde mit Beifall empfangen, als er in Begleitung Escalantes den Saal betrat. Escalante<br />

forderte ihn auf, den versammelten Bürgern der Stadt die Begebenheiten zu s<strong>ch</strong>ildern. Während<br />

er beri<strong>ch</strong>tete, wurde Grado aus dem Saal gerufen. Er blieb lange draußen, und als er zurückkehrte,<br />

hatte Lares seine Erzählung beendet. Jetzt wurde ges<strong>ch</strong>lemmt, geze<strong>ch</strong>t und gela<strong>ch</strong>t. Im Stimmengewirr<br />

musste Grado ni<strong>ch</strong>t befür<strong>ch</strong>ten, von unbefugten Laus<strong>ch</strong>ern verstanden zu werden.<br />

»Was gab es draußen?«, fragte Baracoa.<br />

»Mein blau gestreifter Totonake will si<strong>ch</strong> Glaskorallen verdienen!«<br />

»Und? Verdient er sie?«<br />

»Mehr als das! So einen Kuppler gibt's auf der Welt ni<strong>ch</strong>t wieder!«<br />

»Was wusste er denn Neues?«<br />

»Glänzender Harnis<strong>ch</strong>, der junge Kazike und Sohn des mexicanis<strong>ch</strong>en Statthalters Sengende<br />

Glut, geht morgen mit seinen Leuten ins Gebirge auf die Pumajagd. Sein kleines Bergs<strong>ch</strong>loss<br />

bleibt so gut wie unbewa<strong>ch</strong>t...«<br />

»Oho!«<br />

»Der junge Kazike hat ein s<strong>ch</strong>önes Weib. Ihr habt sie neuli<strong>ch</strong> gesehen, wie sie zur Sänfte<br />

hinausblickte. Dass Escalante uns morgen keinen Stri<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die Re<strong>ch</strong>nung ma<strong>ch</strong>en kann,<br />

kommt zur re<strong>ch</strong>ten Zeit.«<br />

»Hm. Ist das ni<strong>ch</strong>t lei<strong>ch</strong>tsinnig?«, meinte der Prahlhans.<br />

»Bleibt daheim, Baracoa, wenn Ihr Angst habt, weil es eine Vornehme ist. I<strong>ch</strong> habe die Bauernmäd<strong>ch</strong>en<br />

satt!«<br />

»Ja«, bemerkte Gonzalo de Umbría. »Füße habe i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr, aber Augen habe i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong>


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 126<br />

im Kopf. Und um für Eu<strong>ch</strong> eine indianis<strong>ch</strong>e Prinzessin zu ergattern, sollen wir unsere Haut riskieren?«<br />

»Ihr werdet ni<strong>ch</strong>t leer ausgehen, Gonzalo. Der junge Kazike hat drei allerliebste Nebenfrauen,<br />

eine bezaubernder als die andere! Das Risiko ist klein! Das Bergs<strong>ch</strong>loss liegt abseits, die Männer<br />

gehen mit ihrem Herrn auf die Jagd. Wir pirs<strong>ch</strong>en uns vom höher gelegenen Hang heran, so<br />

dass das S<strong>ch</strong>loss unter uns liegt. Mit den Musketen ma<strong>ch</strong>en wir die Dieners<strong>ch</strong>aft nieder. Die Frau<br />

des jungen Kaziken und seine drei Nebenfrauen werden natürli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ont.«<br />

»Bis auf weiteres.« Baracoa la<strong>ch</strong>te. »Bis wir sie hier in unseren Häusern haben!«<br />

*<br />

Am anderen Morgen ma<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> Escalante und Lares reisefertig. Die Sonne stand s<strong>ch</strong>on ho<strong>ch</strong>,<br />

als sie si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Frühstück zu den Pferden begeben wollten. Da fiel Lares no<strong>ch</strong> etwas ein.<br />

»Halt, Señor! Fast hätte i<strong>ch</strong> die Hauptsa<strong>ch</strong>e vergessen!«<br />

Gestern musste er auf tausend Fragen antworten, sodass er no<strong>ch</strong> keine Gelegenheit gehabt<br />

hatte, die Flas<strong>ch</strong>en Malvasier zu erwähnen.<br />

»Kommt in den Keller, wir holen sie«, sagte Escalante.<br />

Sie stiegen die steile Treppe hinunter, fanden Keller und Regale jedo<strong>ch</strong> leer vor! Zu ebener<br />

Erde, in Höhe der Gasse draußen, konnte man dur<strong>ch</strong> ein fensterähnli<strong>ch</strong>es Lüftungslo<strong>ch</strong> die Füße<br />

der Vorübergehenden sehen.<br />

»Räuber«, sagte Escalante niederges<strong>ch</strong>lagen. »Aber viellei<strong>ch</strong>t ist es gut so. Cortés wird daran<br />

ersehen, wie treu bewa<strong>ch</strong>t die Festung ist, und was er an meiner Aufsi<strong>ch</strong>t hat.«<br />

»Cortés wird darüber la<strong>ch</strong>en«, meinte Lares.<br />

»Hoffentli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Es wäre besser, er nähme es ernst! I<strong>ch</strong> bin der Aufgabe ni<strong>ch</strong>t gewa<strong>ch</strong>sen!<br />

Sagt ihm das! Sagt ihm, dass er mi<strong>ch</strong> abberufen soll, dass er einen eisernen Besen hersenden<br />

soll, einen wie Alonso de Avila, um diesem Diebesgesindel Einhalt zu gebieten!«<br />

»Wie konnten Diebe hier eindringen?«, fragte Lares. »Die Kellertür war vers<strong>ch</strong>lossen!«<br />

Vom Fenster her ertönte das helle Geki<strong>ch</strong>er der Mulattin. »Die Tür war vers<strong>ch</strong>lossen, das<br />

Fenster aber ni<strong>ch</strong>t vergittert«, rief sie. »Su<strong>ch</strong>st du die Flas<strong>ch</strong>en, mein Bruder?«<br />

»Was wisst Ihr von den Flas<strong>ch</strong>en, Señora?«, fragte Escalante.<br />

»Drei Männer waren verliebt in sie und wagten die Entführung. Der eine hat keine Treue, der<br />

andere hat keine Ehre, der dritte hat keine Füße. Mehr weiß i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Flas<strong>ch</strong>en sind wie Frauen,<br />

man darf sie ni<strong>ch</strong>t verstecken. Wer sie versteckt, lockt Liebhaber an«, rief Beatriz de Acevedo,<br />

la<strong>ch</strong>te und lief davon.<br />

So ritten Escalante und Lares ohne Malvasier na<strong>ch</strong> Cempoala. Eine Stunde später verließ<br />

au<strong>ch</strong> Alonso de Grado mit seiner Bande Veracruz und s<strong>ch</strong>lug den südwestli<strong>ch</strong>en Weg in die<br />

huaxtekis<strong>ch</strong>en Berge ein. Sie bemerkten den jungen Indianer ni<strong>ch</strong>t, der auf flinken Füßen ebenfalls<br />

na<strong>ch</strong> Südwesten davoneilte und sie auf seitli<strong>ch</strong>em Weg s<strong>ch</strong>on bald überholt hatte.<br />

*<br />

Der Gefleckte Berglöwe, der rotbärtige und rothaarige Sklave Gonzalo Guerrero, liebte es, in der<br />

armseligsten Gegend der Stadt umherzus<strong>ch</strong>lendern, das Treiben des arbeitenden Volkes zu beoba<strong>ch</strong>ten<br />

und si<strong>ch</strong> mit Mantelwebern, Seifensiedern, Blumenhändlern, Lackarbeitern und Korbfle<strong>ch</strong>tern<br />

in Gesprä<strong>ch</strong>e einzulassen. Sein Ohr, an indianis<strong>ch</strong>e Laute gewöhnt, hatte si<strong>ch</strong> ras<strong>ch</strong> in<br />

der mexicanis<strong>ch</strong>en Umgangsspra<strong>ch</strong>e zure<strong>ch</strong>tgefunden. Der S<strong>ch</strong>lagende Falke, dessen Eigentum<br />

er war, hatte den gefangenen Weißen ni<strong>ch</strong>t zum Fä<strong>ch</strong>erhalter, Axtträger oder Sandalenbinder bestimmt.<br />

Nein, Auskünfte und Rats<strong>ch</strong>läge erwartete er von ihm; do<strong>ch</strong> um zu erhalten, was er<br />

brau<strong>ch</strong>te, musste er ihm Zeit und Gelegenheit geben, seine Zunge zu üben. Darum hatte er dem<br />

Sklaven erlaubt, im Meer der Gassen unterzutau<strong>ch</strong>en, ja sogar auf einem Einbaum über den<br />

S<strong>ch</strong>ilfsee zu rudern und die bena<strong>ch</strong>barten Orte zu besu<strong>ch</strong>en. Jeder Flu<strong>ch</strong>tversu<strong>ch</strong> wäre unsinnig<br />

und dumm, denn ein rothaariger Sklave wäre ras<strong>ch</strong> wieder eingefangen.<br />

Eines Tages erblickte der Gefleckte Berglöwe einen jungen Mann im Mens<strong>ch</strong>engewühl. Er<br />

ging in der Tra<strong>ch</strong>t eines huaxtekis<strong>ch</strong>en Tonwarenhändlers und trug eine zuckerhutähnli<strong>ch</strong>e, spitze


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 127<br />

Kopfbedeckung aus Kanin<strong>ch</strong>enhaarfilz. Der Gefleckte Berglöwe entsann si<strong>ch</strong>, wie sein Herr, der<br />

S<strong>ch</strong>lagende Falke, auf der Lagune vor Chapultepec mit ihm zusammengetroffen war. Sie hatten in<br />

einem Kanu gesessen und eine Na<strong>ch</strong>t hindur<strong>ch</strong> leise und eindringli<strong>ch</strong> geredet. Gonzalo folgte dem<br />

jungen Mens<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong> das Labyrinth der Gassen, s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>wand er im ärmli<strong>ch</strong>en Haus<br />

eines Obsidianmesserma<strong>ch</strong>ers. Gonzalo ging ihm na<strong>ch</strong>, do<strong>ch</strong> in der staubgrauen, mit Steinsplittern<br />

übersäten Werkstatt traf er nur auf einen alten mürris<strong>ch</strong>en Mann. Der am Boden hockende Alte<br />

sah kaum von seiner Arbeit auf und erwiderte den Gruß des Sklaven nur mit flü<strong>ch</strong>tigem Nicken.<br />

Der Gefleckte Berglöwe s<strong>ch</strong>aute eine Weile interessiert zu, wie der alte Mexica kunstfertig Feuersteinmesser<br />

herstellte. Die Gewandtheit des Alten war staunenswert; im Nu waren vor den Augen<br />

des Gefleckten Berglöwen ein Dutzend Klingen entstanden, alle genau glei<strong>ch</strong> in Größe und Gestalt.<br />

»I<strong>ch</strong> mö<strong>ch</strong>te sol<strong>ch</strong> ein Messer kaufen«, sagte er zu dem Alten, »genauer gesagt, i<strong>ch</strong> mö<strong>ch</strong>te<br />

es gegen eine Hand voll Kakaobohnen taus<strong>ch</strong>en.«<br />

Jetzt hob der alte Arbeiter den Kopf. Staubgrau wie seine Werkstatt waren seine tief gefur<strong>ch</strong>ten<br />

Wangen. Er hüstelte. Misstrauis<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ielte er zu dem Mann mit dem Sklavenhalsband hinauf.<br />

»Wozu brau<strong>ch</strong>st du ein Messer?«<br />

»Ein Messer kann vielen Zwecken dienen!«<br />

»Wel<strong>ch</strong>en?«<br />

»Man kann damit Maisku<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>neiden und Rohr und Blumen und Wildbret. Es gibt au<strong>ch</strong><br />

Messer, die si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Herzen sehnen...«<br />

Der Alte nickte nur.<br />

»Das sind ni<strong>ch</strong>t die s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>testen meiner Messer. Do<strong>ch</strong> keinem sieht man an, wona<strong>ch</strong> es<br />

si<strong>ch</strong> sehnt.«<br />

»Ja, sie s<strong>ch</strong>auen alle glei<strong>ch</strong> aus. Das ist der Vorteil bei Messern.«<br />

Der Alte blickte ihm fors<strong>ch</strong>end ins Gesi<strong>ch</strong>t. »Denken alle Sklaven so?«<br />

»Wenn alle Sklaven so dä<strong>ch</strong>ten, gäbe es keine Sklaven und keine Herren mehr!«, erwiderte<br />

der Gefleckte Berglöwe.<br />

Im Gesi<strong>ch</strong>t des Alten zuckte es wie Wetterleu<strong>ch</strong>ten. Für einen kurzen Augenblick waren sie<br />

Freunde. Er wies die Kakaobohnen zurück und s<strong>ch</strong>enkte ihm drei Messer.<br />

»Die Armen sind Bilder der Götter!«, zitierte er ein mexicanis<strong>ch</strong>es Spri<strong>ch</strong>wort. »S<strong>ch</strong>arf sind<br />

meine Messer«, fuhr er fort, »du kannst dir damit Bart und Haare s<strong>ch</strong>eren, wenn du dessen bedarfst.<br />

Die Geister der Na<strong>ch</strong>t verraten di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t – und au<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> bin vers<strong>ch</strong>wiegen. Aber deine Augen<br />

werden di<strong>ch</strong> verraten.«<br />

»Meine Augen? Wieso?«<br />

»Sie fragen und reden zuviel! Du musst glei<strong>ch</strong>mütiger werden, damit man di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>aut!<br />

Das kann dein Leben verlängern.«<br />

Der Sklave wurde verlegen; er würde si<strong>ch</strong> den Rat zu Herzen nehmen müssen.<br />

»Wo ist der Jüngling, der vor mir dein Haus betrat?«, fragte er, um das Thema zu we<strong>ch</strong>seln.<br />

Do<strong>ch</strong> da hatte der Alte die Arbeit s<strong>ch</strong>on wieder aufgenommen und war wortkarg und mürris<strong>ch</strong> wie<br />

zuvor. Er wisse ni<strong>ch</strong>ts von einem jungen Mann in huaxtekis<strong>ch</strong>er Tra<strong>ch</strong>t, der ins Haus gekommen<br />

sei. Oder sähe er hier jemanden?<br />

Der Gefleckte Berglöwe sah ein, dass weitere Fragen zwecklos waren. Er verließ die Werkstatt,<br />

merkte si<strong>ch</strong> aber Haus und Gasse.<br />

Am nä<strong>ch</strong>sten Tag kehrte der Gefleckte Berglöwe in die Gasse zurück. Das Emblem einer<br />

Federverarbeiterin zierte das Na<strong>ch</strong>barhaus des Messerma<strong>ch</strong>ers. Der Gefleckte Berglöwe betrat<br />

die Werkstatt unter dem Vorwand, si<strong>ch</strong> das Federknüpfen ans<strong>ch</strong>auen zu wollen. Er wusste, dass<br />

rei<strong>ch</strong>e Kaufleute ges<strong>ch</strong>ickt gefertigte Federarbeiten sammelten. Mit Kunstfertigkeit bildeten die<br />

Federma<strong>ch</strong>er die Buntheit des Himmels und der Erde na<strong>ch</strong>: Lands<strong>ch</strong>aften, Tiere und Dämonen,<br />

Mens<strong>ch</strong>en und Götter. Große Federdecken dienten als Wandbekleidung; in lodernden Farben<br />

tanzten Prinzessinnen, spielten Flöte oder s<strong>ch</strong>mückten si<strong>ch</strong> mit Edelsteinketten und großen Blumen,<br />

und man sah vornehme Prinzen mit Räu<strong>ch</strong>erlöffeln oder Bällen. Für kleinere Geldbeutel gab<br />

es au<strong>ch</strong> weniger anspru<strong>ch</strong>svolle Waren: billige Fä<strong>ch</strong>er, S<strong>ch</strong>ilde, kleine Handfahnen mit einfa<strong>ch</strong>en<br />

geometris<strong>ch</strong>en Mustern, Mondsi<strong>ch</strong>eln oder Mus<strong>ch</strong>eln als S<strong>ch</strong>muck.<br />

Es war ein Manufakturbetrieb, den er da betreten hatte. Die Federverarbeiterin bes<strong>ch</strong>äftigte<br />

viele Frauen; an großen Tis<strong>ch</strong>en stellten die Arbeiterinnen die aus vielen Einzelteilen bestehenden


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 128<br />

Kunstwerke her. Gonzalo bewunderte die phantasievolle Vielfalt der Arbeiten, ließ si<strong>ch</strong> deren Herstellung<br />

erklären und s<strong>ch</strong>aute in der stickigen, mit Daunenflaum ges<strong>ch</strong>wängerten Luft den ges<strong>ch</strong>ickten<br />

Arbeiterinnen zu. Sie verarbeiteten die wertvollen Gefieder des gelben Reihers, des<br />

Orangefinken, der Blauflügelente, des blauen Arara, des rosa Cocopapageien, der Purpurtangare,<br />

des dunkelroten Chamolli, des weißen Si<strong>ch</strong>lers, des s<strong>ch</strong>warzen und gelben Trupials, des goldgrünen<br />

Quetzals, des s<strong>ch</strong>warzblauen oder s<strong>ch</strong>warzgrünen Türkisvogels, der Tukane und der metallis<strong>ch</strong><br />

glühenden Kolibris.<br />

Immer wieder ers<strong>ch</strong>ien der Gefleckte Berglöwe in der Werkstatt und war dort bald eine bekannte<br />

Ers<strong>ch</strong>einung. Er hatte fremde, ferne Länder gesehen und konnte, wenn au<strong>ch</strong> in fehlerhaftem<br />

Idiom, fesselnde Dinge erzählen. Und da er nun oft Gast im Hause war, blieb er man<strong>ch</strong>mal<br />

au<strong>ch</strong> abends, wenn si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> andere Besu<strong>ch</strong>er einfanden. Es waren meist Arbeiter und Arbeiterinnen,<br />

die in derselben Gasse tätig waren, aber au<strong>ch</strong> ein Entenjäger, der tagsüber bis an den Hals<br />

in der Lagune stand, den Kopf mit S<strong>ch</strong>ilfblättern verdeckt, um Wasservögel mit den Händen zu<br />

fangen, weil Pfeilwunden das Gefieder der Löffelreiher und Ibisse entwertete. Außer ihm ers<strong>ch</strong>ien<br />

meist au<strong>ch</strong> eine Wasserträgerin, die Trinkwasser in einem Botti<strong>ch</strong> auf dem Rücken umhertrug und<br />

der ärmeren Bevölkerung feilbot – denn das süße Wasser aus Chapultepec wurde vom großen<br />

Aquädukt nur in die Paläste der Rei<strong>ch</strong>en geleitet.<br />

Müde gearbeitet hockten dann alle am Boden der beengten Werkstatt, redeten nur wenig,<br />

widerspra<strong>ch</strong>en aber au<strong>ch</strong> nur wenig, wenn der Gefleckte Berglöwe aufreizende Worte von Gekne<strong>ch</strong>teten<br />

spra<strong>ch</strong>, die ihre Fesseln zerreißen sollten. Verdrossen s<strong>ch</strong>üttelten sie nur den Kopf.<br />

Für das Land jenseits des Ostmeers, wo die Sonne si<strong>ch</strong> hebt, mo<strong>ch</strong>te das wohl stimmen. Aber in<br />

Mexico waren die Herren zu mä<strong>ch</strong>tig. Der geweissagte Weltums<strong>ch</strong>wung werde ni<strong>ch</strong>ts daran ändern.<br />

Ob der Wandel kam oder ni<strong>ch</strong>t – was ging es sie an? Au<strong>ch</strong> unter anderen Herren hätten sie<br />

keine Verbesserung ihrer Lage zu erwarten. Die Rei<strong>ch</strong>en müssten den Untergang Mexicos für<strong>ch</strong>ten.<br />

Sie aber, die Armen, hatten ni<strong>ch</strong>ts zu für<strong>ch</strong>ten – und ni<strong>ch</strong>ts zu erhoffen.<br />

Na<strong>ch</strong> einigen Tagen bra<strong>ch</strong>te der Gefleckte Berglöwe das Gesprä<strong>ch</strong> auf den Na<strong>ch</strong>barn.<br />

»Ein merkwürdig mürris<strong>ch</strong>er Mann, aber ein guter Handwerker«, sagte er zur Besitzerin und<br />

zog eines der Messer hervor. »I<strong>ch</strong> habe dies hier bei ihm gekauft; es s<strong>ch</strong>neidet vortreffli<strong>ch</strong>!«<br />

»Er heißt Steinerner Bus<strong>ch</strong>, und des Broterwerbs wegen müsste er ni<strong>ch</strong>t mehr arbeiten«, erhielt<br />

er zur Antwort.<br />

»Nun, besonders wohlhabend ers<strong>ch</strong>ien er mir ni<strong>ch</strong>t.«<br />

»Und do<strong>ch</strong> ist es so! Sein Sohn führt seit einigen Jahren Karawanen in die Nordprovinzen,<br />

hat selber zu handeln begonnen und ist vom Herrn der Nase, vom Händlergott, begünstigt worden.<br />

Nun ist er selbst ein rei<strong>ch</strong>er Kaufmann; der Steinerne Bus<strong>ch</strong> müsste ni<strong>ch</strong>t mehr arbeiten.«<br />

»Warum tut er's dann?«<br />

»Er kann vom altgewohnten Gewerbe ni<strong>ch</strong>t lassen, das ist es!«<br />

»Vor einigen Tagen sah i<strong>ch</strong> einen jungen Mann dort eingehen. Er war wie ein Huaxteke gekleidet.<br />

War es sein Sohn?«, fragte der Gefleckte Berglöwe.<br />

»Nein, nein«, wehrte die Frau ab. »Der Sohn kommt prä<strong>ch</strong>tiger daher! Seit kurzem beherbergt<br />

er einen huaxtekis<strong>ch</strong>en Tonwarenhändler, einen jungen Mens<strong>ch</strong>en, der kommt und geht,<br />

aber wir kennen ihn ni<strong>ch</strong>t näher.«<br />

Mit Genugtuung stellte der Gefleckten Berglöwen fest, dass sein Auge ihn ni<strong>ch</strong>t getäus<strong>ch</strong>t<br />

und Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange erkannt hatte. Er teilte seinem Herrn diese Beoba<strong>ch</strong>tung mit. Der S<strong>ch</strong>lagenden<br />

Falken sandte unauffällig einen Sklaven, der den Huaxteken um eine weitere geheime<br />

Zusammenkunft bat.<br />

*<br />

Wenige Stunden vor dem Ausbru<strong>ch</strong> des Popocatepetl ließ si<strong>ch</strong> der Vorsteher des Hauses der<br />

Edelsteine – dieser Rang war Cuauhtémoc, dem S<strong>ch</strong>lagenden Falken, na<strong>ch</strong> seiner Rückkehr aus<br />

Cempoala von Moctezuma verliehen worden – von seinem rothaarigen Sklaven im S<strong>ch</strong>utze einer<br />

Gewitterna<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> die finsteren Kanäle des Stadtviertels Cuepopan rudern und betrat, bei einer<br />

der ärmli<strong>ch</strong>en der Gassen landend, das Haus des Obsidianarbeiters. Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange erwartete<br />

den S<strong>ch</strong>lagenden Falken an der Tür und führte ihn aufs Hausda<strong>ch</strong>, wo sie reden konnten, oh-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 129<br />

ne belaus<strong>ch</strong>t zu werden.<br />

Der Gewitterregen hatte si<strong>ch</strong> ausgetobt und zog jetzt zum nordwestli<strong>ch</strong>en Ufer des S<strong>ch</strong>ilfsees<br />

ab, do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> immer zuckte Blitz auf Blitz über Mexico. Seit Tagen s<strong>ch</strong>on hatte si<strong>ch</strong> der<br />

