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Ruth – Lebensszenen, Mutige Wege einer selbstbewussten Frau

Beim nächsten Elternsprechtag saßen wir beide uns an einem kleinen Schul­tisch gegenüber. Wir blickten uns spöttisch lächelnd an, und Ralf begann for­melhaft etwas von Alyssia vorzutragen. „Ralf, hörst du mal bitte auf, so einen Stuss zu reden!“ stoppte ich ihn. „Was sollen wir denn machen?“ fragte er hilf­los. Ich war aufgestanden, zu ihm rüber gegangen und forderte ihn auf: „Steh bitte auf, so kann man doch nicht sitzen.“ Wir standen uns direkt gegen­über, und sahen uns in die Augen. „Weißt du was der Schülerin Alyssia Stein am aller besten helfen wird, wenn du jetzt sofort und unverzüglich ihre Mutter küsst.“ erklärte ich. Er atmete tief, schaute mich mit großen Augen an, und zog mich zu sich. Obwohl ich es für mein offizielles Selbstverständnis immer abgestritten hätte, aber jetzt ging für mich ein kleiner Traum in Erfüllung. Ich presste mich an ihn, und rieb mich an sei­nem Körper. Ralf begann an meiner Bluse zu fum­meln. Ich wehrte ab. „Küs­sen, nicht ausziehen!“ erklärte ich, obwohl ich nach meinem Empfinden eigent­lich nichts dagegen, wahrscheinlich sogar nichts lieber gehabt hätte.

Beim nächsten Elternsprechtag saßen wir beide uns an einem
kleinen Schul­tisch gegenüber. Wir blickten uns spöttisch lächelnd
an, und Ralf begann for­melhaft etwas von Alyssia vorzutragen.
„Ralf, hörst du mal bitte auf, so einen Stuss zu reden!“ stoppte
ich ihn. „Was sollen wir denn machen?“ fragte er hilf­los.
Ich war aufgestanden, zu ihm rüber gegangen und forderte
ihn auf: „Steh bitte auf, so kann man doch nicht sitzen.“
Wir standen uns direkt gegen­über, und sahen uns in die Augen.
„Weißt du was der Schülerin Alyssia Stein am aller besten helfen
wird, wenn du jetzt sofort und unverzüglich ihre Mutter küsst.“
erklärte ich. Er atmete tief, schaute mich mit großen Augen an,
und zog mich zu sich. Obwohl ich es für mein offizielles
Selbstverständnis immer abgestritten hätte, aber jetzt ging
für mich ein kleiner Traum in Erfüllung. Ich presste mich an ihn,
und rieb mich an sei­nem Körper. Ralf begann an meiner Bluse
zu fum­meln. Ich wehrte ab. „Küs­sen, nicht ausziehen!“
erklärte ich, obwohl ich nach meinem Empfinden eigent­lich
nichts dagegen, wahrscheinlich sogar nichts lieber gehabt hätte.

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Elvi Mad<br />

<strong>Ruth</strong> <strong>–</strong> <strong>Lebensszenen</strong><br />

<strong>Mutige</strong> <strong>Wege</strong> <strong>einer</strong> <strong>selbstbewussten</strong> <strong>Frau</strong><br />

Entwicklungsroman<br />

L'amour sumonte tout.<br />

Beim nächsten Elternsprechtag saßen wir beide uns an einem<br />

kleinen Schultisch gegenüber. Wir blickten uns spöttisch lächelnd<br />

an, und Ralf begann formelhaft etwas von Alyssia vorzutragen.<br />

„Ralf, hörst du mal bitte auf, so einen Stuss zu reden!“ stoppte<br />

ich ihn. „Was sollen wir denn machen?“ fragte er hilflos.<br />

Ich war aufgestanden, zu ihm rüber gegangen und forderte<br />

ihn auf: „Steh bitte auf, so kann man doch nicht sitzen.“<br />

Wir standen uns direkt gegenüber, und sahen uns in die Augen.<br />

„Weißt du was der Schülerin Alyssia Stein am aller besten helfen<br />

wird, wenn du jetzt sofort und unverzüglich ihre Mutter küsst.“<br />

erklärte ich. Er atmete tief, schaute mich mit großen Augen an,<br />

und zog mich zu sich. Obwohl ich es für mein offizielles<br />

Selbstverständnis immer abgestritten hätte, aber jetzt ging<br />

für mich ein kl<strong>einer</strong> Traum in Erfüllung. Ich presste mich an ihn,<br />

und rieb mich an seinem Körper. Ralf begann an m<strong>einer</strong> Bluse<br />

zu fummeln. Ich wehrte ab. „Küssen, nicht ausziehen!“<br />

erklärte ich, obwohl ich nach meinem Empfinden eigentlich<br />

nichts dagegen, wahrscheinlich sogar nichts lieber gehabt hätte.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 1 von 209


<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong><br />

<strong>Ruth</strong> <strong>–</strong> <strong>Lebensszenen</strong>.............................................................................................. 2<br />

Wegbeschreibung................................................................................................... 2<br />

<strong>Ruth</strong> <strong>–</strong> das Buch.....................................................................................................6<br />

Behördenfreuden....................................................................................................6<br />

Alyssia.................................................................................................................. 6<br />

Kennenlernen Torsten Stein..................................................................................... 6<br />

Gemeinsames Essen............................................................................................... 7<br />

Spaziergang.......................................................................................................... 7<br />

Junger Referendar.................................................................................................. 8<br />

Näheres Kennenlernen............................................................................................ 8<br />

Heirat................................................................................................................... 9<br />

Neue Lebensbedingungen........................................................................................9<br />

Enkelkinder........................................................................................................... 9<br />

Lehrer Lahrmann macht Überstunden......................................................................10<br />

Herr Lahrmann und die Kinder................................................................................11<br />

Kompliment für Herrn Lahrmann.............................................................................11<br />

Ralf und <strong>Ruth</strong>....................................................................................................... 12<br />

<strong>Ruth</strong> aus Moabit................................................................................................... 13<br />

Situationen klären................................................................................................ 14<br />

Scène d'amour mit Elternsprechtag.........................................................................14<br />

Wie weiter........................................................................................................... 15<br />

Treffen im Landgasthaus........................................................................................15<br />

Schulrechts Fortbildung......................................................................................... 17<br />

Das Tagungsbett...................................................................................................18<br />

Fortbildungsnächte............................................................................................... 19<br />

Wieder daheim..................................................................................................... 20<br />

<strong>Ruth</strong> will klare Verhältnisse.................................................................................... 20<br />

Trennung von Torsten............................................................................................21<br />

The Day After.......................................................................................................23<br />

Omi Sylvia regelt alles...........................................................................................24<br />

<strong>Ruth</strong>s Mutter........................................................................................................ 25<br />

Ralf und <strong>Ruth</strong> sind frei...........................................................................................26<br />

Gemeinsame Feier................................................................................................ 26<br />

Hochzeitsnacht..................................................................................................... 28<br />

Mamis Liebster..................................................................................................... 29<br />

Ralfs First Visit..................................................................................................... 30<br />

Erste Nacht zu Hause............................................................................................ 31<br />

Ralfs Einzug......................................................................................................... 31<br />

Einzugsnacht........................................................................................................32<br />

Omi Sylvias Hilfe.................................................................................................. 34<br />

Neue Pläne.......................................................................................................... 35<br />

Neues Leben........................................................................................................ 36<br />

Elias kommt.........................................................................................................36<br />

Bianca.................................................................................................................38<br />

Cynthia............................................................................................................... 39<br />

Britta arbeitslos.................................................................................................... 40<br />

Brittas Trennung...................................................................................................41<br />

Britta zieht ein..................................................................................................... 42<br />

Britta braucht Arbeit............................................................................................. 43<br />

Maximilian Kreutz................................................................................................. 44<br />

Britta wird Kunstlehrerin........................................................................................47<br />

Der Kunstsaal.......................................................................................................48<br />

Einsam <strong>–</strong> Allein zu Haus........................................................................................ 50<br />

Therapie.............................................................................................................. 51<br />

Alyssia first time...................................................................................................53<br />

Madame et Monsieur Ledoux.................................................................................. 53<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 2 von 209


Probleme bei Max und Britta.................................................................................. 54<br />

Neues Haus für Brittas Family................................................................................ 55<br />

Gespräche mit Anja.............................................................................................. 56<br />

Nächste Therapiesitzung mit Ralf............................................................................ 56<br />

Schüleraustausch Alyssia - Daniel........................................................................... 58<br />

Alyssia in San Francisco.........................................................................................59<br />

Ferienplanung...................................................................................................... 60<br />

Vorbereitung auf's Lycée mit <strong>Frau</strong> Durand................................................................60<br />

Neuer Indoor Style............................................................................................... 61<br />

Camille Durand.....................................................................................................62<br />

Neue Innenarchitektur...........................................................................................64<br />

Die Bibliothek.......................................................................................................64<br />

Alyssia in Tain l'Heremitage....................................................................................65<br />

Gespräch mit Madame Ledoux................................................................................66<br />

Deutschlandtour mit Daniel und Alyssia................................................................... 67<br />

Daniel in Hamburg................................................................................................ 68<br />

Daniel verliebt sich in <strong>Ruth</strong> Stein............................................................................ 68<br />

Ledoux in Hamburg...............................................................................................70<br />

Alyssia wieder in Tain l'Heremitage und am Lycée..................................................... 71<br />

Alyssia back at home............................................................................................ 72<br />

Camilles Probleme................................................................................................ 72<br />

Daniel in Hamburg und Ende der Liebe.................................................................... 74<br />

Ralfs Institut........................................................................................................ 76<br />

Meine Freundin Alyssia.......................................................................................... 76<br />

<strong>Ruth</strong> ist unzufrieden..............................................................................................77<br />

Urlaub in den Cevennen........................................................................................ 79<br />

Weiberrat............................................................................................................ 80<br />

Alys Abitur und Studienbeginn................................................................................81<br />

Alyssias Abwesenheit............................................................................................ 82<br />

Leeres Haus......................................................................................................... 84<br />

Camille und Christoph ziehen bei uns ein................................................................. 84<br />

Camille und Christoph wohnen bei uns.................................................................... 87<br />

Montpellier Besuch mit Lucien und Ferienplanung.....................................................88<br />

Alyssia und Lucien in der Auvergne......................................................................... 90<br />

Planungen für Camilles Hochzeit............................................................................. 90<br />

Hochzeitstag von Camille und Christoph.................................................................. 91<br />

Alyssias Gedichtband............................................................................................ 92<br />

Urlaub im Hérault................................................................................................. 93<br />

Erfolg von Alyssias Buch........................................................................................ 94<br />

Alys neuer Reichtum............................................................................................. 95<br />

Weitere Aktivitäten für Alyssias Buch.......................................................................96<br />

Entwicklung der Beziehung zu Lucien...................................................................... 96<br />

Neue Pläne für die Kanzlei..................................................................................... 99<br />

Ralf ist unzufrieden und organisiert sein Institut um................................................ 100<br />

Elias Schüleraustausch........................................................................................ 101<br />

Neue Situation für Alyssia.................................................................................... 102<br />

Südostasien Pläne...............................................................................................103<br />

Besuch mit Roussillon-Tour...................................................................................104<br />

Elias Vorbereitung auf den Austausch.................................................................... 105<br />

Lucille in Hamburg.............................................................................................. 107<br />

Elias in Frankreich...............................................................................................109<br />

Anruf aus Montpellier.......................................................................................... 109<br />

Ankunft in Montpellier......................................................................................... 110<br />

Erste Berührung mit Alyssia................................................................................. 112<br />

Besuch beim Professor........................................................................................ 113<br />

Gemeinsamer Besuch in der Klinik........................................................................ 116<br />

Alyssia mach die Augen auf!.................................................................................118<br />

Camille, Julienne und Lucien bei Alyssia.................................................................122<br />

Mittwochmorgen angeschnallt...............................................................................124<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 3 von 209


Ankunft von Camille, Julienne und Lucien am Mittwoch............................................126<br />

Alyssia isst......................................................................................................... 127<br />

Donnerstag neue Überraschung............................................................................ 128<br />

Freitag Neues vom Professor................................................................................ 134<br />

Freitag Fotoprüfung.............................................................................................137<br />

Samstag bis Mittwoch..........................................................................................140<br />

Komm nach Haus meine Liebe.............................................................................. 141<br />

Je reviens mon amour......................................................................................... 146<br />

Vorstellung in der Klinik und erste Einkäufe............................................................147<br />

Bon week-end.................................................................................................... 150<br />

Semaines prochaines...........................................................................................154<br />

Allein in Hamburg............................................................................................... 159<br />

Lucien und Julienne.............................................................................................163<br />

La Barista.......................................................................................................... 170<br />

Alyssias Rehabilitation......................................................................................... 172<br />

Julienne und Andy...............................................................................................173<br />

Weihnachtsvorbereitung...................................................................................... 174<br />

Fête de Noël.......................................................................................................175<br />

Weihnachten...................................................................................................... 179<br />

Weihnachtsspaziergang....................................................................................... 179<br />

Lucien verschwunden.......................................................................................... 180<br />

Andy besucht Julienne......................................................................................... 181<br />

Neues Lernen..................................................................................................... 184<br />

Bettgeflüster...................................................................................................... 185<br />

Printemps.......................................................................................................... 187<br />

Reise wieder zurück............................................................................................ 189<br />

Tempo le Bistro...................................................................................................190<br />

Le petit sourire................................................................................................... 190<br />

Bedenken.......................................................................................................... 191<br />

Alyssia wieder zu Hause.......................................................................................193<br />

Alyssias Kummer................................................................................................ 195<br />

Urlaub für Lucien und Alyssia............................................................................... 197<br />

Die neue Zeit ohne Alyssia................................................................................... 199<br />

Meine Tochter liest und schreibt wieder..................................................................200<br />

Alyssias Besuch in Hamburg................................................................................. 202<br />

Haus der drei Freundinnen................................................................................... 203<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 4 von 209


<strong>Ruth</strong> <strong>–</strong> <strong>Lebensszenen</strong><br />

Behördenfreuden<br />

Draußen versucht typisches Hamburger Regenwetter wieder Tristesse unter<br />

den Menschen zu verbreiten, und lässt selbst durch die trüben grauen Schleier<br />

vor den Fenstern die Menschen in den Häusern nicht unbelästigt. Vor Regen<br />

verhangenem Fenster am Schreibtisch sitzend, den Widerspruch gegen die Ablehnung<br />

eines Bauantrages prüfend, stelle ich mir vor, ich würde ihm einfach<br />

stattgeben. Ich sehe den Menschen, wie glücklich er strahlt, wenn er den Umschlag<br />

m<strong>einer</strong> Nachricht geöffnet, und sie gelesen hat, wie er seinen Anwalt<br />

bewundert, und der sich über das Lob freut. Die Möglichkeit, Freude zu verbreiten<br />

an so einem Tag, öffnet der Sonne einen kleinen Spalt in der trüben<br />

Regendecke, und lässt uns beide freundlich zwinkernd zublinzeln. Doch mit der<br />

Sonne im Bunde sind wir hier nicht. Es herrscht oft Tristesse in den Köpfen,<br />

selbst wenn die Strahlen der Sonne draußen die Gemüter der Menschen vergolden.<br />

Manche m<strong>einer</strong> Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter scheint das nicht zu<br />

stören. Sie empfinden es nicht so. Sie scheinen es nicht zu merken oder zu<br />

wissen, dass die Freuden des Lebens und die Erwartung von Glück sich in anderen<br />

Räumen als denen des Amtes für Bauordnung und Hochbau zeigen.<br />

Alyssia<br />

Wenn ich Mittags die letzten Aktendeckel zuklappe, und meinen Schreibtischstuhl<br />

anschiebe, beginnt für mich selbst bei trübstem Wetter die Sonne ihre<br />

Strahlen zu entfalten. My Sunshine Baby ist mein Töchterchen Alyssia, die ich<br />

Mittags immer von der Schule abhole. Morgens wird sie von unserem Kindermädchen<br />

gebracht, aber ab mittags, wenn sie aus der Schule kommt, will ich<br />

sie für mich haben, will ich für sie da sein. Sie versüßt mir den Tag, sie ist meine<br />

emotionale Basis. Der Umgang mit ihr, ihrer kindlichen Unbefangenheit und<br />

Freude, ihrer Zuneigung und ihrem Vertrauen, vermitteln mir Kraft und Stärke,<br />

lassen mich lächeln über die angebliche Bedeutung vieler aufgeblasener Probleme.<br />

Sie erinnern mich immer wieder daran, in welchen Räumen des<br />

menschlichen Seelenbauwerks Freude und Glück zu suchen sind.<br />

Kennenlernen Torsten Stein<br />

Als Regierungsrätin habe ich mich halb freistellen lassen. Aus finanziellen<br />

Gründen brauchte ich zwar nicht zu arbeiten, wozu mein Mann mich auch zu<br />

drängen versuchte, um mir ein angenehmeres Leben zu bereiten. Aber das<br />

entsprach absolut nicht meinen Vorstellungen von angenehmerem Leben, mich<br />

mit Alyssia zu befassen, und ansonsten als funktionsloses Luxusweibchen den<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 5 von 209


ganzen Tag bedient zu werden. Alyssia war ein Teil, ein sehr wichtiger Teil<br />

meines Lebens, aber trotzdem existierte auch noch die <strong>Ruth</strong>, die eigene von<br />

Alyssia unabhängige Vorstellungen hatte, und die wollte ich nicht in der beim<br />

Durchblättern von Modemagazinen oder Ähnlichem entstehenden Agonie beerdigen.<br />

Mein Mann hat mir auch nahegelegt, doch bei ihm zu arbeiten, da hätte<br />

ich größere Freiheiten, und könne meinen Einsatz nach meinen Wünschen selber<br />

gestalten. Verstanden hat er es nicht, worum es mir ging. Er war Haupteigner<br />

eines der größten Architekturbüros hier, und hatte Bauaufträge rund um<br />

die Welt. Er war selbstverständlich in der Branche überall bekannt, und ich hatte<br />

mal einen Antrag von seinem Büro bearbeitet. Als ich noch Nachfragen hatte,<br />

wurde ich mit ihm persönlich verbunden, und nach dem Telefonat wollte er<br />

selber vorbei kommen, und den Antrag abholen. Angeblich für den Fall, dass<br />

eventuell noch bestehende Unklarheiten sofort vor Ort bereinigt werden könnten.<br />

Das Telefongespräch malte ein freundliches Lächeln auf mein Gesicht, er<br />

hatte nett, charmant, witzig und keinesfalls überheblich gesprochen. Ich empfand<br />

Freude daran, mir zu überlegen, was für „bestehende Unklarheiten“ ich<br />

denn noch einbauen könnte, wenn er den Antrag abholte, obwohl eigentlich<br />

überhaupt keine mehr bestanden. Als er tatsächlich persönlich vorbei kam,<br />

hatte er mich bald durchschaut, und fragte mich lächelnd: „<strong>Frau</strong> Sender,<br />

warum tun sie das? Ich glaube ich sollte sie mal zum Essen einladen, damit<br />

nicht immer so schrecklich viele Unklarheiten auftreten. Würden Sie sich von<br />

mir einladen lassen?“ Meine Verlegenheit war mit Sicherheit zu erkennen.<br />

Scherzend bemerkte ich, ich glaube dass es sich dabei um eine Form von Beamtenbestechung<br />

handele, und ich wisse nicht, ob ich das annehmen dürfe.<br />

Gemeinsames Essen<br />

Wir scherzten noch ein wenig weiter, und am übernächsten Abend holte er<br />

mich mit seinem Bentley aus m<strong>einer</strong> kleinen Etagenwohnung ab. Vorm Kempinski<br />

wartete sein Chauffeur, um den Wagen zu ihm nach Hause zu bringen.<br />

„Und wie kommen wir jetzt nach Hause? Ich komme aber nicht mit zu ihnen.“<br />

entfuhr es mir erschreckt. Herr Stein lachte laut auf, und beruhigte mich: „Ein<br />

Taxifahrer wird uns beide nach Hause bringen, er wird beide unterschiedlichen<br />

Adressen finden, da bin ich mir sicher.“ Beim Essen erklärte er mir, dass ihn<br />

unser relativ belangloses Telefonat derart freudig überrascht hätte, dass er<br />

mich unbedingt habe kennen lernen wollen, und er seine Erwartungen mehr als<br />

bestätigt gefunden habe. Er machte mir noch weitere Komplimente. Er müsse<br />

doch wohl seine Vorurteile über die Mitarbeiterinnen der Baubehörde stark revidieren.<br />

Als ich ihn fragte, ob er beabsichtige mir gleich eine Heiratsantrag zu<br />

machen, lachte er sich halb tot. Es wurde ein sehr lustiger und amüsanter<br />

Abend.<br />

Spaziergang<br />

Als Torsten Stein <strong>–</strong> wir duzten uns bereits - mich zum dritten Mal zum Essen<br />

einladen wollte, erklärte ich ihm, wie schön auch ich unsere Treffen empfunden<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 6 von 209


hätte, dass ich mir aber auch Gedanken mache, welche Perspektive das haben<br />

könne, ob ich in Zukunft immer alle zwei Wochen mit Torsten essen gehen<br />

würde oder was sonst? Ich würde lieber mal ohne Essen mit ihm reden, beim<br />

Spazierengehen zum Beispiel. Wir unterhielten uns dann über unsere jeweilige<br />

Situation und unsere Perspektiven, er empfinde mich als sehr angenehm, und<br />

möge mich sehr gut leiden. Es seien für ihn die schönsten Abende gewesen,<br />

wenn wir zusammen essen gewesen seien, er habe, obwohl ihn seine Mutter<br />

immer dazu gedrängt habe, eigentlich nie das Bedürfnis gehabt, eine <strong>Frau</strong> zu<br />

haben, ihm sei das immer ähnlich <strong>einer</strong> zusätzliche Aufgabe erschien. Seitdem<br />

er mich kennengelernt habe, fange aber die Sicherheit s<strong>einer</strong> Einschätzung an,<br />

starke Risse zu bekommen. Ob ich nicht zu ihm ins Büro kommen wolle, sie<br />

hätten zwar die rechtlichen Angelegenheiten immer von <strong>einer</strong> Sozietät mit<br />

Fachanwälten bearbeiten lassen, aber er könne es sich gut vorstellen eine Baurechtsabteilung<br />

im eigenen Hause zu haben. Dann würden wir uns öfter sehen,<br />

und hätten mehr Möglichkeiten, uns kennen zu lernen. Ich mochte ihn auch<br />

gut leiden, und einen Freund hatte ich auch schon lange nicht mehr.<br />

Junger Referendar<br />

Es gab nur einen jungen Referendar den ich süß fand, der aber selbst nichts<br />

davon wusste, und in <strong>einer</strong> Beziehung zu ihm würde ich sicher keine Perspektive<br />

sehen. Wir verstanden uns nur sehr gut, und unterhielten uns gern. Er war<br />

mir sehr sympathisch, er lächelte immer, war sehr freundlich, aber der Blick<br />

s<strong>einer</strong> Augen konnte eine leicht traurige Note nicht verbergen. Pitt, so nannten<br />

wir Peter Rieder, den Referendar, saß am Schreibtisch, stützte sein Kinn mit der<br />

linken Hand, und starrte die Wand an, als ich seinen Raum betrat. „Pitt wovon<br />

träumst du?“ fragte ich, und ließ mich in dem Sessel gegenüber nieder „Ach<br />

<strong>Ruth</strong>“ sinnierte er, „Ich bin hier eigentlich völlig fehl am Platz. Glücklich werde<br />

ich hier nie. Wovon ich träume, ist ein anderes Leben, ist das Chaos aus <strong>einer</strong><br />

bunten, blumigen Welt, die mit meinem strukturierten Leben hier und schon<br />

immer nichts zu tun hat. Kunst, Literatur, Natur es ist einfach ein Bedürfnis<br />

nach allem, was ein Leben verspricht, auf dessen Vielfältigkeit und Farbigkeit<br />

ich mich freuen würde, in dem ich mich freier fühlen würde, das ich genießen<br />

könnte. Und ich kann und konnte mich in meinem ganzen Leben nie dazu<br />

entscheiden, mich darauf einzulassen oder irgendetwas zu tun, um dem näher<br />

zu kommen. Es ist als ob eine innere Stimme zu mir sagt, 'du musst dich für<br />

das Rationale, das Geordnete entscheiden'. Ich empfinde mich wie in <strong>einer</strong><br />

Zwangsjacke, sehe um mich herum all die Menschen, die sich befreit haben,<br />

nur ich kann es nicht, obwohl ich weiß, dass es mit jeder sogenannten vernünftigen<br />

Entscheidung immer schwieriger werden wird.“ Ich lauschte s<strong>einer</strong> Darstellung<br />

immer interessierter. Ich konnte seine Empfindungen sehr gut nachvollziehen.<br />

In mir selbst regte er ähnliche Gedanken an. Eine Lösung für sein<br />

Problem hatte ich natürlich nicht. Er war mir noch viel sympathischer geworden.<br />

Gern hätte ich ihm durchs Haar gestrichen, sein Gesicht berührt. Das<br />

Traurige in seinem Blick löste fast bei mir selbst Tränen aus. Wenn er mir das<br />

bei sich zuhause erzählt hätte, wären wir möglicherweise gemeinsam weinend<br />

im Bett gelandet.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 7 von 209


Näheres Kennenlernen<br />

Ich dankte Torsten für sein Angebot, aber einfach meine Beamtenstelle aufgeben,<br />

und mal so auf Verdacht bei Torsten arbeiten, wollte ich natürlich nicht.<br />

Ich erklärte ihm, dass er mich dann ja beim Kennenlernen immer bei der Arbeit<br />

stören würde. Ich fände es auch schön, wenn wir uns näher kennen lernen<br />

würden, allerdings in der Freizeit. So geschah's dann auch. Er konnte mich<br />

schon stark beeindrucken, und begeistern mit dem, was wir unternahmen, und<br />

was er mir zeigte. Wir küssten uns schon länger, aber die erste Einladung zum<br />

Abendessen zu ihm nach Hause erfolgte noch unter der Bedingung, no Sex und<br />

ich anschließend zu mir. Das änderte sich aber alles sehr schnell. Obwohl ich<br />

noch meine eigene Wohnung hatte, lebte ich fast ausschließlich bei Torsten,<br />

und begleitete ihn als seine Partnerin bei allen möglichen Empfängen und<br />

Events. Torstens Mutter mit der ich mich sehr gut verstand, meinte, das sei<br />

doch so kein Zustand. Wenn ich schon richtig mit ihm zusammen lebe, dann<br />

solle er mich gefälligst heiraten.<br />

Heirat<br />

Was ihr Sohn natürlich brav befolgte.<br />

Obwohl ich das luxuriöse Leben ja schon so genoss, bedeutete es mir schon etwas,<br />

die offizielle <strong>Frau</strong> Stein zu sein. Die Hochzeit wurde pompös gefeiert mit<br />

Menschen, die ich zum allergrößten Teil nicht kannte. Verwandte gab es nur<br />

wenige, und meinen Eltern schien es auch eher leicht unangenehm, obwohl sie<br />

sich natürlich über das Glück ihrer Tochter freuten. Meine Mutter, zu der ich ein<br />

exzellentes vertrauliches Verhältnis hatte, kam uns auch später selten besuchen.<br />

Sie fühlte sich nicht wohl in unserem Ambiente, und wenn wir Kontakt<br />

wünschten, fuhr ich besser zu ihr.<br />

Neue Lebensbedingungen<br />

Zunächst brauchte das Ehepaar Stein mal ein neues Zuhause. Von allem was<br />

wir uns ansahen, gefiel mir eine etwas ältere Reeder Villa am besten, hielt sie<br />

allerdings für völlig überdimensioniert. Besonders gefiel mir auch der riesige<br />

Park, den man ohne Gärtner sicher gar nicht hätte in Ordnung halten können.<br />

Alles spielte keine Rolle, wenn sie mir gefiel, wurde sie gekauft. Jetzt war <strong>Frau</strong><br />

Stein auch noch zur Schlossherrin geworden. Ein wenig als Cinderella kam sich<br />

die kleine ehemalige Regierungsrätin <strong>Ruth</strong> Sender schon vor. Ich beschloss<br />

aber für mich, dass es mir das Wichtigste sei, auf dem Teppich zu bleiben und<br />

die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Daher vermied ich Kontakte zu den Ladies<br />

aus m<strong>einer</strong> nominell adäquaten Society weitgehend. <strong>Frau</strong> Stein wollte weiter<br />

bei der Behörde arbeiten, was Torsten zwar überhaupt nicht verstand, aber akzeptierte.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 8 von 209


Enkelkinder<br />

Schwiegermutter Sylvia, wollte wissen, warum es denn keine Enkelkinder gebe<br />

und mir selbst gefiel die Vorstellung mittlerweile auch sehr. Früher war ich eher<br />

der Ansicht gewesen, ich brauche so etwas nicht in meinem Leben. <strong>Frau</strong>en, die<br />

alles Mögliche und Unmögliche unternahmen, um doch noch schwanger zu<br />

werden, attestierte ich einen psychischen Defekt, und meinte, sie sollten lieber<br />

froh sein, dass sie sich den ganzen Stress, der mit Kinderkriegen zusammenhing,<br />

ersparen könnten. Warum sich meine Einstellung zu <strong>einer</strong> freudigen<br />

Erwartung gewandelt hatte, blieb mir ein völliges Rätsel, wofür ich allerdings<br />

bis heute auch ohne Rätsellösung unendlich dankbar bin. Es waren keinesfalls<br />

irgendwie geartete Bedürfnisse, Gelüste oder Instinkte meine Qualitäten als<br />

treusorgende Mutter unter Beweis stellen zu wollen. Es machte mir einfach nur<br />

Freude, an das neue junge entwickelnde Leben zu denken. Ich wollte mich<br />

daran erfreuen, und mich bedanken für das, was mir geschenkt wurde. Vielleicht<br />

hatte ich erst jetzt die Freiheit, es so zu betrachten, und unter diesem<br />

Aspekt zu sehen, während es vorher immer mit dem Druck, Ansprüchen gerecht<br />

werden zu müssen und Verantwortung zu tragen, verbunden war. Jedenfalls<br />

wurde ich schwanger und gebar ein Mädchen, bei dem ich unbedingt darauf<br />

bestand, dass es Alyssia heißen müsse. So hieß meine Freundin in den USA<br />

während meines Austauschjahres. Ich habe sie geliebt und verehrt, und bin<br />

auch heute noch der Ansicht, dass unsere Freundschaft für mich die wichtigste<br />

Erfahrung während dieses Jahres war. Sie hat mich erfahren lassen, was<br />

Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen für eine junge <strong>Frau</strong> bedeuten, und hat<br />

die kleine <strong>Ruth</strong>, die darauf warten musste, was Eltern, Lehrer oder andere ihr<br />

sagten, damit sie wusste, was sie zu tun hatte, in mir ein für alle mal sterben<br />

lassen. Ich hatte schon damals geschworen, wenn ich mal irgendwo einen Namen<br />

vergeben könnte, wäre der 'Alyssia'. Das es meine eigene Tochter sein<br />

würde, daran hatte ich natürlich nicht im Traum gedacht. Mir schwebte eher so<br />

etwas wie der Name für ein Segelbötchen vor.<br />

Ich musste mich durchsetzen, dass ich trotz Alyssia wieder arbeiten konnte.<br />

Auch dass ich das Kindermädchen nur für morgens akzeptieren wollte, musste<br />

erkämpft werden, aber in meinen Vorstellungen zum Umgang mit Alyssia viel<br />

es mir nicht schwer unerbittlich zu sein. Sie war in meinem Bauch gewachsen,<br />

hatte von m<strong>einer</strong> Milch gelebt, und fing an meine Sprache zu sprechen, und ich<br />

ließ mir von niemandem, auch den verpflichtendsten Mütterratgebern nicht,<br />

vorschreiben, wie unser Umgang miteinander, und die Rahmenbedingungen<br />

dafür aussehen sollten. Viele hätten sich vielleicht darauf eingelassen, aber<br />

eine Mutter, deren Tochter den Namen Alyssia trägt, niemals.<br />

Alyssias Schulweg<br />

Als sie zur Schule kam, wurde sie vom Kindermädchen hingebracht und von<br />

mir abgeholt. Sie hätte gut den Weg allein laufen können, was auch viele ihrer<br />

Mitschüler und Mitschülerinnen mit teils weiteren <strong>Wege</strong>n taten. Die Berichte<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 9 von 209


über Kindesentführungen hatten mich aber so schockiert, dass es für mich unverzichtbar<br />

war, jede Möglichkeit dazu grundsätzlich auszuschließen. Wenn ich<br />

mir vorstellte, was diesen Mädchen angetan worden war, würde m<strong>einer</strong> kleinen<br />

Alyssia zugefügt, geriet ich in Panik. Ich hätte nicht gewusst, was für ein Leben<br />

es für mich mit so <strong>einer</strong> Erfahrung noch hätte geben können. Ich hatte Regeln<br />

für ausnahmsweise früheres Unterrichtsende getroffen, und der Schulleiterin<br />

hatte ich massive Konsequenzen angedroht, für den Fall, dass Alyssia einmal<br />

alleine die Schule verlassen sollte. Mit dem Klassenlehrer traf ich Absprachen,<br />

aber der war schon von der Schulleiterin informiert worden. Alyssia selbst hatte<br />

ich es natürlich auch eingeschärft, aber Kinder können natürlich auch schon<br />

mal Anlässe sehen, eine Situation völlig anders einzuschätzen.<br />

Lehrer Lahrmann macht Überstunden<br />

Ich hatte sie immer draußen vor dem Schultor in Empfang genommen. Eines<br />

Tages, Alyssia war schon im zweiten Schuljahr, regnete es mittags heftig, und<br />

ich hatte keinen Schirm dabei. Im Wagen wartete ich nie, weil sie sonst allein<br />

hätte die Straße überqueren, und auf dem Parkplatz mein Auto suchen müssen.<br />

Da ich sonst völlig durchnässt worden wäre, lief ich ins Schulgebäude, und<br />

wartete in der Eingangshalle auf sie. Mir gefiel das so viel besser, und ich fragte<br />

mich, warum ich nicht schon früher auf die Idee gekommen war. Also machte<br />

ich es ab jetzt eben immer so. Eines Mittags wartete und wartete ich. Die<br />

reguläre Zeit war schon um 10 Minuten überschritten. Ich beschloss zu Alyssias<br />

Klasse zu gehen, um nachzuschauen, ob sie eventuell schon weg wären,<br />

und ich nicht informiert worden sei. Aber da kam die kleine Bande schon aus<br />

der Tür gestürmt. Ob er heute Überstunden gemacht habe, fragte ich Herrn<br />

Lahrmann, Alyssias Lehrer. „Nein,“ meinte er „die Kinder hatten noch so viele<br />

unendlich wichtige Fragen, mit denen ich sie keinesfalls unbeantwortet nach<br />

Hause schicken konnte.“ „Man merkt ihnen richtig an, das sie Freude an den<br />

kleinen Strolchen haben, das finde ich sehr schön und kann es sehr gut nachvollziehen,<br />

aber wie sie es schaffen diese riesige Bande im Klassenraum ruhig<br />

zum Lernen zu bringen, ist mir ein absolutes Rätsel.“ bemerkte ich. „Ja sehen<br />

sie, <strong>Frau</strong> Stein, wenn das ein Dirigent mit erwachsenen Orchestermusikern<br />

schafft, wird er als großer Impresario verehrt, auf den Lehrer in der Schule<br />

aber, wird möglicherweise ein ganzes Leben lang geschimpft. Unfug! Das ist<br />

einfach schlicht mein Beruf, <strong>Frau</strong> Stein, das hab' ich gelernt, dafür bin ich eingesetzt<br />

und dafür werde ich bezahlt.“ antwortete er mir. „Ich bewundere sie<br />

trotzdem.“ verließ ich den Rufen Alyssias folgend unser kurzes Gespräch.<br />

Herr Lahrmann und die Kinder<br />

Ich bewunderte ihn auch wirklich, für Alyssia war Herrn Lahrmanns Wort Gottes<br />

Gesetz. Durch seine natürliche, warme, lockere und freundliche Art schaffte<br />

er eine Atmosphäre, in der die Kinder sich wohl fühlen konnten. Er war mehr<br />

als ein Lehrer, der seine pädagogischen und didaktisch Planungen auf die<br />

Schüler anwendet. Wenn er die Kinder anschaute, wussten sie, dass er sie ver-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 10 von 209


stand, akzeptierte und ernst nahm, dass er ihre Lust auf Unfug verständnisvoll<br />

nachvollziehen konnte, und dass er bereit war, sich auf ihre Fragen und Probleme<br />

ernsthaft einzulassen. Auch die Kinder spürten, das er Freude und Lust<br />

hatte, sie stark und stolz zu sehen, oder sie lachend sich wohl zu fühlen, sie<br />

waren sich sicher, ihm vertrauen zu können. Er war mehr als ein Freund, er<br />

war ihr Bezugspunkt in dieser Welt, die Schule hieß, und der ihnen Freude vermittelte,<br />

in dieser Welt sich zu mühen und zu entwickeln. Gewiss kann man<br />

lernen, dass so etwas wichtig ist, aber was sich in der Praxis dann entwickelt,<br />

ist sicher stärker an die Persönlichkeit des Lehrers, als an gelerntes Wissen gebunden.<br />

Bei Herrn Lahrmann hielt ich das für optimal, und ich war glücklich,<br />

bei der Vorstellung, dass Kinder ja viel Bedeutenderes für die Entwicklung ihrer<br />

Persönlichkeit lernen, als Lesen, Schreiben, Rechnen, und das meine kleine<br />

Alyssa das bei Herrn Lahrmann tun konnte.<br />

Kompliment für Herrn Lahrmann<br />

Jetzt blieb ich nicht mehr draußen oder irgendwo im Schulgebäude wartend<br />

stehen, sondern ging immer direkt zu Alyssias Klassenraum. Es gefiel mir gut,<br />

mit Herrn Lahrmann ein paar Worte zu wechseln. Er reagierte meist witzig und<br />

besonders liebte ich es, ihn mit Komplimenten für seine pädagogischen Fähigkeiten<br />

ärgern. Aber auch darauf reagierte er meist lustig und seine Arbeit als<br />

selbstverständlich darstellend. „Herr Lahrmann, ich bin richtig froh, dass Alyssia<br />

so einen tollen Lehrer wie sie hat, und wenn ich ihnen das mal sagen will,<br />

werde ich immer von ihren Understatements abgewimmelt. Können sie gar<br />

kein Kompliment oder Lob einfach mal annehmen, und sich darüber freuen?“<br />

„<strong>Frau</strong> Stein, sie machen mich verlegen. Ich verspreche ihnen, dass ich ihr<br />

nächstes Kompliment annehmen, und ihnen dafür danken werde.“ versicherte<br />

er. Am nächsten Tag überlegte ich schon in der Behörde, wie ich ihn wohl ärgern<br />

könnte. Als ich Alys abholte sagte ich zu Herrn Lahrmann: „Herr Lahrmann,<br />

sie sind ein wirklich schöner junger Mann.“ er stutzte, errötete leicht,<br />

und überlegte wohl wie er darauf reagieren sollte. Mit meinem Finger auf ihn<br />

zeigend warnte ich ihn, „Sie haben mir gestern etwas versprochen, Herr Lahrmann.<br />

