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Claire Inkognito

Claire musste aufpassen. Beim Klavierspielen hätte sie sich beinahe verplappert. Eine Studentin, deren Eltern auch hier leben und die sowieso zum Klavierspielen nach Hause geht, braucht die ein eigenes Appartement? Wegen der Selbständigkeit hatte sie erklärt. „Wer ist denn eigentlich Claire Melloh?“ wollte Matthis wissen, als Claire mit dem Kaffee kam. „Wieso?“ Claire erstaunt. „Entschuldigung, ich habe bei dir auf den Schreibtisch geschaut, und da stand zweimal auf einer Adresse 'Claire Melloh bei Schubert'“ erläuterte Matthis. „Na, die wohnt auch hier.“ reagierte Claire in einem Tonfall, als ob es sich um die unbedeutendste Selbstverständlichkeit der Welt handele. „Mit zwei Claires wohnt ihr zusammen?“ wollte es Matthis doch genauer wissen. „Na ja, Claire ist eben heute bei uns ein genauso üblicher Vorname wie früher in Frankreich.“ Claire dazu in gewohnter Schnoddrigkeit. „Und wo hat sie ihr Zimmer?“ wurde es für Matthis langsam spannend. „Die ist nur ganz selten hier. Du hast sie ja auch noch nie gesehen. Die schläft auch ausschließlich zu Hause.“ begründete es Claire, aber ihre Mimik verformte sich schon zu einem Grinsen. So einen Unfug konnte sie Matthis nicht erzählen. Was sollte sie tun?

Claire musste aufpassen. Beim Klavierspielen hätte sie sich
beinahe verplappert. Eine Studentin, deren Eltern auch hier leben
und die sowieso zum Klavierspielen nach Hause geht, braucht
die ein eigenes Appartement? Wegen der Selbständigkeit hatte
sie erklärt. „Wer ist denn eigentlich Claire Melloh?“ wollte Matthis
wissen, als Claire mit dem Kaffee kam. „Wieso?“ Claire erstaunt.
„Entschuldigung, ich habe bei dir auf den Schreibtisch geschaut,
und da stand zweimal auf einer Adresse 'Claire Melloh bei
Schubert'“ erläuterte Matthis. „Na, die wohnt auch hier.“
reagierte Claire in einem Tonfall, als ob es sich um die
unbedeutendste Selbstverständlichkeit der Welt handele.
„Mit zwei Claires wohnt ihr zusammen?“ wollte es Matthis doch
genauer wissen. „Na ja, Claire ist eben heute bei uns ein genauso
üblicher Vorname wie früher in Frankreich.“ Claire dazu
in gewohnter Schnoddrigkeit. „Und wo hat sie ihr Zimmer?“
wurde es für Matthis langsam spannend. „Die ist nur ganz selten
hier. Du hast sie ja auch noch nie gesehen. Die schläft auch
ausschließlich zu Hause.“ begründete es Claire, aber ihre Mimik
verformte sich schon zu einem Grinsen. So einen Unfug
konnte sie Matthis nicht erzählen. Was sollte sie tun?

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Typisch die Melloh<br />

Einen Panzer, eine Maske, die ihre wirkliche Identität verbarg, das meinte<br />

<strong>Claire</strong> für sich auch dringend zu benötigen. Damals in der Schule hätte sie so<br />

etwas schon gebraucht. Sie hatte sich gewehrt, nach der vierten Klasse nicht<br />

ins Internat gewollt, wie ihre Eltern es dringend wünschten. Laut schreiend<br />

hatte sie sich mit ihrer Mutter gezankt. Sie würde das Kind, das in ihrem eigenen<br />

Bauch gewachsen sei, einfach abgeben an fremde Leute in den Schweizer<br />

Bergen. Andere Mütter liebten ihr Kinder, wovon <strong>Claire</strong> bei ihrer sonst auch gewiss<br />