Rau<strong>ch</strong>faden über dem Vulkan verdi<strong>ch</strong>tet und war zur s<strong>ch</strong>lanken Rau<strong>ch</strong>säule geworden. Aber die<br />

blitzges<strong>ch</strong>wängerten Wolken behinderten jede Fernsi<strong>ch</strong>t und verdeckten die Vorgänge auf dem<br />

Rau<strong>ch</strong>enden Berg.<br />

Do<strong>ch</strong> andere Wolken verdüsterten die Herzen der beiden Freunde. Seit ihrer Begegnung vor<br />

Chapultepec hatten sie vers<strong>ch</strong>iedene Ereignisse na<strong>ch</strong>denkli<strong>ch</strong> gestimmt. Verkleidet und unerkannt<br />

war Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange in seiner Vaterstadt Tezcoco gewesen. Was er dort angetroffen hatte,<br />

ließ S<strong>ch</strong>limmes erahnen. Dur<strong>ch</strong> den Friedenss<strong>ch</strong>luss zwis<strong>ch</strong>en dem Edlen Betrübten und der<br />

Blauen Feder war die Stadt an den S<strong>ch</strong>wiegersohn Moctezumas gefallen. Der aber war ein Mexica<br />

geworden, ein Trabant des Zornigen Herrn. Das Volk verdammte diesen Verrat. Der Edle Betrübte<br />

zerriss das Land in zwei <strong>Teil</strong>e; Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange vernahm in den Straßen der Stadt auf S<strong>ch</strong>ritt<br />

und Tritt Todesdrohungen gegen den Edlen Betrübten und sämtli<strong>ch</strong>e Freunde des Zornigen Herrn.<br />

Felsens<strong>ch</strong>lange ma<strong>ch</strong>te ihm Vorwürfe. Das Amt des Vorstehers des Hauses der Edelsteine<br />

hätte der S<strong>ch</strong>lagende Falke um ihrer Freunds<strong>ch</strong>aft willen ni<strong>ch</strong>t antreten dürfen! Denn als Rei<strong>ch</strong>ss<strong>ch</strong>atzverweser<br />

sei ihm au<strong>ch</strong> die Obhut über den Goldhort von Tezcoco anvertraut, den Cacama<br />

na<strong>ch</strong> Teno<strong>ch</strong>titlán gebra<strong>ch</strong>t hatte. Der S<strong>ch</strong>lagende Falke ma<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> mits<strong>ch</strong>uldig, wenn er das<br />

gestohlene Gut verwalte.<br />

»Nein«, sagte der S<strong>ch</strong>lagende Falke, »wir sind eines Herzens! Solange das himmlis<strong>ch</strong>e Li<strong>ch</strong>t<br />

auf Teno<strong>ch</strong>titlán s<strong>ch</strong>eint, gehört der Goldhort Tezcoco, mag er heute au<strong>ch</strong> in Mexico verwahrt sein.<br />

Nie werde i<strong>ch</strong> zugeben, dass er zu einem anderen Zweck verwendet wird, als zum Wohle<br />

Tezcocos.«<br />

»Den S<strong>ch</strong>atz des Herrn des Fastens wird Moctezuma für si<strong>ch</strong> verwenden. Und wer dürfte es<br />

wagen, ihm entgegenzutreten?«<br />

»I<strong>ch</strong>!«, antwortete Cuauhtémoc. »Himmel und Erde vernehmen meine Worte! I<strong>ch</strong> will die Wut<br />

des Zornigen Herrn ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>euen, sollte er einen sol<strong>ch</strong>en Frevel wagen!«<br />

Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange ließ si<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigen. Besorgt erkundigte er si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der Herrin<br />

von Tula und Prinzessin Perlendiadem. Sie waren vor einiger Zeit vom Zornigen Herrn »eingeladen«<br />

worden, in Teno<strong>ch</strong>titlán Wohnsitz zu nehmen, was einer Geiselhaft glei<strong>ch</strong> kam. Der S<strong>ch</strong>lagende<br />

Falke beri<strong>ch</strong>tete, dass er bei einem Fest Mutter und To<strong>ch</strong>ter gesehen habe, ohne Gelegenheit<br />

zu finden, mit ihnen zu spre<strong>ch</strong>en. Do<strong>ch</strong> wurde bei Hof erzählt, dass die Herrin von Tula den<br />

Prinzen Felsens<strong>ch</strong>lange, ihren Sohn, beweine und für ein Opfer der Ra<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>t Moctezumas halte.<br />

Ungea<strong>ch</strong>tet der Gefahr, der sie si<strong>ch</strong> aussetzten, erhoben die Herrin von Tula und Prinzessin Perlendiadem<br />

laut ihre Anklagen. Und als jüngst die Gattin Moctezumas, die Königin Acatlan, sie in<br />

ihrem Palast besu<strong>ch</strong>en kam, ließen sie ihr ni<strong>ch</strong>t die übli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ale Kakaosaft rei<strong>ch</strong>en, wie Sitte<br />

und Anstand es verlangten. Höfli<strong>ch</strong> lä<strong>ch</strong>elnd hatte Acatlan si<strong>ch</strong> verabs<strong>ch</strong>iedet, aber dann – beinahe<br />

von Sinnen vor Wut – bei Moctezuma Genugtuung für die Kränkung gefordert. Do<strong>ch</strong> Moctezuma<br />

hatte wenig Neigung, si<strong>ch</strong> in einen Frauenstreit zu mis<strong>ch</strong>en.<br />

Der S<strong>ch</strong>lagende Falke wollte der Herrin von Tula die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t bringen, dass ihr Sohn am<br />

Leben sei. Prinz Felsens<strong>ch</strong>lange aber bat, das Geheimnis ni<strong>ch</strong>t zu lüften. Solange nämli<strong>ch</strong> seine<br />

Mutter und S<strong>ch</strong>wester um ihn trauerten, werde au<strong>ch</strong> der Zornige Herr an seinen Tod glauben.<br />

Denn Tote können ni<strong>ch</strong>t mehr.<br />

Das Rollen und Grollen des Rau<strong>ch</strong>enden Berges hatte si<strong>ch</strong> von Stunde zu Stunde gesteigert.<br />

Jetzt setzte mit Gewalt die Eruption ein. No<strong>ch</strong> immer verwehrte eine Wolkenwand den Blick<br />

auf den Vulkan, die Atmosphäre zitterte und bebte, do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> immer blieben die Flammen unsi<strong>ch</strong>tbar.<br />

Plötzli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>wankten die Mauern; knisternd zeigten si<strong>ch</strong> klaffende Risse im Fla<strong>ch</strong>da<strong>ch</strong><br />

des Hauses. Ein Erdbebenstoß ers<strong>ch</strong>ütterte ganz Teno<strong>ch</strong>titlán. Der Obsidianarbeiter stürzte aufs<br />

Da<strong>ch</strong>, bes<strong>ch</strong>wor die Prinzen, sein baufälliges Haus zu verlassen. Do<strong>ch</strong> sie blieben und setzten ihr<br />

Gesprä<strong>ch</strong> fort. Unten in der Gasse liefen aufges<strong>ch</strong>reckte Bewohner umher, kämpften an den Landungsstellen<br />

um Kanus. Auf den finsteren, nur von Blitzen erleu<strong>ch</strong>teten Kanälen wimmelte es von<br />

überfüllten Booten, die alle der Lagune zustrebten.<br />

Na<strong>ch</strong> einer Stunde verzog si<strong>ch</strong> das Gewölk und gab den Blick auf den flammenspeienden<br />

Berg frei. Jetzt stiegen au<strong>ch</strong> die beiden Freunde die steile Treppe zur Gasse hinunter. Im Getümmel<br />

der ängstli<strong>ch</strong> flü<strong>ch</strong>tenden Menge kamen sie nur mühsam voran. Die Riesenfackel des bren-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 130<br />

nenden Berges erhellte die Stadt, als wäre es li<strong>ch</strong>ter Tag; die Gestirne verbli<strong>ch</strong>en, und die heiligen<br />

Feuer auf den Tempelpyramiden s<strong>ch</strong>ienen gelös<strong>ch</strong>t.<br />

*<br />

Die erbetenen fünfhundert Lastträger waren bei Sonnenaufgang zur Stelle. Die Zelte wurden abgebro<strong>ch</strong>en<br />

und auf Tragbahren verpackt. Auf der Plattform des ehemaligen Heidentempels, der<br />

torre de la victoria, war ein hölzernes Kreuz aufgeri<strong>ch</strong>tet; dort oben hielt der Dominikaner Juan<br />

Díaz einen Dankgottesdienst (Pater Olmedo war an Fieber erkrankt), und der alte Soldat Alonso<br />

Durán amtierte in weißem Spitzenröck<strong>ch</strong>en als Ministrant.<br />

Der Popocatepetl hatte si<strong>ch</strong> ausgetobt. Die weiße S<strong>ch</strong>neekappe des Vulkans war abges<strong>ch</strong>molzen,<br />

gläsern leu<strong>ch</strong>tend und glitzernd hoben si<strong>ch</strong> rote Adern fris<strong>ch</strong>er Lava von s<strong>ch</strong>warzem<br />

Gestein ab.<br />

Na<strong>ch</strong> der Messe rührte Benito Bejel die Trommel, und Rodríguez blies in seine lilienförmige<br />

Kupfertrompete. Der Heerzug setzte si<strong>ch</strong> in Bewegung, kriegsmäßig, in strenger Ordnung, als ginge<br />

es zur S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t. Den S<strong>ch</strong>arfs<strong>ch</strong>ützen voraus zogen die Kavalleristen, angeführt von Diego de<br />

Ordás.<br />

Die Luft war voller As<strong>ch</strong>enstaub; fein s<strong>ch</strong>webte er herab und vers<strong>ch</strong>leierte die Sonne, dass<br />

sie eher dem Mond gli<strong>ch</strong> – eine strahlenlose runde S<strong>ch</strong>eibe. As<strong>ch</strong>enstaub senkte si<strong>ch</strong> auf die<br />

S<strong>ch</strong>reitenden, auf die Ges<strong>ch</strong>ützrohre und den gesamten Tross, auf Steine, Gräser und Helme.<br />

Der Weg führte an einem indianis<strong>ch</strong>en Kloster vorbei. Der Orden der Quaquiles lehrte die<br />

Rückkehr des Heilbringers Quetzalcoatl und war Mens<strong>ch</strong>enopfern abhold. Zypressen überragten<br />

das kleine fla<strong>ch</strong>e Gebäude mit seinen zehn Insassen. In langen, bis auf die Füße rei<strong>ch</strong>enden Mänteln<br />

traten die Mön<strong>ch</strong>e aus dem Tor, das Haar zu Knoten gebunden. Eine vornehm gekleidete Indianerin<br />

sowie drei Knaben im Alter von neun bis dreizehn Jahren warteten neben dem Vorsteher<br />

des Klosters, einem hageren, ernsten Mann. Zwei der Mön<strong>ch</strong>e s<strong>ch</strong>leppten eine hölzerne Leiter; ein<br />

Dritter hielt eine bunte Agavepapierkrone in der Hand, ein Vierter einen Napf mit Wa<strong>ch</strong>telblut, und<br />

die übrigen trugen Räu<strong>ch</strong>erwerk in Händen. Sie fragten einen der Totonakenhäuptlinge, wo der<br />

oberste Sohn der Sonne sei, worauf der Totonake auf den stolz dahintrabenden Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en<br />

mit dem blonden Vollbart, dem grünblau blinkenden Stahlhelm und dem Stahlharnis<strong>ch</strong> zeigte.<br />

Cortés, ho<strong>ch</strong> zu Ross, nickte herablassend. Auf seinen Wink trug man die Sänften Marinas<br />

und des kranken Paters Olmedo herbei; das Heer ma<strong>ch</strong>te Halt. Au<strong>ch</strong> der weiter hinten<br />

daherstapfende, s<strong>ch</strong>naufende und s<strong>ch</strong>witzende Lizentiat Juan Díaz kam na<strong>ch</strong> vorn.<br />

Der Vorsteher des Klosters redete ihn als »Stern des Morgens« an, den Erwarteten, den seit<br />

Jahrhunderten Herbeigesehnten, der vom Ostmeer gekommen sei, den Völkern den Frieden zu<br />

bringen, die Tränen der Witwen und Waisen zu trocknen und die Zahl der Toten zu verringern,<br />

na<strong>ch</strong>dem er – selbst ein Toter – zu den Toten hinabgestiegen und vier Tage lang ein Kno<strong>ch</strong>en<br />

gewesen sei.<br />

Cortés fiel die Ähnli<strong>ch</strong>keit mit dem <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Bekenntnis auf. Er fragte den Lizentiaten Juan<br />

Díaz, wie das mögli<strong>ch</strong> sei, und der hatte nur eine Erklärung: Es war eine Ma<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>aft des Teufels!<br />

»Er hält Eu<strong>ch</strong> für die Inkarnation dieses Quetzalcoatl. In den verführten Seelen dieser armen<br />

Heiden verzerrt Satan unseren Glauben wie in einem Hohlspiegel!«, rief er aus.<br />

Der Quaquilen-Abt bat um die Vergünstigung, den Sohn der Sonne ehren zu dürfen, wie<br />

man Götter ehrte. Cortés hatte ni<strong>ch</strong>ts einzuwenden, do<strong>ch</strong> Fray Juan Díaz protestierte. »Nein!« rief<br />

er in leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>em Eifer. »Wenn Ihr Eu<strong>ch</strong> diesen heidnis<strong>ch</strong>en Mythos zunutze ma<strong>ch</strong>t, begebt<br />

Ihr Eu<strong>ch</strong> in die Nähe der Ketzerei! Das Sanctum Offizium...«<br />

Cortés unterbra<strong>ch</strong>: »Ihr seid ni<strong>ch</strong>t bei Trost, Padre. Die Mexica glauben, ihre Zukunft sei in<br />

der Vergangenheit festgelegt. I<strong>ch</strong> aber sage: Ihre Vorstellung, wer wir sein könnten, bestärkt sie<br />

wegen der s<strong>ch</strong>einbaren Realität in ihren Legenden. Ni<strong>ch</strong>t umgekehrt! Die Heilige Inquisition wird<br />

si<strong>ch</strong>er einverstanden sein, wenn wir die Völker Mexicos dem re<strong>ch</strong>ten Glauben zuführen. Dazu<br />

brau<strong>ch</strong>t es zuerst das Vertrauen der armen Heiden. Aber das ist Politik, und davon versteht Ihr<br />

ni<strong>ch</strong>ts!« Und an Marina gewandt, fügte er hinzu: »Sag ihnen, sie dürften mi<strong>ch</strong> ehren.«<br />

Marina übersetzte auf ihre Weise. »Mein Herr, den Fürsten des Sonnenaufgangs, ist gerührt<br />

über die Treue, die ihm über die Jahrhunderte von Eu<strong>ch</strong> bewahrt wurde, und freut si<strong>ch</strong> über die


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 131<br />

Ehrung. Er wird Eu<strong>ch</strong> vor Verfolgung s<strong>ch</strong>ützen und mit Frieden belohnen.«<br />

Da stellten die Mön<strong>ch</strong>e die Leiter an Romos Flanke. Der Klostervorsteher stieg hinauf, und<br />

dur<strong>ch</strong> Marinas Vermittlung bat er Cortés, den Helm abzunehmen. Cortés kam dem Wuns<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong><br />

und ließ si<strong>ch</strong> geduldig die Papierkrone aufs Haupt stülpen. Einer der Mön<strong>ch</strong>e rei<strong>ch</strong>te den Napf<br />

empor. Cortés wurde stutzig und fragte, was damit ges<strong>ch</strong>ehen solle. Blut werde ihm übers Haupt<br />

gegossen, lautete die Antwort. Do<strong>ch</strong> Cortés hatte si<strong>ch</strong> mit Sorgfalt gekleidet, um beim Einzug in<br />

Tlaxcala als Held und höheres Wesen bewundert zu werden. Es war kaum mögli<strong>ch</strong>, dass er si<strong>ch</strong><br />

vor der Stadt umkleiden und säubern konnte. Also beriet er si<strong>ch</strong> mit Velásquez de León und Alvarado.<br />

»Wer ein Götze sein will, muss si<strong>ch</strong> Salböl gefallen lassen!« Alvarado grinste. »Die in<br />

Tlaxcala werden Eu<strong>ch</strong> umso höher s<strong>ch</strong>ätzen, wenn Ihr als Gesalbter des Herrn dur<strong>ch</strong> ihre Gassen<br />

reitet.«<br />

León und Olmedo pfli<strong>ch</strong>teten bei. So fügte si<strong>ch</strong> Cortés. Der Napf wurde über ihm ausgeleert,<br />

und wie roter Lack lief das Blut über sein dunkelblondes Haar, floss über Stirn, Wangen und Kinn<br />

und tropfte auf die Rüstung.<br />

In tiefem Bass stimmten die Mön<strong>ch</strong>e ein Lied an; der Text hörte si<strong>ch</strong> klagend an, do<strong>ch</strong> die<br />

Spanier verstanden kein Wort. Cortés ließ Marina übersetzen:<br />

»Und siehe, so lehrten unsere Väter, unsere Ahnen,<br />

Und sie sagten: Uns ma<strong>ch</strong>te, uns ers<strong>ch</strong>uf, uns ri<strong>ch</strong>tete auf<br />

Unser S<strong>ch</strong>öpfer Quetzalcoatl, unser Prinz,<br />

Und er ers<strong>ch</strong>uf Himmel, Sonne und den Erdkreis.«<br />

Na<strong>ch</strong>dem das Lied verhallt war, winkte der Abt die Frau und die drei Knaben heran. Sie näherten<br />

si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tern, do<strong>ch</strong> in vornehmer Haltung, und grüßten na<strong>ch</strong> Indianerweise. Wer die Frau<br />

sei und was sie begehre?<br />

Der Klostervorsteher erklärte Marina, die Frau hieße Xoantzín, die Windende S<strong>ch</strong>lange, und<br />

sei eine Bes<strong>ch</strong>ützerin des Quaquile-Ordens; sie entstamme dem Fürstenges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t Derer-im-<br />

Regenland und war die Gattin eines der ersten Feldherrn Tlaxcalas, des Fürsten von Atlihuetza,<br />

mit Namen Kiefernzweig und Freund des Prinzen Goldmaske. Windende S<strong>ch</strong>lange sei voller<br />

Sehnsu<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> der Wiederkunft ihres Gottes und hätte keinen größeren Wuns<strong>ch</strong>, als dem Kreuzträger<br />

ihr Herz und die Herzen ihrer drei Söhne darzubringen. Im Dur<strong>ch</strong>einander der vor Erwartung<br />

fiebernden Stadt seien sie unbemerkt hergekommen, um als Erste der Tlaxcalteken Christen zu<br />

werden, denn sie hätten erfahren, dass die Söhne der Sonne die Totonaken dur<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>tes<br />

Wasser zu ihresglei<strong>ch</strong>en gema<strong>ch</strong>t hatten.<br />

»Sie will si<strong>ch</strong> taufen lassen!«, rief der fette Lizentiat Juan Díaz triumphierend. Cortés hätte<br />

den Wuns<strong>ch</strong> gern erfüllt, do<strong>ch</strong> Pater Olmedo lehnte ab. Man hatte in Cempoala s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Erfahrungen<br />

mit übereilten Taufen gema<strong>ch</strong>t. Marina musste der Frau mitteilen, sie sollten si<strong>ch</strong> gedulden;<br />

in Tlaxcala würden sie getauft.<br />

Die Mön<strong>ch</strong>e und die Frau sahen si<strong>ch</strong> an.<br />

»In der Stadt kann es ni<strong>ch</strong>t ges<strong>ch</strong>ehen!«, sagte die Windende S<strong>ch</strong>lange mit s<strong>ch</strong>merzli<strong>ch</strong>em<br />

Lä<strong>ch</strong>eln.<br />

»Warum ni<strong>ch</strong>t?«, fragte Marina.<br />

Weil ihr Gatte Kiefernzweig es dort verhindern werde, sagte sie. Eher werde er sie und ihre<br />

Söhne umbringen, als zuzulassen, dass sie Christen würden. Ni<strong>ch</strong>ts auf der Welt verabs<strong>ch</strong>eue<br />

Kiefernzweig so sehr wie das Kreuz und die Diener des Kreuzes.<br />

»Sagtest du ni<strong>ch</strong>t, dass er ein Freund des Prinzen Goldmaske sei?«, erkundigte si<strong>ch</strong> Cortés.<br />

»O Sohn der Sonne, o unser Herr! Di<strong>ch</strong> hasst Prinz Goldmaske ebenso. Do<strong>ch</strong> sein Gesi<strong>ch</strong>t<br />

verbirgt, was sein Herz denkt.«<br />

»Prinz Goldmaske war bis vor kurzem unser Feind. Aber er hat Frieden mit uns ges<strong>ch</strong>lossen<br />

und uns gehuldigt.«<br />

Windende S<strong>ch</strong>lange blickte zu Cortés auf und spra<strong>ch</strong> dabei zu Marina: »Ja, und glei<strong>ch</strong> darauf<br />

ging er zu Kiefernzweig. Und i<strong>ch</strong> sah, wie sie am Herdfeuer dem Türkisherrn Maiskörner<br />

streuten. Sie saßen viele Stunden beisammen und verwüns<strong>ch</strong>ten den Frieden!«<br />

Marina übersetzte, und Cortés antwortete:


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 132<br />

»Warum sollten er und Kiefernzweig mi<strong>ch</strong> hassen? Unser Friedensbündnis birgt do<strong>ch</strong> für die<br />

Tlaxcalteken au<strong>ch</strong> Vorteile. Gemeinsam werden wir Moctezuma entma<strong>ch</strong>ten.«<br />

»Aber du hast ihm S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> angetan!«<br />

»S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>? I<strong>ch</strong>? Wir waren Gegner, ja, aber nun herrs<strong>ch</strong>t Frieden. Seither habe i<strong>ch</strong> ihm den<br />

Respekt gezollt, der einem großen Heerführer zusteht.«<br />

»Und du glaubst, damit sei aus der Welt ges<strong>ch</strong>afft, was zwis<strong>ch</strong>en eu<strong>ch</strong> stand?«, gab Windende<br />

S<strong>ch</strong>lange zu bedenken. »Goldmaske hat ni<strong>ch</strong>t vergessen, dass du seinen fünfzig Abgesandten<br />

die re<strong>ch</strong>te Hand abhauen ließest und die Verstümmelten an ihn zurückges<strong>ch</strong>ickt hast. Die<br />

eigentli<strong>ch</strong>e Demütigung aber war deine Bots<strong>ch</strong>aft: ›Bringt Eurem Häuptling in Erinnerung, dass der<br />

Sieger bestimmt, wann Frieden sein soll!‹«<br />

Cortés blickte zu León und Alvarado hinüber. »Wir müssen ihre Worte im Gedä<strong>ch</strong>tnis behalten,<br />

meine Herren!«, sagte er. Dann wandte er si<strong>ch</strong> zur Tlaxcaltekin:<br />

»Geh na<strong>ch</strong> Hause, Frau, und sei ohne Fur<strong>ch</strong>t. Wir werden di<strong>ch</strong> und deine Söhne taufen, ob<br />

es Kiefernzweig re<strong>ch</strong>t ist oder ni<strong>ch</strong>t!«<br />

*<br />

Es war der 18. September 1519. Dur<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>leier des feinen As<strong>ch</strong>ens<strong>ch</strong>nees hindur<strong>ch</strong> konnte<br />

man die mä<strong>ch</strong>tige Staubwolke, die das Christenheer aufwirbelte, s<strong>ch</strong>on von weitem sehen. Zu<br />

