lia – die Frauen - Filia Frauenstiftung
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Und so trafen wir uns in ihrem Lieblings-Thai-Restaurant in Pristina zum<br />
Abendessen und sprachen viele Stunden lang über ihre Mutter. Ihre Liebe,<br />
ihren Mut und ihre Kraft, neun Kinder in einer von Krieg zerrissenen Region<br />
zu aufzuziehen. Und ihre letzten Tage, wie sie sich verabschiedet und<br />
langsam ihren Körper verlassen hatte. Als sie schon <strong>die</strong> Sprache verloren<br />
hatte, deutete sie schlicht auf ihre Scheide, um ihren Kindern zu zeigen, dass<br />
sie so stolz war, sie auf <strong>die</strong> Welt gebracht zu haben.<br />
Nach dem Gespräch war ich mit mir im Zwiespalt. Einerseits hatte ich eine<br />
der erfahrensten, bekanntesten Aktivistinnen des Balkans getroffen. Igo hatte<br />
mich in ihre Welt Einblick nehmen lassen und mit mir Geschichten über<br />
ihre Familie und ihr Leben geteilt.<br />
Andererseits fühlte ich mich schuldig. Ich hatte das Gefühl, wir hätten nicht<br />
über <strong>die</strong> Arbeit gesprochen, über wirklichen Aktivismus. Ich dachte, ich<br />
würde den Kosovo verlassen, ohne <strong>die</strong>ses so bedeutende formale Interview<br />
für das Buch.<br />
Es hat mich Jahre gekostet, bis ich rückblickend feststellte, dass wir <strong>die</strong> ganze<br />
Zeit über Aktivismus geredet hatten, aber über eine Seite, <strong>die</strong> wir selten<br />
als wichtig erachten: <strong>die</strong> private Seite.<br />
Es gibt so wenig Raum und Zeit für „private“ Trauer <strong>–</strong> im Leben von engagierten<br />
Aktivistinnen. Verluste und/oder nahestehende Vermisste werden, wenn<br />
überhaupt, nur kurz zur Kenntnis genommen, und <strong>die</strong> Arbeit geht weiter.<br />
Wir verlieren Eltern, Kinder, Geschwister, Geliebte und Freunde. Sie werden<br />
uns durch Fehlgeburten, Selbstmord, Mord, Krebs und Unfälle genommen.<br />
Diese privaten Verluste sind niemals Teil der öffentlichen Seite der Arbeit.<br />
Sie sind etwas, das man beiseite schiebt.<br />
Gerade in Anbetracht der großen Verluste und Leiden, <strong>die</strong> Teil der täglichen<br />
Arbeit sind, stellt sich <strong>die</strong> Frage, wie eine Aktivistin sich Zeit nehmen kann<br />
für ihre eigene Trauer. Sie verblasst im Vergleich (immer im Vergleich) mit<br />
dem Schmerz der anderen.<br />
Verlust und Tod sind ein akzeptierter Bestandteil der Struktur von öffentlichem<br />
Aktivismus. Wir bezeugen es, lesen darüber und schreiben darüber.<br />
Einige Aktivistinnen sind darin eingetaucht, wie Hope Chigudu uns über<br />
ihre Kolleginnen berichtete, <strong>die</strong> mit HIV/Aids in Simbabwe arbeiten:<br />
Ich habe eine Frau getroffen, eine private Pflegekraft, <strong>die</strong> eine riesige Wunde<br />
gereinigt hat, aus der Maden kamen. Solch eine faulende Wunde riecht<br />
stark. Die Matratze, in <strong>die</strong> viele „kleine Unglücke“ gesickert sind, stinkt.<br />
Die Frau hat keine Handschuhe, keine Medizin, kein Essen … Hilflosigkeit<br />
ist ihr ins Gesicht geschrieben; und auch in das Gesicht ihres Patienten.<br />
Sie hat wunde, raue Hände, aber nutzt sie noch, um anderen Menschen<br />
zu helfen.<br />
Und dann ist da noch ein Baby, das krank ist und wimmert.<br />
Seine Mutter ist auch krank. Es trägt eine Windel. Eine von den <strong>Frauen</strong><br />
versucht, seine Windel abzunehmen; es reißt ein Stück der Babyhaut mit<br />
sich. Und dann ist da noch ein anderes Baby; ein Junge in seiner Ecke, der<br />
aussieht, als ob er drei Jahre alt wäre, und der mit einem zerbrochenen<br />
Glas spielt.<br />
Trotz alldem scheinen Aktivistinnen Wege zu finden, wie sie mit dem Tod<br />
als Bestandteil ihrer Arbeit fertigwerden. Sie benutzen all <strong>die</strong> bekannten Verhandlungstricks,<br />
um sich selbst davon zu distanzieren, es zu unterdrücken,<br />
bis es in ihre Körper eingesickert ist, so gut wie vergessen.<br />
Alles, außer <strong>die</strong>sen Geschichten, <strong>die</strong> haften bleiben …<br />
Die Geschichten, <strong>die</strong> haften bleiben<br />
Barbara Bangura ist eine Aktivistin aus Sierra Leone, <strong>die</strong> mit <strong>Frauen</strong> arbeitet,<br />
<strong>die</strong> während des jahrzehntelangen Bürgerkriegs von Rebellensoldaten<br />
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