Das Lächeln der Aphrodite - Kompassrose
Das Lächeln der Aphrodite - Kompassrose
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<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur- und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt<br />
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong><br />
eine kleine Kulturgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt<br />
Europa ist eine Gestalt <strong>der</strong> griechischen Mythologie. Sie ist die Tochter des phönizischen<br />
Königs Agenor und <strong>der</strong> Telephassa. Der oberste Gott Zeus verliebte sich in sie. Er<br />
verwandelte sich wegen seiner argwöhnischen Gattin Hera in einen Stier. Sein Bote Hermes<br />
trieb eine Kuhherde in die Nähe <strong>der</strong> am Strand von Sidon spielenden Europa, und <strong>der</strong> Zeus-<br />
Stier entführte sie auf seinem Rücken. Er schwamm mit ihr an einen Strand auf <strong>der</strong> Insel<br />
Kreta, wo er sich zurückverwandelte. Der Verbindung mit dem Gott entsprangen drei Kin<strong>der</strong>.<br />
Auf Grund einer Verheißung <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> wurde <strong>der</strong> fremde Erdteil nach Europa benannt.<br />
Und wahrlich: Die Geschichte Europas ist die Geschichte <strong>der</strong> Menschen auf dem<br />
europäischen Kontinent, von dessen erster Besiedlung, die zwischen 45 000 und 25 000<br />
v. Chr. stattfand, bis zur Gegenwart.<br />
Die klassische Antike begann im antiken Griechenland, das im Allgemeinen als <strong>der</strong> Beginn<br />
<strong>der</strong> westlichen Zivilisation angesehen wird und einen immensen Einfluss auf Sprache, Politik,<br />
Erziehungssysteme, Philosophie, Naturwissenschaften und Künste ausübte. Die griechische<br />
Kultur, die sich während des Hellenismus über weite Teile <strong>der</strong> östlichen Mittelmeerwelt<br />
ausgebreitet hatte, wurde vom Römischen Reich übernommen, das sich nach <strong>der</strong> Eroberung<br />
Italiens seit dem 3. Jahrhun<strong>der</strong>t v. Chr. von Italien aus nach und nach über den gesamten<br />
Mittelmeerraum ausbreitete und im frühen 2. Jahrhun<strong>der</strong>t n. Chr. seine größte Ausdehnung<br />
erreichte. Damals wurden die Fundamente gebaut, auf denen <strong>der</strong> kleine Kontinent EUROPA<br />
zur führenden Macht in <strong>der</strong> Welt wurde, um nach dem 20. Jahrhun<strong>der</strong>t mehr und mehr von<br />
seinem Einfluss auf <strong>der</strong> Weltbühne einzubüssen . . .<br />
INHALT<br />
Europa und <strong>der</strong> Stier<br />
Europa, die westliche Halbinsel Asiens<br />
»Mare nostrum«<br />
Weihrauch und Perlen, Bernstein und Zinn<br />
Die Seidenstrasse<br />
Marco Polos Reisen nach China<br />
Die karthographische Erfassung <strong>der</strong> Erde<br />
Die Akademie zu Sagrés<br />
Wie gross ist <strong>der</strong> Globus?<br />
Die Suche nach »Eugenia caryophyllata«<br />
Die Rückseite <strong>der</strong> Erde<br />
Freibeuter Ihrer Majestät<br />
Auf dem Weg in die mo<strong>der</strong>ne Welt<br />
Die Suche nach den Grenzen<br />
Sind Indianer Menschen?
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 2<br />
Vorwort:<br />
DIE SAGE VON EUROPA UND DEM STIER<br />
Im Lande Phönikien 1 wuchs die Jungfrau Europa, die Tochter des Königs Agenor, in<br />
tiefer Abgeschiedenheit des väterlichen Palastes auf. Sie war, so heißt es in einer<br />
griechischen Sage, eine unglaublich schöne Prinzessin, in die sich Göttervater Zeus<br />
verliebt hatte. So schnell wie möglich wollte er sie kennen lernen. Zeus war sich<br />
sicher, dass Europa Tiere mochte und dass er in Gestalt eines Tieres schneller mit<br />
ihr bekannt werden würde. So verwandelte er sich in den prächtigsten Stier weit und<br />
breit. Europa wurde aufmerksam auf ihn und setzte sich auf seinen Rücken. Der<br />
Stier, <strong>der</strong> ja eigentlich Zeus war, raste los und entführte sie über das Meer.<br />
Endlich gegen Abend erreichten sie ein fernes Ufer. Der Stier schwang sich ans<br />
Land, ließ das Mädchen unter einem gewölbten Baum sanft vom Rücken gleiten und<br />
erschien ihr sogleich als herrlicher, göttergleicher Mann. Er sei <strong>der</strong> Beherrscher <strong>der</strong><br />
Insel Kreta, sagte er, und er werde sie schützen, wenn sie sich ihm hingäbe und er<br />
durch ihren Besitz beglückt würde. Europa in ihrer trostlosen Verlassenheit reichte<br />
ihm die Hand als Zeichen <strong>der</strong> Einwilligung. So hatte Zeus das Ziel seiner Wünsche<br />
erreicht. Aber auch er verschwand, wie er gekommen war.<br />
Europa erwachte aus langer Betäubung, als schon die Morgensonne am<br />
Himmel stand. Mit verirrten Blicken sah sie umher, wollte die Heimat suchen, aber<br />
sie sah nur die fremde Landschaft; unbekannte Blumen und Felsen. »Was bleibt mir<br />
übrig, als zu sterben?« Da erschien ihr die Göttin <strong>Aphrodite</strong>. Mit<br />
einem <strong>Lächeln</strong> auf den Lippen sprach die Göttin: »Vergiss’<br />
deine Verzweiflung, schöne Europa, tröste dich! Zeus ist es,<br />
<strong>der</strong> dich geraubt hat; du bist die irdische Gattin des<br />
unbesiegten Gottes: unsterblich wird dein Name werden! Lerne<br />
so zu leben, wie es deiner hohen Stellung würdig ist. Die Hälfte<br />
<strong>der</strong> Welt wird dir ihren Namen verdanken, denn <strong>der</strong> fremde<br />
Erdteil, <strong>der</strong> dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!«<br />
(nach Horaz 2 ).<br />
Der Raub <strong>der</strong> Europa (Foto: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz)<br />
1 Phönikien (Phönizien, ›Purpurland‹), griechischer Name <strong>der</strong> historischen Landschaft an <strong>der</strong><br />
Mittelmeerküste etwa zwischen Syrien und Israel; in <strong>der</strong> Bibel als Kanaan bezeichnet. Die mindestens<br />
seit dem 2. Jahrtausend v.Chr. hier lebende Bevölkerung mit semitischer Sprache trieb von den<br />
wichtigsten Städten Byblos, Tyrus, Sidon und Beruta (heute Beirut) aus regen Handel. Nach Befreiung<br />
aus ägyptischer Oberhoheit dehnten die Phöniker ihre Macht ab etwa 1100 durch Gründung von<br />
Handelsfaktoreien und Kolonien im Mittelmeerraum aus. 572 unterwarf <strong>der</strong> babylonische König<br />
Nebukadnezar II. Tyrus nach 13 Jahre langer Belagerung. Während <strong>der</strong> Eroberung des persischen<br />
Reiches durch Alexan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Große wurde Tyrus 332 eingenommen.<br />
2 Horaz (65 v.Chr. bis 8 n.Chr.), neben Vergil einer <strong>der</strong> bedeutendsten römischen Dichter und<br />
Satiriker. Horaz war stets um das Wesentliche bemüht. Zentrales Thema ist die rechte<br />
Lebensgestaltung. Die meisten Werke geißeln Laster, die sozialen Unfrieden stiften o<strong>der</strong> die<br />
menschlichen Beziehungen beeinträchtigen, wie Habgier, Ehebruch, Aberglaube, Schlemmerei. Nicht<br />
selten stellte er stellvertretend für den Normalbürger auch sich selbst und seine Schwächen dar.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 3<br />
Von <strong>der</strong> eurozentrischen Weltschau des Altertums bis zur kartografischen<br />
Vermessung letzter geografischer Entdeckungen von James Cook<br />
Europa ̶ westliche Halbinsel Asiens<br />
Die von Europa geprägte Geschichte war bis vor kurzem immer Weltgeschichte!<br />
Die USA mögen die stärkste Wirtschaftsmacht sein, doch Europa ist nach wie<br />
vor <strong>der</strong> Kontinent, <strong>der</strong> die Welt, wie sie sich heute darstellt, geprägt hat. <strong>Das</strong><br />
Meer hat dazu weitaus mehr beigetragen als die Wege über Land, wie z.B. die<br />
seit dem 3. Jahrtausend v.Chr. sagenhafte Weihrauchstrasse von Südarabien<br />
nach Damaskus o<strong>der</strong> die als Seidenstrassen berühmten Karawanenwege von<br />
China durch Zentralasien bis nach Indien und an die Grenzen des römischen<br />
Reiches. <strong>Das</strong> Meer wurde zur «Strasse <strong>der</strong> Völker», auf <strong>der</strong> die Kulturen sich<br />
berührten, die den Handel belebte und europäische Staaten zur Macht führte.<br />
Die hier beginnende Serie möchte mithelfen, das Bewusstsein <strong>der</strong> Leser zum<br />
geschichtlichen Erbe aufzufrischen, was auch dem Europa von heute dienlich<br />
wäre.<br />
Am Anfang mussten sich die Menschen von angeborenen Ängsten befreien und<br />
das Tor zur Erfahrung aufstossen. Quellen, auch Flussmündungen, <strong>der</strong>en<br />
Süsswasser für die Seefahrer von jeher lebenswichtig war, waren anfangs heilige<br />
Orte, die es zu schützen galt. Sie entwickelten sich nicht selten zu<br />
Handelsplätzen, und bald war die Erlangung von Seeherrschaft ein wesentliches<br />
Sicherheitsbedürfnis dieser Häfen. Viel früher als häufig gedacht fand schon<br />
friedlicher Handel zwischen dem Mittelmeer und den Nord- und Ostseehäfen<br />
statt. Bald schufen sich die Seefahrer Hilfsmittel, um ihren Weg über die Meere<br />
zu finden: Seekarten, Kompass und Sternenhöhenmesser. <strong>Das</strong> ging nicht ohne<br />
die Mithilfe <strong>der</strong> Wissenschaft, die sich nicht selten genug von einer kirchlichdogmatischen<br />
Weltschau verfolgt sah. Fern <strong>der</strong> Rivalitäten <strong>der</strong> europäischen<br />
Staaten – allen voran Portugal, Spanien, die Nie<strong>der</strong>lande, England und<br />
Frankreich – gab es aber auch eine Solidarität <strong>der</strong> Seeleute verschiedenster<br />
Län<strong>der</strong> im ständigen Kampf mit den Naturgewalten.<br />
Abendland, Welt des Westens!<br />
Im Mittelalter bildete sich dieser Begriff für jenen Teil Europas heraus, <strong>der</strong> sich<br />
– stets in Abhebung von <strong>der</strong> östlichen Welt des Orients, des «Morgenlandes» –<br />
als einheitlicher Kulturkreis formierte und, trotz Kriegen und politischen<br />
Unterschieden, bis in die Neuzeit Einheitlichkeit und Bedeutung wahrte. Antike<br />
Kultur, römisches Christentum, romanische und germanische Elemente bilden<br />
die einigenden Faktoren des Abendlandes. Selbst Kriege unter den Staaten<br />
Europas sowie die Reformation, die die kirchliche Einheit sprengte, liessen die<br />
kulturellen Gemeinsamkeiten bestehen. Doch <strong>der</strong> Begriff «Abendland» wurde<br />
zunehmend durch die geographische Grösse «Europa» abgelöst. Die
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 4<br />
französische Revolution mit ihren Idealen «Freiheit, Gleichheit, Brü<strong>der</strong>lichkeit»<br />
verstand sich als europäische Erneuerung; ihr Gedankengut liess eine politische<br />
Kultur entstehen, die heute unter dem Sammelbegriff Demokratie<br />
Volkssouveränität und Gleichheit vor dem Gesetz versteht.<br />
Die frühe Vorstellung <strong>der</strong> Europäer von ihrem Teil <strong>der</strong> Welt hat nicht nur ihr<br />
Bild vom «Rest» geprägt. Auch die aussereuropäischen Staaten <strong>der</strong> Welt können<br />
den Stempel <strong>der</strong> Europäisierung nicht leugnen. <strong>Das</strong> Abendland sollte während<br />
des grössten Teils <strong>der</strong> Geschichte Entdecker sein, Osten und Westen sollten von<br />
Europa aus entdeckt werden. Der Reichtum des heute allgemein zugänglichen<br />
Wissens wurde von forschenden, habgierigen und religiös beseelten Europäern<br />
zusammengetragen, sie brachten den fernen Völkern Kunde von Europa; meist<br />
zu <strong>der</strong>en Nachteil, aber fast immer zum Vorteil <strong>der</strong> Europäer. Nicht nur Coca-<br />
Cola, europäische Kleidung und westlicher Lebensstil finden in <strong>der</strong> Welt ihre<br />
Nachahmung. Die «europäische» Denkweise, die in <strong>der</strong> Antike ihre Ursprünge<br />
hat, die «europäische» Art zu rechnen und zu kommunizieren, befähigt heute<br />
alle Staaten, an <strong>der</strong> Welt des Handels, des Kapitals, des Verkehrs, aber auch an<br />
ihren Konflikten sowie Bemühungen um ihre Lösung rund um die Uhr<br />
teilzunehmen. Nicht alles an Wissen und Können, was heute als «europäisch»<br />
gilt, ist auch europäischen Ursprungs.<br />
So hatte China viel früher als Europa Kenntnis vom Magnetismus und davon,<br />
wie er praktisch einsetzbar ist; die In<strong>der</strong> haben uns die Vorfahren <strong>der</strong> heutigen<br />
Zahlen geliefert, die von den Arabern auf die noch heute gebräuchliche<br />
Schreibweise 0 bis 9 weiterentwickelt wurden, woraus jede beliebige Grösse<br />
(0,012; 1,2, 12, 120, 12000 usw.) zusammengestellt werden kann. Auch die<br />
Lehre <strong>der</strong> Gleichungen, die Algebra, ist arabischen Ursprungs. Erst mit einem<br />
logisch und einfach zu begreifenden Zahlensystem konnte sich auch eine<br />
Mathematik entwickeln, die nicht nur aus Addition und Division besteht,<br />
son<strong>der</strong>n das Rechnen mit Brüchen sowie mit irrationalen, negativen und<br />
komplexen Zahlen ermöglicht. Und das ist doch noch in Europa entstanden.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 5<br />
Die universale Weltschau des Altertums und Mittelalters war eurozentrisch.<br />
Selbstbewusst und von ihrer Überlegenheit überzeugt, schufen Europäer eine<br />
Erdkarte, die Europa als Zentrum sah. Schon im Mittelmeerraum <strong>der</strong> Frühantike<br />
entstand <strong>der</strong> Mythos von Europa. Europa war <strong>der</strong> Name einer Meeresnymphe;<br />
während sie am Ufer des Mittelmeeres Blumen pflückte, wurde sie von Zeus,<br />
<strong>der</strong> die Gestalt eines Stieres angenommen hatte, über das Meer entführt. Die<br />
Liebesgöttin Venus tröstete die am Meeresstrand weinende Nymphe und sagte<br />
zu ihr: «Weine nicht. Lerne so zu leben, wie es deiner hohen Stellung würdig ist.<br />
Die Hälfte <strong>der</strong> Welt wird dir ihren Namen verdanken» (nach Horaz).Zwar<br />
verstanden auch die Chinesen ihr Reich als Weltmitte, doch war ihr Interesse an<br />
Expansion kaum über das Meer gerichtet und er beschränkte sich vor allem auf<br />
den Handel. Denn China war (und ist) ein ungeheuer grosser kontinentaler<br />
Block; überseeischer Handel gewann nur während <strong>der</strong> mongolischen Yüan-
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 6<br />
Dynastie (1280-1368) und in <strong>der</strong> Ming-Zeit (1368-1644) einige Bedeutung. Im<br />
14. Jahrhun<strong>der</strong>t gelangten chinesische Handelsdschunken unter General Cheng<br />
Ho bis nach Ostafrika. Aber dann liess China den «Bambusvorhang» nie<strong>der</strong> und<br />
verschloss sich (fast) jedem westlichen Einfluss, <strong>der</strong> erst im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t von<br />
britischen Kanonenbooten im sogenannten «Opiumkrieg» wie<strong>der</strong> erzwungen<br />
wurde.<br />
An<strong>der</strong>s Europa. Die meisten Landkarten zeigen Europa bis heute als reich<br />
geglie<strong>der</strong>ten, eigenständigen Kontinent (Abb. oben). Nun sind geographische<br />
Karten immer auch ein Ausdruck <strong>der</strong> jeweiligen Kultur, und weil man – wie wir<br />
noch sehen werden – bis zum Beginn <strong>der</strong> Neuzeit wenig von an<strong>der</strong>en Teilen <strong>der</strong><br />
Welt wusste, war Europa für seine damaligen Bewohner das Zentrum <strong>der</strong> Welt,<br />
das im Zeitalter <strong>der</strong> Entdeckungen selbstverständlich Anspruch auf<br />
Weltherrschaft erheben konnte.<br />
Als die Entdecker an <strong>der</strong> Wende zum 16. Jh. Amerika erforschten, wurde nicht<br />
etwa dieser neue Kontinent im Westen zum «Abendland», son<strong>der</strong>n zur Neuen<br />
Welt. Schon verbal wurde damit gesagt, dass man unter dem Druck <strong>der</strong> Realität<br />
zwar bereit war, die Karten <strong>der</strong> Welt neu zu zeichnen, doch Europa blieb das<br />
Abendland, weil hier seit alters her <strong>der</strong> Nullmeridian (wenn auch in den<br />
Epochen an verschiedenen Orten) festgelegt war, von dem aus sich die Welt<br />
nach Osten und Westen zu dehnen hat. Aber ein Blick aus einer Weltraumkapsel<br />
verschiebt die Optik. Geographisch ist Europa eigentlich nichts an<strong>der</strong>es als eine<br />
kleine, tief geglie<strong>der</strong>te westliche Halbinsel Asiens, die seit dem Ende des 18. Jh.<br />
– recht willkürlich – vom Eismeer, durch den Gebirgszug des Ural auf 60 Grad<br />
Ost bis zum Kaspischen Meer, dann entlang <strong>der</strong> Nordküste des Schwarzen<br />
Meeres bis zum Bosporus von Asien abgegrenzt ist (Abb. unten).<br />
Herodot, <strong>der</strong> berühmte Reisende und Geschichtsschreiber des 5. vorchristlichen
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 7<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts, bezeichnete noch den Fluss Don ohne nähere Begründung als<br />
europäisch-asiatische Grenze. Marco Polo entschied sich um 1300 für die<br />
Wolga. Der Hauptunterschied zwischen den zusammengewachsenen<br />
Kontinenten wird wie<strong>der</strong>um durch die europäische Sicht definiert: «Der<br />
Okzident schaut zum Meer, <strong>der</strong> Orient zum Gebirge» (Paul Claudel).<br />
Meere umspülen Europa: das nördliche Eismeer, die Nordsee, die Ostsee, <strong>der</strong><br />
Atlantik, das Mittelmeer und, schon erwähnt, das Schwarze Meer. Verweilen<br />
wir kurz bei den Dimensionen: Die gesamte Erde hat eine Fläche von<br />
510'000'000 qkm, davon sind 71 % (361'000'000 km 2 ) von Meeren bedeckt und<br />
nur 149'000'000 qkm (29 %) besteht aus festem Land. Asien, als grösster<br />
Kontinent, nimmt 44'400'000 km 2 ein (8,7 % <strong>der</strong> gesamten Erdoberfläche o<strong>der</strong><br />
29,8 % des festen Landes). Auf Europa hingegen mit seinen «kümmerlichen»<br />
10'500'000 qkm fallen nur 2,06 % <strong>der</strong> Erdoberfläche bzw. 7,1 % Land; darin ist<br />
das 2'176'000 km 2 grosse, fast menschenleere Grönland eingeschlossen. Der<br />
gewöhnliche Bewohner Zentralasiens bekommt das Meer sein Leben lang nie zu<br />
Gesicht; von Nowosibirsk nach Karachi sind es 4600 km. Asien dehnt sich über<br />
11'000 km vom Ural im Westen bis nach Kamtschatka im Osten, ebenso weit ist<br />
es von <strong>der</strong> Kara-See im Norden bis in den Süden Thailands. Aber kein<br />
Westeuropäer muss weiter als 375 km reisen, wenn er ein Meer sehen will, und<br />
selbst die Mitteleuropäer haben es knapp doppelt so weit.<br />
<strong>Das</strong>s Meere nicht unüberwindbar sind, musste England früh erfahren. Schon 43<br />
n. Chr. wurde es von den Römern unter Tiberius Claudius erobert und in das<br />
römische Reich einbezogen. Ein Opfer <strong>der</strong> eigenen Fehleinschätzung wurde<br />
König Harold II. Godwinson von England im Jahre 1066. Weil er dem<br />
Normannenherzog Wilhelm <strong>der</strong> Eroberer die Königskrone streitig machte, die<br />
diesem zugesprochen war, überfiel Wilhelm am 28. September England. Im<br />
Frühling hatte Harold eine starke Flotte zusammengezogen, mit <strong>der</strong> er jeden<br />
Invasionsversuch abschlagen konnte und <strong>der</strong> auch Wilhelm nicht gewachsen<br />
gewesen wäre. Aber die Invasion erfolgte den ganzen Sommer nicht, sodass,<br />
auch aufgrund falscher Informationen, Harold seine Flotte im September – wie<br />
damals üblich – im Winterhafen von Sandwich «einmottete». Die Herbststürme<br />
veranlassten ihn zum Glauben, dass mit einer Invasion nicht mehr zu rechnen<br />
sei.<br />
In Wahrheit besass Wilhelm <strong>der</strong> Eroberer im Sommer noch zu wenig Schiffe für<br />
den Transport <strong>der</strong> Normannen über den Ärmelkanal. Von Mai bis Anfang<br />
September liess er Schiffe in grosser Zahl bauen, auch verbündete Fürsten<br />
brachten Schiffe in die Flotte ein, sodass Wilhelm schliesslich über 400 grosse<br />
und zirka 1000 kleinere Fahrzeuge verfügte. Die riesige Flotte versammelte sich<br />
in St.Valery, wo am 14. September 65'000 Mann bereitstanden. Starke Stürme<br />
wüteten auf dem Meer, aber nach elf Tagen flauten sie ab und am 27. September<br />
1066 herrschte sonniges und ruhiges Wetter. Wilhelm gab den Befehl zum
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 8<br />
Einschiffen und gelangte am Morgen des 28. September bei Pevensey an eine<br />
verlassene englische Küste in <strong>der</strong> Grafschaft Sussex. Am 14. Oktober wurde<br />
Harold in <strong>der</strong> Schlacht von Hastings vernichtend geschlagen und Wilhelm<br />
anschliessend zum König von England gekrönt.<br />
Normannen segeln gegen England<br />
(Ausschnitt aus dem Teppich von Bayeux)<br />
Kontakte und Beziehungen zwischen<br />
Zentraleuropa mit seinen an Meeren<br />
gelegenen südlichen und nördlichen<br />
Rän<strong>der</strong>n sind seit <strong>der</strong> Antike bekannt.<br />
Die Legionen Cäsars benutzten den<br />
Julierpass für ihre Alpenüberquerungen,<br />
ungezählte Saumpfade gewährten<br />
Händlern mit ihren Maultieren die Überwindung <strong>der</strong> Alpenkette; mit ihren<br />
Waren brachten sie Neuigkeiten aus fernen, aber europäischen Län<strong>der</strong>n. Und die<br />
Eröffnung <strong>der</strong> Gotthardroute im Jahre 1237 hatte reiche Handelsströme in beiden<br />
Richtungen zur Folge. Paris, Augsburg und Nürnberg gehörten zu den<br />
wichtigsten Handelsplätzen Innereuropas. Im Süden lockte das Mittelmeer mit<br />
seinen warmen Gestaden, an dessen Horizonten sich das schwarze Afrika und<br />
das Morgenland mit dem Islam – dem grössten Feind <strong>der</strong> Christenheit – abzeichnete,<br />
aber auch mit seinen ungeheuren Schätzen, dem Weihrauch, den Gewürzen,<br />
den Perlen und dem Gold.<br />
Im Norden war die Welt <strong>der</strong> Wikinger mit ihren Grausamkeiten und Gefahren,<br />
aber auch die an Hering, Lachs und Wal reichen Meere mit <strong>der</strong> für ihre<br />
Konservierung so nötigen Salzgewinnung an den Küsten und dem sagenhaften<br />
Bernstein. Die enge Verbundenheit von Land und Meer in Europa entstand<br />
durch die Auffaltungen <strong>der</strong> Gebirge und dem unterschiedlichen Vordringen <strong>der</strong><br />
Eiszeitgletscher. Der Atlantik und seine Randmeere Nord- und Ostsee<br />
umschlingen diesen Kontinent von <strong>der</strong> Barentssee am Polarkreis, um<br />
Skandinavien und die britischen Inseln herum, die Bretagne und den Golf von<br />
Biskaya hinab bis zur Strasse von Gibraltar, die als Verbindung zum<br />
eigenständigen, weil antiken Mittelmeer gesehen werden muss. Dieses Bild<br />
macht für uns verständlich, dass in <strong>der</strong> Antike und im Mittelalter die landläufige<br />
Meinung verbreitet war, die Erde sei eine kreisrunde, vom Ozean umgebene<br />
Scheibe.<br />
Und während die «Säulen des Herkules» genannte Strasse von Gibraltar in <strong>der</strong><br />
Antike die Ein- und Ausfahrt zwischen Atlantik und Mittelmeer gestattete,<br />
übernahm die Ostsee schon sehr früh die Funktion eines «Mittelmeers des
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 9<br />
Nordens» (Michel Mollat du Jourdin). Ähnlich wie im Mittelmeer, wo im Osten<br />
und Süden Kontakte zu den morgenländischen und nordafrikanischen Kulturen<br />
möglich waren und sehr früh auch gepflegt wurden, entwickelten sich in <strong>der</strong><br />
Ostsee frühe Handelsbeziehungen zwischen den Häfen Jütlands und <strong>der</strong><br />
dänischen Inseln mit Gotland, Lübeck, Danzig bis hinauf in den Bottnischen<br />
Meerbusen, nach Nowgorod und zum Ladoga-See. Der Skagerrak, <strong>der</strong> Belt und<br />
<strong>der</strong> Sund erfüllten dabei eine ähnliche Funktion wie die Strasse von Gibraltar:<br />
sie ermöglichten Kontrollen über das Wer, Wieviel und Wohin.<br />
Neben dem frühen europäischen Anspruch auf Weltherrschaft gab es auch<br />
kritische Stimmen. Eine Oronce Finé zugeschriebene, 1536 datierte Weltkarte<br />
zeigt die schon recht exakt wie<strong>der</strong>gegebenen Küsten <strong>der</strong> damals bekannten<br />
Län<strong>der</strong> herzförmig als Gesichtsfeld in einer Narrenkappe. Europa ist recht klein<br />
erkennbar. In Medaillons eingravierte Texte verspotten den Anspruch Europas<br />
auf Weltherrschaft: «Vanitas vanitatum et omnia vanitas» – Eitelkeit <strong>der</strong><br />
Eitelkeiten, und alles ist Eitelkeit.<br />
«Mare nostrum»<br />
<strong>Das</strong> Mittelmeer als Wiege des eurozentrischen Weltbildes<br />
Karthago, die Hauptstadt des punischen Reiches an <strong>der</strong> nordafrikanischen Küste<br />
im heutigen Tunesien, herrschte bis ins 2. vorchristliche Jahrhun<strong>der</strong>t über das<br />
westliche Mittelmeer und über das heutige Spanien. Seit 270 v. Chr. suchten die<br />
Punier, wie die Karthager von den Römern genannt wurden, die römischen<br />
Küsten heim. Um sich <strong>der</strong> Plage zu erwehren, bauten die Römer 120<br />
Kriegsschiffe; sie standen unter dem Oberbefehl von Gaius Duilius. Rom hatte
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 10<br />
wenig Erfahrungen auf dem Meer; so ersann Gaius Duilius eine Taktik, jede<br />
Seeschlacht einer Landschlacht möglichst ähnlich zu machen. Die Schiffe <strong>der</strong><br />
römischen Flotte wurden am Bug mit einer aufziehbaren Enterbrücke<br />
ausgestattet, die drei Mann gleichzeitig begehen konnten. Am vor<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong><br />
Brücke war zusätzlich ein eiserner Dorn – <strong>der</strong> «corvus», die Krähe – angebracht.<br />
260 kam es zur ersten Seeschlacht <strong>der</strong> römischen Geschichte bei Mylae<br />
(Milazzo) vor <strong>der</strong> sizilianischen Nordostküste. 125 karthagische Galeeren<br />
standen 130 römischen Schiffen gegenüber. Die Karthager griffen an und<br />
wollten – wie damals üblich – die Römer längsschiffs kapern. Aber die<br />
römischen Kriegsschiffe machten unerwartete Kursän<strong>der</strong>ungen und ru<strong>der</strong>ten<br />
frontal in die feindlichen Schiffe. Die Enterbrücken fielen nie<strong>der</strong> und verbanden<br />
die gegnerischen Schiffe fest miteinan<strong>der</strong>. Schon stürmten die Legionäre<br />
hinüber und das Gemetzel begann: fast alle karthagischen Schiffe wurden<br />
erobert, vierzehn wurden versenkt und über 7000 Karthager getötet. Die Römer<br />
verloren kein einziges Schiff und «nur» 332 Mann.<br />
Nicht alle Schlachten wurden zum römischen Sieg. Im Jahre 249 v. Chr. konnte<br />
Karthago Revanche üben. Vor Trapani vernichteten sie 93 römische Schiffe und<br />
22'000 Mann. Von nun an begannen die Römer die punische Flotte zu suchen<br />
und anzugreifen, wo sie sie fanden. Seeherrschaft sollte die Macht auf dem<br />
Lande sichern, eine Strategie, die bis zum ersten Weltkrieg jeden grossen Krieg<br />
in <strong>der</strong> Geschichte beherrschte. Schliesslich besiegte Rom die karthagische Flotte<br />
im Jahre 241 endgültig; 38 Jahre später sollte <strong>der</strong> Feind auch zu Lande<br />
nie<strong>der</strong>gerungen werden.<br />
<strong>Das</strong> Römische Reich zur Zeit des Kaisers Augustus (dtv-Weltatlas 1989, Bd. 1)
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 11<br />
Im Zweiten Punischen Krieg (218 bis 201 v. Chr.) zog <strong>der</strong> karthagische<br />
Heerführer Hannibal von Spanien her über die Alpen nach Italien und brachte<br />
Rom in schwere Bedrängnis. Mit 38'000 Mann, 8000 Reitern und 37<br />
Kriegselefanten schlug er die Römer 218 am Ticinus, vernichtete 217 das Heer<br />
des Konsuls Gajus Flaminius, bezwang 216 bei Cannae in einer grossangelegten<br />
Umfassungsschlacht das zahlenmässig weit überlegene Heer <strong>der</strong> Konsuln Licius<br />
Aemilius Paullus und Gajus Terentius Varro und schloss ein Bündnis mit König<br />
Philipp V. von Makedonien, konnte aber die Römer nicht bezwingen. Diese<br />
unterwarfen hingegen 212/211 Syrakus und Capua, worauf Hannibal vor Rom<br />
zog. Der bekannte Schreckensruf «Hannibal ante portas» – Hannibal ist vor den<br />
Toren! – wird, wie Cicero erwähnt, falsch wie<strong>der</strong>gegeben; er lautet «Hannibal<br />
ad portas» – Hannibal ist bei den Toren! Er lähmte die Römer nicht. Zwar wurde<br />
die Stadt von den Karthagern belagert, aber ein römisches Heer eroberte<br />
unterdes Spanien, und Hannibal kehrte nach Karthago zurück. Dort wurde er<br />
von Scipio Africanus (dem Älteren) im Jahre 202 bei Zama kriegsentscheidend<br />
geschlagen. Im Dritten Punischen Krieg (149-146) wurde Karthago dann restlos<br />
zerstört und Rom errichtete seine Provinz Africa.<br />
Nachdem auch das Makedonische Reich, das das heutige Mazedonien, Albanien<br />
und Griechenland umfasste, sowie die Seleukidenherrschaft in <strong>der</strong> heutigen<br />
Türkei nie<strong>der</strong>gerungen waren, gewann Rom die endgültige Seeherrschaft über<br />
das Mittelmeer und nannte es stolz «Mare nostrum» – unser Meer! Zur Zeit des<br />
Augustus, also um Christi Geburt, segelten und ru<strong>der</strong>ten römische Galeeren<br />
nach Ägypten, Judäa, Syrien, Zypern, nach Asia (Türkei), Illyrien (Dalmatien),<br />
Sizilien, zur Cyrenaika, nach Africa (Libyen), die Balearen und Spanien – und<br />
befanden sich immer in römischem Herrschaftsbereich. Nach dem Nie<strong>der</strong>gang<br />
des römischen Reiches übernahm Byzanz unter Justinian I. diesen Begriff,<br />
später benutzte ihn das aufstrebende Venedig, und auch <strong>der</strong> Stauferkaiser<br />
Friedrich II., <strong>der</strong> auch König von Sizilien und – für kurze Zeit – König von<br />
Jerusalem war, verwendete «Mare nostrum» als Bezeichnung für das Mittelmeer<br />
in seiner 1239 veröffentlichten «Capitula», die erste gesetzliche Regelung <strong>der</strong><br />
Seefahrt. Pikanterweise sei vermerkt, dass auch <strong>der</strong> italienische Faschismus<br />
unter Mussolini das Mittelmeer so nannte, obwohl <strong>der</strong> Ausspruch den Anspruch<br />
nicht rechtfertigte.<br />
Aber schon lange vor <strong>der</strong> römischen Dominanz über das Mittelmeer fanden hier<br />
Kriege, Handel und kulturelle Kontakte zur See statt. Überhaupt ist Seefahrt viel<br />
älter. Die Meere zu befahren – das ist wohl die gewaltigste Aufgabe überhaupt,<br />
die sich die Menschheit je gestellt hat. Luftfahrt und Weltraumfahrt, so<br />
atemberaubend sie erscheinen mögen: ihre grossen Erfolge hätten sie nicht<br />
erzielen können ohne den ersten Schritt des Menschen aufs Meer. Die Fähigkeit,<br />
Schiffe mit den jeweils verfügbaren Techniken zu bauen, die ständige<br />
Weiterentwicklung <strong>der</strong> Schiffsformen, <strong>der</strong> Ru<strong>der</strong>anordnung und des Segelriggs,<br />
die Beobachtung <strong>der</strong> Himmelserscheinungen, <strong>der</strong> Winde, <strong>der</strong> Wolken, <strong>der</strong><br />
Strömungen und <strong>der</strong> Gezeiten sowie die Fähigkeit, diese Beobachtungen
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 12<br />
wie<strong>der</strong>um in die praktische Nutzanwendung <strong>der</strong> Navigation umzusetzen, all das<br />
ist zusammengenommen ein bestaunenswertes Zeichen <strong>der</strong> Erfindungsgabe und<br />
Zielstrebigkeit <strong>der</strong> Menschen.<br />
Man kann davon ausgehen, dass Seefahrt vor sechs- o<strong>der</strong> siebentausend Jahren<br />
zaghaft begann. Die ältesten Darstellungen von Schiffen stammen aus Ägypten:<br />
Die Abbildung A (unten) zeigt eine sogenannte «Skorpionschwanz-Galeere» mit<br />
zahlreichen Ru<strong>der</strong>n, einem Krieger (Kapitän?) und zwei Hütten, darunter (B)<br />
eine Felszeichnung aus dem Wadi Hammamet, beide stammen aus <strong>der</strong> Zeit um<br />
4000 v. Chr. Zirka 3400 v. Chr. überfielen die Ägypter unter <strong>der</strong> Herrschaft<br />
ihrer ersten Pharaonen die Küsten Syriens mit seegehenden Schiffen, primitive<br />
Fahrzeuge, die we<strong>der</strong> Kiel noch Achtersteven hatten, jedoch ein Segel und<br />
möglicherweise bis zu 24 Ru<strong>der</strong>ern besassen. Um 2600 v. Chr. unter Pharao<br />
Sahurê fand eine erste Expedition ins Goldland Punt statt, das wahrscheinlich in<br />
Südostafrika in <strong>der</strong> Gegend <strong>der</strong> Sambesimündung zu vermuten ist. Seine bereits<br />
grösser gewordenen Schiffe hatten einen verstagten Mast, aber keine Spanten im<br />
Rumpf. Um <strong>der</strong> Tendenz zum Verbiegen entgegenzuwirken, spannten sich<br />
verdrillte Seile über Decksstützen vom Bug zum Heck.<br />
In Mesopotamien, dem Land zwischen Euphrat und Tigris, ist – fast gleichzeitig<br />
zum ägyptischen Reich – eine an<strong>der</strong>e Hochkultur entstanden: das Reich <strong>der</strong><br />
Akka<strong>der</strong>, aus dem das<br />
sumerische und das<br />
noch heute berühmte<br />
babylonische Reich<br />
hervorgingen. Schon<br />
2814 v. Chr. soll bereits<br />
Baumwolle aus Indien<br />
über das Meer geholt<br />
worden sein. 2350<br />
sandte König Sargon I.<br />
regelmässig hölzerne<br />
Schiffe nach Melukha,<br />
Tilmun und Nagan aus,<br />
um Elfenbein, Gold<br />
und (das für den<br />
Schiffbau so<br />
notwendige) Holz zu<br />
holen.<br />
Wo diese Orte liegen, ist dem Autor nicht bekannt, aber in <strong>der</strong> Keilschrift ist<br />
festgehalten, dass die Schiffe in zwölf Tagen ihre Zielhäfen erreichen konnten.<br />
Aufgrund dieser Angabe kann den Schiffen eine Distanz von 1200 bis 1500
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 13<br />
Meilen wohl zugetraut werden, womit Pakistan, Indien, vielleicht gar Somalia<br />
als mögliche Destinationen infrage kommen.<br />
Der Turmbau zu Babel wurde zum Symbol des menschlichen Willens, den<br />
Himmel erreichen zu wollen. In den Ebenen des Zweistromlandes war das<br />
Firmament stets beeindruckend zu sehen. Kein Wun<strong>der</strong>, dass hier die<br />
Astronomie geboren wurde, die anfangs aber mehr eine Astrologie war. Auf<br />
terrassenförmigen Türmen, den Zikkuraten, beobachteten Sterndeuter<br />
systematisch den Himmel, vor allem die Sterne. Die Kenntnis von bereits 70<br />
Fixsternen, <strong>der</strong> Sonne, des Mondes sowie des Planeten Venus und ihre Stellung<br />
zueinan<strong>der</strong> sollten herausfinden, ob eine Seereise erfolgreich verlaufen würde<br />
o<strong>der</strong> ob man das Unternehmen besser aufschieben sollte. Ohne diese<br />
Himmelsbefragung durfte kein Schiff auslaufen. Aber Babylon drang nie ins<br />
Mittelmeer vor und vernachlässigte später seine Zuwendung zum Meer. Als die<br />
Zikkurate im vierten vorchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>t zerfielen, berichtete ein<br />
Ägypter von <strong>der</strong> Überlieferung, dass diese Türme «von Riesen gebaut worden<br />
waren, die den Himmel ersteigen wollten», eine Auslegung, die sich in an<strong>der</strong>er<br />
Form auch im Alten Testament nier<strong>der</strong>schlug.<br />
Auch Ägypten spielte auf die Dauer keine bedeutsame Rolle im Mittelmeer. Für<br />
kurze Zeit gewann die minoische Kultur zwischen 2000 und 1450 v. Chr. auf<br />
Kreta eine gewisse Macht. Kreta ist als Handelszentrum ideal gelegen und war<br />
in <strong>der</strong> bronzezeitlichen Welt, da überblickbar, auch gut zu verteidigen. Die<br />
Minoer pflegten Handelsrouten nach Alexandria, Zypern, ins östliche<br />
Mittelmeer und weit in den damals noch überwiegend unbekannten westlichen<br />
Meeresteil hinein. Schwere Zerstörungen (Erdbeben?) beendeten plötzlich die<br />
Bedeutung dieser hochstehenden Zivilisation. Um 1000 v. Chr. gewannen dann<br />
die Phönizier die Seeherrschaft. Sie siedelten im heutigen Libanon und<br />
erforschten von hier aus das ganze Mittelmeer, errichteten Nie<strong>der</strong>lassungen in<br />
Tunesien, Algerien, Italien, im Ägäisraum, auf Malta und Sardinien, gründeten<br />
Malaga, Palermo, Cadiz und Karthago, segelten bald durch die Strasse von<br />
Gibraltar, entdeckten die Kanarischen Inseln und kamen sogar bis nach<br />
Cornwall, wo sie Zinn tauschten. Sie waren die ersten, die Sternkarten für die<br />
Seefahrt erstellten und den Nordstern für die Orientierung benutzten. Die<br />
Phönizier waren nicht nur hervorragende Seeleute, son<strong>der</strong>n auch erfolgreiche<br />
Kaufleute. Um die Konkurrenz nicht unnötig auf den Plan zu rufen, war<br />
Geheimhaltung ihr oberstes Gesetz; sie haben darum wenig an Aufzeichnungen<br />
<strong>der</strong> Nachwelt hinterlassen.<br />
Schon um 800 v. Chr. erblühten einige phönizische Gründungen in<br />
Griechenland zu Stadtstaaten, von denen Euböa, Korinth, Athen und Sparta die<br />
bekanntesten waren. Mit Ausnahme von Sparta, das autoritär regiert wurde,<br />
entwickelte sich aus ihnen allmählich ein lockerer griechischer Staatenbund, <strong>der</strong><br />
sich deutlich von den ersten Hochkulturen des Mittleren Ostens o<strong>der</strong> Ägyptens
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 14<br />
unterschied. Als die Phönizier dann 572 v. Chr. von Nebukardnezar II. besiegt<br />
worden waren, stieg das antike Griechenland zur Blüte empor.<br />
Freiheit und Wissbegier<br />
Die Griechen hatten eine an<strong>der</strong>e Auffassung vom Wert des Menschen und <strong>der</strong><br />
Gemeinschaft als die feudal regierten Staaten vorher. Politische und persönliche<br />
Freiheit hiessen die neuen Werte, dem Individuum wurden mehr Rechte<br />
zugestanden und dem Staatswesen waren alle Bürger verpflichtet. Obwohl die<br />
Führungsprinzipien auch hier von einer aristokratischen Ordnung bestimmt<br />
waren, wurde das Volk doch zu Entscheidungen über seine Belange<br />
hinzugezogen, was nach und nach zu einer Rechtswahrung durch den Staat<br />
führte. Den ersten griechischen Entdeckerfahrten, vor allem nach Süditalien und<br />
Kleinasien, folgten schon bald die Ansiedlungen: Barcelona, Marseille, Nizza,<br />
Genua, Tarragona, Bastia, Syrakus, Ragusa (Dubrovnik), Kyrene in Libyen, <strong>der</strong><br />
Heimat des berühmten Gelehrten Eratosthenes – alles griechische Gründungen -,<br />
aber auch die nördliche Ägäis, <strong>der</strong> Bosporus und die Küsten des Schwarzen<br />
Meeres wurden von Griechenland aus besiedelt.<br />
Die Griechen waren voller Wissbegier gegenüber ihrer Umwelt, entwickelten<br />
die Geographie, begannen über die Beschaffenheit <strong>der</strong> Welt nachzudenken, und<br />
machten die Sternenkunde zu dem, was sie heute noch ist: zur Astronomie. Und<br />
dafür bedurften sie <strong>der</strong> Mathematik. Damit begann eine Entwicklung, die das<br />
Abendland bis heute prägte. Anaximan<strong>der</strong> gab um zirka 580 v. Chr. eine erste<br />
physikalische Erklärung <strong>der</strong> kreisförmig gedachten Mond- und Sonnenbahnen.<br />
Nur wenig später glaubte <strong>der</strong> Geheimbund <strong>der</strong> Pythagoreer – so genannt nach<br />
ihrem Grün<strong>der</strong> Pythagoras -, dass die Harmonie <strong>der</strong> Welt auf<br />
Zahlenverhältnissen beruhe und dass das Wesen aller Dinge in <strong>der</strong> Zahl bestehe.<br />
Seine Theorien wurden in ihrer Tragweite erst viel später erkannt und bilden die<br />
Grundlage <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Astronomie und Physik. Den Pythagoreischen<br />
Lehrsatz haben seither wohl Legionen von Gymnasiasten auswendig lernen<br />
müssen. In diese Zeit fallen auch die ersten spekulativen Überlegungen zur<br />
Kugelgestalt <strong>der</strong> Erde durch Eudoxos von Knidos. Platon (428 bis 347 v. Chr.)<br />
entwickelte daraus eine von den Gesetzen <strong>der</strong> Harmonie bestimmte<br />
mathematische Theorie <strong>der</strong> Planetenbewegungen. Diese Theorie wurde erst<br />
durch Johannes Kepler 1609 korrigiert! Aristoteles baute darauf sein<br />
physikalisches Weltsystem auf, das bis zu den Erkenntnissen des Nikolaus<br />
Kopernikus im Jahre 1616 Gültigkeit hatte. Um 250 v. Chr. entwickelte<br />
Eratosthenes ein Verfahren zur Auffindung von Primzahlen, errechnete erstmals<br />
den Erdumfang, entwarf eine Erdkarte und versah sie mit einem<br />
Koordinatennetz von Breitenparallelen und Meridianen. Der Astronom Claudius<br />
Ptolemäus übernahm einhun<strong>der</strong>t Jahre später den Koordinatengedanken von<br />
Eratosthenes, machte aber den grossen Fehler, bei seinen Berechnungen des<br />
Erdumfanges (360 Grad) von zu kleinen Abständen <strong>der</strong> Meridiane auszugehen,
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 15<br />
so dass seine Erdkugel um ein gutes Viertel kleiner wurde. Auf die Korrektur<br />
musste die Menschheit bis ins 16. Jahrhun<strong>der</strong>t warten. Trotzdem war Ptolemäus<br />
ein überragen<strong>der</strong> Gelehrter, <strong>der</strong> unter an<strong>der</strong>en wertvolle Bücher über<br />
Geographie, Tabellen zur Breiten- und Längenbestimmung von etwa 8000 Orten<br />
<strong>der</strong> Erde sowie Nie<strong>der</strong>schriften über die Optik und Musikharmonie hinterliess.<br />
<strong>Das</strong> antike Griechenland drückte <strong>der</strong> abendländischen Kultur ihren<br />
unvergänglichen Stempel auf. Selbst die mo<strong>der</strong>nen olympischen Spiele sind ein<br />
Erbe, das 1894 wie<strong>der</strong> zum Leben erweckt wurde.<br />
Wie David und Goliath<br />
Die Bezeichnung Griechenland bezieht sich für die Antike auf die griechische<br />
Halbinsel ohne Makedonien, die zugehörigen griechischen Inseln, den<br />
Peloponnes und die Inseln des Ägäischen Meeres mit Kreta. Seit 540 wurde<br />
Griechenland aber immer wie<strong>der</strong> von den Persern bedroht, die nach und nach<br />
Thrakien im Norden und Makedonien im Nordwesten eroberten. Die Eroberung<br />
Griechenlands zur Abrundung des Perserreiches konnten die Griechen in <strong>der</strong><br />
Schlacht beim 30 km nordöstlich von Athen gelegenen Marathon (490 v. Chr.)<br />
abwenden. Die zahlenmässig unterlegenen Griechen unter Miltiades siegten<br />
dank <strong>der</strong> überlegenen Taktik; die Meldung vom Sieg gelangte durch einen<br />
Läufer nach Athen, <strong>der</strong> nach seiner Ankunft vor Anstrengung (angeblich) tot<br />
zusammenbrach. Der olympische Marathonlauf entspricht mit seiner Länge in<br />
etwa <strong>der</strong> Wegstrecke Marathon-Athen.<br />
Angesichts <strong>der</strong> starken Flotte, mit <strong>der</strong> die Perser sich zurückziehen, beginnt<br />
Griechenland ein grosses Flottenbauprogramm. Im Süden <strong>der</strong> Attika genannten<br />
Halbinsel, auf <strong>der</strong> auch Athen liegt, sind damals gerade reiche Silberminen<br />
erschlossen worden. Die Einkünfte, die <strong>der</strong> Staat aus diesen Bergwerken bezog,<br />
sollten zur Finanzierung des Schiffsbaus dienen.<br />
Aber <strong>der</strong> Perserkönig Xerxes liess nicht locker. Im August 480 kommt es zur<br />
Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Griechen in <strong>der</strong> Schlacht am Thermopylenpass bei Delphi. Athen<br />
wird von den Persern geplün<strong>der</strong>t, ihre Bewohner konnten sich gerade noch auf<br />
benachbarte Inseln retten. Durch die Nie<strong>der</strong>lage am Thermopylenpass hatte sich<br />
die Stimmung im griechischen Heer stark verschlechtert. Die Vertreter einiger<br />
peloponnesischer Verbündeter liessen durchblicken, sie würden ihre Truppen<br />
und Flottenverbände zurückziehen. Den Griechen drohte eine Zersplitterung <strong>der</strong><br />
Kräfte. Der griechische Admiral Themistokles erkannte, dass er handeln müsse,<br />
wenn die letzte Chance gewahrt bleiben sollte. Nun zahlte sich die Weitsicht des<br />
Flottenbaus aus. Schon im September des gleichen Jahres kam es zur berühmten<br />
Seeschlacht von Salamis, in <strong>der</strong> die Griechen die Perser entscheidend besiegten.<br />
Da Athen schon gefallen war und nun <strong>der</strong> Stadtstaat Sparta verteidigt werden
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 16<br />
Die Schlacht von Salamis (1): Die Aufstellung <strong>der</strong> Flotten<br />
musste, führte <strong>der</strong><br />
Spartaner Eurybiades<br />
den Oberbefehl. 380<br />
Schiffe standen ihm<br />
zur Verfügung, Galeeren<br />
mit Doppelru<strong>der</strong>plätzen<br />
(Biremen)<br />
und Trieren, bei denen<br />
die Riemen dreifach<br />
angeordnet waren.<br />
Die persische<br />
Flotte des Königs<br />
Xerxes bestand aus<br />
850 Schiffen. Themistokles<br />
arbeitete<br />
mit dem Oberbefehlshaber<br />
Eurybiades einen<br />
genialen Plan aus.<br />
Die griechische Flotte ankerte in <strong>der</strong> Meerenge von Salamis, einer kleinen Insel<br />
westlich von Athen. Themistoles und Eurybiades wollten die persischen Schiffe<br />
in die Enge <strong>der</strong> Durchfahrt locken, um sie an <strong>der</strong> Entfaltung ihrer überlegenen<br />
Kräfte zu hin<strong>der</strong>n. Er liess das Gerücht ausstreuen, dass sich ein Teil <strong>der</strong><br />
griechischen Flotte nach Korinth zurückziehen wolle. Xerxes, <strong>der</strong> aber die<br />
gesamte griechische Flotte zu schlagen hoffte, liess sich überlisten und sandte<br />
sofort 250 seiner Schiffe nach Süden, um den Griechen – die die Insel Salamis<br />
nördlich umfahren müssten – den erwarteten Rückzug abzuschneiden. Die<br />
restlichen Schiffe riegelten sofort den Golf von Salamis ab. Nun lagen den 380<br />
griechischen Schiffen «nur» noch 600 persische gegenüber.<br />
Am 23. September 480 v. Chr. kam es zu <strong>der</strong> historischen Schlacht. Xerxes<br />
wollte den triumphalen Sieg seiner Flotte von einer Anhöhe herab beobachten.<br />
Als die persischen Galeeren, zuerst langsam, dann aber immer schneller auf die
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 17<br />
griechischen Schiffe zuru<strong>der</strong>ten, rückten diese, scheinbar zurückweichend,<br />
langsam in die Enge <strong>der</strong> Durchfahrt. Die persischen Schiffe folgten und fuhren<br />
immer dichter nebeneinan<strong>der</strong>, bis sie die Ru<strong>der</strong> nicht mehr unbehin<strong>der</strong>t bewegen<br />
konnten. Nun griffen die Griechen schnell an!<br />
Die vor<strong>der</strong>sten Galeeren <strong>der</strong> Perser verkeilten sich, die hinteren erkannten die<br />
Gefahr zu spät; sie mussten seitwärts ausbrechen, um nicht auf ihre Gefährten<br />
aufzulaufen. Die Griechen fuhren mit voller Fahrt in den persischen Block, die<br />
Rammsporne bohrten beim Aufprall etliche persische Galeeren in den Grund.<br />
Auf persischer Seite brach Verwirrung aus, ihre zahlenmässige Überlegenheit<br />
brachte sie nun selber in Bedrängnis und erfor<strong>der</strong>te viele zusätzliche Opfer.<br />
Während von den vor<strong>der</strong>en Schiffen <strong>der</strong> Griechen die Soldaten enterten und <strong>der</strong><br />
Kampf Mann gegen Mann begann, entschied ein überraschen<strong>der</strong> Flankenangriff<br />
<strong>der</strong> Athener die Schlacht: wie<strong>der</strong> fielen viele persische Schiffe dem Rammsporn<br />
<strong>der</strong> griechischen Trieren zum Opfer, dann begannen die Einzelkämpfe. Schon<br />
flohen einige persische Galeeren, die Panik kostete die Perser noch weitere<br />
Schiffe. Xerxes befahl <strong>der</strong> Flotte und seinem Landheer den Rückzug – das<br />
kleine Griechenland hatte die Schlacht für sich entschieden!<br />
Die Schlacht von Salamis (2): Die Griechen locken die persischen Schiffe in die Enge von<br />
Salamis.<br />
Knapp siebzig Jahre lang sollte Athen nun die Seeherrschaft innehaben. Aber<br />
die Griechen waren untereinan<strong>der</strong> häufig zerstritten, beson<strong>der</strong>s Athen und Sparta
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 18<br />
kämpften kompromisslos um die Vorherrschaft auf <strong>der</strong> Halbinsel. 413 musste<br />
die Flotte Athens das gleiche Schicksal erleiden, das sie vor Salamis den Persern<br />
bereitet hatte: sie wurden von den Spartanern im Hafenbecken von Syrakus, in<br />
dem sie sich nicht entfalten konnten, vernichtend geschlagen. 338 errang <strong>der</strong><br />
makedonische König Philipp II. die Vorherrschaft über Athen, Thrakien und<br />
Illyrien und begann einen Feldzug zur Eroberung Persiens. Die Macht Athens<br />
war gebrochen. Aber die griechische Triere, von den Römern in «Trireme»<br />
umgetauft, sollten noch lange auf dem Mittelmeer <strong>der</strong> vorherrschende Schiffstyp<br />
sein.<br />
Der Alexan<strong>der</strong>zug<br />
(dtv-Weltatlas 1989, Band 1)<br />
Alexan<strong>der</strong> bekam den Beinamen «<strong>der</strong> Grosse», aber er konnte die<br />
Verwaltungsreform seines Riesenreiches nicht mehr durchführen. Schon 325 v.<br />
Chr. musste sich das Heer unter seinem General Krateros vom Indus nach<br />
Mesopotamien zurückziehen; im gleichen Jahr kehrte auch Alexan<strong>der</strong>s Flotte<br />
unter Nearchos vom Indischen Ozean an die Mündung von Euphrat und Tigris<br />
heim. Völlig unerwartet starb Alexan<strong>der</strong> zweiunddreissigjährig am 13. Juni 323<br />
in Babylon, wahrscheinlich an Malaria. Sein Reich überdauerte ihn nicht lange<br />
und zerfiel bald, seine Eroberungen hatten jedoch die griechische Zivilisation<br />
weit nach Osten getragen. Nun wartete noch <strong>der</strong> Westen auf seine<br />
«Hellenisierung».<br />
Bis dahin war Rom eine unabhängige Republik. Nachdem Karthago bezwungen<br />
war, besiegte Rom Makedonien in mehreren Kriegen und erklärte 196 alle<br />
Griechen für frei, <strong>der</strong>en Kultur man bewun<strong>der</strong>te, nachahmte und übernahm. In<br />
den folgenden Jahrhun<strong>der</strong>ten sollte Rom <strong>der</strong> Erbe griechischer Kultur und<br />
Geistesbildung werden, aber auch ein Reich errichten, das weit grösser war als<br />
das Alexan<strong>der</strong>s. Nach und nach eroberten die Römer Helvetien, Gallien,<br />
Germanien bis an den Rhein und die Donau sowie Britannien. Sie bauten<br />
Strassen über die Alpen. 42 n. Chr. überquerte ein römisches Heer das<br />