Hunderten strömten die Bewohner Tlaxcalas aus dem Tor in der Umfassungsmauer den Ankömmlingen<br />

entgegen. Diego de Ordás musste seiner Graus<strong>ch</strong>immelstute mehr als einmal mit der Kandare<br />

das Maul kitzeln und ihr die Wei<strong>ch</strong>en mit den spannenlangen Rittersporen ritzen, um als Erster<br />

ins Ziel zu reiten. Silberne Häuser wie in Cempoala fand er ni<strong>ch</strong>t, denn alle Gebäude waren mit<br />

bunt gemusterten Baumwolldecken, teppi<strong>ch</strong>ähnli<strong>ch</strong>en Matten und Blumengewinden behängt. Girlanden<br />

überspannten die Straßen, sodass Ordás si<strong>ch</strong> ducken musste, um darunter hindur<strong>ch</strong>reiten<br />

zu können. Als in einer der Gassen eine Girlande no<strong>ch</strong> tiefer hing und ihm bis zum Sattel rei<strong>ch</strong>te,<br />

blieb sein Ross stehen und bes<strong>ch</strong>nupperte die Blumen, als wären sie Heu. Do<strong>ch</strong> Ordás ließ si<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t aufhalten. Mit angelegtem Speer ritt er eine Attacke gegen die Girlande, die der Wu<strong>ch</strong>t seines<br />

Angriffs ni<strong>ch</strong>t standhalten konnten und zerfetzt und zertrampelt am Boden lag.<br />

Das Volk hatte ni<strong>ch</strong>t glei<strong>ch</strong> begriffen, dass der Angriff den Blumen galt; es stob auseinander<br />

und kreis<strong>ch</strong>te. Do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>nell sammelte es si<strong>ch</strong> wieder, um den entsetzli<strong>ch</strong>en Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en voller<br />

Neugier und Grauen anzustarren. Was mo<strong>ch</strong>te ihn bewogen haben, gegen Blumen zu fe<strong>ch</strong>ten?<br />

Was bezweckte er damit, was plante er? Weshalb drückte er si<strong>ch</strong> selbst so wütend die Flanken?<br />

Einer der Umstehenden fand des Rätsels Lösung: Das Maul des armen Tieres s<strong>ch</strong>äumte vor<br />

Anstrengung und war rot von Blutstropfen, weil die Kandare es misshandelt hatte. Sie aber glaubten,<br />

der Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong> habe einen Mens<strong>ch</strong>en gefressen – darum war er blutig am Maul! Rührte er<br />

si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vom Fleck, weil er wieder Hunger na<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>enfleis<strong>ch</strong> hatte? Musste man ihn besänftigen,<br />

sättigen und verhindern, dass er seine Gier an den Bewohnern Tlaxcalas ausließ?<br />

Binnen kurzer Zeit war ein Opfersklave zur Stelle. Er wurde dem Hirs<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en zum Fraß<br />

vorgelegt, aber der ma<strong>ch</strong>te keine Anstalten, die Speise zu vers<strong>ch</strong>lingen. Da fragten sie ihn demütig,<br />

ob man ihm den Sklaven s<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ten und zerlegen solle. Ordás verstand ni<strong>ch</strong>t, was die Leute<br />

wollten. Unwirs<strong>ch</strong> rief er auf Spanis<strong>ch</strong>, sein widerspenstiges Pferd ni<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>eu zu ma<strong>ch</strong>en.<br />

Zum Glück hatte ihn jetzt die Vorhut des Heeres eingeholt, und mit den Kavalleristen kam au<strong>ch</strong><br />

Enrico Lares heran, der genug von der Landesspra<strong>ch</strong>e verstand, um zu erkennen, wie besorgt die<br />

Bewohner der Stadt um das leibli<strong>ch</strong>e Wohl ihrer Gäste waren.<br />

Die Reiter la<strong>ch</strong>ten ausgelassen, nur Ordás empfand es als s<strong>ch</strong>amlos, die gut gemeinte Absi<strong>ch</strong>t<br />

der Leute zu verla<strong>ch</strong>en. So wies er Lares an, den Tlaxcalteken für ihre Freundli<strong>ch</strong>keit zu danken.<br />

*<br />

Tlaxcala hatte zehntausend Feuerherde – was einer Bevölkerungszahl von ungefähr hunderttausend<br />

Einwohnern entspri<strong>ch</strong>t. Cempoala, die erst vor kurzem so bestaunte Stadt, ers<strong>ch</strong>ien ihnen im<br />

Verglei<strong>ch</strong> zu Tlaxcala wie ein Dorf. Aber Tlaxcala war ni<strong>ch</strong>t rei<strong>ch</strong>. Seit mehr als einem halben


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 133<br />

Jahrhundert von Mexico bedrängt, war die Stadt verarmt. Die Häuser waren meist aus Lehmziegeln<br />

erbaut, nur vereinzelt sah man einen behäbig daliegenden Steinpalast, und mit Ausnahme<br />

weniger Kriegshäuptlinge trugen die Tlaxcalteken und Tlaxcaltekinnen bes<strong>ch</strong>eidenen S<strong>ch</strong>muck. Es<br />

war ein s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>tes, kriegsgewohntes Bergvolk. Bunt war das Bild, das si<strong>ch</strong> den Einziehenden bot.<br />

No<strong>ch</strong> kannten die Kastilier die Zentren der toltekis<strong>ch</strong>en Kultur ni<strong>ch</strong>t: Cholula, Tezcoco, und Teno<strong>ch</strong>titlán.<br />

Sie bestaunten Tlaxcala mit seinen großen und kleinen Marktplätzen, Töpfereien, Barbierstuben<br />

und Badehäusern als das größte der bisher erlebten Wunder und glaubten si<strong>ch</strong> mehr<br />

denn je in einer Mär<strong>ch</strong>enwelt.<br />

Die Stadt war dur<strong>ch</strong> den Zusammens<strong>ch</strong>luss von vier alten Orten entstanden, deren Bewohner<br />

je einem der vier Hauptstämme des Landes angehörten. Auf einem steilen Felshügel stand der<br />

festungsartige Palast des Wollrings; ho<strong>ch</strong> erhob er si<strong>ch</strong> übers Ufer des die Stadt dur<strong>ch</strong>strömenden<br />

Flusses Zahuapan. Mauern und Tore grenzten die Stadtviertel voneinander ab. Am ersten der inneren<br />

Stadttore wartete König Listiger Marder, umgeben von allen Häuptlingen Derer-im-<br />

Regenland, und überrei<strong>ch</strong>te dem vorbeireitenden Cortés mit übers<strong>ch</strong>wängli<strong>ch</strong>en Begrüßungsworten<br />

einen Strauß Kienfackelblumen. Am nä<strong>ch</strong>sten Tor erwartete Wollring, der König Derer-auf-den-<br />

Bergen, das Christenheer; seine Gabe an Cortés war ein Strauß Maiskolbenblüten. Am dritten Tor,<br />

wo Die-unter-den-Pinien wohnten, stand der Blutige S<strong>ch</strong>ild und bes<strong>ch</strong>enkte Cortés mit einem<br />

Strauß maulbeerfarbenen Ohrenblumen. Das letzte Tor war leer; das Oberhaupt Der-auf-der-<br />

Kalkerde, der hundertjährige König Wespenring, harrte seines hohen Alters wegen an den niederen<br />

Treppenstufen vor seinem Palast, wo er einen Strauß Rabenblumen übergab und Cortés einlud,<br />

mit seinem Heer im Tecpan Quartier zu nehmen.<br />

Cortés verbeugte si<strong>ch</strong> tief vom Sattel herab, zwang sein Pferd Romo, vor dem Greis niederzuknien,<br />

und nahm mit höfli<strong>ch</strong>en Worten die Gastfreunds<strong>ch</strong>aft an.<br />

*<br />

Das Heer hatte in den fürstli<strong>ch</strong>en Sälen Quartier bezogen. Cortés ließ den Tecpan sofort in eine<br />

Festung verwandeln. Die Singende Na<strong>ch</strong>tigall wurde am Haupteingang postiert, und die Kartaunen,<br />

Felds<strong>ch</strong>langen und Falkonette bewa<strong>ch</strong>ten die seitli<strong>ch</strong>en und hinteren Palasttore, sodass die<br />

angrenzenden Gassen unter Feuer genommen werden konnten. S<strong>ch</strong>ildwa<strong>ch</strong>en wurden aufgestellt<br />

und den Soldaten untersagt, das Quartier zu verlassen. Innerhalb der Mauern jedo<strong>ch</strong> war es ihnen<br />

gestattet, si<strong>ch</strong> die Freizeit na<strong>ch</strong> Belieben mit Würfelspiel, Tanz und Gesang oder mit den Mäd<strong>ch</strong>en<br />

zu vertreiben, die ihnen von Marina ges<strong>ch</strong>enkt worden waren. Au<strong>ch</strong> für leibli<strong>ch</strong>e Genüsse – Wildbret,<br />

Obst und Pulque – war gesorgt. Im geräumigen Tecpan und seinen Nebengebäuden und<br />

Gartenhäusern fanden alle Christen, Dirnen und totonakis<strong>ch</strong>en Bundesgenossen - an die dreitausend<br />

Mens<strong>ch</strong>en – rei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> Platz.<br />

Marina hielt Cortés zaghaft vor, dass er das Volk dur<strong>ch</strong> seine Vorsi<strong>ch</strong>tsmaßregeln kränke.<br />

Cortés hielt si<strong>ch</strong> mit der Antwort zurück, die er dem Alvarado gab: dass Indianer Indianer blieben.<br />

Er rief Marina die Aussagen der Windenden S<strong>ch</strong>langen ins Gedä<strong>ch</strong>tnis, dass Prinz Goldmaske und<br />

dessen Freund Kiefernzweig untreu sein könnten. Marina s<strong>ch</strong>üttelte den Kopf; sie vermo<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t<br />

an die Untreue der beiden Männer zu glauben. Das seien bloß zwei Hitzköpfe, sagte sie, die den<br />

Rat der Alten ni<strong>ch</strong>t dazu bewegen könnten, eine Treulosigkeit zu begehen oder gutzuheißen. Sie<br />

kenne si<strong>ch</strong> besser aus in den Seelen der Indianer und könne dafür einstehen, dass es keine verlässli<strong>ch</strong>eren<br />

Feinde, aber au<strong>ch</strong> keine verlässli<strong>ch</strong>eren Freunde gebe als die Tlaxcalteken. Die vier<br />

Könige, der Senat und der Adel Tlaxcalas würden Seite an Seite mit den Christen siegen oder<br />

sterben. Dies gelte au<strong>ch</strong> für das Volk; Feindseligkeiten seien von ihm ni<strong>ch</strong>t zu erwarten, na<strong>ch</strong>dem<br />

es dank der Mär<strong>ch</strong>en der Totonaken mit Ehrfur<strong>ch</strong>t vor den Weißen erfüllt sei.<br />

»Was für Mär<strong>ch</strong>en?«, fragte Cortés.<br />

»Die Totonaken glauben, dass si<strong>ch</strong> bei unserem Einzug heute Spione Moctezuma in der<br />

Menge befunden haben, wie au<strong>ch</strong> andernorts. Daher erzählten sie auf Fragen, die über eu<strong>ch</strong> gestellt<br />

wurden, viel mehr, als si<strong>ch</strong> mit der Wahrheit verträgt.«<br />

»Spann mi<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t auf die Folter, Marina! Was haben die Leute erzählt?«<br />

»Sie sagten, damit es weit und breit, au<strong>ch</strong> jenseits der Großen Mauer na<strong>ch</strong>geplappert werde,<br />

die weißen Männer seien unverwundbar und unsterbli<strong>ch</strong>.«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 134<br />

»Ja, anfangs glaubten das alle naturales – die in Veracruz und Cempoala. Aber i<strong>ch</strong> kann mir<br />

ni<strong>ch</strong>t vorstellen, dass inzwis<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t längst dur<strong>ch</strong>gesickert ist, dass wir bei den Gefe<strong>ch</strong>ten Verwundete<br />

zu beklagen hatten.«<br />

Marina s<strong>ch</strong>üttelte den Kopf. »Die Totonaken haben sol<strong>ch</strong>e Beri<strong>ch</strong>te als Ges<strong>ch</strong>wätz abgetan.<br />

Alle Fabeln über die mens<strong>ch</strong>enfressenden Hirs<strong>ch</strong>ungeheuer wurden von ihnen bestätigt und ins<br />

Maßlose übertrieben. Den Hund Becerrico bezei<strong>ch</strong>neten sie als den Gott der Raubtiere, und seine<br />

lange, aus dem offenen Ra<strong>ch</strong>en hängende Zunge bes<strong>ch</strong>rieben sie als rote Gifts<strong>ch</strong>lange. Die weißen<br />

Frauen aber seien mens<strong>ch</strong>engesi<strong>ch</strong>tige Vögel. Sie flögen na<strong>ch</strong>ts im Lande umher, um die<br />

Männer ihrer Augen und Herzen zu berauben.«<br />

»Gut!«, sagte Cortés. »Wenn es uns nützt, wollen wir sie in dem Glauben lassen.«<br />

*<br />

Am Abend ers<strong>ch</strong>ien eine Abordnung des Hohen Rates vor Cortés, um die Kastilier zu einem großen<br />

Fest einzuladen. Fünftausend Tänzer in farbenprä<strong>ch</strong>tigen Tra<strong>ch</strong>ten sollten ein gewaltiges Gepränge<br />

darbieten. Dem Befehlshaber war klar, dass er die Einladung ni<strong>ch</strong>t auss<strong>ch</strong>lagen durfte,<br />

wollte er die Tlaxcalteken als Verbündete dauerhaft an si<strong>ch</strong> binden. Do<strong>ch</strong> die Soldaten müssten<br />

einsatzbereit in den Quartieren verbleiben. Der caudillo bedankte si<strong>ch</strong> mit gesetzten Worten und<br />

gab seine Zusage, mit einigen Hauptleuten und der Malintzín zum Fest zu ers<strong>ch</strong>einen.<br />

Es mo<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t ohne Risiko sein, do<strong>ch</strong> Cortés glaubte, es verantworten zu können. So erteilte<br />

er seine Befehle, übertrug Sandoval das Kommando im Tecpan und gab ihm die notwendigen<br />

Anweisungen, sollte es zu einem Zwis<strong>ch</strong>enfall kommen. Er würde si<strong>ch</strong> von Velásquez de<br />

León, Alvarado, Ordás, Olíd und Tapia begleiten lassen.<br />

Cortés und die Feldobristen ritten im S<strong>ch</strong>ritt neben der Sänfte Marinas und ihrem kleinen<br />

Hofstaat. Die Gassen waren kaum belebt; alles Volk war beim großen Marktplatz versammelt. Die<br />

Stadtteile, dur<strong>ch</strong> die sie kamen, waren wie ausgestorben. Häuser und Paläste waren von den Bewohnern<br />

verlassen; offene Tore ohne Wä<strong>ch</strong>ter zeugten von der Sorglosigkeit der Bewohner. Kaum<br />

jemand war zu sehen, nur hier und da s<strong>ch</strong>aute ein altes Gesi<strong>ch</strong>t der Kavalkade na<strong>ch</strong>.<br />

1<strong>1.</strong> Weißer Sommervogel<br />

»Unsere <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Religion entspri<strong>ch</strong>t allen Völkern der Welt in glei<strong>ch</strong>em Maße und empfängt<br />

alle in glei<strong>ch</strong>er Weise, sie nimmt keinem seine Freiheit oder sein Land und zwingt<br />

au<strong>ch</strong> keinen in die Kne<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>aft.«<br />

(Bartolomé de las Casas, Historia 2)<br />

Ein streng gehüteter Gefangener – oder war es eine Gefangene? – nutzte die Gelegenheit zur<br />

Flu<strong>ch</strong>t. Weißer Sommervogel, der s<strong>ch</strong>öne Hermaphrodit, konnte die Bewa<strong>ch</strong>er überlisten.<br />

Prinz Goldmaske hatte die Ents<strong>ch</strong>eidungss<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t gegen Cortés verloren, weil er das Zelt<br />

seines Mitfeldherrn Pimoti, des Lanzenträgers, umstellen und Weißer Sommervogel daraus rauben<br />

ließ. Goldmaske war der zauberhaften Knäbin so verfallen, dass ihm die verlorene S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong><br />

diesen Besitz aufgewogen s<strong>ch</strong>ien. Er hielt Weißer Sommervogel in seinem Palast als das wunderbarste,<br />

einmaligste Wesen gefangen. Das frühere Vergehen hatte er dem Hermaphroditen verziehen;<br />

der Todesstrafe war er dur<strong>ch</strong> den geglückten Todeslauf entkommen – nun war er unantastbar!<br />

Goldmaske war verliebt und da<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t an Vergeltung. Er verwöhnte Weißer Sommervogel


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 135<br />

wie zuvor, behängte ihn mit Juwelen, gab ihm Fä<strong>ch</strong>erträgerinnen, Sandalenbinderinnen, Haarkämmerinnen,<br />

Girlandenfle<strong>ch</strong>terinnen und s<strong>ch</strong>enkte ihm einen überaus kostbaren Handspiegel aus<br />

s<strong>ch</strong>warzem Obsidian, damit au<strong>ch</strong> er si<strong>ch</strong> an seiner einzigartigen S<strong>ch</strong>önheit erfreuen könne. Fünf<br />

alte Frauen hatten den Auftrag, das Zwitterwesen nie aus den Augen zu lassen. Nur in wenigen,<br />

von Fontänen gekühlten Räumen durfte Weißer Sommervogel si<strong>ch</strong> aufhalten; nur in einem kleinen<br />

<strong>Teil</strong> des Gartens durfte er lustwandeln.<br />

Als Feldherr konnte Goldmaske beim Fest ni<strong>ch</strong>t fehlen. Es war vorauszusehen, dass er erst<br />

zur Na<strong>ch</strong>tzeit zurückkehrte, und so erlaubte er au<strong>ch</strong> seinen Haupt- und Nebenfrauen in Begleitung<br />

ihrer Sklavinnen dem Spektakel auf dem großen Marktplatz beizuwohnen. Mit und ohne Erlaubnis<br />

entfernten si<strong>ch</strong> die meisten der Palastdiener; dann s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> mehrere der alten Wä<strong>ch</strong>terinnen<br />

Weißer Sommervogels von Neugier getrieben davon. S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> waren außer dem Hermaphroditen<br />

nur no<strong>ch</strong> zwei Wä<strong>ch</strong>terinnen und einige unmündige Kinder des Prinzen im Palast.<br />

In einem kleinen Saal, der nur einen Zugang besaß, spielte Weißer Sommervogel mit einem<br />

der kleinen Prinzen, einem vierjährigen Knaben. Vor der offenen Tür hatten die zwei Wä<strong>ch</strong>terinnen<br />

Platz genommen und trats<strong>ch</strong>ten über wahren, vermuteten und erfundenen Palastklats<strong>ch</strong>. Weißer<br />

Sommervogel wusste, dass der Palast leer war. Heute konnte er entkommen – oder nie! Mit einer<br />

List geda<strong>ch</strong>te er, die Aufmerksamkeit der Weiber abzulenken.<br />

Prinz Goldmaske hatte ihm vor einiger Zeit einen s<strong>ch</strong>ön geflo<strong>ch</strong>tenen bunten Gurt ges<strong>ch</strong>enkt.<br />

Weißer Sommervogel nahm den Gurt ab, löste die S<strong>ch</strong>nalle und begann, die dünnen<br />

S<strong>ch</strong>nüre aufzufle<strong>ch</strong>ten. Dann fertigte er ein feines Seil daraus und knüpfte an das Ende eine<br />

S<strong>ch</strong>linge, dessen Knoten si<strong>ch</strong> bei Belastung immer straffer zusammenziehen, aber ni<strong>ch</strong>t lockern<br />

würde. Er hörte das Plappern seiner Wä<strong>ch</strong>terinnen vor der Tür und vernahm das Ä<strong>ch</strong>zen der Stühle,<br />

wenn die Frauen si<strong>ch</strong> bewegten. Mit bere<strong>ch</strong>nender Kaltblütigkeit ma<strong>ch</strong>te er beim Spiel kleine<br />

Späße, la<strong>ch</strong>te und ki<strong>ch</strong>erte wie ein Mäd<strong>ch</strong>en. Inzwis<strong>ch</strong>en war das Werkzeug seiner S<strong>ch</strong>läue gediehen.<br />

Er legte die S<strong>ch</strong>linge dem Knaben um den Hals und band das Ende des dünnen Seils an<br />

einen Fackelhalter der Saalwand. Weißer Sommervogel entfernte si<strong>ch</strong> vom Kind, streckte die Arme<br />

aus, lockte es zu si<strong>ch</strong>. Das Kind sprang auf, wollte si<strong>ch</strong> spielend und la<strong>ch</strong>end in seine Arme<br />

werfen, do<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>linge zog si<strong>ch</strong> zu und s<strong>ch</strong>nürte dem Knaben die Luft ab. Das Kind, das eben<br />

no<strong>ch</strong> ausgelassen la<strong>ch</strong>te, rö<strong>ch</strong>elte laut, begann um si<strong>ch</strong> zu s<strong>ch</strong>lagen, versu<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong> zu befreien,<br />

do<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>linge zog si<strong>ch</strong> immer mehr zu, raubte ihm Atem und Besinnung.<br />

Von den Geräus<strong>ch</strong>en aufges<strong>ch</strong>reckt, s<strong>ch</strong>auten die beiden Wärterinnen dur<strong>ch</strong> die Tür. Sie<br />

sahen den Knabe zusammengesunken liegen, mit aus den Höhlen getretenen Augen und hervorquellender<br />

Zunge. Der Knabe war der Lieblingssohn des Prinzen Goldmaske; ges<strong>ch</strong>ah ihm ein<br />

Leid, war ihnen der Tod gewiss. Sie eilten herbei, um das Kind zu befreien, bemerkten, dass die<br />

S<strong>ch</strong>linge si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mit den Fingern öffnen ließ und mussten vorsi<strong>ch</strong>tig, um das Kind ni<strong>ch</strong>t zu verletzen,<br />

die S<strong>ch</strong>nur am Hals dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>neiden. Darüber verging kurze Zeit, und Weißer Sommervogel<br />

konnte entwis<strong>ch</strong>en.<br />

Er rannte dur<strong>ch</strong> den langen Gang davon. Do<strong>ch</strong> während die eine der Frauen das Kind betreute,<br />

sprang die andere zu einem der Fenster und alarmierte Vorübergehende. Neugierige blieben<br />

stehen, und als Weißer Sommervogel herausgestürzt kam, verfolgten sie ihn. Und mit jeder<br />

Gasse, dur<strong>ch</strong> die er kam, wu<strong>ch</strong>s die Zahl seiner Verfolger.<br />

*<br />

Die geländerlose Holzbrücke über den Zahuapan-Fluß war breit genug für drei nebeneinander<br />

trabende Reiter. Wegen der Regenzeit führte der Fluss viel Wasser. Hinter der Häuserreihe der<br />

jenseitigen Uferstraße musste si<strong>ch</strong> der Festplatz befinden; s<strong>ch</strong>on waren Gesänge und Musik zu<br />

hören. Marinas Sänfte hatten die tlamamas bereits über die Brücke getragen; Cortés und seine<br />

Begleiter wollten gerade folgen, als eine lärmende Volksmenge nahte, die ein flü<strong>ch</strong>tendes Wesen<br />

verfolgte, offenbar eine junge Frau. Weißer Sommervogel sah si<strong>ch</strong> in die Enge getrieben: vor si<strong>ch</strong><br />

die von Hirs<strong>ch</strong>ungeheuern benutzte Brücke, hinter si<strong>ch</strong> der johlende Pöbel. Da warf die Knäbin<br />

si<strong>ch</strong> in die Wellen. Wenn sie den Wassergeistern entkam und das andere Ufer errei<strong>ch</strong>te, war sie<br />

gerettet!