Ich will ihnen aber helfen. Wenn man <strong>einer</strong> <strong>Frau</strong> sagt, dass sie schön<br />

sei, sagt sie einfach 'Danke'.“ „Danke, <strong>Frau</strong> Stein,“ reagierte er immer noch mit<br />

rötlichem Gesicht lächelnd, „ich konnte ja nicht ahnen, dass sie mich damit<br />

reinlegen würden, als ich ihnen das so leichtfertig zugesagt habe. Ich werde<br />

mir bei ihnen demnächst doch besser überlegen müssen, was ich sage.“<br />

Ich mochte ihn. Mir gefiel sein freundliches, natürliches Wesen. Er konnte immer<br />

lachen, oder ironisch witzig sein. Er liebte es, lustig provozierend herauszufordern.<br />

Er war als Lehrer ein bunter, 'normaler' erwachsener Mann geblieben,<br />

obwohl er in seinem Beruf stets nur mit kleinen Kindern zu tun hatte. Ob<br />

er sich wohl mit s<strong>einer</strong> Persönlichkeit selbst auseinander setzte, und sich bewusst<br />

so verhielt, oder ob es einfach so seine unreflektierte selbstverständliche<br />

Art war? Ob er sich durch alle Zwänge und Pressionen in seinem bisherigen Leben<br />

nicht hatte verbiegen und verhärten lassen, und immer locker und natürlich<br />

hatte bleiben können? Was ihm seine Eltern wohl vermittelt hatten. Er<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 11 von 209


zeigte k<strong>einer</strong>lei Zwang, sich selbst etwas beweisen zu müssen. Seine Mutter<br />

hatte ihn mit Sicherheit nicht zur Schnecke gemacht. Ich glaube eher, dass sie<br />

ihm viel Liebe gegeben haben wird, die ihm Selbstvertrauen und sensible Empfindsamkeit<br />

vermittelte. Er gefiel mir sehr. Er war kein Adonis, das hätte mich<br />

glaube ich, auch eher gestört oder abgestoßen, trotzdem empfand ich ihn als<br />

schön. Es erfreute mich, ihn anzuschauen. Seine Augen und sein lächelnder<br />

Mund, strahlten eine Schönheit aus, die jeder empfinden konnte, die aber von<br />

den Augen des Betrachters nach gängigen Schönheitsidealen nicht zu taxieren<br />

waren. Nur zu gern hätt' ich mal gewusst, wie er sich wohl verhielt, wenn er<br />

zärtlich zu s<strong>einer</strong> <strong>Frau</strong> war.<br />

Ralf und <strong>Ruth</strong><br />

Es wurde selbstverständlich, dass wir mittags bei Alyssias Schulschluss ein wenig<br />

scherzten, und uns beiden, sowohl Herrn Lahrmann als auch mir, gefiel es<br />

offensichtlich. Manchmal sprachen wir aber auch über ernstere Angelegenheiten,<br />

z. B. warum gerade dies oder jenes für Kinder in Alyssias Alter wichtig sei,<br />

oder wir sprachen über Privates, z. B. warum ich darauf bestanden hätte, das<br />

Alys diesen Namen bekam. Dass es sich bei Herrn Lahrmann nicht nur um eine<br />

neutrale Person handelte, die ich sympathisch fand, und mit der ich mich gern<br />

traf, sondern um einen Mann, der mir als solcher gefiel, war für mich ausgeschlossen.<br />

Dadurch, dass es jeden Mittag kurz etwas zu besprechen, einige<br />

Worte zu wechseln gab, wurde die Gesprächsatmosphäre immer selbstverständlicher<br />

und offener. Ich hätte gesagt, es sei angenehm, wie mit <strong>einer</strong> guten<br />

Freundin zu reden und zu scherzen. Alyssia war immer die letzte ihrer<br />

Klasse, die das Schulgebäude verließ.<br />

Unser mittägliches Gespräch war schon seit 1½ Jahren zum festen Ritual und<br />

mittlerweile recht persönlich und vertraulich geworden. Als ich einmal Alyssia<br />

abholen wollte, erklärte ich Herrn Lahrmann:“Also ich empfinde das irgendwie<br />

kurios, seit mehr als 1½ Jahren unterhalten wir uns hier jeden Mittag, und reden<br />

uns immer noch mit Herr Lahrmann und <strong>Frau</strong> Stein an, mir kommt das etwas<br />

pervers vor. Mit Kollegen in der Behörde die ich viel, viel weniger kenne,<br />

duze ich mich selbstverständlich. Ich finde, wir sollten das auch tun. Ich würde<br />

mich von dir lieber als <strong>Ruth</strong> anreden lassen, und du?“ Es schien ihm einiges<br />

durch den Kopf zu laufen, aber dann sagte er: „Ich finde das auch gut, dann<br />

bin ich für die <strong>Ruth</strong> der Ralf.“ wir gaben uns die Hand und lächelten uns gegenseitig<br />

an.<br />

<strong>Ruth</strong> aus Moabit<br />

Einige Tage später sagte Ralf lächelnd, als ich rein kam: „Da kommt <strong>Ruth</strong>, die<br />

Moabiterin“ auf mein erstaunt fragendes Gesicht erklärte er: „Ja kennst du das<br />

nicht „<strong>Ruth</strong> aus Moabit“, seht in der Bibel. Da gibt es ein ganzes Buch <strong>Ruth</strong>.“<br />

Genaueres wusste er aber auch nicht. „Ich habe von der Bibel und so etwas<br />

Ähnlichem überhaupt keine Ahnung. Da kenne ich nur so, was jeder weiß,<br />

Adam und Eva und Moses und Vater Abraham.“ Ralf schüttete sich vor Lachen<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 12 von 209


und kam gar nicht wieder zu sich. „Hör auf! Sag worüber du lachst! Ich will es<br />

wissen.“Vater Abraham.“ prustete und lachte er wieder. Vater Abraham und die<br />

Schlümpfe, das sei mal ein ganz saudämlicher Schlager gewesen. Als er mir<br />

das näher erläuterte, und mir etwas davon vorsang, kamen mir auch dunkle<br />

Erinnerungen. Ich war mir sicher, dass es mit Abraham etwas auch in der Bibel<br />

gab. Ja, meinte Ralf, den gäbe es auch, und der sei sogar sehr bedeutend. Er<br />

stehe unter anderem als Sinnbild für das Ende von Menschenopfern, aber wenn<br />

ich Vater Abraham sage, würden alle immer an diesen dämlichen Schlager<br />

denken. „Na, wenn der Herr Lehrer das sagt, dann muss ich das ja wohl<br />

glauben. Für Alyssia ist das, was du sagst ja auch immer Gottes Wort. Da hat<br />

ihre Mutter nicht den Hauch <strong>einer</strong> Chance.“ reagierte ich. Plötzlich drückte Ralf<br />

mir einen Kuss auf die Stirn. „Was war das denn?“ wollte ich erstaunt wissen.<br />

„Ja, du hast mir doch gesagt, ich solle Komplimente einfach dankend<br />

annehmen.“ Ich lächelte ihn noch schelmisch an, und verließ mit Alyssia die<br />

Schule.<br />

Das kurze Gespräch mit Ralf war zu <strong>einer</strong> festen Position in meinem Tagesablauf<br />

geworden. So sehr ich mich auf die Begegnung mit m<strong>einer</strong> Tochter freute,<br />

so sehr freute ich mich auf die wenigen Worte mit Ralf. Ich überlegte oft schon<br />

Nachmittags oder Abends, womit ich ihn am nächsten Tag überraschen konnte.<br />

Ich mochte ihn sehr, er gefiel mir sehr gut. Nur die Bedeutung, wie eine gute<br />

Freundin, so war es nicht mehr, so konnte ich es mir selber auch nicht mehr<br />

einreden. Dass es mal mehr werden könnte, darüber brauchte ich nicht lange<br />

nachzudenken. Er war seit zwei Jahren verheiratet mit <strong>einer</strong> <strong>Frau</strong>, die acht<br />

Jahre jünger war als er, und sie hatten ein zweijähriges Kind. Für mich war es<br />

auch undenkbar, leichtfertig etwas zu riskieren, das unsere Position gefährden<br />

könnte.<br />

„Hör mal Herr Lehrer!“ feixte ich ihn am nächsten Tag an, „Mit den Bibelkenntnissen,<br />

da steht es ja wohl auch nicht zum Besten. Das war die <strong>Ruth</strong> aus Moab<br />

und nicht die <strong>Ruth</strong> aus Berlin-Moabit. Oh je, oh je! Und weißt du was die gesagt<br />

hat“ ich kam mit meinem Kopf näher zu ihm, als ob ich ihm ein Geheimnis<br />

verraten wollte: „'Wohin du gehst, dahin will auch ich gehen, und wo du<br />

bleibst, da bleibe auch ich.' Allerdings nicht zu ihrem Liebsten, sondern zu ihrer<br />

Schwiegermutter. Und David und Jesus, die wirst du Bibelforscher ja wohl auch<br />

kennen, die stammen von dieser <strong>Frau</strong> ab. Also ein wenig mehr Respekt vor den<br />

<strong>Ruth</strong>s bitte, ja!“ „Hab ich je gesagt, das Lehrer nicht mehr lernen können?“<br />

antwortete Ralf, “Ich freu' mich immer, wenn ich von dir etwas lernen kann.<br />

Vielleicht könnten wir daraus ja mal ein Projekt machen. 'Lehrer lernen von Eltern!<br />

Heute das Buch <strong>Ruth</strong>'“ „Als Lehrer bist du viel zu frech.“ verabschiedete<br />

ich mich zu der auf dem Flur wartenden Alyssia.<br />

Situationen klären<br />

Nach einiger Zeit meinte Ralf, wir müssten mal dringend etwas Persönliches<br />

besprechen. Alyssia wurde gebeten, ein wenig auf dem Flur zu warten. „<strong>Ruth</strong>,<br />

im Kollegium tuschelt man schon über uns.“ fing Ralf an, „Ich bin glücklich verheiratet,<br />

und habe ein kleines Kind, und ich möchte auch, dass das so bleibt.“<br />

„Ich weiß.“ antwortete ich ihm, „ich auch. Tun wir etwas, damit das nicht so<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 13 von 209


leibt? Mittags 5 Minuten miteinander reden, zerstört das deine Ehe? Wenn ich<br />

zu Hause ankomme, existiert für mich nur noch Alyssia. Ralf Lahrmann ist<br />

dann längst vergessen.“ Ralf machte ein bekümmertes unzufriedenes Gesicht.<br />

„Was willst du denn?“ fuhr ich energischer fort, „Willst du mich nicht mehr sehen?<br />

Magst du mich nicht mehr? Gefallen dir unsere Gespräche nicht mehr?<br />

Nur damit deine Kollegen nichts zu tuscheln haben. Wenn das so ist, dann lege<br />

ich allerdings auch überhaupt keinen Wert darauf. Dann warte ich mit Sicherheit<br />

viel lieber draußen vor der Schule.“ Wir standen auf, und Ralf umarmte<br />

mich. „Entschuldigung, du hast Recht, <strong>Ruth</strong>, es tut mir leid, dass ich das nicht<br />

selber gesehen habe. Vergiss es, wenn's geht.“ Was ich sagte war selbstverständlich<br />

gelogen, und mir selber derartiges einzureden, hatte ich auch schon<br />

längst aufgeben müssen. Meine Augen übernahmen oft die Dominanz beim koordinierten<br />

Agieren der Sinne während unserer Treffen. Während Ralf etwas<br />

sagte, fragten sie, wie es sich wohl anfühlen würde, die Haut s<strong>einer</strong> Hand, die<br />

auf dem Pult lag, zu berühren, oder wenn die Spitzen von Daumen, Mittel- und<br />

Ringfinger bei <strong>einer</strong> Gestik zusammengelegt mir nahe kamen, fragten die Augen,<br />

ob sie nicht noch näher kommen könnten, und mit ihren Kuppen die Haut<br />

an meinem Hals und meinem Gesicht befühlen könnte? Meine Augen blickten<br />

anders, und zu dem, was sie sahen und welche Fragen sich ihnen stellten, vermittelten<br />

sie auch eine Information an die Muskeln um meinen Mund. Sie<br />

brachten meine Lippen in eine Position, die bereit war zum Lächeln, aus der<br />

sich aber auch leicht eine Form zum Küssen entwickeln konnte, nur wenn ich<br />

etwas sagen wollte, musste ich einmal schlucken. Auch meine Ohren, die ja<br />

nichts anderes hörten als sonst auch, schienen trotzdem mehr und anderes<br />

wahrzunehmen. Ich war der Ansicht, alles seien meine Eindrücke, und sie würde<br />

nur mir bewusst, an Ralfs Reaktionen und seinen Blicken, war mir aber<br />

deutlich, dass er meine allmählichen Veränderungen bemerkt, und vielleicht in<br />

ähnlicher Weise für sich mitvollzogen hatte.<br />

Dass Ralf etwas anderes, als das Getuschel der Kollegen ansprechen wollte,<br />

war mir klar, doch ebenso klar war mir, dass ich das nicht hören wollte. Ich log,<br />

und reagierte heftig, um das zu verhindern.<br />

Scène d'amour mit Elternsprechtag<br />

Es blieb also alles beim Alten. Fast, denn durch unser kurzes Gespräch hatten<br />

die mittäglichen Treffen eine zusätzliche Sanktionierung erhalten. Wir hatten<br />

uns gegenseitig bestätigt, dass unsere Kurzgespräche keinen Einfluss auf unsere<br />

Beziehungen haben würden, obwohl wir beide wussten, dass es anders<br />

war. Dass Ralf mir geglaubt hat, ich habe ihn vergessen, wenn ich zu Hause<br />

sei, glaube ich kaum. Er konnte mir aber auch nicht beweisen, dass ich beim<br />

Einschlafen von ihm träumte, und der Satinbezug des Kopfkissens seine Haut<br />

symbolisierte. Als übliche Gespräche waren unsere Mittagsmeetings kaum noch<br />

zu bezeichnen, sie glichen immer mehr kleinen Scènes d'amour, zwar ohne<br />

Umarmung und Küssen, und es fehlten auch die eindeutigen Benennungen und<br />

Wörter, die in diesen Szenen gebräuchlich sind, aber der Austausch der Emotionen<br />

wurde dadurch in nichts behindert. Wir wollten es auch immer noch keinesfalls<br />

so verstanden wissen. Trotzdem war Ralf besonders gern abends bei<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 14 von 209


mir zu Gast in meinen Gedanken, und im Bett hatte er eigentlich schon lange<br />

einen Stammplatz. Ein wohliges Prickeln durchzog mich, wenn ich mich an seinen<br />

imaginären Körper kuschelte.<br />

Beim nächsten Elternsprechtag saßen wir beide uns an einem kleinen Schultisch<br />

gegenüber. Wir blickten uns spöttisch lächelnd an, und Ralf begann formelhaft<br />

etwas von Alyssia vorzutragen. „Ralf, hörst du mal bitte auf, so einen<br />

Stuss zu reden!“ stoppte ich ihn. „Was sollen wir denn machen?“ fragte er hilflos.<br />

Ich war aufgestanden, zu ihm rüber gegangen und forderte ihn auf: „Steh<br />

bitte auf, so kann man doch nicht sitzen.“ Wir standen uns direkt gegenüber,<br />

und sahen uns in die Augen. „Weißt du was der Schülerin Alyssia Stein am aller<br />

besten helfen wird, wenn du jetzt sofort und unverzüglich ihre Mutter küsst.“<br />

erklärte ich. Er atmete tief, schaute mich mit großen Augen an, und zog mich<br />

zu sich. Obwohl ich es für mein offizielles Selbstverständnis immer abgestritten<br />

hätte, aber jetzt ging für mich ein kl<strong>einer</strong> Traum in Erfüllung. Ich presste mich<br />

an ihn, und rieb mich an seinem Körper. Ralf begann an m<strong>einer</strong> Bluse zu fummeln.<br />

Ich wehrte ab. „Küssen, nicht ausziehen!“ erklärte ich, obwohl ich nach<br />

meinem Empfinden eigentlich nichts dagegen, wahrscheinlich sogar nicht lieber<br />

gehabt hätte. Aber die Vorstellungen von Klassenraum und Elternsprechtag<br />

konnten sich glücklicherweise gegen jedwede Ausgestaltung m<strong>einer</strong> Empfindungen<br />

behaupten. Ich stoppte Ralf, weil ich befürchtete, dass vielleicht die<br />

nächsten Eltern reinkommen würden. Er schaute auf die Uhr und meinte: „Oh<br />

ja!“. Fast die gesamte Sprechzeit hatten wir geknutscht. Zum Glück hatten sich<br />

die nächsten Eltern aber brav wartend auf die Stühle im Flur gesetzt. Obwohl<br />

ich schnell einiges zu ordnen versucht hatte, kam ich mir noch ziemlich<br />

verwüstet vor. Ich versuchte möglichst schnell zum Wagen zu gelangen, und<br />

im Autospiegel einiges Weitere wieder in Ordnung zu bringen. Auf der<br />

Rückfahrt überlegte ich, wann ich wohl so leidenschaftlich geküsst hatte, und<br />

geküsst worden war. Von einem Freund in der Schule war mir als Erinnerung<br />

hängen geblieben, dass wir lange und viel geknutscht hatten, aber Näheres<br />

wusste ich gar nicht mehr. Bei Torsten kam es mir immer wie ein kleines<br />

Pflichtprogramm vor. Er sagte es nicht, aber ich merkte es, dass er nicht mehr<br />

wollte. „Und was hat Herr Lahrmann gesagt?“ wollte Alyssia wissen. Ich stellte<br />

mir die Situation vor, wenn ich ihr gesagt hätte, wie's wirklich gewesen war,<br />

und musste lächeln. Wir hätten gar nicht viel über sie geredet, weil wir das ja<br />

jeden Tag könnten, erklärte ich, und schnitt dann schnell ein anderes Thema<br />

an. Gern hätte ich ihr das Glück vermittelt, das dieser Elternsprechtag ihrer<br />

Mutter geschenkt hatte. Sie war ja Ralfs Schülerin. Ihr war dieser Termin ja zu<br />

verdanken.<br />

Wie weiter<br />

Ich wollte das wieder, nochmal und nicht erst am nächsten Elternsprechtag.<br />

Aber wie und wo? Dieses Versteck spielen und Tricksen und Lügen, ich hasste<br />

so etwas eigentlich, aber wie anders sollte man es arrangieren. Ich hätte sicher<br />

einiges leichter umdisponieren können, aber bei Ralf kannte ich mich ja überhaupt<br />

nicht aus. Vielleicht hatte er einen Sport-Club oder regelmäßigen Fitness-Termin,<br />

den er mal für etwas anderes nutzen konnte, und seine <strong>Frau</strong> er-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 15 von 209


führe dann zufällig, dass er gar nicht dort gewesen sei. Widerlich diese Vorstellungen.<br />

Ich wollte mit so etwas nichts zu tun haben. Aber wie sonst? Ich war<br />

ratlos. Wollte ich das Verbotene anständig geregelt haben? Ich wusste nur,<br />

dass ich auf diesen Mann nicht verzichten wollte.<br />

Am nächsten Tag in der Schule erklärte ich ihm: „Raahalf, ich will das nochmal.“<br />

Er schaute mich mit tiefem leicht wehmütigem Blick an, strich mir mit<br />

der Oberseite s<strong>einer</strong> Finger vorn am Haar entlang und fragte: „<strong>Ruth</strong>, was machen<br />

wir eigentlich? Ich kann das von mir aus nicht mehr stoppen. Ich habe<br />

Lust auf dich, ich spüre ständig dieses Verlangen, ich träume von dir, ich will<br />

dich. Ich weiß nicht was ich tun soll, und wie ich damit umgehen soll. Es ist<br />

nicht dadurch zur Seite zu drängen, dass ich mir vorsage, 'Ich liebe Britta.',<br />

und dass ich unsere Situation nicht zerstören will. Es ist trotzdem immer da. Es<br />

ist einfach so, dass du mich total verhext hast, <strong>Frau</strong> Stein.“ „Ralf, müssten wir<br />

nicht mal anderswo etwas länger ungestört reden. Wir könnten ja ein wenig<br />

raus fahren in ein Café außerhalb. Da sieht dich dann k<strong>einer</strong> von deinen<br />

Kollegen. Mach du doch einen Vorschlag, wie du es am Besten geregelt<br />

bekommst. Für mich ist das kein Problem.“ Ralf war einverstanden. Wir wollten<br />

uns in einem Landgasthaus außerhalb treffen.<br />

Treffen im Landgasthaus<br />

Es war wundervoll, auf einem Rokoko-Sofa eng aneinander gerückt miteinander<br />

reden zu können. Wir, die uns sonst nicht berühren durften, konnten die<br />

Wärme und Bewegung des Körpers des anderen spüren. Wie zwei Magnetpole,<br />

die endlich nicht länger auseinander gehalten wurden. Wir strahlten uns an,<br />

und legten die Arme auf die Schultern des anderen. Wie Kinder freuten wir<br />

uns, ganz simple Alltäglichkeiten für uns neu ausprobieren zu können. Wenn<br />

wir zum Beispiel unsere Hände aufeinander legten, strahlten unsere Augen sich<br />

an, als ob wieder eine kleine Ungeheuerlichkeit passiert wäre, und unsere Lippen<br />

suchten einander zum glücklichen gegenseitigen Berühren und Küssen. Die<br />

lange zwanghafte Distanz, machte jede Art der Berührung des anderen zu einem<br />

neuen Erlebnis. Die hastige Kussekstase während des Elternsprechtages<br />

war bedeutungslos für das zärtliche Entdecken des anderen.<br />

„Ralf, was du in der Schule gesagt hast, war sehr schön für mich. Es hat mir<br />

sehr gut gefallen, und mich gefreut. Du hast von dir gesprochen, aber für mich<br />

war es ein großartiges Kompliment.“ begann ich und Ralf schien zu überlegen,<br />

was er denn eigentlich in der Schule gesagt hatte. „Es ist für eine <strong>Frau</strong> ein sehr<br />

schönes Gefühl, begehrt zu werden, das zu hören, verspüren zu können, und<br />

nicht einfach jemand zu sein, der die selbstverständliche Rolle des Partner erfüllt.<br />

Es macht mir Lust, wenn du mir sagst, dass du mich willst, und von mir<br />

träumst. Aber wenn das ehrlich ist, bedeutet es mehr, als nur mal eben in <strong>einer</strong><br />

Absteige miteinander ficken zu wollen. Was ich will, ist auch und sogar vor<br />

allem der Ralf, den ich jetzt seit Jahren kenne. Ich möchte mehr mit ihm reden<br />

als mittags vier Sätze, ich möchte mehr mit ihm erleben, als an einem Lehrerpult<br />

zu stehen. Der Inhalt unserer Gespräche, und wie wir aufeinander reagiert<br />

haben, hat mein Interesse an d<strong>einer</strong> Person geweckt, und die ich, je näher ich<br />

sie kennen lernte, immer mehr lieben gelernt habe. Ich habe gar nicht ge-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 16 von 209


merkt, worauf ich mich einließ, und habe mich immer mit den vier Sätzen am<br />

Mittag vor mir selbst getäuscht. Unsere kurzen Gespräche haben für mich eine<br />

neue Welt eröffnet, die ich bislang nicht kannte. Wie wir miteinander kommuniziert<br />

haben, uns ausgetauscht haben, uns begegnet sind, hat mir Freude gemacht,<br />

und mich glücklich sein lassen. Ich habe mit dir ohne Sex erkannt, dass<br />

es auch eine ganz andere Art von Beziehung zwischen Mann und <strong>Frau</strong> geben<br />

kann, auf die ich nicht mehr verzichten möchte.“ Ralf schaute mich tief an,<br />

streichelte über mein Haar und befühlte mit seinen Fingerspitzen mein Gesicht.<br />

„Ich habe das schon damals gemerkt, <strong>Ruth</strong>,“ antwortete er „als ich dich mit<br />

dem Getuschel im Kollegium angesprochen habe. Das Kollegium war mir eigentlich<br />

schnurtz, das war so eine Eröffnungsformel, worum es mir eigentlich<br />

ging, konnte ich nicht sagen, es war, dass ich sich etwas in mir sich entwickeln<br />

fühlte, dass nicht parallel zu m<strong>einer</strong> derzeitigen Situation existieren konnte,<br />

dass ich dich sehr mochte, dass ich in der letzten Stunde häufig auf die Uhr<br />

schaute, und es nicht abwarten konnte, dass du kamst. Als du mal krank<br />

warst, und eure Haushaltsfrau kam, hat mir das den Rest des Tages verdorben.<br />

Ich selber bin krank zur Schule gekommen, nur um dich mittags kurz sehen zu<br />

können. Ich merkte, dass ich mich in dich verliebt hatte, und nicht nur rituell<br />

täglich einige Worte mit dir wechselte.“ „Ich weiß gar nicht, wann das in mir<br />

angefangen hat, weil ich es ja auch immer zu verdrängen versucht, und vor<br />

mir selbst abgestritten habe. Ich weiß nur, dass es mir damals sehr gut gefallen<br />

hat, dich meinen Namen sagen zu hören. Wenn du <strong>Ruth</strong> sagtet, wirkte es<br />

auf mich immer, wie ein emotionaler Kuss, als wenn du jedes Mal gesagt hättest:<br />

'<strong>Ruth</strong>, ich liebe dich.'“ bemerkt ich dazu „Nur jetzt stehen wir vor einem<br />

Dilemma. Ich will und werde dich nicht aufgeben. Das ist mein Leben, Ralf,<br />

mein Leben mit dir, das will ich leben, und nicht verlieren, aber ich kann mir<br />

gar nicht ausmalen, was dann aus mir wird. Und für dich, wie sieht es da aus,<br />

du wirst dich einfach entscheiden können? Doch auch wohl kaum.“ „Einfach,“<br />

Ralf verzog seinen Mund zu einem gequälten Lächeln, „einfach entscheiden,<br />

das hätte ich gerne. Selbstverständlich kann und werde ich nicht auf dich verzichten.<br />

Nur die leidtragende ist Britta, die mich liebt und verehrt, und die<br />

nichts zu der Entwicklung beigetragen hat, und nichts dazu beitragen konnte,<br />

sie zu verhindern. Es bricht mir das Herz, wenn ich mir nur die Situation vorzustellen<br />

versuche, in der ich es ihr sagen müsste.“ antwortete Ralf. So redeten,<br />

streichelten und küssten wir uns bei Kaffee und Kuchen noch eine Weile und<br />

beschlossen, uns auf diese Weise noch mal wieder zu treffen.<br />

Auch beim nächsten mal waren wir Gott sei Dank wieder allein. Für mich war<br />

es ja viel riskanter als für Ralf. Ich musste ja immer damit rechnen, dass <strong>einer</strong><br />

aus der Branche vorbeikam, der mich mal bei irgendeinem Empfang oder auf<br />

irgendeinem Foto gesehen hatte, sich erinnerte und die <strong>Frau</strong> Stein mit einem<br />

jungen Mann schmusend im Café sah. Vielleicht gar nicht schlecht, dann hätte<br />

es Torsten so mit Sicherheit erfahren, aber ich würde ihm das schon lieber selber<br />

sagen. Wir waren nämlich zu dem Schluss gekommen, dass es keine Alternative<br />

gebe, und wir es beide durchstehen wollten. Wir hatten schon ausgerechnet,<br />

wie viel Geld wir haben würden, und dass ich auf keinen Fall des Geldes<br />

wegen meine Stundenzahl erhöhen würde, denn es ging mir ja darum,<br />

dass ich mit Alyssia zusammen sein konnte, und nicht darum, dass ich sie gut<br />

versorgt wusste. Wir hatten schon überlegt, wie viel Geld wir maximal für eine<br />

Wohnung ausgeben könnten, und dass dafür sicher etwas Passables zu finden<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 17 von 209


sei. Wir fingen auch an über alles andere zu spinnen, und freuten uns richtig<br />

auf die kleine kuschelige Family. Ralf meinte: „Ruht, ich möchte so gern mal<br />

mit dir zusammen sein. Wir planen hier unser zukünftiges Family-Life und waren<br />

noch nie zusammen im Bett.“ „Was möchte ich denn lieber, mein Süßer?“<br />

antwortete ich ihm, „Und ich habe auch schon ganz viel überlegt, wie das möglichen<br />

zu machen wäre, aber es war letztlich alles unbrauchbar, und so an einem<br />

Nachmittag für ein paar Stunden ins Hotel, das gefällt mir nicht. Wenn dir<br />

etwas einfällt, würde mich das freuen.“<br />

Schulrechts Fortbildung<br />

Eines Mittags fragte Torsten mich, ob ich nicht Lust hätte, gemeinsam zu <strong>einer</strong><br />

Fortbildung zu fahren. Bei der Fortbildung handele es sich um Schulrecht, und<br />

da könnten sich nicht nur Lehrer anmelden, sondern sie sei offen für alle Beamten.<br />

Schulrecht sei zwar das Letzte, wofür er sich interessiere, aber er habe<br />

eben die Möglichkeit gesehen, dass ich mich da ja auch anmelden könne. Ich<br />

überlegte. Zu Hause würde Fortbildung reichen, aber in der Behörde, ich musst<br />

ja Sonderurlaub beantragen, und dann für Schulrecht, wie sollte ich das denn<br />

begründen. Ich wolle mich auf eine Stelle in der Schulbehörde bewerben? Die<br />

würden sich ja alle schief lachen, und dann auch noch mit so fundamentalen<br />

Themen, die gerade mal für die Schülervertretung reichten. Ich hab dann auf<br />

das Formular geschrieben. „Interesse an nicht fachspezifischen Rechtsgebieten“,<br />

den Leiter bei der Genehmigung angerufen, und ihm von einem persönlichen<br />

Problem berichtet. Seit dem ich <strong>Frau</strong> Stein bin, legt jeder Wert darauf, mir<br />

bei Problemen, besonders den persönlichen zu helfen. Ich hab' ihm dann im<br />

Vertrauen gesagt, dass ich jetzt in der Elternvertretung an der Schule m<strong>einer</strong><br />

Tochter sei, und als Juristin keinen blassen Schimmer von Schulrecht habe,<br />

und es ja so leicht zu peinlichen Situationen kommen könne. Aber das habe ich<br />

ja nicht als Fortbildungsbedarf nennen können. Das sei völlig in Ordnung was<br />

ich geschrieben habe, und das könne er auch vertreten. Etwas anderes habe er<br />

gar nicht gehört. Ich hätte ja auch reinschreiben können, ich wolle endlich mal<br />

dazu kommen, mit meinem Freund zu ficken. Darin hätte er wahrscheinlich<br />

eher nicht so großen zusätzlichen Erkenntnisgewinn für die Behörde gesehen.<br />

Das Tagungsbett<br />

Von dem Tagungshaus gab es zwar ganz nette Fotos, aber dass gar keine Zimmer<br />

abgebildet waren, ist uns überhaupt nicht aufgefallen. Als wir die Zimmer<br />

sahen, meinte Ralf, dass Jugendherbergen heute besser ausgestattet seien.<br />

Und gerade die Betten. Wie Kinderbetten aus den 50 er Jahren, zu kurz, zu<br />

schmal und dann ziemlich hohe Bretter an den Seiten. Ich konnte gleichzeitig<br />

heulen und lachen. Es war ja furchtbar traurig, aber andererseits auch voller<br />

Ironie. Da hatten wir's trotz allen Widrigkeiten geschafft, uns ein paar schöne<br />

Nächte im Bett zu organisieren, und dann waren gerade die Betten das Unbrauchbarste<br />

in dieser ganzen Tagungsklitsche. Wir mussten uns natürlich erstmal<br />

um den Hals fallen, und da es kein Klassenraum war, und draußen keine<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 18 von 209


Eltern warteten, gab es keinen Grund, es nur beim Küssen zu belassen. Jetzt<br />

hatte ich überhaupt nichts dagegen, das Ralf mir die Bluse aus der Hose zog,<br />

und ich seine Hände auf der Haut meines Rückens spüren konnte. Meine vom<br />

BH befreiten Brüste wollten nicht nur Ralfs Hände, sondern auch seine Brust<br />

spüren. Unter ständigem Küssen befreiten wir gegenseitig unsere Körper nach<br />

und nach von den einzelnen Teilen, die sie umhüllten. Als nichts mehr verhüllt<br />

war, atmete ich schon intensiv. Ich nahm Ralfs Kopf zwischen meine Hände,<br />

schaute ihn an, schlang meine Arme wieder um seinen Hals, und ließ mich mit<br />

ihm nach hinten auf das Bett fallen. Ralf wollte mit seinem Mund liebkosend an<br />

meinem Körper runter. Ich wollte ihn, sein Gesicht, das Abbild s<strong>einer</strong> Person<br />

nicht verlieren. „Bleib bei mir!“ sagte ich, und hielt seinen Kopf fest. Ich wollte<br />

seine Augen sehen, seine Lippen und seine Zunge an meinen spüren. Erregt<br />

genug war ich schon längst, und unsere Finger waren ja sowieso teilweise dort.<br />

Ich wollte nicht mehr gestreichelt werden, ich musste Ralf erleben. Ein Drang,<br />

ein Verlangen hatte mich erfasst, wie es sonst so von mir gar nicht kannte.<br />

Gierig war ich, diesen Mann jetzt sofort zu erleben. So ein Mann, so können<br />

Männer also auch sein. Im Moment schien ich das Kinderbett gar nicht wahrzunehmen.<br />

Ich erlebte mich auch selbst völlig anders als sonst. Ich wusste gar<br />

nicht, wie gut es tun kann. Ich stöhnte oder schrie oft sehr laut. Ralf stockte<br />

und meinte, das sei durchs ganze Haus zu hören. Sonst war ich immer völlig<br />

stumm gewesen. Ich hätte nicht nur stöhnen, sonder auch vor Freude und<br />

Glück jubilieren oder weinen können. Ich wusste gar nicht oder gar nicht mehr,<br />

was es bedeuten konnte, und dass, was man mit dem gleichen Wort<br />

bezeichnet, so völlig verschieden sein kann. Ich konnte hinterher gar nicht<br />

aufhören Ralf vor Freude immer wieder an mich zu drücken und zu küssen.<br />

Trotz Folterbett war ich selig. Ich meinte immer, beim masturbieren auch einen<br />

Orgasmus gehabt zu haben, aber jetzt war ich mir nicht mehr ganz sicher. Vielleicht<br />

gab es ja hier auch große und Flush Versionen. Ralf lag halb neben mir<br />

und halb auf der Bettkante, hatte seinen Kopf auf den linken Arm gestützt und<br />

streichelte mir mit der anderen Hand sanft über den ganzen Körper: „Du bist<br />

wunderschön, <strong>Ruth</strong>.“ sinnierte er, „ich könnte dich stundenlang nur anschauen.“<br />

Das sei mir ein bisschen zu wenig, erklärte ich, und außerdem könne ich<br />

nicht mehr so lange hier liegen bleiben. Ich hatte ein Gefühl, als ob morgen<br />

meine sämtlichen Gliedmaßen von Konfrontationen mit den Bettbegrenzungen<br />

mit blauen Flecken übersät sein müssten, und mein Rückgrat sei mir von der<br />

Matratze an zwei Stellen gebrochen worden. Beim ersten Mal nehme man ja<br />

immer vieles in Kauf, aber nochmal mache ich das nicht mit. Ich sei mir sicher,<br />

dass es Häuser mit Betten gebe, in denen das Lieben wesentlich angenehmer<br />

sei, als in diesem Prokrustesbett. Ich würde uns jetzt ein Hotelzimmer suchen.<br />

Ralf möge mich bei Seminarbeginn entschuldigen, ich käme ein wenig später.<br />

Ich musste nur aufpassen, dass ich mir Bargeld besorgte oder von meinem privaten<br />

Girokonto bezahlte. Wenn Torsten zufällig feststellen sollte, dass in m<strong>einer</strong><br />

Fortbildungswoche unbekannte Hotelkosten abgebucht worden waren,<br />

würde das wahrscheinlich ein wenig unangenehm werden.<br />

Fortbildungsnächte<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 19 von 209


Wir fuhren direkt nach Seminarschluss ins Hotel, aßen auch dort zu Abend,<br />

nahmen noch eine Flasche Sekt mit aufs Zimmer, die wir aber gar nicht erst<br />

öffneten. Ich wollte diesen Mann Ralf und ich wollte diesen Körper. Ihn sehen<br />

und küssen, meinen Körper an ihm reiben, ihn alles spüren lassen, was er begehrte.<br />

Ihn an mich gepresst empfinden und mit meinen Händen greifen und<br />

krallen, und zwischendurch immer wieder küssen. Ich würde mich gern um ihn<br />

winden, wie eine paarende Schlange, jedes Körperteil an ihn drücken und immer<br />

wieder wälzen, mich aalen in der Empfindung seines Körpers. Ich wollte<br />

nicht schmusen, streicheln, säuseln, das war auch schön, aber nicht jetzt. Jetzt<br />

wollte ich meinem ekstatischen Verlangen folgen. Schweißnass war ich schon,<br />

bevor ich Ralf in mir spüren wollte. Ich war nicht mehr laut wie heute Nachmittag,<br />

aber es war für mich noch viel erregender, wilder und ausdauernder, als<br />

vorher. Alle Glücksgefühle dieser Welt schienen sich danach bei mir zu versammeln<br />

und meinen Körper empfand ich als so leicht, dass er schweben könnte.<br />

Ich reckte mich und schlang meine Arme ganz fest um meinen lieben, lieben<br />

Ralf. Ich konnte nicht aufhören, ihn selig anzustrahlen und immer wieder zu<br />

küssen. Ralf lag halb auf mir und ich merkte, wie ich wieder anfing, meine<br />

Brüste an ihm zu reiben. Ein unstillbares körperliches Verlangen, dass ich überhaupt<br />

nicht von mir kannte, hatte mich okkupiert. Von diesem Mann, den ich<br />

liebte, bei dem ich glücklich war, wenn ich mich mit ihm unterhalten und ihn<br />

anschauen konnte, den ich gern zärtlich berührte, wollte ich gierig in ständiger<br />

Erregung gehalten werden. Ob es das überwältigende Erlebnis des ersten Mals<br />

war, ob er in mir neue Dimensionen sexueller Begierden aufgetan hatte, der ob<br />

es eine für mich neue, unbekannte Welt war, die ich nicht wieder verlassen<br />

wollte, es blieb mir unklar. Ich hauchte Ralf lächelnd ein fragendes „Nochmal?“<br />

zu. Ralf lächelte und zog dabei die Augenbrauen hoch, als ob er sagen wolle:<br />

„Ich weiß nicht? Vielleicht.“. Es wurde wieder ein Kampf mit ausdauerndem<br />

Hochgefühl. Aber dann geschah alles eher wie in Trance. Ich konnte eigentlich<br />

gar nicht mehr, aber ich wollte nicht aufhören in orgiastischer Erregung immer<br />

noch mehr zu bekommen, als wenn diese Nacht die letzte Chance dazu böte.<br />

Ich kam mir vor, wie das Mädchen, das zum ersten mal in seinem Leben Eis<br />

bekommt, und nicht mehr aufhören kann zu essen, obwohl es sich schon<br />

längst übergeben musste.<br />

Mir war endgültig klar geworden, das es keinen anderen Mann für mich auf dieser<br />