Atlasgebirge in Nordafrika, Kaiser Nero sandte gar eine Expedition vom<br />
römischen Ägypten aus, um die Quellen des Nils zu suchen. Und wenn diese
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 19<br />
Expedition ihr Ziel auch nicht erreichte, drang sie doch weiter ins Landesinnere<br />
vor als je ein Europäer vorher.<br />
Weihrauch und Perlen, Bernstein und Zinn<br />
Erste Begegnung des Mittelmeerraumes mit Ost und Nord<br />
Die Römer waren in <strong>der</strong> Frühzeit ihrer Staatsgründung kein Volk von<br />
Seefahrern. In Zeiten <strong>der</strong> Bedrängnis vertrauten sie auf ihr durch Disziplin<br />
gestähltes Landheer; seine Mobilität und Flexibilität war legendär! Geriet Rom<br />
in Gefahr, dann wurden die Truppen in Gewaltmärschen über große Distanzen<br />
zu den Brennpunkten verlegt und oft genug sofort in die Schlacht geschickt. Die<br />
Macht Roms wurde mit den Schwertern und Lanzen seiner Legionen errungen.<br />
Aber die Erhaltung je<strong>der</strong> Armee verschlingt Unsummen; schon damals war es<br />
billiger, die militärische Macht in politische Macht zu überführen. Nach <strong>der</strong><br />
Nie<strong>der</strong>ringung Karthagos (vgl. sm/96) setzte sich auch bei den Römern die<br />
Erkenntnis durch, dass Seeherrschaft die politische Herrschaft absichert und<br />
dass Seehandel die friedlichen Absichten <strong>der</strong> Partner stärkt.<br />
Eine römische Flotte<br />
liegt hoch am Strand<br />
und trifft<br />
Vorbereitungen zum<br />
Auslaufen, zirka 100<br />
vor Christus.<br />
(Zeichnung: H. R. Römer.)<br />
Aber dazu war es notwendig, die Sicherheit <strong>der</strong> Seewege zu garantieren; die<br />
Bekämpfung <strong>der</strong> schon damals verbreiteten Seeräuberplage gab Rom<br />
Gelegenheit, das ganze Mittelmeer kennenzulernen und zu erforschen. <strong>Das</strong> Mare<br />
Nostrum <strong>der</strong> Römer hatte bald eine regulierende Funktion, und <strong>der</strong> Seeverkehr<br />
diente neben <strong>der</strong> Ernährung auch <strong>der</strong> Erweiterung des Weltbildes. Aus<br />
Griechenland gelangten – neben feiner Lebensart und Wissen – Wein, Öl, Salz<br />
und Getreide nach Rom. <strong>Das</strong> Christentum kam durch Paulus über das
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 20<br />
Mittelmeer in die römische Metropole. Und bald gab es Kontakte zu den<br />
östlichen Kulturen des Orients, die weit über Palästina hinausgingen.<br />
Bereits um die Zeitenwende begannen hochseetüchtige römische Handelsschiffe<br />
vom Roten Meer nach Indien zu fahren! Die von dort herbeigeschafften<br />
selteneren und daher teuren Waren, vor allem Gewürze und Parfüme, Schildpatt<br />
und Perlen, aber auch Seide aus China, regten die Einbildungskraft des Westens<br />
über den märchenhaft reichen Osten mächtig an. Mit dem Nie<strong>der</strong>gang des<br />
römischen Reiches brachen jedoch die Kontakte mit dem Orient wie<strong>der</strong> ab. Als<br />
sieben Jahrhun<strong>der</strong>te später <strong>der</strong> fränkische Kaiser Karl <strong>der</strong> Grosse mit dem<br />
abbasidischen Kalifen Harun Ar-Raschid Gesandtschaften austauschte,<br />
entfachten die Geschenke des Kalifen die fantastischen Vorstellungen <strong>der</strong><br />
Herrscher und Händler von neuem. Ihren Appetit, diese fernen Län<strong>der</strong> zu<br />
beherrschen und auszubeuten, sollten sie bis ins Zeitalter <strong>der</strong> Entdeckungen<br />
nicht mehr verlieren.<br />
Doch <strong>der</strong> Norden war ebenso geheimnisvoll und von Gerüchten umwoben. Man<br />
wusste kaum etwas von den "nebelverhangenen Län<strong>der</strong>n und Gestaden hinter<br />
den eisbedeckten Bergen; dort hausen primitive Völker, die Kelten und<br />
Teutonen heissen» (Tacitus). Im Jahre 55 vor Christus landete Cäsar in<br />
Britannien, begann mit <strong>der</strong> Eroberung <strong>der</strong> Insel und gründete die ersten<br />
römischen Nie<strong>der</strong>lassungen. An<strong>der</strong>erseits gelangten griechisch-römische<br />
Philosophie und Wissenschaft mit den Soldatenstiefeln <strong>der</strong> römische Legionen<br />
in das nördlich <strong>der</strong> Alpen gelegene Europa. Alle bedeutenden geistigen<br />
Strömungen <strong>der</strong> abendländischen Kultur haben im Mittelmeer ihren Ursprung.<br />
<strong>Das</strong> römische Reich erreichte im 2. Jahrhun<strong>der</strong>t nach Christus seine grösste<br />
Ausdehnung, danach zerfiel es unter dem Ansturm <strong>der</strong> Goten, <strong>der</strong> Hunnen und<br />
Vandalen und <strong>der</strong> Langobarden.<br />
Die Silhouette Europas zwischen den Meeren im Norden und Süden trat anfangs<br />
nur langsam aus dem Nebel <strong>der</strong> Unwissenheit hervor (Abb. 2). Seit mehr als<br />
tausend Jahren übte das sonnige Mittelmeer eine fast magische Anziehungskraft<br />
auf die Völker <strong>der</strong> Nordmeere aus, doch bis ins Hochmittelalter wussten die<br />
Seeleute dieser unterschiedlichen Völkerfamilien nur wenig Konkretes<br />
voneinan<strong>der</strong>.<br />
Bekannter (und spektakulärer) sind dagegen die Kontakte mit dem Osten. Schon<br />
hun<strong>der</strong>t Jahre nach dem Tode Jesu sollen einige furchtlose Gläubige von Rom<br />
nach Jerusalem gepilgert sein. Nachdem Kaiser Konstantin 327 zum<br />
Christentum übergetreten war, unternahm seine Mutter, die Kaiserin Helena,<br />
eine Pilgerreise ins Heilige Land; sie fand den Kalvarienberg und angeblich<br />
Holzsplitter des Kreuzes Jesu. Kaiser Konstantin liess daraufhin die noch heute<br />
existente Grabeskirche erbauen. Im 4. Jahrhun<strong>der</strong>t pilgerte eine fromme und<br />
reiche Spanierin namens Etheria nach Jerusalem, danach diktierte sie ihre
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 21<br />
Erlebnisse, religiös verbrämt, einem Mönch. Bald darauf, 386, gründete <strong>der</strong><br />
Heilige Hyronimus in Bethlehem ein Kloster. Damit kamen Pilgerreisen zu den<br />
heiligen Stätten des Christentums von ganz Europa nach Jerusalem in Mode,<br />
und schon im frühen 5. Jahrhun<strong>der</strong>t soll es fast zweihun<strong>der</strong>t Klöster im Heiligen<br />
Land gegeben haben.<br />
Angelsächsische<br />
Weltkarte aus dem 10.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t. Der Osten<br />
galt als die vornehmere<br />
Himmelsrichtung, er liegt<br />
oben, wo nach damaliger<br />
Vorstellung «gleich hinter<br />
Asien» das Paradies zu<br />
suchen ist. Dreht man die<br />
Karte nach rechts, sind<br />
(links oben) England,<br />
Irland und Island gut zu<br />
erkennen, aber Norwegen<br />
und Schweden fehlen,<br />
obwohl den Kartographen<br />
die Heimat <strong>der</strong> Wikinger<br />
bekannt gewesen sein<br />
muss. (British Library, London.)<br />
Viele Pilgerwege sind als historische Verkehrsrouten überliefert. Viel später<br />
legte Napoleon seine gradlinigen Heerstrassen an, um die Truppen auf<br />
schnellstem Wege ans Ziel zu bringen; für die Pilgerwege kann insofern ein<br />
Vergleich hergestellt werden, als sie die Wallfahrer in eine zielgewisse Richtung<br />
führten. <strong>Das</strong> wussten auch die Händler, selbst wenn für sie <strong>der</strong> kürzeste Weg<br />
nicht unbedingt ein Weg <strong>der</strong> Frömmigkeit war. Und wie die Mönche vor <strong>der</strong><br />
Erfindung <strong>der</strong> Uhr den Tag nach den Stundengebeten, den Horen, massen, war<br />
die Strasse für die Wallfahrer in Etappen eingeteilt: <strong>der</strong> Tagesweg war von<br />
Dorfkirchen, Kapellen, Kreuzen, Bildstöcken und Wirtshäusern markiert.<br />
Anfangs waren Pilgerfahrten reine Fussmärsche; eine Kette von sicheren<br />
Herbergen auf dem ganzen Weg gab den Pilgern die Gewissheit von Obdach<br />
und Schutz. Waffenlos, mit breitrandigem Pilgerhut, in <strong>der</strong> Hand den Pilgerstab,<br />
die Pilgertasche geschultert, am Gurt die Muschel (als Trinkgefäss): die
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 22<br />
«Fremden» (das Wort Pilger leitet sich aus dem lateinischen «peregrinus» =<br />
Frem<strong>der</strong> ab) waren die farbigen Gestalten des frühen Mittelalters, die überall<br />
Schutz genossen.<br />
Erst <strong>der</strong> Untergang des Weströmischen Reiches und die starke Zunahme des<br />
Räuberwesens machten die Strassen unsicher, so dass die Pilger allmählich den<br />
Seeweg benutzten. Aber zunehmen<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> türkischen Seldschuken<br />
gegen die christlichen Pilgerreisen und die bald darauf einsetzenden<br />
Eroberungen <strong>der</strong> Araber im Mittelmeer gefährdeten die Pilgerfahrten erneut.<br />
Mohammed war gemäss islamischem Glauben von den Felsen am Tempelberg<br />
gen Himmel gefahren. Damit kam Konkurrenz um die heiligen Stätten auf. 638,<br />
sechs Jahre nach dem Tode des Propheten, zog Kalif Omar als Sieger in<br />
Jerusalem ein: ein tausendjähriger Kampf um den Einfluss in Palästina begann.<br />
Im Jahre 610 hat Mohammed die Lehre des Islam als «Ergebung in den Willen<br />
Gottes» verkündet. Der Islam ist neben dem Judentum und dem Christentum die<br />
dritte grosse momotheistische Religion <strong>der</strong> Menschheit. Er fiel im arabischen<br />
Raum auf fruchtbaren Boden und weitete sich im 7. und 8. Jahrhun<strong>der</strong>t mit<br />
unvorstellbarer Geschwindigkeit nach Norden, Westen und Osten aus und griff<br />
ab 638 auf Jerusalem, Syrien, die Türkei und den Irak über (Abb. 3). Arabische<br />
Reiterheere eroberten 640 Kairo, 642 Libyen und 698 Karthago, drangen 711 bis<br />
Samarkand, Afghanistan und Pakistan vor, setzten im gleichen Jahr über die<br />
«Dschebel al Tarik» (Berg des Tarik) genannte Strasse von Gibraltar und<br />
eroberten ganz Spanien und Portugal. Erst 732 konnte in <strong>der</strong> Schlacht zwischen<br />
Tours und Poitiers das weitere Vordringen <strong>der</strong> Araber nach Mitteleuropa<br />
verhin<strong>der</strong>t werden. Danach stand Europas iberische Teil 750 Jahre lang unter<br />
«maurischer» Herrschaft. Der Name Mauren o<strong>der</strong> Moren (spanisch: los moros)<br />
leitete sich von <strong>der</strong> in Nordafrika lebenden arabisch-berberischen negroiden<br />
Mischbevölkerung ab und sollte bald als Pauschalbezeichnung für alle Muslime<br />
im «christlichen» Wortschatz Eingang finden.<br />
Die Ausbreitung des<br />
Islam bis 750 (dtv-Weltatlas<br />
1989, Band 1)<br />
Als im 11.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t die<br />
türkischen<br />
Seldschuken nach
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 23<br />
Westen vorzudringen<br />
versuchten, aber auch als Folge <strong>der</strong> allgemeinen religiösen Verinnerlichung,<br />
verbreitete sich unter den Rittern des christlichen Westens immer mehr <strong>der</strong><br />
Gedanke eines als notwendig und berechtigt empfundenen Krieges gegen den<br />
Islam, um Jerusalem von <strong>der</strong> islamischen Herrschaft zu befreien. Es entstand die<br />
Idee <strong>der</strong> Kreuzzüge! Die als Befreiungskriege gedachten Feldzüge nahmen in<br />
<strong>der</strong> Folgezeit immer mehr die Form von Beutezügen an, denn die<br />
Heimgekehrten erzählten vom unvorstellbaren Reichtum und vom bequemen<br />
Leben im Orient. Der Bussgehalt eines Kreuzzugs zu Schiff kam allen Ernstes<br />
vor allem dadurch zum Ausdruck, dass man sich während einer langen Reise<br />
einem zu fürchtenden Element aussetzen musste, was <strong>der</strong> Selbstverleugnung und<br />
<strong>der</strong> Überwindung von Angst gleichkam. Aber alle – Pilger und Kreuzfahrer –<br />
brachten wertvolle Waren, vor allem Seide, Damast, wohlriechende Gewürze<br />
und viele geheimnisvolle Neuigkeiten aus dem Morgenland mit nach Hause.<br />
Jerusalem war im Mittelalter das ersehnte Ziel <strong>der</strong> Christenheit.<br />
Nicht alle Kreuzfahrer kamen in ihre Heimat zurück. Die zur gleichen Zeit<br />
gegründeten Ritterorden bauten Burgen und gründeten Nie<strong>der</strong>lassungen zum<br />
Schutze und zur Verteidigung eroberter Landstriche und Orte. Die Ritterorden<br />
vereinigten das ritterliche Ideal des Mittelalters mit den mönchisch-asketischen<br />
Lebensregeln: Armut, Keuschheit, Gehorsam und Schutz <strong>der</strong> Bedrängten. Der<br />
berühmteste war seit 1113 <strong>der</strong> Johanniterorden, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong>schaft des<br />
Spitals in Jerusalem hervorgegangen ist. Seine Hauptaufgaben waren<br />
Krankenpflege und Waffendienst. Die Ordenstracht, ein schwarzer Mantel mit<br />
weissem Kreuz, wurde im Krieg gegen einen roten Waffenrock getauscht. 1291,<br />
nach <strong>der</strong> Eroberung Jerusalems durch den Islam, wird <strong>der</strong> Orden unter dem<br />
Druck des muslimischen Vordringens zuerst nach Zypern verlegt, 1309 nach<br />
Rhodos und 1530 schliesslich nach Malta. Seither heissen sie «Malteser».<br />
Die Reformatoren <strong>der</strong> Kirche – Luther, Erasmus von Rotterdam, Melanchthon,<br />
Zwingli und Calvin – lehnten Wallfahrten ab und verurteilten rückwirkend die<br />
Kreuzzüge. «Kindische und nutzlose Werke» seien sie; aber im Nachhinein<br />
erwiesen sich die Kreuzzüge <strong>der</strong> kämpferischen Pilger als bedeutende<br />
Erweckungsmittel. Während <strong>der</strong> sieben Kreuzzüge zwischen 1096 und 1270<br />
wogte das Kriegsglück hin und her, die Feldzüge führten aber nicht zu<br />
bleibenden Erfolgen für die Christenheit. Die Kreuzzüge scheiterten, weil sich<br />
die nationalen Interessen <strong>der</strong> beteiligten Parteien nicht mit einer universalen<br />
Idee, wie sie dem Islam innewohnt, vereinigen liessen. Aber für die Entwicklung<br />
von Handel und Wandel erwiesen sich die Kreuzzüge als Katalysator; die<br />
Kreuzritter nahmen in den friedlichen Phasen Handelsbeziehungen mit <strong>der</strong><br />
moslemischen Welt auf, von denen beson<strong>der</strong>s die oberitalienischen und<br />
südfranzösischen Städte profitierten. Dank den Erzählungen zurückkehren<strong>der</strong><br />
Kreuzritter über die orientalische Pracht nahmen <strong>der</strong> Orienthandel allgemein<br />
einen starken Aufschwung. Der steigende Lebensstandard führte zu einer
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 24<br />
grossen Nachfrage nach Orientwaren; die Geldwirtschaft florierte und ein<br />
reiches Bürgertum entstand. Der Kontakt zu den überlegenen byzantinischen<br />
und arabischen Geisteswelten verstärkte darüber hinaus das kulturelle Niveau.<br />
Vor dem Hintergrund dieser spektakulären Ereignisse wird heute allzu leicht<br />
vergessen, dass <strong>der</strong> frühe Welthandel nicht nur aus Seiden und Gewürzen,<br />
Perlen und Edelsteinen des Ostens bestand. Es gab auch schon sehr früh<br />
Handelswege nach Norden. Im 1. Jahrhun<strong>der</strong>t vor Christus wurde Venedig auf<br />
dem Festland gegründete. Die aufblühende Stadt an handelspolitisch<br />
strategischer Lage wurde von den «Barbaren», zuerst von den Hunnen, später<br />
von den Langobarden, überfallen und verwüstet, so dass die Menschen auf die<br />
sicheren Laguneninseln auswichen.<br />
Nordeuropäische Land- und Seerouten<br />
Von Zeit zu Zeit gelangten «barbarische» Händler aus dem Norden auf dem<br />
Landweg von <strong>der</strong> Ostsee über Polen, Böhmen und die Steiermark nach Venedig.<br />
Neben Honig, Wachs und Pelzen hatten sie auch ein fossiles, organisches<br />
Material unter ihren Waren, eine Art goldgelbes Harz, das an den Stränden <strong>der</strong><br />
nordlichen Meere gesammelt wurde. Sie nannten es Bernstein. Manchmal waren<br />
kleine Insekten, Ameisen o<strong>der</strong> Fliegen, darin eingeschlossen, und die reichen<br />
Damen <strong>der</strong> Gesellschaft lechzten danach. Die Händler erzählten von<br />
seefahrenden Völkern des Nordens, von den Wikingern, die – furchtverbreitend
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 25<br />
– die Meere dort beherrschten. Von ihnen stammten die Walrosszähne, die im<br />
frühen Mittelalter noch die Funktion des Elfenbeins hatten.<br />
Venedig konnte von Anfang an rege Handelsbeziehungen nicht nur entlang <strong>der</strong><br />
illyrischen (dalmatischen) Küste aufbauen, auch aus den Alpentälern und sogar<br />
aus Süddeutschland gelangten Metalle aller Art, Wolle und Leinen sowie das für<br />
den Schiffbau notwendige Holz nach Venedig. Auch Zinn war ein begehrtes<br />
Handelgut aus dem Norden. Schon lange vorher hatte Herodot behauptet, dass<br />
Zinn «vom Ende <strong>der</strong> Welt komme», und Pytheas von Marseille segelte<br />
(wahrscheinlich im Auftrag Alexan<strong>der</strong> des Grossen) um 325 vor Christus in die<br />
Nordsee und nach Britannien, um die Herkunft von Zinn und Bernstein zu<br />
erkunden. Die Scilly-Inseln wurden deshalb auch Zinn-Inseln genannt. Später<br />
kauften muslimische Händler in Venedig die Sklaven ein, die die schwedischen<br />
Wikinger in den russischen Wäl<strong>der</strong>n gefangen hatten. Orientalische Seide und<br />
Gewürze verliessen die Lagunenstadt in die Gegenrichtung.<br />
So ergab sich doch schon sehr früh eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen<br />
Land und Meer; eine Entwicklung, die sich im 13. Jahrhun<strong>der</strong>t durch das<br />
Auftauchen <strong>der</strong> ersten brauchbaren Seekarten, des Kompasses, aber auch immer<br />
besserer Schiffsbautechniken mehr und mehr zugunsten <strong>der</strong> Schiffahrt verschob.<br />
Doch bis dahin verweilten die Seefahrer des Südens und Nordens überwiegend<br />
in ihren angestammten Revieren. Die Brendansage aus dem 6. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
erzählt von <strong>der</strong> Reise irischer Mönche, die unter <strong>der</strong> Führung des Abtes
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 26<br />
Brendanus über das Meer nach Westen segelten. Sie erlebten für die damalige<br />
Zeit allerlei unglaubliche Abenteuer und gelangten schliesslich in ein Land im<br />
Westen, das sie als Kontinent erkannten. Sie glaubten, das Paradies gefunden zu<br />
haben, kehrten aber nach Irland zurück, um davon zu berichten. Realistischer,<br />
weil verbürgt, ist dagegen die weitverzweigte Handelstätigkeit eines seit<br />
Urzeiten an <strong>der</strong> Nordseeküste ansässigen Volksstammes, <strong>der</strong> Friesen.<br />
Die Friesen lebten zwischen <strong>der</strong> Scheldemündung und Schleswig. Sie waren ein<br />
freiheitsliebendes Volk, das seine Häuptlinge unter dem Upstallsboom, einer<br />
heiligen Eiche, auf Zeit wählte und ihnen Treue und Beistand schworen. Sie<br />
hatten untereinan<strong>der</strong> strenge Gesetze, die Eigentum und Freiheit des Einzelnen<br />
sowie seinen Dienst an <strong>der</strong> Gemeinschaft regelten. Männer und Frauen waren<br />
vor dem Gesetz gleich! Die geographische Lage ihrer Heimat sorgte bereits im<br />
6. Jahrhun<strong>der</strong>t für günstige Voraussetzungen eines regen Handels zur See;<br />
friesische Seefahrer waren neben den Wikingern offenbar die ersten, die mit<br />
ihren Schiffen bis Island, Spanien und nach Mallorca gelangten. Ihre<br />
topographische Situation liess ihnen auch keine an<strong>der</strong>e Wahl, denn sie wohnten<br />
auf künstlich erbauten Hügeln, die mit dem Festland durch Dämme verbunden<br />
waren. Die Friesen waren die ersten, die Deiche zum Schutz vor Sturmfluten<br />
bauten. Ihre Einkommensquelle war anfangs das für die Fischkonservierung<br />
unentbehrliche Salz, das sie dem Meer entzogen, sowie <strong>der</strong> Fischreichtum <strong>der</strong><br />
Küstengewässer.<br />
Ihr Haupthafen war Dorestad (heute Duurstede) an <strong>der</strong> Verzweigung von Altem<br />
Rhein und Lek (Abb. vorherige Seite). Die Friesen waren gute Kaufleute, und<br />
wie die Griechen und Römer gründeten sie auch Handelsnie<strong>der</strong>lassungen in<br />
ihren Partnerhäfen. Schon zur Bronzezeit, also um 200 vor Christus, bestanden<br />
nachgewiesene Schiffsverbindungen vom Rhein bis zur Ems und Weser sowie<br />
ein Schiffahrtsweg entlang <strong>der</strong> ostfriesischen Küste. Doch mehr ist aus <strong>der</strong><br />
Frühzeit nicht bekannt. Im 8. Jahrhun<strong>der</strong>t fuhren friesische Kähne die Schelde,<br />
die Maas, den Rhein und an<strong>der</strong>e Flüsse stromaufwärts zu den Siedlungsgebieten<br />
des benachbarten karolingischen Reiches; friesische Häfen wurden immer mehr<br />
zu Drehscheiben einer nach allen Seiten sich anbahnenden Beziehung mit<br />
an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n. Ihre nautischen Fähigkeiten setzten sie in die Lage, schon in<br />
<strong>der</strong> zweiten Hälfte des 11. Jahrhun<strong>der</strong>ts durch das Skagerrak in die Ostsee zu<br />
gelangen und dort Handel zu treiben. Bald segelten und ru<strong>der</strong>ten friesische<br />
Schiffe über Jütland nach Bornholm, Gotland und zum Baltikum. Um 1200<br />
tauchten sie in England auf und luden zur gleichen Zeit Tuffstein in An<strong>der</strong>nach<br />
am Rhein, den sie für den Bau ihrer Kirchen benötigten. Auch mit <strong>der</strong> Hanse<br />
fand zeitweise ein namhafter Warenaustausch statt: das hamburgische<br />
«Pfundzollbuch» von 1369 erwähnt einen regen «Localverkehr» zwischen<br />
Hamburg un <strong>der</strong> ostfriesischen Küste.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 27<br />
Aber <strong>der</strong> Aufschwung <strong>der</strong> Hanse hat die friesische Schiffahrt nicht begünstigt.<br />
Die Häfen verödeten und es setzte eine allgemeine Verarmung ein. So traten in<br />
<strong>der</strong> ersten Hälfte des 14. Jahrhun<strong>der</strong>ts friesische Freibeuter auf den Plan, die als<br />
«Vitalier» o<strong>der</strong> «Vitalienbrü<strong>der</strong>» in die Geschichte <strong>der</strong> Freibeuterei eingingen.<br />
Da sie untereinan<strong>der</strong> alles zu gleichen Teilen aufteilten, nannte man sie auch<br />
«Likendeeler» (lik: Plattdeutsch für gleich). Sie hatten ab 1395 ihre<br />
Schlupfwinkel in den Flachwasserhäfen Ostfrieslands, die sie vor <strong>der</strong><br />
Verfolgung durch bewaffnete hansische Koggen mit grösserem Tiefgang<br />
bewahrten. Doch im Mai 1400 gelang <strong>der</strong> vereinigten Flotte Bremens und<br />
Hamburgs ein entscheiden<strong>der</strong> Sieg über die Freibeuter. Die legendäre Gestalt<br />
Klaus Störtebekers, <strong>der</strong> sein Hauptquartier im ostfriesischen Marienhafe hatte,<br />
ist bis heute populär.<br />
Über die Bauart ihrer frühen Schiffe wissen wir nicht viel, aber die ab 1200<br />
vorkommenden Schiffstypen sind bekannt. Die friesische Kogge, <strong>der</strong><br />
bekannteste Schiffstyp des 13. Jahrhun<strong>der</strong>ts, lässt sich bis ins 9. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
zurückverfolgen. Man kann davon ausgehen, dass die rundliche Bauform seit<br />
jeher das Charakteristikum <strong>der</strong> friesischen Schiffe war. <strong>Das</strong> Wort Kogge ist mit<br />
dem altgermanischen «kuggon» (krümmen, sich wölben) verwandt, die<br />
Bezeichnung Kogge bezieht sich auf die breite, gerundete Schiffsbauweise. Ein<br />
Nachfolger <strong>der</strong> Kogge war die Kuff, eine Bezeichnung, die sich aus<br />
«kopfardie», dem späteren «Kauffahrtei» (Kauffahrerschiff), herleitet. Kuffen<br />
besassen einen breiten Rumpf mit ziemlich flachem Boden, auffallend breitem<br />
Vorschiff und fast senkrechtem Achtersteven. Wegen ihres kurzen Kiels hatten<br />
sie anfangs Seitenschwerter zur Verringerung <strong>der</strong> Abdrift und <strong>der</strong> Kentergefahr,<br />
wie sie die holländischen Flachwassersegler noch heute tragen. Sie waren 16 bis<br />
24 Meter lang, 4 bis 6 Meter breit und hatten eine Verdrängung von 40 bis 125<br />
BRT. Sie waren zweimastig als Ketch o<strong>der</strong> Schoner getakelt.<br />
Der vor<strong>der</strong>e Grossmast war mit Rahsegeln bestückt, am Achtermast wurde ein<br />
Gaffelsegel gesetzt. Am grossen Bugspriet konnten zwei Vorsegel (Fock und<br />
Klüver) gesetzt werden. An<strong>der</strong>e Schiffe hiessen Tjalk, Schmack, Schnigge, Aak,<br />
Schute und Mutte.<br />
Kuff
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 28<br />
Tjalk<br />
<strong>Das</strong> bekannteste ist begreiflich,<br />
denn ihre schärfere Modell aber<br />
wurde die Schaluppe. Ihr Name<br />
leitet sich von «sloep» o<strong>der</strong> «slup»<br />
(gleiten, schlüpfen) ab. <strong>Das</strong><br />
Bauform hebt sie deutlich von <strong>der</strong><br />
plumperen Kuff und <strong>der</strong> Tjalk ab.<br />
Schaluppen hatten ebenfalls Seitenschwerter, waren aber schmaler gebaut und<br />
an beiden Masten als Gaffelsegler<br />
getakelt. Wegen ihrer guten<br />
Segeleigenschaft wurden schwertlose,<br />
kleine Formen <strong>der</strong> Schaluppen später<br />
von <strong>der</strong> britischen Marine als Beiboote<br />
zur Erforschung unbekannter<br />
Ankergründe und Buchten mitgeführt.<br />
Schaluppe «Elbe»<br />
Seit 834 wandten sich dänische Wikinger dem Kontinent zu, besetzten Friesland<br />
und setzten sich dort fest. Da sie sich mit <strong>der</strong> angestammten Bevölkerung<br />
mischten und die Friesen eine ähnlich stolze Vorstellung von Freiheit hatten wie<br />
die Wikinger, blieb die Bezeichnung Friesen für die Bewohner <strong>der</strong><br />
Nordseeküsten erhalten. <strong>Das</strong> Wort Wiking bedeutet «Bewohner <strong>der</strong> Buchten und<br />
Fjorde», ein Hinweis auf die zerrissenen Küsten ihrer angestammten Heimat in<br />
Skandinavien. Sie waren hervorragende Seeleute. Ihre hölzerner Schiffe waren<br />
lang und schmal, Bug und Heck von gleicher hochgezogener Form, oft in einen<br />
Drachenkopf o<strong>der</strong> eine Rosette auslaufend. Die Handelsfahrzeuge waren kürzer<br />
und breiter als die für den Kampf gedachten Langschiffe, die gut 40 Meter lang<br />
sein konnten. 30 Paar Riemen und ein in Schiffsmitte errichteter Mast mit<br />
Rahbesegelung brachten das Schiff auf erstaunliche Geschwindigkeiten. <strong>Das</strong><br />
farbige Leinwandsegel, gestreift o<strong>der</strong> gemustert, wurde von kräftigen Seilen<br />
verstagt, damit es den stürmischen Winden <strong>der</strong> Nordmeere gewachsen war.<br />
Während Regierungszeit Karl des Grossen hatten die Wikinger bereits überall<br />
Angst und Schrecken verbreitet. Mit ihren langen und schmalen Schiffen waren<br />
sie zweihun<strong>der</strong>t Jahre früher aus dem hohen Norden, aus Dänemark, Schweden<br />
und Norwegen aufgetaucht, weshalb man sie «Nordmänner» – Normannen –
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 29<br />
nannte. Der geringe Tiefgang ihrer Schiffe liess es zu, dass sie auch kleinere<br />
Flüsse stromaufwärts ru<strong>der</strong>n konnten, wo man sie kaum erwartete. Schnell<br />
waren die Masten gelegt, die Pferde an Land gebracht: Wie ein Wirbelsturm<br />
fielen die Wikinger über Klöster, Städte und Dörfer her. Bald hatten die<br />
norwegischen Wikinger die Britischen Inseln erreicht, gelangten um 860 nach<br />
Island, entdeckten 982 unter Erik dem Roten Grönland und unter Leif Eriksson<br />
im Jahre 1000 Nordamerika. Die Dänen eroberten die Nordseeküsten und<br />
überfielen immer wie<strong>der</strong> England, konnten sich aber dort vorerst nicht halten.<br />
911 setzten sie sich unter Führung Rollos in <strong>der</strong> Normandie fest und drangen<br />
später bis ins Mittelmeer vor. Schwedische Wikinger waren seit dem 9.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t im Ostseeraum aktiv; sie gelangten über Nowgorod bis nach Kiew<br />
und zur Wolga und zum Schwarzen Meer. Im Jahre 862 griffen sie gar die Stadt<br />
Konstantinopel an, wurden zwar abgeschlagen, kamen aber 907 wie<strong>der</strong> und<br />
konnten erst 941 wie<strong>der</strong> verjagt werde.<br />
Einflussbereich <strong>der</strong> Wikinger<br />
Bisher waren die Meere des<br />
Nordens fast ausschliesslich als<br />
Eroberungswege genutzt worden.<br />
Die schon erzählte Eroberung<br />
Englands durch die Normannen<br />
hingegen gelang erst im Jahre<br />
1066; sie beendete die Raubzüge<br />
<strong>der</strong> Wikinger, aus den Plün<strong>der</strong>ern<br />
wurden Siedler und Händler. Ihre<br />
Schiffe wurden breiter, hatten<br />
einen grösseren Tiefgang und<br />
konnten wesentlich mehr laden. Getreide, Bauholz, Stoff, Fisch und Mauersteine<br />
fanden den Weg über das Meer zu fremden Häfen. Was die Hinwendung zur<br />
Seefahrt ausmacht, blieb Nordeuropa kaum hinter dem Süden zurück. Nur <strong>der</strong><br />
arktische Teil verharrte noch lange im Dunkel <strong>der</strong> Unwissenheit.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 30<br />
Die Gefahren <strong>der</strong> Landwege (I)<br />
Die Seidenstraße<br />
«Die Pax Romana». Der Zerfall des Römischen Reiches hatte mehr als<br />
nur den Wegfall einer zentralen Regierungsgewalt und den Verlust <strong>der</strong><br />
ordnenden Rechtsprechung und Verwaltungsstruktur zur Folge. Schlägt man das<br />
Buch <strong>der</strong> geschichtlichen Daten auf, könnte man glauben, dass auch unter <strong>der</strong><br />
Römerherrschaft ein Krieg den an<strong>der</strong>en ablöste und kein Ende <strong>der</strong> unruhigen<br />
Zeiten auszumachen sei. Aber das stimmt nur bedingt. Zwar fanden im<br />
römischen Riesenreich immer wie<strong>der</strong> kriegerische Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit<br />
den unterworfenen Völkern statt; immer wie<strong>der</strong> gab es Versuche <strong>der</strong><br />
Unterlegenen, das Joch <strong>der</strong> Fremdherrschaft abzuschütteln. Auch zettelten<br />
häufig konkurrenzierende Generäle o<strong>der</strong> Konsule, die die Macht im Staate<br />
erringen wollten, blutige Aufständen o<strong>der</strong> Revolutionen an, und nicht selten<br />
hatten <strong>der</strong>lei Auseinan<strong>der</strong>setzungen einen Umsturz <strong>der</strong> Regierung zur Folge.<br />
Aber meist waren nur einige Landstriche von diesen Unruhen betroffen; im<br />
grössten Teil des römischen Herrschaftsbereiches blieb <strong>der</strong> Friede erhalten. Die<br />
seit Kaiser Augustus um die Zeitenwende geltende Pax Romana – eine<br />
Gesetzessammlung, welches die Rechtsnormen für jeden einzelnen Bürger<br />
enthielt – garantierte weitgehende Rechtsgleichheit und Schutz <strong>der</strong> von den<br />
Griechen übernommenen Zivilisation. Die Sicherheit <strong>der</strong> See- und Landwege im<br />
römischen Herrschaftsbereich war dadurch über mehrere Jahrhun<strong>der</strong>te<br />
weitgehend gegeben, was die Wirtschaft stabilisierte und dem Verkehr und<br />
Handel grosse Konstanz verlieh.<br />
West- und Ostrom. Im Jahre 330 machte Kaiser Konstantin I. die am<br />
Bosporus gelegene Stadt Byzanz, vorwiegend aus aussenpolitischen Gründen,<br />
zur Hauptstadt des römischen Reiches und taufte es in Konstantinopolis um. <strong>Das</strong><br />
heutige Istanbul trug diesen Namen bis 1930. Konstantin und seine Nachfolger<br />
tolerierten das Christentum, Kaiser Theodosius I. machte es im Jahre 381 für<br />
alle Reichsangehörigen verbindlich und erhielt dafür von <strong>der</strong><br />
Geschichtsschreibung das Attribut «<strong>der</strong> Grosse». 395 wurde das Reich unter die<br />
beiden Söhne des Theodosius, Honorius und Arcadius, in eine West- und eine<br />
Osthälfte geteilt. Im Oströmischen<br />
Reich entwickelten sich nach und nach<br />
die christlich-orientalischen Kirchen,<br />
die wir heute unter dem Sammelbegriff<br />
Orthodoxe Kirche kennen.<br />
Kaiser Konstantin <strong>der</strong> Große, 272–337.<br />
(Fresco von 1245)
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 31<br />
Diese hatte aus ihren Anfängen an ein an<strong>der</strong>es Christus-Verständnis als die<br />
Römische (katholische) Kirche; vor allem lehnte sie auch den<br />
Jurisdiktionsprimat ab, <strong>der</strong> dem Papst die oberste und unfehlbare<br />
Entscheidungsgewalt in Fragen des Glaubens einräumt. <strong>Das</strong> Byzantinische<br />
Reich übernahm bruchlos eine aus <strong>der</strong> Spätantike stammende Kunst, <strong>der</strong>en<br />
Einfluss auch nach Westeuropa vordrang (z.B. die Mosaiken in Ravenna). Es<br />
musste sich aber auch Jahrhun<strong>der</strong>te hindurch gegen Vandalen, Ostgoten,<br />
Awaren, Slawen, Araber und Seldschuken verteidigen. Trotzdem hatte es bis zur<br />
Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Osmanen Bestand. Die christlichorientalischen<br />
Kirchen haben den Kalten Krieg unseres Jahrhun<strong>der</strong>ts überlebt<br />
und erfahren gegenwärtig eine Renaissance in Bulgarien, Serbien und Russland<br />
wie in Griechenland.<br />
<strong>Das</strong> Weströmische Reich hingegen zerfiel: wegen <strong>der</strong> Einfälle <strong>der</strong> Germanen,<br />
die 410 (Westgoten) und 455 (Vandalen) Rom plün<strong>der</strong>ten, löste sich das Reich<br />
unter wechselnden Kaisern rasch auf und endete 476 mit <strong>der</strong> Entthronung des<br />
Romulus Augustus durch den germanischen Söldnerführer Odoaker.<br />
«Jahrhun<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Verdüsterung». Nach dem Fall Roms begannen die<br />
«Jahrhun<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Verdüsterung». Wegelagerer bedrohten die Sicherheit <strong>der</strong><br />
Reisenden, die wissenschaftliche Neugier erstarb, und <strong>der</strong> Forschergeist, <strong>der</strong><br />
einst zur einigenden Kraft <strong>der</strong> Antike gehört hatte, verödete. In dieses Vakuum<br />
strömte ein an<strong>der</strong>er, neuer Geist <strong>der</strong> «Welterforschung». Er ging von einer<br />
neuen, immer mächtiger werdenden Institution aus und trieb die geistige<br />
Entwicklung des Abendlandes in eine an<strong>der</strong>e Richtung.<br />
<strong>Das</strong> geistige Zentrum <strong>der</strong> mittelalterlichen Welt war die Römische Kirche. Sie<br />
sah ihre Hauptaufgabe im Auftrage Christi. Dem Evangelium gehorchend<br />
(«Gehet hinaus in alle Welt und lehret alle Völker»), sandte sie Missionare in<br />
die entlegensten Gegenden <strong>der</strong> Welt, bekehrte Heiden zum Christentum und<br />
machte Rom zum Sitz <strong>der</strong> Nachfolger Christi, <strong>der</strong> Päpste. Die Ewige Stadt<br />
wurde zu einem neuen, an<strong>der</strong>en Zentrum <strong>der</strong> Welt! Aber für die Erweiterung des<br />
geographischen Wissens war sie eher ein Hin<strong>der</strong>nis. Die Vorstellung <strong>der</strong> Kirche<br />
vom Antlitz <strong>der</strong> Erde wurde von <strong>der</strong> Bibel vorgegeben, daher wurden<br />
Neuentdeckungen, die sakrosankte Glaubensgrundsätze in Frage stellten,<br />
ignoriert.<br />
Beson<strong>der</strong>s Harz. Doch die Kirche brauchte Weihrauch für ihre kultischen<br />
Zeremonien. Venedig schaffte ihn aus Rhodos, Antiochia und Tyros herbei,<br />
Genuas Handelsschiffe luden ihn in Famagusta auf Zypern, in Beirut und<br />
Alexandria, Segelschiffe aus Venedig und Genua brachten ihn aus dem östlichen<br />
Mittelmeer und den Handelsplätzen Nordafrikas in die Häfen Europas. Mit<br />
Karawanen war er aus <strong>der</strong> Tiefe Arabiens dorthin gelangt; dort wuchs, dornig<br />
und verkrüppelt, die Boswellia, <strong>der</strong> Weihrauchstrauch, dessen brennendes Harz
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 32<br />
den betörenden Duft verbreitet. Man wusste von <strong>der</strong> «Weihrauchstrasse», dem<br />
alten Handelsweg, <strong>der</strong> seit Menschengedenken vom Süden <strong>der</strong> arabischen<br />
Halbinsel über mehrere Verzweigungen an die Küsten des Mittelmeeres führte.<br />
Festhalten am alten Weltbild. Eine dogmatische Weltschau, die sich auf<br />
die Bibel berief, machte die in <strong>der</strong> Antike bereits als Kugel erkannte Erde nun<br />
wie<strong>der</strong> zur Scheibe: im Alten Testament, aber auch in den Briefen des Apostel<br />
Paulus, findet man Textstellen, die auf die Vorstellungen und Lehren <strong>der</strong> alten<br />
Sumerer und Babylonier zurückgehen. Danach war die Erde eine Scheibe, die<br />
auf dem Abgrund ruht und vom Urmeer umflossen ist. Auf dem Abgrund stehen<br />
Säulen, die das Himmelsgewölbe tragen. Auf <strong>der</strong> Unterseite dieses Gewölbes<br />
sind die Fixsterne befestigt; dort wan<strong>der</strong>n auch die Sonne, <strong>der</strong> Mond sowie die<br />
Planeten auf von Gott vorgegebenen Bahnen. Beson<strong>der</strong>e Kammern im<br />
Himmelsgewölbe<br />
enthalten Vorräte von<br />
Regenwasser, Schnee,<br />
Hagel und Tau, die<br />
von Zeit zu Zeit durch<br />
spezielle Öffnungen<br />
auf die Erde<br />
herabfallen. Hohe<br />
Berge stossen gar am<br />
Himmel an, wo sie<br />
dann das Quellwasser<br />
für die Flüsse<br />
anzapfen.<br />
<strong>Das</strong> heliozentrische Weltsystem des Nikolaus Kopernikus, bei dem die Sonne den Mittelpunkt<br />
des Universums bildet<br />
Dieses Weltbild wurde nun für die Kirche als göttliche Offenbarung zur<br />
Lehrmeinung und durfte nicht angezweifelt werden. Aber die unstillbare<br />
Neugier, <strong>der</strong> Drang zu forschen, zu wissen und darum zu entdecken, war zwar<br />
mitunter gefährlich, schlief aber in Europa nie ganz ein. Selbst die Kirche trieb<br />
die Erkundung nach Handelsmöglichkeiten mit fernen, fremden Län<strong>der</strong>n oft<br />
genug selbst voran; aber das geschah mit grosser Verschwiegenheit, um das<br />
gewöhnliche Volk nicht in Glaubenszweifel zu stürzen.<br />
Die Suche führte zunächst über Land. <strong>Das</strong> war mühselig und reich an Gefahren.<br />
Nach dem Scheitern <strong>der</strong> Kreuzzüge richtete sich die Neugier <strong>der</strong> forschenden<br />
Geister allmählich nach Osten. Mönche bildeten die Vorhut für die Entdeckung<br />
Asiens durch Europa. Die Pioniere <strong>der</strong> Entdeckungen, die zu Lande gegen Osten<br />
zogen, mussten anpassungsfähig, sprachbegabt und freundlich sein. Zu zweit
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 33<br />
o<strong>der</strong> zu dritt wan<strong>der</strong>ten sie zu Fuss den grossen Handelsstrassen entlang, die sie<br />
zu ihrem Erstaunen überall antrafen. Sie schlossen sich den Karawanen an o<strong>der</strong><br />
wan<strong>der</strong>ten einsam, ernährten sich aus dem Land, das sie gerade durchquerten,<br />
und hatten viele zufällige Begegnungen.<br />
Freund o<strong>der</strong> Feind? Die Schwierigkeit ihrer Lebensweise lag darin, jede<br />
Situation richtig abschätzen zu müssen. Lauerten in diesem Wald Räuber? Ist<br />
dieser Gasthof sicher? Kann man das fremde Essen vertragen? Wird man von<br />
den berittenen Patrouillen <strong>der</strong> fremden Herrscher als feindlich o<strong>der</strong> friedlich<br />
eingestuft? Soll man sich wie die Einheimischen kleiden und sich auf diese<br />
Weise tarnen o<strong>der</strong> sollte man sich durch die eigene Kleidung von vornherein als<br />
Fremdling zu erkennen geben? Wie schnell kann man die fremde Sprache<br />
erlernen und wann redet man akzentfrei wie die Eingeborenen? Werden wir ins<br />
Stadttor eingelassen? Ob wir wohl je<strong>der</strong>mann von unserer friedlichen Absicht<br />
überzeugen können? <strong>Das</strong> Reisen über Land war ein mühsames und gefahrvolles<br />
Unterfangen. Es konnte Jahre dauern. Die Mönche o<strong>der</strong> Kaufleute mussten<br />
unterwegs oftmals einen Beruf ausüben, um an das landesübliche<br />
Zahlungsmittel zu kommen und die Sprache zu erlernen. Der Reisende konnte<br />
reiten o<strong>der</strong> ein Maultier o<strong>der</strong> Kamel als Lasttier mitführen; er konnte eine<br />
Strecke als Passagier zu Schiff zurücklegen: aber immer war er ein Frem<strong>der</strong>.<br />
Nicht zufällig leitet sich das englische Wort «travel» für Reise von «travail» für<br />
Arbeit ab.<br />
Für die einfachen Leute – auch die einfachen Pfarrer und «Leutpriester» – war<br />
die Erde nach wie vor eine Scheibe. Aber in den Archiven des Vatikans lagerten<br />
die aus <strong>der</strong> Antike und Frühzeit geretteten Schriften und wissenschaftlichen<br />
Werke; die Päpste, Kardinäle, ihre geistlich-wissenschaftlichen Berater, aber<br />
auch manch weltlicher Herrscher (wie die Dogen von Venedig o<strong>der</strong> die Herzöge<br />
von Florenz) liessen nicht nach, die Welt zu erforschen.<br />
Die Kunde von «Cathay», dem geheimnisvollen Land im fernen Osten, war mit<br />
den Luxusgütern nach Venedig, Genua und in den Vatikan gelangt; die reichen<br />
Kaufleute haben von ihren maurischen (muslimischen) Handelspartnern <strong>der</strong><br />
Levante erfahren, dass diese kostbaren Waren – erotisch knisternde Seide,<br />
kostbare Teppiche, verheissungsvoll glitzernde Diamanten und betörend<br />
duftende Gewürze – auf zwei Haupthandelsstrassen ins Mittelmeer gelangten.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 34<br />
Der Verlauf <strong>der</strong> Seidenstrasse<br />
Die erste begann in China und führte über Land durch Zentralasien nach Indien<br />
und weiter bis nach Syrien und in den Libanon; das war die Seidenstrasse. Die<br />
an<strong>der</strong>e führte zuerst über Wasser, und zwar über das Südchinesische Meer und<br />
den Indischen Ozean zur Arabischen See, dann entwe<strong>der</strong> durch den Persischen<br />
Golf nach Basra o<strong>der</strong> durch das Rote Meer nach Suez. Dann mussten die Waren<br />
über Land transportiert werden, nach Palästina und Syrien, nach Antiochia,<br />
Sidon und Beirut o<strong>der</strong> durch Ägypten nach Alexandria, Tripolis, Tunis o<strong>der</strong><br />
Cëuta. Und dieser zweite Weg war – wie die Weihrauchstrasse – eine Domäne<br />
<strong>der</strong> maurischen Händler.<br />
Die Weihrauchstrasse<br />
Verkannte Mongolen. Im<br />
Fernen Osten hatte in <strong>der</strong> ersten<br />
Hälfte des 11. Jahrhun<strong>der</strong>ts –<br />
unbemerkt von den Europäern –<br />
<strong>der</strong> Mongolenfürst Dschingis<br />
Khan mit seinen Reiterhorden<br />
Peking erobert und die Yuan-<br />
Dynastie errichtet. Die<br />
Mongolen eroberten in <strong>der</strong> Folge<br />
ganz Ostasien, wandten sich
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 35<br />
dann nach Westen und drangen durch Russland bis nach Polen und Ungarn vor.<br />
Als Kublai Khan 1259 den Mongolenthron bestieg, dehnte sich sein<br />
Herrschaftsraum von China bis an die Donau, von Sibirien bis an den Persischen<br />
Golf.<br />
Einhun<strong>der</strong>t Jahre hatte dieses Reich Bestand, und in dieser Zeit hiessen die<br />
Khane westliche Kaufleute willkommen, hielten die Zölle niedrig und sicherten<br />
die Karawanenstrassen vor Räubern. Weil sich das christliche Abendland aber<br />
von den Mongolen bedroht fühlte, haben die Mongolenherrscher bei uns (und in<br />
China) bis heute keinen guten Ruf; in Wahrheit waren sie fähige Regenten,<br />
hatten militärisches Genie, persönlichen Mut und entwickelten neben<br />
administrativer Vielseitigkeit eine grosse kulturelle Toleranz.<br />
Der tatkräftige Papst Innozenz IV., <strong>der</strong> 1243 den Stuhl Petri bestiegen hatte,<br />
organisierte bald darauf die Christenheit gegen die Gefahr eines weiteren<br />
Tatarenvorstosses nach Mitteleuropa. Er berief das Konzil zu Lyon ein, um<br />
«Mittel gegen die Tataren und an<strong>der</strong>e Verächter des Glaubens Christi» zu<br />
finden. Man beschloss, ein Verteidigungsheer aufzustellen, Mauern zu bauen,<br />
Gräben auszuheben und Barrikaden zu errichten; zur Finanzierung wurden<br />
Kontributionen erhoben.<br />
An<strong>der</strong>seits war dem Papst auch die verhältnismässig grosse Neugier des Khans<br />
gegenüber dem Westen zu Ohren gekommen. Aber seinen richtigen Namen<br />
kannte er nicht; man nannte ihn den «Grossen Khan». Weil die Mongolen auch<br />
den grössten Feind <strong>der</strong> Christenheit, die Türken, nie<strong>der</strong>geworfen hatten, glaubte<br />
Innozenz, die Mongolen vielleicht auf an<strong>der</strong>e Art von einem Vorstoss nach<br />
Westen abhalten zu können. Er wagte den Versuch, Kontakt zu dem<br />
Mongolenherrscher aufzunehmen, vielleicht in <strong>der</strong> vagen Hoffnung, ihn gar zum<br />
Christentum bekehren zu können.<br />
Am Hof des Khan. Noch nie war ein Europäer in die Tatarenhauptstadt<br />
gelangt und zurückgekehrt, aber <strong>der</strong> Papst hatte eine sehr glückliche Hand bei<br />
<strong>der</strong> Auswahl seines Gesandten: <strong>der</strong> Franziskaner Johannes von Pian de Carpine<br />
(1180-1252), ein Gefährte des heiligen Franz von Assisi, erwies sich als <strong>der</strong><br />
beste Mann für diesen Auftrag. Johannes wurde von einem weiteren<br />
Franziskaner begleitet, Bru<strong>der</strong> Benedikt <strong>der</strong> Pole. Die beiden reisten zu Fuss und<br />
zu Pferd quer durch Osteuropa und Mittelasien, trotzten den eisigen Stürmen<br />
und <strong>der</strong> Kälte <strong>der</strong> Hochsteppen, quälten sich durch den Tiefschnee des<br />
Altaigebirges und dürsteten in <strong>der</strong> Hitze <strong>der</strong> Wüste Gobi. Der dreissigseitige<br />
Bericht des Johannes von Pian über die zwei Jahre dauernde Reise ist noch<br />
heute eine gut beobachtete Beschreibung des Tatarenreiches:<br />
«Und dann kamen wir, nachdem wir durch die Gnade Gottes vor den Feinden<br />
des Kreuzes Christi gerettet worden waren, nach Kiew, <strong>der</strong> Hauptstadt von
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 36<br />
Russland. Nach unserem Eintreffen holten wir uns dort Rat über unseren<br />
Reiseweg. Man sagte uns, dass unsere Pferde auf dem Weg in die Tatarei alle<br />
verenden würden, weil <strong>der</strong> Schnee hoch lag, denn sie wüssten nicht das Gras<br />
unter dem Schnee auszugraben, wie die Tatarenpferde. Etwas an<strong>der</strong>es würden<br />
wir unterwegs nicht für unsere Tiere zu fressen finden, und die Tataren hätten<br />
we<strong>der</strong> Stroh noch Heu noch Futter. So beschlossen wir, unsere Pferde<br />
dazulassen. (...) Ich war krank und dem Tode nahe; wir konnten uns ein Stück<br />
weit noch einer Karawane anschliessen, und um <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong> Christenheit nicht<br />
zu schaden, liess ich mich in <strong>der</strong> starken Kälte durch den tiefen Schnee in einem<br />
Schlitten mitschleppen.»<br />
Johannes verhehlte nirgends das Ziel seiner Reise; oft schmeichelte er seinen<br />
manchmal wi<strong>der</strong>willigen Gastgebern Führer und Pferde ab, um schneller<br />
voranzukommen. Sie vernahmen, dass <strong>der</strong> Mongolenkaiser gestorben war und<br />
ein neuer gewählt werden sollte. Dann hörten sie von einem Stammesfürsten mit<br />
Namen Kuyuk Khan, dessen Hauptlager damals im Karakorum im Zentrum <strong>der</strong><br />
Mongolei gelegen war. Johannes und Benedikt trafen eine geschichtlich richtige<br />
Entscheidung: sie würden Kuyuk Khan aufsuchen!<br />
Ihr Besuch bei diesem Mongolenfürsten sollte das Bild, das sich die westliche<br />
Welt vom Osten machte, gera<strong>der</strong>ücken. Den Weg von <strong>der</strong> Wolga bis zu Kuyuk<br />
Khans Quartier schafften die mutigen Brü<strong>der</strong> in dreieinhalb Monaten. Als sie<br />
dort im August ankamen, waren gerade zweitausend Häuptlinge versammelt, die<br />
ihren neuen Kaiser gewählt hatten. In einem Zelt «mit Goldplatten und goldenen<br />
Nägeln beschlagen» hielt Kuyuk Khan, <strong>der</strong> neue Herrscher, seine erste Audienz:<br />
«Sie fragten uns, ob wir unsere Geschenke übergeben wollten; aber wir hatten<br />
bereits alles verbraucht und konnten dem Kaiser nichts geben. Da liess uns <strong>der</strong><br />
Khan warten. Auf einem Hügel in <strong>der</strong> Nähe standen wohl fünfhun<strong>der</strong>t Karren,<br />
alle voller Gold, Silber und Seidengewän<strong>der</strong>. <strong>Das</strong> alles wurde zwischen dem<br />
Kaiser und den Häuptlingen aufgeteilt, und die Häuptlinge gaben auch ihren<br />
Männern einen reichen Anteil.<br />
Dann wurden wir wie<strong>der</strong> vorgelassen, um die Botschaft unseres Heiligen Vaters<br />
zu überbringen, die da lautete: Alle Christen sind Freunde <strong>der</strong> Tataren. Damit<br />
die Tataren mit <strong>der</strong> Macht Gottes im Bunde seien, müssten sie den christlichen<br />
Glauben unseres Herrn Jesu Christi annehmen. Der Papst sei betrübt, dass die<br />
Tataren so viel Christen erschlagen haben, die ihnen nichts getan haben, und er<br />
dränge sie zur Busse und bat sie, ihm zu schreiben, was sie in diesen Dingen tun<br />
wollen.»<br />
Die Naivität des Papstes liess den Grosskhan unwillig werden, doch die beiden<br />
son<strong>der</strong>baren Reisenden genossen seine Gastfreundschaft, und die war heilig. So<br />
blieb Kuyuk Khan gnädig und gab Bru<strong>der</strong> Johannes zwei Briefe an den Papst<br />
mit, in denen er erklärte, dass er und seine Leute nicht bereit seien, den
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 37<br />
christlichen Glauben anzunehmen. Dann schlug er vor, den Franziskanern einen<br />
eigenen Botschafter für den Papst mitzugeben, «aber wir fürchteten, dass sie<br />
unsere Kräfte erkundigen wollten, was sie ermutigen könne, gegen uns zu<br />
marschieren. Nur mit grosser List konnten wir den Khan von diesem Plane<br />
abhalten.»<br />
So gab Kuyuk Khan am 13. November 1246 Bru<strong>der</strong> Johannes und seinem<br />
Gefährten die Erlaubnis zur Abreise. Er hatte sie mit Schutzbriefen ausgestattet,<br />
und so gelangten sie im Herbst 1247, ein Jahr nach ihrer Abreise aus dem<br />