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 136<br />

Do<strong>ch</strong> die Strömung war zu stark, der Kampf gegen die Wellen aussi<strong>ch</strong>tslos. Ordás konnte<br />

keine Frau in Not sehen. Er trieb seine Graustute ins Wasser. Olíd und Tapia folgten seinem Beispiel,<br />

aber die Ertrinkende wurde von der Strömung fortgerissen. Geistesgegenwärtig galoppierte<br />

Alvarado am Ufer stromabwärts, sprang ab und konnte Weißer Sommervogel gerade no<strong>ch</strong> zur<br />

re<strong>ch</strong>ten Zeit packen und ans Ufer ziehen. Da bemerkte er die fast überirdis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>önheit der Geretteten.<br />

Weißer Sommervogel war ohnmä<strong>ch</strong>tig und s<strong>ch</strong>lug na<strong>ch</strong> einer Weile die Augen auf.<br />

Nun erlebten die Spanier, dass das Informationssystem ihrer Gastgeber funktionierte. Prinz<br />

Goldmaske hatte bereits von dem Vorfall gehört, eilte herbei und beanspru<strong>ch</strong>te Weißer Sommervogel<br />

als seinen Besitz. Cortés sah kein Hindernis, ihm das Mäd<strong>ch</strong>en auszuliefern, an dem er sehr<br />

zu hängen s<strong>ch</strong>ien. Die Dankbarkeit des Prinzen war ni<strong>ch</strong>t geheu<strong>ch</strong>elt; besonders für Alvarado hegte<br />

er seit diesem Tag freundli<strong>ch</strong>e Zuneigung.<br />

Au<strong>ch</strong> sein Rivale Pimoti, der Lanzenträger, ers<strong>ch</strong>ien und ma<strong>ch</strong>te aufgeregt seine Re<strong>ch</strong>te geltend.<br />

Cortés konnte und wollte ni<strong>ch</strong>t S<strong>ch</strong>iedsri<strong>ch</strong>ter im Streit der beiden Heerführer sein. Und da er<br />

den Hermaphroditen bereits Prinz Goldmaske ausgeliefert hatte, ließ er es dabei.<br />

Als Cortés und seine Begleiter auf dem großen Platz eintrafen, hatten die Vorführungen<br />

s<strong>ch</strong>on begonnen. Au<strong>ch</strong> Ordás und Alvarado ließen es si<strong>ch</strong> trotz nasser Kleidung ni<strong>ch</strong>t nehmen,<br />

das Volksfest zu besu<strong>ch</strong>en. Was sie zu sehen bekamen, s<strong>ch</strong>lug sie ras<strong>ch</strong> in Bann. Hunderte von<br />

Tänzern füllten den großen Platz di<strong>ch</strong>t an di<strong>ch</strong>t, nur mit einem Lendens<strong>ch</strong>urz bekleidet, die Köpfe<br />

mit riesigen Federbüs<strong>ch</strong>en ges<strong>ch</strong>mückt. Zehntausende von Krani<strong>ch</strong>en, Flamingos, Paradiesvögeln,<br />

Kolibris, Adlern, Geiern, Bussarden, Falken, Fasanen, Tauben, Käuzen und Eulen, Tukanen<br />

und Papageien hatten dafür ihre Federn lassen müssen. Die Tänzer summten zu rhythmis<strong>ch</strong>em<br />

Trommels<strong>ch</strong>lag und den dumpfen Klängen der lurenartigen Trompeten; ein lang gezogenes, eigenartig<br />

nasales »Uu-uu-oo-uuh! Uu-uu-oo-uuh«, gaben sie von si<strong>ch</strong>, immer und immer wieder –<br />

»Uu-uu-oo-uuh! Uu-uu-oo-uuh!« Dabei bewegten sie si<strong>ch</strong> in lang gezogenen Kreisbögen mit<br />

rhythmis<strong>ch</strong>en kurzen S<strong>ch</strong>ritten um einen zentralen Punkt; eine si<strong>ch</strong> drehende S<strong>ch</strong>eibe aus fünftausend<br />

Mens<strong>ch</strong>en. »Uu-uu-oo-uuh! Uu-uu-oo-uuh!« Feierli<strong>ch</strong> langsam erst, dann ras<strong>ch</strong>er und ras<strong>ch</strong>er.<br />

Kreisende Kopfbewegungen der Tänzer ließen die Federkronen wogen. Der Gesang<br />

s<strong>ch</strong>woll an, wurde immer lauter und verwandelte si<strong>ch</strong> plötzli<strong>ch</strong> zu ein Stakkato: »Au wa, auwa he!<br />

Au wa, auwa he, au wa, auwa he!« Die S<strong>ch</strong>ritte wurden s<strong>ch</strong>neller, wirbelnd zuletzt wie eine buntfarbige<br />

Sonne.<br />

Da bra<strong>ch</strong>en plötzli<strong>ch</strong> mit einem dröhnenden Paukens<strong>ch</strong>lag Musik und Tanz ab; fünftausend<br />

Tänzer senkten die Köpfe, gingen blitzartig in die Hocke, vers<strong>ch</strong>wanden unter ihrem Kopfputz! Ein<br />

wogendes Meer von Federbüs<strong>ch</strong>en bot si<strong>ch</strong> den Augen der Spanier dar.<br />

Cortés – zuerst von der farbenprä<strong>ch</strong>tigen Exotik der Tanzenden gefangen – wurde na<strong>ch</strong>denkli<strong>ch</strong>.<br />

Er begriff: Musik, Gesang und Tanz waren mehr als nur eine folkloristis<strong>ch</strong>e Darstellung,<br />

mehr als eine vorgetragene S<strong>ch</strong>au. Die meisterli<strong>ch</strong>e Choreographie und die perfekte Aufführung<br />

sollte die Ma<strong>ch</strong>t der Tlaxcalteken demonstrieren. Wollte Wespenring ihm drohen? Sein Verhalten<br />

bei ihrer ersten Begegnung am torre de la victoria ließ das eigentli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t befür<strong>ch</strong>ten. Was war es<br />

dann? Sollte Cortés begreifen, dass die Tlaxcalteken treue Verbündete waren? Wie au<strong>ch</strong> immer,<br />

er würde Augen und Ohren offen halten. Naturales bleiben naturales!<br />

Die Tänzer gaben die Platzmitte frei, drängten si<strong>ch</strong> an den Rand und setzten si<strong>ch</strong> – ein<br />

mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Ring – um ein leeres Zentrum.<br />

Dem Tanz der Fünftausend folgten alte Gesänge. Mit tiefer Bassstimme sang ein gefeierter<br />

Rhapsode, begleitet von leisen Hohltönen exotis<strong>ch</strong>er Trommeln, eine s<strong>ch</strong>wermütige Melodie; ein<br />

kleiner Chor wiederholte den Refrain.<br />

»Was erzählt er in diesem Lied?«, fragte Cortés.<br />

»Er singt von der Unterwelt«, antwortete Marina, »dem Ort des Hinabsteigens. Er mahnt die<br />

Zuhörer, die flü<strong>ch</strong>tigen und vergängli<strong>ch</strong>en Freuden des Daseins zu genießen, denn die Toten wären<br />

der Freude bar.«<br />

»Erkläre mir den Text, Marina!«<br />

»I<strong>ch</strong> gedenke, heißt es in einem der Lieder, der jungen Helden, die gebro<strong>ch</strong>en und zersplittert<br />

im Lande des Hinabsteigens weilen. Sie waren Edle, sie waren Herren auf der Erde. Sie sind<br />

welk gewordene S<strong>ch</strong>muckfedern, sie sind geborstene Steine, sie, die do<strong>ch</strong> vordem die Erde sahen<br />

und s<strong>ch</strong>auten...«, übersetzte Marina die Strophe.<br />

»Glauben die Indianer an eine Hölle?«, fragte Cortés.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 137<br />

»Hölle? Nein! Es ist die Unterwelt«, antwortete Marina. »Die Völker glauben, dass die Unterwelt<br />

diejenigen aufnimmt, die an Krankheit und Alter starben. Die in der S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t Gefallenen<br />

aber werden ins Land der Sonne eingehen. Zur Mittagszeit, wenn die Sonne den Zenit errei<strong>ch</strong>t,<br />

kommen sie als Kolibris auf die Erde herab. Sie glauben, dass die Seelen der Adligen si<strong>ch</strong> in Nebel,<br />

in Wolken, in bunt gefiederte Vögel oder Edelsteine verwandeln, die Seelen des übrigen Volkes<br />

aber in Gewürm, Käfer und Ratten!«<br />

Olíd bra<strong>ch</strong> in Gelä<strong>ch</strong>ter aus. »Bei uns in Kastilien«, sagte er, »sorgen wir Hidalgos do<strong>ch</strong> besser<br />

für das Volk und sein jenseitiges Wohlbefinden! Bei Gott, wir maßen uns ni<strong>ch</strong>t so unvers<strong>ch</strong>ämte<br />

Vorre<strong>ch</strong>te an!«<br />

Eine weitere Vorführung erregte die Kastilier. Ein Sklave betrat das Rund und setzte in seiner<br />

Mitte eine quadratis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>tel ab. Sie war oben offen, und etwas S<strong>ch</strong>warzes war darin,<br />

das die Zus<strong>ch</strong>auern aber ni<strong>ch</strong>t zu erkennen vermo<strong>ch</strong>ten. Wieder begann der S<strong>ch</strong>lag von Trommeln,<br />

langsam zuerst, fast behutsam, bald aber s<strong>ch</strong>neller und mit ans<strong>ch</strong>wellendem wildem Gedröhn.<br />

Dann wirbelte ein nackter, s<strong>ch</strong>warz angemalter Solotänzer herein, sprang mit wilden S<strong>ch</strong>ritten<br />

um das Behältnis, ums<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elte es gestenrei<strong>ch</strong>, floh davor, und näherte si<strong>ch</strong> dann wieder<br />

mit hektis<strong>ch</strong>en Bewegungen und pantomimis<strong>ch</strong>en Gebärden der Fur<strong>ch</strong>t.<br />

Cortés wandte si<strong>ch</strong> an Marina. »Und was zeigt der da?«<br />

»Er tanzt den Totentanz. Ein Sterbli<strong>ch</strong>er...«<br />

Weiter kam sie ni<strong>ch</strong>t. Der Tänzer hatte blitzs<strong>ch</strong>nell in den Kasten gegriffen und hob nun triumphierend<br />

ein abges<strong>ch</strong>nittenes mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Haupt empor. Die Menge bra<strong>ch</strong> in frenetis<strong>ch</strong>en<br />

Beifall aus, während der s<strong>ch</strong>warze Tänzer den Kopf rhythmis<strong>ch</strong> emporhob, wieder herabsenkte,<br />

dem Volk das ausdruckslose Gesi<strong>ch</strong>t mit den toten Augen hinhielt und in weiten Sprüngen am äußeren<br />

Kreis der Arena entlangjagte.<br />

Cortés und seine Begleiter erkannten, dass er mit dem abges<strong>ch</strong>nittenen Kopfe eines<br />

Totonaken tanzte. Während der letzten S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t musste der den Tlaxcalteken in die Hände gefallen<br />

sein; gestern erst war er geopfert worden, wie Marina erfuhr.<br />

Ohne das Ende des Festes abzuwarten, ritten sie s<strong>ch</strong>weigsam heim.<br />

»Es hätte au<strong>ch</strong> einer von uns sein können!«, bemerkte Velásquez de León s<strong>ch</strong>audernd.<br />

»Und sie hätten uns ebenso freundli<strong>ch</strong> als Zus<strong>ch</strong>auer geladen.«<br />

»Haltet Ihr diese gutherzigen Mens<strong>ch</strong>en no<strong>ch</strong> immer für Blumenkinder?«, fragte Cortés spöttis<strong>ch</strong>.<br />

León wusste keine Antwort. Stumm, in Gedanken, ritten sie eine Weile dahin. Als sie zur<br />

Brücke kamen, sagte Cortés zu den Hauptleuten:<br />

»Dieser Totentanz darf in Tlaxcala ni<strong>ch</strong>t mehr getanzt werden, Señores! Wir werden diese<br />

Leute morgen taufen!«<br />

»Womit?«, fragte Avila. »Mit Wasser?«<br />

»Womit sonst? Wie Johannes der Täufer.«<br />

»Und wenn es mit Wasser ni<strong>ch</strong>t geht? Man kann au<strong>ch</strong> mit Feuer und mit rotem Saft taufen...<br />

Und das gibt erst Re<strong>ch</strong>t einen Totentanz!«<br />

»I<strong>ch</strong> hoffe, dass es ni<strong>ch</strong>t nötig sein wird«, murmelte Cortés verstimmt.<br />

*<br />

S<strong>ch</strong>on am nä<strong>ch</strong>sten Morgen fand Cortés Gelegenheit, seinem Bekehrungseifer na<strong>ch</strong>zukommen.<br />

Bei Sonnenaufgang ergingen Einladungen an die Tetrar<strong>ch</strong>en. In einem der Palastsäle war eine<br />

Kapelle hergeri<strong>ch</strong>tet worden: Pater Olmedo und der Lizentiat Juan Díaz hatten einen Altar aufgestellt,<br />

mit Palmenwedeln verziert und hinten an die Wand – mitten zwis<strong>ch</strong>en die dort gemeißelten<br />

heidnis<strong>ch</strong>en Götterfratzen – ein Muttergottesbild gehängt. Pater Olmedo zelebrierte für die Kastilier<br />

und Totonaken die Messe. Und wie damals am Rio Tabasco s<strong>ch</strong>auten die Stammesoberhäupter<br />

Tlaxcalas der heiligen Handlung s<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tern und voll Ehrfur<strong>ch</strong>t vor dem Unbegreifli<strong>ch</strong>en zu. Die<br />

s<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elnde Mystik des katholis<strong>ch</strong>en Ritus fand Eingang in ihre Seelen.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 138<br />

Das Nahuatl-Piktogramm (<br />

hier im aktuellen Wappen von Tlaxcala)<br />

bedeutet »Ort der Tortillas«<br />

Na<strong>ch</strong> der Messe begaben si<strong>ch</strong> Cortés und die Feldobristen in einen<br />

anderen Saal, wo sie die vier Könige empfingen. Wollring bat, die<br />

Söhne der Sonne bes<strong>ch</strong>enken zu dürfen. Auf eine vor Co<br />

rtés ausgebreitete Matte wurden se<strong>ch</strong>s Stück<strong>ch</strong>en Gold, einige<br />

Topase und grüne und weiße Nephrite sowie etli<strong>ch</strong>e Hanfgewänder<br />

gelegt. Mit verlegenem Lä<strong>ch</strong>eln sagte Wollring:<br />

»O Sohn der Sonne, o weiser und mä<strong>ch</strong>tiger Herr! Wir sind ein armes Volk! Rei<strong>ch</strong>er sind die<br />

Goldges<strong>ch</strong>enke Moctezumas, der uns ausgeraubt hat. Aber arm ist sein Herz. Und rei<strong>ch</strong>er ist die<br />

Liebe und Treue, mit der wir dir unsere armseligen Gaben darbringen!«<br />

Cortés umarmte Wollring, und dana<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> Wespenring, den Blutigen S<strong>ch</strong>ild und den Listigen<br />

Marder. Er war gerührt und bedankte si<strong>ch</strong> mit artigen Worten:<br />

»O ihr weisen, tapferen Männer! Wir kamen in unseren großen Wasserhäusern mit den weißen<br />

Flügeln über das große Meer aus dem Land der Morgensonne, aus dem unser Herrs<strong>ch</strong>er, der<br />

mä<strong>ch</strong>tigste Kaiser der Welt, uns ausgesandt hat, von seiner Ma<strong>ch</strong>t zu künden und viele der tapferen<br />

roten Völker als Freunde zu gewinnen. Von den vielen Ehrungen, die uns seit unserer Ankunft<br />

zuteil wurden, hat mir keine so innige Freude bereitet wie diejenigen, die i<strong>ch</strong> von Eu<strong>ch</strong> empfangen<br />

habe. Freunds<strong>ch</strong>aft und Brüderli<strong>ch</strong>keit sind in der Welt kostbare Güter! Darum seid versi<strong>ch</strong>ert,<br />

dass wir diese Gaben höher s<strong>ch</strong>ätzen als einen großen Haufen Goldkörner.«<br />

Der Listige Marder sagte: »O großer, mä<strong>ch</strong>tiger Herr! Wir hören deine Worte, und sie erfreuen<br />

unser Herz. Das Volk der Tlaxcalteken ist ni<strong>ch</strong>t nur tapfer, wie du selber hast erleben müssen,<br />

es wird au<strong>ch</strong> unüberwindli<strong>ch</strong> sein mit deiner Freunds<strong>ch</strong>aft.«<br />

Und der Mä<strong>ch</strong>tige Felsen fügte hinzu: »Moctezuma bedrängt die Tlaxcalteken. So wie er zuvor<br />

s<strong>ch</strong>on die Tolteken unterjo<strong>ch</strong>t und abhängig gema<strong>ch</strong>t hat, wird er bei Gelegenheit versu<strong>ch</strong>en,<br />

au<strong>ch</strong> Tlaxcala zu seinem Vasallen zu ma<strong>ch</strong>en.«<br />

Nun ergriff der Hundertjährige, Wespenring, das Wort.<br />

»O Sohn der Sonne, du herrli<strong>ch</strong>er! Wir haben dir bei deiner Ankunft Widerstand geleistet, wir<br />

haben dir Unre<strong>ch</strong>t getan! Do<strong>ch</strong> du hast uns deine Ma<strong>ch</strong>t bewiesen, und wir erkennen sie gerne an!<br />

Mit einem würdigen Dankges<strong>ch</strong>enk mö<strong>ch</strong>ten wir dir die Ergebenheit und das Frohgefühl unserer<br />

Herzen dartun. Mit Götterkot, dem ihr zugetan seid, sind wir ni<strong>ch</strong>t rei<strong>ch</strong> gesegnet. Da es uns an<br />

Gold fehlt, habe i<strong>ch</strong> mit den anderen Königen berats<strong>ch</strong>lagt, ob wir eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> eine bessere<br />

Gabe, dur<strong>ch</strong> ein würdigeres Opfer unser Vertrauen beweisen könnten. Und so haben wir den Ents<strong>ch</strong>luss<br />

gefasst, unser Teuerstes herzugeben, unsere Tö<strong>ch</strong>ter! Ihr Liebreiz stellt alle Kleinodien<br />

Moctezumas in den S<strong>ch</strong>atten; und wenn ihr, o weiße Herren, mit den Fürstenkindern Tlaxcalas<br />

Ehen s<strong>ch</strong>ließen würdet, ist das Bündnis unzerreißbar, die Verbrüderung unvergängli<strong>ch</strong>. I<strong>ch</strong> selbst<br />

besitze eine Enkelin, ein no<strong>ch</strong> ungeküsstes Mäd<strong>ch</strong>en, die S<strong>ch</strong>önste der S<strong>ch</strong>önen, die au<strong>ch</strong> eine<br />

der rei<strong>ch</strong>sten Erbinnen des Landes ist, und i<strong>ch</strong> biete sie dem Obersten der Sonnensöhne an.«<br />

Olíd stieß den neben ihm stehenden Alonso de Avila an. »Was müssen wir für tolle Mannsbilder<br />

sein! Überall, wohin wir au<strong>ch</strong> kommen, dienen die Kaziken uns ihre Tö<strong>ch</strong>ter an!«<br />

»Wir könnten uns mit der Zeit einen Harem zulegen«, flüsterte Avila zurück, »wie alle Häuptlinge<br />

hier – und wie unser verehrter Generalkapitän!«<br />

Lugo, der zugehört hatte, ki<strong>ch</strong>erte vernehmli<strong>ch</strong>, do<strong>ch</strong> ein Blick von Cortés ließ ihn verstummen.<br />

Im Pulk der hinter ihm wartenden Indianer tat si<strong>ch</strong> eine Gasse auf, und indianis<strong>ch</strong>e Herolde<br />

begleiteten fünf Prinzessinnen in den Saal, die jede von mehreren Sklavinnen begleitet wurde. Die<br />

Prinzessinnen waren jung, anmutig, graziös und mit auserlesenem Ges<strong>ch</strong>mack gekleidet. Eine war<br />

die Erbto<strong>ch</strong>ter des Blutigen S<strong>ch</strong>ilds, zwei andere die Enkelinnen des Wollrings sowie die jüngste<br />

To<strong>ch</strong>ter des Listigen Marders. Die zauberhafteste unter ihnen aber war Prinzessin Rabenblume,


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 139<br />

die Enkelin Wespenrings und S<strong>ch</strong>wester des Prinzen Goldmaske. Verwirrt lä<strong>ch</strong>elnd und vers<strong>ch</strong>ämt,<br />

weil sie si<strong>ch</strong> den vielen Männerblicken ausgesetzt fühlte, hielt sie den Kopf gesenkt; und<br />

als ihr Großvater sie heranrief, eilte sie so ras<strong>ch</strong> herbei, dass si<strong>ch</strong> eine über die Stirn gespannte<br />

Amethystperlenkette löste, klirrend zu Boden fiel und Alvarado vor die Füße rollte. Er hob sie auf<br />

und, ritterli<strong>ch</strong> ein Knie senkend, rei<strong>ch</strong>te er sie ihr zurück. Sie nahm die Kette mit verlegenem Lä<strong>ch</strong>eln<br />

entgegen. Dabei berührten si<strong>ch</strong> ihre Hände, und sie sahen einander in die Augen. Zum Dank<br />

rei<strong>ch</strong>te sie Alvarado eine Or<strong>ch</strong>idee und ließ ni<strong>ch</strong>t ab, den vor ihr Knienden s<strong>ch</strong>eu und neugierig<br />

zuglei<strong>ch</strong> anzublicken, während Sklavinnen die Perlenkette an ihrer Stirn befestigten. Die Verlegenheit<br />

währte nur einen Augenblick, kam beiden aber sehr lang vor. Der Hundertjährige ma<strong>ch</strong>te dem<br />

ein Ende, indem er das Mäd<strong>ch</strong>en bei der Hand nahm und vor Cortés führte, der gerade leise mit<br />

Marina spra<strong>ch</strong>. Alvarado jedo<strong>ch</strong>, der s<strong>ch</strong>on so man<strong>ch</strong>e Liebs<strong>ch</strong>aft hatte, fühlte si<strong>ch</strong> wie in Ketten<br />

gelegt.<br />

»Ihr seid s<strong>ch</strong>on verheiratet, Don Hernándo!«, flüsterte er Cortés zu. »Überlasst mir das Mäd<strong>ch</strong>en!«<br />

Cortés s<strong>ch</strong>aute ihn erstaunt an, denn er wusste, wie abfällig Alvarado si<strong>ch</strong> über<br />

Totonakinnen geäußert hatte.<br />

»Ist Eu<strong>ch</strong> das ernst?«, fragte Cortés.<br />

»Sehr ernst. Gebt sie mir!«<br />

»Erst wenn sie Christin geworden ist. So lange werdet Ihr Eu<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on gedulden müssen,<br />

Don Pedro!«<br />

Und dur<strong>ch</strong> Marina, die ihre Si<strong>ch</strong>erheit ni<strong>ch</strong>t verloren hatte, ließ Cortés den vier Königen auseinandersetzen,<br />

dass die Männer aus dem Land des Sonnenaufgangs - wenn au<strong>ch</strong> mit Rührung<br />

und Dank erfüllt, da sie dieses großmütige Ges<strong>ch</strong>enk vollauf zu würdigen wüssten – heute no<strong>ch</strong><br />

ni<strong>ch</strong>t sagen könnten, ob eine Heirat mit den Fürstentö<strong>ch</strong>tern mögli<strong>ch</strong> sei. Und bis dies ents<strong>ch</strong>ieden<br />

sei, wäre angeraten, die Mäd<strong>ch</strong>en in der Obhut der Eltern zu lassen.<br />