Welt gab, als den, mit dem ich auch das erlebt hatte, und dass es nichts<br />

geben konnte, was mich daran hindern würde, Ralf für mich zu bekommen. Wir<br />

taten in der Woche alles, was in unseren Kräften stand, um morgens zu Seminarbeginn<br />

fix und fertig zu sein, und mit geräderten unausgeschlafenen Körpern<br />

in den Fortbildungssesseln zu hängen. So brauchten wir nicht den Vortragsinhalten<br />

zu lauschen und die Präsentationen aufzunehmen, weil unsere<br />

Sinne dazu gar nicht in der Lage waren, und alles wie ein Rauschen in fernen<br />

Räumen an ihnen vorbei lief. Die wichtigste Aufgabe bestand darin, sich selbst<br />

am Einschlafen zu hindern. Manchmal war es auch einfach unvermeidlich, dass<br />

<strong>einer</strong> für eine Stunde im Kinderbett verschwand, und der andere ihn dann<br />

weckte. Ich merkte, dass mich der permanente Schlafentzug immer zänkischer<br />

und aggressiver werden ließ. Und dann noch ständig dieses belanglose Schulrechtsgeschwafel,<br />

ich verspürte nicht wenig Lust, der Figur da vorne meine<br />

Kaffeetasse an den Kopf zu werfen, damit sie endlich die Klappe hielte. Am<br />

dritten Morgen saß ich nach dem Wecken weinend im Bett. „Ralf ich kann nicht<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 20 von 209


mehr. Das ist zu viel. Ich bin einfach tot. Ich komme nicht mit. Sag' ich sei<br />

krank.“ er kam zu mir, ich zog ihn runter und sagte bevor wir uns küssten: „Bin<br />

ich ja auch. Ich bin liebeskrank.“ „Ralf, wenn du gern möchtest, dass wir zusammen<br />

frühstücken, steh ich auf, aber ich würde auch gern direkt weiterschlafen.<br />

Als am Freitagvormittag das Seminar beendet wurde, sind wir ins Hotel<br />

gegangen, um ein paar Stunden zu schlafen. Beim Wachwerden sinnierten<br />

wir darüber, was sich in dieser Woche eigentlich für uns abgespielt hatte. Wir<br />

hatten nur gern mal in Ruhe miteinander ins Bett gewollt. Einmal sich gegenseitig<br />

erleben, die Haut den Körper des anderen erfahren. Die gierig orgiastischen<br />

Nächte, die wir uns fast zwanghaft verschaften, waren nicht vorhersehbar.<br />

Sie waren ein Rausch, in den wir geraten waren, und den wir zum Abschied<br />

noch einmal bekräftigen mussten. Am frühen Abend waren wir zu Hause.<br />

Für mich stand eindeutig fest, dass dies die anstrengendste und gleichzeitig<br />

wundervollste Woche in meinem gesamten Leben war.<br />

Wieder daheim<br />

Am Wochenende ging ich immer schon mit Alyssia ins Bett. Ich hätte eine ganze<br />

Woche Erholung gebrauchen können. Das wäre eine Vorstellung: Eine Woche<br />

wildes Leben, eine Woche Erholung, immer abwechselnd. Aber es könnte<br />

mich schon freuen, allein mit Ralf in Urlaub zu fahren, gemeinsam etwas unternehmen,<br />

etwas erkunden. Vierzehn Tage, das wäre für Alyssia und für mich<br />

das Limit.<br />

Am Montag in der Schule meinte ich: „Herr Lahrmann, ich muss mir das mit ihnen<br />

noch mal sehr genau überlegen, wenn sie das demnächst mit mir auch so<br />

machen, können sie mich spätesten nach ¾ Jahren zum Friedhof bringen.“ „Ja<br />

<strong>Frau</strong> Stein, ich wollte sie auch schon fragen, ob sich diese unersättliche Maßlosigkeit,<br />

diese nicht enden wollende Gier bei ihnen auch in anderen Lebensbereichen<br />

zeigt,“ reagierte Ralf „ich habe das ganze Wochenende nur geschlafen.<br />

Britta war ganz erstaunt.“ Wir verabschiedeten uns mit einem tief verständigenden<br />

Blick von verbündeten Geheimnisträgern, dem vertrauten Kuss eines<br />

alten Ehepaares, und strichen uns gegenseitig mit der Hand über die Wangen.<br />

„Mami, warum hast du Herrn Lahrmann geküsst?“ wollte Alys im Auto wissen.<br />

„Na ja, er ist ein netter Mensch, und wenn man sich schon so lange kennt wie<br />

wir, da kann man ja schon mal jemandem einen Kuss geben?“<br />

<strong>Ruth</strong> will klare Verhältnisse<br />

Mir ging das verrückte Bild von eben durch den Kopf. Da hatten wir eine ganze<br />

Woche lang gemeinsam jede Nacht bis zur totalen Erschöpfung das Bett durchwühlt<br />

und gefickt, und plötzlich war er wieder der Lehrer, bei dem die Mutter<br />

ihr Kind abholt. Ich wollte diese albernen Szenerien nicht mehr. Ich wollte den<br />

Mann, der Schauspieler, gefiel mir nicht mehr. Und ich wollte auch diese Rolle<br />

nicht mehr. Ich wollte nicht mehr spielen. Wir brauchten einen Termin, und das<br />

möglichst bald. Wir wollten es ja beide gleichzeitig den Partnern sagen. Für<br />

mich stand alles fest. Es gab kein Zurück. Mich konnte nichts halten.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 21 von 209


Am nächsten Tag in der Schule erklärte ich Ralf: „Ich will das nicht mehr weiter<br />

so. Ich kann das nicht mehr. Auch wenn wir immer weiter warten, ein Termin<br />

wird sich uns nicht aufdrängen. Lass uns lieber bald einen suchen.“ „<strong>Ruth</strong> ich<br />

weiß, was es für dich bedeutet, und was du opferst, und einfach für uns wegwirfst,<br />

aber du sagst es einem Mann, von dem du im Voraus weißt, dass der<br />

schon irgendwie damit klarkommen wird. <strong>Ruth</strong> ich habe Angst, ich muss eine<br />

liebe, nette, völlig unbeteiligte <strong>Frau</strong> ins Unglück stürzen, es bricht mir das<br />

Herz. Ich weiß nicht, wie ich das durchstehen soll, wie ich es aushalten soll,<br />

Britta unsere Absicht mittzuteilen.“ entgegnete Ralf. Ich vermittelte ihm, dass<br />

wir das eigentlich längst geklärt hätten, dass beides nebeneinander nicht existieren<br />

könne. Sich von Britta nicht trennen bedeute, es gibt keine <strong>Ruth</strong> für ihn,<br />

und er habe sich mehr als eindeutig für <strong>Ruth</strong> entschieden. Wenn's darum ginge,<br />

wie er ihr das am schonensten vermitteln könne, und was er tun könne,<br />

dass er es durchstehe, könnten wir uns ja nochmal im Café besprechen. Aber<br />

immer von einem Tag zum nächsten warten, und schauen, ob sich vielleicht<br />

mal irgend etwas entwickelt, das mache ich nicht mehr mit. Ich habe ihn schon<br />

vor mehr als einem Jahr verschlingen können, ich habe lange genug gewartet,<br />

ich habe vieles getan, und sei bereit auf vieles zu verzichten. Wenn er nicht sehen<br />

wolle, dass für ihn jetzt Handlungsbedarf bestehe, könne er mir gestohlen<br />

bleiben. „<strong>Ruth</strong>, bitte, <strong>Ruth</strong>“ reagierte Ralf mit ängstlichen Augen, und wir beschlossen<br />

noch einen Café-Termin. Wir sprachen für Ralf noch mal alles durch,<br />

und legten einen Termin fest, von dem ich sicher wusste, dass Torsten früh zu<br />

Hause sein würde, und Britta war sowieso daheim.<br />

Trennung von Torsten<br />

Ich hatte Torsten vorher noch informiert, dass wir etwas zu besprechen hätten,<br />

und er sich nicht kurzfristig für diesen Abend etwas annehmen dürfe.<br />

Als Alyssia im Bett war setzten wir uns in die Couch und ich sprach ihn an:<br />

„Torsten, ich muss dir etwas sagen, was dich sehr treffen wird, es wird dir weh<br />

tun. Aber es geht nicht anders, einen Ausweg gibt es nicht. Ich werde mich<br />

von dir trennen. Unsere gemeinsame Zeit ist vorbei.“ erklärte ich ihm.<br />

Torsten reagierte entsetzt: „Wieso? Warum? War denn was nicht in Ordnung?<br />

Hat etwas gefehlt? Du hast nie was gesagt.“<br />

Ich wollte es erklären:“ Torsten, Nichts hat gefehlt. Alles war richtig. Unsere<br />

Liebe war leer, und das weiß ich erst jetzt. Wo war dein Herz in der Zeit unserer<br />

Liebe? Bei mir war es nicht. Es gehörte den Häusern, der Firma. Da ist es<br />

immer geblieben. Bei mir war es nie, nicht wenn wir uns küssten, nicht wenn<br />

wir uns liebten. Teil deines Lebens war ich. Niemals das Zentrum. Deine Autos,<br />

deine <strong>Frau</strong>, das Ficken, alles korrekt erledigt. Niemand kann sich beschweren.<br />

Ich hab es auch nicht getan, weil ich's gar nicht bemerkte. Mir ging es ja gut,<br />

was sollt' ich beklagen? Mir fehlte ja nichts. Bis ich merkte, es gibt noch was<br />

anderes. Das Freude ausstrahlt, was dich erfasst. Was dich nicht loslässt, am<br />

Tag und in Träumen, das du nicht kanntest, das anfängt zu brennen. Du kannst<br />

es nicht löschen, auch wenn's dich verzehrt. Ohne Bedeutung sind die Dinge<br />

des Tages, ohne Wert aller Luxus, der dich umgibt. Du willst es behalten, es<br />

soll dir gehören. Dein Herz ist erfasst, lösen kannst du dich nicht. Es gibt kein<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 22 von 209


Zurück, selbst wenn du es wolltest. So ist das für mich. Ich liebe einen Mann,<br />

mit dem will ich leben. Ich will nur noch Ralf, den Lehrer von Alys.<br />

Was zwischen uns war, Torsten, es ist vorbei. Es ist mir zu wenig, es kann nicht<br />

mehr werden. Ich brauch' es nicht mehr. Auch wenn es dich schmerzt.“<br />

Nachdenklich schien es Torsten schon zu stimmen, aber es schien ihn auch cool<br />

zu lassen. „Was hat dieser Grundschullehrer denn, was ich nicht habe?“ wollte<br />

er wissen. „Er hat größer Ohren und kann schneller laufen als du.“ reagierte<br />

ich gereizt, „du hast nichts, aber auch gar nichts verstanden. Im Übrigen<br />

sprich nicht immer so despektierlich von 'diesem Grundschullehrer', wir lieben<br />

uns, falls ich's dir noch mal ausdrücklich sagen muss.“ „Entschuldige mal, da<br />

spannt mir <strong>einer</strong> die <strong>Frau</strong> aus, und ich soll ihn möglicherweise noch mit zärtlichen<br />

Kosenamen bedenken, ja, erwartest du das etwa von mir?“<br />

So sah er das, jemand hatte ihm seine <strong>Frau</strong> ausgespannt, trotz allem was ich<br />

ihm zu erklären versucht hatte, das war typisch mein Torsten. Das konnte ich,<br />

wenn es auch wahrscheinlich vergeblich war, nicht stehen lassen. „Ich muss dir<br />

das noch einmal deutlich sagen, niemand hat dir deine <strong>Frau</strong> ausgespannt. Deine<br />

<strong>Frau</strong> hat höchstpersönlich selber gemerkt, dass es trotz heiler Welt und Luxus<br />

etwas gibt, das du ihr nicht bietest, und was du vielleicht niemals verstehst.<br />

Ich hab es gefunden, und ich will es. Es gibt keinen Rivalen, der sich<br />

aus deinem Eigentum bedienen will.“<br />

„Für mich hört sich das an wie ein schaurig schönes Liebesmelodram. Hast du<br />

denn mal daran gedacht, was das in Zukunft für dich bedeutet, wenn du dir<br />

nicht mehr ein Collier aussuchen kannst, weil es dir besser gefällt, ohne vorher<br />

nach dem Preis zu fragen, sondern als halbe Regierungsrätin plus Grundschullehrer<br />

nach Sonderangeboten für Lebensmittel Ausschau halten musst. Wie<br />

lange es dauern wird, bis dich so etwas anfängt zu nerven, und sich die Sehnsucht<br />

nach deinem früheren sorglosen Leben langsam anfängt, vor das Bedürfnis<br />

nach dem mittlerweile alltäglich gewordenen Grundschullehrer zu schieben?<br />

Ob dann nicht Vorwürfe auftauchen könnten, vieles zu leichtfertig aufgegeben<br />

zu haben. Ob du dich nicht zurücksehnen wirst, wenn der realistische Alltag<br />

dominiert, und der alles ausblendende Liebesrausch sich gelegt hat?“<br />

Ich hatte mich ja selbst oft grübelnd damit gequält. Es war ja nicht unmöglich,<br />

dass meine Sucht, meine Gier nachlassen würden, dass es für mich alltäglich<br />

würde. Ich hielt es für sehr unwahrscheinlich. Ralf hatte für mich eine neu Dimension<br />

in meinem Leben erschlossen. Er hatte mich erkennen lassen, was es<br />

ist, was eine <strong>Frau</strong> von einem Mann will. Vielleicht wollen andere <strong>Frau</strong>en ja etwas<br />

anderes, aber für mich war es so. Ich wollte nicht nur befriedigt werden,<br />

ich brauchte sein Bedürfnis, seine Lust, sein Begehren nach mir, nach m<strong>einer</strong><br />

Person. Ich brauchte es, dass er sich auf und über mich freute, und Lust empfand<br />

mich glücklich zu machen. Seit ihm habe ich erst erfahren, dass Liebe,<br />

Lust und erotisches Bedürfnis wesentlich mehr sein kann, als die Lust mit einem<br />

netten Mann zu ficken. Ich empfand mich eingebunden im warmen vertrauensvollen<br />

Nest unserer Gemeinsamkeit. Und solange wir nicht verhungern<br />

müssten, gabt es für mich nichts, was darüber stand.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 23 von 209


„Torsten du redest mit mir, als wenn du Alys eine Schaudergeschichte erzählen<br />

wolltest. Selbst wenn Ralf mich einmal verlassen sollte, ein Zurück zu dir wird<br />

es nie geben, ich kann mir das gar nicht mehr wünschen. Du sprichst mit einem<br />

anderen Menschen. Die <strong>Ruth</strong>, die du kennengelernt und geheiratet hast,<br />

die bin ich nicht mehr. Ich mache dir gar keine Vorwürfe. Ich denke, du konntest<br />

vieles nicht erkennen, wie ich selber es ja auch nicht gesehen habe. Du<br />

warst immer korrekt, und ich dachte ja auch, dass ich glücklich sein müsste.<br />

Ich habe jetzt nur erkannt, wie wichtig etwas Anderes, ganz Emotionales für<br />

mein Leben ist, und wie falsch ich meine Gefühle bisher verstanden und fehl<br />

interpretiert habe. Ich glaube, das gilt für sehr viele Menschen. Für dich wäre<br />

das sicher auch nicht schlecht, mal zu überlegen, was das wohl für ein Torsten<br />

ist, der so begeistert von seinen tollen Projekten und großen Erfolgen erzählt,<br />

und der gar nicht merkt, dass seine <strong>Frau</strong>, die ihn ja sowieso bewundert, und<br />

ihn immer freundlich bestätigt, eigentlich viel lieber etwas ganz anders von ihm<br />

hören möchte.“<br />

Torsten war immer ganz ruhig geblieben, als wenn es ihn emotional kaum berühre.<br />

Vielleicht bedeutete es für ihn ja auch tatsächlich nicht mehr als eine<br />

lästiges Umorganisieren seines Privatbereichs. „Überlegen willst du dir das<br />

nicht nochmal?“ schaute er mich fragend an. „Ich habe es mir ganz oft und<br />

ganz lange überlegt, weil ich mir absolut sicher sein wollte, das Richtige zu<br />

tun. Es gibt kein Zurück, Torsten. Ich brauche es mir nicht noch einmal zu<br />

überlegen. Ich kenne das Ergebnis.“ machte ich deutlich.<br />

„Wo wollt ihr denn wohnen?“ fragte Torsten. „Lass uns so etwas bitte morgen<br />

klären,“ bat ich „dann können wir sicherlich nüchterner über Organisatorisches<br />

reden, und zu sinnvolleren Lösungen kommen als jetzt.“ Wahrscheinlich hätte<br />

er am liebsten sofort schon Verträge aufgesetzt und unterschrieben, damit er<br />

nach erfolgreicher Lösung der Probleme zufrieden schlafen konnte. So stellte<br />

ich ihn mir vor. Dieses Bild hatte sich immer schlimmer werdend in mir entwickelt,<br />

und meine Antipathien gegenüber Torstens Verhalten ständig zunehmen<br />

lassen. Die Dissonanzen zwischen uns wurden für mich immer eklatanter, während<br />

Torsten nichts davon zu bemerken schien.<br />

Heute Nacht konnte ich nicht mehr neben ihm im Bett liegen. Ich hätte es nicht<br />

ertragen, neben jemandem im Bett zu liegen, der nach all dem, was ich ihm<br />

erklärt hatte, zufrieden schlummernd seinen Schlaf genoss. Ich erklärte Torsten,<br />

dass ich heute Nacht allein schlafen müsse, und so blieb es auch fortan<br />

immer.<br />

The Day After<br />

Am nächsten Morgen klingelte das Telefon. Sylvia, Torstens Mutter rief mich im<br />

Büro an. Wir verstanden uns beide prächtig, und mochten uns gern. Ich freute<br />

mich immer sehr, wenn sie zu uns kam. Leider konnte sie meist nicht lange<br />

bleiben, da ihr Mann zu schusselig war, um alleine klar zu kommen. Ich sei die<br />

einzige <strong>Frau</strong> aus ihrem Bekanntenkreis, mit der man vernünftig reden könne,<br />

und zu dem mache es noch Spaß, hatte sie mir mal gesagt. Zwischen uns bei-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 24 von 209


den wurde es tatsächlich auch oft recht vertraulich und lustig, und wir hatten<br />

immer vieles, worüber wir gemeinsam lachen konnten. Durch unsere Gespräche<br />

hatten wir sehr viel übereinander erfahren, sie kannte mich sicher viel besser<br />

als Torsten. Sylvia stritt es zwar ab, dass sie lieber eine Tochter als einen<br />

Sohn gehabt hätte, als ich sie mal konkret danach fragte, aber ich glaube von<br />

m<strong>einer</strong> Mutter zu wissen, dass es für eine <strong>Frau</strong> ein sehr erfüllendes Empfinden<br />

sein kann, eine erwachsene Tochter zu haben, zu der sie ein tiefes vertrauensvolles<br />

Verhältnis hat. So behandelte mich Sylvia auch, als ob es zwischen uns<br />

keine irgendwie gearteten Distanzen mehr gebe.<br />

„Liebes, was ist passiert? Torsten hat mich vorhin angerufen, du willst dich von<br />

ihm trennen.“ vernahm ich ihre w<strong>einer</strong>lich klingende Stimme. „Keine Angst, ich<br />

werde dich nicht in d<strong>einer</strong> Entscheidung beeinflussen, ich möchte nur gern mit<br />

dir darüber sprechen. Warum hast du denn nicht schon früher mal etwas gesagt.<br />

Dieser dämliche Stiesel (damit meinte sie ihren Sohn). Ich wollte nicht<br />

am Telefon darüber sprechen, wann darf ich mal vorbei kommen.“ Sylvia<br />

schluckte immer zwischen den Sätzen, als wenn sie weinte, oder das Weinen<br />

zu unterdrücken versuchte. Ich bat sie, doch gleich heute Mittag zu kommen.<br />

Ich wolle zwar mit Torsten noch das Organisatorische klären, aber das ließe<br />

sich um einen Tag verschoben, sicher noch nüchterner regeln.<br />

Ihren Sohn hatte sie mir gegenüber immer trotz all seines großen beruflichen<br />

Erfolgs als ein wenig stieselig bezeichnet, das habe er von seinem Vater geerbt.<br />

Aber vielleicht sei das ja bei allen Männern so, sie sei der Ansicht, dass<br />

<strong>Frau</strong>en in der Regel sowieso eine umfänglichere Gesamtübersicht und einen<br />

besseren Blick für's Wesentliche hätten. Dass er mich geheiratet hätte, sei das<br />

Beste gewesen, was er bislang in seinem Leben getan hätte. Wir hatten gemeinsam<br />

darüber gelacht, und für mich war es auch wieder eine Bestätigung,<br />

wie sehr sie sich eigentlich eine liebevolle Tochter wünschte.<br />

Omi Sylvia regelt alles<br />

Als ich mit Alyssia nach Hause kam, war Sylvia schon da. Sie umarmte mich,<br />

drückte mich lange an sich, und fing dabei an zu weinen. „<strong>Ruth</strong>, meine Liebste,<br />

was hat er dir angetan?“ fragte sie. „Gar nichts, es ist meine Schuld. Na vielleicht<br />

nicht nur, wenn es überhaupt so etwas wie Schuld gibt.“ fing ich an zu<br />

erklären. Alys standen auch schon die Tränen in den Augen. „Warum weinst du<br />

Omi, hat dir jemand etwas getan?“ erkundigte sie sich besorgt. „Nein, nein<br />

meine Süße, es ist alles in Ordnung. Mir fällt nur im Moment nicht ein, wie ich<br />

dir das erklären sollte. Später wirst du das sicher erfahren. Es geht auch schon<br />

wieder vorbei, my Darling.“ Alyssia und Sylvia waren ein unzertrennliches Gespann.<br />

Sie überboten sich gegenseitig an Liebe und Zuneigung. Alys war für<br />

Sylvia die Sonne ihrer älteren Tage, und Sylvia für Alys die Göttin aller Wohltaten<br />

und Freundlichkeiten, die der Himmel zu bieten hatte. Mir fiel auf, dass ich<br />

mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, wann ich Alyssia informieren<br />

wollte, zu lange sollte ich nicht mehr warten, damit sie es nicht sonst<br />

wie verletzend erfuhr.<br />

Nachdem ich einen Tee zubereitet hatte, bat ich Alys, mich und Omi allein et-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 25 von 209


was besprechen zu lassen. Später habe Omi sicher noch Zeit für sie.<br />

Dann erklärte ich Sylvia genau, wie sich alles entwickelt hatte, bis zu dem festen<br />

Entschluss, mit Ralf leben zu wollen, und mich von Torsten zu trennen. Sie<br />

hatte mich nur die ganze Zeit aufmerksam angeschaut, und kein Wort gesagt.<br />

„Ja und gestern Abend habe ich versucht, es Torsten zu erklären, aber ich<br />

glaube, verstanden hat er mich nicht.“ schloss ich meine Darstellung. Sylvia<br />

stand auf, drückte meinen Kopf an ihren Bauch und wiederholte mehrfach: „Ich<br />

versteh dich gut, Liebes, sehr gut kann ich dich verstehen.“ Ich stand auf, und<br />

wollte sie auch umarmen. Sylvia weinte. „So etwas Schönes ist mir im Leben<br />

leider nie begegnet. Und ich weiß auch noch nicht mal, ob ich dumme Kuh es<br />

überhaupt bemerkt hätte.“ sie hatte richtig angefangen zu schluchzen. Nachdem<br />

sie sich wieder beruhigt hatte, fragte sie, ob er denn gar nicht versucht<br />

habe, um mich zu kämpfen. „Ich weiß nicht, ob er eingesehen hat, dass es sowieso<br />

erfolglos wäre, er hat mir nur die materiellen Konsequenzen für mich<br />

aufgezeigt und gefragt, ob ich mir das nicht doch noch mal überlegen wollte.“<br />

Überall, bei allen Lebewesen könne man es erkennen, nur die meisten Männer<br />

seien zu schusselig, zu erkennen, was das für eine <strong>Frau</strong> bedeute, wenn ein<br />

Mann um sie kämpfe, erklärte Sylvia. Sie werde dafür sorgen, dass Torsten<br />

mich ordentlich behandle. Sie entwickelte richtigen Kampfgeist. Solange wir<br />

keine Gütertrennung hätten, gehöre seit unserer Heirat von Allem die Hälfte<br />

mir, vom Haus zum Beispiel. Die Sonderangebote von Aldi könne er sich erst<br />

mal von der Backe putzen. Sie wolle ihrem Sohn nichts Schlechtes, aber er<br />

müsse doch wohl einsehen, dass es zum großen Teil auch s<strong>einer</strong> Stieseligkeit<br />

zu verdanken wäre, dass es sich so entwickelt habe. Wenn man meine, man<br />

brauche sich mit nichts anderem als freundlich korrektem Verhalten und Geld<br />

auf seine <strong>Frau</strong> einzulassen, müsse man sich nicht wundern, wenn sie eines Tages<br />

so nicht mehr zufrieden mit ihm sei.<br />

Tatsächlich hat sie ihm sofort abends noch ins Gewissen geredet. Sie habe es<br />

für die beste Entscheidung in seinem Leben gehalten, mich zu heiraten, sie<br />

habe ihn dafür bewundert, aber der größte Fehler seines Lebens sei, wie er damit<br />

umgegangen sei. Sie könne mich sehr gut verstehen.<br />

Mir wurde es peinlich, ich habe mich dann zurückgezogen. Vor s<strong>einer</strong> Mutter<br />

wurde der große Architektur Impresario immer ganz klein, und ließ sich artig<br />

zusammenfalten. Sylvia wurde gegenüber ihrem Sohn zu <strong>einer</strong> völlig anderen<br />

<strong>Frau</strong>. Möglicherweise war sie es seit Torstens Kindheit gewohnt, sich so ihm<br />

gegenüber durchzusetzen. Wie eine gestrenge Gouvernante herrschte sie ihn<br />

an: „So geht das nicht! So kannst du das nicht machen!“ und Torsten wagte<br />

nicht zu widersprechen.<br />

Nach Stunden holte Sylvia mich rein. Ich war schon verwundert über die lange<br />

Dauer ihrer Unterhaltung. „Wir haben uns mal überlegt, wie es vielleicht funktionieren<br />

könnte, und dann stellten sie mir einen Plan vor, bei dem ich mich<br />

fast schämte, ihn zu akzeptieren. Das Haus bekam ich, alles Vermögen wurde<br />

geteilt, bis auf Anteile am Architekturbüro, um der Firma keinen Schaden zuzufügen,<br />

und weil es schwierig war die Wertsteigerung seit unserer Heirat zu beziffern,<br />

dafür sollte ich offiziell für Alyssia jeden Monat 5.000,-€ erhalten, und<br />

wenn es an etwas mangele, sollte auch weitere Unterstützung möglich sein.<br />

Ungläubig erstaunt schaute ich einen nach dem andern an. Ich hauchte nur ein<br />

„Danke“. Dann fiel ich Sylvia um den Hals: „Danke, danke, danke,“ flüsterte<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 26 von 209


ich ihr zu, als mir einfiel, dass ich mich ja eigentlich bei Torsten für seine Großzügigkeit<br />

bedanken musste, was ich auch sofort tat.<br />

<strong>Ruth</strong>s Mutter<br />

M<strong>einer</strong> Mutter hatte ich es schon viel früher erzählt. „Mutti ich glaube, ich habe<br />

mich verliebt,“ begann ich damals, als ich sie besuchte, und ich fing an zu erzählen,<br />

wie es sich entwickelt hatte, und wie viel es mir bedeute, Ralf zu sehen<br />

und ein paar Worte mit ihm zu wechseln. „Ich kann das verstehen. Ich wünsche<br />

mir nur, dass es dich auch wirklich glücklich macht, und dir nicht das Herz<br />

zerreißt. Du wirst sehr viel Kraft, ich meine psychische, gebrauchen, wenn du<br />

das durchstehen willst. Du wirst sehr stark sein müssen, meine Liebe. Meine<br />

Unterstützung hast du, auf meine Hilfe kannst du rechnen, wenn du sie irgendwie<br />

gebrauchen kannst. Nur sag bitte Papi keinen Ton davon, der wird sich blos<br />

tierisch darüber aufregen, was für einen Unfug du machst.“ unterstützte sie<br />

mich. Ihre Unterstützung habe ich mir später noch öfter versichern lassen,<br />

wenn mich Zweifel befielen, besonders wenn die Skrupel, zwei Familien durch<br />

unser Liebesbedürfnis zu zerstören, bei mir mal wieder die Oberhand gewonnen<br />

hatten.<br />

Ralf und <strong>Ruth</strong> sind frei<br />

Jetzt bekam Ralf nicht nur eine <strong>Frau</strong>, die er liebte, sondern gleichzeitig auch<br />

noch eine ziemlich betuchte, die neben dem Geld noch über eine Villa mit Park<br />

verfügte, und ein zusätzliches Monatsgehalt, das weit über seinem eigenen lag,<br />

erhielt. Vorher hatten wir ganz naiv überlegt, wie wir mit seinem und meinem<br />

halben Gehalt wohl leben würden. Was für eine Wohnung wir uns würden leisten<br />

können. Ich hatte dabei keine Verlust- und Mangelempfindungen, eher<br />

freute ich mich auf die zu erwartende kuschelige und viel heimeligere Perspektive.<br />

Ob ich Ralf die Entwicklung heute einfach so nach der Schule mitteilen<br />

sollte? Nein, die freudige Nachricht brauchte ein angemesseneres Ambiente,<br />

ich würde ihn zum Abendessen einladen, vielleicht in ein exklusives Restaurant.<br />

Wir hatten ausgemacht, unsere Partner am gleichen Abend zu informieren.<br />

Britta hatte trotz Ralfs Erklärungsversuchen, die sicher sehr sanft und einfühlsam<br />

waren, fast die ganze Nacht geweint, und immer wieder gefragt, was sie<br />

denn falsch gemacht habe, sie sei doch bereit, alles zu ändern, und ob sie es<br />

nicht nochmal versuchen könnten. Sie wolle nicht ohne ihn, und nicht mit einem<br />

anderen Mann leben. Sie habe ihm immer wieder versichert, wie sehr sie<br />

ihn liebe, und dass sie ihn brauche. Ralf war am Mittag danach noch ziemlich<br />

zerknirscht, und erklärte, dass er sich sehr mies dabei gefühlt habe, es sei für<br />

ihn die unangenehmst Situation in seinem ganzen bisherigen Leben überhaupt<br />

gewesen. Nie wieder könne er so etwas durchstehen. Nur die schreckliche Vorstellung,<br />

dass dann zwischen uns beiden ein für alle mal alles vorbei gewesen<br />

sei, habe ihn die Zähne zusammenbeißen, und konsequent bleiben lassen. Für<br />

ihn sei es ein Kampf mit sich selbst gewesen. Britta habe sich im Atelier krank<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 27 von 209


gemeldet, und sei mit Elias erst einmal zu ihren Eltern gefahren.<br />

Heute ging es ihm schon besser. Britta hatte angerufen und einen sehr aufgeräumten<br />

Eindruck gemacht. Es täte ihr zwar schrecklich weh, aber mit so etwas<br />

müsse man in der Liebe anscheinend wohl rechnen. Sie habe sich ja<br />

schließlich auch seinetwegen von ihrem Freund getrennt, und der sei auch völlig<br />

schockiert und enttäuscht gewesen. Sie möchte nur, dass dies und jenes so<br />

und so geregelt würde. Ralf habe alles nochmals vielfach entschuldigt, und ihr<br />

versichert, dass er sie immer noch liebe, und nichts Geringschätziges über sie<br />

denke. Alle ihre Wünsche würden selbstverständlich erfüllt, bis auf die unerfüllbaren.<br />

Sie hätten sogar noch miteinander gescherzt, und sich wie sehr gute<br />

Freunde verabschiedet.<br />

Gemeinsame Feier<br />

„Dann haben wir's ja jetzt beide geschafft, da müssten wir doch eigentlich ein<br />

wenig feiern, oder?“ teste ich seine Stimmung „Was hältst du davon, wenn ich<br />

dich mal chic zum Essen einladen würde?“ erwartete ich seine Zustimmung.<br />

„Willst du nicht lieber zu mir kommen? Ich bin doch ganz allein. Wäre das nicht<br />

gemütlicher zum Feiern?“ wandte Ralf ein. „Ralf dann landen wir hinterher mit<br />

Sicherheit im Bett. Wäre ja auch sehr schön, aber auf dem Platz, der noch fast<br />

warm von Britta ist, könnte ich mich nicht wohlfühlen. Ralf, das will ich nicht.“<br />

erklärte ich ihm meine eindeutige Ablehnung. „Also Restaurant“ gab er seine<br />

Zustimmung. „Ich hol dich ab. Aber zieh dich ganz fein an. So mit weißem<br />

Hemd, Krawatte und schickem Anzug, sonst nehme ich dich nicht mit. Mit deinen<br />

Schulklamotten lassen die dich da nicht rein.“ klärte ich ihn noch auf. Ich<br />

habe Stunden am Telefon verbracht, um so kurzfristig noch alles wunschgemäß<br />

geregelt zu bekommen. Schließlich ließ sich im Fairmont dann doch noch alles<br />

meinen Vorstellungen entsprechend organisieren.<br />

Abends stand ich vor s<strong>einer</strong> Haustür und klingelte. Ralf hatte mich noch nie im<br />

Abendkleid gesehen. Er wollte gar nicht wieder aufhören mich zu drücken und<br />

zu küssen. „Ralf du verschmierst alles. Lass uns das nach dem Essen machen.“<br />

versuchte ich ihn zu stoppen. Er schaute mich an und staunte: „Mein Gott, was<br />

bist du schön. Ich habe dich ja schon immer für eine sehr schöne <strong>Frau</strong> gehalten,<br />

aber so kommt das noch viel mehr zum Ausdruck.“ Ich bedankte mich für<br />

sein Kompliment, und meinte, dass das hoffentlich nicht der Grund sei, weshalb<br />

er mich liebe. Ralf war immer nur aufs Neue erstaunt. Er war noch nie in<br />

diesem Hotel-Restaurant gewesen. Als ich ihm sagte, dass ich für ihn eigentlich<br />

eine Karte ohne Preise hätte haben wollen, und er solle sich einfach aussuchen<br />

worauf er Lust habe, wollte er wissen, ob wir heute gemeinsam meinen Abschied<br />

vom Luxus feierten. „Es kommt noch viel schlimmer Ralf,“ setzte ich an<br />

„wir feiern auch, weil wir eine neue Wohnung haben. Ich meine du, ich nicht,<br />

für mich ist sie nicht neu. Ich bekomme die Villa, Ralf, du kannst morgens im<br />

Park joggen.“<br />

Ralf starrte mich mit großen Augen an, sein Mund stand leicht offen. „Sag etwas,<br />

Ralf!“ forderte ich ihn auf. „Ich kann nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen<br />

soll. Muss ich dann immer alles putzen?“ bemerkte er noch schelmisch, kam zu<br />

mir, und fragte mich küssend: „Schöne <strong>Ruth</strong> von Moabit, wie hast du das denn<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 28 von 209


wieder hingekriegt?“ „<strong>Frau</strong>en kriegen immer alles hin, wenn sie's wollen.<br />

Quatsch! Ich gar nicht.“ erklärte ich ihm, „ich hab nichts dafür getan, hat alles<br />

meine Schwiegermutter gemacht, sie mag mich sehr gern. Ich sie übrigens<br />

auch. Du wirst sie ja kennenlernen, Alyssia und Omi Sylvia sind nämlich die<br />

dicksten Freunde unter der Sonne, und ohne gegenseitige Besuche halten sie<br />

es nie lange aus. Und weißt du wofür sie noch gesorgt hat? Wir bekommen jeden<br />

Monat das Gehalt eines Ministerialrats, 5.000,-- € überwiesen für Alyssia.<br />

Und das ist noch längst nicht alles. Ich bekomme von der ganzen Knete die<br />

Hälfte, ich weiß noch gar nicht, wie viel das genau ist, aber dass es weit, weit<br />

mehr als eine Mille sein wird, das weiß ich sicher. Na mein kl<strong>einer</strong> Krösus, jetzt<br />

fällt dir überhaupt nichts mehr ein.“ Ralf starrte mich nur an, wiegte den Kopf<br />

hin und her und brachte nur ein „Nein wirklich nicht,“ hervor. „Und deswegen,<br />

mein Liebling, feiern wir heute Abend auch nicht den Abschied vom Luxus,<br />

sondern den Beginn, und das geht nur mit exquisitem Schampus.“ Ralf staunte<br />

immer nur. Er habe sich so auf unser gemeinsames Leben gefreut, und sei dafür<br />

bereit gewesen, alles in Kauf zu nehmen, und jetzt werde er zusätzlich<br />

noch mit solchen materiellen Wonnen überschüttet. Alyssias Großmutter müsse<br />

wirklich eine fantastische <strong>Frau</strong> sein, er wisse jetzt schon, dass er sie bis an sein<br />

Lebensende verehren werde. Wir sprachen noch über unsere Eltern und<br />

Schwiegereltern und kamen übereinstimmend zu dem Schluss, dass <strong>Frau</strong>en<br />

sensibler für so etwas, wie zwischen uns beiden seien, und es besser verstehen<br />

und nachvollziehen könnten. Dass ich für heute Nacht für uns beide eine Suite<br />

gebucht hatte, habe ich Ralf natürlich noch nicht verraten. Dass ich immer fleißig<br />

Champagner trank, obwohl wir ja mit dem Auto gekommen waren, schien<br />

ihn überhaupt nicht zu irritieren. Wir hatten noch einen Espresso getrunken,<br />

die Rechnung bezahlt, und wollten gehen.<br />

Hochzeitsnacht<br />

„Hicks, ich glaube ich kann gar nicht mehr fahren,“ bemerkte ich leicht angesäuselt.<br />

„Natürlich nicht. Ich lasse ein Taxi rufen.“ bemerkte Ralf, und wollte<br />

schon losrennen. „Das ist doch viel zu umständlich,“ hielt ich ihn zurück „wie<br />

gut dass ich für solche Fälle etwas reserviert habe. Lass uns rauf gehen.“ Ralf<br />

starrte mich entgeistert an. „Du wolltest doch heute Abend gern mit mir ins<br />

Bett, oder habe ich dich da etwa falsch verstanden?“ Ralf lächelte und stand<br />

immer noch starr vor mir. „Jetzt muss der Herr mir meinen Mantel holen, und<br />

dann darf er die Dame küssen.“ versuchte ich seine Entgeisterung zu lösen.<br />

„Du bist wahnsinnig! Du bist wahnsinnig!“ tanzte Ralf durch die Räume, als wir<br />

in der Suite angekommen waren. Er warf mich auf's Bett und wäre am liebsten<br />

gleich über mich hergefallen. Ich bremste ihn „So geht das nicht Ralf. Kennst<br />

du das denn nicht aus Filmen? Da kommt doch gleich erst noch jemand.“ Er<br />

schaute mich wieder lächelnd staunend an. Ihm fiel nichts dazu ein. Ich hatte,<br />

obwohl ich den Champagner vom Essen schon gut spüren konnte, beim<br />

Schlüsselabholen an der Rezeption noch schnell eine Flasche für's Zimmer bestellt.<br />