überzeugt war, sie wollten sie am liebsten ständig um sich haben, aber sie<br />

könne ihre Tochter, deren Zuhause genauso gut hier sei, wie ihr eigenes, anscheinend<br />

gar nicht weit genug fortschicken. <strong>Claire</strong> wollte hier bleiben, in ihrer<br />

Welt, und hatte panische Angst dort herausgerissen zu werden. Sie würde als<br />

Selbstmordattentäterin das ganze Internat mit allen Schülerinnen und Lehrern<br />

in die Luft sprengen, hatte sie gedroht. Wenn die Sprache auf die Vorzüge der<br />

Erziehung in Internaten zu kommen schien, bekam <strong>Claire</strong> regelmäßig Tobsuchtsanfälle.<br />

Auch den Therapeuten, zu dem ihre Mutter mit <strong>Claire</strong> gegangen<br />

war, konnte sie dazu bringen, ihren Eltern zu raten, es doch lieber hier zu versuchen.<br />

Er gab ihrer Mutter noch Erklärungen und Ratschläge, von denen der<br />

wichtigste war, dass sie ein anderes Kindermädchen gebrauche. Frau Günther<br />

möge zwar eine sehr erfahre Pädagogin sein, aber eine junge Frau finde sicher<br />

eher Zugang zu <strong>Claire</strong>. Dass sie sich in so frühen Jahren gegen den festen Entschluss<br />

ihrer Eltern durchgesetzt hatte, war ein Exempel für's ganze Leben in<br />

allen späteren Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und den Eltern. Das<br />

hatte <strong>Claire</strong> aber gar nicht beabsichtigt. <strong>Claire</strong> wollte ein Mädchen sein wie die<br />

anderen auch, wollte hier zu Hause zur Schule gehen, wollte mit ihren Freundinnen,<br />

die auch hier bei ihren Eltern wohnten, spielen und leben, wollte dazu<br />

gehören. In der Grundschule war es <strong>Claire</strong> noch nicht besonders aufgefallen,<br />

aber auf dem Gymnasium wurde es zunehmend schwerer, wie alle anderen zu<br />

leben. Sie war eben nicht eine von denen, die wie alle anderen sind. Dass sie<br />

immer von ihrem Fahrer zur Schule gebracht und wieder abgeholt würde, hatte<br />

ihre Mutter mit den schlimmen Wölfen erklärt, die heute nicht mehr im Wald,<br />

sondern auf den Straßen lebten, kleine Mädchen fingen, sie zu Tode quälten,<br />

und die Leichen dann verscharrten oder in einen tiefen See werfen würden.<br />

Jetzt begann sich <strong>Claire</strong> zu fragen. Natürlich wurden auch andere mehr oder<br />

weniger häufig von den Eltern abgeholt, aber die meisten standen den Wölfen<br />

immer frei zur Verfügung. Wahrscheinlich wussten ihre Eltern, dass die Wölfe<br />

<strong>Claire</strong> nicht zu Tode quälen, sondern von ihnen sehr viel Geld fordern würden,<br />

damit sie ihre Tochter zurück bekämen. Es war doch nichts Auffälliges an ihr.<br />

Sie war doch genauso ein Mädchen wie Janine, Anne und Lena, sie konnte sich<br />

auch mit ihnen ganz normal unterhalten, aber für nähere Beziehungen schien<br />

eine Wand zu existieren. Im Unterricht war es nicht anders. Wenn ihre Hausarbeit<br />

oder ihr Beitrag gelobt wurde, sah sie missmutige Gesichter unter den Mitschülern.<br />

„Natürlich, typisch die Melloh.“ schienen sie zu sagen. Die Lehrer lobten<br />

sie anscheinend, so meinte man, um ihren Eltern zu gefallen. Nur in Kunst,<br />

Musik und Sport war es anders. Beim Basketball geht’s nur darum, dass der<br />

Ball in den Korb kommt, da hat das Geld deiner Eltern kein Mitwirkungsrecht,<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 5 von 29

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