Karakorum, wohlbehalten wie<strong>der</strong> in Rom ein. Johannes erstattete Papst<br />
Innozenz IV. persönlich Bericht und verfasste danach seine schriftlichen<br />
Aufzeichnungen. Die beiden Ordensmänner waren die ersten Augenzeugen<br />
mongolischer Wesensart.<br />
Die Gefahren <strong>der</strong> Landwege (II)<br />
Marco Polos Reise nach China<br />
Enttäuschungen … 1248 überwinterte <strong>der</strong> französische<br />
König Ludwig IX. während des siebenten (letzten) Kreuzzugs<br />
auf Zypern. Dort traf fast gleichzeitig ein asiatisch aussehen<strong>der</strong> Mann ein, <strong>der</strong><br />
sich als Botschafter des Khans ausgab. Er berichtete, <strong>der</strong> Grosskhan sei zum<br />
Christentum übergetreten und begierig auf ein Bündnis gegen den Islam. Der<br />
König entsandte aufgrund dieser frohen Botschaft sofort den Dominikanerbru<strong>der</strong><br />
Andreas von Longumeau zum Khan, <strong>der</strong> das Hauptlager nach langer Reise auch<br />
wohlbehalten erreichte, aber eine herbe Enttäuschung erlebte: Kuyuk Khan war<br />
gestorben, die Regentin Ogul Gaimish behandelte ihn hochmütig und schickte<br />
ihn schliesslich mit einem unhöflichen Brief nach Europa zurück. Darin drohte<br />
sie, ihre Krieger wie<strong>der</strong> westwärts reiten zu lassen, aber we<strong>der</strong> sie noch <strong>der</strong><br />
Papst noch König Ludwig wussten damals, dass die mongolische Expansion<br />
bereits ihren äussersten westlichen Punkt erreicht hatte.<br />
Bru<strong>der</strong> Andreas hatte in Erfahrung gebracht, dass die Mongolen ursprünglich<br />
vom entgegengesetzten Ende einer grossen Sandwüste stammten, die am<br />
östlichen Ende <strong>der</strong> Welt beginne und von einer Mauer (<strong>der</strong> Grossen Mauer?)<br />
abgeschlossen sei. Fünf Jahre später starb Ogul Gaimish am Fieber; die<br />
folgenden Machtkämpfe scheinen Europa abermals gerettet zu haben. Es dauerte<br />
fünf Jahre, bis sich Kublai Khan, <strong>der</strong> Enkel Dschingis Khans, als Grosskhan<br />
durchsetzen konnte, doch dann hatte er die mongolische Herrschaft auf ganz<br />
China und auf Hinterindien ausgedehnt. Kublai Khan verlegte die Hauptstadt<br />
nach Peking und nannte die Stadt Kambaluk, «Stadt des Herrn». Er selbst nahm<br />
als chinesischer Kaiser den namen Shi Tsu an. Sein Hof und das gewaltige
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 38<br />
Reich, das er von dort aus regierte, sollte von einem <strong>der</strong> grössten<br />
Entdeckungsreisenden des Mittelalters beschrieben werden, von Marco Polo.<br />
«Kein Mensch» ... so beginnt Marco Polos Bericht stolz, «we<strong>der</strong> Christ<br />
noch Heide, we<strong>der</strong> Tatar noch In<strong>der</strong>, noch Angehöriger irgendeiner an<strong>der</strong>en<br />
Rasse (...) hat so viele Erdteile besucht und erkundet, und das ist gewisslich<br />
wahr.» Marco Polo reiste auf dem Landwege nach China und kehrte auf dem<br />
Seewege nach Europa zurück. Siebzehn Jahre verbrachte er dazwischen am<br />
Mongolenhof und reiste in dieser Zeit, meist im Auftrage des Kaisers, ausgiebig<br />
in Kublai Khans Reich umher. 1298, drei Jahre nach seiner Heimkehr, geriet<br />
Polo bei kriegerischen Auseinan<strong>der</strong>setzungen seiner Heimatstadt Venedig mit<br />
Genua in genuesische Gefangenschaft. Hier diktierte er einem Mitgefangenen,<br />
dem Schriftsteller Rustichello aus Pisa, sein berühmtes und noch heute<br />
unterhaltsames Buch. Dabei hat wohl Marco Polo die Informationen und<br />
Rustichello die schriftstellerische Phantasie beigesteuert. Einige Angaben von<br />
<strong>der</strong> Reise, die Marco Polo von an<strong>der</strong>en erhielt, sind nicht immer genau, an<strong>der</strong>e<br />
gar falsch. Marco Polo hat auch vieles aufgeschrieben, was man ihm berichtet<br />
hat. Deshalb hat man ihn oft <strong>der</strong> Unwahrheit beschuldigt. Aber Marco Polo war<br />
ein scharfer Beobachter; heute weiss man, dass das, was er sah und selber<br />
erlebte, sachlich und genau beschrieben ist. Obwohl einzelne Historiker<br />
aufgrund von falschen Angaben und vermeintlichen Ungereimtheiten in den<br />
Reiseberichten immer wie<strong>der</strong> Zweifel geäußert haben, ob die Reise überhaupt<br />
stattgefunden hat, wird diese von den meisten Geschichtskennern als erwiesen<br />
angesehen. <strong>Das</strong> Buch war wohl <strong>der</strong> erste Bestseller überhaupt; wenige Jahre<br />
nach seinem Erscheinen war es in ganz Europa bekannt und eröffnete dem<br />
europäischen Publikum des 14. Jahrhun<strong>der</strong>ts eine völlig neue Welt. Europa, das<br />
seit <strong>der</strong> Spätantike durch die unüberwindliche Schranke <strong>der</strong> islamischen Reiche<br />
von China abgeschnitten war, trat erstmals wie<strong>der</strong> in Kontakt mit <strong>der</strong><br />
Zivilisation des Ferner Ostens.<br />
Zufälle. Marco Polo wurde um 1254 in<br />
Venedig geboren (Abb.). An<strong>der</strong>e Quellen<br />
behaupten, er stamme von <strong>der</strong> Insel Korcula in<br />
Dalmatien, die damals im Besitz Venedigs war.<br />
Er war noch ein Kind, als sein Vater Nicolo und<br />
sein Onkel Maffeo eine Handelsreise nach<br />
Konstantinopel und zum Schwarzmeerhafen<br />
Sudak beschlossen. Dort gab es eine kleine<br />
venezianische Kolonie, wo sie von einem<br />
Mongolenfürsten namens Barka Khan in <strong>der</strong><br />
Stadt Sarai an <strong>der</strong> Wolga hörten, <strong>der</strong> dem<br />
Handel mit westlichen Kaufleuten nicht<br />
abgeneigt sei. Nicolo und Maffeo Polo reisten<br />
also dort hin und wurden wohlwollend und
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 39<br />
ehrenvoll aufgenommen. Barkai Khan war ein Sohn des verstorbenen Dschingis<br />
Khan! Da brach zwischen Barkai Khan und einem rivalisierenden<br />
Mongolenfürst ein Krieg aus; den Polos war <strong>der</strong> Rückweg nach Venedig<br />
abgeschnitten. Sie beschlossen, auf Umwegen zurückzukehren. So reisten sie<br />
zunächst nach Buchara, wo sich gerade ein Gesandter des Grosskhans aufhielt.<br />
Er lud Nicolo und Maffeo ein, ihn zu<br />
begleiten und dem regierenden<br />
Herrscher Kublai Khan einen Besuch<br />
abzustatten; er werde die Kaufleute<br />
aus dem Westen schützen. Die Polo<br />
nahmen die Einladung an und<br />
erreichten nach einer einjährigen<br />
Reise, «auf <strong>der</strong> sie viele Wun<strong>der</strong><br />
verschiedener und merkwürdiger<br />
Art» erlebten, den Hof von Kublai<br />
Khan.<br />
Öl aus Jerusalem. Der Grosskhan erwies sich als ein sehr aufgeschlossener<br />
und umfassend neugieriger Mann, <strong>der</strong> begierig alles über das Abendland<br />
erfahren wollte. Kublai Khan war von konfuzianischen Gelehrten erzogen<br />
worden und vereinigte in sich die besten Traditionen chinesischer Kultur. Bevor<br />
die Mongolen China erobert hatten, galten sie bei den Chinesen als Barbaren,<br />
aber ihre Herrscher waren einsichtig genug, die Jahrtausende alte Kultur Chinas<br />
anzuerkennen. Sie waren wohl die einzigen Eroberer, die dem militärisch<br />
unterlegenen, aber kulturell überlegenen Gegner nicht ihre eigene Lebensart<br />
aufzwangen, son<strong>der</strong>n im Gegenteil die eher unzivilisierten nomadisierenden<br />
Mongolen dem Einfluss Chinas aussetzten und nacheiferten.<br />
Schliesslich bat er die beiden Brü<strong>der</strong>, als seine Gesandten an den Papst<br />
zurückzureisen. In einem Schreiben bat er um einhun<strong>der</strong>t Missionare, die in den<br />
Sieben Künsten (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie,<br />
Astronomie und Musik) geschult sein sollten, um seine Gelehrten über das<br />
Christentum und das Abendland in Kenntnis zu setzen. Hier zeigt sich die<br />
wissenschaftliche Neugier des Herrschers, denn von einer Bekehrung war<br />
wohlgemerkt nicht die Rede. Auch wolle er etwas Öl aus <strong>der</strong> Lampe vom<br />
Heiligen Grabe in Jerusalem.<br />
Als die Polo abreisten, hatten sie die «Goldenen Tafeln des Khans» bei sich,<br />
Urkunden, die für sicheres Geleit sorgten (Abb.). Aber als sie 1269 Venedig<br />
wie<strong>der</strong> wohlbehalten erreichten, erfuhren sie, dass Papst Clemens IV. gestorben<br />
war. Die Wahl eines neuen Papstes zog sich endlos hin; die Christenheit<br />
verpasste dadurch vielleicht eine grosse Chance! Als zwei Jahre später noch<br />
immer kein neuer Papst gewählt war, beschlossen die Brü<strong>der</strong>, unverzüglich nach
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 40<br />
China zurückzukehren. Diesmal nahmen sie Nicolos Sohn Marco mit. In<br />
Palästina erfuhren sie, dass <strong>der</strong> päpstliche Legat Tedaldo, <strong>der</strong> sich auch gerade<br />
in Palästina aufhielt, als Gregor X. zum Papst gewählt worden war. Der neue<br />
Papst erteilte ihnen den Segen und kam Kublais Wunsch nach hun<strong>der</strong>t<br />
christlichen Gelehrten durch die Delegation von zwei Klosterbrü<strong>der</strong>n entgegen.<br />
Keiner <strong>der</strong> beiden überlebte die Strapazen <strong>der</strong> Reise, doch konnten die Polo<br />
wenigstens das heilige Öl überbringen.<br />
Reise auf das «Dach <strong>der</strong> Welt» Marco Polo war bei <strong>der</strong> Abreise<br />
vierzehn Jahre alt. Von Palästina ging die Reise zunächst nach Hormus am<br />
Persischen Golf. Sein Bericht hält schon hier die erste Verlockung fest, die noch<br />
einhun<strong>der</strong>tvierzig Jahre später Prinz Heinrich den Seefahrer zu seinen grossen<br />
Entdeckungsplänen beflügelt haben mochten: «Der Hafen wird von Händlern<br />
aus allen Gegenden Indiens aufgesucht, die Gewürze und Spezereien, edle<br />
Steine, Perlen, Gold und Seide, Elfenbein und viele an<strong>der</strong>e Waren aus den<br />
entfernten Län<strong>der</strong>n des Ostens mitbringen. Von hier aus nehmen sie auch den<br />
Weg nach Europa.» Die Reisenden wandten sich dann nordwärts durch die<br />
persische Kerman-Wüste und in die kalten Berge von Badakhshan. Sie blieben<br />
dort ein Jahr, damit sich Marco in <strong>der</strong> reinen Bergluft von einer Krankheit<br />
erholen konnte, und handelten Rubine und Lapislazuli ein. «Es tummeln sich<br />
dort wilde Pferde», berichtet Marco Polo, «die von Alexan<strong>der</strong>s berühmten<br />
,Bukephalas' (seinem Lieblingspferd) abstammen; alle tragen sie ein Mal auf <strong>der</strong><br />
Stirn.» Dann ging es noch höher, durch ein Land mit Gletschern und vielen<br />
Gipfeln von mehr als siebentausend Metern Höhe: das Hochland von Pamir, von<br />
den Einheimischen als «Dach <strong>der</strong> Welt» bezeichnet.<br />
«So gross ist die Höhe <strong>der</strong> Berge, dass keine Vögel in <strong>der</strong> Nähe ihrer Gipfel zu<br />
sehen sind, und uns wurde versichert, dass wegen <strong>der</strong> Schärfe <strong>der</strong> Luft Feuer,<br />
die angezündet werden, nicht dieselbe Hitze geben wie in niedrigeren Gegenden<br />
und auch nicht so kräftig bei <strong>der</strong> Zubereitung <strong>der</strong> Speisen wirken.» – Marco<br />
Polos Bericht geht unterwegs auf viele Einzelheiten ein, zum Beispiel die<br />
Naturprodukte <strong>der</strong> Regionen und die Grundlagen des Lebensunterhaltes <strong>der</strong><br />
Einwohner, ihre Sitten, Religion und Gebräuche. Sie zogen weiter auf <strong>der</strong> alten<br />
südlichen Karawanenstrasse durch Kaschmir, wohin bis zum 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
kein Europäer mehr gelangen sollte (Abb. nächste Seite), dann nach Osten nach<br />
Lop am Rande <strong>der</strong> Wüste Gobi.<br />
Gesandter des Khans. Sie<br />
ruhten eine Woche aus und<br />
kauften, bevor sie die Wüste<br />
durchquerten, Vorräte ein, denn<br />
«auf diesem Wege trifft man keine<br />
vierfüssigen Tiere und keinen<br />
Vogel, weil kein Futter zu finden
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 41<br />
ist». Nach <strong>der</strong> Wüstendurchquerung erreichten sie Tangut an <strong>der</strong> Nordwestspitze<br />
Chinas, reisten – von Kurieren des Kaisers beschützt – sicher durch die<br />
mongolischen Steppen und gelangten nach dreieinhalb Jahren an den Hof des<br />
Grosskhans.<br />
Marco staunte über die Grösse des kaiserlichen Palastes, <strong>der</strong> von 7½ Meter<br />
hohen weissen Steinmauern umgeben war, über die grünen Palastgärten und die<br />
prachtvoll gekleideten Adligen. Kublai Khan empfing die Europäer herzlich und<br />
wie<strong>der</strong>um mit grossen Ehren. Nicolo stellte den inzwischen achtzehnjährigen<br />
Marco mit den Worten «Mein Sohn und Euer Gefolgsmann» vor. Kublai Khan<br />
unterhielt sich mit Hilfe eines Dolmetschers mit dem jungen Marco; er spürte<br />
dessen Begabung, teilte ihm einen Sprachlehrer zu und prüfte ihn, indem er ihm<br />
verzwickte Aufgaben stellte. Marco Polo gewann bald das Vertrauen des<br />
Herrschers, beson<strong>der</strong>s durch sein diplomatisches Geschick und seine Art, die<br />
Welt zu sehen und zu beschreiben. Der Khan sagte einmal zu einem seiner<br />
mächtigen Berater, es scheine ihm, dass nur Marco Polo gelernt habe, seine<br />
Augen zu gebrauchen. Marco hingegen verehrte den Khan und wurde sein treuer<br />
Diener. Marco wurde bald als Botschafter in die entfernteren Provinzen gesandt,<br />
wo er diplomatische – und wie es scheint auch delikate – Aufgaben zur<br />
Zufriedenheit des Khans erledigte.<br />
Manchmal reiste er auch in eigenen Angelegenheiten, aber immer mit <strong>der</strong><br />
Zustimmung des Grosskhans. Er lernte die unterschiedlichen Sitten und<br />
Gebräuche kennen. Die Mongolen tolerierten, wie schon gesagt, die Traditionen<br />
<strong>der</strong> unterworfenen Völker; Marco Polo hatte nun Gelegenheit, diese Völker<br />
selbst zu besuchen und zu beschreiben. Auf seinen Reisen gelangte er südwärts<br />
bis nach Hang-Tschou und weit landeinwärts nach Burma und Indien. Hang-<br />
Tschou war nach Marco Polos Worten «die prächtigste und schönste Stadt <strong>der</strong><br />
Welt», ein aufstrebendes Handelszentrum, auf dessen Märkten alles verkauft<br />
wurde, «was das Herz sich nur wünschen konnte». In Maabar an <strong>der</strong><br />
Koromandelküste im Osten Indiens befindet sich «die Heimat <strong>der</strong> Yogis, einer<br />
Glaubensgemeinschaft, die sehr enthaltsam leben, das Jahr herum fasten und nie<br />
etwas an<strong>der</strong>es als Wasser trinken»; nachts schliefen sie nackt ohne Decke auf<br />
dem Boden! In Tibet wie<strong>der</strong>um benutzten die Reisenden nachts das<br />
hochgewachsene Rohrholz zur Feuerung, weil es beim Verbrennen knallende<br />
Laute abgab, die geeignet waren, wilde Tiere zu erschrecken und abzuhalten.<br />
Die Tibeter haben die Sitte, keine Jungfrau zur Frau zu nehmen; im Gegenteil,<br />
<strong>der</strong> Wert <strong>der</strong> Frau steige mit ihrer Anzahl Liebhaber. «Ein herrliches Land für<br />
einen Vierundzwanzigjährigen» fügte Marco Polo vielsagend an.<br />
An an<strong>der</strong>er Stelle seines Berichts beschreibt er die Verwendung <strong>der</strong> Steinkohle:<br />
«An vielen Orten im Lande Cathai findet sich ein schwarzer Stein, den man aus<br />
den Bergen gräbt. Wenn man ihn anzündet, brennt er wie Holzkohle, erhält das<br />
Feuer aber weit besser als diese, so dass es die ganze Nacht erhalten werden<br />
kann.» Er lobt den Erfin<strong>der</strong>geist <strong>der</strong> Chinesen, erwähnt das Schiesspulver, den
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 42<br />
Kompass, die Druckerkunst, die Teehäuser und war vom freien Handel im<br />
Lande Kublai Khans beeindruckt: «Die Chinesen gebrauchen bedrucktes Papier,<br />
das eine bestimmte Menge Goldes symbolisiert, was praktisch ist, da <strong>der</strong> Kaiser<br />
den Gegenwert garantiert. Sie haben grosse Mengen roher Seide und verarbeiten<br />
sie<br />
nicht nur für ihren eigenen Gebrauch, son<strong>der</strong>n auch für an<strong>der</strong>e Märkte. (...) Die<br />
Marktplätze haben sehr grosse Ausdehnungen, weil sie eine ungeheure<br />
Menschenmenge aufnehmen müssen. An drei Tagen <strong>der</strong> Woche versammeln<br />
sich auf jedem <strong>der</strong> Plätze bis zu fünfzigtausend Menschen, um sich mit<br />
jeglichem Vorrat zu versehen. Es gibt viel Wild, wie Rehböcke, Hirsche, Hasen<br />
und Kaninchen, Rebhühner, Fasanen und Wachteln sowie eine Unmenge von<br />
Enten und Gänsen. (...) Sie haben dort auch Schlachthäuser, wo das Vieh<br />
geschlachtet wird, wie Ochsen, Kälber, Böcke und Lämmer. (...) Die Märkte<br />
sind von Kaufläden umgeben, wo alle Arten von Waren gelagert und verkauft<br />
werden, unter an<strong>der</strong>em Spezereien, Gewürze, Tand aller Art und Perlen.»<br />
Endlich nach Hause. Von Nicolo und Maffeo Polo wissen wir nicht viel<br />
aus jener Zeit; sicher hatten sie gewisse Freiheiten, denn sie haben «grosse<br />
Reichtümer an Juwelen und Gold erworben». Aber sie durften das Land nicht<br />
verlassen, «so oft sie den Kaiser auch darum baten. Er hatte sie liebgewonnen<br />
und genoss so sehr ihre Gesellschaft, dass ihn nichts dazu bewegen konnte, sie<br />
des Weges ziehen zu lassen.» Als jedoch 1292 die Mongolenprinzessin<br />
Kokachin mit dem Khan von Persien verheiratet werden sollte, war ein Geleit<br />
für eine Seereise zusammenzustellen.<br />
Gesandte des Persischen Herrschers<br />
hatten es bereits auf dem Landweg<br />
versucht, mussten aber wegen<br />
kriegerischer Unruhen umkehren. Den<br />
Polos gelang es, als Teil des Gefolges<br />
die Erlaubnis zur Abreise zu erhalten,<br />
weil <strong>der</strong> persische Gesandte den guten<br />
Ruf <strong>der</strong> Venezianer als Seefahrer<br />
kannte. Kublai Khan rüstete vierzehn<br />
Schiffe mit einem Gefolge von<br />
sechshun<strong>der</strong>t Personen und Vorräte für<br />
zwei Jahre aus, gab den Polos wie<strong>der</strong>um<br />
die «Goldenen Tafeln» mit, die sicheres<br />
Geleit garantierten. Danach schifften sie<br />
sich in Zaitun ein (Abb.).<br />
Nach einer nicht ungefährlichen<br />
Seereise durch das Südchinesische Meer<br />
nach Sumatra, Ceylon, Kalikut über den<br />
Indischen Ozean zum Hafen Hormuz
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 43<br />
konnte die Prinzessin unversehrt in Persien abgeliefert werden. Die Polo<br />
verweilten noch einige Zeit als Gäste am Hofe des persischen Herrschers, als sie<br />
eine schlimme Nachricht erreichte. Ihr grosser Freund und Beschützer Kublai<br />
Khan war gestorben. Ihre Mission, ein bleibendes Band zwischen Europa und<br />
China zu knüpfen, sollte nur hun<strong>der</strong>t Jahre Bestand haben. So reisten sie nach<br />
Konstantinopel ab. Prinzessin Kokachin hatte sich so sehr an die Venezianer<br />
gewöhnt, dass sie beim Abschied weinte.<br />
Den letzten Teil <strong>der</strong> Reise haben die Polo wie<strong>der</strong> zur See zurückgelegt: von<br />
Konstantinopel ging es die griechische Küste entlang und durch die Adria nach<br />
Venedig.<br />
Nach vierundzwanzig Jahren Abwesenheit gelangten Nicolo, Maffeo und Marco<br />
Polo wie<strong>der</strong> nach Hause. Marco Polos Buch war schon kurz nach seinem<br />
Erscheinen eine Sensation! Für die im 13. und 14. Jahrhun<strong>der</strong>t geltenden<br />
Massstäbe fand es schnelle Verbreitung, und bald war es an allen Zentren des<br />
gebildeten Abendlandes bekannt. Zwar gab es eine ganze Reihe einflussreicher<br />
Stimmen, die ihm nicht glaubten, son<strong>der</strong>n als Phantasten und Grossmaul<br />
verhöhnten, aber grossmütigere und sachlichere Geister waren fasziniert von<br />
dem, was Marco Polo beschrieb: von den schachbrettartig angelegten Städten<br />
Chinas und den grosszügigen Palästen, von <strong>der</strong> Papierherstellung und dem<br />
Papiergeld, von <strong>der</strong> Perlen- und Seidenindustrie, von <strong>der</strong> gewaltigen Flotte<br />
seetüchtiger Schiffe, von <strong>der</strong> merkwürdigen Heilkunst, bei <strong>der</strong> silberne und<br />
goldene Nadeln in die Haut gestochen werden, und von den vielen im<br />
Abendland bis dahin unbekannten Erfindungen (wie Seismographen und<br />
Entfernungsmesswagen). Sie liessen Polos Bericht überprüfen, indem sie<br />
Missionare und Händler über die Seidenstrasse in den Osten schickten. Die<br />
Mongolenkaiser sicherten die Wege und schützten die Reisenden, hun<strong>der</strong>t Jahre<br />
lang blühte <strong>der</strong> Handel auf dem vieltausend Kilometer langen Weg. Aber die<br />
Reise war langwierig, man musste in abgelegenen Orten überwintern, denn die<br />
Unbilden <strong>der</strong> Witterung, Schnee, Stürme und grosse Kälte machten im Winter<br />
das Reisen unmöglich. Der Länge <strong>der</strong> Reise – und damit <strong>der</strong> Kosten – entsprach<br />
auch die Verteuerung, die die Warenpreise dabei erfuhren. Als dann in <strong>der</strong><br />
zweiten Hälfte des 14. Jahrhun<strong>der</strong>ts die Kaiser <strong>der</strong> Ming-Dynasie (1368-1644)<br />
China aus <strong>der</strong> Mongolenherrschaft zurückeroberten, war Europa wie<strong>der</strong> von den<br />
Län<strong>der</strong>n des Ostens abgeschnitten, in denen Marco Polo so lange gelebt hatte.<br />
Die Geschichte erlaubt sich manchmal merkwürdige Kapriolen: Wären Marco<br />
Polo und Rustichello nicht im genuesischen Kerker zusammengetroffen, hätte<br />
die Nachwelt vielleicht kaum etwas vom Reich des Kublai Khan erfahren.<br />
Kolumbus' Vision vom westlichen Seeweg nach Indien ist nachweislich stark<br />
von Marco Polo beeinflusst worden; beson<strong>der</strong>s die grosse Ausdehnung Asiens<br />
nach Osten hat ihn in <strong>der</strong> Annahme bestärkt, <strong>der</strong> Atlantik sei nur ein schmales<br />
Gewässer und dahinter läge die Ostspitze Asiens. <strong>Das</strong> Buch Marco Polos aber<br />
regte auch die Einbildungskraft Heinrich des Seefahrers, Vasco da Gamas und<br />
an<strong>der</strong>er an, diese Län<strong>der</strong> nach Osten über das Meer zu suchen. Ein Satz Marco
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 44<br />
Polos mag sie dazu beson<strong>der</strong>s ermuntert haben: «Was ich geschrieben habe, ist<br />
nicht die Hälfte von dem, was ich gesehen habe.»<br />
Die kartographische Erfassung <strong>der</strong> Erde<br />
Land- und Seekarten – Symbole territorialer Machtansprüche<br />
Geographische Karten beeinflussten seit jeher das politische, wirtschaftliche<br />
und soziale Handeln. Soweit geschriebene Geschichte zurückreicht, Karten<br />
waren nicht nur Abbildungen <strong>der</strong> Erdoberfläche, son<strong>der</strong>n auch Ausdruck für das<br />
gerade geltende Weltbild <strong>der</strong> Gesellschaft. Heutige Landkarten kennen keine<br />
unbekannten Gefilde mehr; es gibt keine weissen Flecken, keine Geheimnisse –<br />
nichts, was es zu entdecken, zu erobern gäbe. Wie aber hat es einmal<br />
angefangen, mit <strong>der</strong> rätselhaften Macht <strong>der</strong> Karten?<br />
Nil – Beherrscher Ägyptens. Um das gültige, das richtige Bild <strong>der</strong> Erde wurde<br />
ein Jahrtausende langer Kampf geführt. Von den ahnungsvollen Abbildungen<br />
<strong>der</strong> Welt im Altertum über die phantasievollen Darstellungen des Mittelalters bis<br />
zur metergenauen Vermessung <strong>der</strong> Erde in <strong>der</strong> Jetztzeit war ein weiter Weg zu<br />
gehen, voller Abenteuer und Intrigen. Er mag im Nahen Osten vor 5000 Jahren<br />
begonnen haben. Damals beherrschte <strong>der</strong> Nil Ägyptens Leben; im alten Ägypten<br />
hing das Wohl <strong>der</strong> Menschen von <strong>der</strong> jährlichen Überschwemmung ab; eine<br />
Folge <strong>der</strong> tropischen Nie<strong>der</strong>schlägen in den weit im unbekannten Süden<br />
liegenden Bergen Innerafrikas.<br />
Die Nilfluten brachten das Leben auf die Welt, oft genug auch den Tod. Die<br />
Existenz <strong>der</strong> Bauern hing vom Wasserstand ab. So wurde er sorgsam Jahr für<br />
Jahr am steinernen Nilometer registriert: war <strong>der</strong> Wasserstand zu niedrig,<br />
konnten die Fel<strong>der</strong> nicht überflutet und mit dem fruchtbaren Schlamm bedeckt<br />
werden; alles verdorrte. War er zu hoch, dann ertrank das Korn. Mit seinen<br />
Hochfluten wusch <strong>der</strong> Nil auch jeweils die Ackergrenzen hinweg. Beamten <strong>der</strong><br />
Regierung zogen die Grenzen immer wie<strong>der</strong> neu; sie spannten Taue zwischen<br />
feststehende Steine und hatten so auch die Kontrolle über die dem Pharao<br />
zustehenden Abgaben. Äcker konnte <strong>der</strong> Mensch sehen und daher auch<br />
begreifen, aber die Welt in ihrer Unermesslichkeit liess sich nur im ewigen<br />
Rhythmus <strong>der</strong> Gottheit erfassen.<br />
Die Sonne im Feuerboot. Nut war im alten Ägypten die göttliche Mutter, die<br />
nachts die Sonne, ihr Kind, schluckte, um sie am Morgen neu zu gebären.<br />
Manche Menschen sahen die Sonne in einem feurigen Boot über den Himmel<br />
reisen, an<strong>der</strong>e glaubten an den riesigen Skarabäus, <strong>der</strong> die Sonnenkugel vor sich<br />
herrollt. Den Ägyptern strahlte die Sonne von einem Himmel, <strong>der</strong> von vier
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 45<br />
riesigen Türmen an den Ecken <strong>der</strong> flachen, rechtwinkligen Erde getragen wurde,<br />
und ein flacher Teller war die Erde in den Augen <strong>der</strong> Babylonier. In Babylon<br />
beobachteten Sterndeuter auf hohen Türmen, den Zikkuraten, den Himmel und<br />
befragten ihn nach dem Schicksal <strong>der</strong> Menschen. Babylon ist wohl <strong>der</strong> Ort, an<br />
dem die Sterne einen überirdischen Sinn erhielten; babylonische Astronomie<br />
war wahrscheinlich die Wiege allen Sternenwissens.<br />
Die Griechen statteten ihre Götter mit menschlichen Zügen und Schwächen aus<br />
und bauten ihnen herrliche Tempel, doch die Erklärung <strong>der</strong> Welt überliessen sie<br />
den Naturbeobachtern und Philosophen. Europas mo<strong>der</strong>ne Wissenschaft hat ihre<br />
Wurzeln in Kleinasien, wo sie im 6. Jahrhun<strong>der</strong>t vor <strong>der</strong> Zeitrechnung in Milet<br />
geboren wurde. Milet war vor zweieinhalbtausend Jahren eine reiche<br />
Handelsmetropole mit Hafen und Karawansereien. Hier lebten die Männer, die<br />
zum Erstenmal versuchten, die Erde verstandesgemäss zu erklären. Bevor ein<br />
Schiff in See ging, betete man zu den Göttern und brachte ihnen Opfer, auch<br />
Menschenopfer, dar.<br />
Die allererste Karte. Mit Männern wie Thales, Anaximan<strong>der</strong> und Archimedes<br />
begann das Studium <strong>der</strong> realen Welt. Thales lehrte die Seeleute, den Polarstern<br />
im Norden zu suchen und Anaximan<strong>der</strong> hat die allererste Karte gezeichnet.<br />
Beim Versuch, die Welt zu begreifen, gab es manchen Trugschluss: Thales sah<br />
die Welt als Floss auf dem Meer schwimmen; Anaximan<strong>der</strong> stellte sie sich wie<br />
einen in <strong>der</strong> Luft aufgehängten Zylin<strong>der</strong> vor, die durch eine riesige<br />
Wirbelbewegung aus dem «Unbegrenzten» entstanden ist. Doch ihre Antworten<br />
sind nicht so wichtig; was allein zählt, sind die Fragen, die sie sich stellten. Und<br />
diese lauteten: Woraus besteht die Welt, wie sieht sie aus? Von Menschen, die<br />
kaum mehr kannten als das Mittelmeer und Kleinasien, war das kaum zu<br />
beantworten. Von den Zikkuraten <strong>der</strong> Babylonier über die ägyptischen<br />
Pyramiden bis zu den Campanilen Italiens und den Wolkenkratzern New Yorks<br />
– immer wollten die Menschen in die Höhe klettern und von oben auf die<br />
«Welt» nie<strong>der</strong>schauen.<br />
«Sphärenmusik». Die Griechen gingen eigene Wege, um dem Geheimnis<br />
näherzukommen. Um 500 v. Chr. gab <strong>der</strong> griechische Philosoph Pytagoras dem<br />
Universum eine erste Einordnung. So wie die Länge <strong>der</strong> Saite an einer Harfe die<br />
Höhe des Tons bestimmt, so regeln musikalische Intervalle das pythagoreische<br />
Universum: Im Zentrum schwebt die Erde als Kugel, sie wird von<br />
Himmelskörpern umkreist; ein Halbton unterscheidet die Erde vom Mond, ein<br />
weiterer Ton von Merkur und so fortlaufend über die Planeten, die Sonne und<br />
die Sterne. Ihre Umdrehungen erzeugten ein konstantes, harmonisches Summen:<br />
die Harmonie <strong>der</strong> Sphären. Die Anschauung von <strong>der</strong> Sphärenmusik hielt sich bis<br />
in die Neuzeit; noch Goethe verwendet das Bild im Prolog zu «Faust». Die<br />
geniale Idee des Pythagoras ermöglicht tatsächlich die Darstellung eines
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 46<br />
Modells unseres Planetensystems, in dem die Höhe eines Tons die Distanz zur<br />
Erde bemisst.<br />
Die Idee von <strong>der</strong> Erde als Kugel ist intuitiv und sehr alt. Wir sehen Sterne, die<br />
um den Pol kreisen und nie unter dem Horizont verschwinden (Abb.nächste<br />
Seite); sie heissen daher «Zirkumpolarsterne» (d.h. «um den Pol kreisende<br />
Sterne»). Man erkennt, dass diese Sterne, Kreisbögen zeichnen. Wenn alle<br />
Sterne sich so verhalten, auch die auf- und untergehenden, müssen sie eine<br />
Kugel bilden, <strong>der</strong>en Innenseite wir sehen.<br />
Man kann sich also leicht vorstellen, dass die Kugel die Form des<br />
«Sternenzelts» am Himmel wie<strong>der</strong>gibt. Daraus kann geschlossen werden: Wenn<br />
das Universum eine Kugel ist, muss die Erde in ihrem Zentrum die Gestalt einer<br />
Kugel haben! Und die Griechen beobachteten denn auch bei einer<br />
Mondfinsternis den gebogenen Schatten <strong>der</strong> Erde.<br />
Links: Zirkumpolarsterne<br />
Nachdem die Griechen nun die<br />
Kugelgestalt <strong>der</strong> Erde bestätigt<br />
gefunden haben, wurden sie von <strong>der</strong><br />
Frage beunruhigt: Was ist auf <strong>der</strong><br />
Erde? Welche Län<strong>der</strong> gibt es, welche<br />
Meere? Man musste Reisende und<br />
Händler befragen und <strong>der</strong>en<br />
Erzählungen und Beobachtungen zu<br />
einem Bild zusammenfügen.<br />
Die Bibliothek von Alexandria. Alexandria, die reiche Stadt am Mittelmeer,<br />
wurde zu einem Sammelplatz vielfältiger Informationen. Bil<strong>der</strong> und Statuen in<br />
den Katakomben deuteten auf einen Schmelztiegel antiker Kulturen hin. Da<br />
konnte man einen römischen Krieger auf einem ägyptisch gekleideten<br />
Unterkörper neben Vasen griechischen Ursprungs und Modelle von<br />
Totenschiffen aus Innerägypten sehen. Die berühmte Bibliothek mit ihren<br />
500'000 Schriftrollen war ein unschätzbarer Hort <strong>der</strong> Literatur und des Wissens<br />
<strong>der</strong> antiken Welt. Die unterirdischen Gewölbe mit ihren Wandnischen, in denen<br />
einst die Pergamente deponiert waren, sind noch heute zu besichtigen.<br />
Aber fast alle dieser kostbaren Manuskripte sind verbrannt. 48 v. Chr., als Cäsar<br />
im Alexandrinischen Krieg Cleopatra zur Herrscherin über Ägypten machte,<br />
brannte die Bibliothek zum erstenmal. Unruhen in den Jahren 270 und 390<br />
zogen die Bibliothek wie<strong>der</strong>um in Mitleidenschaft. Ein kleiner Teil <strong>der</strong> Bestände
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 47<br />
wurde darauf durch Justinian I. nach Konstantinopel gebracht, aber <strong>der</strong><br />
bedeutsame Rest zerfiel im Jahr 642 bei <strong>der</strong> arabischen Eroberung endgültig zu<br />
Asche.<br />
Doch <strong>der</strong> Ruhm zweier Männer, die hier einst wirkten, wird nie vergehen. Der<br />
eine war <strong>der</strong> Bibliothekar Eratosthenes, dem es gelang, nur durch eine logische<br />
Winkelbeobachtung den Umfang <strong>der</strong> Erde fast genau zu berechnen. Der zweite<br />
war <strong>der</strong> Gelehrte Claudius Ptolemäus. Sein Hauptwerk trägt den Namen<br />
«Geographie». Karten, die später danach gezeichnet wurden, zeigen das<br />
grossartige, für seine gewöhnlichen Zeitgenossen fast unverständliche Weltbild<br />
des Ptolemäus. Europa und das Mittelmeer, Spanien, Portugal und Italien sind<br />
darauf schon präzise umrissen.<br />
Wo sind die Quellen des Nils? An den Rän<strong>der</strong>n nimmt die Genauigkeit ab,<br />
Britannien und das östlich davon liegende Schottland sind noch zu erkennen<br />
(Abb. unten). Ptolemäus legte als erster ein Gitternetz über seine Karten, die<br />
sich in Nordsüd- und Ostwestrichtung schnitten: die Längen- und Breitengrade.<br />
Die Lage <strong>der</strong> Nilquellen allerdings konnte Ptolemäus nur schätzen, denn<br />
niemand war so weit nach Innerafrika vorgedrungen. Er glaubte sie bei den<br />
«Mondbergen»; Forscher wie Livingston und Stanley suchten sie noch vor<br />
hun<strong>der</strong>tzwanzig Jahren.<br />
Asiens.<br />
Weltkarte des Claudius<br />
Ptolemäus, (um 100 bis nach<br />
160 n. Chr.), Astronom,<br />
Mathematiker und Geograph in<br />
Alexandria<br />
Den Indischen Ozean<br />
machte er zu einem<br />
grossen See und schuf<br />
einen vierten<br />
Südkontinent, die «Terra<br />
Australis Incognita», als<br />
Gegengewicht zur<br />
nördlichen Landmasse<br />
Ein weiterer Irrtum des Ptolemäus sollte sich noch lange nachteilig auf das<br />
Wissen <strong>der</strong> Menschheit auswirken: er unterschätzte den Erdumfang gewaltig<br />
und nahm ihn um 29 Prozent geringer an, als Eratosthenes hun<strong>der</strong>t Jahre vor ihm<br />
fast genau errechnet hatte.<br />
Ptolemäus und die frühen Griechen wussten wohl die ihnen bekannte Welt zu<br />
kartieren, doch für eine genaueres Abbild fehlten noch viele Informationen. Je<br />
weiter die Reisenden und Kapitäne sich von ihrer Heimat im Mittelmeer
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 48<br />
entfernten, desto grösser wurde – aus Unkenntnis <strong>der</strong> Geographie – das Risiko<br />
von Schiffbruch und Tod. Und doch: im Osten gab es ein beson<strong>der</strong>s reizvolles<br />
Geheimnis, Zeichen einer märchenhaften Zivilisation an den Rän<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
bekannten Welt! Kam nicht die herrliche Seide aus einem fernen Land im<br />
Osten? Tatsächlich spannen winzige Seidenraupen eine Brücke zwischen den<br />
zwei grössten und bedeutendsten Zivilisationen <strong>der</strong> alten Welt. In China<br />
profitierte eine streng zentralisierte Bürokratie vom Erfindungsreichtum seiner<br />
kaiserlichen Untertanen. Dort sammelten man die Kokons <strong>der</strong> Seidenraupen ein<br />
und kochte sie in Wasser, wobei die Puppen abstarben. Was die Raupen um sich<br />
spannen, wurde kunstvoll zu einem Faden versponnen; sieben Kokons waren<br />
nötig, um den ersten Faden zu spinnen.<br />
Karten auf Seide. Die Neuigkeiten von <strong>der</strong> Chinaseide drangen bis ins antike<br />
Rom. Doch in China verwebte man die Fäden nicht nur zu schimmernden<br />
Stoffen, sie dienten auch dem Krieg. Kaiser Wu, so wird berichtet, habe oft<br />
bedauert, zwei Nachbarstaaten nicht erobert zu haben. Um ihre Lage zu<br />
studieren, befahl er Fao, <strong>der</strong> Schwester seines Premierministers, eine Karte mit<br />
den Bergen, Flüssen und Orten dieser Län<strong>der</strong> anzufertigen. Fao stickte die Karte<br />
auf Seide. Bei <strong>der</strong> Arbeit entdeckte sie, dass Kette und Schuss des Stoffes ideale<br />
Koordinaten für ein Kartennetz abgaben. Der Legende nach wurde so die neue<br />
Präzision <strong>der</strong> Kartographie geboren.<br />
Doch ein Unterschied trennte diese Karte von <strong>der</strong> des Ptolemäus. <strong>Das</strong><br />
chinesische Kartennetz galt für eine flache Erde, nicht für eine Kugel. Die Erde,<br />
sagten die Chinesen, ist quadratisch wie das Schachbrett. Manche<br />
Wissenschafler hatten zwar Befürchtungen, dass die Erde und Ozeane an den<br />
Rän<strong>der</strong>n abrutschen könnten, aber es blieb letztlich bei <strong>der</strong> orthodoxen<br />
Anschauung. China war <strong>der</strong> Mittelpunkt <strong>der</strong> chinesischen Welt; ein paar<br />
Nachbarn – wie Japan – wurden anerkannt, darüber hinaus gab es aber nur<br />
Barbaren.<br />
China fühlte sich so überlegen und selbstgenügsam, dass es eine Verbindung zu<br />
an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n nicht für nötig hielt. Es hatte reichlich Nahrung und ein<br />
weiträumiges Kanalnetz für Transport und Bewässerung. Die restliche Welt –<br />
mit Ausnahme während zirka zweihun<strong>der</strong>t Jahren ab 1280 – interessierte China<br />
nicht. Doch nirgends wurde es in <strong>der</strong> Kartierung übertroffen! Auch das Papier<br />
und <strong>der</strong> Druck wurden hier erfunden, und schon Jahrhun<strong>der</strong>te vor Gutenberg<br />
erschienen in China gedruckte Karten auf Papier. Chinesische Erfindungen<br />
standen stets im Dienste des Kaisers. Karten waren Machtinstrumente <strong>der</strong><br />
Regierung, denn nur ein Reich, das man genau kennt, kann man auch<br />
beherrschen. Auch <strong>der</strong> Himmel wurde schon 3000 Jahre vor unserer<br />
Zeitrechnung beobachtet; 2200 v. Chr. entstand <strong>der</strong> erste vollständige Kalen<strong>der</strong>,<br />
um 1300 v. Chr. erwähnten die Hofastronomen zum erstenmal eine Supernova,
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 49<br />
467 v. Chr. erstmals den Halleyschen Kometen, und auf das Jahr 310 wird die<br />
erste Himmelskarte mit über 100 Sternen datiert (Abbildung unten).<br />
Links: Chinesische<br />
Sternkarte mit <strong>der</strong><br />
Milchstrasse,<br />
um 310 n. Chr.<br />
(aus: China, Wiege des Wissens<br />
<strong>Das</strong> griechische Weltbild geht vergessen. Im fernen Europa trat zu dieser Zeit<br />
das Weltbild griechischer Wissenschaftler zurück und wurde für lange Zeit<br />
durch die Glaubensinhalte des Christentums ersetzt. Trotzdem aber wurde <strong>der</strong><br />
Handel mit dem Osten nie ganz unterbrochen. Auf seinen Indienfahren im 6.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t begegnete <strong>der</strong> byzantinische Händler Cosmas <strong>der</strong> Lehre des<br />
Dschainismus, <strong>der</strong> das Töten leben<strong>der</strong> Wesen verbietet und die Seele des<br />
Menschen durch Askese aus den Fesseln <strong>der</strong> Materie befreit. Obwohl <strong>der</strong><br />
Dschainismus eine indische, auf dem Sanskrit beruhende Religion ist, erschien<br />
Cosmas das Weltbild <strong>der</strong> Dschaina sehr christlich. Unten ist die Hölle mit<br />
bösartigen Teufeln angesiedelt; die Erde schwebt in <strong>der</strong> Mitte, sie ist ein Kranz<br />
von Kontinenten, ihre Ozeane sind gefüllt mit Zuckersaft, Wein, Butter, Milch<br />
und Molke. Oben befindet sich <strong>der</strong> Himmel, wo die Seelen in unendlicher<br />
Wonne schweben.<br />
Heimgekehrt zog sich Cosmas in ein Kloster zurück; angeregt von den<br />
Vorstellungen des Ostens schuf er hier sein Weltbild aus <strong>der</strong> Bibel. Er folgte<br />
dem Pauluswort, nach dem das Wohnzelt des Moses das Modell für die Erde sei.<br />
Cosmas dachte sich die Welt in Form einer Truhe: <strong>der</strong> runde Deckel ist das<br />
Himmelsgewölbe, von dem aus Gott seine Schöpfung betrachtet. Im Norden<br />
befindet sich ein hoher Berg, den die Sonne verschiebt, damit die Nacht dem
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 50<br />
Tag folgt. Nach Cosmas war die Erde tellerflach, obwohl die antike<br />
Wissenschaft bewiesen hatte, dass die Erde eine Kugel ist. Aber das konnte nach<br />
Cosmas nur Unsinn sein, weil dann doch die Menschen auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />
<strong>der</strong> Erde ihr Leben lang mit dem Kopf nach unten an <strong>der</strong> Erde hängen müssten<br />
und am Ende herunterfielen.<br />
Drei Söhne – drei Kontinente. Doch es gab christliche Gelehrte, die griechisches<br />
Wissen mit <strong>der</strong> Bibel zu verknüpfen verstanden. Im Spanien des 7. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
zeichnete Isidore, Erzbischof von Sevilla, seine Weltkarte <strong>der</strong> Kompromisse.<br />
Der Osten liegt oben. Diese «mappa mundi» ist eine kreisrunde Erde mit Asien,<br />
Afrika und Europa, je ein Kontinent für Noahs drei Söhne! Isidore liebte es,<br />
erregenden Geheimnissen nachzugrübeln, zum Beispiel <strong>der</strong> Frage, wo genau <strong>der</strong><br />
Garten Eden, das Paradies, zu finden sei. Es gab eine wun<strong>der</strong>bare Beschreibung:<br />
<strong>Das</strong> Paradies ist ein Ort im Osten; gemäss <strong>der</strong> Übersetzung vom Griechischen<br />
ins Lateinische ist es ein Garten mit vielen Obstbäumen, darunter <strong>der</strong> Baum des<br />
Lebens. Dort ist es we<strong>der</strong> kalt noch heiss, es ist ewiger Frühling und es gibt eine<br />
Quelle, die den Garten bewässert. Seit dem Sündenfall ist <strong>der</strong> Zutritt den<br />
Menschen verboten; <strong>der</strong> Garten ist nun umhüllt von Flammen, einer<br />
Feuermauer, die bis zum Himmel reicht. Wo allerdings das Paradies zu finden<br />
sei, das war <strong>der</strong> Kirche nicht das Wichtigste; wichtiger war Jerusalem, das<br />
Zentrum <strong>der</strong> Welt!<br />
Wallfahrten – ein gutes Geschäft. Ab dem 12. Jahrhun<strong>der</strong>t wurde es Mode, nach<br />
Jerusalem zu wallfahren. <strong>Das</strong> wurde ein gutes Geschäft. Die Kreuzritter hatten<br />
gerade das Heilige Land zurückerobert und den Christen geöffnet; mit dem<br />
wachsenden Pilgerstrom erschienen Routenführer und Landkarten. Der<br />
englische Mönch Mathäus Paris von St. Alban schuf eine solche Karte im 13.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Nach seinem «Strassenatlas» begann die Pilgerfahrt bei <strong>der</strong> St.-Pauls-Kathedrale<br />
in London; von dort ging es nach Canterbury, über den Kanal nach Frankreich<br />
und durch das Land hindurch in den Nordosten Italiens. In Venedig stiegen die<br />
Pilger aufs Schiff und reisten nach Jerusalem, dem Zentrum <strong>der</strong> mittelalterlichen<br />
Welt. Jerusalem zu sehen, die Stätten, wo Christus gelebt hat, dort, wo er<br />
gestorben ist: das muss in den Menschen des Mittelalters unvergleichlich<br />
Gefühle geweckt haben.<br />
Pilgerreisen verstärkten aber nicht nur den Bedarf an Karten, sie wirkten sich<br />
auch auf die «Weiterentwicklung» des christlichen Weltbildes aus. Christus<br />
hatte seine Apostel beauftragt: «Gehet hin und predigt den Menschen am Rande<br />
<strong>der</strong> Erde». <strong>Das</strong> aber waren nach damaliger Auffassung die reinsten Monster:<br />
Menschen mit Hundeköpfen, die sich nur anbellen konnten; an<strong>der</strong>e mit Ohren,<br />
gross genug, sich darin einzuwickeln o<strong>der</strong> sich selbst Schatten zu geben;<br />
Pygmäen, die mit Leitern zu Pferde steigen mussten; an<strong>der</strong>e trugen ihr Gesicht<br />
auf <strong>der</strong> Brust o<strong>der</strong> hatten nur ein Auge (Abbildung nächste Seite).
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 51<br />
Monströse Phantasiemenschen in <strong>der</strong> mittelalterlichen Vorstellung (Bibliothèque Nationale, Paris)<br />
Diese und an<strong>der</strong>e Phantasiegestalten sollten die grosse Neugier <strong>der</strong> Menschen<br />
stillen und sie abhalten, über die Grenzen <strong>der</strong> bekannten Län<strong>der</strong> hinauszureisen.<br />
Macht, Mythos und Glaube waren die formenden Kräfte des Mittelalters. Die<br />
Karten <strong>der</strong> Zeit waren voller Irrealität, aber sie dienten auch einem sehr realen<br />
Zweck. Auf Landkarten, die Venedig, Pisa, Siena, Genua und an<strong>der</strong>e mächtige<br />
Handelsstädte in Auftrag gaben, waren diese Städte mit ihrem Besitz an Grund<br />
und Boden, aber auch die tributpflichtigen, abhängigen Orte und Handelsplätze,<br />
immer übermässig gross dargestellt. Derartige Karten waren Symbole<br />
territorialer Machtansprüche, sie sollten zum Ausdruck bringen: Wir sind die<br />
Grössten!
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 52<br />
Die Entdeckung des Mönchs Berludes. Konstantinopel, das heutige Istanbul,<br />
war seit 330 die Hauptstadt des Oströmischen Reiches. Kaiser Konstantin <strong>der</strong><br />
Grosse hortete hier die Schätze aus Griechenland, Italien und Ägypten, darunter<br />
auch die kostbaren, offiziell verbotenen Schriften <strong>der</strong> griechischen<br />
Wissenschaftler und Philosophen. In <strong>der</strong> Mitte des 13. Jahrhun<strong>der</strong>t verlor das<br />
byzantinische Reich seine Macht; Konstantinopel wurde türkisch. <strong>Das</strong> Wissen<br />
<strong>der</strong> Antike drohte in Vergessenheit zu fallen; nur wenig Belesene hatten noch<br />
davon Kenntnis.<br />
Zum Beispiel ein Mönch namens Maximus Berludes; er stöberte ab 1280 in den<br />
Basaren Konstantinopels an den Buchständen nach den Werken <strong>der</strong> Alten.<br />
Manche entdeckte er staubbedeckt und seit Jahrhun<strong>der</strong>ten ungelesen, und einige<br />
dickleibige Folianten musste <strong>der</strong> Mönch mühsam restaurieren. Endlich, 1295,<br />
entdeckte er, wonach er so lange gesucht hatte: die «Geographie» des Claudius<br />
Ptolemäus!<br />
Im europäischen Mittelmeer waren es vor allem Genua und Venedig, die sich seit<br />
alters her mit kleinen Segelschiffen auf <strong>der</strong> Suche nach wertvollen Handelsgütern<br />
auf die offene See wagten. Ihre Fahrten gerieten nicht selten zu waghalsigen<br />
Abenteuern, die auch neue geographische Erkenntnisse brachten, nicht selten aber<br />
mit einem Fiasko endeten. Im Mai 1291 stachen von Genua aus zwei Galeeren<br />
unter dem Befehl <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong> Basino und Ugolino Gibaldi in See. Sie sollten den<br />
Seeweg zum Fernen Osten suchen.<br />
Vom Mittelmeer in den Atlantik. Aber die Mittelmeer-Schiffe des 13.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts waren nicht für die schweren und mächtigen Wogen des Atlantik<br />
gebaut, so war das Unternehmen ein Wagnis auf Leben und Tod. Die Brü<strong>der</strong><br />
kannten noch immer nur drei Kontinente, die von einem grossen Ozean umkreist<br />
wurden; auf ihm hofften sie, Asien zu erreichen. Die Gibaldis navigierten nach<br />
dem Himmel und dem neu in die europäische Seefahrt eingeführten Kompass.<br />
Damals gab es noch keine Karten für ausserhalb Europas. Und so sind die<br />
Brü<strong>der</strong> Gibaldi denn auch irgendwo an Afrikas Westküste verschollen.<br />
Doch Genua gilt heute als <strong>der</strong> Ort, wo die Kunst <strong>der</strong> Kartographie zu hoher<br />
Blüte gelangte. Genuas Kartenmacher beherrschten den Markt für Portulane,<br />
wie die frühen Seekarten genannt wurden, im westlichen Mittelmeer. In Genua<br />
verbrachte Kolumbus seine Jugendjahre. Auch Kolumbus’ Bru<strong>der</strong> Bartholomäus<br />
hatte die Kunst <strong>der</strong> Kartographie erlernt; er wan<strong>der</strong>te nach Lissabon aus und<br />
verkaufte mit Erfolg die neuen Karten <strong>der</strong> afrikanischen Küste, die zu seiner<br />
Zeit von den Kapitänen Heinrich des Seefahrers entdeckt worden waren.<br />
Sklaven und Gold. Christoph Kolumbus, <strong>der</strong> 1476 vor <strong>der</strong> portugiesischen Küste<br />
mit einem flämischen Schiff schiffbrüchig wurde, rettete sich an Land, ging<br />
nach Lissabon und half seinem Bru<strong>der</strong>, die Karten <strong>der</strong> Zeit zu aktualisieren. Der
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 53<br />
Erfolg von Prinz Heinrichs Unternehmungen war schon überall sichtbar:<br />
Negersklaven, Elfenbein, afrikanischer Pfeffer und Gold!<br />
Kartenzeichner des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts waren mit nautischen Fachjournalisten<br />
vergleichbar. Jeden Monat trafen neue Informationen in Portugal ein; viele<br />
waren präzise Informationen <strong>der</strong> Kapitäne, noch mehr wurde geheimgehalten,<br />
doch die Gerüchte summten von den Schiffen über die Kais und in die<br />
Seemannsschenken. Überall musste man Ohren, Gewährsleute und Freunde<br />
haben, manche Gefälligkeit war nötig, um wie<strong>der</strong> eine Wesentlichkeit zu<br />
erfahren.<br />
Seekarten waren aus Schafs- o<strong>der</strong> Ochsenbälgen hergestellt, die unempfindlich<br />
gegen Salzwasser sind. Ihre Form ähnelt dem Fell des Tieres, wie man noch auf<br />
<strong>der</strong> berühmten Karte aus dem Jahre 1500 von Juan de la Cosa, dem Piloten von<br />
Christoph Kolumbus, sehen kann. Es handelt sich – wie bei allen Karten <strong>der</strong> Zeit<br />
– um eine Portulan-Karte. <strong>Das</strong> Linienmuster stellt Kurse dar, die von Windrosen<br />
ausgehen und denen man auf See zu folgen hatte. Der Nautiker steckt seinen<br />
Kurs zwischen zwei Positionen ab und misst die Distanz mit dem Zirkel.<br />
Damals war es schwer, den Kurs korrekt zu halten; bei jedem Segelmanöver<br />
mussten Toleranzen eingerechnet werden. Doch die Präzision <strong>der</strong> Kartenmacher<br />
ist bis heute<br />
beeindruckend,<br />
wenn man die<br />
wenigen<br />
Informationen<br />
einrechnet, die<br />
verfügbar waren.<br />
<strong>Das</strong>s Amerika und<br />
Europa mit Afrika<br />
in verschiedenen<br />
Massstäben<br />
wie<strong>der</strong>gegeben<br />
sind, war für die<br />
damalige Zeit<br />
völlig normal.<br />
Auf einer Schafshaut gezeichnete erste Karte <strong>der</strong> neuen Län<strong>der</strong> im Westen von Juan de la<br />
Cosa, dem Piloten Christoph Kolumbus’, 1500: links die westindischen Inseln mit den<br />
amerikanischen Küsten, am rechten Rand Europa und die afrikanische Westküste (Museo Naval,<br />
Madrid).