Niederges<strong>ch</strong>lagenheit spiegelte si<strong>ch</strong> auf die Gesi<strong>ch</strong>ter der Tlaxcalteken. Sie fragten, warum<br />

ihr Ges<strong>ch</strong>enk zurückgewiesen werde. Marina beteuerte, man hätte die großmütigen Gastgeber<br />

keineswegs kränken wollen. Aber no<strong>ch</strong> dienten sie ihren blutrünstigen Göttern, s<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>teten Mens<strong>ch</strong>en<br />

und äßen Mens<strong>ch</strong>enfleis<strong>ch</strong>. Erst müssten sie alle Christen werden!<br />

Wollring antwortete: »O Malintzín, der Sohn der Sonne fordert Unmögli<strong>ch</strong>es! Erst einen Tag<br />

bist du in der Stadt und willst s<strong>ch</strong>on, dass wir leugnen, woran unsere Väter und Ahnen glaubten!<br />

Dass wir leugnen, was sie seit Vorzeiten verehrt haben! Dein Gott und seine Mutter mögen gütig<br />

und erbarmungsvoll sein. Aber au<strong>ch</strong> unsere Götter sind gut zu uns, denn ihnen danken wir, dass<br />

der Mais auf unseren Feldern gedeiht! Ihnen danken wir die Geburten unserer Kinder und die Siege<br />

in unseren S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>ten. Befolgten wir deinen Rat – was wäre die Folge? Das Volk und unsere<br />

eigenen Kinder würden si<strong>ch</strong> gegen uns erheben, aufgehetzt dur<strong>ch</strong> Priester, die eu<strong>ch</strong> längst mit<br />

Argwohn betra<strong>ch</strong>ten. Ni<strong>ch</strong>t zur Verbrüderung würde es führen, sondern zur Verfeindung, und der<br />

Friedensbund würde in neuen Kämpfen enden.«<br />

Cortés glaubte eine Drohung herauszuhören. »Das hat mi<strong>ch</strong> in Cempoala ni<strong>ch</strong>t abgehalten...«,<br />

begann er. Do<strong>ch</strong> sofort legten si<strong>ch</strong> Velásquez de León, Tapia und Pater Olmedo ins Mittel<br />

und bes<strong>ch</strong>woren ihn, es dabei bewenden zu lassen.<br />

»Don Hernándo, wir haben in Cempoala s<strong>ch</strong>on viel errei<strong>ch</strong>t!«, sagte Pater Olmedo. »Man<br />

zertrümmert den Leuten hier einen Götzen, und sie laufen dort zu einem anderen; und wenn sie<br />

keinen anderen finden, so ma<strong>ch</strong>en sie si<strong>ch</strong> einen. Wir haben's erlebt! Das Christentum, das wir in<br />

Cempoala hinterlassen haben, ist nur eine Fratze des <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Glaubens! Kardinal Fonseca<br />

würde uns der Blasphemie zeihen, wüsste er davon. Wir sollten aus Fehlern lernen. Nein, nein,<br />

wenn wir's vermögen, lasst uns die Sklaven Moctezumas, die Mens<strong>ch</strong>enopfer befreien – das hat<br />

Eile. Aber wir wollen es der Zeit überlassen, Götzen zu zers<strong>ch</strong>lagen!«<br />

Die Hauptleute stimmten ihm zu. Au<strong>ch</strong> Cortés sah ein, dass der Pater Re<strong>ch</strong>t hatte.<br />

Während Olmedo und die Offiziere auf Cortés einredeten, hatte der blinde Wespenring mit<br />

Prinzessin Rabenblume geflüstert und si<strong>ch</strong> sodann erregt mit den anderen drei Königen beraten.<br />

Jetzt sagte er laut:<br />

»O Sohn der Sonne, du Siegrei<strong>ch</strong>er! Seit meine Hände und Finger di<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>aut, weiß i<strong>ch</strong>,<br />

dass du der Erwartete bist, der Herbeigesehnte! No<strong>ch</strong> ehe du aus dem Lande des Sonnenaufgangs<br />

kamst, haben kluge Männer vorausgesehen und verkündet, dass du kommen werdest, dem


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 140<br />

blumigen Tod Einhalt zu gebieten, dem Herausreißen der Herzen. Und i<strong>ch</strong> preise, dass i<strong>ch</strong> so lange<br />

gelebt habe, deine Kühnheit zu sehen. Lass uns Zeit, gewähre uns eine Frist. Mein Enkel, die<br />

Goldmaske, soll ents<strong>ch</strong>eiden, ob Prinzessin Rabenblume und Tlaxcala euren Glauben annehmen<br />

dürfen!«<br />

*<br />

Tags darauf gab Prinz Goldmaske die Einwilligung für die Taufe seiner S<strong>ch</strong>wester Rabenblume<br />

und der anderen Bräute. Do<strong>ch</strong> behielt er si<strong>ch</strong> vor, über die Bekehrung des Landes Tlaxcala erst zu<br />

ents<strong>ch</strong>eiden, na<strong>ch</strong>dem er den Rat der Priester eingeholt habe. Den von Cortés geäußerten<br />

Wuns<strong>ch</strong>, wenigstens eine der vielen Tempelpyramiden – eine der kleineren – mit dem Kreuz ges<strong>ch</strong>mückt<br />

als <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Stätte zu weihen, verspra<strong>ch</strong> Goldmaske zu erfüllen.<br />

Es wurde bes<strong>ch</strong>lossen, die Taufhandlung in zehn Tagen vorzunehmen. Bis dahin sollte Pater<br />

Olmedo mit Hilfe Marinas den Täuflingen tägli<strong>ch</strong> Religionsunterri<strong>ch</strong>t erteilen. Der Zahuapan-Fluß,<br />

der die Stadt dur<strong>ch</strong>strömte, nahm viele Abfälle auf. Marina hatte gehört, dass im Volke die Ansi<strong>ch</strong>t<br />

verbreitet war, baden sei im Zahuapan der vielen Wassergeister wegen ni<strong>ch</strong>t ungefährli<strong>ch</strong>; sie bestraften<br />

Eindringlinge in ihr nasses Rei<strong>ch</strong> mit der Krätze. Deshalb wurde von der Taufe im Fluss<br />

abgesehen, und indianis<strong>ch</strong>e Steinmetzen meißelten na<strong>ch</strong> Angaben des Hieronymiten ein Taufbecken.<br />

Au<strong>ch</strong> die Windende S<strong>ch</strong>lange nahm mit ihren drei Kindern am Religionsunterri<strong>ch</strong>t der Bräute<br />

teil. Dank der Legende von Quetzalcoatl, der als Erretter zurückerwartet wurde, waren die Frau<br />

und ihre Kinder die aufmerksamsten Laus<strong>ch</strong>er und verständnisvollsten S<strong>ch</strong>üler zu Füßen des Paters.<br />

Besonders der älteste der Knaben, Mito, der Kleine Pfeil, erstaunte trotz seiner Jugend – er<br />

war dreizehn Jahre alt – den Pater und Marina dur<strong>ch</strong> seine Antworten und s<strong>ch</strong>ürfenden Fragen.<br />

Kiefernzweig, der Gatte der Windenden S<strong>ch</strong>langen, wusste ni<strong>ch</strong>ts davon, dass sein Weib<br />

und seine Söhne si<strong>ch</strong> heimli<strong>ch</strong> für die Taufe vorbereiteten. Fürst Kiefernzweig war ein einflussrei<strong>ch</strong>er<br />

Herr und besaß se<strong>ch</strong>zig Gemahlinnen. Seinem Rat zufolge hatte Goldmaske den Christen<br />

einen hinauszögernden und damit abweisenden Bes<strong>ch</strong>eid erteilt.<br />

*<br />

In der regneris<strong>ch</strong>en und stürmis<strong>ch</strong>en Na<strong>ch</strong>t waren die Gassen mens<strong>ch</strong>enleer und li<strong>ch</strong>tlos. Matter<br />

als sonst flackerte auf der Spitze des hö<strong>ch</strong>sten Stufentempels das ewige Feuer, drohte im peits<strong>ch</strong>enden<br />

Regen jedo<strong>ch</strong> zu erlös<strong>ch</strong>en. Na<strong>ch</strong> Mitterna<strong>ch</strong>t verließ Cortés mit einem Trupp von<br />

zwanzig bewaffneten Kastiliern den Tecpan Wespenrings und mars<strong>ch</strong>ierte auf den nahen Tempel<br />

Unseres Herrn des Ges<strong>ch</strong>undenen zu. Außer den Feldobristen – León, Olíd, Alvarado, Lugo, Avila<br />

– sowie einigen der uners<strong>ch</strong>rockensten Soldaten war au<strong>ch</strong> der Trompeter Rodríguez dabei, um bei<br />

Gefahr ein Signal zu geben. Im Palast stand das Heer zur S<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>t bereit. Cortés war ents<strong>ch</strong>lossen,<br />

keine Verhandlungen mit den Priestern zu führen: In dieser Na<strong>ch</strong>t sollte das S<strong>ch</strong>wert spre<strong>ch</strong>en.<br />

Zwei Soldaten des Stoßtrupps trugen brennende Fackeln – mehr Li<strong>ch</strong>t hätte viellei<strong>ch</strong>t Aufsehen<br />

erweckt. Die Flammen flackerten im Sturm, erlos<strong>ch</strong>en beinahe, und s<strong>ch</strong>ützend hielten die<br />

Grenadiere die freie Hand um die Feuer. Vor dem Hauptportal des Tempels wurden weitere Fackeln<br />

entzündet; dann drangen die Kastilier ein und befanden si<strong>ch</strong> damit hinter der Ringmauer des<br />

Tempelgeländes, die die Pyramide umgab. Labyrinthis<strong>ch</strong> lag das s<strong>ch</strong>einbar planlose Wirrwarr der<br />

verstreut hingebauten Häus<strong>ch</strong>en und das Gewirr der mauerumragten Tempelhöfe vor ihnen. Cortés<br />

und seine Begleiter fanden si<strong>ch</strong> bald zure<strong>ch</strong>t, hatten sie do<strong>ch</strong> in Cempoala, im Roten Berg und<br />

im Weißen Mondgefilde ähnli<strong>ch</strong>e Tempelanlagen gesehen. Sie wussten, wo si<strong>ch</strong> die Priesterwohnungen<br />

befanden, die Badeplätze für die Priester, das Priesterballspielhaus, die S<strong>ch</strong>ädelgerüste<br />

und die Holzkäfige standen, hinter deren Gittern arme Opfer gemästet wurden.<br />

Bei den Käfigen s<strong>ch</strong>oll ihnen Gebrüll entgegen. Die Priester mit helmartigen Tiermasken ver-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 141<br />

sperrten ihnen den Weg. Do<strong>ch</strong> ihre Zaubersprü<strong>ch</strong>e ernteten nur Hohngelä<strong>ch</strong>ter, und sie wurden<br />

beiseite ges<strong>ch</strong>oben.<br />

Dann sahen sie die Gefangenen. Das Li<strong>ch</strong>t der zwanzig Pe<strong>ch</strong>fackeln waberte über die Kalkwände<br />

kleiner Gebäude und Pavillons, tanzte wie trunken in der brands<strong>ch</strong>warzen Na<strong>ch</strong>t und beleu<strong>ch</strong>tete<br />

das S<strong>ch</strong>reckensbild. Käfig reihte si<strong>ch</strong> an Käfig. Die Insassen, nackt und den Unbilden<br />

des Wetters ausgesetzt, saßen im eigenen Kot. Der Regen säuberte den Boden ni<strong>ch</strong>t, sondern<br />

wei<strong>ch</strong>te die Erde zu übel rie<strong>ch</strong>endem S<strong>ch</strong>lamm auf. Es waren fast nur Männer hier; erst vor wenigen<br />

Tagen hatte man dreihundert eingekerkerte Mäd<strong>ch</strong>en Marina ges<strong>ch</strong>enkt.<br />

»Eins begreife i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t«, sagte León, »dass diese Mens<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t wahnsinnig werden!«<br />

Olíd, der einst Galeerensklave war, sagte: »So lei<strong>ch</strong>t wird si<strong>ch</strong>'s ni<strong>ch</strong>t wahnsinnig!«<br />

»Sie verweigern ni<strong>ch</strong>t einmal Speise und Trank«, bemerkte Alvarado, »sie streiten gewiss<br />

um jedes Stück<strong>ch</strong>en Brot, werden dick und fett... So hängen wir am Leben!«<br />

»Wir? I<strong>ch</strong> mö<strong>ch</strong>te lieber tot sein!«, rief León.<br />

»Wartet's ab!«, sagte Lugo. »No<strong>ch</strong> hat keiner von uns die Erfahrung gema<strong>ch</strong>t, was vorzuziehen<br />

ist.«<br />

»Ein Blick in die Hölle!«, knurrte Avila. »Wer weiß, viellei<strong>ch</strong>t ma<strong>ch</strong>en wir in Mexico die Erfahrung?«<br />

»Wenn Ihr na<strong>ch</strong> Veracruz zurück wollt, Señor«, sagte Cortés mit höfli<strong>ch</strong>em, do<strong>ch</strong> ungutem<br />

Lä<strong>ch</strong>eln, »der Weg steht Eu<strong>ch</strong> offen! Aber sollte einer von uns die Erfahrung ma<strong>ch</strong>en – was Gott<br />

verhüte! –, wird das Bewusstsein ihn stärken, dass er ein Märtyrer des Glaubens ist!«<br />

»Ein Märtyrer des Goldes!«, murmelte Sandoval, do<strong>ch</strong> niemand hörte es.<br />

Sie öffneten die Käfige und gingen mit den Opfersklaven den Weg aus dem Tempelberei<strong>ch</strong><br />

zurück. Die Befreiten waren halb betäubt vom S<strong>ch</strong>reck über die metallklirrenden Wesen, die sie für<br />

Dämonen hielten. Sie glaubten zur Opferung, zum Tod geführt zu werden. Nur allmähli<strong>ch</strong> begriffen<br />

sie, dass sie frei wären. S<strong>ch</strong>eu s<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en einige fort, und da niemand sie zurückholte, folgten andere,<br />

und dann, mit plötzli<strong>ch</strong>em Freudengeheul, stoben alle davon. Ras<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>wanden die nackten<br />

Gestalten im s<strong>ch</strong>warzen Regen.<br />

*<br />

Auf dem Markt prangten die Stände der Kaufleute mit Wildbret und Fellen, Kleidung und Waffen.<br />

Der verrückte Apotheker – von des Samariterinnen Ines Florín und La Bailadora begleitet – s<strong>ch</strong>ritt<br />

über den Markt und strebte den Kräuterfrauen zu, die an den Rändern des Platzes ihre Waren auf<br />

dem gepflasterten Boden ausgebreitet hatten: Frü<strong>ch</strong>te und Blumen, Kräuter, Öle und Pflanzenwurzeln.<br />

Leonel de Cerro wählte, vor si<strong>ch</strong> hin grummelnd, mit Beda<strong>ch</strong>t und tat seine Erwerbungen in<br />

die Körbe, die seine Begleiterinnen s<strong>ch</strong>leppten. Bezahlung wollten die Marktweiber ni<strong>ch</strong>t; sie wehrten<br />

seine Versu<strong>ch</strong>e ab, mit spanis<strong>ch</strong>en Maravedis zu bezahlen, und lä<strong>ch</strong>elten nur hintergründig.<br />

Was wusste der bärtige Fremde s<strong>ch</strong>on vom Wert der Kakaobohnen, die bei ihnen als Währung<br />

galten?<br />

In den Tecpan zurückgekehrt ma<strong>ch</strong>te der Physicus si<strong>ch</strong> sofort daran, seine Blätter, Kräuter<br />

und Wurzeln zu Essenzen zu verarbeiten. Neugierig s<strong>ch</strong>auten die Soldaten ihm zu. Was er da ma<strong>ch</strong>e?<br />

fragte der Armbrusts<strong>ch</strong>ütze Juan Soares.<br />

»Wel<strong>ch</strong> ein Glück für mi<strong>ch</strong>, und wel<strong>ch</strong> ein Glück fürs Heer! Auf dem Markt fand i<strong>ch</strong> Dinge, die<br />

i<strong>ch</strong> hier ni<strong>ch</strong>t zu finden hoffte: Arnika, Melisse, Engelskraut, Blutwurzel, Farnkraut, S<strong>ch</strong>öllkraut,<br />

Alant und andere Gewä<strong>ch</strong>se, die Gott uns zur Erhaltung der Gesundheit s<strong>ch</strong>enkte. Au<strong>ch</strong> die naturales<br />

wissen sie zu s<strong>ch</strong>ätzen! Dazu Bibernelle, Wermut, Rosmarin, Weinraute, gelben Enzian, Kalmus<br />

und Knoblau<strong>ch</strong>. Dies alles ist in seiner Heilwirkung unübertroffen, und Tinkturen davon sind<br />

uns als Hausmittel willkommen.«<br />

»Kennt Ihr denn alle diese Pflanzen und Kräuter?«, wollte José Morientes wissen, ein Soldat<br />

der Fußtruppen.<br />

Der Physicus warf si<strong>ch</strong> in die Brust. »Gott hat für jede Krankheit ein Heilmittel in dieser von<br />

ihm ges<strong>ch</strong>affenen Welt zur Verfügung der leidenden Mens<strong>ch</strong>heit gestellt!«<br />

»Aber einige davon sind do<strong>ch</strong> ungenießbar oder giftig«, beharrte José.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 142<br />

»Alle diese Dinge sind pharmaka, denn Gott hat die Giftstoffe ni<strong>ch</strong>t in den Pflanzen ges<strong>ch</strong>affen,<br />

dass sie zur S<strong>ch</strong>ädigung seiner Ges<strong>ch</strong>öpfe führen! S<strong>ch</strong>on der heilige Ambrosius hat in diesem<br />

Zusammenhang betont: ›Es liegt in den Giftpflanzen ni<strong>ch</strong>t bloß kein Grund zum Tadel des S<strong>ch</strong>öpfers<br />

vor, sondern vielmehr ein Anlass zu erhöhtem Dank, da das Erzeugnis, in wel<strong>ch</strong>em du Gefahr<br />

vermutest, ein wirksames Heilmittel für deine Gesundheit ist.‹ Aber für di<strong>ch</strong>, José Morientes, hat er<br />

hinzugefügt: ›Dem Gefährli<strong>ch</strong>en lässt si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Vorsi<strong>ch</strong>t aus dem Wege gehen, des Heilsamen<br />

geht man bei A<strong>ch</strong>tsamkeit ni<strong>ch</strong>t verlustig.‹«<br />

»Und Ihr lasst diese Vorsi<strong>ch</strong>t walten? Kennt Ihr Eu<strong>ch</strong> überhaupt aus?«, warf Francisco de<br />

Salcedo ein, den man el pulido nannte, den Hübs<strong>ch</strong>en.<br />

»Gibt's au<strong>ch</strong> ein Kraut gegen Habsu<strong>ch</strong>t, Unersättli<strong>ch</strong>keit, Raffgier?«, rief der bucklige Narr<br />

Cervantes. »Habt Ihr ein Elixier gegen Gewinnsu<strong>ch</strong>t, Geldgier, Besitzgier? Kennt Ihr ein Mittel gegen<br />

die Tanzwut um das Goldene Kalb? Dann bereitet es zu und mis<strong>ch</strong>t es uns unter den Wein!«<br />

Álvarez Chico gab ihm einen Fußtritt. »S<strong>ch</strong>er di<strong>ch</strong> zum Teufel, du Missgeburt!«<br />

»Kennt Ihr Eu<strong>ch</strong> aus?«, beharrte Francisco el pulido auf seine Frage. »Ihr seid do<strong>ch</strong> nur ein<br />

verkra<strong>ch</strong>ter Student, wie man weiß.«<br />

»Pah, was wisst Ihr s<strong>ch</strong>on von mir«, antwortete der Apotheker verä<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>.<br />

»Dann gebt ein Beispiel Eures Wissens.«<br />

Leonel de Cerro kämpfte mit si<strong>ch</strong>, ob er die unwissende Meute an seinem Wissenss<strong>ch</strong>atz<br />

teilhaben lassen sollte oder ni<strong>ch</strong>t. Aber dann gab er si<strong>ch</strong> einen Ruck; s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> war es au<strong>ch</strong> seine<br />

Aufgabe, Vertrauen zu s<strong>ch</strong>affen. »Also gut!«, sagte er. »Der S<strong>ch</strong>öpfer gab uns ni<strong>ch</strong>t nur die Pflanzen,<br />

er setzte au<strong>ch</strong> ein geheimes Zei<strong>ch</strong>en in sie hinein, das der Kundige erkennen und deuten<br />

kann. Aus Form und Farbe einer Pflanze kann auf ihre Wirkungen ges<strong>ch</strong>lossen werden. Die Oberflä<strong>ch</strong>e<br />

der Walnuss glei<strong>ch</strong>t den Hirnwindungen, und tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> kann man sie als Heilmittel gegen<br />

Kopfs<strong>ch</strong>merz preisen. S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>telhalm ist wegen der Ähnli<strong>ch</strong>keit der Stängel mit der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />

Luftröhre als hustenstillendes Mittel und als wertvolle Droge gegen die S<strong>ch</strong>windsu<strong>ch</strong>t einzusetzen.«<br />

Voller Stolz s<strong>ch</strong>aute er in die Runde. »Do<strong>ch</strong> gegen viele Leiden helfen vor allem die Öle!<br />

Dillöl zum Beispiel kann innerli<strong>ch</strong> oder äußerli<strong>ch</strong> angewandt werden und wirkt sehr vielseitig.<br />

S<strong>ch</strong>on ein eingenommener Teelöffel hilft gegen Bau<strong>ch</strong>grimmen im Darm, bei Leibweh und Magens<strong>ch</strong>merzen,<br />

bei fiebrigen Erkrankungen, Ohrens<strong>ch</strong>merzen, ges<strong>ch</strong>wollenen Mandeln, bei Leberstauung<br />

und Erkrankungen der Harnorgane. Als Einreibemittel vers<strong>ch</strong>afft es Erlei<strong>ch</strong>terungen bei<br />

S<strong>ch</strong>wellungen, Beulen, Bluterguss und Entzündungen, beruhigt bei S<strong>ch</strong>laflosigkeit und lindert<br />

Kopfweh, wenn man S<strong>ch</strong>läfen, Nasenlö<strong>ch</strong>er und Pulse einreibt. Au<strong>ch</strong> bessert es Nieren- und Blasenbes<strong>ch</strong>werden.«<br />

»Mir tun jetzt no<strong>ch</strong> alle Kno<strong>ch</strong>en weh von den Anstrengungen na<strong>ch</strong> Tlaxcala«, rief Juan<br />

Jamarillo.<br />

»Johanniskrautöl hilft besonders bei rheumatis<strong>ch</strong>en Leiden und – warm eingerieben und in<br />

wärmende Wolltü<strong>ch</strong>er gehüllt – bei Bands<strong>ch</strong>eibens<strong>ch</strong>äden und allen Glieders<strong>ch</strong>merzen. Ein aus<br />

Baumwolle gerolltes Zäpf<strong>ch</strong>en, mit Johanniskrautöl getränkt und in den After gesteckt, hilft s<strong>ch</strong>nell<br />

bei s<strong>ch</strong>merzhaften, juckenden oder brennenden Hämorrhoiden.« Der Apotheker kam in Fahrt.<br />

»Lilienöl kann zur Heilung wie zur Hautpflege dienen. Reibt man die Hände damit ein, erwei<strong>ch</strong>t es<br />

allerlei Verhärtungen der Sehnen und Spasmen, wie sie oft die Finger bis zur Handwurzel ziehen.<br />