„Wenn dir nichts einfällt, musst du eben warten.“ beschied ich ihn strikt.<br />

Wir sind hier bei Maria Callas zu Gast, und wenn die hier war, bekam sie vorm<br />

zu Bett gehen auch immer noch etwas gebracht. Als Ralf noch rätselte, kam<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 29 von 209


der Champagner. „Oh nein!“ seufzte er auf „was kommt denn jetzt als Nächstes.“<br />

Die ganzen Überraschungen heute Abend schienen langsam die Grenze<br />

seines Fassungsvermögens zu erreichen. „Mein Schatz, das ist unsere Hochzeitsnacht,<br />

wir sind jetzt beide frei, und dazu braucht man doch wenigstens ein<br />

Gläschen Schampus, oder siehst du das anders?“ Ralf schüttelte nur heftig den<br />

Kopf, seine Augen wurden feucht, und weinend umarmte und küsste er mich.<br />

„Ich kann es gar nicht fassen, das ist zu viel für mich. Warum hast du denn<br />

heute Mittag keinen Ton davon verlauten lassen, du coole Madame?“ wollte er<br />

von mir wissen. „So etwas kann man sich doch nicht einfach am Pult in <strong>einer</strong><br />

Schulklasse zuraunen, das braucht doch einen passenden Rahmen und so ist's<br />

doch ganz nett, oder möchtest du das nicht so, mein Prinzchen?“ fragte ich,<br />

und fügte hinzu „keine Angst, wir werden das jetzt nicht jeden Abend so machen,<br />

aber für heute muss es doch so sein. Und jetzt komm, deine Braut wartet<br />

auf dich.“ wollte ich diese Diskussion beenden, und begann Ralf die Krawatte<br />

aufzuziehen. Wir waren sonst meistens hektisch übereinander hergefallen,<br />

als wenn es auf jede Sekunde ankäme, und wir keine Zeit verstreichen lassen<br />

dürften. Jetzt zogen wir uns küssend langsam gegenseitig aus, und legten uns<br />

kuschelnd nebeneinander ins Bett, als ob uns nichts mehr zu stören vermöchte,<br />

keine hektische Gier mehr treiben könne. Wir fühlten uns schon vorher sicher<br />

und glücklich. Trotzdem haben wir in der Nacht fast gar nicht geschlafen,<br />

wir konnten nicht genug bekommen, von dem Empfinden, frei ohne Anspannung<br />

zusammen sein zu können, das wir ab heute immer, jeden Tag haben<br />

würden.<br />

Als wir geweckt wurden, fühlte ich mich nicht lebensfähig. Ich hatte ja nicht<br />

nur kaum geschlafen, sondern auch fast die ganze Nacht gearbeitet, und einiges<br />

an Alkohol in meinem Körper umgesetzt. Aber es war ja nicht damit getan,<br />

dass ich mich in der Behörde krank meldete, ich musste mich ja auch um Alys<br />

kümmern, und Ralf wollte auf jeden Fall zur Schule. Also, hurry up, Madame.<br />

Das wunderschöne Bad konnte leider gar nicht ausgiebig genutzt werden.<br />

Mamis Liebster<br />

Es wurde knapp, als ich zu Hause rein kam, musste ich gleich Alys wecken. Als<br />

sie mich im Abendleid sah, fragte sie mich erstaunt, „Wo willst du hin, Mami,<br />

wo warst du?“ „Ich war aus, mein Schatz.“ erklärte ich ihr kurz. „Mit Herrn<br />

Lahrmann?“ wollte sie wissen. Ich hatte ihr am Nachmittag alles lange erklärt,<br />

und ihr auch klar gemacht, dass Torsten immer ihr Vater bleiben werde, nur<br />

die Vorstellung, dass ihr - zwar hoch geschätzter - Lehrer jetzt immer bei uns<br />

sein werde, und mit mir schmusen, und zusammen ins Bett gehen würde, kam<br />

ihr doch befremdlich vor. „Ja natürlich,“ antwortete ich ihr. „Habt ihr euch auch<br />

geküsst.“ wollte Alys es noch genauer wissen. „Selbstverständlich mein Schatz,<br />

ich hab's dir ja erklärt, Ralf Lahrmann ist doch mein Liebster, wieso sollten wir<br />

uns nicht küssen?“ erwiderte ich. „Habt ihr denn auch gefickt?“ fragte sie ganz<br />

selbstverständlich unbefangen. „Alys, bitte, so spricht man nicht, und selbst<br />

wenn, ist das etwas, was keinen anderen Menschen etwas angeht. Ich möchte<br />

nicht, dass du mich oder jemand anders so etwas fragst, o.k.?“ sie verzog ein<br />

wenig beleidigt ihre Lippen in die Breite, und die Augenbrauen in die Höhe,<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 30 von 209


schien es aber zu akzeptieren. Ich wies sie noch mal darauf hin, das sie mir<br />

versprochen hätte, nicht mit den Mitschülerinnen darüber zu reden. Herr Lahrmann<br />

werde das in den nächsten Tagen selber tun, so lange könne sie doch sicher<br />

ein Geheimnis bewahren. Sie konnte sich aber nicht verkneifen, morgens<br />

Ralf zu fragen, ob's denn schön gewesen wäre mit Mami. Er hätte zunächst<br />

kurz gestutzt, und ihr dann geantwortet: „Du neugierige Biene, kannst du dir<br />

denn vorstellen, dass es nicht schön sein könnte mit d<strong>einer</strong> Mami? Du kennst<br />

sie doch schon viel länger als ich.“ „Na ja, mit mir kann sie auch schon mal<br />

meckern, aber wenn sie ihr Liebster sind, wird sie das bei ihnen sicher nicht<br />

tun.“ habe sie altklug hinzugefügt und sei verschmitzt lächelnd in die Pause gerannt.<br />

Bis Ralf bei uns wohnte, musste sie ihn jeden Tag auf irgendetwas anderes<br />

zu unserem Verhältnis ansprechen. Bei manchen Fragen hatte er sie auch<br />

vertröstet auf die Zeit, bis er bei uns wohne, weil man dazu mehr Zeit benötige,<br />

als jetzt so kurz in der Pause. Sie hatten sich schon vorher darauf geeinigt,<br />

dass Alyssia Ralf in der Schule weiterhin mit Herr Lahrmann anreden würde,<br />

sie sich zu Hause aber gegenseitig duzen wollten. Ralf hatte ihr öfter gesagt,<br />

wie sehr er sich auf uns freue, und sie gefragt, wie denn dieses oder jenes bei<br />

uns geregelt sei.<br />

Ralfs First Visit<br />

Als Ralf dann zum ersten mal zu uns kam, und Alyssia aus der Schule mit nach<br />

Hause brachte, war sie sofort Chief-instructor zur Benutzung unseres Hauses.<br />

Sie wollte Ralf gar nicht mehr frei geben, bis wir sie überreden konnten, ihm<br />

bei Kaffee, Kuchen und Kakao ja auch noch weitere Erklärungen vermitteln zu<br />

können. Als Ralf meinte, er müsse wohl noch schrecklich viel lernen, bis er<br />

richtig bei uns wohnen könne, tröstete Alys ihn, so schlimm sei das nicht, das<br />

würde man ganz schnell kapieren, da brauche er gar keine Angst vor zu haben.<br />

Dann schaute sie mich mit großen fragenden Augen leicht errötend an, ob sie<br />

Herrn Lahrmann bei uns zu Hause denn auch mal einen Kuss geben dürfe. Ich<br />

nickte nur intensiv mit breit gezogenen Lippen, als wenn ich sagen wollte:<br />

„Selbstverständlich, das ist völlig o. k..“ Sie sprang auf, schlang ihre Arme um<br />

Ralfs Hals und gab ihm einen dicken Kuss auf seine linke Wange. So schnell<br />

war die Freundschaft geschlossen. Ihre anfänglichen Bedenken, die ich gut<br />

nachempfinden konnte, schienen in kürzester Zeit verflogen. Ich liebte meine<br />

Süße, ich möchte ihr viel mehr Beachtung und Aufmerksamkeit schenken.<br />

Knallrot hatten sich ihre Bäckchen gefärbt, und ein wenig Stolz leuchtete aus<br />

ihren Augen. Ralf zeigte sich von der Freundlichkeit, besonders auch von Alyssias,<br />

mit der er hier empfangen werde, sehr beeindruckt. Er werde immer wieder<br />

aufs Neue positiv überrascht.<br />

Wir baten, ihn doch über Nacht bei uns zu bleiben, und am nächsten Morgen<br />

von hier aus zur Schule zu fahren. Ralf wandte ein, er habe nichts dabei, und<br />

er müsse sich auch unbedingt noch ein wenig auf den morgigen Unterricht vorbereiten.<br />

„Du kannst doch jetzt eben zu dir fahren, und alles holen, was du<br />

brauchst. Vielleicht bekommen wir ja Angst, wenn wir ganz allein sind.“ schlug<br />

Alys vor. Ich sah Ralf zweifelnd lächeln, aber ich glaube, er konnte es Alyssia<br />

nicht abschlagen. In kapp <strong>einer</strong> Stunde war er zurück. Natürlich wurde aus der<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 31 von 209


Unterrichtsvorbereitung nicht viel. Alys hatte ihn ständig okkupiert. Ich war zur<br />

Randfigur degradiert. Sie wollte alles von Ralf wissen. Ob wir zusammen ins<br />

Bett gingen, ob das schön wäre, ob wir ganz nackt dabei wären und so fast unendlich<br />

weiter. Wunderbar, wie Ralf darauf angemessen, für Alyssia verständlich<br />

und nicht ausweichend reagieren konnte. Warum konnte ich das nicht,<br />

warum war ich oft so leicht schockiert, und es fehlten mir die für Alyssia passenden<br />

Worte, um es ihr verständlich und nüchtern erklären zu können. Vielleicht<br />

hatte er es ja auch gelernt für den Sexualkundeunterricht, aber gab es<br />

so etwas denn in der Grundschule überhaupt? Er habe zwar mal eine Fortbildung<br />

besucht, aber da habe man sich mehr mit Problemen zu Beginn der Pubertät<br />

beschäftigt, doch im WDR-Kinderfunk gebe es einmal in der Woche eine<br />

Szene, die nenne sich Herzfunk, die halte er nicht nur für die Kinder selbst für<br />

sehr gelungen, sondern sie demonstriere auch Erwachsenen, wie sie damit umgehen<br />

könnten. Das Schlimmste sei, wenn man mit seinen Reaktionen und<br />

Antworten die Kinder langsam zum Schweigen bringe, und die sie bedrängenden<br />

Fragen nicht mehr stellten, weil sie sowieso keine Antworten, sondern eher<br />

Zurechtweisungen erwarteten. Genau das hatte ich getan. Ich wollte von Ralf<br />

wissen, wie ich denn hätte reagieren können. Ich hätte das im Prinzip ja gar<br />

nicht so ganz falsch gemacht. Ich dürfe mich nur nicht davon schockieren lassen,<br />

wenn meine neunjährige Tochter Wörter wie 'Ficken' gebrauche. Das gehöre<br />

heute schon zum Sprachschatz im ersten Schuljahr. Wenn sie vielleicht<br />

gefragt hätte, ob wir uns denn auch geliebt, oder ganz lieb gehabt hätten, sei<br />

ich wahrscheinlich ganz ruhig und im Tonfall freundlich geblieben, und hätte ihr<br />

erklärt, dass das bei Verliebten immer so sei. Dass es aber etwas sehr Privates<br />

unter den Verliebten sei, was nur ihnen beiden gehöre, und wenn jemand einfach<br />

direkt danach frage, die Verliebten wahrscheinlich ärgerlich oder beleidigt<br />

würden. Das solle sie besser nie jemanden fragen, selbst ihre Mami nicht.<br />

Wahrscheinlich hätte sie mich dann umarmt ,und sich bei mir entschuldigt. Ich<br />

beschloss den Vorfall noch mal mit Alys anzusprechen.<br />

Erste Nacht zu Hause<br />

Abends und nachts gehörte Ralf mir, oder ich ihm. Mit den Unterrichtsvorbereitungen<br />

hatte es wieder nicht hingehauen. Auf dem Weg zur Schule hatte Alyssia<br />

ihn gefragt, ob er nicht genug Kaffee getrunken habe, weil er ständig gähne.<br />

Ralf habe darauf geantwortet, dass er zu wenig Schlaf bekommen habe,<br />

weil wir noch so lange geredet hätten. Alyssia habe ihn verschmitzt lächelnd<br />

angeschaut, und mit erhobenem Zeigefinger erklärt: „Na ich weiß nicht, Herr<br />

Lahrmann. Lehrer dürfen nicht lügen“.<br />

Ralfs Einzug<br />

Torsten hatte sich sofort ein leerstehendes bezugsfertiges Loft besorgt. Als ich<br />

ihm klar machte, dass er ja wohl nicht mit unseren Möbeln umziehen könne,<br />

hat er sich sofort von <strong>einer</strong> bekannten Innenarchitektin alles komplett einrichten<br />

lassen. Einige Kartons und nicht eingepackte Gegenstände in seinem Ar-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 32 von 209


eitszimmer sollten noch bis spätestens zum Wochenende abgeholt sein.<br />

Als ich Ralf erklärte, dass er am Wochenende einziehen müsse, meinte er zunächst,<br />

das sei unmöglich. „Hast du vielleicht schon mal an eine Spedition gedacht,<br />

mein Schatz?“ merkte ich an. „Das ist zu teuer, das kann ich nicht bezahlen,<br />

und so kurzfristig ist es noch mal doppelt so teuer.“ reagierte Ralf. „Ich<br />

will aber nicht mehr länger warten, ich habe lange genug gewartet. Ich will am<br />

Sonntag mit dir deinen Einzug feiern. Und übrigens ich will ja, dass du zu mir<br />

ziehst, da werde ich mich ja wohl selbstverständlich um das Finanzielle kümmern.“<br />

Ralf konnte nur noch gehorsam lächeln, und war am Samstagnachmittag<br />

eingezogen. Zur absolut wichtigsten Person beim Umzug entwickelte sich<br />

Alyssia. Sie half Ralf beim Einpacken und Vorbereiten so intensiv, dass sie unbedingt<br />

bei ihm übernachten musste, um am nächsten Morgen wieder rechtzeitig<br />

weiterarbeiten zu können. Sie schikanierte die Männer von der Spedition,<br />

wenn sie mal irgendeine Kleinigkeit nicht ganz genau ihren Anweisungen entsprechend<br />

ausführten. „Sie haben aber 'ne resolute Tochter, <strong>Frau</strong> Stein.“ bemerkte<br />

<strong>einer</strong> der Transporteure „und dann so 'nen junges Ding. Was macht die<br />

erst, wenn die mal erwachsen ist?“ Das würde sich sicher legen, sei ich der festen<br />

Ansicht. Wir hätten ja alle unsere kindliche Wildheit eingebüßt. Obwohl ich<br />

für mich selbst seit kurzer Zeit dabei war, sie wieder neu zu entdecken, und<br />

auskosten zu wollen.<br />

Mit Alyssia überlegte ich, wie wir denn feiern wollten. Nur unter uns, war sofort<br />

klar. Wir bestellten bei einem Catering Unternehmen die leckersten Gerichte,<br />

dass uns beim Bestellen schon das Wasser im Munde zusammenlief. Alles war<br />

so üppig, dass wir mit Sicherheit noch für den Abend, wenn nicht sogar für die<br />

ganze Woche genug hatten. Nachmittags wollte Alys gern gemeinsam lustige<br />

Spiele machen und zum See raus fahren, sie müsse Ralf unbedingt ihre Höhle<br />

zeigen. „Wie bitte, was ist das denn? Da hab ich ja noch nie etwas von gehört.“<br />

erschrak ich. Das sei auch eigentlich ein Geheimnis, aber zu Ralfs Einzug könne<br />

man da mal eine Ausnahme machen. Meine Schwiegermutter hatte wahrscheinlich<br />

dafür gesorgt, das es zum Geheimnis erklärt wurde, weil sie zu recht<br />

annahm, dass mich das sehr bedenklich stimmen würde. Das wollte ich unbedingt<br />

sehen. Also am Nachmittag nach dem Essen zuerst zum See, dann Kaffee<br />

und Kuchen in der Gartenwirtschaft am See, anschließend nach Hause und gemeinsame<br />

Spiele. Sie fände es auch sehr schön, wenn man sich gegenseitig<br />

seine Lieblingsgeschichten oder Gedichte vorlesen würde, meinte Alyssia noch.<br />

Ich fand's auch toll. Das könnten wir ja am Abend machen, schlug ich vor. „Ne,<br />

nach dem Abendessen geh ich in mein Zimmer. Dann braucht ihr doch Zeit für<br />

euch beide. Ralf ist doch nur bei uns, weil ihr beide euch ganz doll lieb habt,<br />

und da müsst ihr doch mal für euch alleine sein, oder?“ erklärte Alys selbstsicher.<br />

Meine Süße, wie liebte ich sie, ich musste sie an mich drücken und meine<br />

Augen füllten sich vor Rührung mit Tränen.<br />

Es wurde für uns Drei ein wundervolles Erlebnis. Natürlich lachte die Sonne<br />

den ganzen Tag, und die geheime Höhle stellte sich als harmloser Überhang in<br />

<strong>einer</strong> Böschung fern vom Ufer heraus. Bei den Spielen, haben wir uns oft gebogen<br />

vor Lachen, und das Vorlesen der Lieblingstexte erzeugte eine so vertrauliche,<br />

beinahe andächtige Stimmung, als ob damit Ralfs Einzug der Abendsegen<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 33 von 209


erteilt worden wäre. Wir waren wieder richtig ernst und beschaulich geworden.<br />

Beim Abendessen sprachen wir über verschiedene Aspekt unserer neuen Situation,<br />

und Ralf meinte zu Alys, der Abschied von ihrem Vater sei ihr doch sicher<br />

sehr schwer gefallen. „Ach weißt du, ich hab' ihn ja immer noch, er bleibt ja<br />

mein Vater, und jetzt hab' ich noch einen dazu, der sogar meistens zu Hause<br />

ist, wenn ich auch da bin. Da werd' ich das schon verkraften, sehr gut sogar,<br />

meine ich.“ Ralf schaute mich an und sagte leise „Wundervoll ist deine Tochter,<br />

<strong>Ruth</strong>, ich hab's ja in der Schule schon gemerkt, was für ein tolles Mädchen sie<br />

ist, aber jetzt wird es mir immer noch viel klarer.“ Und Ralf fing an, Bespiele<br />

aufzuzählen. „Stop Ralf, hör auf!“ bremste ich ihn. Da wird unsere Kleine ja nur<br />

überheblich von, und fängt an, sich etwas einzubilden. Alys selbst nahm sich<br />

noch ein paar Weintrauben, und äußerte sich altklug: „Na, ihr habt vielleicht<br />

Probleme.“<br />

Einzugsnacht<br />

Alys hatte sich tatsächlich nach dem Abendessen zurückgezogen. Wir unterhielten<br />

uns noch über sie, und dass ich ungeheure Angst davor hätte, dass es<br />

in der Pubertät zu einem Bruch zwischen uns kommen könnte, und ich nicht<br />

wüsste, wie ich das überleben solle. Ralf meinte, dass er mich für intelligent<br />

genug halte, um mit ungewöhnlichen pubertären Ansichten angemessen umgehen<br />

zu können, und ich mir doch im Vorhinein keine Angst einreden solle. Für<br />

seinen Sohn Elias wolle er auch bald um eine Besuchsregelung bemühen. Er<br />

habe sich immer viel um ihn gekümmert, und der Kontakt zu ihm fehle ihm<br />

schon jetzt, obwohl er momentan kaum noch wisse, was mit ihm selbst eigentlich<br />

geschehe. „Das steht doch schon in der Bibel, seit 4.000 Jahren was mit<br />

dir geschieht 'So nahm der Ralf die <strong>Ruth</strong> und ging bei ihr ein.' Das verstehst du<br />

doch, oder muss ich's dir übersetzen; mein lieber Herr Grundschullehrer? Und<br />

jetzt komm, deine <strong>Ruth</strong> wartet.“ forderte ich ihn auf, ins Bett zu kommen. Am<br />

Morgen hätte ich Ralf fast verhauen, wenn ich's noch gekonnt hätte, aber ich<br />

war ja selbst genauso Schuld daran. „Heute war's ja noch mal o.k., aber ich<br />

kann so nicht zur Arbeit gehen und mich bis mittags konzentrieren. Ich schlafe<br />

am Schreibtisch mit dem Kopf auf den Akten ein. Ich kann das nicht verhindern.<br />

Ich bin total gerädert. Ich schaff das nicht mit so wenig Schlaf, und dann<br />

noch so ausgelaugt. Ich kann ja auch nicht genug bekommen, aber wir müssen<br />

uns einfach ein Limit setzen, sonst läuft das nicht mehr. An Samstagen oder<br />

vor Feiertagen können wir uns dann ja mal austoben so lange wir wollen und<br />

können, aber vor Arbeitstagen macht mich das einfach für den nächsten<br />

Morgen unbrauchbar.“ versuchte ich's Ralf zu erklären. „Ja, ja mir geht’s ja<br />

nicht anders“ bestätigte er mich, „aber bis jetzt waren's ja auch immer<br />

Ausnahmesituationen, ich bin der Ansicht, dass wir keine Schwierigkeiten<br />

haben werden, es auf ein sinnvolles Maß zu begrenzen.“<br />

Es gelang uns dann auch zunehmend besser. Wenn wir beieinander lagen,<br />

konnten wir einfach nicht aufhören immer wieder von Neuem an uns zu spielen,<br />

wenn Ralf mal nicht konnte, verwöhnte er mich anders. Er sei schließlich<br />

keine 20 mehr hatte er mal gesagt, als es nicht sofort wieder ging. Ob er und<br />

Britta es denn noch intensiver getrieben hätten als wir beide, fragte ich, ob-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 34 von 209


wohl ich da sonst überhaupt nichts von hören wollte. „Das hat mit Britta nichts<br />

zu tun. Die kannte ich da noch gar nicht. Und übrigens, da war sie 3 Jahre älter<br />

als deine Tochter jetzt, da hätte mich wohl nicht nur der Altersunterschied<br />

ein wenig gestört. Nein, ich merke einfach, dass ich längere Pausen brauche,<br />

zunehmend, und dass es insgesamt nicht mehr so oft geht. Daran merkst du<br />

als Mann am frühesten, dass du schon in relativ jungen Jahren immer älter<br />

wirst.“ „Und weist du schon, wann es soweit sein wird, dass es überhaupt nicht<br />

mehr geht?“ Solche Fragen von mir waren natürlich Anlass, sofort wieder erneut<br />

übereinander herzufallen. Die Vorstellung als Paar unterschiedlich Lust auf<br />

Sex zu haben, und sich nicht locker zufriedenstellend verständigen zu können,<br />

löste in mir schon leichten Horror aus. Andererseits hatte ich mit Torsten ja<br />

auch ein ganz sonderbares Verhältnis. Im Nachhinein kommt es mir vor wie<br />

Selbstbefriedigung mit Partner, statt Vibrator lässt man seinen Mann arbeiten,<br />

der damit auch ganz zufrieden ist. Ich meine schon den Wunsch, nach etwas<br />

anderem gehabt zu haben, aber ich wusste ja gar nicht was, und Torsten hatte<br />

mir ja auch k<strong>einer</strong>lei Anlass geboten, auf irgendwelche anderen Gedanken zu<br />

kommen. Nachdem ich einmal mit Ralf geschlafen hatte, konnte ich mit Torsten<br />

nicht mehr. Er hat es immer einfach akzeptiert, wie er damit klar gekommen<br />

ist, ob er eine Freundin dafür hatte, oder sich irgendwelche Damen bestellt<br />

hat, oder es einfach so unterdrücken konnte, es hat mich nicht im Geringsten<br />

interessiert. Für mich stand nur fest, dass es so etwas wie bisher, für ihn mit<br />

mir niemals mehr geben würde.<br />

Omi Sylvias Hilfe<br />

Omi Sylvia war jetzt ziemlich häufig bei uns. Ihren Mann hatte sie einfach wissen<br />

lassen, dass wir sie jetzt dringender brauchten, als er sie. Wenn sie bei uns<br />

war, kümmerte sie sich um alles. Wir hatten ja außer der Putzfrau alles Personal<br />

entlassen müssen. Sonst wäre von unserem Geld sicher bald nicht mehr<br />

viel vorhanden gewesen. Allein der Unterhalt der Villa verschlang einiges, und<br />

die war uns ja sehr wichtig. Der Park wurde zweimal im Jahr durch eine Firma<br />

ein wenig strukturiert, das meiste machten wir das Jahr über allerdings selber,<br />

was uns sehr viel Freude bereitete und uns zu richtigen Gartenfans werden<br />

ließ. Wir hatten nicht nur das halbverfallene alte Gewächshaus renovieren und<br />

ausbauen lassen, sondern auch einen richtigen Gemüse- und Blumengarten<br />

angelegt, in denen Alyssia und Ralf eindeutig die Oberherrschaft ausübten, und<br />

sich bei Tisch manchmal gegenseitig Informationen zukommen ließen, die ich<br />

als normal Sterbliche gar nicht verstand.<br />

Als Sylvia Ralf zum ersten Mal sah, meinte sie gleich nach dem Händeschütteln:<br />

„Das kann ich mir gut vorstellen, <strong>Ruth</strong>, dass man sich in so was Junges,<br />

Wildes leicht verlieben kann.“ Ich bog mich vor Lachen und Ralf lächelte leicht<br />

errötend verlegen. „Sylvia, Ralf ist nicht jung, der ist fast genau so alt wie ich,<br />

und wild ist er auch nicht. Er ist nicht nur Beamter wie ich, sonder kann 'ne<br />

riesige Bande von kleinen wilden Strolchen bändigen.“ wollte ich sie aufklären.<br />

„Na ihr wisst schon, wie ich das meine,“ entgegnete sie leicht grinsend. Nachdem<br />

Alyssia ihr wohl einiges zu Ralf erzählt hatte, meinte sie mal beim Kaffee<br />

zu ihm: „Alyssia, die ist ja total begeistert von ihnen, die scheint sie ja richtig<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 35 von 209


zu verehren. Ich glaube,Sie machen mich eifersüchtig. Da muss ich ja um meine<br />

Position bei ihr kämpfen.“ „Sie haben schon gewonnen, <strong>Frau</strong> Stein,“ erwiderte<br />

Ralf „ich glaube, ich bin für Alys ein glücklicher Vaterersatz, aber die Beziehung<br />

eines jungen Mädchens zu ihrer geliebten Omi greift so tief an ihr<br />

Herz, da können andere gar nicht hin gelangen.“ „Ein wunderbarer junger<br />

Mann sind sie, Herr Lahrmann.“ fühlte sich Sylvia geschmeichelt, „warum reden<br />

wir uns eigentlich nicht mit du und dem Vornamen an? Wenn's sie nicht<br />

stört, bin ich für sie Sylvia.“ Ralf bedankte sich artig, dann schüttelten sie sich<br />

die Hände und umarmten sich. Ich war glücklich. Der letzte Rest von Fremdheit<br />

schien zu verschwinden.<br />

Um mich war Sylvia immer äußerst besorgt, und fragte mich zwischendurch<br />

ständig ob alles o.k. sei, ob wir auch mit dem Geld auskämen, ob mit m<strong>einer</strong><br />

Arbeit alles gut liefe etc. Ich fragte sie mal, ob ich den Eindruck mache, dass<br />

nicht alles gut liefe, und ich unzufrieden sei. Nein im Gegenteil, meinte sie, sie<br />

habe nur Angst um mich, dass mir irgend etwas fehlen oder passieren könne,<br />

wir seien ja ganz allein. Wahrscheinlich hatte sie die Vorstellung, dass Pussycat<br />

<strong>Ruth</strong> mit 34 Jahren ohne einen Big Spender im Rücken gefährlich lebte. Ich bestätigte<br />

ihr also weiterhin, dass es mir prächtig ginge, oder ganz schlecht, weil<br />

die Tomaten alle im Regen faul geworden seien. Wenn größere Reparaturen am<br />

Haus erforderlich waren, ließ sie das immer von Torsten organisieren und bezahlen,<br />

und auch sonst ließ sie ihn noch manchmal unverhofft ein paar Tausend<br />

Euro überweisen. Diese <strong>Frau</strong> musste mich wohl außergewöhnlich mögen.<br />

Neue Pläne<br />

Tatsächlich hatte ich bei m<strong>einer</strong> Arbeit wirklich den Kaffee auf, das war es<br />

nicht, wofür ich Jura studiert, und die ganzen damit verbundenen Qualen auf<br />

mich genommen hatte. In der Schule war ich stärker an politischen Fragestellungen<br />

interessiert gewesen. Weniger an Tagespolitik als an der Entwicklung<br />

von Gesellschafts- und Herrschaftsformen. Dabei hatte ich mich besonders für<br />

das Bundesverfassungsgericht und seine Rechtsprechung interessiert. Auf dieser<br />

Ebene war Rechtsfindung und Rechtsprechung für mich höchst interessant.<br />

Nur es war bisher unüblich aus der Hamburger Baubehörde jemanden zur Bundesverfassungsrichterin<br />

zu ernennen. Doch was sollte ich machen, wo sollte ich<br />

hin? Für Ralf sah ich das nicht viel anders. Jetzt konnte er sich noch jeden Tag<br />

über die Fortschritte und das Heranwachsen der jungen Leute freuen, aber es<br />

würde m<strong>einer</strong> Ansicht nach, mit Sicherheit der Tag kommen, an dem ihm das<br />

zu grauen Routine werden würde, nur sei es dann zu spät für einen Absprung.<br />

Wir sprachen oft darüber, und führten uns immer nur die großen Hindernisse<br />

vor Augen, die im <strong>Wege</strong> standen. Ich hatte keine Chance, etwas anderes zu<br />

beginnen, weil sich meine ganzen Erfahrungen ausschließlich auf Bau- und Architekturrecht<br />

beschränkten, und Ralf sah keine Möglichkeit, da er im Studium<br />

aus Bequemlichkeit Mathe und Sport als Fächer gewählt habe, und seine<br />

Schwerpunkte und Interessen in allgemeinen Pädagogikbereichen gelegen hätten.<br />

Eine Lösung für unsere Probleme sahen wir nicht. Das eine gefiel uns<br />

nicht, weil es keine Verbesserung darstellte, das andere war uns zu riskant,<br />

weil es leichtfertig unsere bisherige Grundlage aufs Spiel zu setzen schien. Bis<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 36 von 209


wir zu dem Schluss kamen, dass ohne Risiko nichts zu haben sei, und wir sonst<br />

in 20 Jahren immer noch hier säßen, unsere Unzufriedenheit beklagten, und<br />

dann sei wirklich alles zu spät. Unsere primäre Devise lautete daher: Jetzt oder<br />

nie.<br />

Ich wollte mich ganz beurlauben lassen, um eine Anwaltspraxis für Bau- und<br />

Architekturrecht eröffnen zu können. Meine Freundin Anja war Feuer und Flamme,<br />

wollte sofort voll mit einsteigen, und vermittelte mir ungeheure Zuversicht,<br />

andere Kollegen, wollten uns zunächst als Nebenbeschäftigung auf<br />

Honorarbasis unterstützen, und abwarten, wie es lief. Bei einem Anwalt, dessen<br />

Praxis nicht so gut lief, und der sich gern beteiligen wollte, waren wir zwar<br />

skeptisch, andererseits hatten wir so direkt eine Fachanwaltszulassung, also<br />

holten wir ihn ins Boot, wir waren uns sicher, ihn schon aufpolieren zu können.<br />

Als meine Beurlaubung endete, bin ich ganz ausgestiegen, und habe mich auszahlen<br />

lassen. Es lief, wie wir uns das nicht zu erträumen gewagt hätten. Anscheinend<br />

hatte sich das Gerücht verbreitet, dass die Sozietät Stein, Linke,<br />

Fender über geheimste Behördeninformationen und -kontakte verfügte. Einer<br />

unserer ersten Kunden war Torstens Büro, für dass ich natürlich unbedingt<br />

einen Erfolg verbuchen musste, was auch gelang, und uns gleichzeitig Anerkennung<br />

in der Branche eintrug. Wenn Stein & Partner GmbH erfolgreich mit<br />

dieser Kanzlei zusammen arbeitete, was konnte da empfehlenswerter sein. Wir<br />

mussten ständig neue Leute einstellen, und platzten nach einem dreiviertel<br />

Jahr in unserem Büro aus allen Nähten. Wir zogen um in ein Hochhaus in der<br />

Innenstadt, und verbreiteten uns über zwei Etagen. Nach drei Jahren hatten<br />

Anja und ich endlich unsere Fachanwaltszulassung, und nebenbei floss die<br />

Asche ohne Ende. Wir waren zwar offiziell Freiberufler, fühlten uns aber eher<br />

wie die Cheffinnen oder vielleicht Mütter, die primär das Wohl der gesamten<br />

Kanzlei im Auge haben mussten. Ich empfand zum ersten Mal nicht nur Anerkennung<br />

durch Ralf meinen Mann, sondern auch durch meine eigene Arbeit.<br />

Ich freute mich nicht nur Abends nach der Arbeit nach Hause zu kommen, sondern<br />

auch morgens zur Arbeit hin zu fahren. Auch dieses Glück hätte ich mit<br />

Torsten nie gefunden, da mir vorgemacht wurde, und ich es beinahe geglaubt<br />

hätte, das Glück sei dann gefunden, wenn man es soweit gebracht habe, sich<br />

bedienen lassen zu können.<br />

Neues Leben<br />

Unsere langen Nächte waren selten geworden, aber unsere Lust auf einander<br />

hatte, nicht ab sondern eher zugenommen. Durch unser beider Arbeitsbelastung<br />

hatten sich unsere gemeinsamen Zeiten verringert, und zusammen unsere<br />

Lust auszukosten, ist nicht nur ein freudiger, wilder, wohliger Moment, sondern<br />

auch ein bedeutsames Element für die Basis m<strong>einer</strong> körperlich, psychischen<br />

Alltagsverfassung. Eine erfüllte Nacht vermittelte mir Kraft, Freude und<br />

Zufriedenheit für den gesamten Tag.<br />

Ralf hatte sich zunächst auch mit halber Stelle freistellen lassen, und hatte begonnen<br />

zu promovieren. Dann hat er sich voll zu Forschungszwecken beurlauben<br />

lassen, und seine Promotion abgeschlossen. Er schrieb zur an s<strong>einer</strong> Habilitation,<br />

und hatte eine Dozentenstelle an der Uni. Er lud öfter Studis nach<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 37 von 209


Hause ein, die über seine luxuriösen Wohnverhältnisse erstaunt waren, und denen<br />

er dringend riet, sich eine reiche <strong>Frau</strong> zu nehmen. Am meisten freute sich<br />

aber Alyssia, die jetzt 13 ½ Jahre alt war, und ständig wichtigste Besprechungen<br />

mit ihren Freundinnen bei uns veranstaltete. Sie versuchten immer Aufsehen<br />

bei den jungen Studenten zu erregen, und sie von der Arbeit mit Ralf abzuhalten.<br />

Unser Haus hatte sich mit neuem Leben gefüllt, so dass wir ruhige,<br />

besinnliche Zeiten oft richtig planen mussten.<br />

Elias kommt<br />

Elias, der Sohn von Ralf drängte Britta, die mittlerweile mit einem neuen Partner<br />

zusammenlebte, immer, dass er zu uns möchte. Er ist 6 Jahre alt und<br />

kommt im Sommer in die Schule. Er wollte nicht primär wegen Ralf zu uns,<br />

sondern wegen Alyssia, die er vergötterte. Alyssia mochte ihn auch sehr, und<br />

hatte selber Lust daran, mit ihm alle möglichen Streiche auszuhecken. Alys fiel<br />

immer wieder etwas Neues ein, das ihn faszinierte und begeisterte. So hatte<br />

sie ihm zum Beispiel Fußballspielen beigebracht, obwohl sie selbst nie Fußball<br />

gespielt hatte. Es bereitete mir große Freude, den beiden zuzuschauen. Elias<br />

war immer traurig, wenn er wieder nach Hause musste. Anfangs hat er immer<br />

geweint, und sich geweigert, ins Auto einzusteigen.<br />

Britta, mit der ich mich mittlerweile sehr gut verstand, hat mir mal weinend ihr<br />

Leid geklagt, sie könne Elias gut verstehen, hier sei immer die große lebhafte<br />

bunte Welt für ihn, und zu Hause sei er ständig allein. Auch der Kindergarten<br />

habe gegen Alyssia nicht den Hauch <strong>einer</strong> Chance. Es begeistere sie immer zu<br />

sehen, wie ein Mädchen mitten in der Pubertät sich so einfühlsam und liebevoll<br />

mit einem kleinen 6-jährigen Jungen beschäftige. Sie sei überzeugt, dass Alyssia<br />

bestimmt mal eine ganz tolle <strong>Frau</strong> werden würde. Wie ihre Mutter, fügte sie<br />

schmunzelnd hinzu. Zusätzlich würde Elias mit ihrem Freund nicht richtig<br />

warm. Ihr Freund versuche alles Mögliche, aber Elias schotte sich ab. An sein<br />

Herz ließe er ihn nicht ran. Sie selbst sei ja auch so häufig nicht da. Sie sehe<br />

sich für Elias in <strong>einer</strong> ausweglosen Position. Und Britta weinte, dass ich sie<br />

ganz lange trösten musste. Sie habe schon mal gedacht, auch wenn es sie selber<br />

sehr schmerzen würde, dass es im Sinne von Elias besser sei, wenn er bei<br />

uns leben würde als bei ihr. Aber abgesehen davon, wäre das ja für uns auch<br />

gar nicht möglich, sich ständig um so einen kleinen Steppke kümmern zu müssen.<br />

Mir schoss alles blitzartig durch den Kopf. So ein junges Männlein aufwachsen<br />

zu sehen, gemeinsam mit ihm am Tisch zu sitzen, seinen Problemen<br />

zuzuhören, es abends ins Bett zu bringen, Lust hätte ich dazu schon, und zu<br />

alt empfand ich mich schon längst nicht mit 38 Jahren. Andere <strong>Frau</strong>en bekommen<br />

in diesem Alter oft erst ihr erstes Kind. Andererseits waren wir ja häufig<br />

nicht zu Hause. Und immer nur Alys, das würde zu viel für sie, und wäre nicht<br />

o.k.. Aber eine Kinderfrau, eine nette junge Kinderfrau, das wäre doch kein<br />

Problem. „Britta,“ sprach ich sie an, „wenn du das wirklich so siehst, und wenn<br />

das dein fester Wunsch ist, den du nicht morgen wieder revidieren möchtest,<br />

dann würde ich das mal mit Ralf und Alys besprechen. Ich halte das nicht für<br />

unmöglich, und könnte mir das auch sehr schön für Elias und für uns vorstellen.<br />

Dir stehen hier natürlich immer alle Türen offen. Du könntest ihn selbst-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 38 von 209


verständlich jederzeit besuchen, oder mit ihm etwas unternehmen, oder was<br />

du möchtest.“ Britta nickte zustimmend, viel mir um den Hals und fing wieder<br />

an zu weinen. Sie hatte noch nicht aufgehört zu weinen, und erklärte: „Ich bin<br />

eine furchtbare Heulsuse, immer fließen mir gleich die Tränenbäche,“ und während<br />

sie die letzten Tränen abwischte sinnierte sie: „Dass ich so eine nette, liebe,<br />

tolle <strong>Frau</strong> wie dich, mal so verteufeln konnte, werde ich mir mein Leben<br />

lang vorwerfen.“ „Britta, hör auf mit so einem Unfug, ich hätte das an d<strong>einer</strong><br />