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 54<br />
Logscheit und Sanduhr. Ein an<strong>der</strong>es Problem bestand darin zu wissen, wo man<br />
sich befand, auch wenn die Richtung bekannt war. Ein Kapitän musste also die<br />
Geschwindigkeit seines Schiffes kennen, mit <strong>der</strong> er auf seiner Kurslinie<br />
dahinfuhr. Als Messinstrument kannte man nur das ungenau Log. Ein Log ist ein<br />
Brettchen (das «Logscheit»), an dem an drei Punkten ein dünnes Seil befestigt<br />
ist; das Seil ist am Schiffsheck auf einer Rolle aufgerollt. Auf ihm sind in<br />
regelmässigen Abständen farbige Bändchen eingeknotet. Wirft man das<br />
Brettchen über Bord, läuft das Seil von <strong>der</strong> Rolle ab, bis sich das Logscheit –<br />
vom Seilzug gehalten – im Heckwasser senkrecht aufstellt. Der Seemann misst<br />
mit <strong>der</strong> Sanduhr die Zeit und zählt die in <strong>der</strong> Abrollzeit ausgelaufenen Knoten<br />
des Seils; er weiss nun, wieviele «Knoten» sein Schiff gerade läuft bzw.<br />
wieviele Seemeilen pro Stunde zurückgelegt werden. Doch wichtiger als jedes<br />
Instrument war die Erfahrung des Kapitäns.<br />
Im 14. Jahrhun<strong>der</strong>t gehörte Mallorca zum Königreich Aragon und war als<br />
bedeuten<strong>der</strong> Handelsplatz auch ein Zufluchtsort <strong>der</strong> Wissenschaftler aus<br />
Arabien, Kleinasien und Europa. Obwohl katholisch regiert, hing <strong>der</strong> Wohlstand<br />
Mallorcas weitgehend von seiner jüdischen Gemeinde ab. Juden wirkten hier<br />
ohne Behin<strong>der</strong>ungen als Händler mit Juwelen und kostbarer Seide, jüdische<br />
Handwerker kauften und verarbeiteten Silber und Gold und machten Mallorca<br />
wohlhabend. Vor allem aber waren sie Kartenmacher für die Erobererer dieser<br />
Epoche. Einer <strong>der</strong> berühmtesten war Abraham Cresques. 1375 zeichnete er für<br />
den französischen König seine sehr präzise Katalanische Karte. Sie war mit<br />
Bil<strong>der</strong>geschichten verziert: man sieht Schiffe auf allen Ozeanen, findet<br />
Perltaucher an <strong>der</strong> indischen Küste, Diamantenschürfer in Bergspalten und<br />
bestaunt vor allem den quer von Ost nach West durch Afrika verlaufenden<br />
«Strom des Goldes», <strong>der</strong> gemäss Abraham Cresques an <strong>der</strong> westsaharischen<br />
Küste, gegenüber den Kanarischen Inseln, in den Atlantik mündete.<br />
Phantasie? Wirklichkeit? <strong>Das</strong> fragte sich auch Heinrich <strong>der</strong> Seefahrer. Auf<br />
seinem Denkmal in Lissabon wird er als <strong>der</strong> «Fürst aller Weltentdecker»<br />
gewürdigt. Portugal war ein armes Land, es hatte sich 1385 seine<br />
Unabhängigkeit von Kastilien erkämpft und gerade von den Folgen <strong>der</strong> Pest<br />
erholt. Entdeckungen und Eroberungen weit entfernter Län<strong>der</strong> lagen nicht in den<br />
unmittelbaren Überlegungen von König Johann I. Die Forschungsreisen <strong>der</strong><br />
Neuzeit mussten, bevor ein Kapitän auch nur aufbrechen konnte, in <strong>der</strong><br />
Phantasie, im Kopf, durch Nachdenken stattfinden. Und das tat Prinz Heinrich<br />
gründlich. Schon viele Schiffe waren aufgebrochen und nicht mehr<br />
zurückgekehrt. <strong>Das</strong> wichtigste war die Fähigkeit zur Heimkehr! Ein neuer<br />
Schiffstyp, die Karavelle, ermöglichte aufgrund von Wi<strong>der</strong>standskraft, Grösse<br />
und Bewaffnung jede Rückkehr, Kompass und Karten jede Kursfindung. So gab<br />
<strong>der</strong> Prinz seinen Kapitänen den Auftrag, diesen Seeweg zu suchen.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 55<br />
Bei Sagrés auf dem Kap Sao Vicente, wo noch immer die riesige Windrose im<br />
Pflaster zu sehen ist, gründete Heinrich sein Hauptquartier. Hier rüstete Heinrich<br />
seine Kapitäne mit dem mo<strong>der</strong>nsten nautischen Wissen seiner Zeit aus, bevor er<br />
sie nach Süden schickte.<br />
Katalanische Atlas von Abraham Cresques (unter Berücksichtigung <strong>der</strong> Berichte Marco Polos);<br />
Ausschnitt Südostasien (Kolumbus-Atlas, Westermann, Braunschweig 1990.)<br />
Bru<strong>der</strong> Mauro und das "kleine" Venedig. Nur wenig später lebte auf <strong>der</strong> Insel<br />
San Michele vor Venedig einer <strong>der</strong> kenntnisreichsten Kartenmacher seiner Zeit,<br />
<strong>der</strong> Mönch Fra Mauro. 1457 waren die Portugiesen schon bis zu den<br />
Kapverdischen Inseln vorgedrungen und Portugals König Alfons V. wollte<br />
erfahren, wo seine Schiffe landen würden; er bestellte bei Fra Mauro eine
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 56<br />
Weltkarte nach dem letzten Stand des Wissens. Diese Karte spiegelt das<br />
geographische Wissen <strong>der</strong> Mitte des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts. <strong>Das</strong> Original ging in<br />
Portugal verloren; zum Glück für die Nachwelt fertigte Fra Mauro eine Kopie<br />
für den Dogen von Venedig. Doch scheint es, dass alle Nautiker <strong>der</strong> Zeit die<br />
Karte kannten und studiert haben. Süden ist oben, aber wenn man die Karte<br />
dreht, erkennt man die vertrauten Umrisse Italiens und des Mittelmeeres sowie<br />
darunter das mächtige Afrika. Ein venezianischer Berater des Dogen sah das<br />
Werk auch und bekam einen Schreck. Wie klein und unbedeutend war sein<br />
grosses Venedig! Er empfand das als Kränkung und beschwerte sich! War<br />
Venedig mit seinen Gondeln und Kanälen nicht die Grösste? Aber für den<br />
portugiesischen König hatte Fra Mauro nur gute Nachrichten: <strong>der</strong> Mönch<br />
glaubte, man könne um die Südspitze Afrikas nach Indien und weiter segeln.<br />
Nelkenöl gegen die Pest. Venedig, Genua, Sevilla, Lissabon, aber auch die Häfen<br />
in <strong>der</strong> Bretagne, den Nie<strong>der</strong>landen, Britanniens bis hinauf nach Kopenhagen und<br />
Bergen konkurrierten bereits damals um Rohstoffquellen, mit denen sich viel Geld<br />
verdienen liess. Im Mittelmeer waren es vor allem die Gewürze, <strong>der</strong> schwarze und<br />
weisse Pfeffer, <strong>der</strong> Zimt, die Muskatnuss, <strong>der</strong> Ingwer und die Gewürznelken.<br />
Fra Mauros nach<br />
Süden<br />
ausgerichtete<br />
Weltkarte,<br />
gezeichnet 1459.<br />
(Biblioteca<br />
Nazionale Marciana,<br />
Venedig.)<br />
Beson<strong>der</strong>s<br />
Gewürznelken<br />
waren begehrt;<br />
sie galten als<br />
Medikament<br />
gegen den<br />
Schwarzen Tod,<br />
die Pest, die in<br />
Europa wütete.<br />
Ausserdem –<br />
und das war den<br />
Seeleuten<br />
wichtig – konnte man mit ihnen das Fleisch über einige Wochen konservieren.<br />
Pfeffer hatte Portugal schon in Afrika gefunden, doch die besseren Sorten
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 57<br />
kamen – wie man von Händlern wusste – von Indien und <strong>der</strong> Malabarküste, <strong>der</strong><br />
Zimt von Ceylon.<br />
Die Heimat <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Gewürze lag in <strong>der</strong> unbekannten Tiefe Ostasiens.<br />
Tonnenweise gingen die Gewürze in ihrer Heimat auf die Reise nach Westen,<br />
gelangten mit arabischen Schiffen nach langer Fahrt über den Indischen Ozean<br />
auf die Märkte des Mittleren Ostens und wurden von dort mit ungezählten<br />
Kamelkarawanen an die Häfen des Mittelmeeres transportiert. Genuesische,<br />
noch mehr aber venezianische Händler kauften die Ware auf und verkauften sie<br />
wie<strong>der</strong> mit hohen Gewinnen in Europa. Die Spuren des Reichtums, den diese<br />
Städte mit dem Gewürzhandel erlangten, locken noch heute viele Touristen an.<br />
Für das prunkvolle Leben <strong>der</strong> Profiteure bedeutete es eine Katastrophe, wenn die<br />
Portugiesen den Weg um Afrika nach Indien und in den Fernen Osten finden<br />
würden.<br />
DIE AKADEMIE ZU SAGRÉS<br />
Portugal gelingt die Umrundung um Afrika, <strong>der</strong> Weg nach Indien ist gefunden!<br />
1<br />
»Habt ihr schon gehört, was unser gnädiger Vater beschlossen hat?« Prinz<br />
Duarte schlen<strong>der</strong>t in den Saal. Seine Brü<strong>der</strong> fahren herum.<br />
»Wird er unseren Wunsch erfüllen? Ziehen wir in den Krieg? Sicher gegen<br />
Kastilien!« Pedro macht ein paar schnelle Schritte auf den Thronfolger zu.<br />
»Enrique, was glaubst du?« Duarte wendet sich an den dritten Sohn König<br />
Joãos.<br />
Der überlegt. »Krieg? Nein, kann ich mir nicht vorstellen. Pedro ist wie immer<br />
zu vorschnell; Portugal hat 1385 noch nicht verdaut.«<br />
»Hast recht, kleiner Bru<strong>der</strong>«, sagt Duarte. »Also, was hat <strong>der</strong> König<br />
beschlossen? Ratet!«<br />
»Nun spanne uns nicht auf die Folter, erzähle!«<br />
Pedro kann sein Temperament nicht im Zaum<br />
halten, während Enrique einfach abwartet.<br />
Heinrich <strong>der</strong> Seefahrer, zirka 50 Jahre alt<br />
Duarte nimmt in einem <strong>der</strong> breiten Sessel am<br />
Fenster Platz. Die Aussicht ist überwältigend: auf<br />
sanften Hügeln dehnt sich die Stadt bis zum
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 58<br />
Küstensaum im Westen und Südwesten, wo sich die Halbinsel Setúbal zwischen<br />
den Mündungen des Tejo und des Sado erstreckt; ganz hinten, an ihrer<br />
Südspitze, kann man gerade noch den Turm <strong>der</strong> Wallfahrtskirche auf Kap<br />
Espichél erkennen.<br />
Aber Duarte nimmt die Schönheit des Panoramas nicht mehr wahr, zu oft schon<br />
hat er von hier hinausgeschaut. Er lehnt sich zurück, streckt die Beine und sagt,<br />
den Blick gegen die Decke gerichtet: »Turniere!«<br />
»Was?«<br />
»Ja, Turniere! Ein Jahr lang sollen Turniere abgehalten werden, bei denen wir<br />
genügend Gelegenheiten finden würden, Geschicklichkeit und Mut zu zeigen,<br />
um die Auszeichnung zu erringen.«<br />
»Ist das ein Spaß?« Pedro kann es nicht glauben. »Du treibst Schabernack mit<br />
uns. Wir wollen in die Ritterschaft aufgenommen werden, das kann seit alters<br />
her nur in einer Schlacht erreicht werden!«<br />
»Nein, was ich sage!« Duarte schnellt herum und schaut auf seine<br />
Brü<strong>der</strong>.»Unser Herr Vater ist <strong>der</strong> Ansicht, dass eine längere Serie von<br />
Turnierkämpfen genug Gelegenheit biete, uns die Gefolgschaft <strong>der</strong> Ritter und<br />
Adligen im Reich zu sichern.«<br />
Pedro kann es kaum glauben. »Aber nur mutige Bewährung im Kampf ist eine<br />
Voraussetzung, um diese Achtung zu erringen. Warum sollen wir nicht wie<br />
seinerzeit <strong>der</strong> König Ansehen und Ruhm erwerben können?«<br />
Duarte antwortet: »Enrique hat recht: wir müssen Frieden halten, Portugal kann<br />
keinen Krieg vom Zaun brechen. Wenn wir vor dreissig Jahren auch siegreich<br />
waren, so war <strong>der</strong> Blutzoll doch sehr hoch für unser kleines Land.«<br />
Im August 1385 war Portugal plötzlich von Kastilien überfallen worden. Die<br />
portugiesische Armee – an Zahl weit unterlegen – hatte aber durch eine kleine<br />
englische Hilfstruppe Unterstützung und errang einen sensationellen Sieg. Die<br />
portugiesisch-englische Freundschaft wurde im Jahr danach durch die<br />
Vermählung König João I. von Portugal mit Philippa, <strong>der</strong> Tochter des<br />
englischen Königs Johann des Schmächtigen, weiter vertieft. Aus dieser<br />
königlichen Verbindung gingen die drei Prinzen hervor; sie werden ein neues<br />
Zeitalter einleiten.<br />
Als Jungen wurden die Brü<strong>der</strong> von ihrer frommen und gebildeten Mutter in<br />
Religion, Latein und Allgemeinbildung unterwiesen, so wie sie sich jetzt des<br />
erst zehnjährigen jüngsten Sohnes Fernão annimmt. Der Vater lehrte sie das<br />
Kriegshandwerk und die Regeln des Rittertums. Nun sind die drei älteren<br />
erwachsen, Duarte ist 26 Jahre alt, sein Bru<strong>der</strong> Pedro 23 und Enrique zählt<br />
19 Jahre.<br />
»Kein Krieg, kein Sieg«, sagt Pedro resignierend.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 59<br />
»Nicht gegen Kastilien«, unterstützt Enrique den Kronprinz, »denn es sind<br />
Christenmenschen wie wir.«<br />
Schritte nähern sich, kommen näher und die jungen Männer sehen den Tesorero<br />
Pero Gonçalvo, die le<strong>der</strong>ne Dokumentenmappe unter dem Arm, vorbei eilen.<br />
Duarte ruft ihm zu: »Dom Pero, auf ein Wort!«<br />
Der kleine, spitznasige Mann mit mächtigem Schnauzbart wieselt herein. »Ah,<br />
Dom Duarte – und die Senhores Ifantes!« Gonçalvo deutet eine Verbeugung an.<br />
Er ist als Schatzmeister des Königs ein befähigter Mann und hat entsprechenden<br />
Einfluss.<br />
»Habt Ihr gehört, Dom Pero, Ihr müsst Geld für Turniere auftreiben.«<br />
»Ja, Euer Gnaden, ich komme gerade von Seiner Majestät. Ich werde einen<br />
Ausweg finden müssen.«<br />
»<strong>Das</strong> wird teuer«, gibt Pedro zu bedenken. »Stellt Euch vor: ein Jahr lang, zwölf<br />
Monate, werden die Ritter des Landes hier ein- und ausgehen. Natürlich mit<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger großem Anhang – je nach Rang und Würde <strong>der</strong> Herren! <strong>Das</strong><br />
braucht Quartiere, Kost und Logis für Herr und Knecht – und natürlich für die<br />
kostbaren Rösser! Wir werden große Bankette geben und Preise für die Sieger<br />
bereitstellen müssen. Und erst die Damen! Die Ansprüche <strong>der</strong> Holden und Edlen<br />
werdet Ihr Euch vorstellen können. O<strong>der</strong> etwa nicht?«<br />
Der Minister nickt. »Die Senhores Ifantes sind gut beraten, meine bescheidene<br />
Meinung anzuhören. Denn auch wenn ein Mann glaubt, die Nachricht zu<br />
vernehmen, so hört er doch nur das, was er hören will. Aber je<strong>der</strong> Mensch sieht<br />
dasselbe mit an<strong>der</strong>en Augen an: denn unsere früheren Erfahrungen beeinflussen<br />
die Gefühle, wenn Ohren hören und Augen sehen! Deshalb ist es besser, stets<br />
mehrere Meinungen zu hören.«<br />
»Und? Was sagt Ihr zu den Absichten unseres gnädigen Königs?«<br />
»Ihr Herren«, antwortet Gonçalvo schlau, »sie werden uns zwingen, die Steuern<br />
im Lande strenger einzutreiben und die Abgaben zu überprüfen. Sicher werden<br />
die Ritter und Grafen auch gerne bereit sein, eine angemessene Summe für die<br />
Ehre zu bezahlen, gegen die Söhne unserer hohen Majestät im edlen Wettkampf<br />
anzutreten.« Und fügt sogleich hinzu: »Ein Krieg was würde wohl <strong>der</strong> kosten?«<br />
Der sparsame Herr erschau<strong>der</strong>t bei dem Gedanken, Geld für einen Krieg<br />
hingeben zu müssen, nur damit die romantischen Ambitionen <strong>der</strong> drei<br />
königlichen Jünglinge erfüllt werden.<br />
»Ihr habt recht, Dom Pero«, sagt Enrique. »Ein Krieg könnte nur gegen<br />
Kastilien gerichtet sein, aber die Spanier – ich sagte es schon – sind Christen<br />
wie wir. Warum sollen wir sie überfallen, da wir Frieden haben?«<br />
In den Augen Dom Peros blitzt es listig auf, als er erwi<strong>der</strong>t: »Da mir Euer<br />
Verlangen und das Eurer Brü<strong>der</strong> seit einiger Zeit bekannt ist, habe ich über eine
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 60<br />
ganz an<strong>der</strong>e militärische Aktion nachgedacht. Mein Plan würde nicht nur die<br />
Wünsche <strong>der</strong> verehrten Prinzen befriedigen, son<strong>der</strong>n Portugal im Fall des<br />
Gelingens auch finanzielle Vorteile bringen.«<br />
»Was?« Duarte springt auf, Pedro und Enrique schauen gespannt auf den<br />
Minister. »Redet!«<br />
»Meine Spitzel haben mir vom Reichtum Cëutas ausführlich berichtet; sicher ist<br />
den erlauchten Prinzen <strong>der</strong> Hafen im nördlichen Afrika bekannt. Dort leben<br />
keine Christen, son<strong>der</strong>n Mauren! Und Mauren sind die Feinde <strong>der</strong> Christenheit;<br />
für den Glauben zu kämpfen ist eine reine Tat!«<br />
Niemand kann wissen, dass dieser Gedanke Portugal auf einen bedeutungsvollen<br />
Weg <strong>der</strong> Erforschungen und Entdeckungen bringen wird. Die vier setzen sich<br />
um den schweren Eichentisch und Pero Gonçalvo entwickelt vor den<br />
aufmerksam Lauschenden seinen Plan. Die Prinzen sind begeistert.<br />
2<br />
»Cëuta überfallen?«, fragt <strong>der</strong> König ungläubig, als sie ihm bei<br />
Gelegenheit die Sache vortragen. Er schaut Gonçalvo entgeistert an,<br />
wendet den Blick dann gegen seine Söhne. »Cëuta? Seid ihr verrückt<br />
geworden? Wie soll das kleine Portugal die Kraft aufbringen, diese mächtige<br />
Maurenstadt auf <strong>der</strong> afrikanischen Seite des Mittelmeeres zu überwinden?«<br />
Der Schatzmeister hat den Einwand erwartet. »<strong>Das</strong> ist leichter vollbracht, als<br />
man gemeiniglich annimmt. Von einen Matrosen, <strong>der</strong> als Galeerensklave in<br />
maurischer Gefangenschaft war und von einem unserer Kanonenboote mit<br />
an<strong>der</strong>en Gefangenen befreit werden konnte, erfuhr ich nähere Einzelheiten über<br />
die Befestigungen, die Bewaffnung und die Stärke <strong>der</strong> maurischen Garnison.<br />
Daraus ist zu ersehen, dass bei geschicktem Vorgehen die Stadt von See her<br />
leicht anzugreifen ist.«<br />
Beflissen entrollt er ein Pergament. »Wenn Eure Majestät dieses sorgfältig<br />
zusammengetragene Dokument prüfen, werden Eure Herrlichkeit zum gleichen<br />
Schluß kommen.«<br />
João beugt sich über den Plan. Es ist alles darauf verzeichnet, was ein Angreifer<br />
wissen müßte: die Zufahrt vom Meer her, die Wassertiefen, Klippen und<br />
Untiefen, die Mauerhöhen <strong>der</strong> Befestigungen und ihre Bewaffnung, die Lage <strong>der</strong><br />
Hafenmolen und die Unterkünfte <strong>der</strong> Soldaten, Waffendepots, Lagerhallen,<br />
Plätze und Straßen: alles ist sorgfältig verzeichnet.<br />
Der König studiert das Dokument; er muß zugeben, dass <strong>der</strong> Verfasser gute<br />
Arbeit geleistet hat. Aber ist es echt?<br />
»Und wenn dieser Plan eine Fälschung ist?» fragt er, »ein Falsifikat, um uns in<br />
eine Falle zu locken?«
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 61<br />
»Er ist keine Fälschung, Majestät, ich habe das kontrolliert.«<br />
»Trotzdem muß es überprüft werden.«<br />
Bevor Gonçalvo antworten kann, mischt Duarte sich ein. »Ihr habt recht, hoher<br />
Vater, natürlich müssen wir uns vergewissern. Wir werden einen Spion<br />
schicken; als Maure verkleidet, wird er auf leichte Weise in die Stadt gelangen.<br />
Inzwischen beginnen wir mit unseren Vorbereitungen.«<br />
»Und woher sollen wir die Schiffe nehmen? Unsere Flotte ist zu klein und<br />
schlecht bewaffnet. Außerdem fahren unsere wackeren Landsleute nur zum<br />
Fischen auf das Meer und kaum weiter, als sie den Rauch ihrer Hütten sehen.«<br />
»Wir werden Schiffe bauen!« Es ist Enrique, <strong>der</strong> das sagt. Er steht mit dem<br />
Rücken zum Vater am hohen Fenster und schaut auf den Silberstreif des Meeres<br />
am Horizont. In seiner Stimme ist etwas, das aufhorchen läßt; es klingt wie eine<br />
Prophezeiung. Als <strong>der</strong> König sich verwun<strong>der</strong>t seinem jüngsten Sohn zuwendet,<br />
dreht <strong>der</strong> sich wie<strong>der</strong> den an<strong>der</strong>en zu und sagt: »Ja, wir werden Schiffe bauen!<br />
Portugals Männer sollen über die ungebrochene Linie <strong>der</strong> Kimm hinausfahren.<br />
Und Cëuta könnte ihr erstes Ziel sein.«<br />
Doch <strong>der</strong> König verweigert seine Zustimmung. »Die Invasionen <strong>der</strong><br />
Mohammedaner gegen die Christen Europas nahmen von Cëuta ihren<br />
Ausgang«, begründet er. »Daher ist es kaum zu glauben, dass diese islamische<br />
Festung so verwundbar sein sollte, wie dem Schatzmeister berichtet wurde.«<br />
König João spricht über die großen Gefahren und Schwierigkeiten des<br />
vorgeschlagenen Expeditionszuges und nötigt seine Söhne zu weiteren<br />
Überlegungen. Er ist <strong>der</strong> König, er muß auch die politischen Folgen erwägen.<br />
»Gelingt es Portugal, Cëuta zu erobern«, argumentiert er, »wird das maurische<br />
Königtum Granada zur Beute <strong>der</strong> militärischen Macht Kastilien werden, denn<br />
Granada ist von <strong>der</strong> Hilfe aus Cëuta abhängig. Wenn Granada aber einmal aus<br />
dem Wege geschafft ist, wird Kastilien sich wie<strong>der</strong> seinem alten Feind Portugal<br />
zuwenden.«<br />
»Ein Sieg über Cëuta wird Portugal glorreich dastehen lassen. Kastilien wird<br />
sich dreimal überlegen müssen, ob es uns erneut zu seinem Feind machen will«,<br />
antwortet <strong>der</strong> Kronprinz.<br />
Pedro sagt: »Mit Hilfe unserer englischen Verwandten werden wir Ferdinand<br />
von Antequera abermals aufs Haupt schlagen!«<br />
Und Enrique bringt eine weitere Begründung vor: »<strong>Das</strong> islamische Cëuta<br />
einzunehmen, ist eine Dienstleistung für Gott! Diesen Dienst nicht zu verrichten,<br />
aus Furcht, er könnte Kastilien helfen, wäre eine Sünde wi<strong>der</strong> Gott.«<br />
Der König lehnt sich zurück, er merkt, wie sein Wi<strong>der</strong>stand schwindet; gegen<br />
Enrique anzukommen, ist nicht einfach. »Die Verantwortung liegt beim König«,<br />
sagt er fest. »Schnell hat sich die Jugend entschieden, aber sieht sie auch die
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 62<br />
möglichen Tragweiten voraus? Der König von Kastilien und Aragonien wird<br />
sich eine gute Gelegenheit wohl nicht entgehen lassen.«<br />
»Warum, hoher Vater, seid Ihr davon so überzeugt?« Enrique schaut dem Vater<br />
in die Augen. »Mit dem Fall Cëutas helfen wir ihm, Granada los zu werden.<br />
Und selbst wenn Ferdinand unser größter Feind wäre«, schloß er, »kann er dies<br />
nur aus Zufall sein, denn er ist genau wie wir ein Christ. Die Mohammedaner<br />
aber sind von Natur aus unsere Feinde«.<br />
Während über die Vorteile Portugals nach einer erfolgreichen Belagerung<br />
Cëutas nachgedacht wird, muß <strong>der</strong> Schatzmeister auch die Kosten <strong>der</strong> ein Jahr<br />
dauernden Feste und Turniere überrechnen. Die Expedition gegen den Hafen<br />
Cëuta schlägt da besser zu Buche. Daher bestärkt <strong>der</strong> königliche Bankhalter die<br />
jungen Leute ob ihrer Ambitionen und rät ihnen, ihren Vater für einen Krieg<br />
gegen Cëuta zu überreden. Die haben sich in jugendlicher Begeisterung schon<br />
festgelegt, und Prinz Enrique, <strong>der</strong> Sprecher <strong>der</strong> drei Brü<strong>der</strong>, überwand<br />
schließlich auch die Bedenken seines Vaters.<br />
Die erste Stufe des Unternehmens, das Verteidigungssystem von Cëuta<br />
auszuspionieren, wird in Angriff genommen. Zwei Galeeren segeln bald von<br />
Oporto ab, nehmen Kurs ins Mittelmeer und gehen für eine Zwischenlandung in<br />
Messina vor Anker, um – wie die Kapitäne den sizilianischen Behörden<br />
bekanntgeben – Trinkwasser und Lebensmittel an Bord zu nehmen. Die Frage<br />
nach dem Wohin beantworten sie mit Civitavecchia; sie hätten den päpstlichen<br />
Legaten dorhin zu bringen, <strong>der</strong> über die Via Appia mit einer Botschaft des<br />
Königs von Portugal nach Rom weiterreisen werde.<br />
Messina ist ein Ameisenhaufen; Schiffe aller Herren Län<strong>der</strong> laufen ein und aus,<br />
sie kommen aus Neapel und Genua, aus Massilia, Alicante, Valencia, Barcelona,<br />
Malaga und Syrakus, von Malta und Rhodos, von Venedig, Alexandria, Tanger<br />
und Cëuta, selbst Bretonen, Friesen und Briten wurden schon gesichtet. Man<br />
hört alle möglichen Sprachen und Idiome, sieht verwegene und wild<br />
dreinschauende Matrosen, es wimmelt von den verschiedensten Trachten,<br />
Bekleidungen und Uniformen. Niemand achtet auf den maurischen Kaufmann,<br />
<strong>der</strong> an<strong>der</strong>ntags mit einem arabischen Schiff nach Tanger abreist, wo er sich einer<br />
Kamelkarawane nach Cëuta anschließt.<br />
Vier Wochen später wirft eine kleine nach Westen segelnde Barca »zur<br />
Erholung <strong>der</strong> Mannschaft« in unmittelbarer Nähe von Cëuta Anker. In <strong>der</strong> Nacht<br />
nähert sich ein schwimmen<strong>der</strong> Schatten dem Schiff. Die Wache ruft ihn leise an,<br />
das Losungswort stimmt, schon klettert <strong>der</strong> »maurische« Kaufmann halbnackt<br />
an Bord. Am Gurt ist eine aus geöltem Ochsenle<strong>der</strong> gefertigte Tasche befestigt,<br />
darin <strong>der</strong> Plan, was er feststellen konnte.<br />
In Lissabon wird nach <strong>der</strong> erfolgreicher Erkundung ein Modell <strong>der</strong><br />
Verteidigungsanlagen gebaut. Nun ist König João überzeugt und läßt die<br />
Expedition vorbereiten. Die drei Prinzen übernehmen dabei wichtige Aufgaben.<br />
Enrique muß den Bau und die Ausstattung <strong>der</strong> Schiffe und die
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 63<br />
Zusammenstellung <strong>der</strong> Mannschaften in den nördlichen Landesteilen<br />
organisieren. Sein Hauptquartier ist Oporto. Pedro übernimmt eine ähnliche<br />
Aufgabe im Süden mit dem Hauptquartier in Lissabon. Duarte wird Leiter <strong>der</strong><br />
Finanzen des Landes und ist für die Justizverwaltung verantwortlich. Auf diese<br />
Weise kann sich <strong>der</strong> König auf die diplomatischen Probleme konzentrieren, die<br />
sich notwendigerweise ergeben werden. Außerdem organisiert er die Artillerie<br />
und alle an<strong>der</strong>en Waffen für seine Schiffe.<br />
Die folgenden Monate spricht alles nur über Schiffe und Munition, beson<strong>der</strong>s in<br />
Oporto und Lissabon. Hier gibt es kaum eine Seele, die nicht irgendwie an den<br />
Vorbereitungen beteiligt ist. Überall in Portugals Häfen entstehen neue Schiffe,<br />
in den Werften wird gesägt und gehämmert, Geruch von Salz, Teer,<br />
konserviertem Holz und frischer Farbe liegt über dem emsigen Tun.<br />
Wallend steigt Dampf aus den Schwartenboxen, in denen Holz geweicht und<br />
gebogen wird, Kalfaterer dichten Fugen in Schiffsrümpfen, etwas abseits, auf<br />
den Reeperbahnen, entstehen Taue alle Art und Länge, Küfer liefern Fässer in<br />
vielen Größen, Rin<strong>der</strong> und Schweine werden geschlachtet und eingesalzen, Brot<br />
wird in Unmengen gebacken, an die Fischer ergehen außerordentliche Aufträge<br />
zum Fangen und Trocknen von Fischen, und viele Hilfskräfte sind mit dem<br />
Füllen <strong>der</strong> Geschosskörbe beschäftigt. Nur die Heranschaffung <strong>der</strong> Waffen –<br />
Arkebusen, Mörser und Kanonen, Spieße, Armbrüste und Hellebarden –<br />
geschieht meist nachts unter größter Geheimhaltung.<br />
<strong>Das</strong> Geschwätz über den Aufbau einer Streitmacht und die Anlage von Vorräten<br />
sind im Volk kaum zu verheimlichen. Aber mit Ausnahme eines inneren Kreises<br />
von Vertrauenspersonen am königlichen Hof weiß niemand ganz genau, was es<br />
mit dieser große Flotte auf sich hat.<br />
Schnell dringen auch entsprechende Gerüchte nach Kastilien und Granada. Man<br />
schickt diplomatische Missionen, die dem König von Portugal die<br />
Befürchtungen ihrer Herrscher mitteilen. Aber König João beruhigt sie; Portugal<br />
plane keine Angriffe in Iberien, son<strong>der</strong>n träfe nur Vorbereitungen, um seine<br />
Interessen zu schützen. Wie das zu deuten ist, macht er auf an<strong>der</strong>e Weise klar: er<br />
schickt dem Herzog von Holland ein Ultimatum und sorgt dafür, dass dieses<br />
»Geheimnis« überall publik wird. Sein Gesandter aber gibt dem Herzog zu<br />
verstehen, dass das Ultimatum nur zur Täuschung des wirklichen Feindes dienen<br />
sollte.<br />
3<br />
Die Bewohner von Cëuta haben keine Ahnung von dem, was<br />
ihnen bevorsteht. Dann aber sind sie plötzlich von mehr als 200<br />
portugiesischen Schiffen eingeschlossen, die eines Tages vor <strong>der</strong><br />
Küste <strong>der</strong> kleinen Halbinsel erscheinen. Die Soldaten <strong>der</strong> portugiesische Armada
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 64<br />
stürmen die Festung Cëuta am 24. August 1415 in einer sehr einseitigen<br />
Schlacht. Gut bewaffnet und gerüstet – wie<strong>der</strong> unterstützt durch eine Gruppe<br />
englischer Bogenschützen – überwältigen die Portugiesen die Moslems in einem<br />
kurzen Kampf. Binnen eines Tages ist die Heidenfestung eingenommen und<br />
schon am Nachmittag beginnt die Armee mit <strong>der</strong> Plün<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Stadt.<br />
Den Prinzen hat <strong>der</strong> Fall <strong>der</strong> Stadt den ersehnten Ruhm verschafft. Wie sie es<br />
gewünscht hatten, wurden sie auf dem Schlachtfeld geprüft und für wert<br />
befunden. Mit den Schwertern ihrer Mutter erhielten sie an<strong>der</strong>ntags den<br />
Ritterschlag. Acht Portugiesen waren zu Tode gekommen, während in den<br />
Straßen <strong>der</strong> Stadt die Leichen <strong>der</strong> Moslems zuhauf lagen.<br />
In Cëuta erhält Prinz Enrique einen ersten Eindruck, was in Afrika verborgen<br />
liegt. Denn die Beute besteht aus <strong>der</strong> Fracht von Karawanen, die durch die<br />
Sahara im Süden und quer durch den afrikanischen Kontinent aus Arabien,<br />
Persien und Indien in den Westen gelangten. Außer Lebensmitteln – Weizen,<br />
Reis und Salz – finden die Portugiesen riesige Vorräte an Pfeffer, Zimt, Nelken,<br />
Ingwer und an<strong>der</strong>en Gewürzen. In den Häusern von Cëuta hängen reiche<br />
Tapisserien und liegen orientalische Teppiche. Und das alles zusätzlich zur<br />
üblichen Beute an Gold, Silber und Juwelen.<br />
Dann lassen die Portugiesen eine kleine Garnison zurück, die übrigen fahren<br />
wie<strong>der</strong> nach Hause. Prinz Enrique bleibt jedoch in Cëuta, denn die Moslems<br />
wollen ihre Stadt zurückerobern, und Enrique übernimmt den Oberbefehl über<br />
die Verteidigung. Hier verbringt er mehrere Monate damit, alles über den<br />
afrikanischen Karawanenhandel zu erfahren.<br />
Vor dem portugiesischen Überfall herrschte in Cëuta blühendes Treiben.<br />
Vierundzwanzigtausend Läden handelten mit Gold, Silber, Messing, Seide und<br />
Gewürzen, alles wurde durch Karawanen herbeigeschafft. Nun, da Cëuta eine<br />
»christlichen« Stadt ist, kommen keine Karawanen mehr. Die Portugiesen sitzen<br />
in einer Stadt ohne Profite. Wollen sie den Handelsstrom wie<strong>der</strong> beleben,<br />
müssen sie sich mit den Heidenstämmen <strong>der</strong> Umgebung einigen o<strong>der</strong> das<br />
Hinterland ebenfalls erobern. Prinz Enrique sammelt Informationen über die<br />
Län<strong>der</strong>, aus denen die Schätze nach Cëuta gekommen waren. Er hört<br />
Erzählungen über einen merkwürdigen Handel, den »stummen Handel« von<br />
Völkern, die die Sprache ihrer Handelspartner nicht beherrschen. Die<br />
Moslemkarawanen, die von Marokko aus über den Atlas nach Süden ziehen,<br />
gelangen nach zwanzig Tagen an die Ufer eines großen Flusses, <strong>der</strong> Senegal<br />
heißt. Dort legen die marokkanischen Händler getrennte Häufchen von Salz,<br />
Korallenkugeln und billigen Handelswaren aus. Dann ziehen sie sich außer<br />
Sichtweite zurück. Angehörige lokaler Stämme, die dort im Tagebau nach Gold<br />
schürfen, kommen ans Flußufer und legen neben jeden Haufen marokkanischer<br />
Waren ein Häufchen Gold. Dann ziehen sie sich außer Sichtweite zurück und<br />
überlassen es den marokkanischen Händlern, entwe<strong>der</strong> das angebotene Gold zu<br />
nehmen, o<strong>der</strong> ihren Warenhaufen so zu verkleinern, dass er dem angebotenen
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 65<br />
Preis in Gold entspricht. Wie<strong>der</strong>um ziehen sich die marokkanischen Händler<br />
zurück und das Verfahren geht weiter. Durch dieses merkwürdige<br />
Handelssystem kommen die Marokkaner zu ihrem Gold.<br />
Berichte solcherart beflügeln die Hoffnungen Prinz Enriques. Seit dem letzten<br />
Kreuzzug <strong>der</strong> Christenheit zur Befreiung <strong>der</strong> heiligen Stätten Jerusalems von<br />
islamischer Herrschaft sind 125 Jahre vergangen, aber in Heinrich lebt noch<br />
immer <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Kreuzfahrer. Er sammelt eine portugiesische Flotte und<br />
verkündet seine Absicht, den Heiden die Djebel al-Tarik, Berg des Tarik,<br />
genannte Felsenfestung auf <strong>der</strong> Südspitze <strong>der</strong> Iberischen Halbinsel zu entreißen.<br />
Unterwegs holt ihn die Nachricht ein, dass König João diese Expedition<br />
verbietet, und Prinz Enrique kehrt verbittert nach Hause zurück. Aber anstatt an<br />
den Hof in Lissabon zu gehen, zieht er sich weit südwärts durch die Algarve auf<br />
den südwestlichsten Zipfel Portugals zurück, zum Kap São Vincente, <strong>der</strong> letzten<br />
Landspitze Europas. <strong>Das</strong> Kap erlangte schon im Altertum mystische Bedeutung;<br />
als Grenze zur Unendlichkeit des Ozeans haben bereits die Römer diesen<br />
Landvorsprung Promentorium Sacrum, Heiliges Vorgebirge, genannt. Spätere<br />
Völker, Sueben o<strong>der</strong> Westgoten, haben daraus Sagrés gemacht, noch heute trägt<br />
das Städtchen am Fuß von Kap São Vincente diesen Namen.<br />
Frei schweift <strong>der</strong> Blick von <strong>der</strong> Höhe des Kaps auf den bewegten Atlantik, tief<br />
unten läuft die stetig rauschende Brandung aus, nagt an den Klippen, und<br />
häufige Stürme tosen über die Felsen. Hier baut Enrique eine Burg – die »Villa<br />
Tercanabal« –, um in Ruhe und mit einigen Gleichgesinnten den Plan für ein<br />
zukünftiges portugiesisches Weltreich auszuarbeiten. Er baut eine Sternwarte<br />
und gründet seine »Nautische Akademie«, eine Seefahrerschule, darum herum<br />
eine kleine Stadt. Unten ins Sagrés, am Fuße des Kaps, entsteht eine Werft, und<br />
Enrique schickt heimlich Werber in alle Seefahrernationen, um die besten<br />
Schiffsbauer anzuwerben. Er findet sie am Oberlauf des Tejo und am Duoro, sie<br />
kommen aber auch aus Flan<strong>der</strong>n, <strong>der</strong> Bretagne, von <strong>der</strong> Loire und <strong>der</strong> Elbe.<br />
Zuerst stellt <strong>der</strong> Prinz alle Einzelinformationen zusammen, die er inzwischen<br />
gesammelt hat. Wie könnten sie am besten seinem Vorhaben dienen, einen<br />
vernichtenden Schlag gegen das islamische Reich zu führen? Sein Engagement<br />
beim Aufbau <strong>der</strong> Kriegsflotte brachte ihm Kontakt mit vielen erfahrenen<br />
Seeleuten und er konnte dabei festgestellen, dass ein gut ausgerüstetes Schiff<br />
länger Zeit auf See bleiben konnte, als dies bisher üblich war. Die Einnahme<br />
von Cëuta hat ihm darüber hinaus gezeigt, wie wirkungsvoll eine Seestreitmacht<br />
gegen die Mohammedaner sein kann. Er erfuhr, wie weit sich das islamische<br />
Reich an <strong>der</strong> Westküste Afrikas nach Süden hin ausdehnt, weiter, als jemals<br />
bisher irgendein Europäer gelangt ist. Handelsleute, die regelmäßig die<br />
Karawanenrouten in den Süden und Westen bis zur Küste Guineas bereisten,<br />
haben ihm in Cëuta wertvolle geographische Informationen über Afrika<br />
vermittelt. Enrique hatte gesehen, in welch verschwen<strong>der</strong>ischer Fülle den<br />
Mohammedanern die kostbarsten Güter zur Verfügung stehen. Seide, Gewürze,<br />
exotische Felle, Gold, Perlen und Schildpatt, Porzellan, Messinggefäße, kostbare
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 66<br />
Hölzer und vielerlei Edelsteine strömen aus <strong>der</strong> Tiefe des Ostens auf ihre<br />
Märkte. Die christlichen Län<strong>der</strong> aber bekommen sie nur zu Bedingungen, die<br />
die Mohammedaner diktieren. Einzig die Stadtstaaten Venedig und Genua <br />
ebenfalls christlich haben eine pragmatische Haltung im Umgang mit den<br />
Ungläubigen entwickelt und profitieren von dieser Situation. Weil sie mit den<br />
Mohammedanern eine Preisbasis finden konnten, haben ihnen diese ein<br />
Handelsmonopol eingeräumt.<br />
Die Waren des Orients erreichen die Mittelmeerküste im Libanon und in<br />
Ägypten über den Indischen Ozean, das Rote Meer und Karawanenrouten, wo<br />
sie von arabischen Kaufleuten an die Händler Venedigs und Genuas übergeben<br />
werden. Für den Weiterverkauf legen nun Christen die Preise fest! Die<br />
westlichen Königreiche sind von den vielen Kämpfen gegen den Islam müde<br />
geworden. Nach wie<strong>der</strong>holten und immer vergeblichen Versuchen christlicher<br />
Heere, das islamische Monopol zu brechen, stehen die Handelsbarrieren fester<br />
denn je. Europa muß sich damit abfinden, den Luxus aus Indien und noch weiter<br />
östlich liegenden unbekannten Län<strong>der</strong>n über Genua und Venedig zu beziehen.<br />
Die einzige, kaum zu denken gewagte Alternative besteht darin, einen an<strong>der</strong>en<br />
Handelsweg zum Osten zu suchen, einen, <strong>der</strong> über die Weltmeere führt und <strong>der</strong><br />
die islamischen Machtsphären umgeht.<br />
Aber die Suche nach einem solchen Weg erfor<strong>der</strong>t eine weit ausholende Reise<br />
über den Atlantischen Ozean nach Süden, um festzustellen, ob Afrika mit den<br />
Eismassen des Südpols zusammengewachsen ist o<strong>der</strong> irgendwo den Weg in den<br />
Indischen Ozean freigibt. Dazu braucht man Schiffe, die diese unvorstellbar<br />
langen Reisen überstehen und genügend Raum für Menschen und Vorräte<br />
bieten. Gelänge das große Vorhaben, wäre es <strong>der</strong> größte Triumph, den die<br />
Christenheit über die Mohammedaner erringen könnte!<br />
Kurz darauf wird Prinz Heinrich vom Christusorden, <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Verteidigung<br />
<strong>der</strong> Christenheit gegen die Moslems verschrieben hatte, zu seinem Großmeister<br />
gewählt. Doch <strong>der</strong> Prinz ist sich bewußt, dass die Christenheit das Interesse an<br />
Kreuzzügen verloren hat. Er weiß auch von <strong>der</strong> Unmöglichkeit, die Portugiesen<br />
zu einem Kampf gegen das islamische Reich aufzustacheln. <strong>Das</strong> kleine<br />
Königreich selbst konnte nicht hoffen, mehr zu tun, als es bisher gegen die<br />
Mohammedaner im Mittelmeergebiet getan hatte. Wenn aber portugiesische<br />
Schiffe lange genug auf See blieben, um diese Küsten zu erforschen, könnte<br />
Enrique über die Verteidigungsstärke des Islams wertvolle Hinweise erhalten.<br />
Ist sie an den entfernten Grenzen schwach, wie Enrique vermutete, dann ließe<br />
sich dort das Imperium erfolgreich angreifen.<br />
Ein solches Wagnis braucht aber Verbündete. Konnte vielleicht <strong>der</strong> sagenhafte<br />
Priester Johannes ein Bundesgenosse sein, dessen Reich man seit dem<br />
Mittelalter, genauer seit drei- o<strong>der</strong> vierhun<strong>der</strong>t Jahren, im Inneren Afrikas<br />
vermutet? Als sich das Reich <strong>der</strong> Moslems zum ersten Male ausdehnte, blieben<br />
innerhalb seiner Grenzen einige Inseln des Christentums erhalten. Über
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 67<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te hinweg konnte sich <strong>der</strong> Glaube – o<strong>der</strong> war es nur eine Legende? –<br />
an ein mächtiges christliches Königreich des Priesterkönigs lebendig erhalten.<br />
Jetzt dringen gar neue Nachrichten zu Enrique: <strong>der</strong> Priesterkönig sei ein<br />
Abkömmling <strong>der</strong> Drei Weisen und regiere sein ererbtes Land mit Weisheit und<br />
Gerechtigkeit. Sein Reich liege im schwarzen Äthiopien o<strong>der</strong> im Land, wo <strong>der</strong><br />
Heilige Thomas begraben liegt, irgendwo im märchenhaften Indien, und er habe<br />
bereits ein starkes Moslemheer geschlagen. <strong>Das</strong> wäre <strong>der</strong> ideale Alliierte, die<br />
entscheidende neue Kraft, mit <strong>der</strong> zusammen die Christen das Moslemreich<br />
eindämmen könnten. Der Glaube an diese phantastische Möglichkeit ist für<br />
Prinz Enrique ein weiterer Anreiz, einen Weg nach Süden zu suchen.<br />
Am Beginn seiner großen Entdeckungsfahrten will Prinz Enrique den Heiligen<br />
Krieg gegen den Islam aus einer neuen und noch nicht erprobten Richtung<br />
aufnehmen, um neue Handelsmöglichkeiten für Portugal zu suchen, denn<br />
Enrique glaubt – wie Gomes Eanes de Azurara, <strong>der</strong> Chronist, berichtet – »dass,<br />
falls in den südlichen Gebieten Häfen vorhanden sind, viele Handelswaren von<br />
ihnen zu niedrigen Preisen zurückgebracht werden können, weil es dort keine<br />
an<strong>der</strong>en Menschen gibt, die mit ihnen konkurrieren.«. Er wird das Unbekannte<br />
erforschen, um mehr über die Welt in Erfahrung zu bringen.<br />
Da erreicht eine Sensation die gebildete Welt, die auch Enrique wahrlich<br />
elekrisiert. Durch Zufall hatte ein Mönch auf dem Basar zu Konstantinopel die<br />
Schriften des Claudius Ptolemäus wie<strong>der</strong> entdeckt, die seit <strong>der</strong> Eroberung<br />
Alexandrias durch die Mauren vor mehr als 700 Jahren als verschollen galten.<br />
Man hatte angenommen, dass sie, wie viele an<strong>der</strong>e unersetzliche Werke, dem<br />
Brand <strong>der</strong> berühmten Bibliothek Alexandrias zum Opfer gefallen waren.<br />
Ptolemäus war Mathematiker und Geograph, er lebte einhun<strong>der</strong>t Jahre nach<br />
Christi Geburt und hatte durch lange Beobachtung und viele Berechnungen<br />
bewiesen, dass die Erde den Mittelpunkt des Weltalls bildet, umkreist von den<br />
Planeten und Fixsternen. Mit seinem geozentrischen Weltbild, lateinisch<br />
Almagest genannt, legte er die erste systematische Ausarbeitung <strong>der</strong> Astronomie<br />
vor. Die zweite große Schrift des Ptolemäus vermittelt die mathematischen<br />
Kenntnisse für die Längen- und Breitenbestimmung von Orten. Er hatte auch<br />
eine berühmte Weltkarte gezeichnet, auf ihr waren Europa, Asien und das tief<br />
im Süden mit <strong>der</strong> Antarktis zusammengewachsene Afrika zu sehen.<br />
Und genau dieser Punkt ist es, <strong>der</strong> Prinz Heinrich immer wie<strong>der</strong> zu denken gibt.<br />
Wie weit können Schiffe nach Süden fahren? Ist Afrika mit dem Südpol<br />
verbunden o<strong>der</strong> weichen seine Küsten vorher nach Osten, um einen Seeweg zum<br />
Priester Johannes, nach Äthiopien o<strong>der</strong> Indien freizugeben? Er wird Nachschau<br />
halten. Dann werden seine Schiffe auch auf die Quellen des Reichtums stoßen,<br />
auf denen die legendären »Schätze des Orients« gründen.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 68<br />
4<br />
Prinz Heinrich vertieft er sich ins Studium <strong>der</strong> Mathematik,<br />
Astronomie und Geographie. Systematisch entwickelt er eine neue<br />
Wissenschaft: die Navigation. Er muß annehmen, dass seine<br />
Kapitäne auf Ihren Fahrten das Land aus den Augen verlieren<br />
werden. Um nicht durch die starken auflandigen Winde auf den<br />
Strand getrieben zu werden, müssen die Seefahrer außerhalb <strong>der</strong><br />
Sichtweite des Landes fahren. Wie sollen sie sich orientieren, wie<br />
ihren Kurs finden und wie wie<strong>der</strong> nach Portugal zurückkehren?<br />
Sein Arbeitszimmer ist ein großer Raum mit zwei doppelflügeligen Türen und<br />
einer Reihe hoher Fenster, vor denen sein mit Pergamenten und Papieren<br />
bedeckter Schreibtisch steht. Von <strong>der</strong> nicht sehr hochgewölbten Decke hängen<br />
einfache Kronleuchter, an den Wänden, statt Gobelins, Waffen o<strong>der</strong> Gemälden,<br />
sind Karten zu sehen, Portolanos <strong>der</strong> bekannten Seegebiete mit ihren<br />
charakteristischen Windrosen und dem Spinnenetz <strong>der</strong> Kurslinien, aber auch<br />
Risse und Baupläne von Schiffen und Abbildungen des Sternenhimmels. Ein<br />
kleiner Tisch im Hintergrund ist bedeckt mit Quadranten, einem Astrolabium<br />
aus Messing und Sanduhren verschiedener Grösse.<br />
Ruhelos überlegend läuft <strong>der</strong> Prinz auf und ab. Irrtum und Erkenntnis gehen<br />
Hand in Hand! <strong>Das</strong> hat ihn schon Cëuta gelehrt. Nach Ptolemäus ist die Erde<br />
kugelförmig. Stimmt das? Enrique betrachtet die Karte auf dem Tisch. Die Erde<br />
darauf ist kreisrund und flach: eine Scheibe. Der Osten liegt oben, dort findet<br />
sich auch <strong>der</strong> Garten Eden, das Paradies. Enrique weiß, dass es ein Garten mit<br />
vielen Obstbäumen ist, darin <strong>der</strong> Baum des Lebens. Dort ist es we<strong>der</strong> kalt noch<br />
heiß, nur ewiger Frühling, und es gibt eine Quelle, die den Garten bewässert.<br />
Seit dem Sündenfall ist <strong>der</strong> Zutritt den Menschen verboten; <strong>der</strong> Garten ist nun<br />
umhüllt von Flammen, einer Feuermauer, die bis zum Himmel reicht. <strong>Das</strong><br />
Wichtigste findet sich im Mittelpunkt des Kreises: Jerusalem, das Zentrum <strong>der</strong><br />
Welt! Darum verteilt sieht man drei Kontinente, Asien, Afrika und Europa, je<br />
ein Kontinent für Noahs Söhne Sem, Ham und Japhet! Der äußere Rand wird<br />
begrenzt vom Weltmeer, dort ist die Welt zuende, dahinter ist <strong>der</strong> Abgrund, das<br />
Chaos.<br />
Sieht so die Welt aus? Enrique hat Zweifel. Die Wahrheit benötigt völlig<br />
an<strong>der</strong>en Quellen. Will man den Lauf <strong>der</strong> Welt in diese o<strong>der</strong> jene Richtung<br />
umleiten, darf man dem, was als absolut wahr nie<strong>der</strong>geschrieben ist, nicht<br />
vertrauen. Er sammelt alle Informationen, denen er habhaft werden kann. Was er<br />
erfährt, bestärkt ihn in <strong>der</strong> Ansicht, dass die reale Welt an<strong>der</strong>s beschaffen sein<br />
muß, als man es ihn in <strong>der</strong> Jugendzeit gelehrt hat.<br />
Da wird ihm eine Depesche von Duarte überbracht. In <strong>der</strong> Rolle findet er eine<br />
Seekarte des westlichen Mittelmeers, dazu ein Brief: »Lieber Bru<strong>der</strong>, den<br />
beigefügten Portolan haben wir auf einer maurischen Galeere gefunden, die<br />
unsere Schiffe kürzlich kaperten und in Besitz genommen haben. Ich habe ihn
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 69<br />
mit Zustimmung des Königs, unseres gnädigen Vaters, zum Documento secreto<br />
erklärt, da er uns beson<strong>der</strong>s informativ erscheint. <strong>Das</strong> Kleinod wurde in<br />
Mallorca vom Kartographen Jehuda Cresques, einem Experten für nautische<br />
Instrumente und Landkartenherstellung, gezeichnet und ich glaube, sein<br />
Schöpfer könnte Dir wegen seiner sorgfältigen Machart und Akkuratesse<br />
nützlich sein.«<br />
Wie Enrique den Portolan entrollt, findet er ein großes, buntes Blatt mit dem<br />
Abbild des Mittelmeeres, er liest die in Antiqua gezeichneten Namen <strong>der</strong> Län<strong>der</strong><br />
und Städte, schaut auf die farbigen Windrosen, folgt mit den Augen dem<br />
Spinnenetz ihrer Linien und erkennt zugleich die einzigartige Meisterschaft<br />
eines Kundigen. Nichts ist hier zufällig o<strong>der</strong> schlampig eingetragen, wie er es so<br />
oft schon erlebt hat. Der akribische Glanz dieses Portolans, seine Wesenlosigkeit<br />
und Ferne, die von dieser gemalten Mediterranea ausgeht, behagt seinem ganz<br />
in Abstraktion und Entrückung eingesponnenen Denken; hier sieht man nichts<br />
vom Brandschein <strong>der</strong> Städte, von den Schutthalden <strong>der</strong> Kriege; das Papier <strong>der</strong><br />
Landkarte ist sauber und glatt kein, Blutfleck, keine Asche haftet an ihm, alles<br />
ist Wissen und Intellekt.<br />
Lange betrachtet Enrique die Karte mit großem Interesse, dann lehnt er sich<br />
zurück, überfliegt noch einmal die Nachricht seines Bru<strong>der</strong>s und bleibt mit den<br />
Augen am Namen des Kartographen hängen. Jehuda Cresques! – Jehuda<br />
Cresques! <strong>Das</strong> muß <strong>der</strong> Sohn des bekannten Abraham sein, <strong>der</strong> anno 1375 den<br />
berühmten Katalanischen Atlas für den König von Aragon gezeichnet hatte. Der<br />
Sohn – o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Neffe? Egal, jedenfalls ein Mitglied <strong>der</strong> Familie, und er wird<br />
von seinem angesehenen Verwandten in die Kunst <strong>der</strong> Kartenmacherei<br />
eingeführt worden sein.<br />
Abraham Cresques war Jude, und Mallorca war damals noch ein Königreich.<br />
Der König kümmerte sich wenig um die Religion seiner Untertanen, solange sie<br />
<strong>der</strong> Krone treu ergeben waren und die Steuern pünktlich bezahlten. Deshalb<br />
siedelten sich auf <strong>der</strong> Insel viele jüdische und maurische Gelehrte und Händler<br />
an, die an<strong>der</strong>norts nicht willkommen waren. Über die südfranzösischen<br />
Provinzen Montpellier und Perpignan, die zum Besitz <strong>der</strong> mallorquinischen<br />
Könige gehörten, hatten die Balearen Anschluß an das europäische Festland und<br />
pflegten regen Warenaustausch bis nach Brüssel und Amsterdam hinauf;<br />
Mallorca war ein Zentrum <strong>der</strong> Seefahrt und des Handels. Aber nach <strong>der</strong> Schlacht<br />
von Llucmajor ist Mallorca an Aragon gefallen, und 1412 gelangte mit<br />
Ferdinand I. von Antequera das kastilische Haus Trastámara in Aragonien an die<br />
Macht. Heinrich weiß, dass Aragon neuerdings die Juden wie<strong>der</strong> verfolgt.<br />
Nun, im Frühjahr 1417, sendet er einen geschickten Boten zu Meister Jehuda<br />
nach Mallorca mit dem Angebot, in seine Dienste zu treten. Der Mann soll die<br />
Karten <strong>der</strong> afrikanischen Küste und <strong>der</strong> Atlantikinseln verbessern, weil jede<br />
Entdeckungsfahrt neue Informationen zurückbringen wird. Aber auch ein so<br />
versierter Kartograph wie dieser Meister Jehuda wird nur eine beschränkte Hilfe
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 70<br />
für Enriques Lotsen sein, denn die wenigen zur Verfügung stehenden nautischen<br />
Instrumente sind primitiv, man kann die Position eines Schiffes nur schätzen<br />
und seinen Kurs unsicher bestimmen. Obwohl seit Jahrhun<strong>der</strong>ten die<br />
Ausrichtung einer Magnetnadel nach Norden hin bekannt ist, berichten<br />
Schiffsführer immer wie<strong>der</strong>, dass sie häufig etliche Grade nach Osten o<strong>der</strong><br />
Westen abweichen. So werden sich seine Lotsen auf die Kenntnis des<br />
Sternenhimmels verlassen müssen.<br />
5<br />
»Der Hebräer ist da, Euer Gnaden.«<br />
»Welcher Hebräer?«<br />
»Der Kartenmacher.«<br />
Prinz Enrique schaut auf. »Cresques? Der Mallorquiner?«<br />
Der Diener bestätigt: »Ja, Euer Gnaden, <strong>der</strong>selbe.«<br />
»Schicke ihn herein.«<br />
Der Diener hüstelt verlegen. »Er – Verzeihung, Euer Gnaden, ...«<br />
»Was ist mit ihm?«<br />
»Er riecht!«<br />
»Ich werde es überleben.«<br />
»Er riecht«, <strong>der</strong> Diener gibt sich einen Ruck, »nein, er stinkt. Außerdem ist er<br />
zerlumpt.«<br />
»Dann laß ihm ein Bad richten, kleide ihn und gib ihm zu essen. Aber dann will<br />
ich ihn sehen!«<br />
Der Diener verneigt sich und will sich entfernen. Da ruft Enrique ihm nach:<br />
»Und weise ihm eine angenehme Kammer. Er ist mir wichtig!«<br />
»Sehr wohl, Euer Gnaden.« Sichtlich irritiert schließt <strong>der</strong> Lakei die Tür hinter<br />
sich.<br />
Zwei Stunden später wird ihm <strong>der</strong> Jude wie<strong>der</strong> gemeldet und auf Enriques<br />
Befehl betritt ein kleiner rundlicher Mann mit kurzem weißem Bart das<br />
Arbeitszimmer. Er eilt auf Prinz Heinrich zu, sinkt vor ihm in die Knie und<br />
versucht, die entgegengestreckte Hand zu küssen. »Nein«, sagt <strong>der</strong>, »laßt das!«<br />
»Danke, Euer Gnaden!«<br />
»Dank? Wofür?«<br />
»Für die Zuflucht, die Ihr mir vor <strong>der</strong> Inquisition in Mallorca gewährt«,<br />
antwortet, noch immer am Boden kniend, <strong>der</strong> Jude.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 71<br />
»Steht auf, Jehuda Cresques. Ihr werdet noch Gelegenheit finden, mir zu danken<br />
– mit Eurem Wissen.«<br />
Cresques richtet sich auf. Enrique läßt sich in einen Sessel fallen und betrachtet<br />
seinen Gast. Man hatte ihm ein einfaches Gewand gegeben, aber die Haltung des<br />
kräftig gebauten Mannes und <strong>der</strong> offene Blick verraten einen wachen und<br />
kritischen Geist.<br />
»Wie alt seid Ihr?«<br />
»Zweiundvierzig Jahre, Euer Gnaden.«<br />
»Ich kenne den Namen Eures berühmten Vaters und den weit verbreiteten Ruhm<br />
seines Könnens als Kartograph. Ich gehe davon aus, dass er vieles aus <strong>der</strong> Fülle<br />
seines Wissens an den Sohn weitergegeben hat.«<br />
»Er war mein Lehrmeister, wurde aber – Gott allein weiß, was ihm erspart<br />
geblieben ist – schon vor elf Jahren zu seinen Vätern abberufen. Ich war damals<br />
erst einunddreißig Jahre alt und es wird mir wohl nicht gelingen, sein Wissen<br />
und seine Reife zu erringen.«<br />
»Wie alt wurde Meister Abraham?« <strong>Das</strong> Interesse des Prinzen ist mehr als<br />
höfliches Interesse.<br />
»Mein Vater durfte das hohe Alter von einundsiebzig Jahren erreichen. Er ist bis<br />
heute mein unerreichbares Vorbild.«<br />
»Und seine Hinterlassenschaft? Ich meine, er hat in seinem Leben doch viele<br />
Unterlagen, Aufzeichnungen weitgereister Händler und Kapitäne, wohl auch<br />
Skizzen und Pläne <strong>der</strong> Reisenden gesammelt. Was ist mit diesem Vermächnis?«<br />
»Ein Teil befindet sich in meinem Gepäck, ein an<strong>der</strong>er in meinem Kopf, Euer<br />
Gnaden.«<br />
»Nun, wir werden sehen, was Ihr von Eurem berühmten und verehrten Vater<br />
lernen konntet. Darum habe ich Euch rufen lassen.«<br />
Der Besucher verbeugt sich in Trauer und Dankbarkeit. »Ich danke Euch,<br />
Hoheit, dass Ihr mir Asyl gewährt, auch wenn ich es dem Ansehen meines<br />
Vaters verdanke.«<br />
»Ich habe von den neuerlichen Verfolgungen gehört, denen die Juden in Aragon<br />
ausgesetzt sind. Ich will nicht, dass Ferdinand von Antequera in seinem Wahn<br />
die geistige Elite Mallorcas ausrottet. Darum mache ich mir Eure Kunst<br />
dienlich. Wenn Ihr mir danken wollt, dann durch Loyalität.«<br />
Der Jude nickt kaum merklich. »Ich werde es nicht vergessen, Eure Hoheit.<br />
Doch wenn ich Euch meinen ›neuen‹ Namen nennen darf ...«<br />
Enrique horcht auf. Cresques hat das Attribut »neu« merkwürdig betont. Er<br />
versteht sofort. »Ihr seid getauft, ein Converso?«<br />
»Ja, Euere Hoheit, und ich heiße jetzt Jacôme.«
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 72<br />
Der Prinz sieht den Besucher nachdenklich an. »Jacôme. So, so!« Und nach<br />
einer Weile: »Gut, ich werde Euch Jacôme nennen.« Und er denkt: Vielleicht ist<br />
das gut so, es muß ja nicht je<strong>der</strong> wissen, dass Juden auf Kap São Vicente leben!<br />
Cresques hat sich inzwischen verstohlen im Raum umgesehen. Er macht eine<br />
Handbewegung zu den überall herumliegenden nautischen Gegenständen und<br />
sagt: »Portolanos, Schiffsbaupläne, Astrolabien: es geht um Seefahrt?«<br />
»Richtig.« Enrique deutet auf einen Stuhl. »Nehmt Platz, Jacôme.« Er wartet,<br />
bis dieser sich gesetzt hat, dann fährt er fort: »Um meinen Kapitänen das<br />
praktische, aber fundierte Rüstzeug <strong>der</strong> nautischen Wissenschaften zu geben, bin<br />
ich seit einiger Zeit bemüht, eine Bibliothek zu gründen, in <strong>der</strong> alle wichtigen<br />
Werke versammelt sind, die <strong>der</strong> Seefahrt und <strong>der</strong> Erforschung <strong>der</strong> Erde dienen.<br />
In aller Welt sammeln meine Agenten Bücher und Handschriften, es sind schon<br />
beachtliche Schätze zusammengetragen worden. Was wißt Ihr von <strong>der</strong><br />
Steuermannskunst?«<br />
Cresques läßt sich willig examinieren. »Steuermannskunst beantwortet die<br />
Fragen, welchen Weg über See man einzuschlagen hat und auf welchem Ort auf<br />
See man sich befindet. Sie umfaßt auch den Bau und die Ausrüstung des<br />
Schiffes und die eigentliche Kunst des Seemanns, sein Schiff zu handhaben.«<br />
»Richtig! <strong>Das</strong> Mittelmeer befuhren schon die Kreter, Griechen und die<br />
Phönizier, letztere segelten angeblich auch durch die Enge des Herkules. Aber<br />
über ihr Ziel weiß ich nichts, und darum mag das nur ein Gerücht sein. Zur<br />
Seefahrt übers große Westmeer haben wir kaum verläßliche Quellen. Nicht<br />
umsonst nennt man ihn den Oceano Tenebroso, das Meer <strong>der</strong> Finsternis.«<br />
»Die Phönizier wurden nicht nur als kluge Handelsleute und geschickte<br />
Gewerbetreibende gepriesen, sie waren auch hervorragende Seefahrer und<br />
lebten ursprünglich im Lande Kanaan, ihre Stadt war Sidon, und sie soll vor<br />
mehr als 4400 Jahren gegründet worden sein. Der schmale Küstenraum bot<br />
wenig Raum zu Ackerbau und Viehzucht, aber das Gebirge des Libanon mit<br />
seinen Ze<strong>der</strong>n lieferte in unmittelbarer Nähe das trefflichste Holz zum<br />
Schiffsbau. <strong>Das</strong> Volk hatte einen regen Geist; es ersann die Buchstaben- und<br />
Ziffernschrift, fertigte Schmuck aus Gold und Silber und brachte die Weberei<br />
und Färberei zu so hoher Blüte, dass die Griechen das Land nach den schönen<br />
Gewän<strong>der</strong>n, die sie von dort bezogen, Phönizien, das heißt Purpurland nannten.<br />
Aber sie waren auch als verschlagene Seeräuber verrufen.«<br />
»Woher wißt Ihr das?«<br />
»Die Bevölkerung Sidons war so rasch gewachsen, dass man schon 240 Jahre<br />
später die Tochterstadt Tyrus gegründet hatte. Von <strong>der</strong> Üppigkeit und Pracht,<br />
die in ihr herrschte, lesen wir in <strong>der</strong> großartigen Schil<strong>der</strong>ung des 27. Kapitels<br />
des Propheten Hesekiel. Die Schiffe durchfuhren das ganze mediterrane Meer<br />
bis über die äußerste Grenze im Westen, und nach phönizischen Urkunden<br />
wurde vor 2500 Jahren die Stadt Cadiz gegründet. Von hier aus knüpften sie
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Handelsbeziehungen nach Norden. Sie begründeten einen einträglichen<br />
Zinnhandel mit den Fundorten in Britannien und sollen selbst bis zu den<br />
Bernsteinküsten an <strong>der</strong> Ostsee vorgedrungen sein.«<br />
Der Prinz hat mit wachsendem Interesse zugehört. Er hat einen Geographen<br />
erwartet, aber hier offenbart sich ein Mann, aus dem das reiche Wissen eines<br />
alten Volkes spricht. »Also das waren die Ziele <strong>der</strong> Phönizier!«, antwortet er.<br />
»Aber das war auch nur Küstenseefahrt.«<br />
»Sie stießen bald in ganz an<strong>der</strong>e Gegenden vor! Vor 2400 Jahren schloß König<br />
Hiram von Tyrus einen Vertrag mit König Salomo, um für den Tempelbau Gold<br />
und Silber und edle Bauhölzer aus den Küstenlän<strong>der</strong>n des Indischen Ozeans zu<br />
holen. Die Schiffe, welche durch das Rote Meer fuhren, hießen Orphirfahrer,<br />
das heißt Südfahrer. Und vor 2000 Jahren schickte König Necho von Ägypten<br />
phönizische Schiffe aus, um vom Arabischen Meer aus eine Fahrt nach Süden<br />
um Afrika herum zu unternehmen, die – wie Herodot berichtet – drei Jahre<br />
später von Westen her durch die Säulen des Herkules zurückkehrten. ›Sie<br />
erzählten‹, schreibt Herodot, ›was zu glauben ich an<strong>der</strong>en überlasse, dass sie<br />
bei ihrer Fahrt von Osten nach Westen um den Süden Afrikas die Sonne stets zur<br />
Rechten gehabt hätten.‹ Und das, was Herodot bezweifelt, bestärkt mich an <strong>der</strong><br />
Glaubwürdigkeit dieser Reise.«<br />
»Ja, da ist etwas dran. Wir denken uns nach Ptolemäus, dass die Erde keine<br />