Ebenso hilft es gegen Falten und Runzeln im Gesi<strong>ch</strong>t. Man muss Lilienöl mit Zwiebelsaft, Honig<br />

und Eiweiß unter stetem Rühren auf kleiner Flamme zur Salbe eindicken lassen, abends auftragen<br />

und morgens lauwarm abwas<strong>ch</strong>en; ebenso kann man damit rote Nasen behandeln.«<br />

»Das muss man mal bei Mansilla dem Durstigen probieren!«, tönte es aus dem Kreis der<br />

Umstehenden. »Wie stellt man es her?«<br />

»Fris<strong>ch</strong> aufgeblühte weiße Lilienblüten zers<strong>ch</strong>neiden, drei Hand voll mit einer großen Tasse<br />

Olivenöl übergießen, vierzehn Tage an die Sonne stellen, im Wasserbad zum Ko<strong>ch</strong>en bringen,<br />

dann auspressen und bis zum Gebrau<strong>ch</strong> kühl aufbewahren. Auf die glei<strong>ch</strong>e Art stellt man Lavendelöl<br />

her; es stärkt die Nerven, erfris<strong>ch</strong>t den Kopf und nimmt Kopfs<strong>ch</strong>merzen weg. Außerdem wirkt<br />

es beruhigend, appetitanregend und verdauungsfördernd.«<br />

»Das wäre für Amadori den Genuesen von Nutzen, den jungen Gatten der alten Samano. Er<br />

wäre ihr dann viellei<strong>ch</strong>t eher treu.«<br />

In das aufbrandende Gelä<strong>ch</strong>ter rief Cristoforo de Olea, der als Spaßvogel bekannt war: »I<strong>ch</strong><br />

habe Würmer!«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 143<br />

»Gegen Wurmbefall empfiehlt si<strong>ch</strong> eine Mis<strong>ch</strong>ung aus Begonie, Wegeri<strong>ch</strong> und Kuckucksampfer.<br />

Allerdings musste man das an einem Donnerstag sammeln, und zwar bei Monduntergang.<br />

Sodann ist das Ganze in einem Mörser zu zerstampfen, mit Wasser zu mis<strong>ch</strong>en und ans<strong>ch</strong>ließend<br />

dur<strong>ch</strong> ein Leinentu<strong>ch</strong> zu pressen. Mehrmals hintereinander auf nü<strong>ch</strong>ternen Magen trinken – und<br />

s<strong>ch</strong>on sind die Würmer weg.«<br />

»Bei Gott, ist das verwirrend! Warum gibt es ni<strong>ch</strong>t ein Mittel gegen alles?«<br />

»Universell wirkt gar ni<strong>ch</strong>ts. Do<strong>ch</strong> vielseitig anwendbar ist die folgende Mis<strong>ch</strong>ung: eine Unze<br />

und se<strong>ch</strong>s Skrupel Pfeffer, se<strong>ch</strong>s Unzen Baldrian, ebenso viel Haselwurz und Betonie, fünf Unzen<br />

Steinbre<strong>ch</strong>, drei Unzen Röhrenkassie und zwei Dra<strong>ch</strong>men Steckenwurzharz. Das alles mis<strong>ch</strong>t man<br />

mit zwei S<strong>ch</strong>oppen lei<strong>ch</strong>t abges<strong>ch</strong>äumten besten Honigs. Das Gebräu hat ni<strong>ch</strong>t nur den Vorteil,<br />

dass es Fieber und S<strong>ch</strong>merzen aller Art im Nu vertreibt, die Sehkraft stärkt und gegen S<strong>ch</strong>laflosigkeit<br />

hilft, es lös<strong>ch</strong>t obendrein den Durst und führt überflüssigen Rotz dur<strong>ch</strong> den Darm ab.«<br />

Der Feldhauptmann Cristóbal de Olíd trat hinzu und teilte die S<strong>ch</strong>ildwa<strong>ch</strong>en ein. Während die<br />

anderen auseinander gingen, wandten si<strong>ch</strong> der Physikus und die Samariterinnen wieder ihrer Arbeit<br />

zu.<br />

*<br />

Mehr als sonst hatten die Besu<strong>ch</strong>er des Marktes neuerdings Anlass zu erregten Erörterungen. Alte<br />

und Junge, Edle und Einfa<strong>ch</strong>e steckten mit den Händlern und Weibern des Volkes die Köpfe zusammen.<br />

Die Freilassung der Opfersklaven dur<strong>ch</strong> die weißen Männer hatten S<strong>ch</strong>adenfreude und<br />

Ärger ausgelöst und eine Woge seltsamer Gerü<strong>ch</strong>te zur Folge. Obglei<strong>ch</strong> seither drei Tage vergangen<br />

waren, vermehrten si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> immer die Gerü<strong>ch</strong>te.<br />

Die Priester selbst hatten die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t verbreitet, dass in dem Augenblick, als die<br />

Teponaztlitrommel auf dem Haupttempel ers<strong>ch</strong>oll – um Mitterna<strong>ch</strong>t also –, die Regenwolkendecke<br />

des Himmels zerriss. Ein weißli<strong>ch</strong> flimmerndes Flammenkreuz habe si<strong>ch</strong> am östli<strong>ch</strong>en Sternenhimmel<br />

gezeigt, und laut winselnde Stimmen wären auf der Spitze der Pyramide zu hören gewesen,<br />

als wäre der Turm des Heiligtums von jammernden Geistern umflattert. Dur<strong>ch</strong> den Oberpriester,<br />

den Herrn des S<strong>ch</strong>warzen Hauses, na<strong>ch</strong> dem Grund ihres Leidens gefragt, hätten die Stimmen<br />

keine Auskunft gegeben, wohl aber befohlen, die Söhne der Sonne gewähren zu lassen. Die Priester<br />

hatten das Öffnen der Käfige ni<strong>ch</strong>t verhindern können, nun mussten sie irgendwie ihre Zaubersprü<strong>ch</strong>e<br />

und Ma<strong>ch</strong>tlosigkeit vers<strong>ch</strong>leiern.<br />

Au<strong>ch</strong> die Errettung des Zwitters und seine Rückgabe an Goldmaske wurde diskutiert. Niemand<br />

konnte glauben, dass der Fürst den Hermaphroditen für den Tötungsversu<strong>ch</strong> an seinem<br />

Lieblingssohn ungestraft ließ. Goldmaske tat nie etwas Überstürztes.<br />

Heute Morgen nun, als die Händler mit Ballen, Säcken und geflo<strong>ch</strong>tenen Weidenkörben beladen<br />

ihre Waren zum Marktplatz s<strong>ch</strong>leppten, konnte von vielen beoba<strong>ch</strong>tet werden, dass si<strong>ch</strong> auf<br />

dem Palast des Prinzen Goldmaske ein kleiner s<strong>ch</strong>warzer Geier mit weißer Halskrause plusternd<br />

niederließ. Es war ein Ocatli-Vogel, der als Heil- und Unheilbringer galt; seine Anwesenheit hatte<br />

eine Vorbedeutung: Eine gute, wenn er seinen kreis<strong>ch</strong>enden S<strong>ch</strong>rei Ah – ah – ah ausstieß; eine<br />

s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te, wenn er Yeccan rief.<br />

Heute rief er: »Yeccan, yeccan!«, und das Volk wusste, dass im Tecpan der Lieblingssohn<br />

des Prinzen krank darniederlag.<br />

*<br />

Als Letzter einer langen Reihe von Pra<strong>ch</strong>träumen lag im hintersten, abgelegenen, von den Akazien<br />

des S<strong>ch</strong>lossgartens ums<strong>ch</strong>atteten <strong>Teil</strong> des Tecpans ein weiter und tiefer Saal, an dessen Längswänden<br />

si<strong>ch</strong> oben, unterhalb der Zederbalkendecke, quadratis<strong>ch</strong>e Li<strong>ch</strong>töffnungen befanden. An<br />

der hinteren Querwand führten drei Türen in geräumige, mit s<strong>ch</strong>önem Hausgerät versehene<br />

S<strong>ch</strong>lafkammern. Eine von diesen war das Krankenzimmer des kleinen Prinzen. Dort brannten im


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 144<br />

Kerzenhalter auf der niedrigen, mit Silberble<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>lagenen Truhe aus weißem Zapoteholz drei<br />

fingerdünne und etwa ellenhohe Kienspäne, als wären es Wa<strong>ch</strong>sli<strong>ch</strong>ter. Darunter stand eine Phiole;<br />

und dort lag au<strong>ch</strong> ein alter, s<strong>ch</strong>warz angefressener Zinnlöffel. Die Wände waren mit<br />

mattfarbenen Tapeten aus Agavepapier verziert, auf die stilisierte Raubtierkämpfe gemalt waren.<br />

Auf einem Lager aus übereinander gehäuften, ockergelben, mit Daunen gestopften Baumwollkissen<br />

lag das Kind, eingehüllt in Decken aus wei<strong>ch</strong>stem Kanin<strong>ch</strong>enhaar. Maulbeerfarbene,<br />

duftlose Ohrenblumen waren übers Krankenbett gestreut wie vom Himmel gefallene Sterne. Hinter<br />

dem Kopfende des Lagers knieten zwei ältli<strong>ch</strong>e Sklavinnen und s<strong>ch</strong>eu<strong>ch</strong>ten mit großen kreisrunden<br />

Fä<strong>ch</strong>ern die Fliegen von der feu<strong>ch</strong>ten Stirn des Knaben. Neben dem Bett saß die Samariterin<br />

Isabel Rodríguez. S<strong>ch</strong>on seit einigen Tagen lösten sie und Ines Florín, die To<strong>ch</strong>ter des Seeräubers,<br />

si<strong>ch</strong> als Pflegerinnen ab; der verrückte Physikus hatte sie hergebra<strong>ch</strong>t. Als die Künste der<br />

heimis<strong>ch</strong>en Wundärzte zu versagen s<strong>ch</strong>ienen, hatte si<strong>ch</strong> Prinz Goldmaske von Cortés den großen<br />

Arzt erbeten, »der die Krankheit aus dem Leibe zieht.« Die Mens<strong>ch</strong>enfettsalbe Leonel de Cerros,<br />

von der er no<strong>ch</strong> ein halbes Bü<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>en besaß, tat dem kleinen Prinzen gut. Die Entzündungen und<br />

S<strong>ch</strong>wellungen am Hals gingen zurück, das Fieber ließ na<strong>ch</strong>. Seitdem wurden im Tecpan die Wüns<strong>ch</strong>e<br />

des Physikus ungefragt erfüllt, und ohne auf Widerspru<strong>ch</strong> zu stoßen setzte er dur<strong>ch</strong>, dass<br />

Medizinmänner und Hexen vom Krankenbett fernblieben und dur<strong>ch</strong> die beiden weißen Frauen ersetzt<br />

wurden.<br />

Isabel Rodríguez nähte am Brautkleid für Prinzessin Rabenblume, die S<strong>ch</strong>wester des Prinzen<br />

Goldmaske. Die fließenden Stoffe der tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Frauentra<strong>ch</strong>t waren kleidsamer als die<br />

ges<strong>ch</strong>nürten Mieder und steif gefalteten Frauenröcke der Damen Italiens und Spaniens, do<strong>ch</strong> Alvarado<br />

legte Wert darauf, dass seine künftige Gattin au<strong>ch</strong> äußerli<strong>ch</strong> als Christin und Frau von edlem<br />

Geblüt – eine hildalga de sangre – mit ihm vor den Altar trete. Er hatte der rei<strong>ch</strong>en Amazone María<br />

de Estrada lavendelfarbene Seide und einige Fetzen Brokat abgekauft, und Isabel Rodríguez zauberte<br />

daraus ein europäis<strong>ch</strong>es Brautkleid. Von Zeit zu Zeit ließ Isabel ihre baus<strong>ch</strong>ige Arbeit zur<br />

Erde fallen, träufelte einige Tropfen aus der grünli<strong>ch</strong> blauen Phiole auf den Zinnlöffel, und flößte<br />

den Trank dem s<strong>ch</strong>lummernden Kind ein.<br />

S<strong>ch</strong>ritte näherten si<strong>ch</strong>. Man hörte das Klirren metallener Glöck<strong>ch</strong>en, wie die Vornehmen sie<br />

auf ihren Sandalenriemen zu tragen pflegten. Goldmaske trat mit seiner S<strong>ch</strong>wester Rabenblume<br />

ein. Die Begleiterinnen der Prinzessin blieben im großen Saal zurück. Rabenblume wohnte im<br />

Tecpan ihres Großvaters Wespenring und war mit einigen Silberreiherblumen in den Palast ihres<br />

Bruders gekommen, um si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Wohlbefinden des kleinen Neffen zu erkundigen. Sie wäre<br />

keine Frau gewesen, hätte sie ni<strong>ch</strong>t insgeheim gewüns<strong>ch</strong>t, ein Blick auf ihr Brautkleid zu werfen.<br />

Goldmaske hätte ihr Vater sein können, so groß war der Altersunters<strong>ch</strong>ied der Ges<strong>ch</strong>wister,<br />

und do<strong>ch</strong> beherrs<strong>ch</strong>te sie ihren starrköpfigen und unbändigen Bruder, ohne si<strong>ch</strong> ihrer Ma<strong>ch</strong>t bewusst<br />

zu sein. Rabenblume war kaum erwa<strong>ch</strong>sen. Mäd<strong>ch</strong>enhaft und zierli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ritt sie graziös<br />

neben ihrem Bruder her. Ihr etwas breiter, do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ön ges<strong>ch</strong>nittener Mund ließ ras<strong>ch</strong>e Entflammbarkeit<br />

ahnen - wie au<strong>ch</strong> die im S<strong>ch</strong>immer der drei Kienspanfackeln wie Kristalle glänzenden Augen.<br />

Sie war na<strong>ch</strong> Art der Tlaxcalteken hellgelb ges<strong>ch</strong>minkt und trug ihr Haar als langen Zopf, der<br />

von zwei phantastis<strong>ch</strong> emporragenden S<strong>ch</strong>leifen eines mit Blumenwasser parfümierten Zopfbandes<br />

dur<strong>ch</strong>flo<strong>ch</strong>ten war.<br />

Isabel Rodríguez hatte si<strong>ch</strong> respektvoll vom Sessel erhoben. Den eleganten Gruß der Prinzessin,<br />

die ihre re<strong>ch</strong>te Hand zur Erde und dann zum Herzen führte, erwiderte sie mit einem unbeholfenen<br />

Knicks. Isabel war – wie wir wissen - dreiundzwanzig Jahre alt, blei<strong>ch</strong>sü<strong>ch</strong>tig, sommersprossig<br />

und hatte rötli<strong>ch</strong>es Strohhaar. Ihr s<strong>ch</strong>mallippiger Mund konnte madonnenhaft lä<strong>ch</strong>eln.<br />

Do<strong>ch</strong> ohne Dolmets<strong>ch</strong>er war ein Gesprä<strong>ch</strong> unmögli<strong>ch</strong>, und so gab sie den Eintretenden dur<strong>ch</strong> Zei<strong>ch</strong>en<br />

zu verstehen, dass das Kind s<strong>ch</strong>lafe und dass es ihm besser gehe. Die beiden jungen Frauen<br />

lä<strong>ch</strong>elten einander zaghaft an. Dur<strong>ch</strong> ihr Verlöbnis mit Alvarado und die tägli<strong>ch</strong>en<br />

Kate<strong>ch</strong>ismusstunden bei Pater Olmedo dem neuen Glauben mit Eifer zugetan, sah die indianis<strong>ch</strong>e<br />

Fürstento<strong>ch</strong>ter in jeder Christin eine S<strong>ch</strong>wester. Sie trat auf Isabel Rodríguez zu, legte ihr die Silberreiherblüten<br />

in die Hände und küsste sie auf die Wange.<br />

Isabel war die To<strong>ch</strong>ter eines armen S<strong>ch</strong>uhma<strong>ch</strong>ers in Toledo. Ho<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>tung vor der Aristokratie<br />

war ihr anerzogen. Blut s<strong>ch</strong>oss ihr in die Wangen, und wieder ma<strong>ch</strong>te sie verlegen einen<br />

Knicks. Goldmaske stand mit höfli<strong>ch</strong>em Lä<strong>ch</strong>eln daneben, do<strong>ch</strong> Rabenblume wusste ohne hinzusehen,<br />

dass er an ihrer Vertrauli<strong>ch</strong>keit Anstoß nahm. Sie glaubte si<strong>ch</strong> für die Glaubensgenossin


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 145<br />

einsetzen zu müssen.<br />

»Au<strong>ch</strong> mein Bruder soll die Jungfrau küssen!«, sagte Rabenblume.<br />

»Warum?«, fragte der Prinz.<br />

»Weil die Jungfrau am Bett des Kindes gewa<strong>ch</strong>t und den Teufel vertrieben hat!«, entgegnete<br />

die angehende Christin. Dass es böse Teufel gab – demonios –, war ihr von Pater Olmedo bestätigt<br />

worden. Für Goldmaske waren ihre Worte eine Zumutung. Er konnte sehr großherzig sein,<br />

liebte die Pfleger seines aber Kindes ni<strong>ch</strong>t. Do<strong>ch</strong> er fügte si<strong>ch</strong> dem romantis<strong>ch</strong>en Wuns<strong>ch</strong> der<br />

S<strong>ch</strong>wester. Viellei<strong>ch</strong>t war es ihm au<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>t, so lei<strong>ch</strong>ten Kaufes einer Dankess<strong>ch</strong>uld ledig zu werden.<br />

Hastig erfasste er die Hände des blonden Mäd<strong>ch</strong>ens und beugte si<strong>ch</strong> zum Kuss nieder. Do<strong>ch</strong><br />

Isabel Rodríguez, die den Dialog zwis<strong>ch</strong>en den Ges<strong>ch</strong>wistern ni<strong>ch</strong>t verstanden hatte, entriss ihm,<br />

von reflexartigem S<strong>ch</strong>reck erfüllt die Hände, no<strong>ch</strong> ehe er Zeit gehabt hatte, sie mit seinen Lippen<br />

zu berühren. Im selben Augenblick traten Marina, ihr Haushofmeister Arteaga und der Apotheker<br />

Leonel de Cerro ins Krankenzimmer.<br />

Goldmaske war verstimmt, dass die Eintretenden seine vermeintli<strong>ch</strong>e Erniedrigung gesehen<br />

hatten. Er gab si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t einmal Mühe, seine s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Laune zu verhehlen. Steif und feierli<strong>ch</strong> begrüßte<br />

er den Arzt, die Dolmets<strong>ch</strong>erin und ihren Bes<strong>ch</strong>ützer. Verbissen lä<strong>ch</strong>elnd sah er zu, wie<br />

Marina und Rabenblume Begrüßungsküsse austaus<strong>ch</strong>ten. Dann starrte er unverrückt auf den kobaltblauen<br />

Li<strong>ch</strong>tfleck in der kugeligen grünblauen Phiole. Wie er so dastand, keimte ein ungutes<br />

Gefühl in ihm auf – zuerst Zorn auf die Zeugen seiner Demütigung, der si<strong>ch</strong> jedo<strong>ch</strong> bald in Wut auf<br />

si<strong>ch</strong> selbst wandelte, da er si<strong>ch</strong> dem Wuns<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>wester gebeugt hatte. Und von einem Extrem<br />

ins andere geworfen, hasste er seine S<strong>ch</strong>wester mit einem Mal, nur weil er ihren Rat befolgt hatte!<br />

Er nahm si<strong>ch</strong> vor, nie mehr auf sie zu hören. Und ni<strong>ch</strong>t minder hasste er plötzli<strong>ch</strong> die rotblonde<br />

Christenjungfrau, war sie do<strong>ch</strong> der (uns<strong>ch</strong>uldige) Anlass seiner Demütigung.<br />

Der Physikus hatte si<strong>ch</strong> bereits bei seinen früheren Besu<strong>ch</strong>en die Begleitung Marinas ausgebeten,<br />

um ärztli<strong>ch</strong>e Vors<strong>ch</strong>riften erteilen zu können; diese wiederum betrat – auf ausdrückli<strong>ch</strong>en<br />

Wuns<strong>ch</strong> von Cortés – kein tlaxcaltekis<strong>ch</strong>es Haus, ohne ihren bis an die Zähne bewaffneten<br />

majordomo zur Seite zu haben. Der stolze, graubärtige Juan Pérez de Arteaga war ihr S<strong>ch</strong>atten,<br />

taktvoll und dienstbeflissen.<br />

Leonel de Cerro hatte ein riesenhaftes, mit lauem Kräuterwasser gefülltes Klistier mitgebra<strong>ch</strong>t.<br />

Ein Monstrum von einem Klistier! Für die Bewohner Tlaxcalas jedo<strong>ch</strong> ein zur Neugier reizendes<br />

Zauberwerkzeug unbekannter Funktion. Da erwa<strong>ch</strong>te das Kind und begann zu weinen, wie<br />

bisher jedes Mal beim Anblick des verrückten Apothekers, an dessen struppigen,<br />

s<strong>ch</strong>mutzigbraunen Räuberbart es si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t gewöhnen konnte. Na<strong>ch</strong>dem de Cerro den Puls gefühlt<br />

und zufrieden genickt hatte, legte er den kleinen kupferroten Körper bäu<strong>ch</strong>lings auf die Kissen<br />

und bohrte das Instrument in den Darmausgang des Kindes. Der Apotheker war ein Pedant; und<br />

was er tat, das tat er feierli<strong>ch</strong> und gründli<strong>ch</strong>.<br />

Da eilte mit leisen katzenhaften S<strong>ch</strong>ritten Prinz Goldmaske hinzu und befreite das Kind blitzs<strong>ch</strong>nell.<br />

De Cerro fühlte die eiserne Hand des Prinzen auf der S<strong>ch</strong>ulter. Mit wütend verzerrtem<br />

Gesi<strong>ch</strong>t stand Goldmaske vor ihm und hielt ihm das Klistier vor die Augen.<br />

»Wehe dir, weißer Teufel!«, brüllte er.<br />

Weit davon entfernt, si<strong>ch</strong> eins<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tern zu lassen, geriet au<strong>ch</strong> der Apotheker in Zorn. In seiner<br />

Welt war es klug und vernünftig, heilsam und alltägli<strong>ch</strong>, was er hatte tun wollen. In der Welt der<br />

Völker Anahuacs aber war es eine S<strong>ch</strong>ändung, ein unerhörter Verstoß gegen die Sittsamkeit. So<br />

prallten zwei Welten aufeinander, was zu einer grotesken Situation führte, deren Komik dur<strong>ch</strong> die<br />

gegenseitige überhebli<strong>ch</strong>e Vera<strong>ch</strong>tung no<strong>ch</strong> gesteigert wurde. Goldmaske verteidigte sein Kind,<br />

und der Physikus verteidigte seine Wissens<strong>ch</strong>aft, die ihm ni<strong>ch</strong>t weniger heilig war und auf die er<br />

ni<strong>ch</strong>ts kommen ließ. Er sprudelte eine Flut von S<strong>ch</strong>impfworten hervor. Als der steifbeinige Pérez<br />

de Arteaga si<strong>ch</strong> veranlasst sah, ihn zu ermahnen, dass sie hier Gäste im Hause seien, verwandelte<br />

seine Wut si<strong>ch</strong> in Sarkasmus. Zu Marina gewendet, die verlegen mit Rabenblume abseits stand<br />

(glei<strong>ch</strong> zu Beginn des Streits hatte sie die Beleidigungen zu übersetzen si<strong>ch</strong> geweigert), gab er das<br />

heilige Verspre<strong>ch</strong>en, si<strong>ch</strong> hinfort zu zügeln und bat Marina, wieder Dolmets<strong>ch</strong>erin zu sein.<br />