Stelle genauso getan. Vergiss es. Denk nicht mehr daran, und sprich nicht<br />

mehr davon. Das ist Schnee von gestern, der ist nicht mehr da, der ist heute<br />

geschmolzen. Ich habe dich vom ersten Moment an, als dich mal auf dem<br />

Schulfest gesehen habe, gemocht, und das ist heute noch viel stärker geworden.<br />

Das lass uns bewahren und pflegen, das ist jetzt wichtig. Für uns beide.“<br />

entgegnete ich auf ihre Selbstvorwürfe. „Ich werde das,“ überlegte ich „ja,<br />

heute Abend mit Ralf und Alyssia besprechen, und rufe dich morgen an. Ich<br />

kann nicht versprechen, dass es erfolgreich sein wird, und du kannst es dir ja<br />

heute Nacht auch noch einmal überdenken, ob du dir wirklich sicher bist.“<br />

Beim Abendbrot berichtete ich von dem Gespräch mit Britta. Bevor ich meine<br />

Meinung überhaupt darstellen konnte, posaunte Alyssia schon los: „Au ja, dann<br />

bekommt Elias mein Zimmer, und ich kriege das tolle Gästezimmer mit den<br />

großen Fenstern unterm Dach.“ „Dann hätten wir das wichtigst Problem ja<br />

schon mal gelöst,“ kommentierte ich. Alys kniff die Lippen zusammen und<br />

grinste, sie hatte meine Ironie verstanden. Ich stellte meine Überlegungen vor,<br />

und wollte von den beiden hören, ob sie sich darauf freuen könnten. „Also ich<br />

schon.“ erklärte Alyssia als erste, „nicht wegen des Zimmers. Ich stelle mir das<br />

schön und lustig vor. Wir würden ja nicht immer zusammenhängen, natürlich<br />

auch mal, aber Elias würde ja auch hier lesen, schreiben und rechnen lernen,<br />

er würde im Garten helfen und bestimmt auch mal motzen und sich beschweren,<br />

er würde uns am Tisch lustige Sachen erzählen, und mal weinen, wenn er<br />

traurig wäre. Er würde seine kleinen Kumpels aus der Schule mitbringen, und<br />

so etwas alles und noch viel, viel mehr. Ich würde mich freuen, wenn es hier so<br />

etwas gäbe, und nicht nur wir alten Knacker immer unter uns wären.“ Ralf hatte<br />

mit großen Augen Alyssia angeschaut und ihr zugehört. „Wunderschön, wie<br />

du das gesagt hast, du hast mir richtig Lust darauf gemacht.“ lobte Ralf Alys<br />

Stellungnahme „selbstverständlich möchte ich gern, dass Elias bei uns wohnt,<br />

nichts lieber als das. Nur wir sind ja oft beide den ganzen Tag nicht zu Hause,<br />

und das wäre dann für Alys zu viel. Sie kann was mit ihm unternehmen, wenn<br />

sie möchte, aber sie muss selber frei bleiben, und kann nicht Elias Kindermädchen<br />

spielen.“ „Selbstverständlich nicht, ich hatte ja auch nicht an eine <strong>Frau</strong><br />

gedacht, die sich nur darum kümmert, dass er morgens ordentlich zur Schule<br />

kommt, sondern an jemand der den ganzen Tag hier ist. Und da wäre es<br />

eigentlich ganz wichtig, dass du Alyssia gut mit ihr klar kommst.“ erläuterte<br />

ich. „Ich brauch keine Gouvernante, ich schmeiß' die raus.“ schnarrte Alys.<br />

„Nein selbstverständlich nicht. Wenn jemand für Elias, den ganzen Tag im Haus<br />

ist, dann ist der oder die ja nicht nur bei Elias im Zimmer, sondern im ganzen<br />

Haus, und da wirst du mit dieser Person ja zwangsläufig auch häufiger<br />

zusammen treffen. Wenn man sich dann nicht riechen oder ausstehen kann,<br />

dann tut das weh, dann wird das immer unerträglicher, und es wird nicht mehr<br />

gehen. Deswegen meine ich, dass es jemand sein sollte, mit dem du dich auch<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 39 von 209


gut verstehen könntest. Ich denke auch es sollte eine möglichst junge <strong>Frau</strong><br />

sein, und deine Stimme würde den Ausschlag für die Entscheidung geben.“ erläuterte<br />

ich detaillierter. Alyssia war einverstanden.<br />

Ich würde also Britta erklären, dass es von uns aus funktionieren könne und<br />

wir uns alle darauf freuen würden. Britta selbst war bei ihrer Vorstellung geblieben.<br />

Wir wollten Elias gemeinsam fragen, wenn er wieder bei uns war.<br />

Nachdem die Mutti geschworen hatte, ihn ganz ehrlich oft besuchen zu kommen,<br />

war er schwer begeistert, und wir leiteten alles in die <strong>Wege</strong>.<br />

Bianca<br />

Eine 19 jährige Kindergärtnerin, in Brasilien geboren aber hier aufgewachsen,<br />

nicht nur die hübscheste der Bewerberinnen, sondern eine ausgesprochene<br />

Schönheit, hatte Alyssia ausgesucht. Bianca war aber nicht nur schön, sie hatte<br />

gute Zeugnisse, schien ein offenes Herz und ein immer zum Lachen bereites<br />

Gesicht zu haben. Wir hatten sie schnell ins Herz geschlossen, und sie gehörte<br />

so gut wie zur Familie. Sie übernachtete öfter bei uns, weil sie abends aus freien<br />

Stücken länger geblieben war. Alyssia und Bianca waren ein Herz und eine<br />

Seele. Was sie bei ihren vielfältigen Konsultation immer zu besprechen hatten,<br />

blieb uns natürlich alles verborgen. Eines Tages weinte Bianca und teilte uns<br />

mit, dass sie nicht länger zu uns kommen dürfe. Der Grund war, dass ihr<br />

Freund es ihr verboten habe. Wer denn dieser Freund sei, dass er ihr das einfach<br />

verbieten wolle, antwortete sie, das dürfe sie nicht sagen, sonst bringe er<br />

sie um. Wir hatten ja Biancas Adresse und ihre Handynummer, und informierten<br />

sofort die Polizei. Die Adresse war fingiert und ihr Name war im Melderegister<br />

mit unbekannt verzogen notiert. Ihre Handynummer, unter der sie sonst<br />

immer zu erreichen gewesen war, meldete 'kein Anschluss unter dieser Nummer'.<br />

Wir versuchten, der Polizei zu vermitteln, dass wir uns sehr große Sorgen<br />

um sie machten. Die meinten nur, man könne ja eine Vermisstenanzeige aufgegeben,<br />

aber wir sollten uns keine Illusionen über den Erfolg machen, für sie<br />

deute das eher darauf hin, dass sie etwas mit dem Drogenmilieu zu tun habe,<br />

es gebe hier einen brasilianischen Drogenhändlerring, an den sie aber nicht ran<br />

kämen, und wenn Bianca eine schöne junge Brasilianerin sei, könne man sich<br />

durchaus vorstellen, dass sie sie irgendwann eingefangen hätten, und als sie<br />

gemerkt habe, wo sie rein geraten sei, nicht mehr raus gekonnt hätte.<br />

Unsere Bianca und Drogen? Wir konnten es uns nicht vorstellen. Wir fragten<br />

Alyssia zu allen möglichen Angelegenheiten, und da kam einiges zu Tage. Sie<br />

hatte ihr erzählt, dass sie ganz reiche Freunde habe, die noch viel mehr Geld<br />

hätten als wir. Mehr dürfe sie aber davon nicht erzählen. Dann hatte sie ihr<br />

auch noch vermittelt, dass man das meiste Geld auf der Welt mit Kokain und<br />

Heroin verdienen könne, aber es sei eben auch sehr gefährlich. Sie habe ihr alles<br />

genau erklären können. Einmal habe sie auch ein Briefchen mit Kokain mitgebracht,<br />

um es ihr zu zeigen. Sie habe es aber wieder zugemacht, und wieder<br />

mitgenommen.<br />

„Alys, warum hast du uns, denn nie etwas gesagt?“ fragte Ralf entsetzt. „Das<br />

ergab sich ja immer nur so nebenbei. Ich habe halt nur gedacht, die Bianca hat<br />

Ahnung davon. Aber ich bin nie auf die Idee gekommen, das sie selber etwas<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 40 von 209


damit zu tun haben könnte.“ war Alyssias Antwort.<br />

¾ Jahr später wurde Biancas fast verweste Leiche aus der Elbe gezogen. Ralf<br />

musste noch zur Identifizierung beitragen. Verwandte oder sonst irgendwelche<br />

Anhaltspunkt waren nicht zu ermitteln. Wir hätten ihre Bewerbungspapiere kopieren<br />

sollen, das konnte doch nicht alles ein Fake gewesen sein, für so eine<br />

lapidare Stelle als Tagesbetreuung. Vielleicht hatte sie aussteigen wollen, und<br />

sich versteckt, damit wir ihre wirkliche Adresse nicht verraten konnten. Die<br />

Mafia hatte sie aber doch entdeckt. Man mochte sich gar nicht vorstellen, was<br />

unserer Bianca passiert war. Wie kann man nur ein so lebenslustiges, freundliches,<br />

warmherziges 19 jähriges Mädchen einfach abschlachten. Menschen<br />

konnten das nicht sein, oder ich weiß nicht mehr, was unter Mensch zu verstehen<br />

ist.<br />

Für Alyssia hat es Monate gedauert, bis sie halbwegs darüber hinweg gekommen<br />

war. Ich vermute, ein leichter dunkler Schatten auf ihrem Gemüt wird nie<br />

mehr ganz verschwinden. Mit ihren Freundinnen hatte sie immer wieder nach<br />

Möglichkeiten gesucht, diese Bestien zu killen. Sie hatten sich so intensiv mit<br />

der Drogenmafia beschäftigt, dass wir mehrfach meinten, sie eindringlich warnen<br />

zu müssen, keine irgendwie gearteten Aktivitäten zu entwickeln, da wir<br />

keine Lust hätten, sie wie Bianca aus der Elbe fischen zu müssen.<br />

Cynthia<br />

Das neue Kindermädchen hatte Alys zwar auch ausgesucht, sie mochte sie<br />

auch, aber das Verhältnis blieb distanzierter. Ich habe mit Cynthia mal darüber<br />

gesprochen, und ihr zu vermitteln versucht, dass für uns alle der Schock über<br />

das Schicksal von Bianca noch nicht völlig überwunden sei, und uns in unserer<br />

Freundlichkeit, Offenheit und Sympathie ihr gegenüber möglicherweise behindere.<br />

Sie fühle sich aber ganz wohl bei uns, sehe uns als nett, freundlich und<br />

großzügig an, sei mit allem zufrieden, und habe Spaß an ihrer Arbeit.<br />

Elias haben wir Biancas Tod verschwiegen, weil wir die möglichen Konsequenzen<br />

nicht einschätzen konnten. Er kam mit Cynthia prima klar, und hatte viel<br />

Freude mit ihr. Sie eröffnete ihm viele neue Möglichkeiten, und sorgte dafür,<br />

dass er Freunde zu uns nach Hause einlud. Er hatte für sich fest beschlossen,<br />

wenn er groß sei, Cynthia zu heiraten. Britta, deren Besuche von ihm Anfangs<br />

immer noch stürmisch begrüßt wurden, waren für Elias alltägliche Intermezzi<br />

geworden, und es konnte durchaus vorkommen, dass er einen Zoobesuch oder<br />

Ähnliches mit Britta ablehnte, weil er unbedingt etwas anderes, Wichtigeres zu<br />

erledigen habe. Britta kam trotzdem immer häufiger zu uns.<br />

Britta arbeitslos<br />

Eines Nachmittags, als ich mal ein wenig früher nach Hause gekommen war,<br />

sah ich sie bei uns allein im Park auf <strong>einer</strong> Bank sitzen. Ich konnte erkennen,<br />

wie sie sich mit einem Taschentuch mehrfach durch das Gesicht wischte. Sie<br />

weinte. Wahrscheinlich hatte Elias sie wieder zurückgewiesen. Ich ging zu ihr,<br />

setzte mich neben sie, und wollte den Grund wissen. Bevor sie etwas sagen<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 41 von 209


konnte, brach sie wieder in lautes Weinen aus, und erklärte mir heulend: „Ich<br />

hab keine Arbeit mehr. Ich steh auf der Straße, ich habe nichts.“ Nachdem sie<br />

noch einige Zeit geweint hatte, beruhigte sie sich langsam, und begann mir die<br />

näheren Zusammenhänge zu erläutern. Ich unterbrach sie und schlug ihr vor,<br />

es doch ruhiger und entspannter bei <strong>einer</strong> Tasse Tee oder Kaffee im Haus zu<br />

tun. Es hatte mit ihr und ihrer Arbeit nichts zu tun, das Unternehmen für Architekturfotografie<br />

hatte nach großen finanziellen Erfolgen s<strong>einer</strong> Filialen in<br />

Shanghai und Kuala Lumpur beschlossen, dass der Einsatz für das Hamburger<br />

Atelier sich nicht genügend rentiere, die Filiale in Manila zur Zentrale des Unternehmens<br />

gemacht, organisiere von dort aus alles ,und habe sich aus dem<br />

europäischen Markt völlig zurück gezogen. Man habe ihr mehrere Möglichkeiten<br />

in Südostasien angeboten, aber sie habe nicht gekonnt und gewollt. Ich<br />

versuchte sie zu beruhigen. Sie habe sich doch durch ihre bisherige Tätigkeit<br />

beste Referenzen erworben, und es sei sicher nicht schwierig für sie, wieder etwas<br />

Neues zu finden. Sie stellte die Situation trotz ihrer Referenzen als ziemlich<br />

hoffnungslos dar, so hoffnungslos, dass ich ihr diesmal sicher auch nicht<br />

helfen könne. Sie schaute mich an und lächelte wieder.<br />

Ich hatte ihr damals den Job besorgt, ohne dass sie es wusste oder mich kannte.<br />

Als Ralf mir erzählt hatte, dass seine <strong>Frau</strong> gerne wieder arbeiten würde,<br />

aber die Chancen als Designerin ohne Berufspraxis und mit Kind hoffnungslos<br />

seien, hatte ich ihn gefragt, ob ich mal etwas versuchen solle. Ich hatte das<br />

Architekturfotografiestudio, von dem Torstens Firma alles Optische produzieren<br />

ließ angerufen, und dem Chef Brittas Qualitäten angedient, sie als frisch, kreativ,<br />

unverbraucht, und als Bereicherung für seine Firma empfohlen, und ihre<br />

fehlenden Kenntnisse in Architekturfotografie ins Positive gewendet, obwohl ich<br />

nicht eine ihrer Arbeiten gesehen hatte. Wenn <strong>Frau</strong> Stein das so empfahl,<br />

konnte das nicht einfach so übergangen werden. Ich hatte den Chef zwar noch<br />

gebeten, Britta nichts von unserem Gespräch zu erzählen, da sie sich sonst unterstützt<br />

fühlen könne, und es ihr wichtig sei, alleine nach der Qualität ihrer<br />

Arbeit bewertet zu werden. Er hat ihr dann doch gesagt, dass <strong>Frau</strong> Stein sie ja<br />

über alle Maßen gelobt habe, die sie natürlich gar nicht kannte, oder an die sie<br />

sich nicht erinnern konnte. Noch ein zusätzlicher Punkt für ihre Einstellung.<br />

Ralf hatte ihr erzählt, den Tipp von einem Kollegen bekommen zu haben. Er<br />

rief mich an, dass Britta sich nicht vorstellen wolle, weil es sowieso völlig hoffnungslos<br />

sei, sie habe mit Architekturfotografie außer historischer Industriearchitektur<br />

noch nie etwas zu tun gehabt, und habe keinen blassen Schimmer<br />

davon. Ich hatte ihm noch mal erläutert, dass es da nicht nur ums Fotografieren<br />

von Gebäuden ginge, sondern dass sie Medien aus allen Möglichkeiten der<br />

visuellen Darstellung und Vermittlung produzierten, das dort sowohl Graphik-<br />

Designer als auch Filmhochschulabsolventen säßen, und sie habe, wenn sie<br />

dem Chef nicht gerade erzähle, sie könne das nicht, und habe keine Lust daran,<br />

hervorragende Chancen, dort eine Anstellung zu bekommen. Er solle sich<br />

alles einfallen lassen, sie umzustimmen. So eine sichere Chance bekäme sie<br />

nicht wieder. Irgendwann später, als wir uns schon gut kannten, fiel Britta<br />

plötzlich ein, dass bei ihrer Vorstellung von <strong>Frau</strong> Stein gesprochen worden war,<br />

„Du warst das natürlich.“ entfuhr es ihr mit dem Finger auf mich zeigend „das<br />

ist ja frech, einfach tolle Sachen von mir zu erzählen, obwohl du mich überhaupt<br />

nicht kennst.“<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 42 von 209


Brittas Trennung<br />

„Das ich keine Arbeit mehr habe, ist ja noch nicht mal alles.“ begann Britta,<br />

„Zu Hause ist für mich auch das reinste Chaos. Permanent haben wir Streit,<br />

mein Freund und ich. Hinterher weiß ich oft gar nicht worum es eigentlich ging.<br />

Diese ewigen gegenseitigen Vorwürfe, Anschuldigungen und Beleidigungen, ich<br />

will es nicht mehr, und will es auch nicht mehr ertragen. Es verhärtet meine<br />

Seele. Miteinander ins Bett gehen wir nur noch, wenn wir mal wieder großen<br />

Frieden geschlossen, und uns versprochen haben, in Zukunft alles anders zu<br />

machen. Aber es bleibt immer alles beim Alten, und wiederholt sich nur permanent.<br />

Ich weiß, dass ich da raus will, aber ich weiß nicht wie. Selbst wenn wir<br />

miteinander schlafen, bin ich mir gar nicht sicher, ob ich ihn überhaupt noch<br />

liebe, oder ob wir nicht einfach so aus Gewohnheit aneinander kleben bleiben.<br />

Ich war immer froh, wenn ich im Atelier war, oder bin es, wenn ich bei euch<br />

sein kann. Zu Haus empfinde ich es nur noch als angespannt und stressig,<br />

glücklich bin ich da eigentlich nie.“ Britta weinte jetzt nicht, sondern ihr Gesicht<br />

zeichneten eher bittere, verhärmte Züge. Wir saßen neben einander auf der<br />

Couch, „Lass dich mal drücken, meine Arme“ umschlang ich sie „Wie du es darstellst,<br />

wäre das für mich die Katastrophe. Keinen Tag würde ich das länger ertragen.<br />

Was kann es denn schlimmeres geben? Ich will dir keine alten Allgemeinplätze<br />

auftischen, aber meine Mutter hat mir mal gesagt, <strong>Frau</strong>en hätten<br />

für Vieles mehr Verständnis und einen besseren Durchblick, sie könnten Vieles<br />

tiefer empfinden und besser nachvollziehen, aber entscheiden würden sie häufiger<br />

gegen sich selbst. Ich habe das damals gar nicht richtig verstanden, aber<br />

vergessen habe ich es trotzdem nicht. Im Laufe der Zeit habe ich es immer<br />

besser verstehen gelernt, ich will mich nicht mehr gegen mich selber entscheiden.<br />

Was willst du denn mit einem Mann, der nicht versuchen will, dich zu verstehen,<br />

und der sich nicht gern auf dich einlassen will, sondern Streit mit dir<br />

anfängt, der dir verspricht, alles zu ändern, aber praktisch das Gewohnte immer<br />

weiter spielt. Der Kerl kann dich nicht lieben, auch wenn er's dir hoch und<br />

heilig verspricht, Lust daran, dich glücklich zu machen, kann er jedenfalls nicht<br />

haben, sonst würde er sich sein eigenes Verhalten verbieten. Such nicht nach<br />

Entschuldigungen, sag nicht, du beteiligtest dich ja auch daran. Ohne ihn gibt<br />

es das bei dir nicht. Versuch nichts zu verzeihen, weil du ihn ja liebst. Als du<br />

ihn liebtest, war er ein anderer. So wie heute hättest du dich nie in ihn verliebt.<br />

Du liebst ein Bild, das es nicht mehr gibt. Welches Recht hat dieser Mensch,<br />

dich zu kränken, und dich zu verbittern. Entscheide dich für dich selbst, Britta,<br />

und lass dich nicht von irgendwelchen Rücksichten abhalten. Du musst mit deinem<br />

Leben leben, etwas anderes hast du nicht.“<br />

Britta schaute mich stumm, mit großen Augen an, dann strich sie mir mit der<br />

Oberseite der Finger ihrer rechten Hand zart über die Wange, lächelte mich an<br />

und hauchte: „Ruht, ich liebe dich.“. Ein wenig verlegen lächelte ich zurück.<br />

„Du persönlich musst etwas tun, Britta, wenn du etwas ändern willst. Und du<br />

kannst das auch.“ sprach ich weiter. „Ja, selbstverständlich,“ und beinahe triumphierend<br />

verkündete Britta, „Und das werde ich auch.“ Wir lächelten uns<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 43 von 209


an, und als ich wissen wollte, was sie denn zu tun gedenke, erklärte sie: „Ich<br />

werde mich von ihm trennen, und zwar sofort, heute noch, ohne Rolle rückwärts.“<br />

Dann versuchten wir alles abzuklären, wie es organisatorisch laufen<br />

könne. Da ihr Freund der Mieter der Wohnung sei, und auch die Miete überweise,<br />

könne sie ihn schlecht raus werfen, sie müsse sich schon selbst etwas anderes<br />

suchen, und dachte für die ersten Nächte an ein Hotel. Das hielt ich natürlich<br />

für Unsinn, und bot ihr an, dass sie selbstverständlich bei uns übernachten<br />

könne. Bei mir im Hinterkopf liefen natürlich auch Gedanken ab, dass sich<br />

das dann eventuell länger hinziehen könne, und da sie ja den ganzen Tag zu<br />

Hause sein würde, und Ralf auch öfter zu Hause war, sich nicht Kommunikationen<br />

über schöne alte Zeiten entwickeln könnten, mit Folgen, die ich absolut<br />

nicht akzeptieren konnte, und auf jeden Fall verhindern wollte.<br />

Ich versuchte Britta noch zu warnen, dass die Trennung von ihrem Freund<br />

nicht so einfach werden würde, wie sie das hier verkündete. Sie werde ganz<br />

stark sein müssen, die Zähne zusammenbeißen, und sich nicht von ihrem Entschluss<br />

abbringen lassen, auch wenn er noch so Mitleid erregend weine, beschwöre,<br />

in Zukunft wirklich alles anders zu machen, und ihr den Himmel auf<br />

Erden verspräche. Er würde ihr erklären, ohne sie nicht leben zu können, und<br />

vielleicht sogar sich umzubringen. Sie solle sich auf keinen Fall auf einen Streit<br />

einlassen, sondern ihm nur erklären, dass es vorbei sei, und kein zurück mehr<br />

gebe. Es werde sicher nicht leicht für sie. Britta stand auf, reckte sich, hob lächelnd<br />

ihre Arme mit geballten Fäusten und machte sich auf den Weg nach<br />

Hause. „Ich wünsche dir so sehr, dass du ganz stark sein kannst, Liebes.“ verabschiedete<br />

ich sie.<br />

Britta zieht ein<br />

Ich kümmerte mich um alles Mögliche im Haus, beschäftigte mich mit Cynthia,<br />

den Kindern und der Abendbrotvorbereitung. Ralf war inzwischen nach Hause<br />

gekommen, und ich hatte über allem vergessen, von dem Gespräch mit Britta<br />

zu berichten. Mittlerweile waren drei Stunden vergangen, wir wollten gerade<br />

mit dem Abendbrot beginnen, als es klingelte. Vor der Tür stand Britta mit Koffer<br />

und <strong>einer</strong> Tasche. „Juhu! Juhu! Geschafft! Geschafft! Ich bin frei!“ stürzte<br />

sie sich mir um den Hals, „Es war genau wie du's gesagt hattest, ich brauchte<br />

nur die einzelnen Szenen abzuhaken. Das hat mir sehr geholfen, cool zu bleiben.<br />

Danke <strong>Ruth</strong>, danke, danke, danke.“ Sie küsste mich dabei mehrfach auf<br />

jede Wange. Die anderen saßen am Tisch, und schauten uns nur staunend und<br />

verständnislos zu. Zu Ralf gewandt meinte Britta scherzend: „Ob du so 'ne tolle<br />

<strong>Frau</strong> wirklich verdient hast, das weiß ich ja doch nicht so richtig.“ Alyssia und<br />

Elias wollten unbedingt sofort wissen, was los sei, und Ralf saß nur leicht lächelnd<br />

mit großen Augen da. Nachdem ich mein Verschulden für ihre Uninformiertheit<br />

dargelegt hatte, erzählte Britta in Einzelheiten, wie es abgelaufen sei<br />

und wie cool sie immer nur ihren Entschluss wiederholt habe, ihn manchmal<br />

gefragt, ob er sie nicht verstanden haben, oder nicht hören könne, was sie<br />

sage. „Toll Mutti,“ strahlte Elias, „ich hab ja immer gesagt der Typ ist doof.<br />

Wohnst du jetzt auch bei uns, Mutti?“ „Echt cool.“ anerkannte Alyssia mit dem<br />

Kopf nickend. Sie hatte konzentriert Brittas Ausführungen verfolgt, und dabei<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 44 von 209


sicher einiges für sie dringend speichernswert befunden.<br />

Ich erklärte das mit Brittas Unterkunftsbedarf, und überlegte, ob es nicht am<br />

besten sei, meine Befürchtungen mit den beiden direkt zu besprechen. Britta<br />

sprach ich darauf an, als ich ihr das Gästezimmer zeigte. Sie versicherte mir,<br />

das dies für sie das Wichtigste sei, was sie an ihrer Emotionalität zu kontrollieren<br />

habe, und dass sie vor sich selbst nicht mehr existieren könne, wenn sie<br />

mir das antäte. Ralf sprach ich abends im Bett darauf an. Er wollte mich ärgern<br />

und meinte, dass es gar nicht so unwahrscheinlich sei. Sie sei ja nun um einiges<br />

reifer und älter, und hübsch sei sie ja auch immer noch, er befürchte, dass<br />

man sich als Mann da gar nicht entziehen könne. Nach mehreren weiteren Albernheiten<br />

von ihm und m<strong>einer</strong> Drohung, Britta sofort morgen raus zu werfen,<br />

wenn ich keine ernsthafte Erklärung von ihm bekäme, versicherte er mir dann,<br />

dass es eines gebe, was er für nichts auf der Welt gefährden oder belasten<br />

würde, das sei für ihn unsere Beziehung, aber darüber seien wir uns doch beide<br />

einig, er könne mir das aber gern öfter bestätigen, wenn ich das brauche.<br />

Normalerweise wäre der Zusatz Anlass zu <strong>einer</strong> großen Bestrafung mit den üblichen<br />

Folgen gewesen, aber heute war ich so schlapp, dass ich ihn nur einmal<br />

kneifen konnte und dann weiter schmuste.<br />

Britta braucht Arbeit<br />

Noch länger als gewöhnlich saßen wir zusammen im Wohnraum. Wir waren ja<br />

jetzt zu fünf Personen, und mit Cynthia tagsüber zu sechs. Wir überlegten, wie<br />

wir eine Wohnung für Britta trotz ihrer Arbeitslosigkeit finden könnten, und sahen<br />

keine Chance, außer dafür zu sorgen, dass sie so schnell wie möglich wieder<br />

eine Beschäftigung finden würde. Alle wurden eingebunden, ich wollte unsere<br />

Kundendatei durchforsten, Ralf sollte erkunden, welche Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

für Designerinnen es im Unibereich gebe, Britta, Alyssia und Elias,<br />

der mittlerweile auch schon lesen konnte, suchten nach sinnvollen Möglichkeiten<br />

in Fachzeitschriften, Zeitungen und Internet zur Veröffentlichung <strong>einer</strong><br />

Anzeige, und sollten auch die Anzeige entwerfen. Brittas Möbel wurden nach<br />

und nach abgeholt, und in unserer Garage gelagert. Sie selbst hatte sich sofort<br />

eine neue Handynummer besorgt, und teilte sie nur ausgesuchten Bekannten<br />

mit, von denen sie sicher sein konnte, dass sie ihr Versprechen, die Nummer<br />

nicht weiterzugeben, hielten. In den folgenden Tagen versuchte ihr ehemaliger<br />

Freund, sie ständig bei uns zu erreichen, bis Ralf ihm sehr deutlich und eindringlich<br />

vermittelte, dass jeder weitere Anruf von ihm eine Anzeige zur Folge<br />

haben würde. Unsere Jobvermittlungsversuche für Britta blieben trotz unseres<br />

geballten Einsatzes und der lustigen Anzeige mit einem von Elias gezeichneten<br />

Haus, absolut erfolglos.<br />

Maximilian Kreutz<br />

Ralf hatte die Teilnehmer eines Doktoranden-Kolloquiums nach Hause eingeladen,<br />

die meisten waren schon gegangen, nur <strong>einer</strong> besprach am Tisch mit Ralf<br />

noch etwas, als Britta begann den Tisch abzuräumen. Als Ralf schon ins Haus<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 45 von 209


gegangen war, kamen der Doktorand, der seine Sachen zusammen packte, und<br />

Britta ins Gespräch. Das Gespräch wurde länger, beide setzten sich wieder hin,<br />

und redeten und lachten und redeten. Ich wagte es gar nicht, sie zu stören und<br />

Britta zu sagen, dass das Abendbrot zubereitet sei. Bei der Verabschiedung<br />

schüttelten sie sich immer wieder die Hände, dass Alex und Alyssia schon anfingen,<br />

alberne Witze zu machen. „Mutti hat 'nen neuen Freund.“ verkündete<br />

Elias gleich, und er und Alys lachten sich krumm. „Nein, ich fand den schon<br />

sehr nett, und witzig war der auch.“ erklärte Britta, und wollte von Ralf alles<br />

über ihn wissen. Ralf wusste aber auch nur, dass er Historiker war mit Pädagogik<br />

als Zweitfach, und da promoviere er jetzt. Er habe mal mit ihm darüber gesprochen,<br />

ob er ins Lehramt gehen wolle oder nicht. Er habe die Ansicht geäußert,<br />

dass die Chancen als Historiker eine Beschäftigung zu finden, geringer als<br />

Null seien, deshalb habe er auch seine Promotion in Pädagogik begonnen. Ob<br />

Ralf die Leute denn öfter zu uns einlade, wollte Britta noch wissen. „Kann ich<br />

machen, wenn du das gerne möchtest.“ erwiderte Ralf, und beide grinsten sich<br />

an. Am nächsten Tag habe Herr Kreutz zu Ralf in der Uni gesagt, er habe ja<br />

nicht nur bewundernswerte Wohnverhältnisse, sondern ebenso bewundernswertes<br />

Personal. Ralf habe ihn dann darüber aufgeklärt, mit wem er sich unterhalten<br />

habe, und dann habe er alles ganz genau wissen wollen. Ralf habe ihm<br />

vorgeschlagen, sie doch mal zum Essen einzuladen, sie würde sich bestimmt<br />

freuen, und da könne sie ihm dann alles viel besser selber beantworten. Er<br />

habe ihm ihre Handynummer mit dem Geheimhinweis gegeben. Nachmittags<br />

war Britta ganz erstaunt, von ihrem gestrigen Gesprächspartner angerufen zu<br />

werden, und die Einladung zum Abendessen, die er schon für den gleichen<br />

Abend geplant hatte, verschob sie erst mal auf den nächsten Tag. Sie war ganz<br />

verwirrt, und wusste gar nicht, wie sie das bewerten sollte, sie hatte ihn schon<br />

sehr nett und amüsant gefunden, und meinte, dass man mit ihm sicher viel zu<br />

lachen haben würde, doch mehr habe sie auch bislang nicht empfunden. Aber<br />

das sollte sich schnell ändern. Zunehmend häufiger war Britta jetzt abends unterwegs<br />

mit ihrem Maxe, so nannte sie Maximilian Kreutz, und lobte sein Wissen<br />

und seine Qualitäten immer überschwänglicher. Eines Abends kam sie<br />

recht früh wieder, und warf sich weinend auf die Couch. „Was ist passiert, Liebes,<br />

sag es!“ kniete ich mich zu ihr und strich ihr übers Haar. Sie hob den Kopf,<br />

sah mich an, und sagte heulend: „Er hat 'ne Freundin.“ Ich wollte von Britta<br />

Genaueres wissen. Es war wohl schon eine langjährige Beziehung, und er habe<br />

eigentlich schon länger Schluss machen wollen, sich aber bislang nicht dazu<br />

durchringen können, und getraut. Er habe es immer wieder Tag für Tag verschoben,<br />

aber jetzt würde er definitiv diese Beziehung beenden. „Ich meine<br />

das ist ja alles nicht unmöglich, das kann ja so stimmen, aber warum hat er es<br />

dir erst jetzt gesagt?“ meinte ich zu Britta. Das habe sie ihn ja als erstes gefragt.<br />

Er habe immer gedacht er würde das Verhältnis beenden, und dann sei<br />

das kein Thema mehr. Am nächsten Tag, Samstagmittag rief er an. Wir saßen<br />

gerade am Mittagstisch, und Britta kam es gar nicht in den Sinn, mit dem Telefon<br />

aufzusehen. „Na, hast du die Beziehung beendet?“ fragte sie barsch, nach<br />

dem sie seinen Namen vernommen hatte. „Und warum rufst du mich dann<br />

an?“ … „Da ist nichts zu besprechen, solange du deine Beziehung nicht beendet<br />

hast. Ich habe dir das ja gestern Abend schon gesagt, bevor du das nicht<br />

geregelt hast, herrscht absolute Funkstille zwischen uns, und ich glaube, das<br />

hast du sehr genau verstanden.“ … „Herr je, von jeder schwachen <strong>Frau</strong> wird<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 46 von 209


selbstverständlich erwartet, dass sie sich traut, und das durchsteht. Entweder<br />

lügst du mich an, oder du bist ein absolutes Weichei, und beides löst in mir<br />

weder sympathische noch amouröse Gefühle, sondern Abscheu und Ekel aus.<br />

Bring das auf die Reihe, dann kannst du dich wieder melden. Dann werden wir<br />

weiter sehen. Vorher empfinde ich Anrufe von dir als Belästigung. Tschüß“<br />

Elias starrte Britta mit großen Augen an, dann sprang er auf, lief zu ihr hin,<br />

und fiel ihr um den Hals, wobei er bewunderte: „Mutti, du bist Klasse, einsame<br />

Klasse.“ Alyssia zog wider ihr breite Schnute und nickte anerkennend, meinte<br />

dann aber „Ich dachte, der wäre so nett?“ „Ja, das dachte ich ja auch, oder<br />

denke es immer noch, ich glaube ihm das sogar mit s<strong>einer</strong> Beziehung, nur<br />

wenn ihm seine Angst wichtiger ist als ich, und er meint, mir so etwas einfach<br />

verschweigen zu können, dann will ich das nicht, dann bedeute ich ihm zu wenig,<br />

das reicht mir nicht.“ erklärte Britta. „Ja, ja, ein Mann der seine <strong>Frau</strong> einfach<br />

belügt oder ihr etwas verschweigt, der zeigt, dass er sie eigentlich für 'ne<br />

unbedeutende Tussi hält, und nicht wirklich liebt, das glaube ich auch.“ sinnierte<br />

Alys, die ja eigentlich mit ihren 14 Jahren nicht mehr meine Süße war. Größere<br />

Ausbrüche hatte es in der Pubertät nicht gegeben, ihr Verhalten ließ sich<br />

aber oft nur schwer in einem Gesamtrahmen sehen. Mal liebte sie es mit Elias<br />

kleinkindliche Späße zu machen, mal kam sie mit Fragen, zu denen ich selbst<br />

nur sagen konnte, das es sich dabei um philosophische handele. Wir haben öfter<br />

gemeinsam im Internet nachgeschaut, und ich habe versucht ihr das Dargestellte<br />

dann verständlich zu erläutern.<br />

Maximilian Kreutz hatte Ralf noch mal in der Uni angesprochen, und Ralf hatte<br />

ihm verdeutlicht, wie sehr und warum er Brittas Sicht unterstütze, und jede<br />

<strong>Frau</strong> für dämlich halte, die so mit sich verfahren ließe. S<strong>einer</strong> Meinung nach sei<br />

das Wesentliche in der Liebe, das man die tatsächliche oder mögliche Sicht des<br />

anderen wahrnehme, und zwar nicht als notwendige Pflicht, sondern weil es einem<br />

selber Lust bereite. Er habe nur sich selbst und seine Unbequemlichkeiten<br />

im Vordergrund gesehen, das sei ihm das wichtigst gewesen. Das sei keine Liebe,<br />

so könne Liebe nicht funktionieren. Mit <strong>einer</strong> einfachen Entschuldigung sei<br />

das nicht zu reparieren. Er glaube auch, dass er bei Britta keine Chance habe,<br />

wenn er nicht deutlich vermitteln könne, dass er seine Sichtweise zu <strong>Frau</strong>en<br />

und seine Einstellung zur Liebe ändere. Auf Floskeln und Getändel falle sie<br />

nicht mehr herein.<br />

Nach 14 Tagen rief Max an. Unter seine Beziehung hatte er sofort am Sonntag<br />

nach dem Telefonat einen Schlussstrich gezogen. Er habe sich lang und viele<br />

Gedanken gemacht, und erst zu ein wenig Klarheit für sich selbst kommen wollen,<br />

bevor er mit Britta rede. Sie solle aussuchen, wo sie sich treffen sollten<br />

und Britta schlug ihm vor, einfach zu ihr zu kommen. Sie hockten in Brittas<br />

Zimmer, stundenlang. Zwischendurch sah man mal jemanden zur Toilette gehen,<br />

Britta holte mehrmals neuen Kaffee, und am nächsten Morgen stand Maximilians<br />

Auto immer noch vor der Tür. Als ich im Büro mal gerade ein wenig<br />

Luft hatte, rief ich Britta an. „Ja, ich frag mich im Nachhinein, ob das nicht<br />

doch ein wenig voreilig war.“ sinnierte Britta und erklärte weiter, „Aber ich<br />

konnte nicht anders, ich hab's gewollt. Es war so toll, was und wie er's gesagt<br />

hat. Er hat all meine Kritikpunkte für sich selber vorgebracht, und viel deutlicher<br />

formuliert, als ich es gekonnt hätte. Ihm sei durch mich eigentlich klar geworden,<br />

dass er bisher noch nie eine <strong>Frau</strong> wirklich geliebt habe, gar nicht ge-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 47 von 209


wusst habe, was das eigentlich sei. Er wisse aber jetzt, was das bedeuten würde,<br />

und dass er es unbedingt wolle, aber nicht wisse, ob er überhaupt in der<br />

Lage dazu sein werde. Er sehe für sich in mir und m<strong>einer</strong> Liebe zu ihm, die einzige<br />