Scheibe, son<strong>der</strong>n eine Kugel ist. Weil aber Herodot nur das Mittelmeer kannte,<br />
in dem man auf Westkurs die Sonne links sieht, war es für ihn nicht vorstellbar,<br />
die Sonne bei gleicher Fahrtrichtung rechts zu haben. Aber lei<strong>der</strong> haben die<br />
nachfolgenden Zeiten vieles wie<strong>der</strong> ins Dunkel des Vergessens gehüllt.«<br />
»In <strong>der</strong> Tat wird mit Recht geklagt, dass die Steuermannskunst auf <strong>der</strong><br />
Unendlichkeit <strong>der</strong> großen Ozeane noch immer ein so dunkles Gebiet ist, dass<br />
man nur zu leicht irre gehen kann.«<br />
»Wir werden die Ozeane erforschen, Jacôme« sagt Enrique entschieden, »und<br />
um ein Schiff über See zu führen, braucht es befahrene Seeleute; dazu ist we<strong>der</strong><br />
ein beliebiger Ru<strong>der</strong>knecht noch ein belesener Gelehrter, son<strong>der</strong>n nur ein gut<br />
geschulter Pilot fähig.«<br />
»Es ist wahr, Hoheit, man kann vom Seemann nicht die Kenntnis <strong>der</strong> alten<br />
Schriften verlangen, und vom Gelehrten nicht die Vertrautheit mit nautischen<br />
Dingen.«<br />
»Wenn man davon ausgeht, dass die alten Epiker, Dramatiker, Historiker und<br />
Philosophen technisch-nautische Kenntnisse gehabt haben, finden wir doch –<br />
wie zum Beispiel bei Aristophanes – viele Beispiele nautischer Situationen, die<br />
uns dienen könnten.«<br />
»Gerade das erscheint mir fraglich.«
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 74<br />
»Wieso das? Zu ihrer Zeit war doch das Schiff das einzige Fernreisemittel<br />
überhaupt – vom Pferd abgesehen. Da kann man doch davon ausgehen, dass sie<br />
damit einigermaßen Bescheid wußten.«<br />
»<strong>Das</strong> mag für einige <strong>der</strong> Klassiker gelten, aber wir haben keinen Grund, alle ihre<br />
Texte kritiklos anzunehmen. Ist es doch unglaublich, wieviel Unkenntnis,<br />
wieviel Schein- und Halbwissen selbst die Kartographen haben.« Jacôme<br />
Cresques war bei seinen letzten Worten aufgestanden und an den Tisch getreten,<br />
auf dem er eine Seekarte entdeckt hatte. »Beim Anblick ihrer Portolane kommt<br />
man oft nicht aus <strong>der</strong> heiteren Stimmung heraus. Seht her!«<br />
Enrique trat stirnrunzelnd hinzu. »Wie meint Ihr das?«<br />
»Nun, wenn man die zierlichen Abbildungen <strong>der</strong> Schiffe betrachtet, die die<br />
Karte schmücken, merkt man bald, dass sie nicht von einem Sachkundigen<br />
herrühren können. Auch <strong>der</strong> Nichtseemann findet auf den ersten Blick den<br />
kindischen Wi<strong>der</strong>spruch heraus: <strong>der</strong> Wind muß – wie hier – von vorn kommen,<br />
weil die Segel back liegen, aber er bläst gleichzeitig von hinten, denn die Flagge<br />
am Heck weht zum Bug hin aus.« Heinrich folgt mit den Augen dem zeigenden<br />
Finger des Karthographen. Der weist auf eine schmückende Hafenszene am<br />
Kartenrand. »O<strong>der</strong> hier: das Schiff an <strong>der</strong> Mole. Die Sprossenleiter ist so schräg<br />
an das Schiff gelegt, dass es nur einem Seiltänzer möglich ist, an<strong>der</strong>s als auf<br />
allen Vieren an Bord o<strong>der</strong> an Land zu gehen. Diese Künstler haben vielleicht<br />
von einem Laufgang gehört, wissen aber nicht, dass sich <strong>der</strong> Seemann, um von<br />
Bord an Land zu gehen, keiner halsbrechenden Sprossenleiter, son<strong>der</strong>n eines<br />
starken Balkens o<strong>der</strong> eines Stegs bedient.«<br />
»Was also soll man von den Quellen halten?« fragt Heinrich und fährt fort. »Die<br />
Reisen im Mittelmeer, auch an <strong>der</strong> Küste des großen Westozeans hinauf nach<br />
Brügge, Antwerpen und weiter, bedeuten für erfahrene Seeleute nichts an<strong>der</strong>es<br />
als Küstenfahrt. Man orientiert sich nach Landmarken und findet so den Weg<br />
zum Ziel. Nur, wo eine bekannte Bucht tiefer in das Land schneidet o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Küstenverlauf, wie bei <strong>der</strong> Biskaya, einen bekannten Winkel bildet, kürzt man<br />
den Umweg auf direktem Kurs ab. Und wenn eine Insel in absehbarer Ferne<br />
vom Land liegt, wagt man die Überfahrt. Aber schon außerhalb <strong>der</strong> heimischen<br />
Gewässer ist die Seefahrt mühselig und voller Gefahren. Man muß fortwährend<br />
die Wassertiefe loten, um nicht auf Grund zu geraten, und auch diese Vorsicht<br />
wird überschätzt, wenn rauhe Untiefen o<strong>der</strong> Klippen so steil emporsteigen, dass<br />
das Lot keine Warnung gibt. Wenn <strong>der</strong> Schiffer zudem von einem Sturm<br />
überfallen wird und dem nahen Land zutreibt, wo es auf <strong>der</strong> Sandbank strandet<br />
o<strong>der</strong> an Felsen zerschellt, dann mag er es als ein Wun<strong>der</strong> ansehen, wenn er das<br />
nackte Leben retten kann.«<br />
»So ist es in <strong>der</strong> Tat, Eure Hoheit. <strong>Das</strong> offene Meer hingegen birgt <strong>der</strong>lei<br />
Bedrohungen nicht. Wenn Eure Kapitäne erst einmal den Mut gefunden haben<br />
werden, ohne Sicht des Landes zu segeln und <strong>der</strong> hohen See zu trauen, dann
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werden sie sich bald überzeugen, dass die Tiefe weniger Gefahren bietet als die<br />
Untiefe.«<br />
»Darin liegt eine unserer Aufgaben, Jacôme. Wir müssen unseren Seefahrern –<br />
Kapitänen, Piloten und Matrosen – die Furcht vor dem Unbekannten nehmen,<br />
wir müssen gute und einfach zu bedienende Instrumente haben, mit denen es<br />
möglich ist, einen durch nichts beeinträchtigten Kurs ohne Landsicht zu finden.<br />
Unsere Seekarten – heute noch ungenau, lieblos und schlampig hergestellt –<br />
müssen genau und immer besser werden, je mehr Informationen die Kapitäne<br />
zurückbringen. Und das alles wird durch seetüchtige und wendige Schiffe<br />
möglich werden, die den Seefahrern das Vertrauen in ihre Rückkehr garantieren<br />
und die auch Platz für eine ausreichende Mannschaft sowie Tausch- und<br />
Handelswaren bieten.«<br />
»Nur so werden Eure Hoheit das stolze Ziel erreichen. Und wenn die Schiffe<br />
nach Sturm und Flauten, durch Unwetter verschlagen und in Windstille von <strong>der</strong><br />
Strömung versetzt, nach vielen Abenteuern und langen Irrfahrten mit neuen<br />
Waren und Erfahrungen die Heimat endlich wie<strong>der</strong> erreichen, wird mit dem<br />
Erfolg die Lust zu neuen Taten wachsen und aus den zaghaften Küstenfahrern<br />
werden kühne Seefahrer werden.«<br />
»Ihr wißt zu begeistern, Jacôme. Aber bis dahin bleibt viel zu tun. Die<br />
Beklommenheit vor dem unbegrenzten Ozean, von dem kein jenseitiges Ufer<br />
winkt, ist noch zu besiegen! Noch wohnt die Furcht in den Köpfen und Herzen.<br />
Wir müssen dem Seemann das Gestade verheißen, an er sich Ruhe von<br />
beschwerlicher Reise erhoffen darf, wo er seine verbrauchten Vorräte ersetzen<br />
und sein seeuntüchtig gewordenes Schiff ausbessern kann.«<br />
»Ja, aber auch, dass seine Mühen von Euer Gnaden reichlich belohnt werden,<br />
wenn er nach durchstandener Unternehmung mit Erfolg das heimische Portugal<br />
wie<strong>der</strong> erreicht.«<br />
»Seid ein schlauer Fuchs, Jacôme, das gefällt mir. Nichts spornt mehr an als die<br />
Aussicht auf reichen Lohn!«<br />
»Was nützt es, ferne und vielleicht feindliche Län<strong>der</strong> zu besuchen, wenn nach<br />
<strong>der</strong> Rückkehr nicht fürstliche Erkenntlichkeit winkt? Mit Verlaub, aber Euer<br />
Ehren tun nichts an<strong>der</strong>es. Die Kapitäne reisen mit <strong>der</strong> Verlockung, Reichtum zu<br />
erringen hinaus; Euer Ziel ist es, den Reichtum <strong>der</strong> Welt nach Portugal zu<br />
holen!«<br />
Prinz Heinrich beginnt, im Raum hin und her zu laufen. »Unsere Seefahrt wird<br />
keine Küstenfahrt mehr sein, Cresques! Schaut!« Er eilt an eines <strong>der</strong> Fenster,<br />
von denen man auf den Atlantik hinaussieht. Mit ausgestrecktem Arm zeigt er in<br />
die Abendsonne, nach Südwesten. »Dorthin müssen unsere Schiffe reisen, dort<br />
werden sie hinter dem Horizont verschwinden, wir werden ihnen nachschauen<br />
und auf ihre Rückkehr warten. Sie werden ihren Kurs nach <strong>der</strong> Sternen
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 76<br />
berechnen müssen, die Sterne werden ihnen den Weg zu fremden Königreichen<br />
weisen, und die Sterne müssen sie wie<strong>der</strong> heimführen!«<br />
Auch Cresques erhebt sich vom Stuhl, bleibt aber im Hintergrund des<br />
Arbeitszimmers stehen und beobachtet den Prinzen, von dessen Begeisterung<br />
angesteckt.<br />
Heinrich dreht sich brüsk um und fragt: »Und was wußten eure Phönizier<br />
darüber? Sie haben doch angeblich Afrika umfahren?«<br />
»Die Phönizier waren verschwiegen und wollten keine Konkurrenz; darum hat<br />
man von ihnen kaum eine Aufzeichnung. Aber <strong>der</strong> griechische Geograph und<br />
Historiker Strabo schil<strong>der</strong>t sie zu Beginn <strong>der</strong> christlichen Zeitrechnung als<br />
fleißige Forscher <strong>der</strong> Himmelskunde, weil die Kenntnis <strong>der</strong> Gestirne <strong>der</strong><br />
Schiffahrt wie dem Handel unentbehrlich waren. Und Plinius sagt – er kam beim<br />
Vesuvausbruch im Jahre 79 ums Leben: ›Die Sternbeobachtungen wendeten<br />
zuerst die Phönizier an‹. Auch ist es bezeichnend, dass Thales von Milet ein<br />
Sohn phönizischer Eltern war. 600 Jahre vor Strabo lehrte er, dass <strong>der</strong> Himmel<br />
eine hohle Kugel sei, welche die auf dem Wasser schwimmende Erdscheibe<br />
umgebe. Doch schon fünf Jahrzehnte später trat Pythagoras auf. Ihm kommt das<br />
Verdienst zu, als Erster die Kugelgestalt <strong>der</strong> Erde erkannt zu haben; den Beweis<br />
dafür lieferte dann Aristoteles 350 Jahre vor christlicher Zeitrechnung. Er zeigte<br />
die kreisförmige Begrenzung des Erdschattens bei Mondfinsternissen und<br />
beobachtete, dass sich <strong>der</strong> Scheitelpunkt verschiebt, wenn man seinen Standort<br />
nach Nord o<strong>der</strong> Süd verän<strong>der</strong>t.«<br />
»Ja, Jacôme, ich habe das gelesen. Daraus ergibt sich, dass man in Ägypten<br />
südliche Sterne sehen kann, die in nördlichen Gegenden nicht mehr aufgehen,<br />
während wie<strong>der</strong> nördliche Sterne, die in südlichen Gegenden auf- und<br />
untergehen, in nördlichen Breiten während ihres ganzen Umlaufs über dem<br />
Horizont gesehen werden. Ptolemäus errechnete daraus sogar den Umfang <strong>der</strong><br />
Weltkugel.«<br />
»Wir werden uns das Wissen <strong>der</strong> Antike, beson<strong>der</strong>s das des Ptolemäus, zum<br />
Wohle Eurer Kapitäne und damit Portugals zunutze machen, Euer Gnaden – wie<br />
es auch die Mauren tun.«<br />
Heinrich läßt sich wie<strong>der</strong> in seinem Sessel nie<strong>der</strong>. »Ja, die Mauren«, sagt er<br />
nachdenklich. »Heute gehört ihnen die halbe Welt. Sie beherrschen nicht nur die<br />
Län<strong>der</strong> von Arabien nach Indien und Nordafrika, noch immer sind sie am Djebel<br />
al-Tarik (Gibraltar) und in Granada ein Stachel in iberischem Fleisch. Ihre<br />
Schiffe segeln – wie man hört – vom Roten Meer über den Indischen Ozean und<br />
weiter!« Und zum Kartographen gewandt fragt er: »Was hat Ptolemäus mit den<br />
Arabern zu tun?«<br />
»Der Schlüssel zu Ptolemäus«, erwi<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Kartograph, »ist seine Lehre <strong>der</strong><br />
Gestirnsbewegung. Die Sonne, <strong>der</strong> Mond und die Planeten bewegen sich in<br />
unterschiedlichen Entfernungen, den Differenten, um die Erde. Jedes dieser
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 77<br />
Gestirne bewegt sich seinerseits auf einer kleinen Kreisbahn um sich selbst. Dies<br />
erklärt, warum wir auf <strong>der</strong> Erde stets sich än<strong>der</strong>nde Konstellationen beobachten<br />
können.«<br />
»Und das haben sich die Araber nutzbar gemacht?«<br />
»Ja, Euer Gnaden. Als die Lenker <strong>der</strong> römischen Kirche die Welt als Scheibe<br />
zum Bestandteil des christlichen Glaubens erhoben, versank das Wissen <strong>der</strong><br />
Antike im Strom des Vergessens. Allerdings –«, <strong>der</strong> Jude lächelte verschmitzt,<br />
»allerdings nur für die gewöhnlichen Gläubigen. Meinem Vater wurden, als er<br />
am ›Atlas‹ arbeitete, geheime Unterlagen aus <strong>der</strong> vatikanischen Bibliothek<br />
zugespielt, die auf die Griechen zurückgingen. Und für die Byzantiner, die ja<br />
heute noch so stolz auf ihre griechische Herkunft sind, blieben Pythagoras,<br />
Aristoteles und Ptolemäus immer Heilige.«<br />
Der Prinz wird ungeduldig. »Komm endlich auf die Araber zu sprechen!«<br />
»Auch die Araber hielten antikes Wissen hoch. Sie mögen in ihrem Glauben<br />
noch so fanatisch sein, im Umgang mit den Wissenschaften verhielten sie sich<br />
pragmatisch und übernahmen vieles, was die Menschen des Altertums schon<br />
wußten. Und seit dem Altertum besaßen die Araber, wie die geographische Lage<br />
Arabiens einleuchtet, eine reiche und praktische Län<strong>der</strong>kunde, denn sie<br />
vermittelten doch den Verkehr zwischen Indien und Ostafrika einerseits, dem<br />
römischen Reich und den Euphrat- und Tigrislän<strong>der</strong>n an<strong>der</strong>erseits.«<br />
»So wie sie heute die Plätze Genua und Venedig mit ihren starken Märkten<br />
unterstützen!«<br />
»Ja. Aber anfangs haben sie sich die Erde als ein Haus o<strong>der</strong> Zelt vorgestellt, und<br />
Mohammed spricht von <strong>der</strong> Erde, die Gott den Menschen wie einen Teppich<br />
ausgebreitet hat. Wie Ihr wißt, ist <strong>der</strong> Koran nicht nur ein religiöses Buch, wie<br />
beispielsweise die Bibel, er bestimmt auch weitgehend das tägliche Leben <strong>der</strong><br />
Mauren. So ist es auch logisch begründet, dass die ersten Eroberungstruppen<br />
den Handelsstraßen folgten.«<br />
»Allerdings, und ihr geographischer Horizont weitete sich in wenigen Jahren<br />
ungemein. Sie waren beritten und überfluteten auf ihren schnellen Pferden große<br />
Teile Asiens und Afrikas.«<br />
»Nicht nur deshalb, verehrter Prinz. Die arabischen Feldherrn unterrichteten sich<br />
vor ihren Feldzügen als gute Strategen über Wege und Straßen, über<br />
Entfernungen und Hin<strong>der</strong>nisse, zum Beispiel Gebirge und Flüsse, natürlich auch<br />
über die Größe und Stärke feindlicher Völker. Und sie eroberten zuerst die<br />
Län<strong>der</strong> alter Kulturen, drangen in die Türkei und nach Persien bis Buchara und<br />
Samarkand vor. Dort waren die Straßen gut erhalten und mit Meilensteinen<br />
besetzt, es existierte auch eine gut organisierte Staatspost. Alle diese<br />
Institutionen machten sich die Araber zunutze, die eingesessenen Beamten<br />
durften ihre Posten behalten, denn sie waren dazu viel besser geeignet als die<br />
unsteten Araber. So konnten sie aber auch weiterhin ihre Kräfte gebündelt
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 78<br />
einsetzen, wandten sich nach Nordafrika und überranten alle Län<strong>der</strong> bis nach<br />
Portugal und Spanien.«<br />
»Gut, gut, aber aus Portugal haben wir sie schon 1279 wie<strong>der</strong> verjagt. Was hat<br />
das mit arabischer Geographie zu tun?«<br />
»Der Islam verlangt von seinen Bekennern, dass sie beim Gebet ihr Antlitz<br />
gegen ihre heilige Moschee von Mekka richten. <strong>Das</strong> ist leicht zu erfüllen, wenn<br />
man sich nur wenige Tagereisen weit von dieser Stadt aufhält. Aber bei<br />
größeren Entfernungen erheischt dieses Gebot, wenn man ihm genau<br />
nachkommen will, geographische und astronomische Kenntnisse. Darüber<br />
hinaus ist je<strong>der</strong> gläubige Muslim verpflichtet, einmal in seinem Leben eine<br />
Pilgerfahrt nach Mekka zu unternehmen, und auch diese Vorschrift regte den<br />
geographischen Sinn an. Deshalb mußten sich die Araber aus ganz alltäglichen<br />
Gründen den mathematischen Grundlagen <strong>der</strong> Geographie zuwenden.«<br />
Dämmerung hat sich ausgebreiten; <strong>der</strong> Nachmittag ist dem Abend gewichen,<br />
aber die beiden Männer merken nichts davon.<br />
»Wie unwissend wir sind, Jacôme.« Enrique, <strong>der</strong> stolze Prinz von Portugal,<br />
erkennt plötzlich, dass <strong>der</strong> Jude nicht nur Kartenmacher ist. Jacôme Cresques ist<br />
nicht, wie viele Christen, von die Wissenschaften einengenden<br />
Glaubensgrundsätzen beschwert. Gespannte Erwartung erfüllt ihn angesichts des<br />
reichen Wissensschatzes des Mallorquiners. »Redet weiter!«<br />
»Nun es ist sicher, dass die begehrten Handelsgüter Genuas und Venedig – also<br />
die Gewürze, Seiden und Perlen – von den Arabern über den Indischen Ozean<br />
und das Rote Meer herbeigeschafft werden. Dort besteht seit ältesten Zeiten ein<br />
lebhafter Schiffsverkehr. Wir wissen das aus den Aufzeichnungen des Ibn<br />
Batuta. Die arabischen und – nicht in letzter Linie – chinesischen Seefahrer<br />
benutzen gewiß einige wichtige Hilfsmittel, zum Beispiel Instrumente, um die<br />
Sternenhöhe zu messen; wir kennen zum Beispiel das Astrolabium. Doch haben<br />
sie wahrscheinlich auch eine Art von Seekarten.«<br />
»Woher wollt Ihr das wissen?«<br />
»Der arabische Gelehrte Haggi Halfa, genannt Bulak, schreibt schon 1274 über<br />
die Geographie: ›Dies ist ein griechisches Wort mit <strong>der</strong> Bedeutung: Darstellung<br />
<strong>der</strong> Erde. Sie ist eine Wissenschaft, durch die man die Zustände <strong>der</strong> Klimate, die<br />
auf dem bewohnten Viertel <strong>der</strong> Erdoberfläche liegen, ferner die Breiten und<br />
Längen <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>, die darauf liegen, die Zahl ihrer Städte, Gebirge,<br />
Festlän<strong>der</strong>, Meere, Flüsse und an<strong>der</strong>es mehr erfährt.‹«<br />
Es war fast dunkel im Saal. Der Prinz konnte die Gestalt des Kartographen nur<br />
noch als Umriß erkennen. Gespannt und voll ungebrochenen Interesses lauscht<br />
er <strong>der</strong> sanften Stimme.<br />
»Und dann schreibt Haggi Halfa: ›Der erste, <strong>der</strong> in dieser Wissenschaft ein<br />
Buch verfaßte, war Batlamyus al-Kalauzi, denn er verfaßte, nachdem er den
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 79<br />
,Almagest‘ geschrieben hat, auch das Buch, das unter dem Namen ,Gagrafiya‘<br />
bekannt ist!‹«<br />
Der Prinz springt auf. »Wie war <strong>der</strong> Name des Verfassers?«<br />
»Batlamyus al-Kalauzi.«<br />
»<strong>Das</strong> ist –?«<br />
»Ja, edler Prinz, Ihr habt es erkannt. Es ist <strong>der</strong> arabische Name für Claudius<br />
Ptolemäus!«<br />
»Stimmt es, dass das verschollene Werk wie<strong>der</strong> aufgetaucht ist?«<br />
»Ja, in Konstantinopel. Ein Mönch fand es unter Plun<strong>der</strong> auf dem Basar.«<br />
»Und? Können wir daraus Nutzen ziehen?«<br />
Heinrich kann nicht sehen, dass Jacôme Cresques befriedigt lächelt. »Ich glaube<br />
schon, Euer Gnaden, denn es ist mir gelungen, eine Kopie zu beschaffen. Schon<br />
seit einiger Zeit arbeite ich an <strong>der</strong> Übersetzung <strong>der</strong> ›Geograhia‹ des Ptolemäus.<br />
Die vorhandenen Auszüge – und bald das ganze Werk – stehen Portugal<br />
selbstverständlich zur Verfügung.« Er zieht ein Bündel eng beschriebener<br />
Blätter aus seinem weiten Gewand und legt es vor den Prinzen auf den Tisch.<br />
»Erlaubt mir, Euch zu danken, »Illustrissime!« Enrique, sonst immer sehr<br />
zurückhaltend, reicht dem Juden spontan die Hand. »Es wird meine nächste<br />
Aufgabe sein«, fährt er fort, »Männer zu finden, die in Sagrés auch die Weisheit<br />
<strong>der</strong> antiken Gelehrten verbreiten.«<br />
»<strong>Das</strong> wird nicht schwer sein, Hoheit«, entgegnet Jacôme, »heute, da Mallorca<br />
von Aragon annektiert wurde und das Königreich Mallorca nicht mehr existiert,<br />
kann man überall im Abendland geflüchtete Gelehrte finden, die gezwungen<br />
sind, von ihrer Bildung, vom Verkauf ihrer Bücher und ihren Kenntnissen zu<br />
leben. Ihr werdet nicht lange nach geeigneten Helfern für Euer Werk zu suchen<br />
brauchen.«<br />
6<br />
Während sie über den Weg diskutieren, entstehen zu Sagrés<br />
die Vehikel, die ihre Theorien zur Praxis machen sollen.<br />
Wenn <strong>der</strong> Südwestwind vom Atlantik herüberweht, kann<br />
man hier oben auf dem Cabo São Vincente den Lärm von Sägen und Hämmern<br />
auf <strong>der</strong> Werft vernehmen. Emsig werken seine Fachleute an <strong>der</strong> Gerippen <strong>der</strong><br />
Schiffsrümpfe, versehen die eichenen Schiffsrümpfe mit Planken aus<br />
Strandkiefer, verlegen Steven und Plankengänge mit Pinienholz und geben den
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 80<br />
Schiffen nach Art <strong>der</strong> Hansekoggen axiale Steuerru<strong>der</strong>, die von riesigen Pinnen<br />
bewegt werden müssen. Bis zu 3000 Bäumen benötigen sie für jedes Schiff.<br />
Heinrichs Schiffsbauer entwickeln einen neuen Schiffstyp: leicht gebaut, mit<br />
starken Decks und genügend Tonnage, um ausreichende Wasser- und<br />
Nahrungsmittelvorräte für lange Seereisen aufzunehmen. Karavellen können<br />
länger auf See bleiben, als je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Schiffstyp vorher, und sind auch in <strong>der</strong><br />
Lage, die Segel den Erfor<strong>der</strong>nissen anzupassen: dreieckigen Lateinsegel für<br />
leichte bis starke Winde bei raumen Kursen und am Wind, sowie quadratische<br />
Rahsegel, um achterliche Winde für eine rasche Fahrt zu nützen.<br />
Karavellen sind speziell dafür konstruiert, die Entdecker wie<strong>der</strong> nach Hause zu<br />
bringen. Die vertraute schwerfällige und mit Rahsegeln ausgestattete Barca o<strong>der</strong><br />
die noch größere Karacke sind für das Segeln vor dem Wind gedacht. Im<br />
Mittelmeer, wo die Größe eines Schiffes Maßstab seines Nutzens ist, sind sie die<br />
richtigen Schiffe. Große Schiffe bedeuten mehr Profit aus größerer Ladung.<br />
Aber ein Entdeckerschiff hat seine eigenen Probleme. Es ist kein Frachtschiff,<br />
muß lange Entfernungen in unbekannten Gewässern zurücklegen und muß auch<br />
gegen den Wind kreuzen können. Ein Forschungsschiff taugt nichts, wenn es<br />
nicht hin- und wie<strong>der</strong> zurück gelangen kann. Seine wichtigste Ladung besteht<br />
aus Nachrichten, die man auf wenig Papier nie<strong>der</strong>geschrieben beför<strong>der</strong>n kann!<br />
Notfalls genügt dafür <strong>der</strong> Verstand eines Mannes!<br />
Entdeckerschiffe müssen nicht sehr groß sein, aber wendig, gut manövrierfähig<br />
und vor allem rückkehrfähig. Man kennt die großen Windsysteme, die die<br />
Ozeane beherrschen; Schiffe, die vor dem Wind davonsegeln, werden meist bei<br />
Gegenwind heimkehren müssen. Die Schiffe des Mittelmeers nützen den<br />
Entdeckern nichts. Die Karavelle wird beweisen, dass größer nicht immer besser<br />
bedeuten muß. Vorbild zu dem neuen Schiffstyp ist die Dhau <strong>der</strong> Araber. Die<br />
mit einem schräg hängenden, dreieckigen Lateinersegel getakelte Dhau<br />
transportiert dreißig Mann und siebzig Pferde und zeichnet sich durch beson<strong>der</strong>s<br />
gute Manövrierfähigkeit aus. Hinzu kommt, dass eine Karavelle wegen ihres<br />
geringen Tiefgangs beson<strong>der</strong>s befähigt ist, küstennahe Gewässer zu erforschen<br />
und dass sie für Reparaturen o<strong>der</strong> zum Kalfatern leicht auf den Strand gesetzt<br />
werden kann. Während die rahgetakelte Barca bestenfalls 67 Grad an den Wind<br />
gehen kann, segelt die Karavelle 55 Grad hoch am Wind. Wenn also eine Barca<br />
beim Kreuzen fünfmal über Stag gehen muß, laviert die Karavelle nur dreimal.<br />
Die Einsparung an Entfernung und Zeit von einem Drittel kann bei den großen<br />
Distanzen, die die Seefahrer erwarten, mehrere Wochen bedeuten. Der<br />
Seemann, <strong>der</strong> weiß, dass er ein speziell für seine Sicherheit und schnelle<br />
Rückkehr entworfenes Schiff segelt, wird mehr Selbstvertrauen haben und<br />
größere Bereitschaft zeigen, längere Reisen ins Unbekannte zu wagen.<br />
Zur gleichen Zeit, da die Schiffe entstehen, studieren begabte Seeleute unter<br />
Anleitung berühmter Nautiker, Kartographen und <strong>der</strong> besten Praktiker alte und<br />
neue Unterlagen zur Seefahrt. In Prinz Heinrichs Seefahrtsschule werden mutige
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 81<br />
Kapitäne und Piloten herangebildet, die mit guten Schiffen bald zu unbekannten<br />
Küsten aufbrechen sollen.<br />
Wichtigster Lehrstoff ist die Navigation. Beson<strong>der</strong>s die Orientierung nach den<br />
Gestirnen. Bei Nacht kann man, solange man sich nördlich des Erdäquators<br />
befindet, den Polarstern sehen; man weiß, dass er sehr dicht beim Nordpol steht.<br />
Dort ist Norden! An <strong>der</strong> wechselnden Stellung des Kleinen Bären kann auch die<br />
Zeit abgelesen werden, denn <strong>der</strong> Polarstern im Norden ist sein Deichselstern, um<br />
den sich das Sternbild dreht.<br />
Am Tage, solange ein Schiff nördlich des Wendekreises des Krebses bleibt,<br />
steht die Sonne am Mittag immer im Süden. Man rechnet, dass die Sonne in<br />
je<strong>der</strong> Stunde, die sie nach ihrem Erscheinen über dem Horizont an Höhe<br />
gewinnt, um am Nachmittag wie<strong>der</strong> dem Untergangspunkt zuzueilen, 15 Grad<br />
zurücklegt. Denn 24 Stunden mal 15 Grad ergibt einen Vollkreis Man kann also<br />
die Sonne benutzen, um die Zeit am Tage ansagen zu können. Dazu dient ein auf<br />
Deck senkrecht aufgestellter Stab, dessen Schatten am Vormittag kürzer, am<br />
Nachmittag immer länger wird. Der Punkt, an dem <strong>der</strong> Schatten am kürzesten<br />
verweilt, zeigt die Mittagszeit an.<br />
Die Position eines Schiffes ist wesentlich schwieriger zu bestimmen als <strong>der</strong><br />
Kurs. Daher ist es äußerst kompliziert, die genaue Lage eines neuentdeckten<br />
Kaps, einer Insel o<strong>der</strong> einer Flußmündung festzulegen. Die Wie<strong>der</strong>entdeckung<br />
des Almagest des Ptolemäus gibt Anstöße, die Dinge neu zu überdenken. Bald<br />
kann Meister Jacôme dem Ptolemäus zustimmen, dass die Angabe von Länge<br />
und Breite die weitaus sicherste Methode ist, einen bestimmten Punkt auf <strong>der</strong><br />
Erde zu bezeichnen. Aber wie sollte das geschehen?<br />
An Land läßt sich die geographische Breite durch Messung <strong>der</strong> Höhe des<br />
Polarsternes über dem Horizont ableiten. Die Astronomen konnten schon lange<br />
solche Messungen mit hoher Genauigkeit mit einem entsprechenden Instrument,<br />
dem Astrolabium, durchführen. Aber das war an Deck eines schwankenden<br />
Schiffes völlig unbrauchbar. Stattdessen benutzt man ein wirklich einfaches<br />
»Instrument«: Die Finger <strong>der</strong> Hand! Wie hoch <strong>der</strong> Polarstern über dem Horizont<br />
eines Schiffes steht, bestimmt man, indem man die Hand weit von sich streckt.<br />
Wird <strong>der</strong> Raum zwischen Stern und Horizont durch die Dicke eines Fingers<br />
ausgefüllt, steht <strong>der</strong> Stern 2 Grad über dem Horizont. Der Durchmesser des<br />
Handgelenks entspricht einem Winkelabstand von 8 Grad, die volle Spanne<br />
einer Hand etwa 18 Grad.<br />
Für die Feststellung <strong>der</strong> geographischen Länge auf See müßte gleichzeitig die<br />
Lokalzeit und die Zeit irgend eines an<strong>der</strong>en festen Ortes, z. B. des<br />
Heimathafens, bekannt sein. Es gibt aber keine Methode, diese zwei Zeiten zur<br />
gleichen Sekunde festzulegen. Um die Länge ihres Schiffswegs zu bestimmen,<br />
müssen die Lotsen die grobe Schätzung <strong>der</strong> Entfernung zwischen zwei<br />
Längenkreisen benutzen, die Ptolemäus festgelegt hatte. Sie müssen also genau<br />
die Fahrt verfolgen, um sagen zu können, wie weit ihr Schiff westlich o<strong>der</strong>
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 82<br />
östlich gefahren ist. Man nennt das »Koppeln«. Dabei notieren die Lotsen die<br />
Fahrtrichtung des Schiffes und wie lange sie in dieser Richtung fahren, dazu<br />
noch die Schiffsgeschwindigkeit, die wie folgt festgestellt wird: Man bringt in<br />
<strong>der</strong> Höhe des Schiffbugs ein schwimmendes Objekt auf die Wasseroberfläche<br />
und stellt fest, wie lange es dauert, bis sie neben dem Schiff, dessen Länge ja<br />
bekannt ist, vorbeigeglitten ist.<br />
Doch diese schnell und auch nur grob gewonnenen Ergebnisse machen es den<br />
Kartographen unmöglich, die genaue Lage von Örtlichkeiten durch ihre Breitenund<br />
Längenangabe zu fixieren. So werden die Karten <strong>der</strong> afrikanischen Küste<br />
wohl noch einige Zeit gezeichnet, wie es die Seefahrer seit den Kreuzzügen<br />
taten. Solche Portulankarten zeigen zahlreiche Windrosen, aus <strong>der</strong>en<br />
Windstrahlen ein sich netzartig überschneidendes Gitternetz kreuzen<strong>der</strong> Linien<br />
die Navigation erleichtert. Die Linien entsprechen Kompassablesungen. Mit<br />
Hilfe von Lineal und eines Zirkels kann <strong>der</strong> Lotse diejenige Gitterlinie<br />
bestimmen, die parallel zum Kurs des Schiffes zwischen augenblicklicher<br />
Position und dem Zielhafen liegt. Die Zurückverfolgung dieser Linie bis zum<br />
Kompasspunkt, von <strong>der</strong> sie ausgeht, liefert dann die Kompassablesung, <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Lotse mit seinem Schiff zu folgen hat.<br />
So sind die Navigationsinstrumente, als Prinz Enrique seine ersten Schiffe<br />
aussendet, kaum den wirklichen Notwendigkeiten einer Ozeanerforschung<br />
angepaßt. Entsprechend unvollkommen sind Landkarten und kartographischen<br />
Hilfsmittel. Aber Prinz Enrique hat zwei sehr wertvolle Pluspunkte auf seiner<br />
Seite: Gute Schiffe und fähige Männer.<br />
7<br />
Mit großen Hoffnungen hatte Prinz Heinrich im Jahre 1418 seine<br />
Entdeckungsfahrten begonnen. Er ließ seine Kapitäne an <strong>der</strong> Küste<br />
Afrikas entlang segeln und glaubte, dass sie bald mit den<br />
Nachrichten zurückkehren würden, die er hören wollte: die genaue<br />
Erforschung <strong>der</strong> Küste und ihre kartographische Erfassung, die<br />
Bekehrung einer Vielzahl von Nichtchristen zum wahren Glauben und wertvolle<br />
neue Handelsverträge. Überall, wo sie an Land gingen, stellten sie ihre Padrões<br />
auf, weithin sichtbare Steinsäulen mit dem Wappen Portugals; sie sollen<br />
nachfolgenden Seefahrern den Weg weisen und gleichzeitig den Anspruch<br />
Portugals auf diesen Landstrich dokumentieren. Aber <strong>der</strong> Prinz muß noch viele<br />
Jahre warten, bis seine Träume auch nur teilweise in Erfüllung gehen.<br />
Schauerliche Geschichten über ein Meer <strong>der</strong> Finsternis nehmen den Seeleuten<br />
den Mut, die unbekannten Gewässer zu befahren. Kap Bojador, etwa 162<br />
katalanische Meilen südlich <strong>der</strong> Kanarischen Inseln, gilt als beson<strong>der</strong>s<br />
gefährlich. Die Seeleute sagen von dem schmalen Landrücken an <strong>der</strong> Küste <strong>der</strong><br />
Sahara, dass keiner, <strong>der</strong> diesen Punkt umsegelt hat, jemals zurückgekehrt ist. So<br />
oft und gut unterrichtet Heinrich seine Kapitäne und Matrosen auch hinaus
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 83<br />
schickte, konnten sich nicht überwinden, nur um <strong>der</strong> Forschung willen ihr Leben<br />
zu riskieren.<br />
Die Geschichten, die über das Meer jenseits von Kap Bojador im Umlauf sind,<br />
können schon dem tapfersten Herzen Furcht bereiten. Einige behaupten, dass bei<br />
Kap Bojador <strong>der</strong> Ozean koche und dampfe. An<strong>der</strong>e sagen, dass »es hinter<br />
diesem Kap keine Menschen gäbe, kein Wasser, we<strong>der</strong> Bäume noch grüne<br />
Pflanzen; die See sei so flach, dass sie kaum einen Faden Tiefe betrage, und das<br />
drei Seemeilen von <strong>der</strong> Küste entfernt. Die Gezeiten seien so stark, dass kein<br />
Schiff nach <strong>der</strong> Passage von Kap Bojador zurückkehren könne!« Es ist kein<br />
Wun<strong>der</strong>, dass sich unter diesen Umständen die Matrosen fragen: »Warum sollen<br />
gerade wir die Grenzen überschreiten, die unsere Vorfahren beachtet haben?<br />
Auch ein Prinz kann nicht Gewinn erwarten, wenn er unsere Seelen und Körper<br />
dafür einsetzt.«<br />
Anstatt den Instruktionen Heinrichs zu folgen und auf einem südlichen Kurs um<br />
Kap Bojador herum zu bleiben, drehen seine Seeleute rund 15 Jahre lang ständig<br />
in an<strong>der</strong>e Richtungen ab, kreuzen unschlüssig herum o<strong>der</strong> treiben Handel.<br />
Einige segeln ostwärts ins Mittelmeer und geraten an seinem östlichen Ende in<br />
die Gefangenschaft <strong>der</strong> Ungläubigen und die Sklaverei.<br />
Heinrich ist ein ruhiger, sehr geduldiger Mann. Selten bestraft er die Lotsen und<br />
Kapitäne wegen ihrer Irrfahrten. Aber er verfolgt hartnäckig sein Ziel. Immer<br />
und immer wie<strong>der</strong> schickt er Karavellen nach Süden, und trotz <strong>der</strong> Furcht vor<br />
dem berüchtigten Kap bringen einige <strong>der</strong> Kapitäne Nachrichten von neuen<br />
Entdeckungen nach Hause. Die Kanarischen Inseln, Madeira und die Azoren<br />
werden gefunden, besiedelt und als Stützpunkte und Versorgungshäfen für die<br />
Schiffe, die <strong>der</strong> Route zu noch entfernteren Inseln folgen, ausgebaut.<br />
Eigentlich sind es Wie<strong>der</strong>entdeckungen, denn alle drei Inselbereiche waren<br />
schon in früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten bekannt. Um das Jahr 100 erwähnte Ptolemäus<br />
die Kanaren und nannte sie die »Glücklichen Inseln«. Danach wurden sie von<br />
Zeit zu Zeit von phönizischen, später von maurischen Seeleuten, von Genuesen,<br />
Normannen und Spaniern aufgesucht. Und tatsächlich: als Heinrichs<br />
Wie<strong>der</strong>entdeckungen ruchbar werden, meldet Kastilien sofort seine Ansprüche<br />
auf die Inseln Lanzarote und Fuerteventura an. Da sie <strong>der</strong> afrikanischen Küste<br />
am nächsten liegen, sind sie für Spanien strategisch bedeutungsvoll. Noch ist<br />
Portugal schwach und muß nachgeben. Die übrigen Inseln des Archipels bleiben<br />
vorerst portugiesisch und Heinrich bestimmt sie als Ausgangspunkte für<br />
zukünftige Entdeckungsreisen nach Afrika.<br />
1425 sendet er eine Flotte mit mehr als 2000 Mann und 100 Pferden aus, die<br />
äußere Insel Gran Canaria zu erobern. Zwei Jahre später folgt eine an<strong>der</strong>e Flotte<br />
mit dem gleichen Auftrag. Beide Expeditionen sind nur mangelhaft ausgerüstet<br />
und scheitern am hartnäckigen Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Eingeborenen. Aber von Zeit zu<br />
Zeit werden die äußeren Inseln wie<strong>der</strong> bestürmt. Portugal bereitet den<br />
Kastilianern mit den Eroberungszügen nicht wenig Sorge, und bald droht Krieg
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 84<br />
um den Besitz <strong>der</strong> Kanaren. Um Blutvergiessen zwischen christlichen Staaten zu<br />
vermeiden, bitten Kastilien und Portugal den Papst, über die Frage <strong>der</strong><br />
Besitzrechte <strong>der</strong> Kanarischen Inseln zu entscheiden. Papst Eugen IV. spricht<br />
Kastilien Lanzarote und Fuerteventura zu, muß aber Portugal freie Hand über<br />
die äußeren Inseln von Gran Canaria, Teneriffa, Palma und Gomera gewähren.<br />
Nun können Portugals Seefahrer die Inseln gefahrlos als Stützpunkt für<br />
Trinkwasser- und Nahrungsmittelergänzungen anlaufen. Aber noch immer ist<br />
Kap Bojador nicht umfahren worden! Heinrichs Geduld schmilzt wie sein Geld<br />
allmählich dahin.<br />
Gil Eanes, dem portugiesischen Landadel entstammend, gehört zu den<br />
Hoffnungsträgern unter den Kapitänen. Prinz Heinrich vertraut ihm das<br />
Kommando über eine Karavelle mit dem Befehl an, so weit wie möglich die<br />
afrikanische Küste entlang zu segeln.<br />
Tapfer fährt <strong>der</strong> Mann hinaus, aber am Ende »machte er die gleiche Reise wie<br />
die an<strong>der</strong>en, weil ihn die gleiche Furcht überfiel; er segelte nicht über die<br />
Kanarischen Inseln hinaus«, wie <strong>der</strong> Chronist Gomes de Zurara zu berichten<br />
weiß. Bei seiner Rückkehr entschuldigt Eanes seinen Ungehorsam<br />
unklugerweise mit Einzelheiten über die extremen Gefahren, vor denen ihn<br />
an<strong>der</strong>e Seeleute gewarnt hätten. Jetzt war Heinrichs Geduld am Ende:<br />
»Tatsächlich, ich muß mich über die Einbildungen wun<strong>der</strong>n, von denen ihr<br />
besessen seid«, sagte er. »Sollten diese Dinge wirklich existieren, wenn auch in<br />
nur winzigen Mengen, dann möchte ich noch Entschuldigungen für Euch haben.<br />
Aber ich bin erstaunt darüber, dass Ihr solche Dinge von den Seeleuten<br />
übernehmt, die we<strong>der</strong> den Kompass noch eine Seekarte zu handhaben wissen.«<br />
Heinrich schickt Eanes erneut aus; und <strong>der</strong> »redete sich selbst resolut zu, nicht<br />
mehr vor den Prinzen zu treten, ohne die ihm aufgetragene Mission beendet zu<br />
haben.«<br />
Dieser Entschluß kommt ihm wohl zustatten. 1434 kehrt Eanes mit <strong>der</strong><br />
freudigen Nachricht zurück, dass er Bojador umsegelt habe. Direkt hinter dem<br />
Kap sei er gelandet und habe einige Pflanzen eingesammelt, die St. Marie-<br />
Rosen, um dem Prinzen zu zeigen, was dort wachse. Eanes hat eine Barriere <strong>der</strong><br />
Furcht und des Schreckens überwunden! Jahrhun<strong>der</strong>telang glaubten die<br />
Seeleute, dass die Welt südlich von Bojador zuende sei, ein Abgrund voller<br />
Schrecken und Unheil. Gil Eanes hat herausgefunden, dass das Meer und die<br />
afrikanische Küste dahinter kaum an<strong>der</strong>s beschaffen sind als nördlich des Kaps.<br />
Eanes wird zum Ritter geschlagen. Nun sind auch an<strong>der</strong>e Matrosen bereit und<br />
erklären, sie würden noch weiter segeln als Eanes.<br />
Prinz Heinrich weiß, dass <strong>der</strong> Erfolg Eanes den lang erwarteten Wendepunkt<br />
seines Programms bedeutet. Diese Meinung teilt auch sein älterer Bru<strong>der</strong><br />
Duarte, <strong>der</strong> nach dem Tode des Vaters im Sommer 1433 zum König proklamiert<br />
wird und <strong>der</strong> die finanzielle Situation Heinrichs entscheidend verbessert: Der<br />
König investiert den »königlichen Anteil« aus dem schnell aufblühenden
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 85<br />
Exporthandel Madeiras – ein Fünftel des gesamten Gewinnes – in Heinrichs<br />
Projekt.<br />
Prinz Heinrich ist nicht mehr zu halten. Jahr um Jahr schickt er Expeditionen<br />
aus, von denen jede ein Stückchen weiter ins Unbekannte vorstößt. Noch einmal<br />
segelt Eanes Kurs Süd, diesmal mit dem königlichen Mundschenk Affonso<br />
Baldaya. Mit zwei Schiffen gelangen sie 200 Meilen über Kap Bojador hinaus<br />
und bringen die Nachricht zurück, dass man bei <strong>der</strong> Landung Fußspuren von<br />
Menschen und Kamelen gesichtet hätte. Prinz Heinrich lobt sie voller Freude<br />
und stellt fest: »Wenn Ihr diese Fußspuren tatsächlich gefunden habt, scheint es<br />
mir, dass in nicht zu großer Entfernung von diesem Punkt Menschen wohnen<br />
müssen, o<strong>der</strong> es waren zufällig vorbeiziehende Handelsleute mit Waren für<br />
einen Seehafen. Daher möchte ich Euch sofort wie<strong>der</strong> dorthin schicken. Ich<br />
ermahne Euch, Euer Bestes zu tun, mit diesen Leuten zu sprechen o<strong>der</strong> einige<br />
einzufangen, so dass ich selbst Auskünfte über ihr Land einholen und mit diesen<br />
Leuten sprechen kann, um festzustellen, ob sie Mauren o<strong>der</strong> Heiden sind o<strong>der</strong><br />
welches ihre Lebensart ist ...«<br />
Baldaya steuert wie<strong>der</strong>um mit seiner kleinen Mannschaft nach Süden und<br />
gelangt rund 100 weitere Meilen südlicher als Kap Bojador, bevor er in einer<br />
Bucht landet. Er sendet zwei jüngere Matrosen auf mitgebrachten Pferden aus,<br />
um nach Einheimischen o<strong>der</strong> Handelsleuten zu suchen. Nachdem sie mehrere<br />
Kilometer an <strong>der</strong> Küste entlang geritten waren, treffen sie plötzlich auf eine<br />
Gruppe von 19 Eingeborenen, die mit Speeren bewaffnet sind. Sie versuchen<br />
Gefangene zu machen, können aber nur mit Mühe ihr eigenes Leben retten.<br />
Trotzdem erreichen sie die Küste und berichten Baldaya über ihr Erlebnis. Am<br />
nächsten Tag kehren er und einige seiner Männer zu dem Ort zurück. Doch die<br />
Eingeboreren sind verschwunden. Baldaya kann seinen Auftrag nicht erfüllen.<br />
Bevor er zurückkehrt, versucht er das Beste aus seiner Situation zu machen. Auf<br />
einer Sandbank in <strong>der</strong> Nähe des Ankerplatzes seines Schiffes sehen sie<br />
Tausende von Robben. Sie töten so viele Tiere, wie sie nur können, und laden<br />
die Häute aufs Schiff. Es ist die erste Handelsladung, die Portugal aus dem<br />
reichen Afrika bekommt. Bevor Baldaya zurücksegelt, fährt er nochmals 100<br />
Meilen in südwestlicher Richtung weiter und kommt zu einer schmalen Bucht,<br />
<strong>der</strong> er den Namen Rio de Oro (Goldfluß) gibt. Er weiß nicht; dass er tatsächlich<br />
ein Gebiet erreicht hat, aus dem arabische Karawanen regelmäßig Gold holen.<br />
Als Baldaya endlich seinen Heimathafen wie<strong>der</strong> erreicht, glaubt Heinrich, nun<br />
sei die Zeit gekommen, die Entdeckungsfahrten in großem Maßstab<br />
aufzunehmen, um seine Hoffnungen in Realität umzusetzen. Aber da zerstört ein<br />
schlecht durchdachter Feldzug gegen Tanger das Glück Portugals.<br />
Heinrichs jüngerer Bru<strong>der</strong> Fernão wartet im Alter von 34 Jahren ungeduldig auf<br />
seine Bewährung als Ritter in einer Schlacht. Deshalb drängt er König Duarte,<br />
den nordafrikanischen Hafen Tanger anzugreifen, eine islamische Festung, etwa<br />
12 Leguas westlich von Cëuta. Wi<strong>der</strong>strebend beginnt <strong>der</strong> König im August
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 86<br />
1437 den Angriff. <strong>Das</strong> Unternehmen mißlingt; die Portugiesen erleiden eine<br />
katastrophale Nie<strong>der</strong>lage und die Moslems gestatten den Rückzug nur gegen die<br />
Rückgabe von Cëuta. Außerdem erzwingen sie, Prinz Fernão als Geisel<br />
zurückzulassen. Die Portugiesen gehen scheinbar darauf ein, Fernão geht in<br />
Gefangenschaft, aber Cëuta wird den Mauren nicht zurückgegeben. Die Stadt ist<br />
jetzt offiziell christlich, und die Kirche bleibt dabei, dass eine christliche Stadt<br />
Gott gehöre und deshalb nicht den Ungläubigen übergeben werden könne.<br />
Heinrich muß sich aus politischen Gründen fügen – die Geldquellen für seine<br />
kostspieligen Expeditionen würden versiegen! So verharrt <strong>der</strong> unglückliche<br />
Prinz in <strong>der</strong> Gefangenschaft <strong>der</strong> Moslems, wo er sechs Jahre später stirbt. Sein<br />
Bru<strong>der</strong>, König Duarte, schon seit längerer Zeit kränklich, grämt sich voller<br />
Gewissensbisse einem frühen Tod entgegen.<br />
Der Thronfolger ist erst sechs Jahre alt; unter <strong>der</strong> Regentschaft seiner Mutter<br />
wird er als Affonso V. König von Portugal. Doch die unbeirrte schrittweise<br />
Erforschung <strong>der</strong> westafrikanischen Küste geht Jahr um Jahr weiter, obwohl die<br />
kommerziellen Prämien dürftig sind. Im Jahre 1441 ziehen von Prinz Heinrichs<br />
Hof Nuno Tristão und Antão Gonçalves aus und stoßen weitere<br />
zweihun<strong>der</strong>tfünfzig Meilen zum Kap Blanco vor, wo sie erstmals zwei<br />
Eingeborene gefangen nehmen können. Bald bringt Eanes aus diesem Gebiet die<br />
erste Menschenfracht zurück – zweihun<strong>der</strong>t Afrikaner, die in Lagos als Sklaven<br />
verkauft werden. Der Augenzeugenbericht des Chronisten Gomes de Zurara<br />
über die erste europäische Episode im Sklavenhandel ist ein schmerzlicher<br />
Ausblick auf kommendes Elend. »Mütter umarmen ihre Säuglinge und werfen<br />
sich auf den Boden, um sie mit ihrem Leib zu decken, und achten dabei jede<br />
Verletzung ihrer eigenen Person gering, um so zu verhin<strong>der</strong>n, dass ihre Kin<strong>der</strong><br />
von ihnen getrennt werden.«<br />
Doch Zurara behauptet auch, dass »sie freundlich behandelt werden und kein<br />
Unterschied zwischen ihnen und den freigeborenen Bediensteten in Portugal<br />
gemacht wird.« Man lehrt sie ein Handwerk, berichtet er, bekehre sie zum<br />
Christentum, und schließlich schließen sie sogar Ehen mit Portugiesen.<br />
Jacôme Cresques, <strong>der</strong> Geograph, erlebt die Ankunft dieser Menschenware aus<br />
Afrika nicht mehr; er ist vor kurzem im Alter von 77 Jahren gestorben.<br />
Fünfunddreißig Jahre lang hat er den Schatz neuer Welterkenntnis auf immer<br />
wie<strong>der</strong> neuen Karten für die Kapitäne Heinrichs verzeichnet. Sie dienen nicht<br />
nur dem praktischen Gebrauch auf See, sind nicht nur für die Navigation <strong>der</strong><br />
Piloten und Kapitäne auf ihren langen Reisen nach Süden gedacht, sie<br />
dokumentieren in hoher künstlerischer Qualität auch das neue erdkundliche<br />
Wissen, das sich im Laufe <strong>der</strong> Jahre angehäuft hat. Die Küstenlinien sind<br />
genauestens erfaßt; in zierlicher humanistischer Minuskelschrift haben die<br />
erkundeten Orte und Handelsnie<strong>der</strong>lassungen, Buchten, Flüsse und Kaps,<br />
weithin sichtbare Berge, Untiefen, gefährliche Riffe, Sandbänke und alle für die<br />
Orientierung <strong>der</strong> Seefahrer wichtigen Phänomene in Latein und Portugiesisch<br />
ihren Platz gefunden; alles ist von <strong>der</strong> Küstenlinie weg ins Landesinnere
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 87<br />
angeschrieben, um den Überblick nicht zu stören. Kunstvolle Tierkreisfiguren,<br />
Abbildungen von Tritonen und Windallegorien zieren die Rän<strong>der</strong>, in den<br />
Meeren schwimmen Walfische und Tümmler, stolze Karavellen folgen dem<br />
Kursnetz <strong>der</strong> zahlreichen Windrosen, und an beson<strong>der</strong>s gefährlichen Klippen<br />
sieht man Schiffe in Seenot. In den Tiefen Afrikas brüllen Löwen,<br />
Elefantenherden ziehen durchs Land und im weiten unerforschten Hinterland<br />
des Schwarzen Kontinents weil dort am meisten Platz ist hat Meister Jacôme<br />
Instrumente für Astronomie und Navigation plaziert: Armillasphäre und<br />
Quadrant, Zirkel, Lineal und Lot; daneben eine Tabelle <strong>der</strong> Sonnendeklination<br />
für die Breitengrade <strong>der</strong> neuen Handelsplätze <strong>der</strong> Portugiesen.<br />
Die nach Portugal gebrachten Sklaven hatten einen Wandel in <strong>der</strong> Einstellung<br />
<strong>der</strong> Öffentlichkeit gegenüber Prinz Heinrich zur Folge. Viele haben den Prinzen<br />
kritisiert, dass er Mittel des Staates für seine müßigen Entdeckungen vergeude.<br />
»Doch dann wurden die still, die am lautesten geklagt hatten, und priesen mit<br />
leiser Stimme, was sie so laut und öffentlich getadelt hatten. Und so waren sie<br />
gezwungen, ihre Kritik in öffentliches Lob zu verwandeln; denn sie sagten, es sei<br />
klar, dass <strong>der</strong> Infant ein zweiter Alexan<strong>der</strong> sei; und ihre Begierde wurde nun<br />
immer größer.« Nun will je<strong>der</strong>mann Teil an diesem vielversprechenden<br />
Guineahandel haben.<br />
Als die Portugiesen Kap Verde umrunden, die Westspitze Afrikas, sind die<br />
unfruchtbaren Küstenstriche passiert, und <strong>der</strong> portugiesische Handel mit<br />
Westafrika füllt von jetzt ab fünfundzwanzig Karavellen jährlich. 1457 entdeckt<br />
Alvise da Cadamosto bei seinem Vordringen entlang <strong>der</strong> Küste im Auftrag Prinz<br />
Heinrichs zufällig die Kapverdischen Inseln und segelt dann die Flüsse Senegal<br />
und Gambia sechzig Meilen landeinwärts hinauf. Cadamosto ist nicht nur ein<br />
kühner, son<strong>der</strong>n auch einer <strong>der</strong> aufmerksamsten Entdecker Prinz Heinrichs. In<br />
einem Bericht an Prinz Enrique über seine Reisen beschreibt die ersten<br />
Reaktionen <strong>der</strong> Westafrikaner, nachdem sie die Portugiesen zu Gesicht<br />
bekommen hatten.<br />
»Ihr solltet wissen, dass diese Leute bisher keine Kenntnis hatten von<br />
irgendwelchen Christen ... Es wurde festgestellt, dass sie bei dem ersten Anblick<br />
von Schiffsegeln, also von Schiffen auf See, die we<strong>der</strong> sie noch ihre Vorväter je<br />
gesehen hatten, meinten, dass dies große Seevögel mit weißen Flügeln seien, die<br />
von irgendwelchen seltsamen Orten herbeigeflogen wären. Als die Segel kurz<br />
vor <strong>der</strong> Ankerung gestrichen und eingeholt wurden, dachten einige<br />
Eingeborene, die diese Manöver von weitem gesehen hatten, die Schiffe wären<br />
Fische. An<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>um sagten, dass es Geister seien, die bei Nacht gekommen<br />
waren, vor denen sie sich fürchten müßten. ...<br />
Diese Neger, Männer und Frauen, umringten mich und starrten mich als ein<br />
Wun<strong>der</strong> an. Es schien für sie ein neuer Zauber zu sein, Christen zu sehen, die sie<br />
vorher nicht gesehen hatten. Sie wun<strong>der</strong>ten sich über meine Kleidung genauso<br />
wie über meine weiße Haut. Meine Kleidung entsprach <strong>der</strong> spanischen Mode:
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 88<br />
Ein Wams aus schwarzem Damast, über dem ich einen kurzen Umhang aus<br />
grauer Wolle trug. Die Untersuchung meiner wollenen Kleidung bereitete ihnen<br />
ein außerordentliches Vergnügen. Sie berührten meine Hände und Füße und<br />
wollten mit ihrem Speichel meine Hautfarbe abreiben. Als sie merkten, dass es<br />
wirklich Fleisch sei, waren sie erstaunt ... Die Neger bestaunten unseren Besitz,<br />
vor allem unsere Armbrüste und beson<strong>der</strong>s unsere Mörser. Ich zeigte ihnen, wie<br />
man mit ihnen schießt, und <strong>der</strong> Donner des Abschusses machte sie beson<strong>der</strong>s<br />
ängstlich. Dann erzählte ich ihnen, dass ein einziger Mörserschuß mehr als 100<br />
Männer töten würde, worüber sie sehr erstaunt waren und sagten, das wäre ein<br />
Teufelswerkzeug.<br />
Einer meiner Matrosen spielte ihnen auf dem Dudelsack vor. Der Klang rief bei<br />
ihnen Verwun<strong>der</strong>ung hervor. Nachdem sie das mit Bän<strong>der</strong>n verzierte Instrument<br />
besehen hatten, dachten sie, vor sich ein lebendes Tier zu haben, das mit<br />
verschiedenen Stimmen singt. Darüber gerieten sie in höchstes Entzücken. Als<br />
sie dann ihren Irrtum merkten, erzählte ich ihnen, dass dieses Ding ein<br />
Instrument sei und legte es ihnen zusammengefaltet auf ihre Hände. Sie sahen<br />
dann, dass dieses Ding von Hand gemacht war und sagten dabei, es sei ein<br />
göttliches Instrument, von Gott selbst mit seinen Händen hergestellt, weil es so<br />
süß mit vielen Stimmen singe.<br />
Sie wun<strong>der</strong>ten sich auch über die brennende Kerze im Kerzenhalter, weil sie<br />
außer dem Feuer kein an<strong>der</strong>es Licht kannten. Für sie war daher <strong>der</strong> Anblick <strong>der</strong><br />
bisher völlig unbekannten Kerze schön und geheimnisvoll ... Nachdem ich ihnen<br />
eine kleine Honigwabe geschenkt hatte, zeigte ich ihnen, wie man den Honig aus<br />
dem Wachs herausholen kann und ... wie man aus diesem dann Kerzen<br />
herstellen und diese anzünden kann. Darüber waren sie sehr verwun<strong>der</strong>t und<br />
erklärten, dass wir Christen doch alles kennen würden.«<br />
Zu <strong>der</strong> Zeit, als Cadamosto heimkommt, ist Heinrich beinahe 70 Jahre alt und<br />
kränklich. Er stirbt im November 1460, ohne die Län<strong>der</strong> gesehen zu haben, zu<br />
<strong>der</strong>en Küsten er so viele Schiffe ausgesandt hatte. Aber durch die Berichte<br />
seiner Kapitäne und Schreiber und durch seine sorgfältigen Studien aller<br />
bekannt gewordenen Dinge über Westafrika wußte Heinrich über diesen Teil <strong>der</strong><br />
Welt mehr als je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Mann seiner Zeit.<br />
Die Könige von Portugal verfolgen seinen Weg weiter. Entdeckende und<br />
erobernde Kapitäne, getrieben von Macht und <strong>der</strong> Gier nach Reichtum, segeln<br />
hinaus. Neben den begehrten Waren bringen sie auch neues Wissen um die<br />
Beschaffenheit <strong>der</strong> Erde zurück. In den stillen Bereichen <strong>der</strong> Wissenschaften<br />
werden Erkenntnisse gewonnen, welche die Erde aus dem Mittelpunkt <strong>der</strong><br />
Schöpfung hinausführen in die Unendlichkeit eines nach göttlichen Gesetzen<br />
bewegten Alls.<br />
Von steter Unrast ist diese Epoche erfüllt, die <strong>der</strong> Menschheit die Tore in eine<br />
neue Zeit öffnet.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 89<br />
WIE GROSS IST DER<br />
GLOBUS?<br />
Die Berechnungen des Kolumbus<br />
über die Breite des Atlantiks und<br />
seine Reisen im Auftrag Spaniens<br />
Hell schien die Sonne Andalusiens von einem klarblauen Himmel. Es war <strong>der</strong><br />
2. Januar 1492. Prächtig gewandet zogen Los Reyes Catolicos, die Katholischen<br />
Könige, in Granada ein. <strong>Das</strong> Publikum neigte sich respektvoll vor dem<br />
Königspaar und bewun<strong>der</strong>te verstohlen das goldene Zaumzeug und die<br />
kostbaren brokatenen Decken. Nervös ob <strong>der</strong> vielen Menschen tänzelte das<br />
arabische Vollblut König Ferdinands II. von Aragon; neben ihm - auf einem<br />
herrlichen Zelter - Isabella I. von Kastilien. Dem Königspaar folgte das<br />
glänzendste Ritterheer, das die Welt bisher gesehen hatte. Die Kardinäle,<br />
Herzöge, Grossmeister, Markgrafen, Grafen und Edelleute hatten zehn Jahre<br />
gegen die Mauren gekämpft; allein die Belagerung Granadas hatte acht Monate<br />
gedauert. Doch nun war diese letzte Festung <strong>der</strong> Ungläubigen gefallen,<br />
Ferdinand konnte den noch fehlenden Stein in seine Krone einfügen. Dem<br />
prunkvollen Zug folgte eine grosse Anzahl Würdenträger und Ritter, silbern<br />
glänzten die prächtigen Harnische, Seide und Brokat rauschte, ein Wald von<br />
Fahnen und Standarten wehte über den Köpfen, allen voran das Goldene Kreuz<br />
von Aragon und die Königsfahne von Kastilien.<br />
Ferdinand und Isabella waren zwei ungewöhnlich Menschen; für Spanien war es<br />
ein Glück, dass sie zusammengefunden und ihre beiden Königreiche durch<br />
Heirat zu einem einzigen Reich vereinigt hatten. Vor siebenhun<strong>der</strong>t Jahren<br />
hatten die Mauren grosse Teile Spaniens erobert, siebenhun<strong>der</strong>t Jahre lang<br />
haben spanische Könige von Asturien und Navarra aus für die<br />
Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> verlorenen spanischen Einheit gekämpft. Innere<br />
Uneinigkeiten hatten das Land zerrissen und immer wie<strong>der</strong> geschwächt. Aber<br />
nun - nach siebenhun<strong>der</strong>t Jahren unverdrossenen Wi<strong>der</strong>stands und schwerer<br />
Anstrengungen - konnten die Katholischen Könige, wie <strong>der</strong> ihnen von Papst<br />
Alexan<strong>der</strong> VI. verliehene Ehrentitel lautete, Granada als letzte von den Mauren<br />
besetzte Stadt Spaniens befreien. Der Hunger hatte die Mauren schliesslich in<br />
die Knie gezwungen. Wie in den meisten Fällen <strong>der</strong> zehnjährigen Reconquista,<br />
<strong>der</strong> Rückeroberung spanischen Bodens von den Mauren, durften auch die<br />
Bewohner Granadas ihrem Glauben treu bleiben und konnten ihr Besitztum<br />
behalten. Der König war nicht für rachedurstiges Blutvergiessen; er vertraute<br />
mehr auf die Macht <strong>der</strong> Tinte.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 90<br />
Bunte Tücher hingen zum Schmuck an den Häusern, durch die Gassen und<br />
Strassen drängte sich eine wogende Masse: Soldaten <strong>der</strong> königlichen Heere<br />
mischten sich als Zuschauer unter die Bevölkerung. Die Stadt war voll des<br />
bunten Volkes, das jedem Heer folgt: fliegende Händler mit Maiskuchen und<br />
Schinken, Getränkeverkäufer mit Wein und Trinkwasser, Wahrsager, Dirnen,<br />
Mönche, Handwerker, Gaukler, Taschendiebe, dazu ungezählte Pferde und<br />
Maultiere und <strong>der</strong> Tross von Karren und Wagen. Über <strong>der</strong> Stadt erhob sich die<br />
Festung Alhambra; auch auf ihren Mauern und Wällen wimmelte es von<br />
Menschen: maurische Soldaten <strong>der</strong> geschlagenen Garnison, verängstigtes<br />
Weibervolk und misstrauische arabische Händler. Sie warteten auf die traurige<br />
Stunde, die ihre Nie<strong>der</strong>lage besiegeln sollte. Inmitten seines schweigsamen und<br />
nie<strong>der</strong>geschlagenen Gefolges ritt Boabdil Abu Abd Allah Muhammad, <strong>der</strong> letzte<br />
König von Granada, den Hügel herab. Beim Näherkommen verbreitete sich<br />
Stille über die Stadt, die mitteilsame Geschwätzigkeit des Volkes verstummte,<br />
und das Gefolge <strong>der</strong> Könige harrte erwartungsvoll. Einen Schritt vor König<br />
Ferdinand verhielt Boabdil sein Pferd und schickte sich an, abzusteigen, um - als<br />
Unterlegener - die Hand des siegreichen Königs zu küssen. Doch Ferdinand hob<br />
abwehrend die Hand. Boabdil schaute Ferdinand ernst in die Augen, dann<br />
wan<strong>der</strong>te sein Blick zur Königin, schliesslich verneigte er sich gemessen und<br />
überreichte dem König die Schlüssel von Granada.<br />
1492 - Muhammad XII. übergibt die Stadt an Königin Isabella I. von Kastilien<br />
und König Ferdinand II. von Aragón<br />
Ferdinand gab den Schlüssel an den Grafen Tandilla weiter, dann machte er ein<br />
Zeichen mit <strong>der</strong> Hand. <strong>Das</strong> Goldene Kreuz und die Fahne wurden feierlich an<br />
die Spitze des Zuges getragen, das Königspaar nahm Boabdil in ihre Mitte, und
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 91<br />
<strong>der</strong> Zug setzte sich zur Alhambra, <strong>der</strong> letzten Festung des Islam auf spanischem<br />
Boden, in Bewegung. Im Burghof mit seinen goldenen Intarsien angekommen,<br />
nahm das Königspaar auf einem mit Purpur ausgeschlagenen, etwas erhöhten<br />
Thron Platz, Boabdil stellte sich hinter Ferdinand, um sie herum gruppierten<br />
sich die Kardinäle, Herzöge, Grossmeister und an<strong>der</strong>e Würdenträger; alle<br />
warteten, bis Kreuz und Fahne, die beiden Wahrzeichen, von Offizieren in<br />
goldenen Brustpanzern auf <strong>der</strong> Plattform des Festungsturmes befestigt waren.<br />
Keine Trompete, keine Trommel war zu hören. Die Menschen vernahmen nur<br />
das Pochen des Herzschlags in <strong>der</strong> eigenen Brust. Endlich rief ein Herold mit<br />
lauter Stimme: «Granada - Granada dem König Ferdinand und <strong>der</strong> Königin<br />
Isabella!» Die Spanier brachen in Jubel aus. Nach einer Weile hob Isabella die<br />
Hand: <strong>der</strong> Chor stimmte ein feierliches Te Deum Laudamus an und die Königin<br />
hielt<br />
und kulturelle Einsichten vor. Aber: »Wenn unterschiedliche<br />
Lebenswelten aufeinan-<strong>der</strong>treffen, kommt es unausweichlich zu<br />
Konflikten. Ein kultureller Wandel entsteht so-wohl aus friedlichen<br />