Nun behandelte der Physikus den Prinzen Goldmaske mitleidsvoll und herablassend als<br />

S<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>kopf, der einer Belehrung bedürfe, und erklärte ihm die Bedienung des Instruments, in<br />

dem si<strong>ch</strong> weder Blitzfeuer no<strong>ch</strong> Todesgift no<strong>ch</strong> Dämonen befänden, sondern ein uns<strong>ch</strong>uldiges<br />

lauwarmes Seifen- und Kräuterwassergemis<strong>ch</strong>, das keinen anderen Zweck hätte, als die zum Er-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 146<br />

liegen gekommene Darmtätigkeit des kleinen Prinzen wieder zu erwecken. Als Antwort darauf<br />

spritzte Goldmaske ihm den Inhalt des Klistiers ins Gesi<strong>ch</strong>t und bra<strong>ch</strong> in ein böses, kaltes Gelä<strong>ch</strong>ter<br />

aus.<br />

Für den Apotheker s<strong>ch</strong>ien der Auftritt damit vergessen, ni<strong>ch</strong>t so aber für Prinz Goldmaske,<br />

dessen Gereiztheit einer lauernden Mordlust gewi<strong>ch</strong>en war. Marina warf Rabenblume einen angstvollen<br />

Blick zu, denn sie begriff, in wel<strong>ch</strong>er Gefahr der ahnungslose Quacksalber s<strong>ch</strong>webte.<br />

Da ras<strong>ch</strong>elte es am Korallenvorhang; s<strong>ch</strong>eu und angstvoll s<strong>ch</strong>ob si<strong>ch</strong> die berückende Gestalt<br />

Weißer Sommervogels herein und stürzte vor dem Prinzen zu Boden. Goldmaske hatte den Hermaphroditen<br />

einsperren lassen, na<strong>ch</strong>dem er ihm von Cortés na<strong>ch</strong> der Errettung zugespro<strong>ch</strong>en<br />

worden war. Er wollte abwarten, wel<strong>ch</strong>e Entwicklung das Leiden seines Sohnes nahm und dann<br />

auf eine Strafe für Weißer Sommervogel sinnen. Do<strong>ch</strong> irgendwie war es der Listenrei<strong>ch</strong>en erneut<br />

gelungen, aus dem vers<strong>ch</strong>lossenen Gema<strong>ch</strong> herauszukommen; nun wollte sie bei seinem Herrn<br />

um Verzeihung bitten. Zerrissen die kostbaren Mäd<strong>ch</strong>enkleider, verwahrlost, zerzaust das Haar,<br />

unges<strong>ch</strong>minkt das Gesi<strong>ch</strong>t, ungewas<strong>ch</strong>en und mit S<strong>ch</strong>mutzkrusten bedeckt, ers<strong>ch</strong>ien Goldmaske<br />

das reizvolle Wesen in seiner Verwilderung s<strong>ch</strong>öner denn je. Im selben Augenblick war der Apotheker<br />

vergessen. Goldmaskes Groll hatte ein neues und würdigeres Ziel gefunden.<br />

Weißer Sommervogel zog es vor, freiwillig vor ihren Ri<strong>ch</strong>ter zu treten, um ihre Strafe zu empfangen.<br />

War es au<strong>ch</strong> ein Wagnis, so war do<strong>ch</strong> die Rettung gewiss, wenn es glückte. Weinend lag<br />

sie jetzt zu Füßen ihres Peinigers, besudelt und bes<strong>ch</strong>mutzt wie ein pfeildur<strong>ch</strong>bohrter, blutender<br />

Vogel. Ihr Mund bebte und zuckte, und die hellbraunen, vor Angst weit aufgerissenen Augen hingen<br />

unverrückbar am starren Antlitz des Prinzen.<br />

»Töte mi<strong>ch</strong>... I<strong>ch</strong> habe es verdient«, hau<strong>ch</strong>te der Hermaphrodit.<br />

»Ja«, sagte Goldmaske tonlos. Ni<strong>ch</strong>ts regte si<strong>ch</strong> im steinernen Gesi<strong>ch</strong>t. Wohl aber tastete<br />

die Re<strong>ch</strong>te des Prinzen langsam am Gurt entlang und zog einen nadelspitzen Kno<strong>ch</strong>endol<strong>ch</strong> heraus.<br />

Es wurde still im Zimmer.<br />

Da legte si<strong>ch</strong> eine zarte Hand auf den Arm des Prinzen. Rabenblume war an ihn herangetreten<br />

und flüsterte, mit dem Kopf zum Krankenlager weisend:<br />

»Das Kind!«<br />

Mit s<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elndem Augenaufs<strong>ch</strong>lag nahm sie ihm den Dol<strong>ch</strong> aus der Hand. Goldmaske<br />

ließ es ges<strong>ch</strong>ehen; er überließ ihr den Dol<strong>ch</strong>, als sei es ein Spielzeug. Er hatte si<strong>ch</strong> anders besonnen<br />

und nickte zerstreut.<br />

»Ja, ni<strong>ch</strong>t hier«, sagte er. »Ni<strong>ch</strong>t hier und ni<strong>ch</strong>t jetzt. – Kommt!«<br />

Er ging voraus in den angrenzenden Saal. Rabenblume, Marina, de Cerro und Arteaga folgten<br />

ihm beklommen. Wie betäubt blieb Weißer Sommervogel liegen. Als sie von den Torhütern<br />

bars<strong>ch</strong> ermahnt wurde, erhob sie si<strong>ch</strong> und wankte hinterdrein. Nur Isabel Rodríguez und die alten<br />

Fä<strong>ch</strong>erträgerinnen blieben am Bett des Kindes.<br />

Im Saal winkte Goldmaske die beiden Torwä<strong>ch</strong>ter heran und befahl ihnen, die Gäste aus<br />

dem Palast zu geleiten. Dann erteilte er ihnen mit flüsternder Stimme no<strong>ch</strong> einen anderen Befehl.<br />

»Bringt die grüne S<strong>ch</strong>lange!«, sagte er.<br />

Die Torhüter entfernten si<strong>ch</strong> mit den Christen. Goldmaske erwiderte ihre Abs<strong>ch</strong>iedsverbeugungen<br />

höfli<strong>ch</strong>, aber glei<strong>ch</strong>gültig. Den heimli<strong>ch</strong>en Befehl hatte niemand außer den beiden Beauftragten<br />

vernommen.<br />

Weißer Sommervogel lehnte an der Wand, die Arme weit zu den Seiten gestreckt, als hoffte<br />

sie, vom Gemäuer vers<strong>ch</strong>lungen und dem starren Blick des Prinzen entgehen zu können. Do<strong>ch</strong> die<br />

Augen gaben ihn ni<strong>ch</strong>t frei; näher und näher kam das steinerne Gesi<strong>ch</strong>t, und ein Entkommen war<br />

unmögli<strong>ch</strong>. Prinzessin Rabenblume stand mit gerunzelter Stirn di<strong>ch</strong>t hinter ihrem Bruder.<br />

Im Krankenzimmer hatte Weißer Sommervogel erkannt, dass das Kind außer Gefahr war.<br />

Das s<strong>ch</strong>ürte ein klein wenig Hoffnung. Weinend und die Tränen mit dem langen zerzausten Haar<br />

von den Wangen wis<strong>ch</strong>end, begann sie si<strong>ch</strong> zu re<strong>ch</strong>tfertigen. Mit glockenhafter Mäd<strong>ch</strong>enstimme<br />

erzählte sie eine Phantasieges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, um si<strong>ch</strong> als s<strong>ch</strong>uldloses Opfer unglückli<strong>ch</strong>er Zufälle hinzustellen.<br />

Ja, sie habe den Gurt entflo<strong>ch</strong>ten, aber die dünnen S<strong>ch</strong>nüre hätten einem Spiel dienen<br />

sollen. Sie habe die S<strong>ch</strong>nur an den Fackelhalter gebunden, um ein Ballspiel vorzubereiten. Do<strong>ch</strong><br />

als am anderen Ende die S<strong>ch</strong>linge s<strong>ch</strong>on geknüpft war, sei ihr eingefallen, dass sie die gefiederten<br />

Bälle und die S<strong>ch</strong>läger no<strong>ch</strong> holen müsse. Oh, hätte sie do<strong>ch</strong> erst das andere Ende der S<strong>ch</strong>nur<br />

befestigt! Kaum habe sie den Rücken gekehrt, hätte das Kind si<strong>ch</strong> in der S<strong>ch</strong>linge verfangen. Wei-


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 147<br />

ßer Sommervogel sei vor Todess<strong>ch</strong>reck wie gelähmt gewesen, denn sie habe sofort vorausgesehen,<br />

dass man ihrer Uns<strong>ch</strong>uld ni<strong>ch</strong>t glauben werde, und darum, ja, bloß darum sei sie geflohen<br />

und habe die alte Wärterin niederges<strong>ch</strong>lagen, um von ihr ni<strong>ch</strong>t zu Boden ges<strong>ch</strong>lagen zu werden.<br />

So erlogen die Darstellung au<strong>ch</strong> war – sie konnte do<strong>ch</strong> glaubhaft ers<strong>ch</strong>einen. An einem anderen<br />

Tag und unter anderen Umständen hätte Goldmaske viellei<strong>ch</strong>t verziehen. Aber seit dem<br />

demütigenden Handkuss war er gereizt und verbittert, und jetzt verlangte sein Zorn ein Opfer.<br />

Die beiden Torwä<strong>ch</strong>ter waren zurückgekehrt. Einer trug einen fußhohen Holzkasten mit kleinen<br />

Luftlö<strong>ch</strong>ern; an einer S<strong>ch</strong>malseite war eine kleine S<strong>ch</strong>iebetür angebra<strong>ch</strong>t. Der Wä<strong>ch</strong>ter setzte<br />

den Kasten zwis<strong>ch</strong>en Goldmaske und den Zwitter behutsam auf den Fußboden. Der andere<br />

spra<strong>ch</strong> mit tiefer Verbeugung:<br />

»O mein Herr, hier ist die grüne S<strong>ch</strong>lange!«<br />

Kaum waren diese Worte gespro<strong>ch</strong>en, s<strong>ch</strong>rie Weißer Sommervogel auf; au<strong>ch</strong> Rabenblume<br />

stieß einen leisen S<strong>ch</strong>rei des Entsetzens aus.<br />

»Tu das ni<strong>ch</strong>t, Bruder!«, rief sie. Der Biss der grünen S<strong>ch</strong>lange tötete binnen weniger Augenblicke!<br />

Do<strong>ch</strong> heute versagte die Ma<strong>ch</strong>t Rabenblumes; ihre Worte sta<strong>ch</strong>elten den Trotz ihres<br />

Bruder eher no<strong>ch</strong> an, nun erst re<strong>ch</strong>t zu zeigen, dass er ni<strong>ch</strong>t mehr auf sie hörte. Er griff na<strong>ch</strong> der<br />

kleinen S<strong>ch</strong>iebetür. Da sprang Isabel Rodríguez mit ausgebreiteten Armen vor Weißer Sommervogel<br />

hin. Vom s<strong>ch</strong>rillen Angsts<strong>ch</strong>rei der Knäbin aufmerksam gema<strong>ch</strong>t, war sie unbemerkt aus dem<br />

Krankenzimmer in den Saal geeilt. Ohne gänzli<strong>ch</strong> zu begreifen, was ges<strong>ch</strong>ah, ahnte sie das<br />

Fur<strong>ch</strong>tbare. Viellei<strong>ch</strong>t hoffte sie, ihre Gegenwart werde Goldmaske abhalten. Do<strong>ch</strong> der Prinz ließ<br />

si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t mehr beirren, ni<strong>ch</strong>t von Isabel und ni<strong>ch</strong>t von Rabenblume, die ihren Bruder von hinten<br />

ansprang und seinen Rücken mit beiden Fäusten traktierte. Er s<strong>ch</strong>üttelte die S<strong>ch</strong>wester ab, dass<br />

sie niedersank. Dann öffnete er ents<strong>ch</strong>lossen die Tür des S<strong>ch</strong>langenkäfigs.<br />

Der Kopf der grünen S<strong>ch</strong>lange s<strong>ch</strong>ob si<strong>ch</strong> zuerst langsam, ruckweise aus dem Gehäuse.<br />

Rabenblume stöhnte, s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zte und verstummte dann jäh. Lautlos glitt der mattgetigerte hells<strong>ch</strong>uppige<br />

Leib aus dem Käfig. Die S<strong>ch</strong>lange bäumte si<strong>ch</strong> kerzengerade auf, züngelte, riss den<br />

Ra<strong>ch</strong>en auf, dass die zwei langen ges<strong>ch</strong>weiften Giftzähne elfenbeinern s<strong>ch</strong>immerten. Isabel<br />

Rodríguez stand no<strong>ch</strong> immer bewegungslos vor Weißer Sommervogel, den starren Blick auf das<br />

Reptil geri<strong>ch</strong>tet. Die S<strong>ch</strong>lange züngelte vor ihr, wiegte si<strong>ch</strong> von links na<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>ts, bewegte dabei<br />

witternd den Kopf und verharrte dann, da sie keine Bewegung und somit au<strong>ch</strong> kein Opfer erkannte.<br />

Starr und atemlos standen die anderen und beoba<strong>ch</strong>teten.<br />

Da versagten Weißer Sommervogels Nerven. Sie wollte leben, wollte entkommen! No<strong>ch</strong> immer<br />

von Isabel Rodríguez verdeckt, versu<strong>ch</strong>te sie, mit einem Sprung seitwärts zu ents<strong>ch</strong>lüpfen. Da<br />

s<strong>ch</strong>oss die grüne S<strong>ch</strong>lange blitzartig vor und s<strong>ch</strong>lug die Zähne in Isabels Oberarm!<br />

*<br />

Seit dem Tag na<strong>ch</strong> der Öffnung der Mens<strong>ch</strong>enkäfige weilte die Blaue Feder, der König des Berglandes<br />

Tezcoco, in der Stadt Tlaxcala. Otomis der westli<strong>ch</strong>en Grenzwa<strong>ch</strong>t hatten zuvor die Mitteilung<br />

überbra<strong>ch</strong>t, dass Blaue Feder mit einem kleinen Gefolge an der Großen Mauer eingetroffen<br />

sei und vom Hohen Rat die Genehmigung erbitte, in der Hauptstadt Tlaxcala den weißen Sonnensöhnen<br />

seine Huldigung darzubringen. Vor Wo<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>on hatte Cortés über den dicken Kaziken<br />

ein Bündnisangebot erhalten für den Fall, dass es den Männern des Sonnenaufgangs gelinge,<br />

Tlaxcalas Freunds<strong>ch</strong>aft und Beistand zu gewinnen; aber die Ankunft des Königs war denno<strong>ch</strong> eine<br />

unerhörte Überras<strong>ch</strong>ung. Der Rat der Alten traf Anstalten, ihn als Ehrengast zu empfangen und<br />

s<strong>ch</strong>ickte ihm ein würdiges Geleit entgegen.<br />

Er wurde von der misstrauis<strong>ch</strong>en Volksmenge neugierig angestarrt und von den Stammesfürsten<br />

höfli<strong>ch</strong>, do<strong>ch</strong> zurückhaltend willkommen geheißen. Er übersah den frostigen Empfang,<br />

zeigte si<strong>ch</strong> ernst, freundli<strong>ch</strong> und ritterli<strong>ch</strong>, ohne na<strong>ch</strong> Gunst zu has<strong>ch</strong>en – und eben damit erwarb<br />

er si<strong>ch</strong> die Gunst der Tlaxcalteken.<br />

Ganz anders verlief das Treffen mit Cortés; er verblüffte die Kastilier dur<strong>ch</strong> die temperamentvolle<br />

Herzli<strong>ch</strong>keit, wie sie no<strong>ch</strong> keiner der Indianer gezeigt hatte. In der Erwartung, Quetzalcoatls<br />

Rückkehr erleben zu dürfen und als dessen Verbündeter gegen Anahuac zu mars<strong>ch</strong>ieren, zeigte<br />

Blaue Feder eine ungeahnte Begeisterung für das Kreuz und die Kreuzträger. Quetzalcoatl, der


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 148<br />

Gott, der au<strong>ch</strong> ein Kreuzessymbol trug und vor Urzeiten über das große Wasser na<strong>ch</strong> Westen gefahren<br />

war, sollte dereinst aus dem Osten wiederkehren. Cortés hatte der Blauen Feder bei der<br />

Begrüßung ein silbernes Kruzifix ges<strong>ch</strong>enkt, und der König von Tezcoco warf si<strong>ch</strong> vor diesem<br />

Kreuz auf die Knie und bedeckte es mit Küssen. Und kaum hatte er erfahren, dass die Fürstentö<strong>ch</strong>ter<br />

getauft werden sollten, bestand er s<strong>ch</strong>on darauf, zusammen mit ihnen getauft zu werden.<br />

Au<strong>ch</strong> äußerli<strong>ch</strong> hob er si<strong>ch</strong> ab: wie zum Trotz gegen die alten Götter war er ohne Gesi<strong>ch</strong>tsbemalung<br />

vor Cortés hin getreten, und hinter fein ges<strong>ch</strong>liffenen Redewendungen verbarg si<strong>ch</strong> mitreißende<br />

Leidens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit.<br />

Am Morgen dieses Tages wollte die Blaue Feder mit einem kleinen Gefolge dem Prinzen<br />

Goldmaske einen Höfli<strong>ch</strong>keitsbesu<strong>ch</strong> abstatten; Cortés, Alvarado und Jerónimo de Aguilár (als<br />

Dolmets<strong>ch</strong>er an Stelle der abwesenden Marina) begleiteten ihn. Unweit vom Palasteingang waren<br />

ihnen Marina, Arteaga und der Physikus aufgeregt und mit verstörten Mienen entgegengekommen.<br />

Marina hatte Cortés eilig mitgeteilt, dass Weißer Sommervogel in Lebensgefahr s<strong>ch</strong>webe.<br />

Die Prunkhalle, in der Goldmaske Gäste zu empfangen pflegte, lag im vorderen Palastteil<br />

nahe beim Haupttor. Um ein Unglück zu verhindern, ließ Cortés si<strong>ch</strong> mit Alvarado, Leonel de<br />

Cerro, Marina und der Blauen Feder – das Gefolge am Eingang des Tecpans zurücklassend – ins<br />

Palastinnere führen.<br />

Isabel Rodríguez lag blei<strong>ch</strong> auf den Marmorfliesen, und über sie hingestreckt s<strong>ch</strong>lu<strong>ch</strong>zte Rabenblume.<br />

Sie waren zu spät gekommen. Der Apotheker konnte nur no<strong>ch</strong> den Tod Isabels feststellen.<br />

Cortés musste seiner Bestürzung Herr werden und kühl überlegen. Die Begleitumstände des<br />

Ges<strong>ch</strong>ehenen s<strong>ch</strong>ienen unentwirrbar – kein Europäer war Zeuge gewesen. Die Tote, eine<br />

S<strong>ch</strong>wester des S<strong>ch</strong>arfs<strong>ch</strong>ützen und Trompeters Sebastián Rodríguez, war der Liebling des ganzen<br />

Heeres. Ihrem Zauberspru<strong>ch</strong><br />

Es ist Marías Wille!<br />

Blut, steh stille!<br />

glaubte man<strong>ch</strong>er Kastilier seine Heilung zu verdanken. Es war zu befür<strong>ch</strong>ten, dass die Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t<br />

ihres rätselhaften Todes die Soldaten zu unbeda<strong>ch</strong>ten Taten hinreißen könnte. Die wi<strong>ch</strong>tige<br />

Freunds<strong>ch</strong>aft mit Tlaxcala aber durfte unter keinen Umständen aufs Spiel gesetzt werden. So galt<br />

es vor allem, das Heer zu bes<strong>ch</strong>wi<strong>ch</strong>tigen. Wenn si<strong>ch</strong> ein Ziel mit anderen Zielen vereinbaren<br />

lässt, umso besser. Eine gewisse Summe könnte die Trauer des Heeres um die Tote viellei<strong>ch</strong>t<br />

mildern.<br />

Marina musste fragen, wie das Unglück ges<strong>ch</strong>ehen sei. Der Prinz s<strong>ch</strong>ien wie aus tiefem<br />

S<strong>ch</strong>laf zu erwa<strong>ch</strong>en. Den beiden Torwä<strong>ch</strong>tern – denen es eben erst gelungen war, die S<strong>ch</strong>lange<br />

wieder einzufangen und in den Käfig zu sperren – hau<strong>ch</strong>te er, ohne die Lippen zu bewegen, einige<br />

kaum vernehmli<strong>ch</strong>e Worte zu. Die Blaue Feder stand zu weit entfernt, um zu verstehen, do<strong>ch</strong> Marinas<br />

s<strong>ch</strong>arfes Gehör hatte die Worte aufgefangen.<br />

»Er will Bewaffnete rufen lassen! Haltet die Wä<strong>ch</strong>ter auf«, sagte sie auf Spanis<strong>ch</strong>.<br />

Alvarado hinderte die beiden Torhüter, den Saal zu verlassen, und flüsterte dann mit<br />

Arteaga, der eilig davonlief.<br />

Stolz s<strong>ch</strong>wieg Goldmaske auf Cortés Frage na<strong>ch</strong> dem Hergang des Unglücks. Au<strong>ch</strong> die<br />

Blaue Feder empfand die Situation für Goldmaske als demütigend. Zwar mo<strong>ch</strong>ten sie einander<br />

ni<strong>ch</strong>t – Blaue Feder spürte die Doppelzüngigkeit des Tlaxcalteken, und Goldmaske witterte in ihm<br />

den Verräter –, do<strong>ch</strong> der mit List gepaarten Ritterli<strong>ch</strong>keit des Königs widerstrebte es, untätiger Zus<strong>ch</strong>auer<br />

einer Demütigung zu sein. Ohne si<strong>ch</strong> weiter um Cortés' Anwesenheit zu kümmern,<br />

taus<strong>ch</strong>te er die übli<strong>ch</strong>en höfli<strong>ch</strong>en Begrüßungsfloskeln mit Goldmaske und bat um die Erlaubnis,<br />

an die Bettstatt des kranken Kindes treten zu dürfen. Mit Aguilár, der ihm den Weg zeigte, entfernte<br />

er si<strong>ch</strong>.<br />

Cortés ließ dur<strong>ch</strong> Marina seine Frage no<strong>ch</strong>mals wiederholen. Aber Goldmaske gab keine<br />

Antwort. Da redete Rabenblume und gab eine Bes<strong>ch</strong>reibung des tragis<strong>ch</strong>en Vorganges. Während<br />

der Erzählung hatte Goldmaske mehrmals genickt und gemurmelt: »So ges<strong>ch</strong>ah es, ja, so ges<strong>ch</strong>ah<br />

es!« Und als Rabenblume geendet hatte, wiederholte er: »So ges<strong>ch</strong>ah es! Unser Herr<br />

Tezcatlipoca ist der Bes<strong>ch</strong>irmer der Wahrheit!«


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 149<br />

Goldmaske war ein Gedanke gekommen, der mä<strong>ch</strong>tigen Leuten häufig einfällt, wenn sie in<br />

der Klemme sind.<br />

»I<strong>ch</strong> will den Tod der weißen Sonnento<strong>ch</strong>ter bezahlen«, erklärte er.<br />

Das Wort war gefallen, auf wel<strong>ch</strong>es Cortés gewartet hatte, und er war erlei<strong>ch</strong>tert, daß es<br />

der andere zuerst ausgespro<strong>ch</strong>en hatte. Mit seiner beringten Hand stri<strong>ch</strong> er si<strong>ch</strong> sinnend über den<br />

Bart.<br />

»Bist du rei<strong>ch</strong> genug, eine Christin zu bezahlen?« fragte er ernst und höfli<strong>ch</strong>.<br />