Chance, ihm dabei zu helfen. Er wünsche sich das von tiefstem Herzen für<br />

sich und für uns. Das ist vielleicht so eine verkürzt Quintessenz dessen, was er<br />

gesagt hat. Alle seine Erklärungsversuche konnte ich immer nur voll bestätigen,<br />

und oft war es sogar richtig lehrreich für mich. Manchmal standen seine<br />

Augen voll Tränen, und er fragte mich Sachen, über die ich mir selbst noch nie<br />

bewusst Gedanken gemacht hatte. Er war einfach himmlisch, <strong>Ruth</strong>. Und ich<br />

kann mir nicht vorstellen, dass ich mich getäuscht haben sollte, dass es nicht<br />

seine tiefe ehrliche Überzeugung war. Es kann nicht so gewesen sein, dass er<br />

14 Tage darüber nachgedacht hat, wie er mich wohl am besten herumkriegen<br />

könnte, er muss tief in sich selbst geforscht, und den Entschluss gefasst haben,<br />

umfängliche Änderungen vorzunehmen. Er hat eigentlich meine Erwartungen<br />

und Wünsche von sich aus mehr als erfüllt. Er war himmlisch, toll und süß,<br />

und da konnte ich nicht mehr, da wollt ich ihn haben.“ „Ja wunderschön,<br />

Britta,“ empfand ich, was sie erlebt hatte und fügte scherzend hinzu, „jetzt<br />

musst du nur noch aufpassen, dass er's auch wirklich macht, und nicht immer<br />

auf den nächsten Tag verschiebt. Nein Quatsch, was ich nur wirklich meine ist,<br />

dass Einstellung und Verhalten ja auch immer einen sehr starken emotionalen<br />

Anteil haben, und den kann man nicht einfach per rationalem Beschluss ändern,<br />

das braucht neues und anderes Erleben und Erfahren. Aber wenn er auf<br />

dich hört, wirst du ihm ja vieles vermitteln können. Und dass du eine starke<br />

<strong>Frau</strong> bist, haben wir ja jetzt schon mehrfach erleben können.“ Mit „Danke<br />

<strong>Ruth</strong>, ich freu mich, wenn du nach Hause kommst,“ verabschiedete sie sich.<br />

Alys und Elias hatten natürlich auch sofort wissen wollen, ob sie sich wieder<br />

vertragen hätten, und Elias wollte noch wissen, ob Max jetzt ihr Freund sei,<br />

und sie sich nie mehr zanken würden. Manchmal war Maximilian bei uns, aber<br />

die meisten Nächte verbrachte Britta bei ihm. Max wusste wirklich alles, und<br />

konnte Geschichten von Wikingern, Rittern und Römern den Kindern spannend<br />

und lustig erzählen. Sie bewunderten ihn nicht nur, sondern hatten ihn auch<br />

schnell ins Herz geschlossen. Sie drängten Britta immer, wann Max denn mal<br />

käme, warum sie immer zu ihm fahre, er könne doch auch herkommen, bei<br />

uns sei es doch auch schön. Britta selbst war richtig high, sie lief oft trällernd<br />

durchs Haus, fiel allen ständig um den Hals, und verstand es, selbst den grässlichsten<br />

Regentagen durch ihre gute Laune die zu Trübsal verleitende Wirkung<br />

zu rauben. Britta war völlig aufgeblüht.<br />

Britta wird Kunstlehrerin<br />

Eines Morgens berichtete sie beim Frühstück: „Es ist nicht ganz unmöglich,<br />

dass ich wieder eine Beschäftigung finden könnte.“ Max habe davon erfahren,<br />

dass an s<strong>einer</strong> ehemaligen Schule dringend Lehrkräfte für den Kunstunterricht<br />

gesucht würden, und dazu auch Fachkräfte ohne Lehramt als Angestellte eingestellt<br />

werden könnten. Der derzeitige Schuleiter sei sein ehemaliger Klassenlehrer,<br />

zu dem er ein sehr gutes Verhältnis habe, so dass er vielleicht etwas be-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 48 von 209


wirken könne. Max hatte sie angepriesen, dass sie durch ihre Praxis Erfahrungen<br />

in allen Bereichen der visuellen Medien gesammelt habe, von Aquarellmalerei<br />

bis Videocollagen. So sei sie nicht nur in der Lage, den Schülern modere<br />

Techniken aus der Praxis zu vermitteln, von denen übliche Kunstpädagogen unberührt<br />

seien, sondern sie würde auch sicher dafür sorgen können, das gesamte<br />

mediale Image der Schule aufzupolieren. Sie sei eine Expertin, die in ihrem<br />

Beruf mehr als das dreifache von dem verdient habe als bei dieser Stelle, ein<br />

Gewinn für die Schule, den man sich nur leisten könne, weil die Prosperität im<br />

Ausland stattfinde, und viele Entwicklungen hier rückläufig seien.<br />

Brittas Vorstellung war erfolgreich, Brittas Vorstellungen sind immer erfolgreich.<br />

Ihr frisches , Lebensfreude ausstrahlendes Auftreten in Verbindung mit<br />

ihrer immer noch jugendlich wirkenden Schönheit, wecken wahrscheinlich bei<br />

jedem Mann den Wunsch, diese <strong>Frau</strong> in s<strong>einer</strong> Nähe beschäftigt wissen zu wollen.<br />

Jetzt wurde sie also Lehrerin für Kunstunterricht am Gymnasium. Alys<br />

konnte es gar nicht fassen: „Du könntest also meine Kunstlehrerin sein?“ Auf<br />

Brittas Zustimmung fragte sie weiter: „Und warum bist du nicht zu unserer<br />

Schule gekommen, unsere Kunstfrau ist so 'ne doofe Ziege. Kannst du dich<br />

nicht versetzen lassen, Lehrer können sich doch versetzen lassen? Mach das<br />

doch“<br />

Britta war bis zum Beginn des nächsten Monats, an dem sie in der Schule anfangen<br />

sollte, kaum noch zu sehen. Ihr Zimmer war vollgepackt mit Büchern<br />

über Kunstpädagogik, Kunstunterricht, Richtlinien für den Kunstunterricht, und<br />

sie selbst saß oder lag immer lesend und Notizen machend zwischen ihnen.<br />

Jetzt musste Max immer zu ihr kommen. Sie sollte 10 Klassen in Doppelstunden<br />

unterrichten und 2 AGs durchführen, was Ralf und Max für ziemlich stressig<br />

hielten. An die beiden hatte sie auch viele Fragen zum Unterricht, und die<br />

versuchten ihr hilfreiche Tipps zu geben. Meistens saßen sie, wenn Max abends<br />

kam, gemeinsam am Tisch und konferierten. Anschließend musste Max den<br />

beiden Kindern noch wenigstens eine Geschichte mit Nachfragen erzählen.<br />

Britta war schon längst wieder in ihren Schulvorbereitungen versunken, und<br />

ich gab Max manchmal eine Flasche Wein mit rauf, um die ganzen Unterrichtspläne<br />

und Rahmenrichtlinien in Brittas Kopf besser aufweichen zu können.<br />

Britta sagte mir, dass sie sich mittlerweile richtig auf die Schule freue. Die riesige<br />

Angst vom Anfang, als sie sich völlig orientierungslos gesehen habe, sei<br />

verschwunden. Sie wisse jetzt , was sie in den betreffenden Klassen zu tun<br />

habe, sei voller Ideen, und ihr fiele immer noch Neues ein. In Bezug auf den<br />

Umgang mit den Schülern habe sie zwar noch Unsicherheiten, aber durch die<br />

guten Tipps sei sie auch diesbezüglich schon viel zuversichtlicher geworden.<br />

Im Atelier habe ihr die Arbeit Spaß gemacht, wenn das in der Schule funktioniere,<br />

wie sie es sich vorstelle, habe sie zum erst mal das Gefühl, etwas Wichtiges<br />

zu tun.<br />

Ihr erster Schultag stellte sich für sie durchwachsen dar. Sie war erstaunt über<br />

das teilweise völlig unterschiedliche Verhalten der Schüler. Während es in der<br />

einen Klasse toll gelaufen sei, habe sie mit der Parallelklasse nichts anfangen<br />

können. Am schlimmsten sei aber die als Kunstsaal bezeichnete Zimmerhöhle.<br />

Er habe alles das, was ein Zeichensaal nicht haben dürfe, und nichts von dem,<br />

was er eigentlich haben müsse. Am Abend hat sie sich stundenlang mit Ralf<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 49 von 209


und Max beraten, die dafür sorgen konnten, dass aus dem durchwachsenen ein<br />

zufriedenes Bild wurde. Sie kam zunehmend besser mit den Schülern klar, und<br />

es gab kaum Tage, an denen sie unzufrieden mit ihrer Arbeit nach Hause kam.<br />

Der Kunstsaal<br />

Dem Schuleiter hatte sie mal drastisch erklärt, um was für einen Stall es sich<br />

dabei handele, was hier als Kunstraum bezeichnet werde, außer den Wasserhähnen<br />

für's Aquarell malen sei hier nicht nur alles funktionslos, sondern sogar<br />

funktionswidrig. Sie könne sich noch so sehr anstrengen, aber gegen diese Arbeitsbedingungen<br />

könne man kaum anarbeiten. Er finde das ja auch nicht<br />

schön, aber für so etwas stelle die Stadt mit Sicherheit kein Geld zur Verfügung,<br />

habe der Schuleiter zunächst reagiert. Sie habe ihm geantwortet, wenn<br />

man den Heizungskeller zum Physiklabor erkläre, sei das ja auch ein unhaltbarer<br />

Zustand, der geändert werden müsse, nichts, gar nichts anderes sei das<br />

mit dem Kunstraum, nur da akzeptiere man es eben, weil man ästhetische Bildung<br />

und Entwicklung geringer schätze. Unter diesen Umständen würde es von<br />

dieser Schule niemals Menschen geben, die später irgendetwas Bedeutendes<br />

im künstlerisch Bereich hervorbringen würden. Das könne man doch nicht so<br />

einfach hinnehmen, da müsse man doch für kämpfen. „Sie sind toll, <strong>Frau</strong> Lahrmann,<br />

ich mag sie, sie gefallen mir.“ habe er sie angelächelt, und sei mit ihr in<br />

sein Büro gegangen. Dann habe er sie darüber informiert, wie der Weg eines<br />

Antrags zu verlaufen habe, nur wenn er das darstellen solle, wisse er jetzt<br />

schon, dass es zum Scheitern verurteilt sei. Er habe jetzt schon gemerkt, dass<br />

sie so etwas viel besser und überzeugender könne, außerdem fehle ihm auch<br />

jede begründete Sachkenntnis, ob Britta nicht etwas formulieren könne, habe<br />

er sie gebeten.<br />

Zu hause fragte sie mich, ob ich irgendetwas über rechtliche Vorschriften für<br />

Kunsträume wisse. Ich fragte sie, wofür sie das denn brauche, ob sie ihre<br />

Schule verklagen wolle. Dann erzählte sie mir alles. Es gebe wohl etwas, aber<br />

das gelte nur für Neubauten, und bringe auch mit Sicherheit nicht viel, weil da<br />

immer nur Mindestanforderungen genannt seien, und keine irgendwie gearteten<br />

pädagogischen Begründungen, ich würde es ihr aber trotzdem mal mitbringen.<br />

Ich hätte da aber noch eine ganz andere Idee, von der ich nicht wisse,<br />

ob es klappen würde. Am nächsten Morgen rief ich Torsten an. Der Bau von<br />

Ateliers und Kunsträumen war bei ihnen ja etwas Alltägliches. „Ich persönlich<br />

habe da gar keine Ahnung von, ich finde sie nur immer sehr schön, aber die<br />

<strong>Frau</strong> Rosch, die ist bei uns Queen of Art Rooms, die schick ich dir mal vorbei,<br />

dann kannste mit der alles abklären. Ich rufe die mal gleich an, dass sie sich<br />

bei dir meldet.“ half mir Torsten. Fünf Minuten später rief <strong>Frau</strong> Rosch an, eine<br />

halbe Stunde später war sie mit einem Koffer voll möglicherweise Verwertbarem<br />

bei mir. Wenn der Chef erklärt, dass es um seine <strong>Frau</strong> geht, muss wahrscheinlich<br />

alles andere warten. Wir klärten noch mal ab, worum es genau gehe,<br />

und wie so eine Stellungnahme aussehen könne. Zwei Tage später bekam ich<br />

Mittags 2 Exemplare eines 20 seitigen Dossiers samt Text und Beispielfotos auf<br />

CD's zu Kunst-, Zeichen- und Grafikräumen in denen nicht nur alle möglichen<br />

Details aufgeführt und begründet waren sonder auch differenzierte<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 50 von 209


Innenausstattungserfordernisse und -optionen dargestellt waren. Ich rief sofort<br />

<strong>Frau</strong> Rosch an, und teilte ihr Bewunderung und Dankbarkeit mit. „Ja, sind sie<br />

zufrieden, <strong>Frau</strong> Stein?“ reagierte sie nur, „das freut mich, das ist schön.“<br />

M<strong>einer</strong> Ansicht nach konnte sie das gar nicht in so kurzer Zeit alleine geschafft<br />

haben, möglicherweise war die ganze Abteilung in Aufruhr versetzt worden. Als<br />

ich mich bei Torsten bedankte, und ihn nach den Kosten fragen wollte, erklärte<br />

er es zur kleinen Gefälligkeit für die befreundete Sozietät Stein.<br />

Britta bekam den Mund nicht mehr zu, fragte erstaunt mit großen Augen: „Wo<br />

hast du das denn her? Wo gibt’s denn so etwas?“ „Dass ist extra für dich angefertigt,<br />

mein Schatz, das gibt es nur einmal auf der ganzen Welt.“ antwortete<br />

ich, und erklärte ihr die Zusammenhänge. „Oh <strong>Ruth</strong>, ich hab ja nie an so etwas<br />

geglaubt, aber jetzt kann ich wohl nicht anders. Der liebe Gott muss dich als<br />

meinen Schutzengel eingesetzt haben.“ sagte sie lachend und warf sich mir um<br />

den Hals. In einem ihr gut bekannten Atelier konnte sie zusätzlich eine Präsentation<br />

anfertigen, in der sie auch im als Kontrast die derzeitige Situation einblenden<br />

konnte. Jetzt suchte Britta nur noch nach pädagogischen und entwicklungspsychologische<br />

Zusammenhängen, und schaffte es sogar zu einem Neurowissenschaftler<br />

vorzudringen, der zur Entwicklung und Prägung ästhetischer<br />

Wahrnehmung forschte und sich lange mit ihr unterhielt. Die Kollegin, die auch<br />

Kunstunterricht erteilte, und den Schuleiter hatte sie vorher informiert. Beide<br />

waren begeistert und sicherten ihr ihre volle Unterstützung zu. Die hatte sie<br />

gar nicht mehr nötig. In der Lehrerkonferenz war es während ihrer Vorstellung<br />

totenstill geworden. Als sie mit dem Satz schloss. „Aus fachdidaktischer Sicht<br />

kann das sicher noch f<strong>einer</strong> differenziert werden, aber ich bin der Ansicht, dass<br />

die von mir vorgetragenen Fakten auch schon deutlich reichen, um die Unhaltbarkeit<br />

des derzeitigen Zustandes und die zwingende Notwendigkeit zur sofortigen<br />

Veränderung erkennbar werden zu lassen.“ klatschte das ganze Kollegium<br />

anhaltend Beifall. Selbstverständlich, kam der Antrag in die Schulkonferenz,<br />

und der Schulleiter wollte unbedingt, dass sie den Antrag auch dort begründe,<br />

obwohl sie nicht Mitglied der Schulkonferenz war. Den Eltern schien<br />

erst jetzt bewusst zu werden, was hier für ein unhaltbarer Zustand herrsche,<br />

da müsse man doch mal die Presse informieren. Die Eltern konnten das ja tun.<br />

Am übernächsten Tag waren alle Tageszeitungen und das Lokalfernsehen an<br />

der Schule, der Schulleiter konnte ihnen nur den derzeitigen Zustand zeigen<br />

und verwies sie für das Fachliche an Britta, die jedem ein Dossier zum Abschreiben<br />

und gut pressetaugliche Fotos von Sollzuständen überreichen konnte.<br />

Die Journalisten hatten's einfach und der Hauptartikel auf jeder ersten Lokalteilseite<br />

lautete etwa: „Eltern sehen schwarz für die kulturelle Bildung ihrer<br />

Kinder.“ Selbst das Lokalfernsehen hatte einen mehrminütigen Spott zusammengestellt,<br />

obwohl außer einigen Worten des Schulleiter und <strong>einer</strong> Umschau<br />

im Kunstraum keine bewegten Bilder existierten. Der Schuleiter empfahl dem<br />

Schulausschußvorsitzenden, doch seine Fachfrau dazu referieren zu lassen, die<br />

sei nicht nur absolut kompetent, sondern könne das auch außergewöhnlich gut<br />

präsentieren. Britta wurde zum Schulausschuss eingeladen. Der Vorsitzende<br />

bedankte sich artig für die hervorragende Präsentation, und meinte, dass hier<br />

unbedingt schnell gehandelt werden müsse, sei ja wohl selbstverständlich, es<br />

werde dafür gesorgt, dass möglichst sofort eine Konkretisierung für eine mögliche<br />

Maßnahme in die <strong>Wege</strong> geleitet werde, die man dann beschließen könne.<br />

Für die Verwaltung bat er noch um 2 Dossiers, da die ja auch nicht in allen Tei-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 51 von 209


len so bewandert sein könnten.<br />

Die Schule hatte zwei Jahre nach Brittas Beginn den schönsten und exklusivsten<br />

Kunstsaal der Stadt, und bekam den Nimbus <strong>einer</strong> Schule mit besonders<br />

hochqualifizierter kunstpädagogischer Förderung. <strong>Wege</strong>n der hervorragenden<br />

Arbeitsbedingungen bewarben sich immer wieder Lehrer zu der Schule, von<br />

der sie aber nur eine wegen ihres Hauptfaches Latein einstellen konnten. Der<br />

Schuleiter konnte nicht aufhören, jedes Mal, wenn über den Kunstsaal gesprochen<br />

wurde, zu betonen: „Das ist <strong>Frau</strong> Lahrmanns Geschenk an die Schule.<br />

Ohne sie gäbe es das nicht. Und sie bekommt am wenigsten Gehalt von allen.“<br />

Natürlich war Britta nicht nur zu <strong>einer</strong> geachteten und beliebten Kollegin geworden,<br />

sondern man vermutete in ihr wegen ihrer Präsentationen, auch Wissen<br />

und Können, über das sonst niemand an der Schule verfüge. Sie wurde<br />

häufig von Kolleginnen und Kollegen um Rat gefragt, oder um Hilfe gebeten,<br />

und wenn man die Kollegen gefragt hätte, ob <strong>Frau</strong> Lahrmann hier wichtige Arbeit<br />

leiste, hätte es keinen gegeben, der nicht sofort mit „natürlich, aber<br />

selbstverständlich“ geantwortet hätte.<br />

Einsam <strong>–</strong> Allein zu Haus<br />

Bei uns im Haus hatte sich auch vieles verändert. Das volle bunte lebenslustige<br />

Haus gab es nicht mehr. Britta war ausgezogen, und wohnte jetzt mit Maximilian<br />

zusammen in <strong>einer</strong> Wohnung in unserer Nähe. Max war im Schuldienst an<br />

Alyssias Schule, unterrichtete aber ausschließlich in der Oberstufe. Alys war<br />

ganz stolz, wenn sie vor den Großen zeigen konnte, was für ein lockeres Verhältnis<br />

sie zu ihm hatte, und erklärte, dass sie ihn so gut kenne damit, dass er<br />

der Freund der Mutter ihre Bruders sei. Zu uns kamen Max und Britta außer an<br />

Wochenenden relativ selten, weil beide sehr beschäftigt waren. Nur Britta kam<br />

schon manchmal auf einen Kaffee vorbei. Ralf hatte eine Professur in Magdeburg,<br />

und war an vier Tagen in der Woche nicht anwesend. Er kam erst Donnerstagabend<br />

zurück, und musste Montag sehr früh wieder fahren. Ich hatte<br />

das Gefühl, trotz der Kinder oft recht einsam zu sein. Wenn Sylvia uns besuchte,<br />

überbrückte das vielleicht einen Tag. Es war einfach Ralf, den ich abends<br />

sehen wollte. Ich hatte vor m<strong>einer</strong> Heirat mit Torsten immer alleine gewohnt,<br />

aber Einsamkeitsgefühle hatte ich nie gekannt. Selbst mit Torsten war ich sehr<br />

häufig allein, weil er oft unterwegs war. Die vier Tage, an denen Ralf nicht zu<br />

Hause war, schienen immer länger zu werden. Manchmal wurde ich schon<br />

montags Nachmittags auf dem Weg von der Kanzlei nach Hause traurig, weil<br />

niemand <strong>–</strong> d. h. Ralf <strong>–</strong> zu Hause war. Bei der Arbeit war alles o. k., aber wenn<br />

ich zu Hause war wurde es schlimm, durch die Kinder gab es noch ein wenig<br />

Ablenkung, aber wenn sie im Bett waren, fühlte ich mich einfach nur allein.<br />

Früher hätte ich immer gern mehr Zeit zum Lesen gehabt, jetzt hatte ich sie,<br />

nur ich hatte fast nie mehr Lust zum Lesen. Ich hatte Abends zu nichts Lust.<br />

Ich konnte nicht mal mehr Ralf anrufen. Zu Anfang haben wir uns jeden Abend<br />

angerufen, und viel Spaß dabei gehabt, wenn ich jetzt anrief, flennte ich nur<br />

die ganze Zeit. Einmal ist er nachts von Magdeburg nach Hause gekommen,<br />

weil ich ihm am Telefon gebeten hatte, er solle kommen, ich hielte es nicht<br />

mehr aus. Am Wochenende war alles, wie nie gewesen. Wir hatten öfter dar-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 52 von 209


über geredet, aber am Wochenende war ich ein anderer Mensch, der zwar<br />

wusste, was Montags bis Mittwochs passiert war, aber in die Situation einfühlen<br />

konnte ich mich nicht. Dann konnte ich so großartige Sprüche entwickeln wie:<br />

„Ach die drei Abende, das werd' ich schon schaffen. Was sind denn drei<br />

Abende.“ Außer mit Ralf konnte ich bisher mit niemandem darüber sprechen.<br />

Wir überlegten verschiedene Möglichkeiten. Eventuell war es die ganze Veränderung<br />

der Lebhaftigkeit in unserem Haus, der auch noch durch Ralfs Abwesenheit<br />

die Krone aufgesetzt wurde. Vielleicht war es einfach so, dass ich<br />

abends einen Ausgleich zu m<strong>einer</strong> täglichen Arbeit brauchte, von der Ralf ein<br />

grundsätzlicher Bestandteil war. Möglicherweise hatte sich die Situation, die ja<br />

von Anfang an zwar nicht schön war, die ich aber noch ertragen konnte, zu <strong>einer</strong><br />

regelrechten Phobie entwickelt. Wir überlegten, ob es nicht irgendeine<br />

Möglichkeit geben könne, das Ralf wieder nach Hause käme. Andererseits war<br />

mein Verhalten ja nicht akzeptabel. Es kann doch nicht sein, dass eine 40 jährige<br />

<strong>Frau</strong> ohne ihr Kuscheltier nicht einschlafen kann, und im Wissen darum,<br />

dass es nicht vorhanden ist, in tiefe depressive Zustände verfällt. Ich brauchte<br />

Hilfe. M<strong>einer</strong> Einschätzung nach sollte ich nicht einfach einen Psychotherapeuten<br />

aufsuchen, sondern es handelte sich hier ziemlich sicher um depressive Anwandlungen.<br />

Ich suchte mir also einen Spezialisten für depressive Erkrankungen<br />

aus. Prof. Dr. Rütten von der Uni gefiel mir, und schien für meine Angelegenheiten<br />

genau die richtigen Kompetenzen zu haben.<br />

Therapie<br />

Er gefiel mir auch, als ich zum ersten Besuch bei ihm war. Er machte auf mich<br />

einen warmherzigen, einfühlsamen, freundlichen Eindruck. Das erste Gespräch<br />

dauerte ewig. Ich musste ihm nicht nur mein ganzes Leben schildern, er wollte<br />

auch vieles aus m<strong>einer</strong> Familiengeschichte wissen. Am sonderbarsten fiel mir<br />

hinterher auf, dass ich mir gar nicht ausgefragt vorkam, sondern es mir richtig<br />

Freude gemacht hatte, alles zu erläutern. Als ich ihm zu Beginn sagte, ich wisse<br />

gar nicht, ob es sich um eine Depression handele, meine Krankheit sei, dass<br />

ich keine Nacht mehr ohne meinen Mann aushalte. Lächelte er und meinte,<br />

dass höre sich ja sehr interessant an. Zum Schluss erklärte er mir, das es sich<br />

bei mir eindeutig um depressive Erscheinungen handele, ich aber eine sehr<br />

gute Prognose hätten. Es seien wahrscheinlich mehrere Komponenten, die die<br />

Grundlage bildeten, aber ausschlaggebender Auslöser sei nicht die Abwesenheit<br />

meines Partner gewesen, sondern die Tatsache, das sich sonst all unsere<br />

sozialen Beziehungen über unser Haus abgespielt hätten, und das sei alles verschwunden.<br />

Ich sei tatsächliche sozial-emotional vereinsamt, da ja keine alternativen<br />

sozialen Beziehungen, von mir nach draußen bestünden. Mein Partner<br />

symbolisiere für mich eine andere Welt, und gebe mir am Wochenende die Illusion,<br />

dass alles wieder anders sei. Meine persönlichen dispositionalen Voraussetzungen<br />

halte er nach unserem ersten Gespräch für, wenn überhaupt, äußerst<br />

unbedeutend. Dass sei die entscheidenste Voraussetzung dafür, dass ich<br />

wieder unbelastet, glücklich und zufrieden sein könne. Ich wäre besser noch<br />

früher gekommen, aber das sei ja jetzt irrelevant. Sehr günstig und förderlich<br />

sei es allerdings, wenn mein Partner während der Behandlung nicht ständig ab-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 53 von 209


wesend sein müsse. Er sei doch Beamter und habe ein Kind, da könne er sich<br />

doch gut für ein Jahr freistellen lassen, und dann sähe für mich bestimmt<br />

schon alles ganz anders aus, da sei er sich sicher. Das wäre sehr, sehr hilfreich,<br />

und würde mir doch sicher auch gefallen, ich solle es doch mal mit meinem<br />

Partner überlegen. Vor diesen depressiven Phasen müsse ich mich schützen,<br />

ich hätte ja selbst erfahren, wie es sich permanent steigere. Er würde mir<br />

solange ein Medikament empfehlen, das so gut wie nebenwirkungsfrei sei, es<br />

könne allenfalls Anorgasmie auftreten. Als ich kategorisch erklärte. „Dann will<br />

ich das nicht. Dann bekomme ich ja am Wochenende auch noch Depressionen.“<br />

Musste er lachen und erklärte, er müsse mich nur darauf hinweisen, dass<br />

es ggf. auftreten könne. „Aber wenn das auftritt, setze ich das sofort ab.“<br />

drohte ich. Ich ließ mir einen Termin für eine Folgesitzung geben, in der dann<br />

ein Therapiekonzept erstellt werden und die Behandlungsstufen festgelegt werden<br />

sollten.<br />

Ralf gefiel die Freistellung persönlich nicht besonders, aber selbstverständlich<br />

sei meine Gesundheit und mein Glück für ihn das Wichtigste. Die Erklärungen<br />

und Erläuterungen von Prof. Rütten konnte er sehr gut nachvollziehen und wir<br />

freuten uns gemeinsam darauf, dass bald alles wieder anders werden würde.<br />

Wie genau, das wussten wir nicht, aber ich war mir sicher, dass diese grässliche<br />

Zeit bald vorbei sein würde. Meine Freude übertrug sich schnell auf Ralf<br />

und wurde zum Anlass für eine lange, lange Nacht. Am Samstagmorgen kamen<br />

kurz nach 10 Uhr Elias und Alys rein und wollten wissen, was los sei, warum<br />

wir nicht aufstünden. Wir erklärten, dass wir einfach noch so müde seien, wobei<br />

Alys mich angrinste. Dann tuschelten die beiden etwas, befahlen uns liegen<br />

zu bleiben, und waren kurze Zeit später mit dem Frühstück wieder da. Unsere<br />

beiden Süßen, was würde ich erst heulen, wenn sie mal nicht mehr da wären.<br />

Bei Alyssia konnte das schon bald der Fall sein. Wir hatten nämlich überlegt,<br />

dass es gut wäre, wenn sie als Austauschschülerin für ein Jahr in die USA ginge.<br />

Sie selbst meinte, dass ein ganzes Jahr ziemlich lang sei, aber sie fände es<br />

trotzdem super.<br />

Bis zu den Semesterferien waren es noch drei Wochen, also drei mal vier Tage,<br />

und ab dem nächsten Semester war Ralf freigestellt, so dass er fast anderthalb<br />

Jahre zu Hause war. Die Tabletten konnten laut Information überhaupt noch<br />

nicht wirken, trotzdem ging es mir gleich in der ersten Woche blendend. Ich<br />

rief Ralf jeden Abend an, wir feixten und liebkosten uns, und ich konnte auch<br />

ohne Ralf wohlig einschlummern.<br />

Alyssia first time<br />

Wenn Elias im Bett war, hatte ich oft intensive Gespräche mit Alyssia von <strong>Frau</strong><br />

zu <strong>Frau</strong>. Sie überlegte ob sie's mal mit 'nem Jungen machen sollte. Die meisten<br />

bei ihr in der Klasse hätten schon mal. Einerseits wüsste sie ja schon mal<br />

gerne, wie das wäre, andererseits hätte sie auch ein bisschen Angst, aber abgesehen<br />

davon, kenne sie niemanden, mit dem sie das gerne machen würde.<br />

Sie wollte alles von mir wissen und ich versuchte ihr klar zu machen, warum<br />

man sich vom ersten mal nicht so viel erhoffen sollte, da es meist schwer sei,<br />

sich dabei völlig frei und unverkrampft zu fühlen. Ich versuchte ihr zu verdeut-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 54 von 209


lichen, was wichtig sei, damit es auch beim ersten Mal schön werden könnte.<br />

Im nächsten Urlaub ist es dann passiert. Sie hat einen französisch Jungen kennen<br />

gelernt, und sich feurig in ihn verliebt. Es existierte nur noch Daniel für<br />

sie, und für Daniel ausschließlich Alyssia. Alyssia war auch häufig bei Daniels<br />

Familie zum Essen und fuhr mit ihnen raus. Ich sprach Madame Ledoux mal<br />

an, ob ihnen das auch recht sei? Sie war ganz begeistert, es mache sie und ihren<br />

Mann selbst sehr glücklich, diese junge Liebe zu sehen, darüber hinaus sei<br />

Alyssia ja nicht nur ein sehr schönes, sondern auch sehr intelligentes und wundervolles<br />

Mädchen. Sie hätten sie beide schon ins Herz geschlossen. Eines Morgens<br />

kam Alyssia zu mir ins Bett. Ralf war schon aufgestanden. Sie kuschelte<br />

sich an mich und sagte leise: „Mami ich hab.“ Obwohl ich sofort verstand fragte<br />

ich: „Was hast du?“ Leicht verlegen errötend und ein wenig stolz lächelnd<br />

schaute sie mich an und sagte: „Mit Daniel gefickt.“ Sie ließ ihr Gesicht an meinen<br />

Hals fallen und weinte. Ich streichelte ihr übers Haar und wollte wissen,<br />

ob's denn nicht schön gewesen sei. „Doch irgendwie schon aber auch ein bisschen<br />

komisch.“ „Und warum weinst du?“ fragte ich sie. „Ich weiß gar nicht.<br />

Jetzt ist es passiert. Und wenn ich's dir sage, muss ich einfach weinen.“ „Ja,<br />

meine kleine Süße ist jetzt eine richtige <strong>Frau</strong> geworden.“ strahlte ich sie an.<br />

Wir küssten uns, und als ich sie fragte, ob sie's denn noch mal machen würde,<br />

zog sie ihre breite Schnute und nickte heftig, als ob sie sagen wollte: „Auf jeden<br />

Fall, selbstverständlich.“ „Wir haben ja nicht nur gefickt, Mami. Daniel ist<br />

sehr lieb zu mir. Wie du mir's gesagt hast. Ich glaube, dass er wirklich Lust<br />

daran hat, mich glücklich zu machen mit Küssen und Streicheln und schöne<br />

Dinge sagen. Es ist sehr, sehr sehr schön mit ihm.“ „Meine süße junge <strong>Frau</strong>, ich<br />

muss es dir noch mal sagen, dass ich dich ganz, ganz, ganz lieb habe.“ sagte<br />

ich, umschlang sie mit meinen Armen und drückte sie ganz fest an mich.<br />

Madame et Monsieur Ledoux<br />

Als ich Daniels Mutter, darauf ansprach, ob sie wisse, dass die beiden miteinander<br />

schliefen, und ob ihr das recht sei, meinte sie, Daniel habe ihr zwar<br />

nichts davon erzählt, obwohl er ihr sonst immer alles Mögliche über Alyssia<br />

vorschwärme, aber das sei doch heute ganz normal und selbstverständlich,<br />

und es sei ja besser so, als wenn es unter anderen Umständen geschehe. Wir<br />

schlugen vor, mal gemeinsam essen zu gehen. Daniel und Alyssia waren sofort<br />

nach dem Essen verschwunden, während es für Madame und Monsieur Ledoux<br />

und für uns noch ein langer Abend wurde. Ich brachte zwischendurch Elias ins<br />

Bett, und die Gespräche zwischen uns wurden immer persönlicher und vertraulicher.<br />

Wir verstanden uns ausgezeichnet, und haben viel gelacht. Als ich erzählte,<br />

dass ich zur Zeit einen Therapeuten habe, weil ich es keine Nacht mehr<br />

ohne meinen Partner ausgehalten habe, war das natürlich auch Anlass zu ausgedehnten<br />

Späßen. Als Monsieur Ledoux erklärte, wie sehr er Ralf beneide,<br />

wurde er mit gestrengem Blick lächelnd von Madame Ledoux zurecht gewiesen.<br />

Wir beschlossen uns unbedingt gegenseitig besuchen zu wollen, und<br />

tauschten Adressen und Telefonnummern aus. Die Ledoux hatten ein Weingut<br />

bei Tain-l'Hermitage ein wenig nördlich von Valence. Monsieur erläuterte ein<br />

wenig, was für einen Wein sie erzeugten, und versprach, uns mal etwas zu<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 55 von 209


schicken. Von der Situation im Weingeschäft wolle er im Urlaub nicht reden,<br />

das würde ihm die Stimmung verderben.<br />

Daniel und Alyssia schliefen jetzt immer bei uns. Ich erklärte Daniel, dass sie<br />

auch ohne weiteres bei Ledoux schlafen könnten, seine Eltern hätten mit Sicherheit<br />

nichts dagegen. Er traue sich nicht, es sei ihm peinlich. Als ich ihm erklärte,<br />

dass sich seine Mutter bestimmt freuen würde, von ihm ins Vertrauen<br />

gezogen zu werden, erklärte Alyssa ihm, warum er das unbedingt tun müsse,<br />

und er solle nicht so ein Feigling sein. Dann haben sie's beide Daniels Mutter<br />

erzählt, sie habe sie beide umarmt, geküsst und sei angefangen zu weinen.<br />

Probleme bei Max und Britta<br />

Zu Hause konnte ich jetzt auch Britta von m<strong>einer</strong> kuriosen Situation erzählen.<br />

Weil ich mir sicher war, dass es anders werden würde, war ich auch in der Lage<br />

darüber zu scherzen. „Warum hast du denn nichts gesagt? Warum hast du dich<br />

denn nicht mal gemeldet?“ Sie könne sich das gut vorstellen, dass das zutreffe,<br />

was der Professor gesagt habe. Sie empfinde zwar im Moment noch keinen<br />

Mangel, aber ihre privaten Kontakte hätten sich auch, seit sie mit Max<br />

zusammen sei, und an der Schule beschäftigt wäre, stark verringert. Sie halte<br />

diese Entwicklung auch eher für bedenklich, zumal wenn es mal Probleme untereinander<br />

gebe. „Besteht denn ein Anlass zu der Befürchtung?“ wollte ich von<br />

Britta wissen. „Nein, direkt nicht. Es ist nur so, das Max gerne Kinder oder ein<br />

Kind möchte, und ich das eigentlich überhaupt nicht mehr will. Ich kann ihn ja<br />

verstehen, ich habe auch nichts gegen Kinder, im Gegenteil, nur dieses ganze<br />

Gequäle mit Schwangerschaft, Geburt, und Tag und Nacht Stillen usw. das<br />

brauch ich absolut nicht. Da habe ich einen Horror vor, aber freuen könnte ich<br />

mich darauf nicht. Ich habe Spaß daran, in der Schule zu sein, wenn ich die<br />

Kids dazu bringen kann, Freude an der Arbeit zu haben, mir neue Ideen zu<br />

überlegen und umzusetzen. Spaß am Kinderkacke ausnehmen habe ich mit Sicherheit<br />

nicht.“ erklärte Britta ihre Situation. Ich hielte ihre Situation schon für<br />

sehr ernst, und meinte, dass man da nicht einfach so mit leben könne, dass<br />

sich <strong>einer</strong> <strong>–</strong> in diesem Falle sie <strong>–</strong> gegen den anderen durchsetzte. „Aber ich<br />

mach das nicht, wenn ich das gegen meinen Wunsch und Willen durchziehen<br />

soll, macht mich das kaputt, da kann und will ich nicht mit leben.“ betonte<br />

Britta deutlich. Das verlange ja auch niemand, ich wolle nur sagen, dass Max<br />

Vorstellungen für ihn ja die gleiche emotionale Bedeutung haben könnten. Und<br />

zwei so konträre Positionen mit so starker emotionaler Gewichtung einfach gegenüber<br />

stehen zu lassen, sei schon ein massiver Konflikt, den man lösen müsse,<br />

und bei dem es nicht reiche, nur freundlich miteinander zu reden, aber den<br />

Konflikt weiter im Raum stehen zu lassen. „Aber was soll ich denn machen,<br />

<strong>Ruth</strong> ich kann das ja alles gut verstehen, ich finde das ja auch schön ein Haus<br />

mit lebhaften heranwachsenden Kindern zu haben, keine Frage, nur Babygebär-<br />

und -aufzuchtmaschine das bin ich nicht mehr, und will es auch nicht wieder<br />

sein.“ erklärte Britta. „Liebes, ich versteh dich sehr gut, ich könnte mir das<br />

für mich auch nicht mehr vorstellen, obwohl ja noch viele <strong>Frau</strong>en mit 40 und<br />

darüber fleißig Kinder kriegen, ich weiß gar nicht, wann ich mir das für mich<br />

noch hätte vorstellen können, hab ich mich nie gefragt. Ich hatte ja Alyssia,<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 56 von 209


das war alles keine Qual, das habe ich sehr schön und intensiv empfunden,<br />

und mit Torsten reichte mir das auch. Viele <strong>Frau</strong>en empfinden ja den Wunsch<br />

nach einem Kind, wenn sie glücklich verliebt sind, auf die Idee, dass ich mir<br />

von Ralf ein Kind wünschen könnte, bin ich nie gekommen. Wenn das bei dir so<br />

ist, wie du sagst, wird dich niemand zu etwas anderem überreden können und<br />

dürfen. Nur euer Konflikt ist damit nicht gelöst, und das kann nicht gut gehen.“<br />

versuchte ich Britta zu verdeutlichen. „Meinst du denn, Maximilian wäre bereit<br />

dazu, dass wir mal alle vier darüber sprächen?“ fragte ich Britta. Sie glaube<br />

schon, dass sie ihm das klar machen könne. Er habe eine hohe Meinung von<br />

uns, und erwarte mit Sicherheit nichts Böses. Ich informierte Ralf über das<br />