Begegnungen wie auch durch gewaltsame Umbrüche, etwa Kriege,<br />
Invasionen, Versklavung, die Inquisition, Pogrome und Exil.«<br />
Aus einer vermeintlichen Bedrohung heraus versuchten die Päpste mit<br />
»Kreuzzügen« die Muslime zu bekämpfen anstatt von ihnen zu lernen.<br />
Kulturvermittler wie <strong>der</strong> Staufferkaiser Friedrich II. wurden sogar<br />
geächtet. Dabei wurden arabische Güter in Europa immer mehr gefragt<br />
und setzten sich durch. Es ist erstaunlich, wie armselig Europas Kultur<br />
heute wäre, wenn <strong>der</strong> mühsam die Tränen zurück. <strong>Das</strong> maurische Joch war<br />
abgeschüttelt, Spanien war frei.<br />
Damit waren die Araber vom europäischen Kontinent vertrieben. Aus heutiger<br />
Sicht, müsste man das bedauern! Der Islam und die katholische Kirche<br />
bezeichneten sich seit jeher als »auserwählt«. Dabei war im Mittelalter <strong>der</strong> Islam<br />
durch die kulturelle Weiterentwicklung <strong>der</strong><br />
griechischen Wissenschaften sowie Elementen <strong>der</strong><br />
chinesischen Wissenschaften dem<br />
mitteleuropäischen Kulturkreis weit voraus.<br />
Friedrich II. mit seinem Falken. Illustration aus seinem<br />
Buch „De arte venandi cum avibus“ („Über die Kunst,<br />
mit Vögeln zu jagen“) Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom<br />
(Pal. lat. 1071, fol. 1v Sizilien 1258-1266)<br />
Starke islamische und jüdische Denkweisen<br />
drangen langsam, aber unausweichlich in die<br />
christliche Weltschau
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 92<br />
ein und bereiteten nach und nach neue Lebensformen Kontakt zum Nahen Osten<br />
nicht bestanden hätte. Umso schlimmer ist es einzuschätzen, dass von diesem<br />
Kulturaustausch in Europa heutzutage kaum etwas in den Schulen und Medien<br />
berichtet wird. Europa verdankt den Arabern manches.<br />
Kaum einhun<strong>der</strong>t Jahre nach den Offenbarungen Mohammeds, <strong>der</strong> den<br />
Islam begründete und den Koran nie<strong>der</strong>schrieb, hatten die Araber die Welt von<br />
Indien über Nordafrika bis Iberien erobert. Europa durchlebte damals die<br />
»Jahrhun<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Dunkelheit«, die kaum nennens-werte Fortschritte auf den<br />
Gebieten Kultur und Wissenschaft gebracht hatten und in denen für die Bauern<br />
und Bürger grosse Unsicherheiten herrschten. Die Araber hingegen schufen<br />
unvorstellbare Neuerungen auf den Bereichen Naturwissenschaft und<br />
Philosophie, sie bauten herrliche Paläste, entwickelten Bewässerungssysteme<br />
und beobachteten den Himmel, schufen die Astronomie, die Chirurgie und<br />
an<strong>der</strong>es. Und das alles unter <strong>der</strong> Herrschaft des Islam.<br />
Heute hat <strong>der</strong> Islam im Westen bei vielen Menschen keinen guten Ruf.<br />
Fanatiker aller Seiten schotten sich ab. Islamische Fundamentalisten haben den<br />
»Heiligen Krieg« aus-gerufen, <strong>der</strong> Westen fürchtet eine schleichende<br />
»Islamisierung«, die sich in <strong>der</strong> Ableh-nung von Kopftüchern, <strong>der</strong><br />
Verschleierung <strong>der</strong> Frauen und im Wi<strong>der</strong>stand gegen den Bau von Minaretten<br />
und in <strong>der</strong> Verunglimpfung des Korans manifestiert. Viele Europäer lehnen die<br />
Homosexualität ab, aber kaum einem kommt ein gesetzliches Verbot in den<br />
Sinn. Doch das das Feuer <strong>der</strong> Abneigung und Ausgrenzung gegen muslimische<br />
Mitbürger wird von politischen Scharfmachern geschürt. Niemand weiss, das in<br />
den Fussballstadien unbewusst <strong>der</strong> Ruf des Muezzins erschallt: »Olé!<br />
Rhythmisch wie<strong>der</strong>holt in einer bestimmten, unverkennbaren Abfolge: Olé... Olé<br />
Olé Olé. Die meisten Fans bringen den Schlachtgesang wahrscheinlich mit<br />
Spanien in Verbindung, assoziieren damit Toreros o<strong>der</strong> Don Juan. Welcher<br />
Hooligan weiss schon, dass <strong>der</strong> Schlachtruf, mit dem sich die Fans gegenseitig<br />
aufpeitschen, das arabische Wort für Gott ist? Die Fussballstadien Europas<br />
hallen wi<strong>der</strong> von ›Allah!‹-Rufen. «<br />
Europa verdankt <strong>der</strong> arabischen Welt manche zivilisatorische und<br />
kulturelle Errungenschaft. Während zum Beispiel die Gabel als Esswerkzeug an<br />
italienischen Fürstenhäusern erst im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t auftaucht, benutzte man sie<br />
bereits im 4. Jahrhun<strong>der</strong>t in Istanbul. Sie brauche mehr als tausend Jahre, um auf<br />
langen Umwegen aus Kleinasien über das islamische Andalusien zuerst ins<br />
übrige Spanien und dann nach Westeuropa zu gelangen. Auch die Begriffe<br />
Bibliothek, Brunnen, Garten, Kaffee, Parfüm, Teppich und Zucker sind<br />
arabischer Herkunft – sie gelten heute aber als »europäisch«!<br />
»Aus dem Arabischen stammen auch »zahlreiche Wörter wie Safran,<br />
Damast, lila, scharlachrot und Musselin und zahlreiche Kulturpflanzen wie<br />
Reis, Zuckerrohr und Zitrusfrüchte. Der Begriff Chemie ist arabischen<br />
Ursprungs, ebenso wie Natron, Kali und Alkohol. Von den Arabern lernten die
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 93<br />
Europäer, wie man Windmühlen baut, mit Rä<strong>der</strong>n spinnt, Papier herstellt und<br />
Linsen schleift. Bis ins Hochmittelalter wurde an wissenschaftlichen Kongressen<br />
Arabisch gesprochen. Davon zeugen noch Begriffe wie Azimut, Algebra, Zenit,<br />
aber auch Razzia; die sich in europäische Sprachen tradierten. Gestützt auf<br />
ihren wissenschaftlich-technischen Vorsprung, dominierten arabische Län<strong>der</strong><br />
bis ins Hochmittelalter den Handel mit hochwertigen Gütern: Gewürze, edle<br />
Textilien, Seide, Gerbstoffe. Europa lieferte nur die Rohstoffe dazu: Silber,<br />
Wolle, Sklaven. Bis heute ist es ein großes Geheimnis <strong>der</strong><br />
Geschichtswissenschaft, warum die Araber ihren Vorsprung ab dem vierzehnten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t verloren haben.«<br />
(Vorstehende Zitae aus: Trojanow, Ilija, und Hoskote, Ranjit; Kampfabsage; Kulturen bekämpfen sich<br />
nicht - sie fliessen zusammen; aus dem Englischen von Heike Schlatterer, München, 2007.)<br />
Aber damals, als das spanische Königspaar vertrauensvoll in die Zukunft<br />
blicken konnte. stand das nächste Ziel schon fest. Die Herrschaft über die See,<br />
die es anzustreben galt, war nicht vergessen gegangen. Beson<strong>der</strong>s Isabella war<br />
strategisch sehr begabt, und es war ihr auch während <strong>der</strong> Landkriege wichtig<br />
gewesen, die Strasse von Gibraltar offen zu halten, auch wenn die Mauren sie<br />
immer wie<strong>der</strong> zu sperren versuchten. Die Seekräfte Kastiliens hatten mehrmals<br />
mit dem Landheer zusammengewirkt, beispielsweise bei <strong>der</strong> Einschliessung und<br />
Blockade von Malaga. Man würde die Meerenge überqueren und die Mauren<br />
auch von <strong>der</strong> nordafrikanischen Küste vertreiben, wo Portugal mit <strong>der</strong> Einnahme<br />
von Cëuta den Anfang gemacht hatte. Neapel und Sizilen gehörte den<br />
Katholischen Königen schon per Erbfolge, mit dem Vordringen in Nordafrika –<br />
in Marokko, Tunis und Algier – würde man das Mittelmeer nach und nach zu<br />
einem spanischen Meer machen.<br />
Aber es sollte an<strong>der</strong>s kommen. Unter den Zuschauern in Granada befanden sich<br />
zwei Männer, die das Rad <strong>der</strong> Geschichte in eine an<strong>der</strong>e Richtung drehen<br />
wollten. Der eine - gross, hager und finster dreinblickend - war Tomás<br />
Torquemada, <strong>der</strong> mächtige Grossinquisitor des «Sanctum Officium», <strong>der</strong><br />
Heiligen Inquisition, ein ehemaliger<br />
Franziskanermönch. Der an<strong>der</strong>e aber galt<br />
noch nichts, doch schon bald sollte er aus<br />
dem Dunkel <strong>der</strong> Anonymität hervortreten.<br />
Christoph Kolumbus träumte von einem<br />
asiatischen Land, das für Spanien zu finden<br />
er sich auf den Weg nach Westen machen<br />
wollte.<br />
Französische Buchmalerei: Templer werden<br />
auf dem Scheiterhaufen hingerichtet, um 1400<br />
Die Inquisition betrieb seit dem Mittelalter<br />
gerichtliche Untersuchungen gegen die
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 94<br />
Häretiker, die Ketzer. Der Son<strong>der</strong>beauftragte des Papstes, <strong>der</strong> Grossinquisitor,<br />
ernannte in <strong>der</strong> ganzen katholischen Welt Inquisitoren (meist Dominikaner), die<br />
für die Aufspürung Glaubensabtrünniger verantwortlich waren, wie sie die<br />
Kirche überall im Lande vermutete. Beson<strong>der</strong>s als Hexen verrufene Frauen und<br />
getauften Juden waren gefährdet. Juden, die unter dem Druck <strong>der</strong> Kirche zum<br />
Katholizismus übergetreten waren, galten generell als Scheinbekehrte,<br />
sogenannte «Conversos». Schon 1215 for<strong>der</strong>te das Vierte Laterankonzil die<br />
Auslieferung <strong>der</strong> verurteilten, in <strong>der</strong> «Casa Santa» (Haus <strong>der</strong> Inquisition)<br />
eingekerkerten Ketzer an die weltliche Gewalt: die Kirche verurteilte, aber die<br />
zum Handlanger degradierte Justiz vollzog! 1229 wurde auch das Verfahren und<br />
die Bestrafung auf dem Konzil zu Toulouse «geregelt»: mit einer Auffor<strong>der</strong>ung<br />
an die Häretiker zur Selbstanzeige und an die Gläubigen zur Denunziation!<br />
Nach <strong>der</strong> Vorladung bzw. Verhaftung wurde stets eine Untersuchung eingeleitet,<br />
wobei die Folter als Instrument zur Erzwingung eines Schuldbekenntnisses<br />
legales Mittel war. Den Angeklagten stand kein Verteidiger zur Seite, Namen<br />
<strong>der</strong> Denunzianten und Zeugen blieben geheim. Die Strafen reichten von selten<br />
ausgesprochenen harmlosen Kirchenstrafen bis zu häufigen Verurteilungen zum<br />
Tod auf dem Scheiterhaufen.<br />
Unter dem Grossinquisitor Thomas Torquemada war Spanien zu einem Land<br />
fanatischer Religiosität geworden. Nachdem die Katholischen Könige Granada<br />
erobert hatten, setzte eine organisierte Verfolgung aller Fremdgläubigen ein.<br />
<strong>Das</strong> Versprechen nach Glaubensfreiheit galt nichts mehr, die weltliche Macht<br />
vertrieb die Mauren, und die Inquisition verfolgte die Juden.<br />
Torquemada war in Spanien gefürchtet. Böse Zungen raunten, sein Name leite<br />
sich von «Torre cremata», verbrannter Turm, ab. Die «Braseros»<br />
(Scheiterhaufen) - gleichen sie nicht brennenden Türmen? Colón hatte sie mehr<br />
als einmal lo<strong>der</strong>n gesehen, hatte von Ferne zugesehen, wenn die Verurteilten im<br />
«Sanbenito» (Büssergewand), die «Caroza» (spitze Papiermütze) auf dem Kopf,<br />
von den Waffenknechten herangeführt wurden. Meist herrschte fröhliches<br />
Treiben auf dem Richtplatz. Fliegende Händler verkauften Wein und Würste an<br />
die wartende Menge, die Verkäufer schrien sich die Seele aus dem Leib und die<br />
Büttel mussten schon die ersten Betrunkenen fortschaffen. Hinter <strong>der</strong><br />
Absperrung sassen die Offiziellen und «Gäste», letztere waren meist<br />
zwangsgeladene Angehörige, die dem Trauerspiel zur Abschreckung zuschauen<br />
mussten. Im Spanien des ausklingenden 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts waren die meisten<br />
Opfer <strong>der</strong> Inquisition getaufte Juden.<br />
Die an<strong>der</strong>en Juden aber, die sich nicht taufen liessen, waren in Spanien<br />
unerwünscht. Nur wenig Zeit hatte Thomas Torquemada den ungetauften Juden<br />
gegeben, Spanien zu verlassen. Mit einem Dekret vom 31. März 1492 wurde die<br />
Austreibung <strong>der</strong> Juden aus Spanien befohlen. Mitnehmen durften sie nur, was<br />
sie tragen konnte. In <strong>der</strong> christlichen Bevölkerung fanden die Inquisitoren meist<br />
breite Unterstützung. Den Juden waren handwerkliche und militärische Berufe
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 95<br />
vorenthalten; daraus ergab sich, dass viele von ihnen als Ärzte und<br />
Wissenschaftler zu hohem Ansehen gelangten, die meisten jedoch als Händler<br />
und Geldverleiher ihren Lebensunterhalt verdienten. Die Austreibung <strong>der</strong> Juden<br />
war also auch eine gute Gelegenheit, sich seiner Schulden zu entledigen. Der<br />
intellektuelle A<strong>der</strong>lass stürzte Spanien in <strong>der</strong> Folge in eine schwere<br />
wirtschaftliche Krise.<br />
Unter den Glückwünschen, die nach dem Fall Granadas beim König und bei <strong>der</strong><br />
Königin eintrafen, befand sich auch ein Schreiben, das wie folgt begann:<br />
«Allerchristliche, erhabene, hervorragende und mächtigste Fürsten, König und<br />
Königin <strong>der</strong> Spanischen Lande und <strong>der</strong> Inseln im Meere, meine Gebieter: im<br />
gegenwärtigen Jahr 1492 schlossen Eure Hoheiten den Krieg gegen die Mauren<br />
ab, die noch in Europa regierten, und in <strong>der</strong> grossen Stadt Granada nahm <strong>der</strong><br />
Krieg sein Ende. Dort sah ich selbst in diesem Jahr, am zweiten Tag des Monats<br />
Januar, wie dank dem Sieg <strong>der</strong> Waffen die königlichen Fahnen Eurer Hoheiten<br />
auf den Türmen <strong>der</strong> Alhambra gehisst werden konnten ...» Die Unterschrift<br />
lautete: Cristóbal Colón. Christoph Kolumbus brachte sich mit dem Brief in<br />
Erinnerung, denn schon seit 1485 hatte er erstmals dem spanischen Königspaar<br />
seinen Plan vorgetragen, Japan, China und Indien zu erreichen, indem er<br />
westwärts über den Atlantik segeln wolle. Aber die Königin hatte eine<br />
Expertenkommission eingesetzt, die nun schon sieben Jahre beriet und sich nicht<br />
einig werden konnte.<br />
Kolumbus ging von <strong>der</strong> schon damals wie<strong>der</strong> weitverbreiteten Theorie <strong>der</strong> Erde<br />
als Kugel aus. Insofern war es logisch, dass man auf einer Kugel sowohl über<br />
Osten als auch über Westen an einen bestimmten Punkt auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />
<strong>der</strong> Erdkugel gelangen konnte. Die Frage war nur, welches <strong>der</strong> nähere Weg war.<br />
Und da hatte Kolumbus durchaus vernünftige Argumente, aus dem Wissen<br />
seiner Zeit den westlichen Weg als den kürzeren anzunehmen. Seit 1488<br />
Bartholomäus Diaz von seiner Afrikaumrundung heimgekehrt war, stand fest,<br />
dass <strong>der</strong> schwarze Kontinent umsegelt werden konnte. Aber wie weit war es<br />
noch nach Indien?<br />
Namhafte Historiker, so auch Salvador de Madariaga, gehen von <strong>der</strong><br />
begründeten Vermutung aus, dass Kolumbus jüdischer Abstammung war, dass<br />
er dies allerdings gut kaschiert habe. Und das aus gutem Grund: Wäre seine<br />
jüdische Herkunft bekannt geworden, hätte auch er in die Fänge <strong>der</strong> Inquisition<br />
geraten können. Aber seine genuesische Herkunft scheint unbestritten zu sein; in<br />
Oberitalien war <strong>der</strong> jüdische Familienname Colombo (und Varianten davon)<br />
verbreitet. Er kann u.a. in Genua, Turin, Casale, Modena und Livorno<br />
nachgewiesen werden. Auch <strong>der</strong> Vorname Christoph wurde damals von vielen<br />
bekehrten Juden gewählt. Simon Wiesenthal, Leiter <strong>der</strong> Jüdischen<br />
Dokumentationszentrums in Wien, vertritt in einem 1992 veröffentlichten Buch<br />
sogar die Ansicht, dass Kolumbus jenseits des Atlantik we<strong>der</strong> Gold noch<br />
Gewürze suchte, son<strong>der</strong>n die «verlorenen Stämme Israels». Schon Marco Polo<br />
hat von einem vor<strong>der</strong>indischen Königreich mit Namen Koulam berichtet, «in
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 96<br />
dem viele Juden und Christen leben, die eine eigene Sprache sprechen». <strong>Das</strong><br />
Wüten <strong>der</strong> Inquisition und die Vertreibung <strong>der</strong> Juden hätten Kolumbus - so<br />
Wiesenthal - nach einem Refugium für die bedrohten Juden suchen lassen.<br />
Kolumbus hatte seine seemännische Laufbahn in seiner Heimatstadt begonnen.<br />
Genua pflegte seit vielen Jahren gute Handelsbeziehungen mit bedeutenden<br />
Handelsplätzen Europas und Vor<strong>der</strong>asiens; Seefahrt war hier selbstverständlich.<br />
1476, als <strong>der</strong> Genuese Christoph Kolumbus gerade fünfundzwanzig Jahre alt<br />
und schon ein erfahrener Seemann war, wurde er als Steuermann mit einem<br />
flämischen Schiff vor <strong>der</strong> portugiesischen Küste schiffbrüchig. Er konnte sich an<br />
Land retten und ist zu seinem in Lissabon als Kartenmacher tätigen Bru<strong>der</strong><br />
Bartholomäus gezogen. Dort half er seinem Bru<strong>der</strong> und hatte Zugriff zum<br />
geographischen Wissen seiner Zeit. Kolumbus hatte mit Sicherheit das berühmte<br />
Buch von Marco Polo gelesen, in dem dieser die gewaltige Dimension Asiens<br />
nach Osten beschreibt. Und er kannte auch die «Geographia» von Claudius<br />
Ptolemäus. Damals bezeichnete man unter dem Begriff «Indien» nicht nur das,<br />
was man heute Indien nennt, son<strong>der</strong>n ganz Asien. Aber niemand hatte eine<br />
Ahnung, wie gross diese Ausdehnung wirklich sei, und von <strong>der</strong> Existenz<br />
Amerika und des riesigen Pazifiks wusste man auch nichts. Kolumbus glaubte,<br />
wie er selbst notiert hat, dass zwischen «dem Ende des Okzidents (Portugal) und<br />
dem Ende Indiens (Asien) über Land (also nach Osten) eine sehr grosse<br />
Entfernung besteht.» Kolumbus schloss daraus: «Die Entfernung von Portugal<br />
über das Meer nach Indien (also nach Westen) ist sehr klein. Es ist<br />
offensichtlich, dass man mit günstigem Wind dieses Meer in wenigen Tagen<br />
durchqueren kann.»<br />
Tatsächlich scheint schon zehn Jahre vorher von König Alfons V. von Portugal<br />
eine Reise nach Indien über den westlichen Seeweg erwogen worden zu sein. Er<br />
hatte den Rat des Florentiner Kosmographen und Astrologen Paolo Toscanelli<br />
eingeholt, <strong>der</strong> in einem Brief vom 25. Juni 1474 «einen kürzeren Seeweg in die<br />
Gewürzlän<strong>der</strong>, als den, den Ihr über Guinea nehmt» vorschlug. Toscanelli hatte<br />
sogar eine Karte beigefügt. Brief und Karte waren von den Portugiesen zum<br />
Staatsgeheimnis erklärt worden, aber Kolumbus hatte (auf welche Art und<br />
Weise auch immer) von diesem Brief gehört; er schrieb in heller Aufregung an<br />
Toscanelli und bat um weitere Informationen. Toscanelli antwortete<br />
aufmunternd und gab Kolumbus weitere Argumente und Berechnungen. Dazu<br />
schickte er ebenfalls eine Karte, die Kolumbus später auf seine Reise mitnahm.<br />
Warum war Kolumbus von <strong>der</strong> Kürze des westlichen Seewegs so überzeugt? Es<br />
lag auf <strong>der</strong> Hand, dass <strong>der</strong> Westweg umso kürzer wurde, je grösser die<br />
Ausdehnung Asiens nach Osten war. Die Wissenschaft ging - wie schon gesagt -<br />
von <strong>der</strong> Kugelform <strong>der</strong> Erde aus. Auch ihre Einteilung in 360 Längengrade war<br />
seit Eratosthenes und Claudius Ptolemäus üblich. Dazu wurde jedes Längengrad<br />
in 60 Bogenminuten unterteilt. Die Erde hat also 360 x 60 = 21600<br />
Bogenminuten. Und es gilt überall bis heute die Regel, eine Bogenminute am<br />
Äquator auch einer Seemeile gleichzusetzen. Doch über zwei wesentliche
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 97<br />
Fragen herrschte noch Unklarheit: Erstens die Abstände von Längengrad zu<br />
Längengrad am Äquator, die in ihrer Summe den Erdumfang ausmachen, und<br />
zweitens die Ausdehnung Asiens nach Osten, weil im unbekannten «Rest» die<br />
Breite des Atlantiks vermutet wurde. Woher sollten Kolumbus und seine<br />
Zeitgenossen auch wissen, dass ein grosser, noch unentdeckter Kontinent und<br />
<strong>der</strong> noch grössere Pazifik in ihren Kalkulationen fehlte?<br />
Die Abstände <strong>der</strong> Längengrade - und damit die Länge einer Seemeile -<br />
schwankte natürlich mit <strong>der</strong> Grösse, die man <strong>der</strong> gesamten Erde beimass. Im<br />
Katalanischen Atlas des Abraham Cresques von 1375 werden 20’400 Meilen für<br />
den Äquatorumfang angenommen, Fra Mauro schätzte 24’120 Meilen. Daraus<br />
ergaben sich äquatoriale Längengrad-Abstände von 56 Meilen bis 67 Meilen.<br />
Die richtige Zahl, 60 Meilen, sollte noch längere Zeit im Dunkeln bleiben.<br />
Über die Ausdehnung <strong>der</strong> Landmasse von Portugal bis zur Ostspitze Chinas<br />
existierten vielfältige Schätzungen. Kolumbus war ohne Zweifel sehr belesen<br />
und er kannte wahrscheinlich alle wichtigen Aussagen zu diesem Thema. Sie<br />
reichten von 116° im Katalanischen Atlas o<strong>der</strong> 125° bei Fra Mauro, von 177°<br />
bei Ptolemäus bis zu 225°, wie Marinus von Thyros (100 Jahre v. Chr.) annahm.<br />
Auch hier weicht die richtige Zahl erheblich ab: sie lautet 131°. Kolumbus<br />
rechnete mit katalanischen Meilen aus dem Atlas von 1375; es schien ihm wohl<br />
glaubwürdiger, den spanischen Hof mit einem spanischen Längenmass zu<br />
überzeugen, aber für die Ostausdehnung Asiens legte er den Wert von Marinus<br />
zugrunde. Ihm war bekannt, dass Ptolemäus 177° angenommen hatte, doch er<br />
glaubte auch an einen Irrtum des Ptolemäus: man müsse noch «Indien jenseits<br />
des Ganges», also den ganzen Fernen Osten, hinzuzählen. Damit kam er auf<br />
282°. Kolumbus war überzeugt, dass er also nur 78 äquatoriale Längengrade zu<br />
je 56,667 katalanischen Meilen (gleich 4420 katalanische bzw. 3530 mo<strong>der</strong>ne<br />
Seemeilen) nach Westen segeln müsste, um die Ostspitze Asiens zu erreichen.<br />
78 Grad sind auch beim wahren Erdumfang nur knapp 4700 Seemeilen, eine<br />
Distanz, die heute von je<strong>der</strong> seegängigen Jacht in vier bis sechs Wochen<br />
zurückgelegt werden kann. Kuba liegt nur gut 4000 Seemeilen von <strong>der</strong><br />
spanischen Küste entfernt. <strong>Das</strong>s Kolumbus nach seiner Abreise zum erwarteten<br />
Zeitpunkt Land sichtete, sollte ihn in seinem Glauben, Asien erreicht zu haben,<br />
bestärken.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 98<br />
Landung des Christoph Kolumbus auf San Salvador am 14. Oktober 1492<br />
(nachempfundene Darstellung, Currier & Ives, United States Library of Congress's).<br />
Im April 1492 weilte <strong>der</strong> Hof noch immer in Granada. Nachdem Kolumbus von<br />
<strong>der</strong> Königin im Frühling eine abschlägige Antwort empfangen hatte, wollte er<br />
enttäuscht sein Heil in Frankreich versuchen. Am 11. April, Kolumbus hatte<br />
Granada gerade verlassen, wurde er zwei Meilen hinter dem Stadttor von einem<br />
Kurierreiter <strong>der</strong> Königin eingeholt. Er solle für Spanien den Atlantik nach<br />
Westen überqueren! Isabella for<strong>der</strong>te ihn auf, bei ihr vorzusprechen. Als er nicht<br />
mehr an einen Auftrag <strong>der</strong> Königin glaubte, war er unversehens an sein grosses<br />
Ziel gelangt.<br />
Mit drei Schiffen konnte Kolumbus am 3. August 1492 westwärts in See<br />
stechen. An Bord hatte er unter an<strong>der</strong>en einen hebräisch sprechenden<br />
Dolmetscher! Am 2. August 1492 lief die den Juden von Torquemada gesetzte<br />
Frist ab. Die spanische Krone hatte wenig Geld, man litt noch unter den Folgen<br />
des Kriegs gegen die Mauren. So wurde die erste Reise ironischerweise von<br />
Louis de Santangel finanziert, einem getauften Juden, Vermögensverwalter von<br />
König Ferdinand und vertrauter Berater <strong>der</strong> Königin. Er war es auch, <strong>der</strong><br />
Isabella zugunsten Kolumbus’ Plänen umgestimmt hatte; vielleicht auch mit<br />
dem Argument, die Welt von dem furchtbaren Vorgehen <strong>der</strong> Inquisition in<br />
Spanien abzulenken. Denn dem spanischen Königspaar muss zugute gehalten<br />
werden, dass es mit dem Wüten des vom Papst eingesetzten «Sanctum<br />
Officium» im Herzen nicht einverstanden war. Es musste sich aber nach<br />
damaliger Auffassung aus den Angelegenheiten einer hohen kirchlichen<br />
Behörde heraushalten.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 99<br />
Kolumbus’ Flaggschiff war die «Santa Maria», die er «la Não», das Schiff,<br />
nannte. Die «Pinta» und die «Niña» bezeichnete er als «las Carabelas»<br />
(Karavellen). Ein Chronist hat festgehalten, dass die «Santa Maria» erheblich<br />
grösser als die beiden an<strong>der</strong>en Schiffe und damit ein Vorläufer <strong>der</strong> später<br />
verbreiteten Galeonen gewesen sei. Am 12. Oktober sichtete ein Matrose auf <strong>der</strong><br />
«Pinta» als erster Land: es war Guanahani, wahrscheinlich das heutige Watling<br />
Island, vielleicht waren es auch die Bahamas. Später entdeckten sie Kuba und<br />
Haiti, wo die «Santa Maria» Schiffbruch erlitt. Im November gelangten die<br />
beiden übrigen Schiffe nach Puerto Rico, fanden aber das Festland noch nicht.<br />
Im März 1493 kehrte die Expedition nach Spanien zurück, und berichtete dort<br />
von «Westindien», denn Kolumbus war überzeugt, einige Asien vorgelagerte<br />
Inseln gefunden zu haben. Und wenn er auch die erhofften Schätze nicht<br />
gefunden hatte, war seine Nachricht von den neuen Inseln eine Sensation.<br />
Die Nachricht vom Erfolg des Kolumbus verbreitete sich in Windeseile.<br />
Portugal, dessen König, Wissenschaftler und Kardinäle natürlich auch von <strong>der</strong><br />
Kugelform <strong>der</strong> Erde überzeugt waren, wurde hellhörig. Sollte Spanien, <strong>der</strong><br />
ewige Konkurrent, doch die bessere Politik machen und kurz vor dem grossen<br />
Ziel stehen, Indien - und damit die Gewürzlän<strong>der</strong> - zu erreichen? Die Stimmung<br />
zwischen beiden Län<strong>der</strong>n verschlechterte sich, Krieg drohte; schliesslich rief<br />
man den Papst als Schiedsrichter an. 1494 wurde auf Vermittlung von Papst<br />
Alexan<strong>der</strong> VI. zwischen Portugal und Spanien <strong>der</strong> Vertrag von Tordesillas<br />
abgeschlossen, <strong>der</strong> die Besitz- und Entdeckungsansprüche bei<strong>der</strong> Län<strong>der</strong><br />
abgrenzte. Man vereinbarte eine 400 Leguas (1200 Seemeilen) westlich <strong>der</strong><br />
Kapverdischen Inseln in Nord-Süd-Richtung verlaufende Demarkationslinie.<br />
Spanien wurden die westlich, Portugal die östlich davon liegenden noch zu<br />
entdeckenden Län<strong>der</strong> zugesprochen.<br />
Kolumbus unternahm noch drei weitere Reisen in dieses Gebiet, erreichte 1498<br />
auch das amerikanische Festland im heutigen Venezuela. Aber die erhofften<br />
reichen Län<strong>der</strong>eien fand er nicht. Mächtige Nei<strong>der</strong> und persönliche Feinde<br />
sorgten dafür, dass er bald bei Hof in Ungnade fiel. Kolumbus starb 1506, arm<br />
und sehr von Arthritis gezeichnet, ohne erfahren zu haben, dass er einen neuen<br />
Erdteil gefunden hatte.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 100<br />
Die Suche nach «Eugenia caryophyllata»<br />
Vor fünfhun<strong>der</strong>t Jahren erreichte Vasco da Gama Indien:<br />
Wo wächst <strong>der</strong> Gewürznelkenbaum?<br />
Achtundzwanzig Jahre nach dem Tode Heinrich des Seefahrers<br />
sollte endlich die Umrundung des Schwarzen Kontinents gelingen.<br />
Eine neue Expedition, die unter dem Kommando von Bartolomëu<br />
Diaz, Ritter am Hofe von Lissabon, nach Süden auslaufen sollte, wurde in <strong>der</strong><br />
Stadt streng geheim gehalten. Kein Spanier, kein Genuese, kein Venezianer<br />
sollte von diesem entscheidenden Unternehmen etwas ahnen. Ende Juni 1487<br />
lief die kleine Flotte aus. Die Expedition bestand aus zwei Karavellen und einem<br />
Versorgungsschiff; sie waren mit Proviant für mehrere Jahre beladen, gut<br />
bewaffnet, und im Rumpf führten sie einige steinerne Wappenpfeiler (Padrãos)<br />
mit. Je tiefer sie in den Südatlantik vordrangen, desto gefährlicher wurde ihr<br />
Unternehmen, denn das schwerfällige Versorgungsschiff musste im Golf von<br />
Guinea zurückbleiben. Stürme und raue See nahmen zu. Nach fünf Monaten<br />
erreichten die beiden Schiffe im Dezember 1487 eine runde Bucht vor <strong>der</strong><br />
trostlosen Küste Namibias. Sie nannten sie als Dank für überstandene Gefahren<br />
nach <strong>der</strong> Gottesmutter Golfo di Santa Maria. Diaz gönnte hier seinen Leuten<br />
eine Rast. Die Mannschaft war erschöpft und von Krankheit und Strapazen<br />
gezeichnet, die Stimmung war nicht gut, denn das Land hier war unwirtlich und<br />
heiss. Heute liegt an diesem einzigen Landungspunkt <strong>der</strong> Schiffe Diaz' <strong>der</strong><br />
grosse Seehafen Namibias: die Walfish-bay.<br />
Nach einigen Tagen ging es weiter. Am Heiligen Abend wurde die<br />
Lü<strong>der</strong>itzbucht erreicht. Dann hielten sie sich frei vom Land und segelten gut 150<br />
Seemeilen von <strong>der</strong> Küste entfernt südwärts, als ein ungeheures Unwetter<br />
losbrach, ein Sturm, wie ihn selbst die an Gefahren gewöhnten Seeleute noch<br />
nicht erlebt hatten. Wind und Wellen verschlugen die Karavellen immer weiter<br />
nach Süden, die Schiffe waren nicht mehr steuerbar, son<strong>der</strong>n lenzten vor Topp<br />
und Takel (ohne Segel vor dem Wind treiben); eine Position zu bestimmen war<br />
völlig unmöglich. Die Besatzung glaubte sich dem Ende nahe, Angst und<br />
Entsetzen machten sich breit. Erst nach dreizehn Tagen liess <strong>der</strong> Sturm etwas<br />
nach und Diaz konnte mit gerefften Segeln Kurs nach Osten nehmen. Er wollte<br />
sich dem Festland wie<strong>der</strong> nähern, von dem er glaubte, es verlaufe noch immer<br />
weiter nach Süden. Als aber nach längerer Zeit überhaupt kein Land in Sicht<br />
kam, liess er den Kurs nach Norden än<strong>der</strong>n, als hätte er geahnt, dass <strong>der</strong><br />
Südverlauf <strong>der</strong> afrikanischen Küste nunmehr beendet sei.<br />
EIN TAUSCHHANDEL<br />
Endlich stieg aus dem Dunst des Horizonts die Silhouette von Land herauf. Bald<br />
erkannten sie eine grüne Küste und sahen zu ihrem Erstaunen einige
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 101<br />
Viehherden. Diaz taufte die Küste Andra dos Vaqueros, Bucht <strong>der</strong> Viehhirten.<br />
Ohne die Südspitze Afrikas gesehen zu haben, hatten sie sie im Unwetter<br />
umrundet. Als erste Europäer betraten Diaz und seine Männer Südafrika. Sie<br />
entdeckten dieses Land, haben es aber nicht in kolonialen Besitz genommen, sie<br />
drangen nicht ins Landesinnere vor und verliessen kaum ihre Schiffe. Aber als<br />
sie ihre Fässer mit Frischwasser füllten, hatten sie zum ersten Mal Kontakt mit<br />
schwarzen Eingeborenen.<br />
Plötzlich standen sie da: zuerst drei Männer, dann noch zwei, schliesslich<br />
schauten etwa zwölf hochgewachsene, schlanke Gestalten von den Dünen zu<br />
ihnen herüber. Sie waren spärlich bekleidet, nur einer trug ein zerschlissenes<br />
Leopardenfell über <strong>der</strong> Schulter. Die<br />
Portugiesen erstarrten, blieben wie angewurzelt stehen, und <strong>der</strong> diensthabende<br />
Offizier liess Diaz Meldung machen. Der befahl, wenn es möglich sei, Kontakt<br />
aufzunehmen. Der Offizier winkte den Schwarzen, sie sollten näherkommen.<br />
Die Eingeborenen berieten sich leise, aber dann näherten sie sich Schritt für<br />
Schritt, langsam und furchtlos.<br />
Ein Matrose bemerkte, dass weitere Schwarze im Gebüsch kauerten; die j ungen<br />
Krieger waren mit Lanzen, Steinschleu<strong>der</strong>n und Keulen bewaffnet. Er meldete<br />
seine Beobachtung dem Offizier. Der liess Armbrustschützen und Bombardiere<br />
aufmarschieren, aber da die Eingeborenen ruhig blieben, verteilte er kleine<br />
Schellen und rote Kap<br />
pen. Die Eingeborenen schenkten ihnen dafür Ringe aus Elfenbein. Der grosse<br />
Schwarze mit dem Leopardenfell, offensichtlich <strong>der</strong> Häuptling, gestikulierte,<br />
redete guttural und zeigte auf die Geschenke. «Er will noch mehr davon!» sagte<br />
einer <strong>der</strong> Matrosen. Da rief <strong>der</strong> Häuptling den jungen Männern im Gebüsch<br />
etwas zu. Der Hauptmann liess die Bombarden in Anschlag bringen, und die<br />
Soldaten beobachteten nervös den Schauplatz. Dann raschelte es im Gebüsch,<br />
Zweige wippten und bogen sich seitwärts: zwei Knaben führten einen Ochsen<br />
herbei! Erleichtert liessen die Männer die Waffen sinken.<br />
Der Häuptling machte ihnen verständlich, dass er den Ochsen gegen weiteren<br />
Tand eintauschen wollte. Lange wurde palavert und gehandelt; schliesslich<br />
wechselte <strong>der</strong> Ochse für zehn Glöckchen, zehn Kappen, einen kleinen Spiegel<br />
sowie ein billiges Messer für den Häuptling den Besitzer. Danach verschwanden<br />
die Eingeborenen im Gebüsch. Sofort wurden Posten aufgestellt, die den<br />
Landungsplatz bewachten, denn Diaz hatte den Eindruck, dass sich die<br />
Eingeborenen den weissen Fremdlingen eher feindlich zeigten. Es kam aber zu<br />
keiner weiteren Begegnung.<br />
Die Portugiesen sahen hier keine beson<strong>der</strong>e wirtschaftliche Bedeutung, ausser<br />
dass man Vieh zur Verpflegung eintauschen konnte. Die weitere Geschichte<br />
Südafrikas schrieben nicht die Portugiesen, hier blieben sie Entdecker, wurden<br />
nicht Eroberer und Unterdrücker. <strong>Das</strong> machten später an<strong>der</strong>e, die aus England<br />
und Holland kamen.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 102<br />
AUF GEGENKURS<br />
Doch in Mossel Bay, <strong>der</strong> kleinen südafrikanischen Stadt mit 30'000<br />
Einwohnern, wird die Erinnerung an Bartolomëu Diaz gepflegt, obwohl er hier<br />
nur kurze Zeit vor Anker ging. <strong>Das</strong> Diaz-Denkmal am Hafen weist nach<br />
Ostnordost; das war <strong>der</strong> Kurs, den Diaz auf seinem weiten Weg nach Indien<br />
nahm. Doch er kam nicht mehr weit; seine Mannschaft verweigerte sich ihm:<br />
<strong>der</strong> Sturm, die Angst sowie die Knappheit an Lebensmitteln und Trinkwasser<br />
hatten sie mutlos gemacht. Am 12. März 1488 erreichten sie eine Felsenklippe,<br />
wo sie wenigstens eine Quelle vorfanden. Diaz liess einen Padrão errichten.<br />
Dort angekommen, so verzeichnete ein Schiffschronist, erfüllte das Schiffsvolk<br />
grosse Müdigkeit und Furcht wegen <strong>der</strong> grossen Meeresgebiete, die sie hinter<br />
sich gebracht hatten.<br />
«Und alle fingen an sich wie ein Mann zu beklagen und zu verlangen, dass die<br />
Fahrt nicht weiter fortgesetzt werde. Sie sagten, dass die Lebensmittel nicht<br />
mehr ausreichen würden und dass man, falls man weitersegle, hungers werde<br />
sterben müssen. Es sei für eine Reise genug, soviel Küste erforscht zu haben,<br />
und sie hätten bereits die wichtigste Erkenntnis erlangt, die aus dieser<br />
Entdeckungsfahrt zu ziehen gewesen sei; nämlich, dass sich das Festland<br />
immerfort in östlicher Richtung erstrecke. Es scheine auch, dass ein bedeutendes<br />
Kap hinter ihnen läge. Es sei besser umzukehren, um dieses zu erkunden.»<br />
LIEGT DER SÜDPOL IN AFRIKA?<br />
Diaz, <strong>der</strong> unbedingt den Durchbruch nach Indien schaffen wollte, konnte die<br />
Fahrt noch ein paar Tage fortsetzen, als aber auch seine Offiziere zur Umkehr<br />
rieten, musste er das Unternehmen abbrechen. Die Schiffe gingen auf Gegenkurs<br />
und segelten <strong>der</strong> Küste entlang nach Westen. Dann sahen sie endlich jenes Kap,<br />
das das Ende Afrikas markierte. Sie nannten es Kap <strong>der</strong> Stürme. König Johann<br />
II. von Portugal hat es nach ihrer Rückkunft in Kap <strong>der</strong> Guten Hoffnung<br />
umgetauft, um damit seiner Zuversicht Ausdruck zu geben, <strong>der</strong> Seeweg nach<br />
Indien sei nun frei. Als Diaz im Dezember 1488 heimkehrte, hatte die Reise<br />
sechzehn Monate und siebzehn Tage gedauert. Der König gab ihm eine<br />
feierliche Audienz, an <strong>der</strong> auch Kolumbus als Zeuge anwesend war.<br />
Kolumbus hatte König Johann vor einiger Zeit einen Seeweg nach Indien über<br />
den Atlantik nach Westen vorgeschlagen, weil Indien - wie er überzeugt war -<br />
über wesentlich kürzere Distanz zu erreichen sein müsse. Doch <strong>der</strong> König war<br />
nun noch weniger als vorher an Kolumbus' Ideen interessiert: warum sollte man<br />
einer ungewissen Theorie nachhängen, wenn <strong>der</strong> zwar lange, aber doch sichere<br />
Weg um Afrika gefunden war? Die Umfahrbarkeit dieses riesigen Kontinents<br />
war bewiesen.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 103<br />
Diaz ist auf einer späteren Fahrt über den Indischen Ozean mit seinem Schiff<br />
verschollen. Aber seither hatte die Welt ein an<strong>der</strong>es Gesicht. Allerdings hatten<br />
sich die Träume <strong>der</strong> Herrscher und Händler von Reichtum und Gewürzen noch<br />
nicht erfüllt. Die als Arzneipflanze begehrte Aloe gab es zwar ausreichend in<br />
Afrika, auch konnte man den weissen Pfeffer aus Afrika nach Lissabon bringen,<br />
aber die bessere Sorte, <strong>der</strong> grosskörnige schwarze Pfeffer, für den die höchsten<br />
Preise erzielt wurden, wuchs in Indien.<br />
Im Kronrat fanden sich<br />
einflussreiche Männer, die<br />
grosse Bedenken gegen eine<br />
weitere Erkundung des<br />
Südens vorbrachten. Woher<br />
wolle man wissen, ob sich die<br />
afrikanische Küste nach ein<br />
paar tausend Meilen nicht<br />
doch wie<strong>der</strong> nach Süden<br />
hinziehe und vielleicht gar mit<br />
dem Südpol verwachsen sei?<br />
Der Vertrag von Tordesillas:<br />
Die erste Seite des Vertrags 1493<br />
(Biblioteca Nacional de Lisboa)<br />
Schon jetzt überfor<strong>der</strong>ten die unendlich weiten Schiffahrtswege Menschen und<br />
Material. Aber Kolumbus war 1492 im Solde <strong>der</strong> spanischen Könige über den<br />
Atlantik gesegelt und hatte in <strong>der</strong> Zwischenzeit tatsächlich grosse Län<strong>der</strong>eien im<br />
Westen gefunden; Inseln zwar, aber wer garantierte, dass sich dahinter nicht<br />
doch das indische Festland befinde? So hat man unterpäpstlicher Vermittlung<br />
1494 vorsorglich die Welt unter sich aufgeteilt: <strong>der</strong> Vertrag von Tordesillas<br />
legte fest, dass alle neuzuentdeckenden Län<strong>der</strong> - westlich von <strong>der</strong> Mitte des<br />
Atlantiks gemessen - zu Spanien, östlich davon aber Portugal gehören sollten.<br />
König Manuel I. setzte die maritime Expansionspolitik seiner Vorgänger<br />
dennoch konsequent fort. Man nannte ihn »Manuel el fortunado«, Manuel den<br />
Glücklichen. Unter seiner 1495 beginnenden Herrschaft sollte Portugal den<br />
glanzvollen Höhepunkt seiner Entdeckungsgeschichte erleben. Die Wahl des
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 104<br />
Königs für die nächste entscheidende Expedition fiel auf Vasco da Gama,<br />
dessen Familie eine lange Seefahrertradition vorweisen konnte.<br />
Vasco da Gama hatte eine ausgezeichnete seemännische Ausbildung genossen<br />
und wusste dazu mit Kanonen gut umzugehen. Bei <strong>der</strong> Vorbereitung seiner<br />
Indienreise beriet ihn Bartolomëu Diaz, <strong>der</strong> auch den Schiffbau beaufsichtigte.<br />
Die Flotte bestand aus vier Schiffen: <strong>der</strong> St. Raphael unter Vascos Bru<strong>der</strong> Paolo,<br />
<strong>der</strong> Berrio unter Cuelho, dem Flaggschiff St. Gabriel sowie einem<br />
Proviantschiff, das auf Befehl des Königs in <strong>der</strong> Mossel Bay geleichtert und<br />
verbrannt werden sollte.<br />
Die Abfahrt des Geschwa<strong>der</strong>s erfolgte am 8. Juli 1497. Am Rande Lissabons, in<br />
Belem an <strong>der</strong> Mündung des Tejo, dort wo heute das prächtige<br />
Hieronymitenkloster steht, gab es damals eine kleine Einsiedelei mit einer<br />
Marienkapelle, die einst von Heinrich dem Seefahrer errichtet worden war. Dort,<br />
so berichtet die Legende, soll Vasco da Gama in <strong>der</strong> letzten Nacht vor seiner<br />
Abfahrt gebetet haben. Als er zwei Jahre später glücklich heimkehrte, wurde er<br />
an genau dieser Stelle vom König empfangen.<br />
<strong>Das</strong> Kap war umsegelt! Wie alle Expeditionen vorher verliess auch Vasco da<br />
Gamas Flotte die Heimat am Cabo São Vincente vorbei, im Angesicht <strong>der</strong><br />
legendären Seefahrerschule auf dem Felsen. Die Winde waren günstig. Da<br />
Gama folgte dem Rat von Bartolomëu Diaz und segelte nicht die<br />
westafrikanische Küste entlang, son<strong>der</strong>n schlug einen weiten Bogen nach<br />
Südwesten in den offenen Atlantik. Als die Schiffe anfangs November die Küste<br />
Namibias erreichten, waren sie den starken Strömungen an <strong>der</strong> angolanischen<br />
Küste entgangen und hatten eine sichere und angenehme Fahrt hinter sich. Hier<br />
in <strong>der</strong> St.-Helena-Bai wurde eine kurze Rast gemacht, aber am 18. November<br />
wurden die Segel wie<strong>der</strong> gesetzt. Vier Tage später kam das Kap <strong>der</strong> Guten<br />
Hoffnung in Sicht, und die kleine Flotte umsegelte das Kap erstmals gewollt in<br />
West-Ost-Richtung.<br />
In <strong>der</strong> Mossel-Bay verbrannten sie das Versorgungsschiff, denn die alte<br />
Karavelle war nicht mehr seetüchtig. Danach ging es hinaus in neue, den<br />
Europäern unbekannte Gewässer. Untiefen und starke Gegenströmungen<br />
beeinträchtigten die Fahrt entlang <strong>der</strong> Küste Ostafrikas. Am 2. April 1498<br />
erreichten die Schiffe die ostafrikanische Hafenstadt Mombasa. Der Empfang<br />
durch den einheimischen Sultan war nicht sehr freundlich, denn <strong>der</strong> Handel in<br />
diesem Teil <strong>der</strong> Erde lag fest in arabischer Hand. Der Indische Ozean zwischen<br />
den Küsten Afrikas und Indiens -– das war arabisches Meer! Die Portugiesen<br />
waren Eindringlinge in einer Welt, die von morgenländischer Kultur geprägt<br />
war. So fuhren sie bald weiter. Mombasa war eine strategisch wichtige<br />
Zwischenstation, aber es gelang den Portugiesen erst knapp hun<strong>der</strong>t Jahre später,<br />
dort endgültig Fuss zu fassen. Dreimal, 1505, 1528 und 1589, wurde die Stadt<br />
von den Portugiesen angegriffen und geplün<strong>der</strong>t, doch immer wie<strong>der</strong> konnte<br />
Mombasa sich erholen und seine Unabhängigkeit behaupten. Erst 1593 baute
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 105<br />
Portugal eine mächtige Festung. Dort, im Fort Jesus, kann man noch heute<br />
Spuren <strong>der</strong> europäischen Soldaten sehen, die aus Liebeskummer, Heimweh o<strong>der</strong><br />
Langeweile Kritzel und Inschriften in die Mauern ritzten. Aber auch dieses Fort<br />
konnte den Machtanspruch Portugals auf die Dauer nicht erhalten; es fiel als die<br />
letzte Bastion an dieser Küste zweihun<strong>der</strong>t Jahre nach <strong>der</strong> Ankunft da Gamas.<br />
Am 14. April 1498 brach Vasco da Gama zur Überquerung des Indischen<br />
Ozeans auf. Er liess an <strong>der</strong> Küste, vor dem Handelsplatz Malindi, ein grosses<br />
Steinkreuz errichten. Da Gama war die Rivalität zwischen den beiden Städten<br />
Mombasa und Malindi zu Ohren gekommen. In Mombasa hatten die Europäer<br />
ein abweisendes Verhalten <strong>der</strong> Mauren erlebt; das wusste auch <strong>der</strong> Herrscher<br />
von Malindi. Er empfing die Portugiesen freundlich und stellte ihnen einen<br />
Lotsen zur Verfügung, <strong>der</strong> mit den Windverhältnissen, Strömungen und<br />
Gezeiten des Indischen Ozeans vertraut war. Vielleicht war auch etwas<br />
Berechnung im Spiel: erstens wurde er die Fremden schneller wie<strong>der</strong> los;<br />
zweitens war es wohl besser, freundlich zu sein, falls sie zurückkommen sollten.<br />
Gleichwohl, für da Gama konnte die letzte und wichtigste Etappe beginnen!<br />
INDIEN IST ERREICHT!<br />
Unter Ausnutzung des Südwestmonsuns überquerten die Schiffe den Indischen<br />
Ozean in dreiundzwanzig Tagen. Am 18. Mai tauchte die Küste Indiens vor<br />
ihnen auf. <strong>Das</strong> eigentliche Ziel, die Stadt Calicut an <strong>der</strong> Malabarküste, wurde<br />
nur um wenige Seemeilen verfehlt. Da Gama landete dort zwei Tage später;<br />
Indien, das Land <strong>der</strong> Gewürze, war erreicht!<br />
Vor fünfhun<strong>der</strong>t Jahren, am 20. Mai 1498,<br />
erfüllte sich <strong>der</strong> Traum Heinrichs des<br />
Seefahrers!<br />
Ankunft Vasco da Gamas in Calicut<br />
(Historiengemälde des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts)<br />
Vor allem war es <strong>der</strong> Pfeffer, <strong>der</strong> in Europa<br />
mit Gold aufgewogen wurde und <strong>der</strong> hier an<br />
den Hängen des küstennahen Gebirges zuhauf<br />
als Kletterpflanze wuchs, damals wie heute.<br />
Der einträgliche Handel mit Pfeffer lag in den<br />
Händen von Arabern, die ihn mit ihren<br />
schnellen Schiffen, den Dhaus, über den<br />
Indischen Ozean brachten, dann mit<br />
Karawanen auf dem Landweg an das östliche<br />
Mittelmeer transportierten und dort vor allem<br />
an genuesische und venezianische Händler<br />
verkauften. Als da Gama indischen Boden
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 106<br />
betrat, traf er auch auf zwei Kaufleute aus Tunis; ihr Gruss an ihn lautete: »Hol'<br />
dich <strong>der</strong> Teufel, wer hat dich hierher gebracht?« Da Gama wusste, dass er auf<br />
die Gunst des Königs, des Samorins, angewiesen war. Er versuchte, dem<br />
Herrscher zu schmeicheln, bat um eine Audienz und zog mit Pomp zur<br />
Residenz. Aber seine Geschenke konnten den Samorin nicht beeindrucken. »Als<br />
er und seine Hofleute unsere Glasperlen und bunten Kappen sahen, die wir<br />
ihnen schenken wollten, lachten sie uns aus«, berichtete <strong>der</strong> Chronist. »Dann<br />
sagten sie, so etwas könne man ihrem König nicht anbieten, gäbe doch je<strong>der</strong><br />
fremde Kaufmann ein Vielfaches dessen.« Die überall zur Schau gestellte Pracht<br />
machte den Portugiesen sehr schnell klar, dass sie in kein armes Land<br />
gekommen waren. Aber anfängliche Freundlichkeit war auch hier nicht von<br />
Dauer.<br />
Die Einheimischen hatten durchaus nicht darauf gewartet, von den Europäern<br />
»entdeckt« zu werden. <strong>Das</strong>s die Leistungen <strong>der</strong> indischen Kultur allemal neben<br />
<strong>der</strong> Europas bestehen konnte, davon zeugten die glanzvollen Paläste mit den<br />
künstlerisch angelegten Gärten und die reichen Tempelanlagen.<br />
Ihr Bedarf an europäischen Waren war klein. Indiens Reichtum war vor allem<br />
durch den Gewürzhandel, aber auch durch die Perltaucherei und den<br />
Elfenbeinhandel entstanden: das goldarme Land war nur an Edelmetall im<br />
Austausch gegen einheimische Waren interessiert. Die Prachtbauten Venedigs<br />
und Genuas gäbe es nicht ohne den Pfeffer. Pfeffer hatte bereits die Römer<br />
hierher gelockt, und er wurde in Europa nicht nur zum Würzen verwendet,<br />
son<strong>der</strong>n auch als Steuerabgabe o<strong>der</strong> Lösegeld Bis heute hat sich nichts daran<br />
geän<strong>der</strong>t, dass die besten Qualitäten aus diesem Teil Indiens stammen.<br />
Vor den Portugiesen waren schon an<strong>der</strong>e Fremde nach Calicut und Cochin, dem<br />
zweiten bedeutenden Gewürzzentrum, gekommen. Seit zweihun<strong>der</strong>t Jahren<br />
landeten hier chinesische Dschunken und tauschten Edelsteine aus Ceylon,<br />
Stoffe aus China und Gewürznelken von den Molukken gegen den begehrten<br />
Pfeffer. Im Gegensatz zu den Portugiesen wollten die Chinesen nicht erobern,<br />
son<strong>der</strong>n nur friedlich Handel treiben. Sie brachten Seide und Porzellan und<br />
segelten mit Gewürzen und Elfenbein davon.<br />
An <strong>der</strong> Wende zum 16. Jahrhun<strong>der</strong>t, als da Gama an <strong>der</strong> Malabarküste eintraf,<br />
war <strong>der</strong> indische Subkontinent in zwei religiöse Lager, den Islam und den<br />
Hinduismus, gespalten. Nicht die Hindus, aber die Muslime, die seit dem 11.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t aus Afghanistan hierher vorgedrungen waren, wurden zu Gegnern<br />
<strong>der</strong> Portugiesen. Die muslimischen Kaufleute, als Beherrscher <strong>der</strong><br />
Pfeffermärkte, und die arabischen Seefahrer, als Handelspartner <strong>der</strong><br />
ostafrikanischen und levantinischen Häfen, befürchteten zu Recht, dass ihnen<br />
die Portugiesen das Geschäft kaputt machen wollten. Und dagegen wehrten sie<br />
sich.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 107<br />
SCHRECKLICHE RÜCKFAHRT<br />
Nach Handgreiflichkeiten zwischen portugiesischen Matrosen und arabischen<br />
Kaufleuten und nachdem auch <strong>der</strong> Samorin den Europäern immer abweisen<strong>der</strong><br />
begegnete, befürchtete da Gama kriegerische Auseinan<strong>der</strong>setzungen, denen er<br />
mit seiner kleinen Flotte kaum gewachsen gewesen wäre. Vasco da Gama<br />
musste das Land verlassen und die Heimreise antreten. Ein Zeitzeuge schil<strong>der</strong>te<br />
in bewegten Worten die Geschehnisse. Es wurde eine Fahrt des Schreckens.<br />
«Für diese Überfahrt brauchten wir lange Zeit. Es vergingen drei Monate<br />
weniger drei Tage, bis wir wie<strong>der</strong> Land sahen. Die Ursache dafür waren häufige<br />
Windstillen und Gegenwinde, die unser Vorkommen so behin<strong>der</strong>ten, dass unsere<br />
ganze Mannschaft krank wurde. <strong>Das</strong> Zahnfleisch wucherte ihnen so über die<br />
Zähne, dass sie nicht mehr essen konnten; auch schwollen ihnen die Beine an,<br />
und sie bekamen am ganzen Körper Geschwüre, die einen Mann so weit<br />
schwächten, bis er starb, ohne an irgendeiner an<strong>der</strong>en Krankheit zu leiden. Auf<br />
diese Weise starben uns während <strong>der</strong> Überfahrt dreissig Leute. Diejenigen, die<br />
schliesslich auf den Schiffen noch Dienst taten, mochten sieben o<strong>der</strong> acht Mann<br />
sein, und sie waren weit davon entfernt, gesund zu sein.»<br />
Da Gamas Route nach Indien 1497-1499<br />
Sie erholten sich etwas in Malindi.<br />
Der Sultan gestattete, dass Vasco<br />
einen Padrão in <strong>der</strong> Nähe des<br />
Palastes aufstellte; er ist noch heute<br />
ein steinernes Zeugnis für den<br />
Wagemut <strong>der</strong> Kapitäne und <strong>der</strong><br />
unzähligen namenlosen Seeleute,<br />
ohne den kein Entdecker dorthin<br />
gelangt wäre. Weil da Gama nun<br />
zuwenig Matrosen hatte, musste er<br />
die «St. Raphael» seines Bru<strong>der</strong>s<br />
Paolo verbrennen.<br />
Dann ging es weiter zum Kap <strong>der</strong> Guten Hoffnung. Dort erwartete sie eine<br />
stürmische See, und sie waren froh, als sie nach langem Kreuzen gegen Wind<br />
und Strömung wie<strong>der</strong> Kurs nach Norden nehmen konnten. Vascos Bru<strong>der</strong><br />
erkrankte. Deshalb trennte sich da Gama vom übriggebliebenen zweiten Schiff,<br />
<strong>der</strong> «Berrio» unter Nicolau Cuelho, und lief mit dem «St. Gabriel» die Azoren<br />
an, wo Paolo da Gama starb. Cuelho, <strong>der</strong> die Heimreise ohne Umweg fortgesetzt<br />
hatte, traf am 10. Juni 1499 als erster wie<strong>der</strong> in Lissabon ein und wurde<br />
triumphal gefeiert. Drei Monate später gelangte auch Vasco da Gama dorthin
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 108<br />
und empfing von seinem König grosse Ehrungen und Belohnungen. Bei seiner<br />
Ankunft erwartete ihn <strong>der</strong> König im stillen Garten bei <strong>der</strong> Marienkapelle des<br />
Hieronymitenklosters am Ufer des Tejo, wo Vasco vor mehr als zwei Jahren um<br />
glückliche Heimkehr gebetet hatte.<br />
MIT FEUER UND SCHWERT<br />
Nach dieser bisher längsten Fahrt einer portugiesischen Expedition kehrte da<br />
Gama – inzwischen reich geworden und zum Admiral <strong>der</strong> Indischen Meere<br />
ernannt – noch zweimal an die Malabarküste zurück: mit grösseren Flotten, aber<br />
auch mit Feuer, Schwert und Kanonen. Aus dem Entdecker wurde ein Eroberer,<br />
<strong>der</strong> eine breite Blutspur von Tod und Schrecken hinter sich liess. Auf seiner<br />
dritten Indienreise starb er Weihnachten 1524 in Cochin. Seine sterblichen<br />
Überreste liegen heute im Hieronymitenkloster von Belem, einer nationalen<br />
Wallfahrtsstätte <strong>der</strong> Portugiesen, dort, wo ihn König Manuel nach <strong>der</strong> Rückkehr<br />
von seiner ersten Reise erwartet hatte. In unmittelbarer Nähe liess König Manuel<br />
<strong>der</strong> Glückliche eine mächtige Festung zum Schutze des Hafens errichten: <strong>der</strong><br />
Torre de Belem. Vasco da Gamas erste Indienexpedition brachte Portugal ans<br />
Ziel seiner achtzig Jahre dauernden Bemühungen. Der Weg nach Indien war<br />
frei! Fortan liefen jährlich etwa zwanzig Schiffe nach Indien aus; die meisten -<br />
wenn auch nicht alle - kehrten reich beladen zurück und erlaubten dem Land<br />
eine Prachtentfaltung, wie niemals mehr in seiner späteren Geschichte.<br />
Aber die arabischen Händler gaben nicht so schnell auf. Sie schürten bei den<br />
indischen Radjas und Samorinen die Abneigung gegen die Europäer. Die<br />
Herrscher waren bald überzeugt, dass die Portugiesen nicht – wie die Chinesen –<br />
Pfeffer gegen gleichwertige Waren zu tauschen beabsichtigten. Die Portugiesen<br />
wollten den Pfeffermarkt den Arabern entreissen! Die Lage spitzte sich zu, und<br />
ein kriegerischer Konflikt war unausweichlich. Zehn Jahre nach <strong>der</strong> Ankunft <strong>der</strong><br />
Portugiesen in Indien kam es zu <strong>der</strong> entscheidenden Auseinan<strong>der</strong>setzung vor<br />
dem Hafen von Diu. Die Flotte <strong>der</strong> Portugiesen unter dem Befehl von Francisco<br />
d'Almeida schlug die Araber vernichtend. Der Feuerkraft <strong>der</strong> Europäer, <strong>der</strong><br />
Stabilität ihrer Schiffe, ihrer besseren militärischen Taktik und ihrer überlegenen<br />
Technik waren die Orientalen nicht gewachsen. An <strong>der</strong> Schlacht nahmen zwei<br />
Freunde teil, die später noch Geschichte machen sollten: Francisco Serräo und<br />
Fernando Magellan. Der eine würde die Gewürzinseln finden, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e fast<br />
die Erde umsegeln! Doch vorher erkundeten sie 1509 im Geheimauftrag und als<br />
Händler verkleidet den Handelsplatz Malakka an <strong>der</strong> Westküste <strong>der</strong> Halbinsel<br />
gleichen Namens.<br />
In <strong>der</strong> Person von d'Almeidas Nachfolger, Affonso d'Albuquerque, zeigte sich<br />
beson<strong>der</strong>s eine Verän<strong>der</strong>ung vom Entdecker zum Eroberer, vom Seefahrer zum<br />
Kriegsherrn.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 109<br />
Affonso d‘Albuquerque (1453-1515),<br />
portugiesischerAdmiral,<br />
ab 1509 Vizekönig in Indien,<br />
eroberte Hormuz, Goa und Malakka<br />
(British Library, London).<br />
D'Albuquerque fügte den Erfolgen seiner<br />
Vorgänger weitere Siege hinzu; 1510 eroberte er<br />
Goa an <strong>der</strong> Westküste Indiens. Goa wurde zum<br />
Hauptstützpunkt <strong>der</strong> portugiesischen Macht<br />
ausgebaut, es war Sitz <strong>der</strong> Vizekönige, <strong>der</strong><br />
Stellvertreter des portugiesischen Königs in<br />
Asien. Auch wenn die reiche Oberschicht<br />
durchaus angenehm zu leben wusste, so machten<br />
doch Seuchen und Krankheiten den Europäern<br />
das Leben in den Tropen schwer. Trotzdem blieb<br />
Goa über Jahrhun<strong>der</strong>te hinweg Kolonie, auch als<br />
Portugals Macht im Indischen Ozean längst<br />
Geschichte war. Erst im Dezember 1961 fiel es<br />
durch ein völkerrechtliches Abkommen an Indien zurück.<br />
MANUEL DER «GLÜCKLICHE»<br />
Portugals Behörden sahen überall Spione. Eine königliche Or<strong>der</strong> von 1479<br />
befahl, alle fremden Matrosen, die an Bord portugiesischer Schiffe auf <strong>der</strong><br />
Südroute entdeckt wurden, über Bord zu werfen, und neuentdecktes Land durfte<br />
nicht mehr auf Karten festgehalten werden. Kurz vor dem Ende des 15.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts gelangte Portugal an das ersehnte Ziel: am 20. Mai des Jahres 1498<br />
landete Vasco da Gama in Indien! <strong>Das</strong> Gewürzmonopol <strong>der</strong> Araber, <strong>der</strong> Handel<br />
mit den Gewürzen, sollte bald zusammenbrechen. König Manuel, genannt <strong>der</strong><br />
Glückliche, triumphierte. Er verlieh sich selbst den Titel «Herr über Guinea und<br />
die Eroberungen, die Seewege und den Handel von Äthiopien, Arabien, Persien<br />
und Indien». Die neuen Erkenntnisse <strong>der</strong> Entdecker wurden nach ihrer Rückkehr<br />
in Lissabon ausgewertet und kartographiert. Diese Karten zu kopieren und<br />
weiterzugeben war ein Staatsverbrechen.<br />
Der Ruhm Portugals drang in alle Städte Europas. Venedig schickte Spione nach<br />
Lissabon; sie sollten das neue nautische Wissen herausfinden, das Portugal in<br />
die Lage versetzte, <strong>der</strong> Stadt an <strong>der</strong> Adria die wirtschaftliche Macht zu<br />
entwinden. Neue Karten aus Portugal herauszuschmuggeln war<br />
lebensgefährlich; wer erwischt wurde, war des Todes. Alberto Cantino war 1502<br />
Beauftragter des mächtigen Herzogs d’Este von Ferrara. Kolumbus war vor
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 110<br />
zehn Jahren von den von ihm entdeckten Län<strong>der</strong>n im Westen nach Spanien<br />
zurückgekehrt und Vespucci hatte sie als neuen Kontinent erkannt.<br />
DER PAPST TEILT DIE WELT!<br />
Um einen «ewigen Krieg» zwischen katholischen Län<strong>der</strong>n zu verhin<strong>der</strong>n, teilte<br />
<strong>der</strong> Papst 1494 im Vertrag von Tordesillas die Welt in eine portugiesische und<br />
eine spanische Interessensphäre auf. Cantino gelang es, die Kopie einer Karte<br />
heimlich von Lissabon ausser Landes zu bringen, ein Dokument des Verrats und<br />
<strong>der</strong> Intrigen! Die Karte war auf dem neuesten Stand: Europa liegt in <strong>der</strong> Mitte,<br />
darunter bereits sehr exakt Afrika, im Osten sieht man Indien und die zu grosse<br />
Halbinsel von Malakka. Die grosse Überraschung aber findet sich im Westen<br />
mit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gabe <strong>der</strong> mittel- und südamerikanischen Küste. Deutlich zu sehen<br />
ist auch die «Linie von Tordesillas».<br />
Cantino musste aus Lissabon fliehen; er kam nach Genua, geriet dort in Geldnot<br />
und verpfändete die wertvolle Karte. In seiner Not wandte er sich an seinen<br />
Auftraggeber, <strong>der</strong> Herzog löste ihn aus und erhielt seine Karte. <strong>Das</strong><br />
portugiesische Staatsgeheimnis war damit gebrochen, das neue geographische<br />
Wissen allgemein zugänglich!<br />
Planisphäre des italienischen Diplomaten Alberto Cantino, 1502. Die Planispäre dokumentiert<br />
die portugiesische Überseebesitze in Asien, Afrika und Amerika. Beson<strong>der</strong>heit: In<br />
<strong>der</strong>Planisphäre ist die Demarkationslinie nach dem Vertrag von Tordesilla abgetragen. (Quelle:<br />
Gerald Sammet (Hrsg.): Die Welt <strong>der</strong> Karten. Historische und mo<strong>der</strong>ne Kartografie im Dialog.<br />
Bertelsmann Lexikon Verlag 2008, S. 10 f.)