Die Frage vers<strong>ch</strong>eu<strong>ch</strong>te den Ausdruck gewitzter S<strong>ch</strong>läue aus dem Gesi<strong>ch</strong>t des Prinzen. Er<br />

ri<strong>ch</strong>tete si<strong>ch</strong> auf und erwiderte in überhebli<strong>ch</strong>em Ton:<br />

»So rei<strong>ch</strong> wie der große Moctezuma bin i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, Sohn der Sonne! Den Tlaxcalteken fehlt es<br />

an Gold, Edelsteinen und Edelfedern. Do<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> besitze Paläste in der Stadt, und au<strong>ch</strong> Häuser. Mir<br />

gehört das Herz des Volkes. Was i<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>lossen habe, das hat au<strong>ch</strong> der Rat der Alten von<br />

Tlaxcala bes<strong>ch</strong>lossen.«<br />

»Auf mein Gewissen, daran zweifle i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t«, sagte Cortés, no<strong>ch</strong> immer höfli<strong>ch</strong> lä<strong>ch</strong>elnd.<br />

»Darum sollen au<strong>ch</strong> das Volk und der Hohe Rat von Tlaxcala mit dir gemeinsam die Wiedergutma<strong>ch</strong>ung<br />

bezahlen.«<br />

»Was wollt Ihr denn fordern?«, fragte Alvarado unruhig, denn er wollte mit seinem künftigen<br />

S<strong>ch</strong>wager ni<strong>ch</strong>t bre<strong>ch</strong>en. »Seht ihn an, Don Hernándo. Der Mann ist reuig und zur Buße bereit.<br />

Do<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> bitte Eu<strong>ch</strong>, überspannt den Bogen ni<strong>ch</strong>t und zertretet ni<strong>ch</strong>t seinen Stolz.«<br />

Cortés wollte ihm antworten, do<strong>ch</strong> Rabenblume kam ihm zuvor.<br />

»Alle sollen an Xesu Quilisto glauben«, rief sie. »Alle, alle, alle! Mein Bruder kann das Volk<br />

und den Hohen Rat überreden. Nur er hat diese Ma<strong>ch</strong>t.«<br />

Rabenblume triumphierte im Stillen. Sie wusste, dass sie ihren Bruder mitten ins Herz getroffen<br />

hatte. Goldmaske ma<strong>ch</strong>te eine Bewegung, als wollte er si<strong>ch</strong> auf sie stürzen, do<strong>ch</strong> er bezwang<br />

si<strong>ch</strong>.<br />

»So soll es sein«, sagte Cortés. »Aber da ist no<strong>ch</strong> etwas. Ni<strong>ch</strong>t nur die Bekehrung des Volkes<br />

sollst du erwirken, denn du willst do<strong>ch</strong>, dass dir der göttli<strong>ch</strong>e und die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Ri<strong>ch</strong>ter<br />

verzeihen. Du wirst uns au<strong>ch</strong> einen deiner Paläste<br />

überlassen, damit wir hier in Tlaxcala ein Kloster<br />

gründen können, in dem die Söhne des Adels und<br />

des Volkes eine zivilisiertere Erziehung erhalten,<br />

als sie ihnen bisher zuteil geworden ist. Und dein<br />

kleiner Sohn soll, wenn er genesen ist, als einer<br />

der ersten Zöglinge im Kloster wohnen.«<br />

Auf dem Bild aus dem<br />

16. Jahrhundert s<strong>ch</strong>ießen ganz links Soldaten<br />

ihre unhandli<strong>ch</strong>en Hakenbü<strong>ch</strong>sen ab, während der Kanonier<br />

im Begriff ist, die Lunte anzulegen, um mit dem Ges<strong>ch</strong>ütz<br />

glei<strong>ch</strong>falls zu feuern.<br />

Na<strong>ch</strong>dem Marina dies übersetzt hatte, starrte<br />

Goldmaske sie ratlos an, s<strong>ch</strong>üttelte den Kopf<br />

und sagte leise, er habe ni<strong>ch</strong>ts verstanden. Sie<br />

musste es ihm no<strong>ch</strong>mals übersetzen. Da bra<strong>ch</strong> er<br />

in hysteris<strong>ch</strong>es Gelä<strong>ch</strong>ter aus. »Ist das euer Ernst?« fragte er na<strong>ch</strong> einer Weile, no<strong>ch</strong> immer voller<br />

ungläubigen Erstaunens.<br />

»Ja, unser tiefer Ernst!«<br />

Da nestelte er an seinem am linken Handgelenk hängenden Weihrau<strong>ch</strong>beutel herum und<br />

zog eine irdene Trillerpfeife hervor, führte sie an den Mund und ließ einen s<strong>ch</strong>arfen Pfiff ertönen.<br />

Sofort füllte si<strong>ch</strong> der Saal mit bewaffneten indianis<strong>ch</strong>en Kriegern. Augens<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> hatten sie in<br />

einem angrenzenden Raum auf das Zei<strong>ch</strong>en gewartet.<br />

Cortés und Alvarado zogen blank, und vom Gang her näherte si<strong>ch</strong> klirrender Lärm. Glei<strong>ch</strong><br />

darauf stürmte die kastilis<strong>ch</strong>e Leibwa<strong>ch</strong>e, angeführt von Arteaga, dur<strong>ch</strong> eine andere Saaltür herein.<br />

Arteaga hatte au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on Velásquez de León, Olíd und Sandoval bena<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>tigt; der Tecpan


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 150<br />

war bereits besetzt, die Artillerie in Stellung.<br />

Goldmaske war klug und erkannte sofort diese weitere Niederlage. Finster befahl er den Adlern<br />

und Jaguaren, si<strong>ch</strong> aus dem Saal zurückzuziehen. Do<strong>ch</strong> Cortés sagte, die Anwesenheit der<br />

Adler und Jaguare sei ihm erwüns<strong>ch</strong>t, denn sie könnten so Zeugen des Eides werden, den der<br />

Prinz jetzt s<strong>ch</strong>wören werde.<br />

Goldmaske nickte und leistete den S<strong>ch</strong>wur, indem er mit dem Zeigefinger die Erde und dann<br />

die Lippen berührte. Als Buße für den Tod Isabels verpfli<strong>ch</strong>tete er si<strong>ch</strong>, seines Volkes Glauben,<br />

einen Palast und seinen Sohn darzubringen. Die Eidesformel s<strong>ch</strong>loss mit den Worten:<br />

»Unser Vater, die Sonne, sieht es und hört es!«<br />

*<br />

Alvarado hatte die traurige Mission übernommen, den Bruder der toten Isabel, den Trompeter<br />

Rodríguez, zu bena<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>tigen. Soldaten trugen die Lei<strong>ch</strong>e des Mäd<strong>ch</strong>ens mit entblößten Häuptern<br />

ins kastilis<strong>ch</strong>e Quartier. Cortés empfing derweil Gesandte bena<strong>ch</strong>barter Völker, die si<strong>ch</strong> jetzt tägli<strong>ch</strong><br />

einfanden, um dem Grünen Stein Huldigungen und Gaben zu bringen. Eine der Gesandts<strong>ch</strong>aften<br />

bra<strong>ch</strong>te neben Ges<strong>ch</strong>enken au<strong>ch</strong> Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>ten mit, die bisher ni<strong>ch</strong>t ins von der Welt abges<strong>ch</strong>lossene<br />

Tlaxcala gedrungen waren. Von den beiden Priesterkönigen Cholulas war einer vor<br />

wenigen Tagen gestorben; sein Sohn Federherr war zum Na<strong>ch</strong>folger bestimmt, do<strong>ch</strong> sollte seine<br />

Krönung erst na<strong>ch</strong> längerer Trauerzeit erfolgen. In Cholula herrs<strong>ch</strong>te jetzt nur ein Priesterkönig,<br />

dessen Name Tlal<strong>ch</strong>iac lautete, das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier – ein treffender Name! Er habe den Rat<br />

der Alten in Cholula gegen Tlaxcala und die Christen aufgehetzt; wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> stecke Moctezuma<br />

dahinter. Und er habe drei Gesandte Tlaxcalas gefangen gesetzt.<br />

Cortés, Marina und die Blaue Feder bespra<strong>ch</strong>en im Adlersaal die beunruhigenden Ereignisse.<br />

Im Palastgarten draußen lärmten die Soldaten, hantierten klirrend an Gewehren und Ges<strong>ch</strong>ützen.<br />

Tanzmeister Ortiz klimperte auf seiner Gitarre, und La Bailadora sang mit glockenreiner<br />

Stimme ein Lied dazu:<br />

Gönnt es mir do<strong>ch</strong>, dass i<strong>ch</strong>'s erträume,<br />

Wie mein Herz ein Herz gewann!<br />

Nur das Glück, das es ersann,<br />

Welkt ni<strong>ch</strong>t wie das Laub der Bäume.<br />

Die Blaue Feder erzählte von seiner S<strong>ch</strong>wester Perlendiadem. Sie lebe als Geisel in Teno<strong>ch</strong>titlán,<br />

sagte er, do<strong>ch</strong> Tag für Tag erflehe sie die Ankunft des Befreiers, des Heilbringers, des<br />

Bestrafers mexicanis<strong>ch</strong>er Untaten. Und unvermittelt bot er seine S<strong>ch</strong>wester dem Cortés als Gemahlin<br />

an.<br />

»No<strong>ch</strong> nie wurde ein Mann von einem Weib so ersehnt wie du! Wenn du sie erblickst, wirst<br />

du sie lieben. Sie ist s<strong>ch</strong>ön wie die Totenbeinblume, und ihr Haar ist s<strong>ch</strong>warz und lang und so<br />

glänzend, dass du di<strong>ch</strong> darin spiegeln kannst.«<br />

Während Marina seine Worte übersetzte, überkam sie Fur<strong>ch</strong>t. Sie für<strong>ch</strong>tete, dass ni<strong>ch</strong>t<br />

S<strong>ch</strong>önheit mit S<strong>ch</strong>önheit ringen werde, sondern Leid mit Leid. Do<strong>ch</strong> ein Blick auf Cortés gab ihr die<br />

Zuversi<strong>ch</strong>t zurück. Er lä<strong>ch</strong>elte sie an.<br />

»Du hast ni<strong>ch</strong>ts zu für<strong>ch</strong>ten, Marina! Sage ihm, auf einer der Inseln des Ostmeeres lebt meine<br />

Frau.«<br />

Marina übersetzte.<br />

Mutlos s<strong>ch</strong>üttelte Blaue Feder den Kopf. »Mein Herz mag es ni<strong>ch</strong>t glauben«, sagte er. »Gilt<br />

der König der Totonaken denn mehr als i<strong>ch</strong>? Seine To<strong>ch</strong>ter hast du ni<strong>ch</strong>t ausges<strong>ch</strong>lagen!«<br />

Cortés wusste, dass er in Cempoala Unre<strong>ch</strong>t gegen si<strong>ch</strong> selbst und Marina begangen hatte.<br />

Au<strong>ch</strong> wenn er es damals so hingestellt hatte, dass die dicke Prinzessin Freundli<strong>ch</strong>es Wasser nur<br />

seine Konkubine und ni<strong>ch</strong>t seine Gemahlin sei, erinnerte er si<strong>ch</strong> do<strong>ch</strong> voller Missbehagen, wie die<br />

Feldobristen ihn mit peinli<strong>ch</strong>er Heiterkeit zum Brautstand beglückwüns<strong>ch</strong>t hatten. Rei<strong>ch</strong>e Indianer<br />

hatten mehrere Frauen, und die weitere Brautwerbung der Blauen Feder verstärkte in Cortés das<br />

Gefühl, si<strong>ch</strong> im eigenen Netz verfangen zu haben.


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 151<br />

»Du stehst höher als der Totonakenkönig«, sagte er und ärgerte si<strong>ch</strong> soglei<strong>ch</strong>, dass er keine<br />

bessere Antwort wusste. Sie sollte eine Ausflu<strong>ch</strong>t sein, hörte si<strong>ch</strong> aber fast wie ein Verspre<strong>ch</strong>en<br />

an.<br />

Das Gesprä<strong>ch</strong> wurde von einem Boten unterbro<strong>ch</strong>en. Der Rat der Alten von Tlaxcala ersu<strong>ch</strong>te<br />

Cortés, gemeinsam mit seinen Offizieren und der Blauen Feder die Sitzung das Senats dur<strong>ch</strong><br />

seine Gegenwart zu ehren. Es würden Bes<strong>ch</strong>lüsse von größter Wi<strong>ch</strong>tigkeit gefasst.<br />

*<br />

Wie die Kastilier waren au<strong>ch</strong> die tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Senatoren eben erst dur<strong>ch</strong> König Listiger Marder<br />

zur Beratung geladen worden und fast vollzählig ers<strong>ch</strong>ienen. Nur zwei fehlten: Goldmaske und der<br />

Feldherr Kiefernzweig, der Freund des Prinzen; beide hatten si<strong>ch</strong> wegen Krankheit ents<strong>ch</strong>uldigen<br />

lassen. Dafür war unerwartet Pimoti anwesend, der Neffe Wollrings. Das S<strong>ch</strong>icksal von Weißer<br />

Sommervogel trieb ihn aus seinem Bergs<strong>ch</strong>loss her.<br />

Außer den vier Stadtkönigen, dem Hohen Rat und den Ehrengästen befanden si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die<br />

Gesandten im Saal, die König Listiger Marder über die Vorgänge in Cholula beri<strong>ch</strong>tet hatten.<br />

Als die Kastilier ers<strong>ch</strong>ienen, wurde bereits verhandelt. König Listiger Marder hatte die widerre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e<br />

Einkerkerung der tlaxcaltekis<strong>ch</strong>en Boten bekannt gegeben, und mit feierli<strong>ch</strong>en Eiden<br />

hatten die Gesandten die Einzelheiten bestätigt.<br />

Der blinde Hundertjährige reckte seinen Greisenkörper und forderte zum Krieg gegen das<br />

Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier auf. Na<strong>ch</strong> Wespenring spra<strong>ch</strong> Wollring und erklärte, ebenso wie die<br />

Tlaxcalteken hätten die Söhne der Sonne Grund, auf Ra<strong>ch</strong>e zu sinnen; denn ihretwegen, um ihren<br />

Besu<strong>ch</strong> in der heiligen Stadt anzukündigen, seien die Boten entsandt worden. Die unerhörte<br />

S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> ihrer Gefangennahme bedeute den Krieg.<br />

»Dies ist Feldbrand und Götterwasser«, rief er mit kräftiger Stimme. Die versammelten Räte<br />

sprangen von ihren Sitzen auf und wiederholten: »Dies ist Feldbrand und Götterwasser!«<br />

Dies ist Krieg!<br />

Cortés beriet si<strong>ch</strong> eilig mit seinem Stab. Er brau<strong>ch</strong>te die Tlaxcalteken in seinen Plänen gegen<br />

Moctezuma. Daher erklärten die Christen si<strong>ch</strong> bereit, mit ins Feld zu ziehen, falls es zum<br />

Kampf kommen sollte.<br />

Einstimmig bes<strong>ch</strong>loss der Hohe Rat, dem Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtier als Zei<strong>ch</strong>en der Kriegserklärung<br />

eine Bü<strong>ch</strong>se mit weißer S<strong>ch</strong>minke zu senden. Do<strong>ch</strong> dem Priesterkönig die weiße S<strong>ch</strong>minke<br />

zu überbringen konnte nur jemand wagen, der mit dem Leben abges<strong>ch</strong>lossen hatte und jede<br />

Folterqual zu ertragen gewillt war. Tlaxcala mo<strong>ch</strong>te keinem seiner tapferen Söhne den Auftrag<br />

erteilen; seine Ausführung konnte nur mit einem entsetzli<strong>ch</strong>en Tod erkauft werden. Und wieder<br />

spra<strong>ch</strong> Wespenring:<br />

»O ihr Tlaxcalteken, meine Brüder und Söhne! Wenn Tlaxcala, unser aller Mutter, eu<strong>ch</strong> dies<br />

befehlen würde – keiner der Tapferen würde zurücks<strong>ch</strong>recken, daran zweifle i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong><br />

befiehlt Tlaxcala ni<strong>ch</strong>t, sondern wartet lieber, dass einer von eu<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> freiwillig anbietet. Diesen<br />

Helden wird Tlaxcala nimmer vergessen, es wird sein Herz aufbewahren auf der Opfers<strong>ch</strong>ale des<br />

Ruhmes und es in Liedern lebendig erhalten! Au<strong>ch</strong> die Witwe und die ihres Vaters beraubten Waisen<br />

wird Tlaxcala ni<strong>ch</strong>t vergessen, wird für sie sorgen, sie ernähren, kleiden und ausstatten.«<br />

S<strong>ch</strong>weigen lastete über den Versammelten. Aber dann stand einer auf, und aller Blicke wendeten<br />

si<strong>ch</strong> ihm zu. Es war Lanzenträger, der Fürst und Feldherr Pimoti! Weißer Sommervogel war<br />

ihm verloren – was war ihm sein Leben da no<strong>ch</strong> wert? Er würde die Bü<strong>ch</strong>se mit der weißen<br />

S<strong>ch</strong>minke dem Herrs<strong>ch</strong>enden Raubtier überbringen. Das hatte niemand erwartet! Mit Respekt und<br />

Ehrfur<strong>ch</strong>t dankte Wespenring dem Lanzenträger.<br />

Do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> aus den Reihen der Kastilier fasste einer einen heldenhaften Ents<strong>ch</strong>luss. Während<br />

Marina dem Generalkapitän die Bereits<strong>ch</strong>aft Pimotis übersetzte, bemerkte sie, dass der Franziskaner<br />

Aguilár sie unverwandt anstarrte. Weil er sie immer wieder bedrängt hat, mo<strong>ch</strong>te sie ihn<br />

ni<strong>ch</strong>t; mitten im Satz bra<strong>ch</strong> sie ab und stellte, an Aguilár gewendet, die Frage:<br />

»Wolltet Ihr etwas sagen, Fraile?«<br />

»Nein, na<strong>ch</strong>her... es ist ni<strong>ch</strong>ts Wi<strong>ch</strong>tiges...«, stammelte Aguilár, wandte si<strong>ch</strong> ab und ging gesenkten<br />

Hauptes zu den vier Königen auf die Estrade an der einen S<strong>ch</strong>malseite des Saales. Dort


»<strong>kompassrosen</strong>« März 2011 - Der Nopalbaum Seite 152<br />

spra<strong>ch</strong> er leise mit den Königen. Kurz darauf teilte Wollring den Versammelten mit, dass der Priester<br />

der Sonnensöhne ents<strong>ch</strong>lossen sei, mit Fürst Pimoti in die heilige Stadt zu ziehen.<br />

Vergebens bestürmten ihn die Feldobristen, sein Wort zurückzunehmen. »Ihr hättet erst<br />

meine Einwilligung einholen müssen!«, warf Cortés ihm vor.<br />

»Euer Gnaden hätte mir die Einwilligung verweigert. Viellei<strong>ch</strong>t vermag i<strong>ch</strong> dort den Krieg zu<br />

verhindern«, erwiderte der Priester s<strong>ch</strong>wermütig lä<strong>ch</strong>elnd, als wäre ihm eine List geglückt. »Nun<br />

könnt Ihr es ni<strong>ch</strong>t mehr rückgängig ma<strong>ch</strong>en!«<br />

Das wusste au<strong>ch</strong> Cortés; sein Einspru<strong>ch</strong> hätte dem Ruf und Ansehen der Christen ges<strong>ch</strong>adet.<br />

Und Marina wusste, warum Aguilár so handelte, und fühlte si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>uldig an seinem freiwilligen<br />

Tod – weil zwis<strong>ch</strong>en ihr und ihm ein Geheimnis war.<br />

Der Rat der Alten ließ dem Fürsten Pimoti und Aguilár außer einer Bü<strong>ch</strong>se mit weißer<br />

S<strong>ch</strong>minke au<strong>ch</strong> weiße Daunenfedern, weißes Rindenpapier, einen S<strong>ch</strong>ild, eine Handfahne und<br />

eine Federkrone als Ges<strong>ch</strong>enke für das Herrs<strong>ch</strong>ende Raubtier übergeben.<br />

*<br />

Weißer Sommervogel s<strong>ch</strong>lief. Das androgyne Wesen lag nackt auf einer großen seidigen Decke<br />

aus weißem Kanin<strong>ch</strong>enhaar. Sie lag auf der Seite; die Brüste berührten einander und wurden von<br />

zwei dicken Zöpfen wie von s<strong>ch</strong>warzen Nattern umringelt. Goldmaske saß neben dem Lager, und<br />

seine Blicke saugten die berückende Herrli<strong>ch</strong>keit des knabenhaft-mäd<strong>ch</strong>enhaften Körpers auf. Die<br />

Gedanken, die ihn erfüllten, hätte er mit Worten ni<strong>ch</strong>t bes<strong>ch</strong>reiben können. Was ihn bewegte, waren<br />

mehr Gefühle als Betra<strong>ch</strong>tungen, mehr Empfindungen als Aussagen.<br />

Was bist du? fragte es in ihm, unerfüllbare, nie errei<strong>ch</strong>bare Sehnsu<strong>ch</strong>t! Fleis<strong>ch</strong> bist du, aber<br />

au<strong>ch</strong> Seele! Ni<strong>ch</strong>ts ist si<strong>ch</strong> so nah und do<strong>ch</strong> so unendli<strong>ch</strong> fern wie du und i<strong>ch</strong>! Das Mäd<strong>ch</strong>en strebt<br />

zum Knaben, der Knabe zum Mäd<strong>ch</strong>en – an dir zerbri<strong>ch</strong>t mein Streben, weil es in dir ein Ende ohne<br />

Erfüllung fand...<br />

Goldmaske weinte lautlos. Tränen rollten ihm über die von Narben zerfur<strong>ch</strong>ten Wangen. Leise<br />

beugte er si<strong>ch</strong> über Weißer Sommervogel und küsste den grünli<strong>ch</strong> bemalten Mund.<br />

Weißer Sommervogel erwa<strong>ch</strong>te und s<strong>ch</strong>lug die langbewimperten Augen auf.<br />

»Herr, du weinst? Warum weinst du?«<br />

Goldmaske s<strong>ch</strong>luckte und gab keine Antwort. Er für<strong>ch</strong>tete, dem Zwitter in die Augen zu blicken,<br />

weil er wusste, dass diese Augen ihm das Herz erwei<strong>ch</strong>en und seinen Willen lähmen würden.<br />

»Dreh di<strong>ch</strong> zur Wand«, befahl er.<br />

Weißer Sommervogel wendete ni<strong>ch</strong>tsahnend den Kopf.<br />

»Was warst du, bevor du geboren wurdest? Ein Knabe oder ein<br />

Mäd<strong>ch</strong>en?«<br />

»O mein Herr, i<strong>ch</strong> war au<strong>ch</strong> damals beides«, ki<strong>ch</strong>erte Weißer Sommervogel.<br />

»I<strong>ch</strong> bin einmalig auf dieser Blumenwelt!«<br />

»Ja, du bist einzigartig«, sagte Goldmaske, »und du gehörst mir.«<br />

»O mein Herr, warum bist du so seltsam? Natürli<strong>ch</strong> gehöre i<strong>ch</strong> dir.«<br />

»Du sollst au<strong>ch</strong> mein bleiben«, flüsterte Goldmaske. Er umkrallte<br />

von hinten Weißer Sommervogels Hals. Die Arme des Zwitters s<strong>ch</strong>nellten<br />

mit geballten Fäusten ho<strong>ch</strong>, der s<strong>ch</strong>lanke Körper zuckte eine Weile unter<br />

den kräftigen Fäusten und ers<strong>ch</strong>laffte plötzli<strong>ch</strong>.<br />

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Fortsetzung in der »kompassrose« am <strong>1.</strong> Juli 2011<br />

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