Problem der beiden, und er meinte auch, wenn man das einfach so weiter laufen<br />

lasse, wären sie wahrscheinlich in einem Jahr nicht mehr zusammen. Sie<br />

kamen zum Essen zu uns, und nachdem Elias im Bett war und Alyssia in ihrem<br />

Zimmer, schnitt ich das Thema an. Ich berichtete, was Britta mir erzählt hatte,<br />

und Ralf eine Lösung für so dringend erforderlich halte, dass er der Ansicht sei,<br />

dass sonst ihre Beziehung nicht mehr lange halten werde. Ich wisse auch keine<br />

Lösung, die müssten sie letztendlich selber finden, aber es könne doch hilfreich<br />

sein, gemeinsam zu überlegen und zu diskutieren. Nachdem Max begriffen hatte,<br />

dass er Brittas Einstellung einfach respektieren und akzeptieren müsse und<br />

alles andere keine Problemlösung sei, konnten wir <strong>einer</strong> Problemlösung näher<br />

kommen. Britta und Max wollten Kinder adoptieren, wie und wodurch genau<br />

sollte noch geklärt werden, der Gedanke, dadurch Kinder vor Waisenhaus, Armut<br />

und Hunger zu retten gefiel ihnen so gut, dass sie sich schon richtig darauf<br />

freuen konnten.<br />

Neues Haus für Brittas Family<br />

Ralf hatte zwischendurch Max mal erklärt, seinen Wunsch nach Family mit Kindern<br />

fände er klasse, aber er müsse sich doch auch mal Gedanken machen, wo<br />

die denn leben sollten, in s<strong>einer</strong> Etagenwohnung, das sei doch Kinderquälerei.<br />

Also musste für die Family ein Haus gebaut werden. Als das erste Waisenkind<br />

ein 4 jähriges Mädchen aus Columbien ankam, war das Haus fertig. Das Haus<br />

war so üppig, dass es regulär ihre Verhältnisse wohl um das Vierfache überschritten<br />

hätte. Es war eine kleine moderne Villa mit großem Garten in unserer<br />

Nähe. Ich war permanent mit Brittas Haus beschäftigt, und hatte alle Connections<br />

ausgenutzt, um für sie Schönes günstig zu erreichen. Und als es zum<br />

Schluss doch nicht ganz reichte, bin ich noch mit einem unbefristeten zinslosen<br />

Darlehen eingesprungen. Britta war total happy, häufig bei uns und Elias häufig<br />

bei ihr.<br />

Gespräche mit Anja<br />

Zu m<strong>einer</strong> Freundin Anja, mit der ich ja unsere Sozietät initiiert hatte, war die<br />

Beziehung immer noch sehr freundlich, wir verstanden uns ja auch als die<br />

Cheffinnen der ganzen Firma, und alles lief wie geschmiert, nur unser privates<br />

persönliches Verhältnis war nicht mehr das, was es einmal war. Eigentlich exis-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 57 von 209


tierte es überhaupt nicht mehr. Ich fragte sie, ob sie nicht mal Zeit für ein persönliches<br />

Gespräch nach Büroschluss habe, natürlich hatte sie. Wir gingen in<br />

ein Café, und ich sagte ihr, dass mir neulich aufgefallen sei, dass wir zwar sehr<br />

gut in der Kanzlei mit einander klar kämen, aber persönlich eigentlich nichts<br />

mehr miteinander zu tun hätten. „Ohch!“ stöhnte sie erleichtert auf, „Ich hatte<br />

schon gedacht es wäre etwas Schlimmes. Du wolltest mich los werden, oder so<br />

etwas ähnliches.“ „Anja, rede nicht so einen Blödsinn.“ reagierte ich, wir lachten<br />

uns beide an, und ich erklärte weiter, „Schlimm ist das aber eigentlich<br />

schon.“ und dann erzählte ich ihr meine Geschichte mit Ralf und was der<br />

Psychiater dazu gemeint hätte. Sie beklagte auch, dass ich doch früher mal<br />

hätte etwas sagen soll. Ich verdeutlichte, dass dies ja gerade das Problem sei,<br />

alle persönlichen Kontakte hätten sich mit Menschen abgespielt, die zu uns gekommen<br />

seien, oder bei uns gewesen wären, und innerhalb kürzester Zeit sei<br />

da bis auf die Kinder nichts mehr gewesen. Ich hätte von mir aus gar keine<br />

Kontakte nach außen gehabt, weil ich mich gar nicht darum gekümmert hätte,<br />

oder bestehende einfach hätte einschlafen lassen. „Mit dir hätte ich nicht darüber<br />

sprechen können, die Basis war gar nicht mehr da, ich fand dich zwar immer<br />

noch nett, und ich freute mich auch dich in der Kanzlei zu sehen, aber das<br />

war eben alles Office. Du warst für mich nicht mehr die Anja mit der ich früher<br />

zusammen gehockt, und gemeinsam über Liebesprobleme beratschlagen konnte.<br />

Das ist meine Schuld. Ich habe einfach nicht gesehen, wie bedeutsam so<br />

etwas ist. Ich habe einfach genossen, was ich hatte, und als plötzlich alles weg<br />

war, habe ich mich an Ralf gekrallt, als Sinnbild für die vormals heile Welt.“ so<br />

versuchte ich meine Situation darzustellen. Anja blickte lange träumend auf die<br />

Straße. Sie senkte den Blick zu ihrem Cappuccino, und begann ihn umzurühren,<br />

wobei sie nach kurzer Zeit sagte: „Ich glaube, ich versteh das sehr, sehr<br />

gut was du sagst. Im Grunde bin ich eigentlich auch verdammt einsam. Ich<br />

dreh zwar noch nicht durch, aber eine Freude ist das nicht, wenn ich aus dem<br />

Büro nach Hause komme. Ich bin viel lieber im Büro als bei mir. Ich versuche<br />

mich viel abzulenken, bin fast jeden Abend unterwegs, aber Freunde, so wie<br />

das zwischen uns damals war, hab ich auch nicht. Ich habe mir da nur noch<br />

keine Gedanken drüber gemacht. Ich habe das immer so hingenommen, als ob<br />

ich das akzeptieren müsste, und mich immer gefreut, wenn ich Morgens wieder<br />

ins Büro kam, und zum Beispiel dich sah. Dann war meine Welt wieder in Ordnung.<br />

Weiß du was <strong>Ruth</strong>, wir machen etwas, so läuft das nicht weiter, wenn wir<br />

beide das wollen, kriegen wir alles hin. Wir treffen uns an einem Abend, und<br />

dann können wir uns bei 'ner Flasche Wein mal wilde Sachen ausdenken“ Wir<br />

umarmten uns und beschlossen, dass Anja zu uns kommen, und bei uns übernachten<br />

sollte.<br />

Nächste Therapiesitzung mit Ralf<br />

Bei m<strong>einer</strong> nächsten Sitzung bei Prof. Rütten ging es mir wieder so blendend,<br />

dass ich gar nicht wusste, was ich eigentlich beim Therapeuten sollte. Ich habe<br />

ihm erzählt, wie toll es mir ging, und was ich schon alles unternommen hätte.<br />

Worauf er mich warnte, es sei zwar schön, dass es mir gut ginge, aber ich dürfe<br />

nicht glauben, das das Problem behoben sei, wenn ich allein mit den Kindern<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 58 von 209


im Haus sei, wäre die alte Situation sofort wieder da. Die Therapie abzubrechen,<br />

weil ich keine Probleme verspüre, sei der dümmste Fehler den ich machen<br />

könne. Mir kam die Idee, ob ich nicht mal Ralf mitschleppen sollte, dann<br />

bekäme er das authentisch mit und würde vielleicht ein wenig auf mich aufpassen,<br />

falls ich mal auf dumme Gedanken kommen sollte. Ich fragte Herrn Rütten,<br />

ob das sinnvoll wäre, und er meinte, dass dies das Beste sei, was ich machen<br />

könnte. Meistens seien da die Männer sehr reserviert, und lehnten es ab.<br />

Als Ralf beim nächsten mal mitkam, scherzte Herr Rütten: „Ja jetzt kann ich<br />

das schon viel besser verstehen, warum <strong>Frau</strong> Stein nachts nicht allein bleiben<br />

will.“ Wir setzten uns lächelnd zusammen und Ralf bekam auch noch mal alles<br />

persönlich erklärt. Das Therapiekonzept wurde erläutert, und einige Sitzungen<br />

wurden in gemeinsame Sitzungen mit Ralf umgewandelt. Spätestens in knapp<br />

einem Jahr solle alles vorbei sein, und ich mich locker in der Lage fühlen, auch<br />

mal einige Nächte in der Woche ohne meinen Partner auskommen zu können.<br />

Die einzelnen Sitzungen würden von Oberärzten durchgeführt, Herr Rütten sei<br />

aber auch immer ansprechbar für Fragen und Probleme.<br />

Schon in der ersten Sitzung fragte uns der Oberarzt, warum wir das denn<br />

überhaupt machen würden. Wochenendehen seien immer eine sehr große Belastung,<br />

und hielten meist nicht lange. Auch wenn nicht der eine Partner in Depressionen<br />

verfiele, gebe es eine Reihe von Stressfaktoren, die dazu führten,<br />

das diese Ehebedingungen die mit der höchsten Scheidungsrate seien. Wenn<br />

es irgendeine Möglichkeit gebe, solle man so etwas verhindern. Nachdem ihm<br />

Ralf das mit s<strong>einer</strong> Professur und seinem Alter erklärt hatte, meinte er erstaunt:<br />

„Ja aber sie haben das doch finanziell überhaupt nicht nötig. Sie können<br />

als Prof. Dr. Päd. doch auch etwas Privates machen, z. B. Erziehungsberatung,<br />

Vorträge, Fortbildungen, da fällt ihnen selber sicher noch viel mehr ein,<br />

oder müssen sie unbedingt im Staatsdienst bleiben. Wer eine Wochenendehe<br />

führt, ohne dringend finanziell darauf angewiesen zu sein, dem ist m<strong>einer</strong> Ansicht<br />

nach nicht zu helfen, weil er leichtfertig mit s<strong>einer</strong> Beziehung spielt. Sie<br />

dürfen nicht vergessen, dass es nicht darum geht, dass sie einmal vier Tage<br />

nicht zu Hause gewesen sind, das hat ihre <strong>Frau</strong> ja locker ausgehalten. Es ist<br />

das Perpetuierende ohne jede Aussicht auf Änderungen, sich immer Wiederholende<br />

ihrer überwiegenden Abwesenheit, das Stress auslöst und Empfindungen<br />

von Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit verbreitet. Die Empfindungen ihrer<br />

<strong>Frau</strong> für diese Situation sind keineswegs ungewöhnlich, andere reagieren vielleicht<br />

nur anders, indem sie die Partnerschaft auflösen, oder sich einen Liebhaber<br />

zulegen oder irgendetwas, dass ihnen diese unerträgliche Situation erträglich<br />

macht.<br />

Ralf war ganz verlegen geworden und sprach auch erst nicht mit mir, als wir<br />

heraus kamen. Außer ein paar unbedeutenden Nebensächlichkeiten sprachen<br />

wir auch im Auto nicht miteinander. Ich wollte ihn selbst dazu beginnen lassen.<br />

Erst im Haus äußerte er sich: „Der hat mich ja ganz schön zusammen gefaltet?<br />

Siehst du das auch so.“ „Was soll ich so sehen, ob er dich zusammen gefaltet<br />

hat? Das sehe ich eher nicht so.“ antwortete ich, „ob ich das auch so sehe, wie<br />

er es dargestellt hat? Was sollte ich da anders sehen?“ „Dann bin ich also ein<br />

ganz schöner Depp gewesen, der sich überhaupt nicht darum gekümmert hat,<br />

was es bedeutet. Ich bin Schuld daran, was du durchgemacht hast, und muss<br />

dir danken, dass du trotzdem immer so fest zu mir gestanden hast.“ reagierte<br />

Ralf. Er setzt sich auf die Couch, zog mich auf seinen Schoß, vergrub sein Ge-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 59 von 209


sicht in meine Schulter, und weinte leise vor sich hin. Nachdem ich ihm eine<br />

Zeit lang übers Haar gestreichelt hatte, hob ich seinen Kopf, gab in auf jedes<br />

tränende Auge einen Kuss und tröstete ihn: „Komm Schatz, hör auf, wir haben<br />

es ja beide nicht gewusst, und sind einfach hinein gestolpert. Es wird sich ja alles<br />

ändern, darüber haben wir uns doch schon gefreut, daran solltest du denken<br />

und aufhören zu weinen. Ich empfinde das nicht so, als ob du mir etwas<br />

angetan hättest. Ich werfe dir nichts vor. Ich habe mich immer nur auf dich<br />

gefreut, und werde es auch weiterhin tun. Es sei denn, du bist wieder mal rotzfrech<br />

zu d<strong>einer</strong> Liebsten, da weißt du ja was das für Konsequenzen hat.“ Ralf<br />

konnte wieder lächeln. Langsam befühlte er mein Gesicht mit seinen Fingersitzen,<br />

zog meinen Kopf zu sich und küsste mich. „Ach <strong>Ruth</strong>,“ stöhnte er, „wir haben<br />

schon so vieles durchgestanden, dann werden wir das auch noch durchstehen.“<br />

„Nein so nicht, Ralf, so gar nicht.“ reagierte ich leicht gereizt, „ich lege<br />

keinen Wert darauf, mit dir ein Jammertal zu durchleiden. Wir haben nichts<br />

durchgemacht. Wir haben uns fast Unmögliches vorgenommen, und immer gewonnen.<br />

Erinnerst du dich noch daran, wie wir uns damals klar gemacht haben,<br />

dass permanentes Risiken abwägen nie zur Veränderungen führt. Wenn<br />

wir nichts gewagt hätten, und uns darauf gefreut hätten, säßen heute immer<br />

noch Herr Grundschullehrer und <strong>Frau</strong> Regierungsrätin im Bett und jammerten,<br />

wie schlimm doch alles sei. Ich will mit dir gewinnen, und mich darüber freuen<br />

können, ich will mit dir leben und lachen, und nicht mit dir jammern. Unsere<br />

Sozietät war deinem möglichen Pädagogischen Institut gegenüber ein reines<br />

Vabanquespiel. Überleg dir etwas, worauf du dich freuen könntest. Du hast anderthalb<br />

Jahre Zeit es umzusetzen.“ „Jetzt verhaust du mich auch noch, wie<br />

soll ich mich denn da freuen?“ reagiert Ralf ironisch lächelnd. „Das war nötig.<br />

Wenn du wieder brav bist, werde ich dich heute Abend trösten.“ stellte ich ihm<br />

in Aussicht.<br />

Schüleraustausch Alyssia - Daniel<br />

Alyssia wollte nicht mehr in die USA sondern nach Frankreich, ihr Französisch<br />

sei nicht gut genug. Wir kamen zu dem Schluss, dass es unverzichtbar sei, fließend<br />

englisch zu sprechen. Es sei zwar nicht schlecht auch gut französisch<br />

sprechen zu können, aber nicht so zwingend erforderlich. „Ja, aber wenn ich<br />

einen französischen Mann habe, dann muss ich den doch auch verstehen können<br />

und ihm sagen können, was er tun soll.“ argumentierte Madmoiselle Alyssia.<br />

Dagegen gab es natürlich keine stichhaltigen Argumente. Wir schlugen vor,<br />

mal zu erkunden, ob es nicht möglich sei, dass sie ein halbes Jahr bei Ledoux<br />

wohne, Daniels Schule besuche, und Daniel ein halbes Jahr zu uns komme,<br />

und mit ihr zur Schule ginge, wenn sie sich immer noch liebten. Nur wenn ihr<br />

französischer Mann eine deutsche <strong>Frau</strong> habe, dann müsse er sich ja auch ein<br />

wenig anstrengen, um sie zu verstehen. Wenn er überhaupt keine Deutschkenntnisse<br />

habe, würde das mit einem Schüleraustausch an eine deutsche<br />

Schule wahrscheinlich nicht funktionieren. Wenn sie und Daniel das wollten,<br />

und Ledoux damit einverstanden wären, könnten wir das dann mit den Schulen<br />

und Austauschprogrammen organisieren, während sie in den USA wäre. Alyssia<br />

war Feuer und Flamme, und wollte sofort heute Abend mit Daniel sprechen.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 60 von 209


Daniel war begeistert von der Idee und hat sofort seine Eltern gefragt, die fänden<br />

das auch toll, wenn Alyssia für ein halbes Jahr bei ihnen sein könnte, sie<br />

wüssten aber nicht sicher, ob das von der Schule aus möglich wäre. Daniel<br />

selbst fand das mit dem Deutsch-Lernen nicht so gut, es sei so schwer. Dann<br />

hatte Alys ihm erklärt, wenn er sie wirklich liebe, müsse er auch ein wenig<br />

deutsch verstehen. Aber er liebe sie doch jetzt auch schon wirklich ohne<br />

Deutsch, habe Daniel entgegnet. Alyssia habe ihm zu verstehen gegeben, wie<br />

schön es für sie wäre, wenn sie zu ihm Liebling, Süßer, Schatz oder böser Junge<br />

sagen könne, und er würde das verstehen. Dann habe er wissen wollen,<br />

was das bedeute, und wie man das zu <strong>einer</strong> <strong>Frau</strong> sage. Er habe sich alles aufgeschrieben,<br />

selber vorgelesen und sei absolut überzeugt, deutsch lernen zu<br />

müssen. Die beiden waren so süß, wie schade, dass man damit rechnen musste,<br />

dass so junge Beziehungen irgendwann enden würden. Ich wollte mir das<br />

Drama nicht vorstellen, wenn Daniel ihr eines Tages mitteilen würde, er habe<br />

jetzt eine andere Freundin. Am nächsten Abend schon rief Alys mich zum PC,<br />

Monsieur Ledoux wolle mich sprechen. Er hatte schon alles geklärt, von der<br />

Schule her bestünden keine Probleme, und der Wechsel Daniels in den<br />

Deutsch-Kurs sei auch organisiert. Ein Nachhilfelehrer solle ihm helfen, die fehlenden<br />

fast 1½ Jahre nachzuholen. Alyssia habe Daniel ja so schöne deutsche<br />

Wörter gesagt, er probiere sie schon überall aus, und sei davon überzeugt,<br />

dringend deutsch lernen zu müssen. Max hatte sich an s<strong>einer</strong> Schule erkundigt.<br />

Völlig selbstverständlich sei es da. Er brachte noch Informationsmaterial über<br />

unterschiedliche Austauschprogramme mit. Bei einem Austauschdienst war<br />

man froh, dass wir alles selber organisieren würden, das erspare ihnen viel Arbeit.<br />

Alyssia in San Francisco<br />

Aber zunächst ging's ja mal in die USA. Sie hatte eine Familie in San Francisco<br />

zugewiesen bekommen. Er Mathematik-Professor an der Uni, sie Zahnärztin,<br />

fünf Kinder, 4 davon Jungen, alle älter als Alyssia und ein Mädchen ein Jahr<br />

jünger als Alys. Die Mutter konnte sich gar nicht stoppen in ihren Lobeshymnen<br />

über das wundervolle Mädchen Alyssia. Sie bringe glückliches und lustiges<br />

Leben in ihr Haus, wie sie es früher nie gekannt hätten. Alle hätten sie in ihr<br />

Herz geschlossen, und die Jungen lägen ihr zu Füßen. Nur ihre Tochter würde<br />

mit Alyssia nicht richtig warm. Möglicherweise sei sie ein wenig eifersüchtig auf<br />

die Anerkennung und Beachtung, die Alyssia erfahre. Sie ließe aber nicht mit<br />

sich darüber reden. Die Mutter wollte noch wissen, ob es o. k. sei, dass sie<br />

sehr, sehr viel am PC säße und skype. Ja ich hielte das auf für ein wenig problematisch,<br />

nur sie rede und unterhalte sich gern, bei mir würde ich die Gespräche<br />

immer beenden, wenn ich's für lang genug hielte, dann wolle sie aber<br />

noch mit allen anderen sprechen. Ich fände es ja <strong>einer</strong>seits sehr schön, aber<br />

insgesamt wären das für sie ja immer unendlich lange Sitzungen. In ihren<br />

Freund in Frankreich sei sie immer noch bis über beide Ohren verliebt, und mit<br />

ihm würde sie am liebsten Tag und Nacht skypen. Alles übrige wie Freundinnen<br />

kämen dann noch dazu. Ich würde mal mit ihr darüber sprechen, aber ich<br />

wüsste nicht, ob ich da großen Einfluss habe. Bei uns fände das immer nur<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 61 von 209


abends statt , da sie nach der Schule und den Hausaufgaben immer noch andere<br />

Beschäftigungen habe, käme sie bis zum Abendbrot gar nicht dazu.<br />

Mir kam es vor, dass sie die Jungs gut leiden mochte und viel Spaß mit ihnen<br />

hatte, ihr das ein wenig Raubeinige gut gefiel, und der enge Kontakt mit ihnen<br />

über ein ganzes Jahr leicht dazu hätte führen können, dass sie engere Beziehungen<br />

zu einem knüpfte, und der feinfühligere Daniel an Bedeutung verlieren<br />

würde. Aber nicht im Geringsten. Das Erste was sie bei der Rückkehr nach der<br />

Begrüßung sofort erledigen musste war, Daniel anskypen, und ihm mitteilen,<br />

dass sie wieder zu Hause sei.<br />

Ferienplanung<br />

In den Ferien musste sie natürlich zu Daniel. Wir haben es dann aufgeteilt,<br />

Alyssa halb bei Ledoux und Daniel halb bei uns. Vielleicht ganz wichtig, damit<br />

sie sich ein wenig auskennt, wenn die Schule beginnt. In Tain l'Heremitage gibt<br />

es nur ein Lycée für Köche, zum Lycée Notre Dame, zu dem auch Daniel gehen<br />

wird, muss sie jeden Tag nach Valence fahren. Sie wird aber nicht mit ihm im<br />

gleichen Zweig sein, da er économique et sociale gewählt hat und Alyssia das<br />

Lycée litteraire besuchen wird. Alys fährt alleine runter, wir holen sie wider ab<br />

und nehmen Daniel mit, und Ledoux holen Daniel von uns wieder ab<br />

Vorbereitung auf's Lycée mit <strong>Frau</strong> Durand<br />

Max hatte eine französische Kollegin an der Schule, die selbst an einem Lycée<br />

litteraire unterrichtet hatte. Wir luden sie zu uns ein, und sie erklärte uns die<br />

Struktur, die Unterrichtsinhalte der Fächer und Art und Arbeit mit den Schülern<br />

Alyssia bekam Angst, dass sie es nicht schaffen würde. Wir versuchten, sie zu<br />

trösten, und zeigten ihr auf, wie viel schwierige Arbeit Daniel auf sich nehme,<br />

um sie besuchen zu können. Die Französischlehrerin meinte, dass es schon<br />

eine sehr schwere Umstellung sei, wenn sie im Lycée tatsächlich erfolgreich<br />

mitarbeiten wolle. „Ja natürlich.“ erklärte Alys „Ich will da nicht immer als die<br />

kleine doofe Deutsche sitzen.“ Wenn wir das wünschten, sei sie bereit Alyssia<br />

so etwas wie vorbereitenden Nachhilfeunterricht zu geben. Sie habe auch noch<br />

Lehr- und Schülermaterial, das eventuell nicht mehr ganz up todate sei, aber<br />

im Wesentlichen habe sich da nichts verändert, zur Not könne man sich ja auch<br />

etwas besorgen. Alys schien <strong>Frau</strong> Durand zu mögen, stellte sich vor, dass so<br />

ihre Ängste behoben werden könnten, und war Feuer und Flamme. Selbstverständlich<br />

waren wir einverstanden. Die Honorarvorstellungen von <strong>Frau</strong> Durand<br />

schienen uns weit unter dem Limit zu liegen, und wir boten ihr fast das<br />

Doppelte an. Alles Argumentieren, wie wichtig uns unsere Tochter sei, war erfolglos.<br />

Sie könne das nicht annehmen. Dann flüsterte Alyssia ihr etwas ins<br />

Ohr. <strong>Frau</strong> Durand lächelte ein wenig verlegen, und meinte: „Wenn ihre Tochter<br />

mir das befielt, muss ich das ja wohl akzeptieren.“ Art und Häufigkeit sollten<br />

sie nach Bedarf und <strong>Frau</strong> Durands Möglichkeiten festlegen. Wo sie das machten,<br />

sei auch ihnen überlassen. Sie solle keinesfalls nach finanziellen Aspekten<br />

schauen, für unsere Tochter sei uns alles recht. Zum ersten Mal war Alys bei<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 62 von 209


<strong>Frau</strong> Durand. Sie wisse nicht, ob sie das gut schaffe, aber <strong>Frau</strong> Durand werde<br />

ihr sicher helfen. Ganz begeistert war sie von ihrer Wohnung. Die sei zwar nur<br />

ganz klein gegenüber unserem Haus, aber viel, viel schöner. Sie fände es ganz<br />

toll, und wäre am liebsten den ganzen Tag da geblieben. Sie werde ihr Zimmer<br />

jetzt ganz anders gestalten. Hauptsächlich hatte es ihr wohl die Bibliothek angetan.<br />

Warum wir so etwas nicht hätten, und das brauchten wir unbedingt. Mir<br />

fiel jetzt erst auf, dass wir uns um innenarchitektonische Aspekte nie Gedanken<br />

gemacht hatten. Wir hatten immer nur etwas gekauft, wenn es uns gefiel.<br />

Möglicherweise waren dadurch große Disharmonien entstanden. Ich hatte mich<br />

immer ganz wohl gefühlt, weil es ja mein Haus war, und mir als Bau gefiel,<br />

aber innenarchitektonisch war ich eigentlich ein unbeschriebenes Blatt. Vielleicht<br />

sollten wir da mal etwas investieren, dass bis Daniel oder Ledoux kämen,<br />

es hier etwas anders aussähe. Zuerst wollte ich aber <strong>Frau</strong> Durands Wohnung<br />

sehen. Ich rief sie an, und wollte sie fragen. Alys war schon wieder bei ihr. Ich<br />

könne sie ja abholen, dann sähe ich ja ihre Wohnung. <strong>Frau</strong> Durand war Alyssias<br />

neuer Stern oder neue Göttin. Die Wohnung strahlte tatsächlich auch auf<br />

mich eine sehr angenehme warme, aber keinesfalls einschläfernde Atmosphäre<br />

aus. Ich konnte Alyssia gut verstehen. Alles schien miteinander zu harmonieren,<br />

nichts erzeugte irgendwelche Brüche. Mir gefiel es auch sehr gut hier. Ich<br />

sah und empfand, dass es schön war, aber wie ich selber so etwas komponieren<br />

könnte, dazu hatte ich keine Vorstellung. Ich würde gern dem Innenarchitekten<br />

mal beispielhaft zeigen können, was mir gefiel. <strong>Frau</strong> Durand und Alys<br />

wollten morgen Fotos machen. <strong>Frau</strong> Durand meinte, das Alyssia hochmotiviert<br />

und übereifrig sei. Sie schlinge alles in sich hinein, und sei gar nicht zu bremsen.<br />

Am liebsten würde Alys sie jeden Tag den ganzen Nachmittag beschäftigen.<br />

Sie halte sie für sehr intelligent und auch willensstark. Sie sei sich ganz<br />

sicher, dass sie in Valence keine Probleme bekommen würde. Sie kenne die<br />

Schule zwar nicht, aber es sei vielleicht nicht schlecht, wenn sie kurz vor Alyssias<br />

Start mal persönlich mit jemandem telefoniere. Ich glaube <strong>Frau</strong> Durand<br />

mochte Alyssia auch ganz gern. Sie benutzt nie ihren Namen, sonder sagte<br />

stets 'ma chère'.<br />

Neuer Indoor Style<br />

Ich hatte mit einigen Leuten gesprochen, und mich für eine Innenarchitektin<br />

entschieden. Beim Besuch von <strong>Frau</strong> Lenders sollte Alyssia auch anwesend sein.<br />

Nachdem sie sich alles angesehen hatte, meinte sie. „<strong>Frau</strong> Stein, können sie<br />

ein hartes Wort vertragen? Sie haben eine Reihe sehr schöner Stücke hier, aber<br />

das Arrangement ist eine Katastrophe.“ „Genau deswegen habe ich sie her<br />

gebeten <strong>Frau</strong> Lenders. Alle Kritik von ihnen ist im Vorhinein bestätigt. Lassen<br />

sie uns jetzt überlegen, was wie zu ändern ist. <strong>Frau</strong> Durands Wohnung bezeichnete<br />

sie als typisch dem Pariser Intellektuellen Milieu zuzurechnen. Sie<br />

finde das auch sehr schön, aber alles in dem Stil mache das große Haus langweilig.<br />

Alyssia bestand aber darauf, das zumindest ihre und Daniels Räume in<br />

diesem Stil einzurichten seien, und auf eine Bibliothek dürfe auch keinesfalls<br />

verzichtet werden. Zwei Wochen später war <strong>Frau</strong> Lenders mit einem Plan und<br />

fotorealistichen Bildern wieder da. Wir fanden das meiste super und planten<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 63 von 209


nur einige kleine Änderungen. Der Kostenplan überraschte mich dann allerdings<br />

doch. Meine Vorstellungen hatten bei der Hälfte gelegen, als ich mich<br />

dazu entschloss. <strong>Frau</strong> Lenders erklärte, warum die Kosten so hoch seien. Man<br />

könne allerdings auch an vielen Einzelstellen nach günstigeren Lösungen suchen,<br />

was sich aber nachteilig auf den Gesamteindruck auswirke. Störend, und<br />

nicht zum Gesamtbild passend blieben dann noch die Bäder. Sie sei keine Spezialistin,<br />

habe aber entsprechende Kontakte. Wenn man die Summe runde, sei<br />

dafür aber etwas sehr Schönes zu gestalten. Noch mehr Geld. Bezahlen konnte<br />

ich es zwar schon, aber wollten wir dafür soviel Geld ausgeben? Wofür denn<br />

sonst? Es war doch das Wichtigste, dass man sich zu Hause wohl fühlen konnte.<br />

Ich hatte es ja an Alyssia erlebt, die lieber bei <strong>Frau</strong> Durand in der kleinen<br />

Wohnung war, als bei uns zu Hause. Also war es keine Frage. Normalerweise<br />

hätte ich so etwas nicht ohne Ralf entschieden, aber er war heute nicht da, und<br />

er versuchte sowieso immer möglichst wenig Geld auszugeben, dass er dagegen<br />

gewesen wäre, war sicher, aber bezahlt wurde es ja doch von meinem<br />

Geld. Wenn ich das haben wollte, musste ich mich jetzt entscheiden. Und das<br />

tat ich. Am Abend im Bett erläuterte ich Ralf meine Missetat. Zunächst zog er<br />

eine eher missgelaunte Mine, als ich dann aber zum Ende kam, zog er mich zu<br />

sich, und küsste mich. „<strong>Ruth</strong>, ich finde du hast das sehr gut gemacht.“ sagte<br />

er, „ich hätte uns mit m<strong>einer</strong> Knauserigkeit nur das Schöne verdorben. Tu das<br />

immer wieder in solchen Fällen. Du kannst die Bedeutung viel besser und sicherer<br />

einschätzen als ich.“<br />

Camille Durand<br />

Alyssya verbrachte fast ihre gesamte freie Zeit bei <strong>Frau</strong> Durand. Ich musste<br />

mal mit ihr sprechen. Sie meinte Alys sei weniger ihre Schülerin als viel mehr<br />

ihre Freundin. Es sei wunderschön, sie bei sich zu haben. Sie sei der Traum von<br />

<strong>einer</strong> jungen heranwachsenden <strong>Frau</strong>. Sie würden sehr vieles gemeinsam<br />

machen, und es sei eine Freude mit ihr Gespräche zu allen möglichen Themen<br />

zu führen. Sie würden auch die Vorbereitungen fürs Lycée nicht vergessen,<br />

aber sie wisse gar nicht, wie sie das beziffern solle. Ich lud sie zum Abendessen<br />

ein, damit wir das in Ruhe besprechen könnten.<br />

Am übernächsten Tag kamen schon die Handwerker, und machten das Haus für<br />

6 Wochen zu <strong>einer</strong> Baustelle. Als ich das Gefühl hatte, dass unsere Möglichkeiten,<br />

in diesem Haus zu wohnen, immer geringer wurden, rief ich <strong>Frau</strong> Lenders<br />

an, und wies sie darauf hin. Von da ab wurden wir vorher immer zu allem<br />

befragt. Dass wir an dem Abend, zu dem wir <strong>Frau</strong> Durand eingeladen hatten,<br />

gar nicht kochen konnten, war lange vorher klar, also mussten wir etwas bestellen.<br />

Das große Esszimmer war aber noch uneingeschränkt nutzbar. Wir erklärten<br />

<strong>Frau</strong> Durand, dass Alyssias Begeisterung über ihre Wohnung, der Anlass<br />

für diese Baustelle sei. „Mein Zimmer wird dann fast genauso, wie bei dir,<br />

und Daniells Zimmer auch, aber hab' ich dir ja schon gesagt.“ klärte Alyssia<br />

<strong>Frau</strong> Durand auf. „Duzt du <strong>Frau</strong> Durand, Alyssia?“ fragte ich. Sie kräuselte ein<br />

wenig die Lippen, schaute <strong>Frau</strong> Durand an, die zuckte mit den Schultern, und<br />

Alys brachte ein wenig gequält hervor: „Meistens schon,“ und posaunte dann<br />

wieder freudig, „wisst ihr, wie <strong>Frau</strong> Durand mit Vornamen heißt? Camille, schö-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 64 von 209


ner Name nicht?“ Ich hatte ein etwas sonderbares Gefühl, nicht weil sie sich<br />

duzten, sondern weil sie es ja anscheinend verschweigen wollten, und es nur<br />

dadurch herausgekommen war, dass Alys sich verplappert hatte. Fast der ganze<br />

Abend bestand aus Laudationen der beiden über die jeweils andere, wir<br />

konnten nur Zwischenfragen stellen. Alyssia hatte <strong>Frau</strong> Durand Skype installiert,<br />

hauptsächlich mit der Begründung, dass sie sich dann auch noch sehen<br />

könnten, wenn sie in Frankreich sei, habe ihr aber mittlerweile ihren ganzen<br />

Freundeskreis vorgestellt. Allen voran natürlich, mon amour Daniel, mit dem<br />

sie schon öfter gesprochen habe, und einmal habe er sogar seine Mutter geholt.<br />

Alyssia habe Freude in <strong>Frau</strong> Durands Leben gebracht, und spende ihr täglich<br />

neu Kraft. Sie habe gedacht eine Nachhilfeschülerin zu bekommen, aber<br />

einen Lebensquell erhalten. Eigentlich stehe sie in unserer Schuld. „Mich freut<br />

das sehr, so viele lobende Worte über meine junge <strong>Frau</strong> Tochter zu hören, aber<br />

ich glaube nicht, das Emotionales wie Freude und Glück finanziell fassbar sind,<br />

aber sie bringen ihr ja etwas bei, damit sie am Lycée klar kommt, und das<br />

müssen sie schon finanziell vergütet bekommen. Wenn es nicht genau festzuhalten<br />

ist, wie viel Zeit sie damit verbringen, mache ich mal einen Pauschalvorschlag.<br />

Wenn wir von regelmäßig 5 Stunden pro Woche ausgehen, würde ihnen<br />

das reichen?“ fragte ich <strong>Frau</strong> Durand. <strong>Frau</strong> Durand wehrte entschieden ab, das<br />

sei viel zu viel. „Man, nimm das an, Camille. Du kannst es doch gebrauchen.“<br />

trumpfte Alyssia auf, „Du verdienst viel weniger als Max, und machst die gleiche<br />

Arbeit. Und es tut keinem weh. Sei nicht so super bescheiden.“ „Wenn ihre<br />

Tochter das befielt, muss man das dann befolgen?“ schaute <strong>Frau</strong> Durand mich<br />

lächelnd mit großen Augen fragend an. Tscha, meinte ich abwägend, es sei immer<br />

schwer sich ihr zu widersetzen. Wenn man ihre strickten Befehle ablehne,<br />

schaffe sie es meist durch Freundlichkeit, doch noch ihre Ziele zu erreichen.<br />

<strong>Frau</strong> Durand meinte, dann könne sie ja auch gleich das Angebot akzeptieren,<br />

und bedankte sich überschwänglich. Als nächstes seien wir aber bei ihr zum<br />

Abendessen eingeladen. Alyssia werde ihr sicher beim Kochen helfen.<br />

Die kuriose Geschichte vom Anfang beschäftigte mich immer noch. Warum<br />

kann man verschweigen wollen, dass man sich duzt. Doch nur um anderen<br />

nicht zu zeigen, wie eng die Beziehung ist. Wenn Alyssia immer die ganzen<br />

Nachmittage bei <strong>Frau</strong> Durand verbringt, warum sollen sie sich nicht irgendwann<br />

duzen? Welchen Anschein vertuschen sie, wenn sie sich nicht duzen. <strong>Frau</strong><br />

Durand lebt allein, und hat ja anscheinend auch keinen Freund. Andererseits,<br />

wenn mit Alyssia etwas in dieser Richtung liefe, hätte sie auch sicher schon<br />

mal über Nacht bleiben wollen. Als Alys in ihrem Zimmer verschwunden war,<br />

ging ich kurz darauf zu ihr rein. Ich setzte mich zu ihr aufs Bett. „Ich wollte<br />

dich mal was fragen, Alyssia, die <strong>Frau</strong> Durand, hat die eigentlich einen<br />

Freund?“ fragte ich. „Soweit ich weiß nicht.“ war Alys Antwort. „War die denn<br />

mal verheiratet?“ fragte ich weiter. „Weiß ich gar nicht, ich weiß nur, dass sie<br />

mal unglücklich verliebt war.“ antwortete Alys „aber mehr sag ich dir dazu<br />

nicht. Da musst du sie schon selber fragen. Aber was willst du überhaupt?<br />

Willst du mich über Camille ausfragen, und was willst du denn eigentlich wissen,<br />

Mami?“ Ich musste es jetzt einfach sagen: „Ich wollte wissen ob <strong>Frau</strong> Durand<br />

auch <strong>Frau</strong>en liebt, und ob sie dich liebt.“ Alyssias Gedanken schienen kurz<br />

in ihrem Kopf zu spielen, dann fragte sie: „Du meinst ob sie lesbisch ist, und<br />

wir beide ins Bett gehen.“ Sie lachte laut auf und wollte gar nicht wieder aufhören.<br />