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 111<br />
KINDER ALS KOPISTEN<br />
Auch Spanien pflegte die Geheimhaltung aller Informationen seiner Entdecker. In<br />
<strong>der</strong> «Casa de Contratación de las Indias», dem Indischen Amt zu Sevilla, wurden<br />
Spaniens Geheimnisse <strong>der</strong> Seefahrt unter strengen Verschluss genommen. Um<br />
beson<strong>der</strong>s wichtige Dokumente zu kopieren, beschäftigte man Kin<strong>der</strong>; sie konnten<br />
lesen und schreiben, wussten aber nicht den Sinn zu entschlüsseln. Ein Kind fing<br />
mit einer Arbeit an, musste bald abbrechen, und ein an<strong>der</strong>es Kind setzte die Arbeit<br />
fort. Keines wusste etwas mit den Bruchstücken anzufangen. Niemand glaubte<br />
damals noch an die Welt als Scheibe. Es war klar, dass man auch nach Westen in<br />
die Gewürzlän<strong>der</strong> kommen musste. Für die Portugiesen sah es nicht gut aus.<br />
Nun konnten fast alle Quellen des Reichtums in die Karten <strong>der</strong> bekannten Welt<br />
gezeichnet werden. Land- und Seekarten blieben jedoch bis weit in die Neuzeit<br />
hinein das, was sie von allem Anfang an waren: Symbole territorialer<br />
Machtansprüche!<br />
Die Rückseite <strong>der</strong> Erde<br />
Ein neuer Erdteil und ein neuer Ozean! – Magellan findet die<br />
Gewürzinseln und macht Portugal zum reichsten Land Europas<br />
We<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vertrag von Tordesillas 1494 noch die portugiesischen<br />
Erfolge in Ostasien hin<strong>der</strong>ten Spanien daran, seine Zukunft im direkten Handel<br />
mit den Gewürzlän<strong>der</strong>n zu suchen. Zu Anfang des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts war noch<br />
immer nicht sicher, ob die von Kolumbus entdeckten Inseln und Län<strong>der</strong><br />
tatsächlich zu Asien gehörten. 1499 begann Amerigo Vespucci, nach dessen<br />
Vorname <strong>der</strong> Kontinent heute benannt ist, mit <strong>der</strong> Erforschung Mittel- und<br />
Südamerikas. Vespucci wollte feststellen, ob er einen Landvorsprung umfahren<br />
könne, den Ptolemäus als Südspitze des asiatischen Kontinents dargestellt und<br />
das Kap von Catigara genannt hatte. Südlich <strong>der</strong> Gegenden, die Kolumbus in<br />
Venezuela erreicht hatte, sichtete er Land und segelte etwa 1200 Meilen auf<br />
Südostkurs einer Küste entlang. Er musste umkehren, weil seine Vorräte zuende<br />
gingen und <strong>der</strong> Bohrwurm den Planken seiner beiden Schiffe schwer zugesetzt<br />
hatten. Schon damals hegte er den Verdacht, dass «dies nicht Asien» sein könne.<br />
1501 ging er noch einmal auf dieselbe Route, diesmal mit drei Schiffen. Der<br />
Küstenverlauf än<strong>der</strong>te sich bald einmal von Südost nach Westsüdwest; Vespucci<br />
segelte zweitausendvierhun<strong>der</strong>t Meilen auf diesem Kurs und drang bis nach<br />
Patagonien vor – nur etwa vierhun<strong>der</strong>fünfzig Meilen vor <strong>der</strong> Südspitze<br />
Feuerlands. «Wir erreichten ein neues Land», notierte er ins Tagebuch, «das wir
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 112<br />
aus vielen Gründen, die im Folgenden aufgezählt sind, als einen Erdteil<br />
erachten. Wir kreuzten so weit in diesen Meeren, dass wir die heisse Zone<br />
überwanden und südlich <strong>der</strong> Linie <strong>der</strong> Tag- und Nachtgleiche und des<br />
Wendekreises des Steinbocks kamen, bis <strong>der</strong> Südpol fünfzig Grad über meinem<br />
Horizont stand. Wir schifften neun Monate und siebenundzwanzig Tage auf <strong>der</strong><br />
Südhalbkugel, wobei wir nie den Grossen o<strong>der</strong> Kleinen Bären erblickten ... Ich<br />
war auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Antipoden; meine Fahrt erstreckte sich über ein Viertel <strong>der</strong><br />
Welt.»<br />
Nachdem Vespucci erkannt hatte, dass Kolumbus einen neuen Kontinent<br />
gefunden hatte, wurde innerhalb weniger Jahre die Bedeutung dieser Erkenntnis<br />
offenbar. Spanische Abenteurer brachen bald von ihren ersten Siedlungen in <strong>der</strong><br />
Karibik auf, die Neue Welt zu erobern. Ehrgeiz, Ruhmsucht und das Verlangen<br />
nach Reichtum waren die Triebfe<strong>der</strong>n. Die Abenteurer gingen als<br />
Konquistadoren, als Eroberer, in die Geschichte ein, denn sie unterwarfen, was<br />
sie entdeckten. Die Konquistadoren gewannen für Spanien nicht nur neue<br />
Län<strong>der</strong>, sie hinterliessen meist auch eine Blutspur von Gier und Gewalt. Aber<br />
sie konnten endlich auch die ersten Schiffe mit den Schätzen <strong>der</strong> Neuen Welt,<br />
vor allem das Gold <strong>der</strong> Inkas und Azteken, nach Europa schicken. 1519–1521<br />
bezwang und vernichtete Hernando Cortes mit nur dreihun<strong>der</strong>t<br />
schwerbewaffneten Männern die Hochkultur <strong>der</strong> Azteken im heutigen Mexiko,<br />
Francisco Pizarro eroberte 1531–1534 Peru und unterwarf die dort herrschenden<br />
Inkas. Sebastian de Benalcazar gelangte 1534 nach Quito. 1536 brach Gonzalo<br />
Jimenez de Quesada von Santa Marta auf und kämpfte sich den Magdalenafluss<br />
aufwärts nach Süden voran, bis er das Königreich Chibcha auf dem Hochplateau<br />
von Bogota erreichte und eroberte. Er gründete die Stadt Santa Fé.<br />
Francisco de Oranella, von dem keine weiteren Lebensdaten bekannt sind,<br />
erlebte das wohl unglaublichste Abenteuer. Er drang 1541 von Quito nach Osten<br />
vor und erreichte mit einigen Männern den Rio Napo, einen Quellfluss des<br />
Amazonas. Er baute ein Schiff und fuhr mit <strong>der</strong> Strömung den Fluss abwärts bis<br />
in den Amazonas. Dort war die Strömung so stark, dass an eine Rückkehr nicht<br />
zu denken war. Er beschloss, weiterzusegeln, obwohl er keine Ahnung hatte,<br />
wohin er mit seinen Männern gelangen würde. Sie waren oft in Gefahr, in den<br />
riesigen Stromschnellen ihr Schiff zu verlieren; auch mussten sie in zahlreichen<br />
Kämpfen ihr Leben gegen die Einwohner <strong>der</strong> Regenwäl<strong>der</strong> verteidigen. Aber<br />
schliesslich erreichten sie den Atlantik und konnten tatsächlich nach Spanien<br />
zurückkehren.<br />
1498 hatten die Portugiesen Indien erreicht, eroberten 1511 Malakka und<br />
kontrollierten seit 1513 die Molukken. Die Gewürze waren in Indien und<br />
Fernost billig zu haben, Portugal war am Westweg nicht mehr interessiert! Im<br />
März 1518 trug ein portugiesische Kapitän dem jungen spanischen König Karl I.<br />
einen grandiosen Plan vor. Er wolle im spanischen Auftrag nach Westen segeln,<br />
um eine Passage durch Amerika zu suchen. Dahinter müsse in nicht allzu<br />
grosser Ferne das schon von Kolumbus gesuchte Asien zu finden sein. Zwar sei
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 113<br />
die Nord-Süd-Position <strong>der</strong> Demarkationslinie von Tordesillas im Westen<br />
festgelegt, aber weil <strong>der</strong> Erdumfang noch unbekannt war, war auch ihr Verlauf<br />
auf <strong>der</strong> Rückseite <strong>der</strong> Erde völlig offen. Gemäss seinen Berechnungen zum<br />
Erdumfang, die Ferdinand Magellan dem König vorlegte, müssten die von den<br />
Portugiesen beherrschten Gewürzinseln <strong>der</strong> Molukken auf <strong>der</strong> spanischen Hälfte<br />
<strong>der</strong> im Vertrag von Tordesillas geteilten Welt liegen! Er, Magellan, wolle den<br />
Beweis erbringen.<br />
Magellan entstammte dem nie<strong>der</strong>en portugiesischen Adel. Er wurde um 1480 in<br />
Sabrosa im gebirgigen Nordportugal geboren. Seine Heimat war unter seinen<br />
Zeitgenossen als eine Gegend bekannt, in <strong>der</strong> «neun Monate Winter und drei<br />
Monate Kälte herrschte».<br />
Ferdinand Magellan. Anonymes<br />
Porträt aus dem 16. o<strong>der</strong> 17.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t (Marinemuseum,<br />
Newport).<br />
Schon als Knabe kam er in<br />
die Kadettenanstalt <strong>der</strong><br />
Marine, wo er erzogen<br />
wurde und sich mit<br />
Francisco Serrão, dem<br />
späteren Entdecker <strong>der</strong><br />
Gewürzinseln<br />
angefreundete. Portugal<br />
befand sich auf dem<br />
Höhepunkt seiner<br />
Entdeckungen.<br />
Die beiden Freunde gelangten mit <strong>der</strong> Flotte Franzisco d’Almeidas, des ersten<br />
indischen Vizekönigs Portugals, in den Osten, und waren in <strong>der</strong> Schlacht von<br />
Diu dabei, wo die Portugiesen eine arabisch-indische Flotte vernichtend<br />
schlugen. 1509 erkundete Magellan, als Händler verkleidet, das reiche Malakka,<br />
das zwei Jahre später unter dem zweiten Vizekönig Affonso d’Albuquerque in<br />
einer blutigen Schlacht erobert und anschliessend – als strategisch wichtiger<br />
Hafen auf dem Seeweg zu den Gewürzinseln – ausgebaut wurde. Damit gewann
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 114<br />
Portugal die Kontrolle über den Gewürzmarkt, aber noch nicht über ihr<br />
Herkunftsland, die Molukken.<br />
Magellan stieg zum Offizier und Kapitän in <strong>der</strong> portugiesischen Indienflotte auf;<br />
seine offene Art, seine Umsicht und sein Mut brachten ihm bald unter seinen<br />
Kameraden Respekt ein – aber beim Vizekönig d’Albuquerque war er unbeliebt.<br />
Als Magellan anlässlich einer Offiziersbesprechung bei einer wichtigen<br />
Entscheidungssuche eine gegensätzliche Meinung als <strong>der</strong> Admiral äusserte,<br />
verscherzte er sich dessen Gunst endgültig und wurde nach Portugal<br />
zurückbeor<strong>der</strong>t. Er mußte vorübergehend in <strong>der</strong> portugiesischen Landstreitmacht<br />
in Nordafrika Dienst tun, wurde verwundet, behielt ein steifes Knie und wurde<br />
aus <strong>der</strong> Armee entlassen.<br />
In Lissabon lernte er den skurrilen Astronomen Rui Faleiro kennen, einen<br />
obskuren und nervösen Menschen, <strong>der</strong> behauptete, das «Geheimnis <strong>der</strong><br />
Längenberechnung» zu besitzen. Anhand eines selbstgebauten Globus, bei dem<br />
Faleiro das Wissen von Martin Behaim und Vespucci sowie die Berechnungen<br />
des Regiomontanus berücksichtigt hatte, glaubte er beweisen zu können, dass<br />
<strong>der</strong> Erdumfang grösser sei, als Kolumbus angenommen hatte, welcher noch mit<br />
den Angaben im Katalanischen Atlas von 1375 gerechnet hatte. Die beiden<br />
Männer begannen, einen Plan für einen Westweg zu den Gewürzinseln zu<br />
schmieden. Magellan trug seine Ideen König Manuel von Portugal vor, <strong>der</strong> aber<br />
– wie d’Albuquerque – eine persönliche Abneigung gegen Magellan hegte und<br />
ihn öffentlich kränkte. Magellan konnte diese Verunglimpfung nicht verwinden<br />
und wechselte daraufhin 1517 nach Spanien. Dort heiratete er Beatrix Barbosa,<br />
die Tochter eines einflussreichen Spaniers portugiesischer Herkunft.<br />
1518 konnte Magallanes König Karl I. seinen Plan unterbreiten, Amerika auf<br />
dem Westweg zu durch- o<strong>der</strong> umfahren und die Gewürzinseln für Spanien zu<br />
gewinnen. Karl I. folgte Magellans Argumenten, die ihm die Möglichkeit<br />
aufzeigten, dem Vormarsch <strong>der</strong> Portugiesen im Fernen Osten Einhalt zu<br />
gebieten und ihnen gleichzeitig die Vorherrschaft zur See in dieser Weltregion<br />
zu entreissen. Der König rüstete fünf Schiffe aus, die am 20. September 1519 in<br />
See gingen. Magallanes musste Ende März in <strong>der</strong> Bucht von San Julián vor dem<br />
antarktischen Winter Schutz suchen und eine Meuterei nie<strong>der</strong>schlagen. Ein<br />
Schiff, die Santiago, ging bereits in diesem Winter verloren, ein zweites, <strong>der</strong> San<br />
Antonio, desertierte nach <strong>der</strong> Weiterreise im Südfrühling und segelte nach<br />
Spanien zurück. Die restlichen Schiffe durchquerten im Oktober 1520 die<br />
Magellanstraße und gelangten in den Pazifik. Die Strecke von <strong>der</strong> Südspitze<br />
Amerikas bis zu den Philippinen wurde für die Spanier zur Höllenfahrt! Sie<br />
benötigten 110 Tage, um diesen grössten Ozean <strong>der</strong> Welt, <strong>der</strong> über ein Drittel<br />
<strong>der</strong> Erdoberfläche bedeckt, zu überqueren. Die Lebensmittel waren bald<br />
verbraucht, das Trinkwasser faulte, viele Leute starben. Aber sie hatten trotzdem<br />
Glück, denn das Wetter war die ganze Zeit friedlich, und Magellan taufte es<br />
deshalb «Mar Pacifico», Meer des Friedens. Am 18. März 1521 gelangten sie zu<br />
den Philippinen, wo die Eingeborenen in großem Stil getauft und christianisiert
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 115<br />
wurden. Bei einem Konflikt einheimischer Häuptlinge wollte er unnötigerweise<br />
die Macht des weißen Mannes demonstrieren und fand auf <strong>der</strong> kleinen Insel<br />
Mactan den Tod.<br />
Magellans Schiff Victoria (Detail aus einer<br />
Weltkarte des Abraham Ortelius) Ortelius).<br />
Nur ein Schiff seiner Flotte, die<br />
Victoria, gelangte unter dem Befehl von<br />
Juan Sebastián Elcano um das Kap <strong>der</strong><br />
Guten Hoffnung herum mit achtzehn<br />
Mann und einer Ladung Gewürznelken<br />
an Bord nach Spanien zurück. Seine<br />
Heimfahrt war von ebenso schlimmen<br />
Strapazen gekennzeichnet wie die<br />
Überquerung des Pazifischen Ozeans.<br />
Aber Elcano vollendete, was Magellan begonnen hatte: die Kugelgestalt <strong>der</strong><br />
Erde zu beweisen! So demütigte Magellan über seinen Tod hinaus König<br />
Manuel von Portugal, den mä mächtigsten chtigsten König seiner Zeit! Auch Spanien war<br />
zufrieden: Elcano hatte die Nachricht gebracht, die Molukken lägen auf <strong>der</strong><br />
spanischen Hälfte <strong>der</strong> im Vertrag von Tordesillas festgelegten Teilung <strong>der</strong> Welt.<br />
Und die Ladung Gewürznelken, welche die «Victoria» an BBord<br />
ord hatte, deckte die<br />
Kosten <strong>der</strong> gesamten Magellan’schen Expedition und warf sogar noch Gewinn<br />
ab!<br />
Es mutet merkwürdig an, dass fast zur gleichen Zeit, in <strong>der</strong> Magellan den Tod<br />
fand, auch sein Freund Francisco Serrão starb. Serrão, <strong>der</strong> frühere portugiesisch<br />
portugiesische<br />
Kapitän, war auf einer an<strong>der</strong>en Molukkeninsel, Ternate, zum vertrauten Berater<br />
des Sultans emporgestiegen. Als Magellan die Philippinen erreicht hatte und es<br />
nur noch eine Frage <strong>der</strong> Zeit war, dass Magellan die Molukken erreichen würde,<br />
ist Serrão unter geheimnisvollen heimnisvollen Umständen vergiftet worden. Wahrscheinlich<br />
hatte <strong>der</strong> Königs von Portugal seine Hand im Spiel, weil er fürchtete, Portugal<br />
könne durch die Freundschaft <strong>der</strong> beiden Männer seinen Einfluss auf den<br />
Gewürzmarkt an Spanien verlieren.<br />
Elcano und seine e Männer waren die ersten Menschen, die die Erde vollständig<br />
umrundet hatten. Er wurde vom König zum Ritter geschlagen und erhielt ein<br />
prunkvolles Wappen mit einem goldenen Schloss auf rotem Feld, mit den<br />
Emblemen <strong>der</strong> Gewürze und den Abbil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Könige vvon<br />
on Ternate und Tidore,<br />
die ein Schild tragen; darunter als Zeichen seiner Würde ein Spruchband, das<br />
sich um den Globus schlingt, mit <strong>der</strong> Inschrift: «Primus Circumdedisti Me» –<br />
Du hast mich als erster umrundet! 1525 schloss sich Elcano einem Geschwa<strong>der</strong><br />
an, das auf Magallanes Weg zu den Molukken wollte. Noch einmal passierte er<br />
die Strasse, welche den Namen ihres Entdeckers trägt. Nach <strong>der</strong> Einfahrt in den
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 116<br />
Pazifik wurde die Flotte in einem Sturm auseinan<strong>der</strong>gerissen; <strong>der</strong> Kapitän Juan<br />
Sebastián Elcano ging mit sseinem<br />
Schiff am 4. August 1526 im Stillen Ozean<br />
unter.<br />
Route <strong>der</strong> ersten Weltumsegelung von Ferdinand Magellan und Sebastian Elcano<br />
König Karl, inzwischen auch zum Kaiser Karl V. gewählt, hatte genug mit den<br />
Angelegenheiten seines Reiches zu tun. Hernan Hernando do Cortes war nach Mexiko<br />
vorgestossen und schickte die ersten mit Gold beladenen Galeonen nach<br />
Spanien. In <strong>der</strong> Hoffnung auf weitere reiche Goldfunde hatte man auch<br />
begonnen, die Län<strong>der</strong> Mittelamerikas – Costa Rica, Nicaragua, Honduras und<br />
Guatemala – in Besitz sitz zu nehmen, <strong>der</strong>en Küsten schon Christobál Colón<br />
entdeckt hat. Und schon plante man auch südwärts vorzustossen, wo man in<br />
Kolumbien, Ecuador und Peru das sagenhafte Goldland zu finden vermutete. In<br />
Kuba begann die Zuckerwirtschaft Ertrag abzuwerfen, doc doch fehlte es an<br />
Arbeitskräften, denn die Indianer waren für körperliche Arbeit nicht zu<br />
gebrauchen: sie legten sich einfach hin und starben. Kastilien hatte daher<br />
begonnen, zunehmend Neger in Afrika zu fangen und als Sklaven nach Kuba zu<br />
transportieren. Und in Europa drohte wie<strong>der</strong> Krieg gegen Frankreich. <strong>Das</strong> alles<br />
verschlang riesige Summen, aber die Staatskasse war leer und Karl musste die<br />
amerikanische Politik mit Anleihen beim mächtigen Handelshaus <strong>der</strong> Fugger in<br />
Augsburg finanzieren – selbstverständlich ge gegen gen saftige Beteiligungen künftiger<br />
Gewinne. Spanien hatte die halbe Welt in Besitz, doch es war nicht stark genug,<br />
seine Entdeckungen zu behalten. Der spanische Herrscher hatte Probleme<br />
genug; er war klug, sich nicht auch noch in einen Kampf mit Portugal<br />
einzulassen. So wartete er nicht länger, son<strong>der</strong>n überliess König Manuel 1529<br />
im Vertrag von Saragossa die Molukken; Portugal zahlt eine Abstandssumme<br />
von 700’000 Escudos.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 117<br />
Auch wenn vier von den fünf Schiffen Magellans auf See geblieben sind, die<br />
Menschen des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts werteten die Rückkehr <strong>der</strong> Victoria als Erfolg;<br />
daran än<strong>der</strong>te selbst <strong>der</strong> herbe Verlust an Menschenleben, die die Reise<br />
gefor<strong>der</strong>t hatte, nichts. Die Folgen reichten weit in die Zukunft! Neue Län<strong>der</strong> –<br />
das bedeutete neue Kolonien und neue Handelsgebiete. Der Handel über die<br />
Weltmeere Atlantik, Indischer und Stiller Ozean verdrängte das Primat <strong>der</strong><br />
Binnenmeere Mittelmeer, Nord- und Ostsee. Lissabon, Sevilla, Rotterdam und<br />
London lösten die bisher führenden Seestädte wie Lübeck, Brügge, Venedig und<br />
Genua ab. Neue Kolonialprodukte – Gewürze, Kaffee, Tabak, Kartoffel und<br />
Mais – brachten eine gewaltige Steigerung des Welthandels. Der erhöhte<br />
Geldbedarf begünstigte grosskapitalistische Fürstentümer und<br />
grosskaufmännische Unternehmen, die auch politisch Bedeutung erlangten: so<br />
die Medici in Florenz und die Fugger in Augsburg. Die Verschärfung <strong>der</strong><br />
Gegensätze zwischen arm und reich führte zu Krisen und Erschütterungen; im<br />
Gefolge von Seuchen und Epidemien brachen sozial-religiöse Unruhen <strong>der</strong><br />
verarmenden Bauern und Zunfthandwerker aus, die meist mit Gewalt<br />
unterdrückt wurden.<br />
Die Expansion über die Meere weckte die Rivalitäten unter den europäischen<br />
Nationen. Neben Portugal und Spanien regte sich England und wurde in<br />
Nordamerika aktiv; <strong>der</strong> Franzose Jacques Cartier überquerte den Atlantik und<br />
öffnete Frankreich über den St.-Lorenz-Strom den Weg nach Kanada; die<br />
holländische «Vereenigde Oostindische Compagnie» setzte sich in Indonesien<br />
fest, baute Batavia zu seinem ostindischen Handelszentrum aus und vertrieb<br />
1602 die Portugiesen von den Molukken; Spanien verlegte indessen sein<br />
Hauptinteresse nach Mittel- und Südamerika, aber auch auf die Philippinen, wo<br />
es bis 1898 Kolonialmacht blieb.<br />
Kleinmünze <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>ländischen Ostindien Kompanie, 1744<br />
Während die führenden europäischen Seestaaten mit<br />
sich selbst und ihren Rivalitäten beschäftigt waren,<br />
versuchten die Türken, wie<strong>der</strong> ins westliche Mittelmeer<br />
vorzudringen. Die Nie<strong>der</strong>lage des Islam nach <strong>der</strong> Reconquista in Spanien und<br />
Portugal schmerzte noch immer. Schon 1453 hatten die Türken unter<br />
Muhammad II. Konstantinopel erobert und zur Hauptstadt des Osmanischen<br />
Reiches gemacht. Zwei Jahre später konnten sie Serbien in ihr Reich<br />
einverleiben, 1463 Bosnien annektieren und 1479 Albanien und den Peloponnes<br />
erobern. 1516/17 wurden Syrien und Ägypten besetzt und <strong>der</strong> Sultan zum<br />
Schutzherrn <strong>der</strong> heiligen Stätten in Mekka und Medina ausgerufen. Suleiman<br />
«<strong>der</strong> Prächtige» vertrieb 1522 die Johanniter aus Rhodos, besetzte Belgrad und<br />
drang 1529 bis vor Wien. 1565 belagerte eine türkische Flotte den Stützpunkt
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 118<br />
<strong>der</strong> christlichen Malteserritter auf Malta. Der viermonatigen Belagerung war<br />
kein Erfolg beschieden, doch die christliche Welt wurde durch dieses Ereignis<br />
alarmiert. Papst Pius V. beschwor das christlich regierte Europa, eine «Heilige<br />
Liga» gegen die Türken zu gründen, aber die Angesprochenen zögerten. Da<br />
beanspruchte Sultan Salim II. Zypern und belagerte Famagusta. Als im Juni<br />
1571 die Türken das Versprechen abgaben, die Verteidiger zu schonen, ergab<br />
sich die Stadt, doch alle Unterlegenen wurden hingerichtet. Die von den Türken<br />
in Zypern begangenen Greueltaten bewirkten, dass die Heilige Liga nun schnell<br />
zustande kam.<br />
Der Oberbefehlshaber, Don Juan d’Austria, sammelte im August 1571 die<br />
Vereinigte Flotte <strong>der</strong> Liga bei Messina. Den Türken waren die Vorbereitungen<br />
nicht verborgen geblieben. Spione hatten an Ali Pascha, den türkischen Admiral,<br />
zweihun<strong>der</strong>t Kriegsgaleeren und sechs Galeassen (mit Kanonen bestückte grosse<br />
Segelgaleeren) gemeldet; hun<strong>der</strong>t weitere Segelschiffe ohne Riemen, die die<br />
Nachhut bildeten, waren ihrer Aufmerksamkeit entgangen. Die Christen<br />
glaubten sich ihrerseits zweihun<strong>der</strong>t türkischen Schiffen gegenüber; tatsächlich<br />
waren es zweihun<strong>der</strong>tfünfzig. Und weil sich beide Seiten ihrem Gegner<br />
überlegen glaubten, kam es am 7. Oktober 1571 im Golf von Lepanto (heute<br />
Naupaktos im Golf von Korinth). zur berühmten Schlacht. <strong>Das</strong> Kriegsglück<br />
überwog anfänglich auf türkischer Seite; Don Juans Schiff wurde von Ali<br />
Pascha geentert, <strong>der</strong> Kampf Mann gegen Mann wogte hin und her, erst als eine<br />
weitere christliche Galeere Hilfe brachte, konnte Ali Pascha in die Enge<br />
getrieben werden. Um nicht in die Hände <strong>der</strong> Christen zu fallen, beging er<br />
Selbstmord. Sein Haupt wurde abgeschlagen und auf einer Lanze zur Schau<br />
gestellt. Nur mit knapper Not können die Alliierten nach stundenlangem Kampf<br />
das Blatt wenden, als eine Nachhutflotte Verstärkung und den Sieg brachte.<br />
Seeschlacht von Lepanto
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 119<br />
Die Seeschlacht von Lepanto war ein gewaltiges Blutbad. Die osmanischen<br />
Verluste bezifferten sich zwischen 25 000 und 30 000 Mann, dazu 30 versenkte<br />
Galeeren; hun<strong>der</strong>tzehn Schiffe wurden erobert und 12 000 christliche Sklaven<br />
befreit. Auf christlicher Seite wird <strong>der</strong> Tod von 7656 Christen angegeben, aber<br />
wahrscheinlich hatte man die Zahlen „geschönt“. Doch die Beute war reichlich:<br />
<strong>der</strong> Papst bekam 20 Schiffe und 881 Sklaven, <strong>der</strong> König von Spanien 51 Schiffe<br />
und 1703 Sklaven, Venedig schließlich erhielt 39 Schiffe und 1262 Sklaven. Die<br />
Schlacht von Lepanto das letzte grosse Gefecht unter Galeeren, <strong>der</strong> von Don<br />
Juan d’Austria errungenen Sieg hat ein weiteres Vordringen <strong>der</strong> Osmanen<br />
verhin<strong>der</strong>t und Europa dem Christentum erhalten.<br />
Galeone<br />
Aus <strong>der</strong> Karavelle entwickelten sich Galeone und Fregatte; das Vor<strong>der</strong>kastell<br />
wurde abgeschafft, an ihre Stelle trat ein schmal hervorragen<strong>der</strong> Bug, meist mit<br />
einer symbolischen Figur geschmückt und vom mächtigen Klüverbaum überragt<br />
Stückpforten, hinter denen Kanonen lauerten, gaben den Schiffen ein neues
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 120<br />
Aussehen. Diese Schiffe waren imstande, überall hinzufahren. Sie waren die<br />
Vehikel <strong>der</strong> Kolonisation, <strong>der</strong> Sklaventransporte, aber auch <strong>der</strong> Erweiterung des<br />
geistigen Gesichtskreises und <strong>der</strong> Wissenschaften. Die Europäisierung <strong>der</strong> Welt<br />
konnte beginnen.<br />
DER FREIBEUTER IHRER MAJESTÄT<br />
Francis Drake und <strong>der</strong> Untergang <strong>der</strong> spanischen Armada<br />
Ein kühler Oktobertag des Jahres 1577 wich <strong>der</strong> Nacht. Der Wächter rief die<br />
neunte Stunde. Die Königin hörte seinen Singsang von Ferne. Sie wusste, dass<br />
er – mit dem Kurzschwert gegürtet und die Hellebarde geschultert – auf seinem<br />
Rundgang nun von den Arkadenbögen über<br />
die Seitentreppe zur großen Halle hinunter<br />
und über den Innenhof zu den<br />
Wirtschaftsgebäuden hinüber schritt, dabei<br />
alles kontrollierte und nachsah, dass die Türe<br />
zu den Stallungen, den Futterkammern und<br />
den Gesindehäusern geschlossen waren,<br />
auch dass alle Fackeln, die in den dazu<br />
vorgesehenen Wandhaltern steckten, <strong>der</strong><br />
Vorschrift gemäß brannten. Dann würde er<br />
durch den breiten Bogengang unter <strong>der</strong> Front<br />
des Palastes zum Hauptportal gehen, wo er<br />
dem wachhabenden Offizier Meldung über<br />
seine Beobachtungen machen wird, um<br />
danach seinen Rundgang bis zur Ablösung<br />
wie<strong>der</strong> von vorne zu beginnen. Und so wie<br />
er, sind zur gleichen Zeit vierundzwanzig<br />
weitere Wächter auf den ihnen zugeteilten<br />
Palastabschnitten unterwegs.<br />
Sir Francis Drake als Ritter auf einem lateinisch<br />
abgefassten Flugblatt. (John Carter Brown Library.)<br />
Elizabeth I. legte seufzend die Schreibfe<strong>der</strong> zur Seite. Am Vormittag hatte sie<br />
mit dem Lordkanzler die Lage beraten, und die war alles an<strong>der</strong>e als gut. Seit ihr<br />
Großvater, <strong>der</strong> schottische König Jakob IV., Margarete Tudor, Elizabeths<br />
Großmutter, geheiratet hatte, beanspruchen die Stuarts auch den englischen
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 121<br />
Thron. Aber <strong>der</strong> schottische Adel war für die Reformation. So war die<br />
katholische Politik <strong>der</strong> Maria Stuart in <strong>der</strong>en eigenem Land gescheitert. Maria ist<br />
darauf nach England geflohen und von Elizabeth festgesetzt worden. <strong>Das</strong> war<br />
1568. Doch nun drohte die katholische Opposition in Schottland mit offenem<br />
Aufruhr, weil die Stuart seit neun Jahren im Tower einsaß. Der Lordkanzler hat<br />
ihr in den Ohren gelegen, die Stuart<br />
zum Tode verurteilen zu lassen, aber<br />
Elizabeth schreckte noch immer<br />
davor zurück; sie konnte keinen<br />
Krieg in England gebrauchen. Sie<br />
vertraute <strong>der</strong> „Suprematsakte“,<br />
wonach die Königin des Landes<br />
geistiges und weltliches Oberhaupt<br />
zugleich ist. Alle Earls, Lords und<br />
die Mitglie<strong>der</strong> des Parlaments hatten<br />
darauf geschworen!<br />
Königin Elisabeth I. von England mit den Insignien<br />
ihrer Macht. Die rechte Hand ruht auf <strong>der</strong> Weltkugel,<br />
oben links sieht man die siegreichen Schiffe ihrer Flotte.<br />
(Privatsammlung Marquess of Tavistock.)<br />
Aber das war nicht Elizabeths einzige Sorge. Seit Jahren versuchte sie schon,<br />
eine Konsolidierung des religiös und innenpolitisch gespaltenen Landes<br />
herbeizuführen. Damit trat sie dem Universalanspruch Spaniens entgegen, dass<br />
sich unter Philipp II. als Hüter und Bewahrer katholischer Weltgeltung sah.<br />
Natürlich unterstützte er die katholische Opposition in Schottland, ja er hat<br />
seinen Anspruch auf den englischen Thron selbst wohl noch nicht ganz<br />
aufgegeben. <strong>Das</strong>s er sich keine Hoffnungen machen kann, hat er selbst<br />
verschuldet. Elizabeth dachte an ihre Vorgängerin und Halbschwester, Maria I.<br />
Tudor, „die Katholische“. Philipp hatte sie 1554 geheiratet, zwei Jahre bevor er<br />
seinem Vater Karl V. auf den spanischen Thron folgte. Aber Philipp hatte das<br />
Land, den englischen Boden nie betreten und deshalb nach geltendem Recht<br />
keinen Anspruch auf den englischen Thron; Maria war Königin von England!<br />
Sie hat den Katholizismus wie<strong>der</strong> eingeführt, den ihr Vater Heinrich VIII. vor 46<br />
Jahren aus England vertrieben und durch die anglikanische Kirche ersetzt hatte.<br />
Die Grausamkeit, mit <strong>der</strong> Maria die Rekatholisierung durchzusetzen trachtete,<br />
hatte ihr im Volk auch den Beinamen „die Blutige“ eingetragen. 1556 war<br />
Philipp II. dann seinem Vater auf den spanischen Thron gefolgt, ein düsterer und<br />
ernster, misstrauischer und pedantischer Herrscher, <strong>der</strong> sein Erbe zurückgezogen<br />
— nur durch schriftliche Befehle — regierte. Als Maria I. 1558 starb, wurde sie,<br />
Elizabeth I., Königin von England, aber sie war eine überzeugte Protestantin.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 122<br />
<strong>Das</strong> schien Philipp anfangs nicht zu stören, denn er warb um Elizabeths Hand,<br />
damit die Allianz zwischen den beiden Mächten erhalten blieb, doch Elizabeth<br />
schlug sie nach einigem Zögern aus. Viele englische Katholiken waren über<br />
Elisabeths Thronbesteigung empört. Als rechtmäßige Herrscherin galt die streng<br />
katholische Maria Stuart, Königin von Schottland.<br />
Aber die neue, kaum 25 Jahre alte Herrscherin hatte das Ru<strong>der</strong> mit einem<br />
<strong>der</strong>artigen Geschick in die Hand genommen, dass je<strong>der</strong>mann erstaunt war.<br />
„Wenn ich auch keine Löwin bin“, hatte sie in Anspielung auf ihren Vater<br />
Heinrich VIII. bei <strong>der</strong> Inthronisation gesagt, „so bin ich doch das Kind eines<br />
Löwen und trage sein Herz in <strong>der</strong> Brust!“ Sie hatte den Krieg mit Frankreich<br />
beendet und die anglikanische Kirche wie<strong>der</strong> eingesetzt. Nun ging sie daran, die<br />
Flotte zu erneuern und die Staatskasse zu sanieren.<br />
Fröstelnd verschränkte die Königin die Arme und zog das brokatene Brusttuch<br />
fester zusammen. Dann klingelte sie nach Gladys, <strong>der</strong> Kammerfrau. „Schau<br />
nach dem Feuer, leg Holz nach“, befahl sie <strong>der</strong> knicksenden Zofe. „Und bring<br />
mir etwas Warmes zu trinken.“<br />
Philipp hat dann Isabella von Frankreich geheiratet, die aber 1568 schon<br />
gestorben ist, im gleichen Jahr, in dem Maria Stuart in den Tower geworfen<br />
wurde. Seither sitzt er wie ein asketischer Mönch in einem Kloster in Madrid,<br />
aber die Zurückweisung durch Elizabeth wurmt ihn wohl heute noch. Er hat<br />
noch nicht gemerkt, dass die Reformation und die überall angestrebte nationale<br />
Staatenbildung seinen katholischen Absolutheitsanspruch beschneidet, dachte<br />
die Königin, überall setzt <strong>der</strong> Wandel ein, <strong>der</strong> Handel erringt bedeutende<br />
Monopole und die Privilegien des Adels werden beschnitten. Elizabeth stutzte.<br />
„Auch die <strong>der</strong> Herrscher!“ sagte sie laut. „Wohlan, versichern wir Uns des<br />
Parlaments!“<br />
Die Kammerfrau kam mit dem dampfenden Becher. Elizabeth sog genussvoll<br />
den Duft ein. Warmer Rotwein mit Zimt, Nelken und Ingwer. Sie nahm<br />
vorsichtig einen Schluck. Ja, Gladys wusste, was ihr um diese Abendstunde<br />
wohl tat. Ein spanisches Rezept zwar, aber trotzdem gut tuend. Gladys war halb<br />
hinter <strong>der</strong> Königin stehen geblieben.<br />
„Was ist?“ Elizabeth schaute zur Zofe auf. „Majestät, Lord Burghley wartet seit<br />
einer Stunde.“ Sie hatte ihn ganz vergessen. „Lass ihn ein!“<br />
Lord Cecil William Burghley, Lord Treasurer, Prime Minister, Elisabeths<br />
Staatssekretär und Berater in einem, eilte mit Trippelschrittchen herbei. Er war<br />
bereits 57 Jahre alt, ging etwas gekrümmt, bewegte sich aber behände, und sein<br />
Geist war lebendig wie damals vor zwanzig Jahren, als Elisabeth zur Königin<br />
gekrönt wurde. Burghley wollte vor <strong>der</strong> Königin das Knie beugen, aber<br />
Elizabeth wehrte mit kurzen Bewegungen bei<strong>der</strong> Hände ab. „Entschuldigt, dass<br />
Ihr warten musstet, Mylord, aber ich hatte dringende Briefe zu schreiben. Ihr<br />
wisst schon, die Nie<strong>der</strong>lande ...“ Die burgundischen Nie<strong>der</strong>lande waren eines<br />
<strong>der</strong> entwickeltsten Gebiete Europas; sie waren seit dem Tode Karls des Kühnen
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 123<br />
1477 habsburgisch und damit spanisch. Um Spanien zu schwächen, unterstützte<br />
Elizabeth mehr o<strong>der</strong> weniger verdeckt die Freiheitsbewegung in den<br />
Nie<strong>der</strong>landen und duldete Kaperkriege <strong>der</strong> Merchant Adventurers, privater<br />
englischer Kapitäne, gegen Spanien.<br />
Elizabeth wies einladend auf den Sessel vor ihrem Schreibtisch, lehnte sich<br />
zurück und nahm genießerisch einen Schluck. Mit beiden Händen umklammerte<br />
sie den Becher und sah Lord Burghley erwartungsvoll an.<br />
„Ich wollte Eure Majestät just zu einer wichtigen Zustimmung bedrängen, in<br />
einer Sache, die Eure Majestät gerade erwähnten.“<br />
„Die Nie<strong>der</strong>lande?“<br />
„Ja, Eure Majestät, ich habe lei<strong>der</strong> schlechte Nachrichten.“<br />
Die Königin zog die Brauen zusammen. Nach dem Tode des spanischen<br />
Statthalters vor einem Jahr hatten sich alle Provinzen, auch die spanientreuen, in<br />
<strong>der</strong> „Genter Pazifikation“ vereinigt, um den seit 1568 wütenden Bürgerkrieg zu<br />
beenden. Seit 1555 Karl V. seinem Sohn Philipp die Herrschaft über die<br />
Nie<strong>der</strong>lande übertragen hatte, hat sich die politische und religiöse Repression<br />
dort ständig verschärft. Der Handel, die Manufaktur und <strong>der</strong> Schiffbau waren<br />
aufeinan<strong>der</strong> angewiesen, die Interessen <strong>der</strong> Hersteller und Händler lief den<br />
Interessen <strong>der</strong> Spanier bald einmal zuwi<strong>der</strong>. Dies und die militärischen Lasten,<br />
drakonische Ketzeredikte und die ständige Schmälerung <strong>der</strong> Freiheiten haben<br />
den Adel und die Städte zunächst in die Opposition getrieben. Als dann Philipp<br />
zum König von Spanien aufstieg, schickte er den Herzog von Alba mit einem<br />
Heer in die Nie<strong>der</strong>lande. Dieser Bluthund brachte es dann fertig, dass sich das<br />
Volk unter Wilhelm von Oranien erhob.<br />
Die Königin gibt sich einen Ruck. „Also, was gibt es?“<br />
„Der Generalstatthalter Don Juan d’Austria hat die Provinzregierungen unter<br />
Druck gesetzt, die ,Genter Pazifikation’ rückgängig zu machen. Er hat mit einem<br />
,Ewigen Edikt’ den Protestantismus generell verboten. Die Provinzen Holland<br />
und Seeland wollten sich nicht anschließen, sie sind im Aufruhr und haben sich<br />
in Utrecht zu einer Union zusammengeschlossen!“<br />
Elizabeth sprang auf, schlug mit <strong>der</strong> Hand auf den Tisch, Papiere flatterten zu<br />
Boden. „<strong>Das</strong> soll Spanien büssen!“ Doch sie besann sich wie<strong>der</strong>, setzte sich,<br />
atmete tief durch und schaute Burghley an. „Ist das alles?“<br />
Wilhelm von Oranien erbittet unsere Unterstützung.“<br />
Elizabeth nahm wie<strong>der</strong> Platz, lehnt sich zurück. „Was ratet Ihr, Mylord?“<br />
„Eure Majestät sind als eine Herrscherin bekannt, die <strong>der</strong> Wirklichkeit ins Auge<br />
zu schauen gewohnt sind. Eure Majestät werden mir zustimmen ...“. Der Lord<br />
zögerte.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 124<br />
Elisabeth schaute ihn belustigt an. Sie mochte den kleinen Mann; er hat ihr stets<br />
gut und im Sinne <strong>der</strong> Krone geraten. „... dass wir nichts tun können!“, vollendete<br />
sie seinen angefangenen Satz.<br />
„So ist es Majestät. Zumindest nicht jetzt ...“, wie<strong>der</strong> zögerte <strong>der</strong> Lord, sprach<br />
dann aber weiter: „... und nicht in den Nie<strong>der</strong>landen.“<br />
Die Königin war es gewohnt, auf seine Zwischentöne zu achten. „So, wo<br />
denn?“, fragte sie.<br />
„Majestät. Der Aufbau unserer Flotte geht gut voran, in einigen Jahren wird<br />
England eine Macht auf den Meeren sein, dann wird England Spanien in die<br />
Schranken weisen. Noch gestern hat die Partei Eurer Majestät, wie Eure<br />
Majestät wissen, den Antrag <strong>der</strong> Opposition im Parlament abgewehrt, die<br />
Ausgaben für den Flottenbau zu reduzieren. Wir konnten im Gegenteil eine<br />
Erhöhung und Forcierung erreichen. Diese Aufgabe hat absoluten Vorrang.<br />
Deshalb können wir im gegebenen Zeitpunkt keine Mittel für die<br />
nie<strong>der</strong>ländischen Rebellen abzweigen. Jedoch ...“. Wie<strong>der</strong> zögerte <strong>der</strong> alte<br />
Mann.<br />
„Nun?“<br />
Im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t mischten sich viele<br />
Interessenten in die holländischen<br />
Angelegenheiten ein. Auf diesem<br />
Spottbild sitzt <strong>der</strong> spanische König<br />
Philipp II. auf den Nie<strong>der</strong>landen, hier als<br />
Kuh dargestellt. Der Herzog von Alba<br />
melkt sie, <strong>der</strong> französische Repräsentant<br />
zieht sie am Schwanz, Königin Elisabeth<br />
gibt ihr Heu zu fressen und <strong>der</strong> Führer<br />
<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>ländischen Aufständischen,<br />
Wilhelm von Oranien, hält sie bei den<br />
Hörnern. (Nicolson Archives, London.)<br />
„Wir könnten den Drake losschicken. Seit drei Monaten wartet er auf Antwort.“<br />
Ja, <strong>der</strong> Drake, dachte die Königin. Dieser Teufelskerl und Tausendsassa, dieser<br />
Kaperkapitän, <strong>der</strong> seit einiger Zeit alles Spanische auf den Meeren angreift.<br />
1571 bis 1573 hatte er die spanischen Küsten in Südamerika unsicher gemacht.<br />
In Panama, wo die Schiffe von Peru heraufkommen und ihre Waren umladen,<br />
um mit Maultieren auf die atlantische Seite <strong>der</strong> Landenge gebracht zu werden,<br />
hatte er Kisten und Säcke mit Silber, Gold, Edelsteinen und Perlen im Wert von<br />
einer Million Pfund für die Staatskasse erbeutet. Aber es hat auch schon<br />
Beschwerden gegeben, dass er - wenn man es ihm nicht nachweisen kann - auch<br />
schon ‘mal ein englisches Schiff auf einsamer See ausgenommen und verbrannt<br />
hat. Sie hatte ihn einmal kurz zu Gesicht bekommen, bei einer Massenaudienz.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 125<br />
In ihrer Erinnerung war er nicht unsympathisch: ein schlanker Mann, von <strong>der</strong><br />
Sonne gebräunt. „Hat er seine Flotte beisammen?“<br />
„Jawohl, Majestät. Insgesamt fünf Schiffe. Es ist alles fertig!“ Drake hatte bei<br />
<strong>der</strong> Admiralität den Antrag auf einen Kaperbrief gestellt. Mit ihm könnte er auf<br />
eigene Faust, aber mit Billigung <strong>der</strong> Krone, spanische Schiffe angreifen,<br />
ausplün<strong>der</strong>n und versenken.<br />
„Was kostet Uns das?“, fragte die Königin.<br />
„Nichts, außer dem Kaperbrief.“<br />
„Und was bringt Uns das?“<br />
„<strong>Das</strong> Übliche: zehn Prozent <strong>der</strong> Beute.“<br />
„Gut“, entschied die Königin, „schreibt ,ein Drittel’ und gebt ihm das<br />
Freipapier.“<br />
Lord Burghley verbeugte sich tief und ging zur Tür.<br />
„Wartet!“, rief ihm die Königin nach. Der Staatssekretär blieb stehen, drehte<br />
sich um und verharrte. „Majestät?“<br />
„Sagt dem Drake, dass Wir nichts von seinen Aktionen wissen. Falls er von den<br />
Spaniern geschnappt wird, hat er den Kaperbrief zu vernichten! Er darf Uns<br />
nicht diskreditieren. Der Gentleman darf es Uns nicht übel nehmen, wenn ich<br />
ihn verleugne.“<br />
„Sehr wohl, Majestät, das weiß er schon, und er hat es akzeptiert. Er ist ein<br />
kluger Mann und Euer Majestät ergebener Diener.“<br />
Elizabeth lächelte und entließ Burghley mit einem Kopfnicken.<br />
Die großen Erfolge <strong>der</strong> Überseeexpeditionen Portugals und Spaniens mit den<br />
weltbildwandelnden Entdeckungen zeigte den an<strong>der</strong>en seefahrenden Staaten,<br />
wie sehr sich das Meer als Quelle <strong>der</strong> Machterweiterung und des<br />
wirtschaftlichen Gewinns erwies. An<strong>der</strong>e expansionshungrige Territorialherrn<br />
dehnten ohne Zögern mit Hilfe risikofreudiger Kapitäne ihr Aktionsfeld über<br />
den Atlantik aus. Dadurch wurden die aus früheren Jahrhun<strong>der</strong>ten ererbten<br />
Rivalitäten und alte Gegensätze neu entfacht. Nach dem Ende <strong>der</strong> Kreuzzüge<br />
hatte das Zurückdrängen <strong>der</strong> Moslems mit <strong>der</strong> „Reconquista“ sowie die<br />
Entmachtung <strong>der</strong> Türken durch die Seeschlacht von Lepanto das Mittelmeer zu<br />
einem von christlichen Staaten beherrschen Meer gemacht; die Öffnung <strong>der</strong><br />
Strasse von Gibraltar für die Beziehungen zwischen dem Mittelmeer und dem<br />
Atlantik leitete eine Wendung Europas nach Westen ein.<br />
Seit dem Ende des 13. Jahrhun<strong>der</strong>ts haben beson<strong>der</strong>s die Italiener die Schifffahrt<br />
auf dem Atlantik energisch vorangetrieben; italienische Portolankarten waren<br />
die genauesten Seekarten <strong>der</strong> Zeit. Nach Lepanto pflegten bald alle europäischen<br />
Seefahrernationen rege Handelbeziehungen untereinan<strong>der</strong>. Im Norden gelangten<br />
nach Brügge vor allem Amsterdam, Southampton und Bristol zu großer
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 126<br />
Bedeutung; im Süden waren es Lissabon, Sevilla, Malaga, Valencia, Barcelona,<br />
Marseille, Genua und Livorno. Aber Häfen, die an großen Flussmündungen<br />
lagen und gute Verbindungen zu einem weiten Hinterland besaßen, wurden zu<br />
den eigentlichen machtpolitischen Zentren: London, Hamburg, Antwerpen,<br />
Rouen, Nantes, Bordeaux, Lissabon und Sevilla. Die gegenseitige Abhängigkeit<br />
von Meer und Land wurde hier beson<strong>der</strong>s deutlich durch das Heranbringen von<br />
Waren und ihr Absatz in beiden Richtungen. Die Bereitstellung von Kapital<br />
för<strong>der</strong>te die Entwicklung <strong>der</strong> genannten Orte auch als Kapitalmärkte, als<br />
Börsen- und Bankzentren. Fracht- und Prämienversicherungen kamen auf.<br />
In Westeuropa entstand ein internationaler Markt. Der Bedarf wurde um ein<br />
Vielfaches gesteigert, immer größere Schiffe wurden in immer größeren<br />
Mengen benötigt; die Entwicklung schlug sich in den Schiffstypen nie<strong>der</strong>:<br />
zwischen <strong>der</strong> ursprünglichen Karavelle und dem „Kauffahrer“ genannten<br />
Großsegler gab es ein ganzes Spektrum von Nãos, Schaluppen, Karacken,<br />
Koggen, Hulks, Fleuten, Brigantinen, Galeonen, Fregatten, Korvetten und<br />
Linienschiffen. Meist war genügend Holz für den Schiffsrumpf vorhanden, aber<br />
häufig mussten Mastholz, Teer und Pech aus Nordeuropa importiert werden,<br />
einem Spezialmarkt <strong>der</strong> Hanse. Schweden lieferte Eisen für die Beschläge und<br />
die Anker, die Bretagne Segeltuch und Seile.<br />
Die Zeichnung aus dem<br />
16. Jh., vermutlich von<br />
Matthew Baker, dem<br />
Schiffsbaumeister <strong>der</strong><br />
königlichen Werft, zeigt<br />
die Breitenansicht einer<br />
schnellen Galeone und<br />
ihren Segelplan.<br />
(Master and Fellows of<br />
Magdalene College,<br />
Cambridge.)<br />
Noch immer<br />
waren Portugal<br />
und Spanien die<br />
mächtigsten<br />
Königreiche. Aber<br />
an<strong>der</strong>e Län<strong>der</strong><br />
versuchten schon<br />
bald, ihren<br />
Einfluss<br />
auszudehnen;<br />
allen voran England und Frankreich. Sie machten große Anstrengungen, ihre<br />
Flotten auf- und auszubauen. König Franz I. von Frankreich war bei <strong>der</strong><br />
Kaiserwahl Karl von Spanien unterlegen und daher schon ein persönlicher
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 127<br />
Rivale des spanischen Herrschers. England jedoch hatte weitsichtigere politische<br />
Ziele im Auge.<br />
Schon 1497 war John Cabott mit seinem Sohn Sebastian im Auftrage des<br />
englischen Königs Heinrich VII. in den nordwestlichen Atlantik vorgestoßen.<br />
Sein Schiff, die Nussschale „Matthew“, hatte nur 18 Mann an Bord, aber die<br />
Cabotts hatten bereits Erfahrung mit nördlichen Gewässern durch ihre<br />
Erkundung <strong>der</strong> Nordwestpassage, die sie als unpassierbar erkannten. Am<br />
24. Juni 1497 sichteten sie Land, das sie „Neufundland“ nannten, den Ort <strong>der</strong><br />
Landung „St. John“, weil es <strong>der</strong> Johannistag war. Sie erkundeten noch Labrador<br />
und kehrten nach England zurück. Diese Reise hatte für England eine zumindest<br />
gleich große Bedeutung wie diejenige für Spanien fünf Jahre vorher durch<br />
Kolumbus, denn nun begann - erst zaghaft, später gezielter - die englische<br />
Besiedelung <strong>der</strong> nordamerikanischen Territorien, dem heutigen Kanada.<br />
Aber die politische Entwicklung trieb auf einen Konflikt mit Spanien zu. Mit<br />
seinem Flaggschiff „Golden Hind“ und vier weiteren Schiffen lief Drake am<br />
15. November 1577, versehen mit einem Kaperbrief <strong>der</strong> Königin, aus dem<br />
englischen Kanal in die<br />
Nordsee aus. Er folgte <strong>der</strong><br />
Route Magellans, und einige<br />
wichtige Vorkommnisse seiner<br />
Reise sollten denjenigen auf<br />
Magellans Fahrt fatal ähneln.<br />
Drake überquerte zuerst den<br />
Atlantik in <strong>der</strong> Passatzone,<br />
wandte sich dann südwärts<br />
und fuhr die Küste Südamerikas hinunter. Südlich <strong>der</strong> La-Plata-Mündung<br />
desertierte eines seiner Schiffe, es konnte aber verfolgt und wie<strong>der</strong> aufgebracht<br />
werden. Tom Doughty, <strong>der</strong> flüchtige Kapitän, wurde angeklagt, schuldig<br />
gesprochen und in Port Julian hingerichtet, am gleichen Ort, wo Magellan<br />
50 Jahre früher mit seinen Meuterern ähnlich verfahren war. Auf <strong>der</strong> Weiterfahrt<br />
bogen die Schiffe nicht in die Magellanstrasse ein, son<strong>der</strong>n suchten sich<br />
südwärts einen Weg; dabei entdeckten sie Kap Hoorn. In sehr stürmischer Fahrt<br />
verloren sie ein Schiff, die „Marygold“; die übrigen Schiffe hatten sich aus den<br />
Augen verloren. Kapitän Winter von <strong>der</strong> „Elizabeth“ entschied sich für die<br />
Umkehr und Heimreise, wie<strong>der</strong> wie seinerzeit Kapitän Gomez von <strong>der</strong><br />
Expedition Magellan. Die an<strong>der</strong>en gelangten aber alle um das Kap.<br />
Zu dieser Zeit segelten schon viele spanische Galeonen mit dem Gold <strong>der</strong><br />
Azteken und Inkas von Mexiko, Panama und Peru auf <strong>der</strong> Westroute nach<br />
Spanien. Drake folgte deshalb <strong>der</strong> Pazifikküste Südamerikas, wobei er spanische<br />
Schiffe kaperte und ihre Ladung konfiszierte. Der Ballast <strong>der</strong> „Cacafuego“,<br />
eines dieser Schiffe, bestand aus Silberbarren, während die Ladung aus Gold<br />
und Kisten voller Smaragden bestand. Auf seiner weiteren Fahrt nordwärts<br />
suchte Drake eine Passage in den Atlantik, hatte aber wie Vespucci und
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 128<br />
Magellan kein Glück. Er erreichte Kalifornien und entschloss sich zur Heimkehr<br />
über Ostindien und das Kap <strong>der</strong> Guten Hoffnung.<br />
In Celebes ließ er die „Golden Hind“ kielholen und ausbessern, nahm in<br />
Freetown Wasser und machte am 26. September 1580 in Plymouth fest. Er hatte<br />
als zweiter Kapitän und erster Englän<strong>der</strong> die Welt auf einer einzigen Fahrt<br />
umrundet. England bereitete Drake einen begeisterten Empfang und die Königin<br />
erhob ihn als Lohn für seine lukrative Kaperfahrt in den Adelsstand. Dies war<br />
ein Affront gegen das katholische Spanien. Die Spanier waren darüber erbost,<br />
dass man Drakes Freibeuterei offenbar guthieß, und als bekannt wurde, dass ein<br />
Teil <strong>der</strong> Beute an die englische Krone ging, verschlechterten sich die<br />
Beziehungen zwischen England und Spanien weiter.<br />
Im gleichen Jahr 1580 besetzte Spanien ganz Portugal, es sollte bis 1640 von<br />
spanischen Königen regiert werden. In England wurde Maria Stuart zum Tode<br />
verurteilt worden; sie hatte aus dem Gefängnis heraus die Verschwörung einer<br />
katholischen Gruppe unter Antony Babington anzetteln können, die die<br />
Ermordung Elizabeths und die Befreiung Marias mit spanischer Hilfe plante. Es<br />
war Hochverrat, und die Hinrichtung Marias fand am 18. Februar 1587 statt.<br />
Nun flutete Empörung durch das katholische Europa und es erwartete<br />
Gegenmaßnahmen von Philipp II., denn die Schotten zählten zu den<br />
katholischen Nationen. England hatte nicht nur mit den Katholiken gebrochen,<br />
son<strong>der</strong>n half auch den holländischen Protestanten bei ihrem Aufstand gegen die<br />
spanische Herrschaft. Nach einigem Zögern verkündete Philipp die „Empresa“<br />
(das Unternehmen) gegen England. Don Alvaro de Bazan, Marquis von Santa<br />
Cruz und Held von Lepanto, <strong>der</strong> Grossadmiral <strong>der</strong> Spanier, schlug eine<br />
grossangelegte Invasion über See vor. Sein heimlicher Rivale, Alexan<strong>der</strong><br />
Farnese, Herzog von Parma und Oberbefehlshaber <strong>der</strong> spanischen Truppen in<br />
den Nie<strong>der</strong>landen, war für eine Invasion über den Kanal. Philipp sprach sich für<br />
einen Kompromiss aus: in den<br />
Nie<strong>der</strong>landen wurde eine Armee<br />
aufgestellt, die sich mit den über See<br />
herangeführten Kräften vereinigen sollte.<br />
Doch noch 1587 starb <strong>der</strong> Marquis von<br />
Santa Cruz; das Oberkommando ging an<br />
Alonzo, Herzog von Medina-Sidonia.<br />
Der Oberkommandierende <strong>der</strong> spanischen Armada,<br />
Don Alonso Herzog von Medina Sidonia.<br />
(Rare Book Division.)
