lia – die Frauen - Filia Frauenstiftung
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Und so fängt es an:<br />
Sich befreien<br />
Aufstehen 12<br />
Irgendwo auf der Welt <strong>–</strong> sagen wir Sri Lanka <strong>–</strong> wacht eine Frau auf. Sie liegt<br />
im Bett und beobachtet, wie das Sonnenlicht durch <strong>die</strong> gelben Vorhänge<br />
fällt. Wie an jedem anderen Morgen der vergangenen fünf Jahre legt sie sich<br />
den Tag im Kopf zurecht: Den Haushalt verrichten, Frühstück machen,<br />
Hühner füttern. Dann <strong>–</strong> wie an fast jedem anderen Morgen der vergangenen<br />
fünf Jahre <strong>–</strong> schließt sie <strong>die</strong> Augen und erinnert sich.<br />
Es beginnt ganz langsam, kurze Erinnerungsblitze von kleinen, faltigen<br />
Händen, <strong>die</strong> in ihren liegen, der Geruch von Schuhleder. Dann schneller:<br />
Steife Schuluniform und das erste Gedränge mit aufgeschürften Knien und<br />
leuchtenden braunen Augen.<br />
Und dann fangen <strong>–</strong> wie immer <strong>–</strong> <strong>die</strong> Fragen an. Ist ihm kalt? Ist er allein?<br />
Ist er noch am Leben?<br />
Was bedeutet „vermissen“ eigentlich? Es ist verwirrend und kann sich nicht<br />
entscheiden, was es ist. Es bedeutet verstreute Knochen in einem Tal. Oder<br />
ein Klopfen an der Tür und sein Lächeln, sein Atem an deiner Wange …<br />
Genug, denkt sie. Zeit aufzustehen.<br />
Und wie an fast jedem anderen Tag der vergangenen fünf Jahre erledigt sie<br />
ihren vormittäglichen Alltag und wartet, dass etwas passiert. Sie stellt <strong>die</strong><br />
12 Zu <strong>die</strong>sem Abschnitt haben uns Visaka Dharmadasa (Sri Lanka) und <strong>die</strong> Geschichten zahlloser Aktivistinnen mit verschwundenen<br />
Familienmitgliedern weltweit inspiriert.<br />
Nachrichten an und hört auch heute wieder <strong>die</strong> gleiche Geschichte. Kämpfe<br />
in Jaffna. Familien, <strong>die</strong> durch den Tsunami auseinandergerissen wurden,<br />
klammern sich immer noch an Hoffnung.<br />
Sie schaltet <strong>die</strong> Nachrichten aus, zieht sich an und macht sich auf den Weg<br />
zu einem knarzenden Ein-Raum Nachbarschaftscenter. Hierhin geht sie<br />
jeden Morgen, um ihre Freundinnen zu treffen. Andere Mütter, <strong>die</strong> auch<br />
hierher kommen, um auf ihre Söhne zu warten, darauf, dass sie nach Hause<br />
kommen. Gemeinsam gefesselt an den Schwebezustand.<br />
Sie nippt am süßen Tee und schaut sich um. Dasselbe wie an jedem Morgen.<br />
Und plötzlich verstummt das Geschnatter um sie herum und sie ist ganz<br />
allein mit einem einzigen Gedanken, der warm und süß und stark ist. Es<br />
beginnt langsam zu pochen, dann schneller und plötzlich bricht etwas in<br />
ihr auf und sie weiß:<br />
Genug. Kein Warten mehr. Es reicht.<br />
Sie dreht sich zu ihren Freundinnen um und sieht sie mit anderem Blick. Sie<br />
sieht alles anders. Es gibt eine Antwort. Wir können etwas tun. Wir können<br />
aufstehen und fordern, dass man uns darüber informiert, was geschehen ist.<br />
Wir können gegen <strong>die</strong> Angst angehen. Gegen den Horror, den <strong>die</strong>ser Krieg<br />
gebracht hat. Durch unsere eigenen Anführerinnen.<br />
Wir können <strong>die</strong> Verantwortlichen herausfordern. Endlich Antworten erhalten.<br />
Wo sind unsere Kinder, <strong>die</strong> ihr uns genommen habt? Und wenn<br />
sie uns nichts erzählen wollen, können wir selbst losgehen und nachsehen.<br />
Richtung Norden. Um andere Mütter zu besuchen. Die Wahrheit herauszufinden.<br />
Wir können unseren Schmerz und unsere Empörung gemeinsam<br />
bündeln. Wir müssen nicht länger warten. Wir können etwas tun.<br />
Und so fängt es an.<br />
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