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lia – die Frauen - Filia Frauenstiftung

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entführt und versklavt worden sind. Als wir sie in dem überfüllten Büro<br />

in Freetown trafen, war ich sprachlos in Anbetracht ihrer Gelassenheit. Ich<br />

wunderte mich, wie man es macht, so viel Heiterkeit und Klarheit zu behalten,<br />

wenn man täglich mit einem enormen Ausmaß an Schmerz und<br />

Traurigkeit konfrontiert ist. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie, dass sie<br />

normalerweise damit zurechtkäme.<br />

Aber es gibt immer Geschichten, <strong>die</strong> „haften bleiben“, solche, <strong>die</strong> du nicht<br />

abschütteln kannst. Barbara erzählte mir von einer jungen Frau, <strong>die</strong> Opfer<br />

von Gruppenvergewaltigungen geworden ist und von Soldaten der RUF<br />

(Revolutionary United Front) gefoltert wurde. Es waren <strong>die</strong> letzten Worte,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong>ser Frau entgegengespuckt wurden, als sie im Dreck liegen gelassen<br />

wurde <strong>–</strong> <strong>die</strong> sich Barbara ins Gedächtnis eingeprägt haben.<br />

Jede Aktivistin hat mindestens eine solche Geschichte, wenn nicht ein ganzes<br />

Bündel davon. Solche, <strong>die</strong> einfach unerträglich sind und nicht mit den<br />

anderen zur Seite geschoben werden können. Solche, <strong>die</strong> unerwartet in alle<br />

Lebensbereiche der Aktivistin sickern und sie in Träumen verfolgen. Und<br />

ihre Beziehungen zu Freundinnen, Freunden, Geliebten und Familien belasten<br />

und verändern.<br />

Das sind Geschichten, <strong>die</strong> Aktivistinnen an den Rand der Verzweiflung<br />

bringen können und sie ihre Arbeit in Anbetracht solchen Horrors als wertlos<br />

einschätzen lassen, wie Lama Hourani aus Palästina beschrieb: 20<br />

Ich weiß nicht warum, aber seit der letzten Invasion von Beit Hanoun<br />

war ich zutiefst depressiv oder wenn ich sagen darf: sogar verloren. Ich<br />

weiß nicht, warum es so lange gedauert hat, bis ich mich so fühlte, warum<br />

meine Verzweiflung verschoben worden war. Es hätte schon viel früher<br />

losgehen sollen.<br />

Ich wollte nicht darüber schreiben, aber ich habe so viele Vorfälle erlebt,<br />

dass ich denke, ich sollte darüber schreiben.<br />

20 Hourani, L. (2006)<br />

Die Invasion von Beit Hanoun war so schrecklich und so grausam, wie israelische<br />

Invasionen üblicherweise sind, aber <strong>die</strong>se hier war größer, länger<br />

und mit viel mehr Opfern, einschließlich <strong>Frauen</strong> und Kindern.<br />

Es war so schwer, nach Beit Hanoun zu gehen und <strong>die</strong> Familien zu<br />

besuchen, <strong>die</strong> ihre Lieben in ihren Armen haltend verloren hatten. Eine<br />

Mutter beschrieb mir, wie ihr <strong>die</strong> Bombe auf der Flucht ihr Kind von<br />

der Hand losgerissen hat. Ihr Sohn war an <strong>die</strong> Wand geschleudert worden<br />

und als sie ihn erreichte, war seine Bauchdecke offen und sie hat versucht,<br />

alles wieder an seinen rechten Platz zu legen. Er starb und dann musste<br />

sie zu den anderen, ihren Cousins, Onkel, Großmüttern <strong>–</strong> <strong>die</strong> alle tot<br />

oder verletzt in der kleinen Allee herumlagen. Sein 11 Jahre alter Cousin<br />

starb, während er seine Brille suchte. Er stolperte beim Laufen, verlor<br />

dabei seine Brille und <strong>die</strong> Bombe tötete ihn.<br />

Sein anderer Cousin wachte morgens durch den Krach der Bombe auf,<br />

<strong>die</strong> das Haus getroffen hatte. Während er versuchte Hilfe zu holen, wurde<br />

er von einer Bombe getroffen, <strong>die</strong> seine Hand mit dem Telefonhörer darin<br />

abtrennte.<br />

Eine Frage schlägt mir im Kopf herum: „Wie lange noch?“<br />

Auf gewisse Art sind <strong>die</strong> Geschichten, <strong>die</strong> haften bleiben, <strong>die</strong> Summe all der<br />

Geschichten, <strong>die</strong> wir im Laufe vieler Jahre angehört und abgelegt haben. Sie<br />

sind wichtig, weil sie auf ihre Weise für eine kurze Zeit unsere Welt anhalten.<br />

Sie stoppen <strong>die</strong> Eile, das innere zwanghafte Rattern, was als Nächstes<br />

zu tun sei. Sie zwingen Aktivistinnen, sich <strong>die</strong> großen, unbeanwortbaren<br />

Fragen zu stellen:<br />

Warum passiert das? Warum kann es nicht gestoppt werden? Warum kann<br />

ich es nicht stoppen? Wozu meine Arbeit?<br />

So quälend es ist, in Stille, mit all <strong>die</strong>sen Geschichten in dir dazusitzen und<br />

<strong>die</strong>sen Fragen gegenüberzustehen, sind <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Zeiten, in denen Aktivistinnen<br />

es sich erlauben, ihre eigene Menschlichkeit zu empfinden, sich zu<br />

erleichtern und ein wenig von ihrem Leid zu teilen.<br />

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