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 129<br />
Für Spanien stand sein Kolonialbesitz auf dem Spiel, für Britannien hingegen<br />
das nackte Leben. König Philipp war stolz darauf, die Christenkoalition<br />
zustandegebracht zu haben, die 1577 das Vordringen <strong>der</strong> Türken bei Lepanto<br />
stoppte. <strong>Das</strong> gab ihm ein grenzenloses Vertrauen in seine See- und<br />
Landstreitkräfte. Aber das übrige Europa war sich über den Ausgang durchaus<br />
nicht so sicher. Der Gesandt Venedigs am französischen Hof, Andrea Mocenico,<br />
beeilte sich, seiner Regierung seine Zweifel mitzuteilen: „Es ist fraglich, ob<br />
König Philipp II. sich <strong>der</strong> Macht <strong>der</strong> englischen Flotte bewusst ist, sowohl was<br />
die Anzahl als was ihre Fähigkeiten betrifft. Denn die Englän<strong>der</strong> sind von einem<br />
ganz an<strong>der</strong>en Schlage als die Spanier und unter den westlichen Völkern für ihre<br />
Geschicklichkeit und ihren Mut bei allen Seeoperationen bekannt.“<br />
Schiffsgeschütz aus <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Auf Befehl des Richtkanoniers wurde das<br />
Zündloch des Vor<strong>der</strong>la<strong>der</strong>s gesäubert und etwas Pulver aus einem Horn o<strong>der</strong> einer Flasche<br />
aufgeschüttet. Dann wurde die Waffe mit einem Richthebel, <strong>der</strong> am hinteren Ende <strong>der</strong> Lafette angesetzt<br />
wurde, nach links o<strong>der</strong> rechts gerichtet. <strong>Das</strong> Geschütz ließ sich mittels eines Richtkeils etwa 20 Grad<br />
heben o<strong>der</strong> senken. Zuletzt führte <strong>der</strong> Kanonier einen brennenden Luntenstock an das Zündloch, und die<br />
Kanone ging los. Der Rückstoss wurde von Seilen aufgefangen, die von den Bordwänden zu den<br />
Zurringen liefen. Zahllose aus Schmiedeeisen gefertigte Kanonen explodierten beim Abfeuern und<br />
for<strong>der</strong>ten furchtbare Opfer. Gegen Ende des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts kam die Gussbronze in Gebrauch und<br />
wurde schließlich für die großen Schiffsgeschütze allgemein verwendet.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 130<br />
Nach einem feierlichen Gottesdienst lief am 30. Mai 1588 die Armada, <strong>der</strong> Stolz<br />
Spaniens, aus dem Hafen von Lissabon. Die 131 Schiffe aller Größe, waren mit<br />
insgesamt 8776 Seeleuten, 2088 Galeerensklaven, 21’855 Soldaten, 150<br />
Artilleristen, 85 Ärzten und 180 Priestern besetzt. Die Feuerkraft <strong>der</strong> Armada<br />
bestand aus 3165 Stück Artillerie. Die Flotte galt als unbesiegbar. Sie wurde am<br />
19. Juli von <strong>der</strong> Küstenwache in Cornwall gesichtet. Man schlug Alarm, und die<br />
britische Flotte lief sogleich aus.<br />
Königin Elizabeth hatte das Kommando über ihre Seemacht dem ersten Lord <strong>der</strong><br />
Admiralität, Charles Howard, übertragen. Sein Flaggschiff war die „Arc Royal“;<br />
die Geschwa<strong>der</strong> wurden von erfahrenen Kaperkapitänen, wie Frobisher,<br />
Hawkins und Drake, befehligt. Es war eine bunt zusammengewürfelte Flotte, die<br />
sich da aufmachte, um die stärkste Seemacht <strong>der</strong> damaligen Welt zu bezwingen.<br />
Die Royal Navy besaß nur 34 Schiffe, Drake steuerte eine Vielzahl von<br />
Handelsschiffen bei, die eiligst bewaffnet worden waren. Die Stadt London und<br />
einige private Eigner rüsteten auch noch einige Schiffe aller Typen aus,<br />
insgesamt waren es 102 Einheiten: ein zusammengewürfelter Haufen, aber ihre<br />
Namen - „Victory“, „Lion“, „Tiger“, „Revenge“ und „Dreadnought“ wurden zu<br />
Traditionsnamen in <strong>der</strong> britischen Marine.<br />
Admiral Howard sagte später, dass er beim Anblick <strong>der</strong> spanischen Armada Zeit<br />
seines Lebens noch nie eine <strong>der</strong>art große Schiffsansammlung auf einmal<br />
gesehen habe. Medina-Sidonia, <strong>der</strong> spanische Oberkommandierende, hielt seine<br />
Schiffe in enger Halbmondform, um das bei Lepanto erfolgreiche Manöver<br />
wie<strong>der</strong>holen zu können. Aber Lepanto war eine Schlacht nach „alter Art“; in <strong>der</strong><br />
noch <strong>der</strong> Rammsporn dominierte und <strong>der</strong> Kampf durch Soldaten - Mann gegen<br />
Mann - nach dem Entern entschieden wurde. Vor <strong>der</strong> britischen Küste waren<br />
„nur“ 29’000 Männer beteiligt und die Schiffe hatten Tonnagen zwischen 500<br />
und 1000; in Lepanto waren es über 100’000 Mann und die Schiffstonnagen<br />
lagen zwischen 80 und 300! Die Schiffe waren also inzwischen wesentlich<br />
größer geworden. Die Spanier vertrauten vor allem ihren leichten Feuerwaffen;<br />
sie wollten den Gegner mit einem Hagel kleiner Geschosse überdecken. Aber<br />
die Englän<strong>der</strong> vermieden den Nahkampf, gingen in sichere Distanz und setzten<br />
erstmals Artillerie in großem Stil ein. Die Feuergeschwindigkeit <strong>der</strong> Kanonen<br />
war niedrig und die Englän<strong>der</strong> griffen den Gegner abwechselnd vom Bug, über<br />
Heck o<strong>der</strong> mit den Breitseiten an. <strong>Das</strong> bedurfte großer Manövrierfähigkeit <strong>der</strong><br />
Schiffe und hohes seemännisches Können <strong>der</strong> Matrosen und Offiziere.<br />
Am 21. Juli kam es zu einem ersten Zusammenstoss. Drake näherte sich von<br />
Plymouth aus den Spaniern, umsegelte den Feind, griff von hinten an und<br />
drängte die Spanier nach Südosten ab. Die „Nuestra Señora del Rosario“, die<br />
größte spanische Galeone mit 64 Kanonen, ergab sich am an<strong>der</strong>en Morgen.<br />
Danach segelte die spanische Flotte langsam in den englischen Kanal ostwärts.<br />
Es gab wie<strong>der</strong> viele Kanonaden, die die Spanier große Vorräte an Munition und<br />
Matrosen kosteten. Bald machte sich bemerkbar, dass sie zu weit von ihrem<br />
Mutterland operierten und keinen Nachschub aufnehmen konnten, während sich
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 131<br />
die Englän<strong>der</strong> nie weit von ihren Nachschubhäfen entfernten. Am 23. Juli war<br />
die Armada schon stark angeschlagen, aber noch immer kampffähig. Sie ankerte<br />
in den Flachwassern 2 Seemeilen vor Calais und wollte die Armee des Herzogs<br />
von Parma aufnehmen. Aber <strong>der</strong> Herzog weigerte sich, seine flachgehenden<br />
Boote mit den wehrlosen Soldaten darauf dem Feuer <strong>der</strong> britischen Flotte<br />
auszusetzen.<br />
Im Juli 1588 treffen die Flotten <strong>der</strong><br />
Englän<strong>der</strong> (Flaggen mit rotem Kreuz<br />
auf weißem Grund) und <strong>der</strong> Spanier<br />
aufeinan<strong>der</strong>. (National Maritime<br />
Museum, London.)<br />
Dort wurden die Spanier in <strong>der</strong> Nacht auf den 29. Juli von brennenden Hulks<br />
angegriffen, die die Englän<strong>der</strong> auf die Spanier zutreiben ließen. Die Bran<strong>der</strong><br />
waren voller Pulver und richteten unter dem spanischen Geschwa<strong>der</strong> großen<br />
Schaden an; Panik brach aus. Wie<strong>der</strong> versuchte Medina-Sidonia mit <strong>der</strong><br />
Landarmee Alexan<strong>der</strong> Farnese, Herzog von Parma, Kontakt aufzunehmen, aber<br />
<strong>der</strong> wurde inzwischen von Aufständischen, die eine Chance für ihren<br />
Freiheitskampf sahen, bedrängt. Da entschloss sich <strong>der</strong> spanische<br />
Oberbefehlshaber zum Rückzug. Die Armada segelte nach Norden um<br />
Schottland und Irland herum nach Spanien zurück. Der Verlust Spaniens<br />
bezifferte sich auf 64 Schiffe, 10’000 Mann und die Vormachtstellung auf dem<br />
Meer.<br />
Obwohl keine eigentliche Seeschlacht stattgefunden hatte, war <strong>der</strong> Welt gezeigt<br />
worden, dass die „unüberwindliche Armada“ durchaus nicht unbesiegbar war.<br />
Eine neue Taktik <strong>der</strong> Seekriegsführung trug den Sieg davon. <strong>Das</strong>
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 132<br />
Kräfteverhältnis in Europa begann sich zu verschieben; von nun an war<br />
Britannien eine Macht, mit <strong>der</strong> auf dem Meer zu rechnen war!<br />
Im Jahre 1600 gründeten die Londoner Kaufleute unter dem Patronat Königin<br />
Elizabeths die „East India Company“ und begann auf Java, Sumatra und den<br />
Molukken Handelsplätze einzurichten. 1613 dehnte die Gesellschaft ihren<br />
Einflussbereich auf Indien aus, wo eine Handelsnie<strong>der</strong>lassung im Hafen von<br />
Surat eingerichtet wurde. Als <strong>der</strong> nominelle Herrscher Indiens, <strong>der</strong> Großmogul,<br />
auch den Handel mit dem Landesinneren gestattete, wurden die bisherigen<br />
Beherrscher des indischen Markt Marktes, es, die Portugiesen, langsam verdrängt.<br />
Die „East India Company“ besaß bald eine eigene Armee mit einer Kriegs Kriegs- und<br />
Handelsflotte, sie hatte eigene Behörden, eine eigene Gerichtsbarkeit und ließ<br />
sogar eigene Münzen schlagen. Ihr großer Haupthafen, das „Eas „East India Dock“ in<br />
London, wurde bald weltberühmt.<br />
<strong>Das</strong> gefiel den Hollän<strong>der</strong>n gar nicht, denn sie wollten auch zu einem<br />
weltpolitischen Faktor heranwachsen. 1581 waren die nie<strong>der</strong>ländischen<br />
Provinzen <strong>der</strong> „Utrechter Union“ endgültig von Spanien abgefallen. Unte Unter <strong>der</strong><br />
Statthalterschaft Wilhelms von Oranien wurden die Generalstaaten mit<br />
republikanischer Verfassung konstituiert, aber Wilhelm wurde 1584 ermordet.<br />
Der Nordteil blieb zwar „holländisch“ und frei, doch in Flan<strong>der</strong>n, Brabant und<br />
Gel<strong>der</strong>n mussten sich die Ni Nie<strong>der</strong>lande e<strong>der</strong>lande noch bis zum Ende des Dreißigjährigen<br />
Krieges 1648 <strong>der</strong> Spanier erwehren, bevor sie endgültig als Republik anerkannt<br />
wurden. Aber das hat Holland nicht daran gehin<strong>der</strong>t, große Schiffe zu bauen und<br />
schon vor 1600 spanisch spanisch-portugiesische Faktoreien inn Südafrika, Indien und<br />
Südostasien anzugreifen. Sie errichteten dort Stützpunkte vertrieben zwischen<br />
1599 und 1605 sogar die Portugiesen und Englän<strong>der</strong> von den Gewürzinseln, den<br />
Molukken, und legten so den Grundstein für ein großes überseeisches<br />
Kolonialreich.<br />
1602 gründeten sie nach englischem Vorbild die „Vereenigte Ostindische<br />
Compagnie“. Auch die V.O.C. verfügt über eine eigene Flotte und eine Armee<br />
zu <strong>der</strong>en Schutz. Derartige Kompanien schossen im<br />
17. Jahrhun<strong>der</strong>t wie Pilze aus dem Boden, aber keine<br />
erlangt je die Bedeutung wie die englische und die<br />
holländische „Vereenigte Ostindische Compagnie“.<br />
Signet <strong>der</strong> „Vereenigden Ostindischen Compagnie“ (VOC)<br />
Die VOC entwickelt sich zur bedeutendsten Handelsgesellschaft überhaupt, die<br />
von Anfang an regelmäßig riesige Gewinne erwirtschaftete. Sie wird von den<br />
„Heeren Sevetien“ (siebzehn Herren) aufmerksam kontrolliert, Aktionäre, die
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 133<br />
auch über den größten Teil des eingesetzten Kapitals verfügen. Ihre gedeihliche<br />
Entwicklung beruht zunächst auf dem Handel mit Gewürzen, doch bald sichern<br />
bunte, handbemalte Baumwollstoffe, so genannte „Indiennes“, wegen <strong>der</strong> rasch<br />
zurückgehenden Preise <strong>der</strong> Gesellschaft einen breiten Markt in Europa. Hinzu<br />
kommen Seiden, Porzellan und wertvolle Lacke aus Fernost, beson<strong>der</strong>s aus<br />
China.<br />
Wichtige holländische Handelsnie<strong>der</strong>lassungen befanden sich an <strong>der</strong><br />
Koromandelküste mit ihren Pfefferplantagen und an <strong>der</strong> Küste Bengalens, wo<br />
die erwähnten „Indiennes“ hergestellt wurden. <strong>Das</strong> Zentrum holländischer<br />
Kolonialisierung befand sich hingegen im Sunda-Archipel, ihre Hauptstadt war<br />
Batavia, das heutige Jakarta auf <strong>der</strong> Insel Java (Indonesien). In dieser von<br />
Sümpfen umgebenen, fieberversuchten Gegend herrschte die „Vereenigte<br />
Ostindische Compagnie“ mit rücksichtloser Gewalt, die sie, ähnlich wie das<br />
kleine Portugal hun<strong>der</strong>t Jahre vorher, auf eine Kette von Seebefestigungen<br />
gründete. Eine Kontrolle des Hinterlandes war kaum möglich, denn Holland<br />
hatte, auch wie Portugal, zu wenig Menschen: seine Gesamtbevölkerungszahl<br />
betrug damals knapp 2 Millionen.<br />
Auf dem Weg in die mo<strong>der</strong>ne Welt<br />
Captain James Cook<br />
James Cook (1728–1779) erforschte den Pazifik und wi<strong>der</strong>legte den<br />
Mythos vom Südkontinent «Terra Australis Incognita». (National<br />
Maritime Museum, London.)<br />
In den Portolanen aus <strong>der</strong> Zeit vor Magellans<br />
Entdeckungen stellten sich die europäischen<br />
Kartographen den Südpazifik viel kleiner vor, als er<br />
tatsächlich ist, weil sie davon ausgingen, dass das entsprechende Gebiet von<br />
einer großen Landmasse bedeckt wird. Sie nannten sie »Terra Australis<br />
Incognita« (das unbekannte südliche Land. Sogar Magellan hielt bei <strong>der</strong> Fahrt<br />
durch die Wasserstraße vom Atlantik in den Pazifik die Landmasse auf <strong>der</strong><br />
Backbordseite seines Schiffes für diesen sagenhaften Kontinent. Erst Drake<br />
sollte entdecken, dass dieses Land tatsächlich die später »Feuerland« getaufte<br />
Insel ist.<br />
Der große englische Seefahrer James Cook sollte den Mythos <strong>der</strong> »Terra<br />
Australis Incognita« endgültig zerstören. Bevor Cooks Informationen Eingang
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 134<br />
in Karten fanden, boten die Portolane häufig die unterschiedlichsten<br />
künstlerischen Interpretationen dieses imaginären Kontinents. Schon vor Cook<br />
hatten mehrere Seefahrer belegt, dass dieser Kontinent kleiner als angenommen<br />
sein musste, denn sie waren durch Gebiete gesegelt, in denen man eigentlich<br />
Land vermutet hatte. Zunächst tat Cook das Gleiche und zwar auf seinem Weg<br />
nach Tahiti im Jahr 1769. Seine realistische Einschätzung <strong>der</strong> Größe <strong>der</strong><br />
Antarktis, des tatsächlichen südlichen Kontinents, war für seine Zeit einzigartig.<br />
Viele seiner Zeitgenossen vermuteten dort, wo sich tatsächlich <strong>der</strong> Südpazifik<br />
befindet, den größten Kontinent <strong>der</strong> Erde. Von <strong>der</strong> immensen Größe dieses<br />
Landes überzeugte Herrscher trieben ihre Seefahrer an, dieses Land zu finden<br />
und es für sie in Besitz zu nehmen, weil sie vermuteten, es würde ebensolche<br />
Reichtümer wie die an<strong>der</strong>en entdeckten Län<strong>der</strong> bergen.<br />
Östliche Hälfte einer Weltkarte von<br />
Rumold Mercator aus dem Jahr<br />
1587 mit dem vermuteten<br />
Südkontinent «Terra Australis<br />
Incognita». (British Museum, Aldus<br />
Books.)<br />
James Cook wurde im Jahr<br />
1728 geboren − zufällig<br />
genau das Jahr, in dem Vitus<br />
Bering die nach ihm<br />
benannte Beringstraße<br />
entdeckte. Fünfzig Jahre<br />
später würde Cook dieses<br />
Gebiet ebenfalls aufsuchen.<br />
Vor den seinen Ruhm begründenden großen Reisen segelte Cook als<br />
unbedeuten<strong>der</strong> Seemann nach Kanada. Während des Siebenjährigen Krieges<br />
nahm er hier auch an den Kämpfen gegen England teil und wirkte an <strong>der</strong><br />
Vermessung des St.-Lorenz-Stroms mit. Seine Vorgesetzten wurden auf ihn<br />
aufmerksam, weil er sich durch beson<strong>der</strong>e Genauigkeit auszeichnete. <strong>Das</strong> und<br />
sein Interesse für Geographie und Mathematik machte ihn für die<br />
Landvermessung geeignet. So musste er nach dem Ende des Krieges in Kanada<br />
verbleiben, um das Gebiet um die Küsten Labradors, Neufundlands und<br />
Neuschottlands zu vermessen. Im Gegensatz zu den meisten Karten sowohl<br />
früherer Zeiten als auch seiner eigenen Zeit beruhten Cooks Karten auf
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 135<br />
wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden. Sie übertrafen in ihrer<br />
Genauigkeit alle früher angefertigten Land- und Seekarten.<br />
Cook war ein seriöser, königstreuer Entdecker, aber er hatte auch eine poetische<br />
Seele, die staunen konnte über die Wun<strong>der</strong> <strong>der</strong> Südsee. Dort suchte er, ganz <strong>der</strong><br />
subjektiven Innerlichkeit eines Rousseau verfallen, einen glücklich naturhaften<br />
Urzustand <strong>der</strong> Menschheit. Obwohl er in wesentlichen Punkten die Positionen<br />
<strong>der</strong> Aufklärung vertrat, waren ihm starke Zweifel gegenüber Fortschritt und<br />
Zivilisation eigen; <strong>der</strong> klar denkende Forscher leistete sich quasi privat Gefühle,<br />
die ihn zu einem Vorläufer <strong>der</strong> Romatik machen. <strong>Das</strong> Bild vom guten Wilden<br />
war im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t weit verbreitet, und Bücher wie Robinson Crusoe von<br />
Daniel Defoe o<strong>der</strong> Gullivers Reisen von Jonathan Swift lagen genau auf <strong>der</strong><br />
Linie <strong>der</strong> allgemeinen Empfindungen. Man träumte immer wie<strong>der</strong> vom irdischen<br />
Paradies. Und manchmal glaubte man, es tatsächlich auch gefunden zu haben.<br />
<strong>Das</strong> Paradies war auch das Reiseziel von Kapitän James Cook, und nicht nur die<br />
Wissenschaft, das Abenteuer o<strong>der</strong> die Macht des britischen Empires. Cook war<br />
überzeugt, in <strong>der</strong> Südsee den einzigen Ort auf <strong>der</strong> Welt gefunden zu haben, wo<br />
die Menschen ohne Laster leben. Geboren unter dem schönsten Himmel,<br />
brauchen sie nichts, was die Natur ihnen nicht gäbe.<br />
Robinson Crusoe ist ein Roman von Daniel Defoe,<br />
<strong>der</strong> die Geschichte eines Seemannes erzählt, <strong>der</strong><br />
mehrere Jahre auf einer Insel als Schiffbrüchiger<br />
verbringt. Ein vor Kanibalen geflohener Wil<strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />
später sein Freund und Diener wird, nennt Robinson<br />
Freitag zur Erinnerung an den Tag, an dem er ihn<br />
kennengelernt hat<br />
Es mögen auch archaische Wurzeln<br />
gewesen sein, die Cook das Paradies suchen<br />
ließen. Die Hoffnung auf eine bessere Welt,<br />
notierte er, »findet sich bezeichnen<strong>der</strong>weise<br />
bei allen Seevölkern [...], nämlich <strong>der</strong><br />
Mythos von den Inseln <strong>der</strong> Glückseligkeit.<br />
Dieser Traum existiert bereits seit den<br />
frühesten Tagen <strong>der</strong> europäischen<br />
Geschichte. [...] Diese Inseln können für<br />
Asketen das Fegefeuer sein, für an<strong>der</strong>e aber das Paradies aller Genüsse, ein<br />
Reich <strong>der</strong> uneingeschränkten Liebe und de Reichtums, [...] Ort des mühelosen<br />
Lebens ohne Anstrengung und Arbeit, weil die Natur alles liefert.« Ihre<br />
Bewohner sind »glücklich, von Natur aus gut und zum Teilen bereit.« Für
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 136<br />
Captain Cook, wie man ihn allgemein respektvoll nannte, hat dieser Glaube<br />
jedoch schlecht geendet. Die Polynesier, bei denen sich Cook sehr um<br />
freundschaftliche Beziehungen bemüht hatte, stahlen mit Leidenschaft,<br />
beson<strong>der</strong>s eiserne Gegenstände. Als am 14. Februar 1779 eines von Cooks<br />
Beibooten entwendet wurde, ging er mit Bewaffneten an Land, um das Boot von<br />
den Eingeborenen zurückzufor<strong>der</strong>n. Aber die Hawaiianer fielen über die Weißen<br />
her und Cook wurde am Strand von Hawaii ermordet und zerstückelt. Manche<br />
sagen, weil die edlen Wilden doch wohl nicht so edel waren, an<strong>der</strong>e glauben,<br />
dass er sein Leben aufgrund eines Mißverständnisses verlor. Wie es auch<br />
gewesen sein mag; für Cook nahm die Suche nach dem Paradies ein böses Ende.<br />
Während seiner ersten Weltumsegelung führte Cook im Jahr 1769 unter<br />
an<strong>der</strong>em den Auftrag aus, eine außergewöhnliche astrologische Erscheinung<br />
erdnahen Durchgangs <strong>der</strong> Venus zu beobachten. Dieses Ereignis hatte<br />
Weltbedeutung, da Astronomen in aller Welt auf neue Erkenntnisse hofften. Der<br />
deutsche Forscher Peter Simon Pallas war eigens durch Russland an die<br />
chinesische Grenze gereist, um das Phänomen zu beobachten. Astronomen<br />
zufolge sollte die erst kürzlich von dem Englän<strong>der</strong> Samuel Wallis entdeckte<br />
Insel Tahiti den besten Blick auf dieses Schauspiel bieten.<br />
Peter Simon Pallas (1741−181), deutscher<br />
Naturforscher und Geograph, wurde 1767 zum<br />
ordentlichen Mitglied <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong><br />
Wissenschaften in Sankt Petersburg und<br />
unternahm 1768-74 und 1793/94, geför<strong>der</strong>t durch<br />
die Zarin Katharina II., Expeditionen durch Sibirien<br />
und das südliche Russische Reich.<br />
Man hoffte, mit Hilfe neuer Daten die<br />
Entfernung zwischen Erde und Sonne<br />
exakter bestimmen zu können. Dies<br />
wie<strong>der</strong>um sollte ihnen bei <strong>der</strong> genaueren<br />
Bestimmung <strong>der</strong> Längen- und Breitengrade<br />
helfen, was <strong>der</strong> Navigation sehr zu Gute<br />
kommen würde. Die Royal Society wusste, dass Cook in <strong>der</strong> Lage war, die<br />
entsprechenden Berechnungen durchzuführen, da es ihm im Jahr 1766 durch die<br />
Beobachtung einer Sonnenfinsternis gelungen war, den Längengrad von<br />
Neufundland zu bestimmen.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 137<br />
Cooks erste Reise<br />
Neben <strong>der</strong> Beschreibung des Lebens in den seltsamen, neu entdeckten Län<strong>der</strong>n<br />
diente Cooks erste Reise noch weiteren wichtigen Zielen. Wesentliche<br />
Bedeutung kam dabei <strong>der</strong> Entdeckung von vorbeugenden Maßnahmen gegen<br />
den Skorbut zu, jener schlimmen Krankheit, die fast jede Schiffsbesatzung vor<br />
Cooks Entdeckung heimsuchte. Üblicherweise starb auf einer längeren<br />
Expedition etwa ein Drittel <strong>der</strong> Besatzung an Skorbut. Cook erkannte als<br />
Ursache den Mangel an Vitamin C. Deshalb bunkerte er Zitrusfrüchte,<br />
Frischfleisch und frisches Gemüse – und damit eine wesentlich bessere<br />
Versorgung <strong>der</strong> Mannschaft als sie bis dahin üblich war – mit dem Ergebnis,<br />
dass von Cooks 112 Männern auf <strong>der</strong> dreijährigen Reise nur ein einziger an<br />
einer Krankheit, bei <strong>der</strong> es sich aber nicht um Skorbut handelte, starb.<br />
Schließlich gingen die Briten dazu über, ihre Seeleute und Soldaten<br />
grundsätzlich mit den dieses lebenswichtige Vitamin enthaltenden<br />
Lebensmitteln zu versorgen, zum Beispiel mit Limonensaft. <strong>Das</strong> Jahr 1642<br />
nimmt in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Wissenschaft eine Schlüsselposition ein: Galileo<br />
Galilei starb, Isaak Newton wurde geboren und Abel Tasman erreichte<br />
Neuseeland, auch wenn er glaubte, die lediglich von einer Bucht unterbrochene<br />
Küste des legendären großen südlichen Kontinents vor sich zu haben.<br />
Über hun<strong>der</strong>t Jahre später erforschte Cook als nächster Europäer diese Gegend.<br />
Er fand heraus, dass das, was sein Vorgänger für die von einer tiefen Bucht<br />
eingeschnittene Küste eine Kontinents gehalten hatte, tatsächlich zwei von einer<br />
Wasserstraße, <strong>der</strong> heutigen Cookstraße, voneinan<strong>der</strong> getrennte Inseln sind. Die<br />
Inseln sollten später Neuseeland genannt werden.<br />
Ureinwohner<br />
Neuseelands;<br />
Zeichnung von<br />
Abel Tasman<br />
1643. (Algemeen<br />
Rijksarchief, Den<br />
Haag.)
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 138<br />
Nach <strong>der</strong> Erfüllung seiner Aufträge hätte Cook nach Europa zurückkehren<br />
können. Stattdessen aber segelte er nach Neuholland, das später Australien<br />
getauft wurde. Er wusste zwar von Tasmans etwa hun<strong>der</strong>t Jahre zurückliegen<strong>der</strong><br />
Entdeckung, aber die Kartographen waren sich nicht sicher, ob Tasmanien eine<br />
Insel o<strong>der</strong> etwa eine zu Australien gehörende Halbinsel war. Unglücklicherweise<br />
hin<strong>der</strong>te schlechtes Wetter Cook an <strong>der</strong> Beantwortung dieser Frage und sie blieb<br />
deswegen noch für mindestens zwanzig weitere Jahre offen.<br />
Cook fuhr weite: Als erster Europäer segelte er seit einem Jahrhun<strong>der</strong>t wie<strong>der</strong><br />
durch die Torresstraße und bewies, dass es sich bei ihr um einen Weg zwischen<br />
Australien und Neuguinea handelt. Aber in Batavia auf Java raffte die Malaria<br />
und die Ruhr mehr als 30 seiner Männer dahin. So fand seine Expedition neben<br />
großen Erfolgen und großen Enttäuschungen auch noch ein tragisches Ende.<br />
Cook kehrte im Jahr 1771, zwei Jahre nach dem erdnahen Durchgang <strong>der</strong><br />
Venus, nach England zurück und erstattete <strong>der</strong> Royal Society Bericht. Er trug<br />
allerdings nur wenig von wirklichem wissenschaftlichem Wert bei. Außerdem<br />
hatten sich viele»Lehnstuhlentdecker« bis zu dieser Zeit bereits daran gewöhnt,<br />
nur noch das Außergewöhnliche zu erwarten. Da mittlerweile beinahe jeden<br />
zweiten Tag große Entdeckungen gemacht wurden, empfand man sie nun als<br />
etwas völlig Normales. Schließlich hatte James Bruce im Jahr zuvor die Quellen<br />
des Blauen Nils entdeckt und im Jahr nach Cooks Bericht verfolgte er den<br />
Blauen Nil bis zu seinem Zusammenfluss mit dem Weißen Nil.<br />
Aber immerhin war nach Cooks erster Reise<br />
nun bekannt, dass Neuseeland und<br />
Australien von Wasser umgeben waren und<br />
dem britischen Empire hinzugefügt werden<br />
konnten. Allerdings gab es immer noch<br />
keinen Beweis für die Existenz des großen<br />
südlichen Kontinents.<br />
Karte von Australien und Neuseeland<br />
(Wikipedia Maps)<br />
Deshalb erteilte die Royal Siciety in <strong>der</strong><br />
Hoffnung, dass bei dieser Gelegenheit die<br />
südlichen Breitengrade vollständig erforscht<br />
werden könnten, den Auftrag für eine<br />
zweite Weltumseglung.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 139<br />
Cooks zweite Reise<br />
Auf Cooks zweiter Reise waren seine Männer im Jahr 1772 die Ersten, die<br />
nachweislich den Südlichen Polarkreis überquerten. Sie stießen so weit vor wie<br />
es das Eis erlaubte, aber <strong>der</strong> große südliche Kontinent war noch immer nicht in<br />
Sicht. Die Männer verbrachten den Winter in Neuseeland und besuchten noch<br />
einmal Tahiti. Bei dieser Gelegenheit wurden die in <strong>der</strong> Nähe gelegenen und<br />
von Cook auf Grund des freundlichen Empfangs durch die Einheimischen »Die<br />
Freundlichen Inseln« genannten Inseln kartographisch erfasst.<br />
Karte von Tahiti (Wikipedia Maps)<br />
Eines seiner beiden Schiffe<br />
musste auf Grund von<br />
Sturmschäden nach England<br />
zurückkehren und wurde so das<br />
erste Schiff, das die Welt von<br />
Westen nach Osten umsegelt<br />
hatte. Unterdessen stieß Cook<br />
zum zweiten Mal in den<br />
Südlichen Polarkreis vor. Er<br />
kam weiter nach Süden, als<br />
irgend jemand vor ihm; erst fünfzig Jahre danach sollte das wie<strong>der</strong> gelingen.<br />
Cook stellte fest, dass »... in diesem Ozean kein Kontinent zu finden ist«. Da<br />
sowohl die Vorräte als auch die Kraft seiner Mannschaft zur Neige gingen,<br />
beschloß er die Heimreise.<br />
Kurz nach dem Vorstoß in die Antarktis stellte <strong>der</strong> Schiffsarzt fest, dass <strong>der</strong> an<br />
Gallenkoliken leidende Cook frisches Fleisch brauchte. Offensichtlich gab es zu<br />
dieser Zeit bestenfalls noch gesalzenes Fleisch an Bord. Also wurde ein<br />
Bordhund für den Kapitän geschlachtet, <strong>der</strong> sich darauf rasch erholte.<br />
Cook erforschte noch die Osterinseln und die Tongas in Neukaledonien, die<br />
Neuen Hebriden und die Marquesas-Inseln und sammelte dabei wichtige<br />
Informationen für Kartographen. Auf seinem Rückweg nach England umsegelte<br />
er Südgeorgia und war damit <strong>der</strong> Erste, <strong>der</strong> eine antarktische Insel umschiffte.<br />
Cooks zweite ist die berühmteste seiner drei Reisen und nicht zuletzt darum so<br />
bemerkenswert, weil er nicht nur zum zweiten Mal die gesamte Welt umsegelte,
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 140<br />
son<strong>der</strong>n insgesamt über 96 000 Kilometer (o<strong>der</strong> fast 52 000 Seemeilen),<br />
zurücklegte − mehr als <strong>der</strong> zweifache Erdumfang.<br />
Während eines in England verbrachten Jahres lernte Cook die neuesten<br />
Navigationsinstrumente kennen, vor allem einen äußerst genauen Chronometer<br />
zum Gebrauch mit neuen nautischen Tabellen zur Bestimmung des<br />
Längengrades. Es ist deswegen um so bemerkenswerter, was Cook auf seinen<br />
ersten beiden Reisen leistete, ohne dass ihm schon diese wesentlich verbesserten<br />
Instrumente zur Verfügung standen.<br />
Cooks dritte Reise<br />
Cook war nun bereit für den Auftrag <strong>der</strong> Admiralität, noch einmal in britischem<br />
Namen nach einer befahrbaren Wasserstraße zwischen den beiden größten<br />
Ozeanen <strong>der</strong> Welt zu suchen, aber dieses Mal vom Pazifik aus. Zu dieser Zeit<br />
glaubte man, dass diese Wasserstraße in irgendeiner Weise, wenn es vom Osten<br />
aus nicht gelingen wollte, von Westen aus zugänglich sein müsste. Ein weiterer<br />
Auftrag bestand darin, als Geschenk König Georgs III. Zuchtvieh zu den Bauern<br />
in einigen <strong>der</strong> Kolonien im Pazifik zu bringen. In England nannte man den<br />
König liebevoll, aber ein wenig respektlos »Bauer Georg«, weil er sich stark für<br />
die neuen landwirtschaftlichen Errungenschaften interessierte, denn die<br />
Bevölkerung Englands wuchs dramatisch an. Zu seiner Beliebtheit trug auch bei,<br />
dass er treu zu seiner Ehefrau hielt und im Gegensatz zu seinen beiden<br />
hannoverschen Vorgängern keine Mätressen hatte. Aber<br />
<strong>der</strong> König war nicht gesund; er litt an einer<br />
Geisteskrankheit, nach heutigen Erkenntnissen Symptome<br />
einer Stoffwechselstörung. Damals wurde bei Hofe sehr<br />
oft das Medikament Brechweinstein verschrieben,<br />
welches einen hohen Anteil an Antimon enthält. Da in <strong>der</strong><br />
Natur Antimon und Arsen häufig zusammen vorkommen,<br />
könnte Georg III. möglicherweise durch Arsen nach und<br />
nach unwissentlich vergiftet worden sein.<br />
König Georg III. im Krönungsornat 1760;<br />
<strong>der</strong> König war damals 22 Jahre alt
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 141<br />
Doch in den amerikanischen Kolonien war <strong>der</strong> Ruf Georges III. alles an<strong>der</strong>e als<br />
gut. Tatsächlich erklärten die Amerikaner wenige Tage, bevor Cook am 12. Juli<br />
1776 zu seiner letzten Reise aufbrach, in aller Form ihre Unabhängigkeit von<br />
England. <strong>Das</strong> Zeitalter <strong>der</strong> Entdeckungen ging seinem Ende entgegen und glitt<br />
in ein neues Zeitalter <strong>der</strong> Revolutionen über. Die Franzosen sollten mit ihrer<br />
historischen Revolution des Jahres 1789 die ersten sein. Die Russen, Chinesen<br />
und Kubaner würden später folgen.<br />
Viereinhalb Monate nach dem Beginn seiner Reise entdeckte Cook am 25.<br />
Dezember die Weihnachtsinsel, das größte Pazifikatoll, die erst 1888 von<br />
Großbritannien annektiert wurde (die Briten sollten hier in den Jahren 1957 und<br />
1958 Nuklearwaffentests vornehmen, die USA sollten dies von 1962 an<br />
fortsetzen).<br />
Anschließend entdeckte Cook die von ihm nach dem berüchtigten Ersten Lord<br />
<strong>der</strong> britischen Admiralität, Graf von Sandwich, genannten Sandwichinseln, die<br />
aber später in Hawaii-Inseln umgetauft werden sollten. Es ist jedoch durchaus<br />
möglich, dass Cook nicht als erster Europäer diese Inseln entdeckt hat.<br />
Die Sandwich-Inseln (später in Hawaii-Inseln umbenannt), aus dem Weltatlas, Rom, 1798<br />
Nachdem er das Vieh bei den Bauern abgeliefert hatte, wandte er sich dem<br />
wichtigeren und anspruchsvolleren Teil seines Auftrags zu, <strong>der</strong> Suche nach einer
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 142<br />
nördlichen Passage vom Pazifik zum Atlantik. Er segelte in östlicher Richtung<br />
nach Nordamerika, landete zunächst im Nootkakasund in <strong>der</strong> Nähe von<br />
Vancouver, um dann von dort aus weiter die Westküste Amerikas hinauf zu<br />
segeln bis er schließlich, bevor ihn Eisberge am weiteren Vordringen hin<strong>der</strong>ten,<br />
die Beringstraße passierte. Aber immerhin vervollständigte er, nachdem <strong>der</strong><br />
dänische Kapitän Vitus Bering fast 50 Jahre vor ihm in dieser Gegend gewesen<br />
war, die Informationen über die Beringstraße in <strong>der</strong> ersten neuen Karte.<br />
<strong>Das</strong> Schicksal eines an<strong>der</strong>en, mit dem man die Theorie von <strong>der</strong> zutraulichen<br />
Gemütsart <strong>der</strong> Südseeinsulaner beweisen wollte, verliert sich in ungewisser<br />
Dunkelheit. <strong>Das</strong> Experiment Omai entwickelte sich an<strong>der</strong>s, als man damals im<br />
Glauben an die edlen Wilden erwartete. Bei <strong>der</strong> Abreise zu Cooks dritten<br />
Entdeckungsfahrt 1776 befand sich ein Eingeborener von <strong>der</strong> Südseeinsel<br />
Ulietea, Omai mit Namen, an Bord. Dieser Naturbursche hat 1772 sein<br />
Vaterland verlassen, ist mit Cook mitgereist und war 1775 in England<br />
eingetroffen; nun sollte er in seine Heimat zurückkehren. Es war ein einfacher<br />
Mann, und Cook hatte den Narren an ihm gefressen. In London hatte man Omai<br />
in die beste Gesellschaft eingeführt, und er besaß wohl genug common sense,<br />
schnell zu begreifen, dass diese Leute <strong>der</strong> high society angehörten und was sie<br />
von ihm erwarteten. Er benahm sich ungezwungen, und da er noch jung an<br />
Jahren war, äußerten sich seine Vorlieben gleich denen an<strong>der</strong>er junger Leute. Zu<br />
seinem Glück war er ein guter Beobachter, denn da er die Sitten und das<br />
Betragen <strong>der</strong> Personen von Rang und Stand, die ihn ihres Schutzes würdigten,<br />
sehr sorgfältig beobachtete, ahmte er sie fleißig nach, blieb aber mäßig und<br />
bescheiden. Bald nach seiner Ankunft in London stellte ihn <strong>der</strong> Graf von<br />
Sandwich dem König Georg III. vor, was Omai stark beeindruckte, aber seine<br />
vornehmsten Gönner waren <strong>der</strong> Graf von Sandwich sowie die Botaniker Banks<br />
und Solan<strong>der</strong>. <strong>Das</strong> Glück hatte Omai folglich begünstigt, er lebte in Luxus und<br />
war häufig von vielerlei Vergnügungen<br />
umgeben. Und weil er im Schachspiel eine<br />
gewisse Fähigkeit entwickelt hatte, hielt man<br />
ihn für sehr begabt.<br />
Omai, ein Eingeborener von einer <strong>der</strong><br />
Gesellschaftsinseln, war in England «zivilisiert»<br />
worden. Nach seiner Heimkehr erwartete ihn ein<br />
ungewisses Schicksal<br />
Doch er vergaß seine Heimat nicht und wollte<br />
in sein Vaterland zurückzukehren. Er<br />
sammelte mit Eifer alle möglichen Dinge, um<br />
sie in seine Heimat mitzunehmen. Die Vielfalt
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 143<br />
<strong>der</strong> in Europa gebräuchlichen Gegenstände hin<strong>der</strong>te ihn allerdings daran, im<br />
einzelnen Objekt einen Nutzen zu erkennen, wie er überhaupt nicht in <strong>der</strong> Lage<br />
war, eine allgemeine Vorstellung des damals gültigen gesellschaftlichen<br />
Systems zu entwickeln und neue Erkenntnisse zum Nutzen und zur<br />
Verbesserung seines heimatlichen Insellandes anzuwenden. Die jeden Tag auf<br />
ihn einwirkenden Genüsse ließen ihm auch keinen Augenblick Zeit, an<br />
Derartiges zu denken. Bald besaß er Beile, Sägen, Meißel und<br />
Zimmerwerkzeuge, Flinten, Pistolen, Säbel, Pulver und Munition, Nähnadeln,<br />
Stecknadeln, Angeln und verschiedene Werkzeuge für die Jagd, Netze aller Art,<br />
eine vollständige Drehbank, farbige Klei<strong>der</strong> nach englischer Mode, eine<br />
Drehorgel, eine Elektrisiermaschine, ein Panzerhemd und eine Ritterrüstung.<br />
In <strong>der</strong> Südsee angekommen, setzte man Omai im Oktober 1777 auf eigenen<br />
Wunsch mit seinen Habseligkeiten, dazu zwei Pferden, zwei Kühe und ein Stier,<br />
einige Schafe und Ziegen sowie Gänse und Hühner auf <strong>der</strong> kleinen Insel<br />
Huaheine, einem zu den Gesellschaftsinseln gehörenden Eiland, ab. Auf Befehl<br />
Cooks bauten ihm die Schiffszimmerer ein Haus nebst Stall und Scheune. Cook<br />
ermöglichte es auch, dass Omai sich ein Stück Land vom Inselherrscher kaufen<br />
konnte. Diese Ereignisse verbreiteten sich in Windeseile in <strong>der</strong> Umgebung, so<br />
dass von Nah und Fern Eingeborene herbeiströmten, um diesen Günstling <strong>der</strong><br />
Weißen zu sehen. Omai genoß anfangs die Aufmerksamkeit mit Stolz und<br />
Eitelkeit, aber bald wurde er zaghafter, denn er spürte (o<strong>der</strong> vernahm) den Neid<br />
<strong>der</strong> Eingeborenen.<br />
Diese klauten den Europäern die Werkzeuge, Nägel, Beile und Sägen, so<br />
dass Cook Wachen ausstellen lassen mußte. Den Einwohnern war es kein<br />
Verbrechen, sich zu nehmen, was an<strong>der</strong>e augenscheinlich in Fülle besassen, aber<br />
als man einen Dieb erwischte, legte man ihn auf einem Schiff in Ketten. Die<br />
Angehörigen schickten Schweine und Geflügel an Bord, um den Gefangenen<br />
loszukaufen, doch es half nichts, die Englän<strong>der</strong> stellten ihn »vor Gericht« und<br />
verurteilten ihn nach ihrem Rechtsempfinden: er verlor beide Ohren und bekam<br />
den Schädel geschoren. Dann schickte man ihn blutend an Land. Die entsetzten<br />
Eingeborenen erfuhren erst jetzt, dass das Wegnehmen von Gegenständen den<br />
Weißen als Verbrechen gelte. Kurz darauf wurden eines nachts Omais<br />
Pflanzungen verwüstet, die er angelegt hatte. Er ahnte Schlimmes, und er sagte<br />
dies auch seinem Gönner. So warnte Cook die Einheimischen, »dass wenn man<br />
Gewalt gegen Omai gebrauchen sollte, o<strong>der</strong> ihn in dem freien Genusse seines<br />
Eigenthums störte, so würde er [Cook] bei <strong>der</strong> Zurückkunft unserer Schiffe die<br />
ganze Insel verwüsten und jedes menschliche Geschöpf vertilgen, das auf<br />
irgendeine Art zu seinem [Omais] Schaden etwas beigetragen hätte. [...] Captain<br />
Cook ließ es an nichts mangeln, um den Einwohnern eine hohe Meinung von<br />
Omai einzuprägen.«<br />
Es kam zu einem rührenden Abschied; Cook hatte zu Omai väterliche<br />
Gefühle entwickelt, und als Omai unter Tränen bat, ihn wie<strong>der</strong> mit nach England<br />
zu nehmen, konnte auch er sich nicht gegen die Rührung wehren, die ihn dabei
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 144<br />
befiel. Aber er sagte auch, dass das unmöglich sei und »er erinnerte ihn, wie<br />
ängstlich besorgt er [Omai] in England war, dass man ihn nicht nach Hause<br />
schicken möchte; und sagte ihm, nun er auf große Unkosten seines Königs in<br />
sein Vaterland, zu seinen Freunden zurückgebracht worden wäre, sei es kindisch<br />
zu hoffen, dass man ihn wie<strong>der</strong> mitnehmen sollte.« Cook schenkte ihm noch<br />
sechs große Beile und einige Meissel, dann segelten die Englän<strong>der</strong> davon.<br />
Sie kamen nie zurück, um Nachschau zu halten. Cook starb auf Hawaii und<br />
seine Nachfolger wählten eine an<strong>der</strong>e Rückreiseroute nach England. Was aus<br />
Omai geworden ist, kann man nur ahnen.<br />
Huahine, die Insel Omais, ein Atoll<br />
im Pazifischen Ozean. Sie gehört<br />
zu den Gesellschaftsinseln.<br />
Bei Cooks Rückkehr nach Hawaii waren die Eingeborenen plötzlich <strong>der</strong><br />
Meinung, er sei eine Reinkarnation einer ihrer Götter. (Man fühlt sich an den<br />
von den Azteken um 1520 als Heilsbringer verehrten Cortés erinnert, allerdings<br />
mit dem Unterschied, dass Cook diesen Aberglauben <strong>der</strong> Einheimischen we<strong>der</strong><br />
ermutigen noch ausnutzen wollte.) Dann allerdings stahlen die Eingeborenen aus<br />
unerfindlichen Gründen eines von Cooks kleinen Booten. Cook nahm daraufhin<br />
einen <strong>der</strong> Stammeshäuptlinge gefangen, um ihn gegen das Boot einzutauschen.<br />
Aber das beschwor einen Aufstand <strong>der</strong> Eingeborenen herauf, in dessen Verlauf<br />
Cook tötet wurde.<br />
Impression des Todes von Captain<br />
Cook in <strong>der</strong> Kelakekua Bay<br />
(Hawaii),<br />
gezeichnet von John Webber.<br />
Dies war das ruhmlose Ende<br />
eines Entdeckers, <strong>der</strong> selber<br />
nie gewalttätig gewesen war.<br />
Es war gleichzeitig »eine<br />
unheimliche Wie<strong>der</strong>holung<br />
des Todes Magellans vor 258<br />
Jahren«.
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 145<br />
Lt. Charles Clerke übernahm das Kommando <strong>der</strong> Expedition und setzte die nach<br />
Norden fort, um noch einmal nach <strong>der</strong> legendären nördlichen Passage zu suchen.<br />
Aber erneut wurde sie durch das Eis gestoppt und wandte sich nach Süden ud<br />
folgte dieses Mal <strong>der</strong> Küstenlinie Asiens Sie segelten nordwärts nach<br />
Petropawlowsk, wo sie von den Russen freundlich aufgenommen wurden. Die<br />
Nachricht von Cooks Tod ging auf dem Landweg weg und erreichte England ein<br />
halbes Jahr vor <strong>der</strong> Heimkehr <strong>der</strong> Schiffe. Lt. Clerke versuchte, den Auftrag<br />
weiterzuführen, scheiterte aber auf 70° 33' N am Packeis, das noch stärker<br />
schien als im Vorjahr. Als sein Schiff nach Petropawlowsk zurückkehrte, war<br />
<strong>der</strong> 38-Jährige bereits gestorben. Der Amerikaner Lt. John Gore, <strong>der</strong> auch Cooks<br />
erste Pazifikreise mitgemacht hatte, führte die Expedition nach England zurück,<br />
wo sie am 6. Oktober 1780 eintraf.<br />
Einige Forscher dieses Zeitalters waren bei ihren Entdeckungen noch nicht<br />
einmal dreißig Jahre alt waren. Im Gegensatz<br />
dazu war Cook schon fast vierzig Jahre alt, als er<br />
sich den ungeheuren Herausfor<strong>der</strong>ungen seiner<br />
drei bewun<strong>der</strong>nswertesten Reisen stellte.<br />
Spätestens in diesem Alter hatten die meisten<br />
Männer seiner Zeit den Zenit ihrer körperlichen<br />
Leistungsfähigkeit bereits überschritten. Doch<br />
Cook verbrachte in den letzten zehn Jahren seines<br />
Lebens Dinge, die wenige jüngere vollbracht<br />
hatten.<br />
Die Schiffe Resolution und<br />
Adventure in <strong>der</strong> Matavai-Bucht von<br />
Tahiti, auf ihrer zweiten Reise<br />
Karte <strong>der</strong> Neuen Hebriden (heute Vanuatu genannt) und<br />
Neukaledoniens, aus dem Weltatlas, Rom, 1798
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 146<br />
Die Suche nach den Grenzen<br />
Die Welt ist »entdeckt«<br />
Am Ende des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts waren von vier Fünfteln <strong>der</strong> Erdoberfläche die<br />
Formen <strong>der</strong> Kontinente und Ozeane mit einiger Genauigkeit bekannt; nur die<br />
Pole blieben noch ein Rätsel. Die Erforschung dieser fernsten Winkel <strong>der</strong> Welt<br />
warf beson<strong>der</strong>e Probleme auf.<br />
Die Antarktis ist ein Kontinent, <strong>der</strong> stellenweise von eisfreiem Ozean umringt<br />
ist, und dieser ist seinerseits wie<strong>der</strong>um von einem Eisgürtel umringt - wie eine<br />
Koralleninsel, die zuerst von ihrer Lagune und dann von ihrem Riff<br />
eingeschlossen ist. Im Süden bestand daher das Problem darin, wie man den<br />
Gürtel aus festem Packeis, <strong>der</strong> im großen und ganzen um den 60. Breitengrad<br />
herum konstant blieb, durchdringen könnte. Erst als ein Schiff konstruiert war,<br />
das wi<strong>der</strong>standsfähig genug war, um sich den Weg durch dieses Eis zu<br />
erzwingen, konnte <strong>der</strong> Schleier vor dem letzten <strong>der</strong> Kontinente im Jahre 1843<br />
durch James Clark Ross gelüftet werden.<br />
Die Arktis dagegen ist ein vom Land umringter Ozean, aber eine Reihe von<br />
Meerengen verbindet sie mit den schiffbaren südlicheren Gewässern. <strong>Das</strong><br />
Problem war hier schwieriger. In manchen Gebieten reichte das Eis südlich bis<br />
zum 60. Breitengrad, in an<strong>der</strong>en wich es zurück bis zum 85.; seine Ausdehnung<br />
und sein Verhalten schwankten von Jahr zu Jahr beträchtlich. Viele Seewege,<br />
die höchst vielversprechend nordwärts zu führen schienen, wurden irgendwo<br />
durch herausströmendes Eis blockiert. Jahrhun<strong>der</strong>telang konzentrierten die<br />
Entdecker ihre Bemühungen vor allem auf die Davisstraße zwischen Grönland<br />
und Nordamerika und machten höchstens gelegentlich Ausfälle in die nach<br />
Osten führende Barents-See; aber diese Zugänge waren unwi<strong>der</strong>ruflich<br />
blockiert. Erst als <strong>der</strong> Amerikaner de Long 1881 durch die Beringstraße nach<br />
Norden vorstieß, dort unfreiwillig in die Eisdrift des großen Polarstroms geriet<br />
und nach unsäglichen Strapazen Schiff und Leben verlor, kam man dem letzten<br />
<strong>der</strong> Ozeane näher - aber erforscht war er noch nicht.<br />
Und diese Schlussphase <strong>der</strong> Erforschung war von einer Selbstlosigkeit getragen,<br />
die man bei vielen <strong>der</strong> früheren Entdeckungsreisen nicht fand. Die Männer, die<br />
mit ihren Schiffen immer wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> in die erbarmungslosen Eisfel<strong>der</strong><br />
vorstießen, die in den Einöden <strong>der</strong> Polargebiete Kälte, Eintönigkeit, Hunger,<br />
körperliche Erschöpfung ertrugen und allzu oft auch den Tod erlitten, hatten<br />
wenig Hoffnung auf materiellen Gewinn; sie waren von Wissensdurst erfüllt,<br />
<strong>der</strong> Kö<strong>der</strong>, <strong>der</strong> sie lockte, war das Unbekannte. Der Schwede A. E. Nordenskiöld<br />
fand 1880 mit seinem Stahlschiff Vega ohne Schwierigkeit die Nordostpassage,<br />
den Seeweg zwischen dem Atlantik und dem Pazifik längs <strong>der</strong> 6500 km langen<br />
Nordküste Eurasiens, an <strong>der</strong> Barents 1597 gescheitert war. Aber dieser kürzeste<br />
Weg von Europa zur Beringstraße ist fast immer vereist und für die Schifffahrt
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 147<br />
wenig nützlich. Die Nordwestpassage* hingegen, die Durchfahrt vom Atlantik<br />
zum Pazifik nördlich des nordamerikanischen Festlandes durch den Kanadisch-<br />
Arktischen Archipel, wurde bis zum 19. Jahrhun<strong>der</strong>t immer wi<strong>der</strong> vergeblich<br />
gesucht und kann 1906 von Roald Amundsen gefunden werden. 1896 beweist<br />
<strong>der</strong> Norweger Fridjof Nansen das Vorhandensein einer Nordpolarströmung,<br />
indem er sich mit seiner eisfesten legendären Fram mit den Eismassen über die<br />
Polarzone driften läßt.<br />
Die An<strong>der</strong>en und die Grenzen, das sind zwei Begriffe, um die herum<br />
Europa seit alters her seine Identität errichtet hat. Vor <strong>der</strong> Entdeckung <strong>der</strong><br />
Neuen Welt schaute Europa stets nach Osten, nach Asien. Schon Hippokrates<br />
gab für die Unterschiede zu den dort Beheimateten das Klima an. Aristoteles<br />
bezeichnete die Europäer wegen des rauen Klimas als tapfere, aber nicht<br />
beson<strong>der</strong>s weise Menschen. Die Asiaten hingegen erschienen ihm talentiert,<br />
doch fehle es ihnen an Mut und Willensstärke. Und irgendwie bestätigte <strong>der</strong><br />
Lauf <strong>der</strong> Entwicklungen diese Beurteilungen. Die Europäer werden erobern,<br />
aber sich dabei nicht sehr klug verhalten, die an<strong>der</strong>en steuerten verfeinerte<br />
Lebensart bei, sollten aber Lakeien sein und für den Wohlstand <strong>der</strong> Sieger<br />
sorgen.<br />
Wer macht Geschichte? Die Machthaber, die politisch-ökonomische Struktur<br />
o<strong>der</strong> das Individuum? Der Lauf <strong>der</strong> Dinge ist vernunftmäßig häufig nicht zu<br />
begreifen, weil die überraschende Komponente des Zufalls oft eine Rolle spielt.<br />
So wurde Kolumbus bei seiner Ankunft auf den Westindischen Inseln von den<br />
Indianern mit Respekt und Freundschaft empfangen, weil die Eingeborenen<br />
einer Weissagung gemäß weiße Väter mit langen Bärten erwarteten. Reiter –<br />
Pferde waren im Amerika unbekannt – erschienen ihnen wie göttliche Wesen,<br />
und die metallenen Waffen <strong>der</strong> Spanier galten als Zeichen unüberwindlicher<br />
Stärke. Auch Portugal profitierte von einem Zufall. Mehr als fünfzig Jahre<br />
benötigten die Portugiesen, um von Kap Bojador an <strong>der</strong> afrikanischen Küste von<br />
Kap zu Kap nach Süden zu gelangen. Und als die Zweifel wie<strong>der</strong> stärker<br />
wurden, ob Afrika überhaupt zu umsegeln sei, trieb ein Sturm die Karavelle des<br />
Bartholomëu Diaz um das Kap <strong>der</strong> Guten Hoffnung und öffnete den Seeweg<br />
nach Indien.<br />
Sind Indianer Menschen?<br />
Die Entdeckung Amerikas konfrontierte die Europäer mit <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong><br />
Menschheit. Zunächst hatten sie sagenhafte Rassen von »Ungeheuern« erwartet,<br />
wie sie in den mappae mundi des Mittelalters umständlich beschrieben waren<br />
und die Menschen seither fasziniert hatten, ohne dass sie sie jemals gesichtet<br />
worden wären. Als die Europäer die Neue Welt betraten, erwarteten sie,<br />
fantastische Lebewesen zu finden. Aber Kolumbus berichtet überrascht und ein
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 148<br />
wenig enttäuscht, dass er auf diesen Inseln keine menschlichen Mißbildungen<br />
gefunden habe. Die Indianer, beruhigte er das spanische Königshaus, seien »sehr<br />
gut gebaut, mit sehr schönen Körpern und gut geschnittenen Gesichtern«. Mit<br />
<strong>der</strong> Entdeckung neuer Rassen begann eine Umwälzung im abendländischen<br />
Denken. Die Entdeckung unerwarteter Erdteile, die dann als Neue Welt<br />
bezeichnet wurden, hatte als Nebenprodukte ein ›Zur-Kenntnis-Nehmen‹<br />
unbekannter anthropologischer Formen im Gefolge. Die Europäer betrachteten<br />
ihre eigene Hautfarbe als die normale. Die dunkle Haut <strong>der</strong> Afrikaner wurde<br />
durch die Sonne in heißen Klimazonen erklärt, und damit war natürlich<br />
bestätigt, dass die afrikanischen Völker Menschen waren. Die Bibel äußerte sich<br />
eindeutig zur gemeinsamen Herkunft und homogenen Abstammung <strong>der</strong><br />
gesamten Menschheit. Da alle Menschen von Adam und Eva abstammten, gab<br />
es keinen Raum für Min<strong>der</strong>wertigkeit <strong>der</strong> Erbmasse. Die interessanten<br />
Unterschiede waren die <strong>der</strong> Sprache und Religion.<br />
Die Entdeckung Amerikas eröffnete <strong>der</strong> katholischen Kirche eine reizvolle neue<br />
Möglichkeit. Um die Mitte des sechzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts verlor sie in Europa<br />
Millionen Seelen an die immer zahlreicher werdenden protestantischen Ketzer.<br />
Gleichzeitig lieferte die Neue Welt durch göttliche Vorsehung plötzlich<br />
unzählige Heiden, die als neue Gläubige gewonnen werden konnten. Eine<br />
optimistische Schätzung von 1540 gab die Zahl <strong>der</strong> getauften Indianer mit etwa<br />
sechs Millionen an. Dennoch wurde <strong>der</strong> Menschenstatus des Indianers - seine<br />
mögliche Gleichheit vor den Augen Gottes - zunehmend bestritten. Die<br />
spanischen Konquistadoren hatten ihre eigenen Gründe für die Behauptung, die<br />
Indianer seien min<strong>der</strong>wertig, denn damit hatte sie Gott praktischerweise zu ihren<br />
Sklaven bestimmt. Es gab lebhafte Debatten dafür und dawi<strong>der</strong>. Bartolomé de<br />
Las Casas, als Stimme des Gewissens, die nie ganz unterdrückt wurde, blieb<br />
Sprecher <strong>der</strong> anerkannten Lehre <strong>der</strong> Römischen Kirche. Natürlich konnte er die<br />
Konquistadoren nicht zu Pazifisten bekehren. Doch hatte er mit dem Siegel <strong>der</strong><br />
Kirche bekräftigt, dass die Indianer Menschen waren. Im Jahre 1566, als König<br />
Philipp II. erneut Lizenzen zur Entdeckung und Eroberung gewährte, fühlte er<br />
sich bemüßigt, alle aufzufor<strong>der</strong>n, sich an die Gesetze eines gerechten Krieges zu<br />
halten. Die relativ friedliche Eroberung <strong>der</strong> Philippinen nach 1570 wird<br />
bisweilen dem Fortleben von Las Casas' Geist zugeschrieben.<br />
Der Beginn des Kolonialismus<br />
Mit den großen Entdeckungsreisen im 15. und 16. Jahrhun<strong>der</strong>t fing für die<br />
Menschen ein neues Zeitalter an. Sie begannen, neue Fragen zu stellen. <strong>Das</strong>s die<br />
Welt eine Kugel ist, war nach <strong>der</strong> Rückkehr von Magellans Victoria bewiesen!<br />
Die Schiffe fuhren nach Osten und Westen; sie kehrten mit Waren von<br />
unvorstellbaren Werten nach Europa zurück. Tausch und Handel machten das<br />
Messen, Wägen, Zählen und Vorausberechnen nötig. Aber es begann auch die<br />
Tragödie <strong>der</strong> Europäisierung des Erdballs. Eine überlegene Technik, intolerante
<strong>Das</strong> <strong>Lächeln</strong> <strong>der</strong> <strong>Aphrodite</strong> – Kleine Kultur und Entwicklungsgeschichte <strong>der</strong> Seefahrt Seite 149<br />
Machtansprüche von Kirche und Krone sowie die Unkenntnis o<strong>der</strong> Missachtung<br />
<strong>der</strong> Werte frem<strong>der</strong> Kulturen vernichteten bedeutende Zivilisationen in Asien<br />
sowie in Nord- und Südamerika. Man schätzt heute, dass damals zwischen 70<br />
und 100 Millionen Menschen nie<strong>der</strong>gemetzelt o<strong>der</strong> versklavt wurden. Keine<br />
Kolonialmacht war hier unbeteiligt: Spanien, Portugal, die Nie<strong>der</strong>lande,<br />
England, Frankreich; alle wollten teilhaben an <strong>der</strong> Beherrschung <strong>der</strong> Welt.<br />
Wie erlebten die Indios die Spanier? Sie entdeckten in Kolumbus den typischen<br />
Konquistador. Der Entdecker eines neuen Kontinents zeigte sich als schlechter<br />
Ethnograph, weil ihn mehr das Land und seine Reichtümer, das Gold und <strong>der</strong><br />
Handel interessierte als die Menschen, die Indios. Eine echte Kommunikation<br />
mit den Eingeborenen fand nicht statt. Durch dieses Nichtverstehen wurde die<br />
Entdeckung Amerikas durch die Weißen für die Indios eine böse Entdeckung<br />
mit schlimmen Folgen …<br />
<strong>Aphrodite</strong> hatte für Europa gelächelt,<br />
von den an<strong>der</strong>en Kontinenten war keine Rede!