Eigentlich war damit ja alles geklärt. „Mami fiel sie mir um den Hals, lie-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 65 von 209


e süße Mami, wie kommst du denn auf so etwas. Und selbst wenn sich bei mir<br />

so etwas entwickeln sollte, dann hätte ich doch 1.000 Mal mit dir darüber gesprochen.“<br />

bekräftigte sie ihre Position noch einmal. Ich erklärte ihr, was der<br />

Anlass für meine Vermutung gewesen sei, und sie klärte mich auf: „Camille<br />

meinte, es könnte euch eventuell nicht gefallen, dass wir uns duzen. Ich sah<br />

das zwar nicht so, aber weil sie mit ihrer französischen Erfahrung es doch für<br />

besser hielt, hab' ich gedacht, kann man ja machen, und hab mich gleich im<br />

ersten Satz, den ich gesagt habe, verplappert. Wenn ich Camille das er zähle,<br />

die lacht sich tot.“ „Bitte nicht, Alys, ich möchte nicht, dass <strong>Frau</strong> Durand erfährt,<br />

was ich von ihr vermutet habe.“ bat ich sie. Nachdem wir uns geküsst<br />

hatten, und ich rausgehen wollte rief Alys mir nach: „Und wenn sie noch mal<br />

Antworten auf schwierige Fragen suchen, <strong>Frau</strong> Stein, können sie gern wieder<br />

meine Hilfe in Anspruch nehmen.“ Das löste natürlich ausgiebige Kitzel- und<br />

Balgeattacken aus mit einem anschließenden langen Gespräch von <strong>Frau</strong> zu<br />

<strong>Frau</strong>. Alyssia schien der Kontakt mit <strong>Frau</strong> Durand sehr gut zu tun. Wir hatten ja<br />

auch immer versucht ihr viel Anerkennung zukommen zu lassen, aber als<br />

Freundin <strong>einer</strong> erwachsenen <strong>Frau</strong>, <strong>einer</strong> Französischlehrerin am Gymnasium<br />

von ihr anerkannt und geliebt zu werden, das war natürlich nicht zu<br />

überbieten. Sie wurde wie eine junge <strong>Frau</strong> jenseits aller pubertären<br />

Anwandlungen behandelt, und sie selbst empfand sich, und verhielt sich auch<br />

so.<br />

Neue Innenarchitektur<br />

Nach 7 Wochen waren die letzten Möbel da, und wir um einiges ärmer. Das<br />

Haus war nicht nur nicht wiederzuerkennen, es wirkte fast wie ein Museum für<br />

Innenarchitektur. Man konnte immer wider durch die Räume gehen, und sich<br />

an den unterschiedlichen Atmosphären und Arrangements erfreuen. Es war oft<br />

so harmonisch, dass man sich kaum traute, etwas zu berühren. Auch die Bäder<br />

gefielen uns sehr, wahrscheinlich würde jetzt jeder doppelt so lange im Bad<br />

verweilen, weil's so schön war. Alyssia war ganz außer sich vor Freude und<br />

musste es sofort ihrer Camille zeigen. Die meinte, ihr Zimmer sähe aus, wie<br />

das Arbeitsatelier <strong>einer</strong> Professorin an der Sorbonne. Mann wisse ja nie, sie<br />

habe ja bis jetzt noch die besten Chancen, dass sie so etwas mal schaffen könne.<br />

Daniel wurden auch die Räume per Laptop-Kamera gezeigt, und Pläne für<br />

die Zukunft ventiliert. Alyssia sei dann Professorin und Daniel Professor an der<br />

Sorbonne, und am Wochenende würden sie nach Hause fliegen und sich ums<br />

Weingut kümmern.<br />

Die Bibliothek<br />

Die Bibliothek war schön, aber was ist eine Bibliothek ohne Bücher. Die Bücher<br />

aus dem alten großen Regal hatten nach viel gewirkt, in der Bibliothek wirkten<br />

sie verloren. Bücher aus allen Zimmern, die dort nicht aktuell oder regelmäßig<br />

gebraucht wurden, kamen in die Bibliothek. Alys wollte erst mal die Bücher von<br />

der Liste gekauft haben, die <strong>Frau</strong> Durand ihr aufgestellt hatte. Aber bei Einzel-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 66 von 209


käufen von Büchern, war natürlich das Geld und die Zeitdauer ein Problem für<br />

eine halbwegs ansehnliche Füllung. Wir hörten davon, dass man auch ganze,<br />

alte Bibliotheken aufkaufen konnte von Leuten die verstorben waren. Wir hatten<br />

nur unsere alten Schulkenntnisse, um den Wert von Büchern einschätzen<br />

zu können. Alys, die sich für die Einrichtung der Bibliothek verantwortlich fühlte,<br />

hatte natürlich auch ihre Camille mit eingespannt. Als sie erfuhr, dass wir<br />

eventuell eine alte Bibliothek aufkaufen wollten, aber Probleme bei der Bewertung<br />

hätten, fiel ihr ein, dass sie einen Bibliothekar kenne, der jetzt zwar pensioniert<br />

sei, der das aber sicher gut könne. Herr Oberweser, der Bibliothekar,<br />

bestaunte unsere wunderbaren Möglichkeiten, und wir schauten uns Angebot<br />

für Angebot an. Die Bibliothek sollte ja möglichst umfassend und nicht eine<br />

Fachbibliothek mit einigen Büchern aus anderen Bereichen sein, so waren aber<br />

die meisten strukturiert. Plötzlich gab es ein Angebot, das Herr Oberweser für<br />

absolut optimal hielt. Das hatten die professionellen Aufkäufer natürlich auch<br />

erkannt. Und schraubten den Preis in die Höhe. Der Bibliothekar hielt die Bibliothek<br />

für einen Schatz und eine Zierde unseres Hauses, dass wir so etwas<br />

nochmal angeboten bekämen, hielte er für sehr unwahrscheinlich. Herr Oberweser<br />

erklärte den Besitzern nochmal den Unterschied, dass die gesamte Bibliothek<br />

bei uns erhalten blieb, während sie von den Professionellen zerfleddert<br />

würde. Dann kannten sie auch noch das Büro meines Mannes, waren der Ansicht,<br />

dass sie bei Steins am besten aufgehoben sei, und wir bekamen sie für<br />

ein wenig mehr als das derzeitige Höchstgebot ohne Information der anderen<br />

Interessenten. Herr Oberweser war so begeistert, dass er Camille und Alyssa<br />

beim Einräumen half, und zu allem etwas erklären konnte. Ralf half manchmal<br />

auch noch mit, und mir gefiel es auch dabei zu sein, wenn ich Nachmittags aus<br />

dem Büro kam. Die Abendessen wurden zu Arbeitsessen der Bibliothekswissenschaftler.<br />

Anschließend wurde Herr Oberweser nach Hause gebracht, und <strong>Frau</strong><br />

Durand schlief öfter bei uns, weil sie mit Alyssia nach dem Abendbrot noch<br />

weiter arbeitete. Sie war für uns auch Camille geworden nach dem wundervollen<br />

Abendessen bei ihr, das sie mit Alyssia zubereitet hatte. Alyssia konnte uns<br />

alles erklären, und wie es im Detail zubereitet worden war. Sie hatte vorher<br />

schon öfter davon geschwärmt, was <strong>Frau</strong> Durand für leckere Sachen hätte und<br />

zubereiten könne. Mittlerweile war Camille vom Status <strong>einer</strong> Freundin in den<br />

Stand allerallerbeste Freundin bei Alyssia aufgestiegen. Ich mochte Camille<br />

auch gern, und liebte es, mich bei <strong>einer</strong> Tasse Kaffee mit ihr über Persönliches<br />

zu unterhalten. Die Bibliothek sollte mit einem Essen, das wieder Camille und<br />

Alyssia allerdings bei uns zubereiten sollten, eingeweiht werden. Herr Oberweser<br />

meinte, die Bücher seien zwar katalogisiert und in den Regalen, aber es<br />

gebe noch so vieles zu erläutern. Alyssia sei jetzt bald für drei Wochen an der<br />

Rhône, aber Ralf müsse sich da sowieso mal ein wenig tiefer einarbeiten. Alyssia<br />

sei ja auch bald für ein halbes Jahr nicht da, und wenn Herr Oberweser Interesse<br />

habe, sei seine Hilfe jederzeit hoch erwünscht. Jetzt hatten wir nicht<br />

nur schöne Bäder, sondern auch eine bewundernswerte Bibliothek, von der wir<br />

nur äußerst wenig Bücher kannten. Ich hatte seit Alyssias Geburt meinen Literaturkonsum<br />

immer weiter eingeschränkt, obwohl ich Zeit genug gehabt hätte.<br />

Vielleicht fehlte der Anreiz und ein entsprechendes Ambiente, aber jetzt spürte<br />

ich wieder Lust, in der Bibliothek zu stöbern, und neu Welten zu entdecken.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 67 von 209


Alyssia in Tain l'Heremitage<br />

Unsere Süße war mal eben cool alleine mit dem Zug nach Valence gefahren.<br />

Natürlich ist das für ein Mädchen in ihrem Alter möglich. Nur sie war noch nie<br />

weitere Strecken mit dem Zug gefahren, und managte das selbstverständlich<br />

wie ein alter erfahrener Hase. Von Valence hatten Ledoux sie abgeholt. Am<br />

ersten Abend hätten sie sich lange viel zu erzählen gehabt, und in der Nacht<br />

hätten die beiden wohl ihr Wiedersehen gefeiert, zumindest hätten sie am<br />

nächsten Morgen gar nicht aufstehen wollen, berichtete Madame Ledoux.<br />

Wir bekamen immer wieder alles brennend heiß geskypt. Oft kam sie auch gar<br />

nicht dazu, weil sie viel zu beschäftigt war. Sie war tief beeindruckt, und wusste<br />

schon nach wenigen Tagen, dass sie später mit Sicherheit in Frankreich leben<br />

werde. Sie verstehe jetzt, warum sie Camille so gut leiden könne, in<br />

Frankreich seien die <strong>Frau</strong>en alle so. Was sie jetzt erlebe, habe mit dem Urlaubs-Frankreich<br />

nichts zu tun. Es sei einfach wunderbar. Ledoux hatten wohl<br />

alle Verwandten, Freunde und Bekannte eingeladen oder besucht, um ihr vieles<br />

zu zeigen, und sie vorzuzeigen. Sie sei von allen geliebt und bewundert worden,<br />

und jeder habe ihr noch ein paar wichtige Tips für's Lycée, für's Leben in<br />

Frankreich, oder für spezielle Lebensangelegenheiten gegeben, und alle hätten<br />

ihre Hilfe angeboten, wenn sie mal Probleme bekommen sollte, und ihr das<br />

Versprechen abgenommen, sie während dieser Zeit zu besuchen. Alle seien immer<br />

so freundlich und nett, das könne man sich hier gar nicht vorstellen, und<br />

dann noch zu <strong>einer</strong> Ausländerin, zumal noch <strong>einer</strong> Deutschen. Camille müsse<br />

doch eigentlich in Deutschland immer traurig sein, und dabei sei sie immer so<br />

nett. Ich solle mich gut um sie kümmern, wenn sie nicht da sei. Ledoux hätten<br />

sie immer als ihre belle fille vorgestellt. Ihr sei das immer ein wenig peinlich<br />

gewesen, als schönes Mädchen vorgestellt zu werden. Als sie das Daniel erzählt<br />

habe, sei sie aufgeklärt worden, dass es Schwiegertochter bedeute.<br />

Als wir sie abholen kamen, konnten wir ihre Begeisterung gut verstehen. Es<br />

war wirklich eine völlig andere Welt, keine hektische Großstadt aber auch nicht<br />

abgeschiedene Idylle. Eine Welt die überschaubar war, und in der die Kontakte<br />

unter den Menschen enger und herzlicher waren. Große Faszination hatte auf<br />

sie die Weinherstellung im eigen Haus ausgeübt. Sie hatte sich alles bis ins<br />

kleinste Detail erklären lassen, und staunend gesagt, dass sie so etwas auch<br />

gerne machen würde. Worauf Ledoux gesagt hatten, wenn Daniel später mal<br />

etwas anderes machen wolle, dann könnte, sie das ja fortführen.<br />

Gespräch mit Madame Ledoux<br />

Madame Ledoux erzählte mir, als wir mal alleine waren, sie habe Daniel mal<br />

weinen gesehen, und als sie ihn gefragt habe, warum er weine, habe er gesagt,<br />

dass er Angst habe, Alyssia würde ihn einess Tages verlassen. Das sei<br />

mir zur Zeit unvorstellbar. Wie ich wüsste, sei alles wie immer und bisher.<br />

Alyssia habe auch weniger mit ihm geskypt, es sei ihm oft wie so eine Art<br />

Pflichterfüllung vorgekommen. Ich klärte <strong>Frau</strong> Ledoux auf, womit das zusammen<br />

gehangen habe. Daniel sei noch gut bedacht worden. Mit anderen habe<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 68 von 209


sie überhaupt nicht mehr geskypt. Sie habe uns davon überzeugt, das wir unbedingt<br />

eine Bibliothek bräuchten. Und als wir sie gehabt hätten, sei es ihre<br />

Chefsache gewesen, sie einzurichten, obwohl sie vorher überhaupt keine Ahnung<br />

davon gehabt hätte. Camille und sie hätten oft bis in die Nacht in der Bibliothek<br />

gesessen, und gearbeitet und diskutiert. Während dieser Zeit habe die<br />

übrige Welt für sie nicht mehr existiert. Madame Ledoux sagte auch noch, dass<br />

Daniel Alyssia für fitter und ihm überlegen halte, und sie eines Tages so jemanden<br />

wie ihn nicht mehr brauchen würde. „Oh,“reagierte ich erstaunt, „so<br />

eine Einstellung sollt man aber schnellstens ändern. So etwas fragt man sich<br />

doch in der Liebe gar nicht. Jeder bewundert den andern und weiß, dass er<br />

vom andern bewundert wird. Ich würde das eher als Minderwertigkeitsgefühl<br />

sehen, das an diesem Punkt evident wird. Da würde ich auf jeden Fall mal<br />

einen Psychologen fragen, bevor man das einfach wuchern lässt. Ich bin mir sicher,<br />

Alyssia hat ihm gesagt, warum sie so wenig Zeit hat. Nur er hat es wahrscheinlich<br />

gar nicht wahrnehmen wollen oder können, weil es sonst nicht in<br />

seine Vorstellung gepasst hätte.“ „Bewundern muss ich Alyssa allerdings auch.<br />

Diese Lebenslust, und Freude verbreitende junge <strong>Frau</strong> sagt manchmal so kluge<br />

Dinge, von denen man selber noch lernen kann, ich frage mich oft, wo sie das<br />

her hat, und wie sie als junges Mädchen so etwas verstehen kann.“ „Sie fragt<br />

sehr viel, bis sie eine für sie verständliche Erklärung gefunden hat, die sie befriedigt.<br />

Und das vergisst sie dann nicht. Zu m<strong>einer</strong> Trennung und m<strong>einer</strong> neuen<br />

Liebe z. B. da reicht es nicht, dass ich ihr das einmal 4 Stunden lang erklärt,<br />

und ihre Fragen beantwortet habe, da kamen jeden Tag wieder neue Fragen,<br />

obwohl sie vom ersten Moment an nicht dagegen war. Sie will das nur für<br />

sich fassbar genau verstehen können. Wenn das abgeschlossen ist, gehört das<br />

zu ihrem Fundus, dann glaubt sie es, dann gehört das zu ihr, zudem, was sie<br />

dann auch in anderen Situationen wieder verwenden kann. Als sie noch kl<strong>einer</strong><br />

war, hörte sich das oft altklug lustig an. Zum Beispiel mit 9 wollten wir nach<br />

dem Abendbrot noch gemeinsam etwas unternehmen. Sie lehnte das ab. Sie<br />

ginge jetzt in ihr Zimmer. Wir seien doch verliebt, und da bräuchten wir auch<br />

mal Zeit für uns alleine.“ „Mit neun Jahren, sagt sie das, ja ja, das kann ich<br />

mir gut vorstellen.“ Madame Ledoux dazu „Heute sagt sie Sätze, die man von<br />

<strong>einer</strong> 40 jährigen <strong>Frau</strong> erwarten würde, und es sind nicht Floskel, sondern sie<br />

kann es sehr gut begründen und diskutieren. Sie hat mir erklärt, was ein Mann<br />

tun muss, wenn er eine <strong>Frau</strong> glücklich machen will. Sehr gut übrigens, erstaunlich<br />

gut. Ich konnte nichts hinzufügen, eher etwas davon lernen. Sie ist<br />

eine Fee. Ich möchte sie immer um mich haben. Ich freue mich schon sehr auf<br />

ihre Zeit hier. Vieles muss sie ja von ihnen haben, sie müssen eine begnadete<br />

Mutter sein.“ „Danke, Madame Ledoux, Nichts habe ich getan. Ich habe sie nur<br />

vom ersten Tag an sehr geliebt, und tue es auch heute noch. Aber das gilt ja<br />

wohl für fast jede Mutter.“<br />

Deutschlandtour mit Daniel und Alyssia<br />

Wir waren immer hin und her gerissen von Ledoux Einladung, doch noch länger<br />

zu bleiben, und der Erkenntnis, dass es immer die gemeinsame Zeit der beiden<br />

in Hamburg verkürze. Auf der Rückfahrt versuchte Daniel schon eifrig seine<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 69 von 209


ersten Deutschkenntnisse anzubringen, wenn er erklärten wollte, woran wir<br />

gerade vorbei fuhren. Die beiden platzten immer wieder los vor Lachen, dass<br />

ich manchmal unwillkürlich mitlachen musste, obwohl ich gar nicht verstanden<br />

hatte, worum es eigentlich ging. Plötzlich wurde Alyssia müde, legte ihren Kopf<br />

auf Daniels Schoß, und schlief ein. Kurz vor Freiburg wurde sie wach. Sie<br />

meinte es sei doch trist, immer nur über die Autobahn zu rasen. Daniel sei<br />

noch nie in Deutschland gewesen, wir kämen doch an so vielen Sachen vorbei,<br />

da könne man sich doch mal was ansehen. Freiburg, das gleich käme, habe sie<br />

auch noch nie gesehen, aber schon so viel Tolles davon gehört. Also fuhren wir<br />

nach Freiburg rein. Es war für uns alle der erste Besuch, und niemand hat es<br />

bereut. Im Gegenteil, in Freiburg im Café überlegten wir uns, was wir uns noch<br />

ansehen wollten. Heidelberg war natürlich Pflicht. Ralf kam auf die Idee, ob sie<br />

beide als Weinbauexperten, nicht vielleicht Lust hätten, sich eine Weinstraße<br />

anzusehen. Die beiden konnten sich nichts darunter vorstellen. Ralf erklärte<br />

und erläuterte, das die Badische nicht weit von hier entfernt sei, wir könnten<br />

aber auch etwas von der Deutschen Weinstraße besuchen. Ich fand, an der<br />

Mosel sei es viel schöner, und zudem sei der Fluss ja auch eine Metapher für<br />

unser couple d’amoureux. Für Alyssia stand Mosel auch sofort fest, und sie<br />

versuchte Daniel zu vermitteln, warum das unbedingt zu empfehlen sei. Aix la<br />

Chapelle und Cologne standen noch auf der Dringlichkeitsliste, und durften<br />

nicht gestrichen werden. Also die Mosel rauf nach Trier von dort nach Aachen,<br />

von Aachen nach Köln. So sollte unsere Deutschland-Rundreise aussehen. Wir<br />

wollten nicht bummeln, aber 2-3 Tage zusätzlich nahmen wir dafür in Kauf.<br />

Auch wenn uns die Zeit immer recht knapp vorkam, waren wir doch angetan<br />

von der Klugheit unserer Entscheidung. Alyssia kannte außer dem Kölner Dom<br />

von alledem ja auch noch nichts, und Daniel hat s<strong>einer</strong> Mutter am Telefon vermittelt,<br />

er habe jetzt alles von Deutschland gesehen. Wenn Alys nicht bei Freiburg<br />

die Idee gehabt hätte, wären wir einfach mit <strong>einer</strong> Rast durchgerauscht<br />

nach Hamburg.<br />

Daniel in Hamburg<br />

Zu Hause bekamen wir die beiden, außer zu den Mahlzeiten, kaum zu sehen.<br />

Alyssia hatte vorher zwei Tage lang einen Plan mit unterschiedlichen Dringlichkeitsstufen<br />

entwickelt, was alles mit Daniel abzuarbeiten sei. Wir haben sie<br />

dann noch ein wenig moduliert, so das Daniel auch Berlin, Bremen und Kopenhagen<br />

zu sehen bekam. An Partys, Fèten oder Einladungen hatte sie auch nicht<br />

gedacht. Camille hatte es ermöglicht, dass sie sich trotz Ferien die Schule anschauen<br />

konnten. Anja fand, in so etwas Süßes würde sie sich heute noch verlieben<br />

können, und bei der Grillparty hatte er ständig eine Gruppe von jungen<br />

Damen um sich stehen. Elias wollte immer mit, aber das ging natürlich nicht.<br />

Am häufigsten wurde etwas zusammen mit Camille unternommen. Für Berlin<br />

hatte ich auf einem Familienausflug inklusive Camille bestanden, und nach Kopenhagen<br />

musste auch wenigstens eine andere erwachsene Person sie begleiten.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 70 von 209


Daniel verliebt sich in <strong>Ruth</strong> Stein<br />

Nach einiger Zeit schien Daniel mehr Ruhe zu suchen. Mal wollte er lieber Ralf<br />

im Garten helfen, oder am Samstag bei mir bleiben. Alyssia störte es nicht. Sie<br />

schien froh zu sein, wenn sie Zeit hatte, sich der prinzipiell endlosen Aufgabe<br />

'Bibliothek' widmen zu können. Ich mochte ihn. Er sah nicht nur nett aus,<br />

konnte gehaltvolle Gespräche führen, sondern liebte es auch charmante Neckereien<br />

auszuprobieren. Z. B. kam er einmal grinsend mit einem Blatt Papier<br />

zu mir und fragte: „<strong>Frau</strong> Stein können sie mir sagen, ob das so richtig ist?“ Auf<br />

dem Blatt stand: „<strong>Frau</strong> Stein, sie sind eine sehr nette <strong>Frau</strong>. Es gefällt mir sehr<br />

gut bei ihnen.“ mit solchen oder ähnlichen Spielchen bot er immer wieder Anlässe<br />

zu kleinen Flirts, launigen Gesprächen und Spielchen.Häufigster Adressat<br />

s<strong>einer</strong> Späße war ich. Er schien meine Nähe zu mögen, und immer häufiger zu<br />

suchen. Es erinnerte mich fast ein wenig daran, wie die Beziehung zwischen<br />

Ralf und mir damals begonnen hatte. Daniels Komplimente wurden immer häufiger<br />

und direkter. Alle positiven Eigenschaften <strong>einer</strong> <strong>Frau</strong>, und eine Reihe weiterer<br />

lobender Anerkennungen hatte ich schon genossen, als ich empfand, dass<br />

Daniels Beziehung zu mir, heikle Formen annehmen könnte. Als ich mir mal<br />

das Bild der weiteren möglichen Entwicklung ausmalte, und mir vorstellte, wie<br />

ich mit diesem süßen Jungen im Bett liegen würde, stellte ich fest, wie mein<br />

Atmen tiefer und intensiver wurde. Es hatte mit Ralf und tiefer Liebe nichts zu<br />

tun. Ich konnte mir nur sehr gut vorstellen, wie es sich bei mir dahin entwickeln<br />

könnte, dass ich Lust hätte, mit diesem jungen Mann zu schlafen. Was<br />

sich da in mir abspielte? Ich hatte k<strong>einer</strong>lei Erklärung dafür. Möglicherweise<br />

gibt es bei <strong>Frau</strong>en eine Lust auf Junges, Zärtliches, Frisches bei Männern, die<br />

lebenslang erhalten bleibt. Ich schien nicht davor gefeit, dass es zu <strong>einer</strong> solchen<br />

Entwicklung kommen könnte. Non! Fini! Das konnte und durfte es nicht<br />

geben. Ich musste mit Daniel reden. Als wir beide gemeinsam beim Kaffee saßen<br />

meinte ich zu ihm: „Daniel, es scheint mir manchmal so, als ob du anfingst,<br />

dich in mich zu verlieben.“ Der junge Mann bekam knallrote Wangen<br />

und schaute verlegen. Er stritt es nicht sofort vehement ab, sondern schwieg.<br />

Es war ihm also zumindest auch schon etwas in dieser Richtung bewusst geworden.<br />

„Daniel, ich möchte, dass du mir etwas dazu sagst.“ bat ich ihn. „<strong>Frau</strong><br />

Stein, ich liebe sie.“ sagte er plötzlich. „Oh Daniel, was tust du? Dass ist nicht<br />

möglich, Daniel, das kann es nicht geben, und das darf nicht sein.“ verdeutlichte<br />

ich ihm eindringlich, „Das musst du ganz schnell wieder vergessen, sonst<br />

gibt es ernsthafte Probleme für dich.“ „<strong>Frau</strong> Stein, ich kann das nicht vergessen.<br />

Ich träume von ihnen. Ich träume, wie sie mich küssen und <strong>–</strong> na ja <strong>–</strong> wie<br />

wir Liebe machen. Einfach vergessen kann ich das nicht.“ reagierte Daniel. Ich<br />

machte ihm klar, dass so etwas nicht möglich sei. Alyssias Freundin sein, ihre<br />

Mutter lieben, das wollten wir beide nicht. Unter solchen Bedingungen könne er<br />

nicht bei uns wohnen. Er müsse seine Vorstellung ändern, wir könnten gute<br />

Freunde sein, und das sei ja auch nicht wenig. Wenn er seine Einstellung aber<br />

nicht ändern wolle, habe er gar nichts, dann sei alles zu Ende mit Alyssia und<br />

mit mir und mit seinem Aufenthalt hier, 'tout est fini entre nous', ob er das<br />

wolle. Das wollte er natürlich nicht, aber er wisse gar nicht, wie er es denn vergessen<br />

solle, dass er mich liebe. Es ergab sich daraus noch ein sehr langes Gespräch<br />

über Liebesfragen und ihn selber, und mir wurde deutlich, dass Daniels<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 71 von 209


Selbstbewusstsein sehr schwach entwickelt zu sein schien, und er ein sehr<br />

starkes Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit hatte. In s<strong>einer</strong> Liebe zu mir,<br />

sah ich allerdings kein großes Problem mehr. Ich war der Überzeugung, dass<br />

auch für ihn diese Episode bald zu Ende sein werde. Andererseits fragte ich<br />

mich natürlich auch, was es für die zukünftige Beziehung zwischen ihm und<br />

Alyssia bedeuten würde, wenn er einfach so mit ihr im Bett liegen konnte,<br />

während er davon träumte mit ihrer Mutter zu vögeln. So wie ich Daniel jetzt<br />

kannte, hätte ich es für dringend gehalten, den Rat eines Psychologen einzuholen.<br />

Ob ich mit Madame Ledoux, Daniels Mutter, darüber sprechen sollte, wenn<br />

sie ihn abholten?<br />

Ledoux in Hamburg<br />

Ledoux hatten vorgeschlagen, Alyssia doch direkt mitzunehmen. Die Schulen<br />

begännen in Frankreich zwar erst 3½ Wochen später, aber dann brauche sie<br />

nicht mit ihrem schweren Gepäck alleine zu fahren, und könne sich schon wieder<br />

ein wenig einleben. Alys fand das o. k., also wurde es so gemacht. Als Ledoux<br />

ankamen, musste Alyssia ihnen zu erst, wie allen Besuchern sonst auch,<br />

die Bibliothek zeigen. Madame Ledoux, die selber Lehrerin gewesen war, konnte<br />

es gar nicht fassen. „Fabuleux! Incroyable! Fantastique! Merveilleux!“ staunte<br />

sie immer wieder, und wollte es gar nicht glauben, das Alyssia das alles arrangiert<br />

hatte. Aber bei Alyssias kompetenten Erklärungen blieb ihr nichts anderes<br />

übrig. Als Alys ihr Zimmer zeigte, und scherzte, dass es so eingerichtet<br />

sei, weil sie später mal Professorin an der Sorbonne werden wolle, bemerkte<br />

Madame Ledoux, sie müsse es schon sein, so wunderbar eine Bibliothek einrichten,<br />

könne nur eine Professorin von der Sorbonne.<br />

Ledoux wollten nur drei Tage bleiben, es wurde dann aber doch knapp eine<br />

Woche. In weniger Zeit konnte man das Wichtigste auch gar nicht erledigen.<br />

Monsieur Ledoux und Ralf verbrachten einen halben Tag in unserem französischen<br />

Weinladen, mit der Folge, dass der Inhaber sein Sortiment ändern wollte,<br />

unter anderem demnächst direkt von Ledoux beliefert wurde und Ralf über<br />

alle Weine bestens informiert war. Unser Weinverbrauch war nämlich rapide<br />

gestiegen, seit Alyssia in Frankreich war, gab es kein Essen ohne Wein und<br />

Käse mehr. Alys hatte argumentiert, dass in Frankreich nicht nur etwas anderes<br />

gegessen werde als hier, sondern dass das Essen in Frankreich eine Tagesphase<br />

sei, die es bei uns gar nicht gebe. Sie könne sich gut vorstellen, dass die<br />

Franzosen deshalb so gesund seien, und viel älter würden. In Frankreich sei<br />

das Essen eine sehr bedeutsame Tageszeit, in der es das Wichtigste sei, dass<br />

man sich wohl fühle, unter anderem auch durch leckere Speisen, die man genieße.<br />

Hier sei es nur wichtig, dass man den Bauch voll habe, und springe<br />

eventuell schon beim letzten Bissen vom Tisch wieder auf. Wenn man das aus<br />

französischer Sicht sehe, könnte man meinen, was wir machten, diene dazu,<br />

krank zu werden. Wir hatten nicht nur Alyssias Wünschen entsprochen, weil<br />

uns ihre Argumente zusagten, sondern die veränderte Praxis überzeugte uns<br />

vollends, so das wir wegen des erhöhten Aufwands eine kompetente Küchenhilfe<br />

einstellen wollten. Cynthia war ja <strong>–</strong> auch ohne Heiratsversprechen für Elias<br />

- schon länger nicht mehr bei uns, und somit stand die finanzielle Frage gar<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 72 von 209


nicht zur Debatte.<br />

Als Ledoux bei uns waren, wurden die Abendessen immer zu kleinen Festen,<br />

und zogen sich weit in den Abend hinein. Camille, die während der ganzen Zeit<br />

bei uns war, Madame Ledoux, Alyssia und ich bereiteten gemeinsam die Mahlzeiten<br />

vor, was nicht nur für mich oft sehr lehrreich war, sondern immer auch<br />

eine freudige Veranstaltung eines verschworenen Damenclubs bei der sehr viel<br />

gelacht wurde. Am vorletzten Abend gab's noch eine Gartenparty, zu der alle<br />

nahen und fernen Bekannten mit einem Hauch von Kenntnissen der französischen<br />

Sprache eingeladen waren.<br />

In einem ruhigen Moment habe ich mit Madame Ledoux auch noch das Problem<br />

mit Daniel angesprochen. Es ginge mir überhaupt nicht um den Vorfall<br />

selber, der sei sehr schnell, wenn nicht schon jetzt passé, ich sähe die Probleme<br />

bei Daniel, und würde aus m<strong>einer</strong> Sicht mal unbedingt mit einem Psychologen<br />

darüber reden. Das sei für sie sehr ungewöhnlich, aber sie sehe auch, dass<br />

es für Daniel sehr wichtig und hilfreich sein könne, und wolle es auf jeden Fall<br />

machen.<br />

Beim Abschied konnte ich meine Tränenflüsse in k<strong>einer</strong> Weise kontrollieren, als<br />

ob sich meine Sonne für den Rest des Lebens verabschieden würde. Ich konnte<br />

immer nur verlegen zwischendurch lächeln, und verdeutlichen, dass ich keine<br />

Macht darüber habe. Alle versuchten mich zu trösten, aber was sie mir sagten,<br />

wusste ich ja selber. Als sie sich für ein ganzes Jahr in die USA verabschiedete,<br />

ist mir das längst nicht so schwer gefallen. Vielleicht weil sie mittlerweile ein<br />

wenig älter und in kurzer Zeit sehr viel reifer geworden war, und Frankreich<br />

und das Lycée nichts intermezzohaftes mehr hatten, sondern ernste Phasen<br />

der Lebensgestaltung dieser jungen <strong>Frau</strong>, die meine Tochter war, sein würden.<br />

Die Zeit des Ausprobierens und Spielens war vorbei.<br />

Alyssia wieder in Tain l'Heremitage und am Lycée<br />

Camille hatte wenige Tage vor Schulbeginn in der Schule angerufen, und erfahren,<br />

dass der Schulleiter Alyssia schon kannte, alles mit ihr geklärt habe,<br />

begeistert sei von ihr, und sich auf ihren Schulbeginn freue. Daniel und Alyssia<br />

waren wohl in den ersten Tagen schon nach Valence gefahren, und wollten sich<br />

auf eigene Faust die Schule ansehen. Der Hausmeister habe sie zum Schulleiter<br />

gebracht, weil nur der noch in der Schule anwesend war. Der habe ihr dann<br />

persönlich die ganze Schule gezeigt und sich lange mit ihnen unterhalten. Davon<br />

hatte sie uns nichts erzählt.<br />

Die Arbeit am Lycée sei zwar ziemlich anstrengend, weil man sehr viel arbeiten<br />

müsse, aber längst nicht so schwer, wie sie befürchtet habe. Sie käme sich<br />

auch nicht vor, als ob sie weniger wüsste oder könnte, als ihre Mitschülerinnen<br />

und Mitschüler, eher das Gegenteil, und wenn sie Nachfragen habe, würden ihr<br />

die immer gern beantwortet. Zur Not könne sie ja immer noch Camille fragen,<br />

mit der sie jeden Abend skype. Zu viel mehr komme sie auch kaum noch bei<br />

der ganzen Arbeit. Daniel müsse immer genauso viel pauken, aber in ganz anderen<br />

Gebieten, von denen sie überhaupt keine blasse Ahnung habe.<br />

Bei Arbeiten und Tests gehörte sie von Anfang an zu den Besten, und hatte<br />

schnell Freundinnen und Freunde gefunden. Nach kurzer Zeit stand es für sie<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 73 von 209


unverbrüchlich fest, dass sie in Frankreich französische Literatur studieren werde.<br />

Das würde sicher nicht leicht, da in Frankreich jeder Durchschnittsfranzose<br />

so belesen sei, wie hier ein Studienrat. Die Deutschen seien gegenüber den<br />

Franzosen ein Volk von Analphabeten. Schon ihre Mitschülerinnen und Mitschüler<br />

hätten viel mehr Lust daran, Fragen und Probleme zu erörtern und zu diskutieren.<br />

Sie empfinde das sehr angenehm und anregend. Sie hatte auch dann<br />

einen Mitschüler, mit dem sie sich besonders häufig und gern unterhielt, auch<br />

noch als sie schon lange wieder zurück war, aber zu etwas anderem hat es sich<br />

nicht entwickelt. Er war nur für's Reden und Diskutieren zuständig, fürs<br />

Schmusen und Bett blieb weiterhin Daniel ihr Freund.<br />

Das halbe Jahr sei wie im Flug vergangen. Alle hätten sie gebeten doch noch<br />

länger zu bleiben, und sie hätte es auch am liebsten gemacht, aber sie wolle<br />

ihr deutsches Abitur haben. Sie hatte von allen die Adressangaben und versprochen,<br />

sich aus Hamburg zu melden.<br />

Lucille Ledoux, mit der ich mittlerweile häufiger telefoniere oder skype - wir<br />

duzen uns mittlerweile auch <strong>–</strong> ist beim Psychologen gewesen, Daniel ist dort<br />

gewesen, und sie nochmal zusammen mit ihrem Mann. Schwerpunkt sei es,<br />

dafür zu sorgen, dass Daniel mehr und mehr selbstverantwortlich Aufgabenbereiche<br />

übernehmen könne, und Anerkennung und Bestätigung erfahre. Sie hätten<br />

eingesehen, was nicht optimal für ihn gelaufen sei und würden das jetzt<br />

ändern. Mein Tipp sei eine hervorragende Hilfe gewesen.<br />

Alyssia back at home<br />

Alyssia kam zurück, belegte natürlich Französisch als Wahlfach und bekam Camille<br />

als Lehrerin. Alle Bemühungen Camilles, das zu verhindern seien erfolglos<br />

geblieben. Alyssias größte Befürchtung war, dass es ihr nicht immer gelingen<br />

könne, sie <strong>Frau</strong> Durand zu nennen. Am meisten schien sich Camille zu freuen,<br />

dass Alyssia wieder zurück war. Bei der Begrüßung am Flughafen konnte sie<br />

ihre Umarmung gar nicht wieder lösen. Alyssia hielt die Arbeit in der deutschen<br />

Oberstufe für flau. Schon mal müsse man ein wenig mehr bringen, aber insgesamt<br />

hielt sie es eher für seicht. Sie meinte auch, dass die Schüler im Lycée<br />

eher als junge Erwachsene, die zu arbeiten hätten, angesehen worden seien,<br />

und nicht als etwas ältere flegelhafte Schüler wie hier. Auch die jungen <strong>Frau</strong>en<br />

seien in Frankreich ernsthafter gewesen, viele ihrer Mitschülerinnen kämen ihr<br />

dagegen jetzt, wie Tussis vor, mit denen man kein vernünftiges Gespräch führen<br />

könne. In den nächsten Jahren hatten wir viel Besuch von jungen Damen<br />

und Herren aus Valence und Umgebung. Alyssia hatte alle eingeladen, und irgendwann<br />

schaffte es dann auch jede und jeder mal. Die Situation, dass ihre<br />

Freundin jetzt ihre Französisch-Lehrerin war, erregte natürlich bei allen Erstaunen.<br />

Camilles Probleme<br />

Camille selbst erregte immer mein tiefstes Mitleid, aber wie konnte ich <strong>einer</strong><br />

<strong>Frau</strong>, die so tief enttäuscht worden war, besser helfen, als meine Alys, die ihr<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 74 von 209


wieder Lebensfreude und jugendliche Zuversicht vermittelte, die sie schätzte,<br />

liebte, anerkannte und bewunderte. Männer müssen <strong>Frau</strong>en gegenüber ein<br />

Schweinegen haben, dass einige manchmal zum Einsatz bringen, sowie bei<br />

Bianca als auch bei Camille. Sie war m<strong>einer</strong> Ansicht nach nicht nur eine hübsche,<br />

elegante feingliedrige <strong>Frau</strong>, sondern sie wirkte mit ihrem schwarzen Haar,<br />

ihrem leicht dunkleren südfranzösischen Teint, ihren strahlenden Zähnen und<br />

ihrer gesamten Mimik auf mich richtig edel. Auf Männer konnte sie sich nicht<br />

mehr einlassen, weil sie über zwölf Jahre von einem verheirateten Freund<br />

hingehalten und betrogen worden war. Im Nachhinein sei es ihr unerklärlich,<br />

wie sie das so lange habe mitmachen können, möglicherweise habe ihr<br />

Wunsch, dass es stimme, was er sage, sie das Unmöglichste glauben lassen.<br />

Sie habe sich 12 Jahre lang mit dem versprechen der Perspektive zufrieden gegeben,<br />

obwohl es von Anfang an gelogen gewesen sei. Als sie nach 12 Jahren<br />

von anderer Seite sicher erfahren habe, dass er das nie vorgehabt habe, und<br />

auch nie tun werde, sei sie völlig psychisch zusammengebrochen. Unter anderem<br />

habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie habe alle Männer umbringen<br />

können. Wenn sie französische Männerstimmen gehört habe, hätten<br />

sich ihr immer vor Wut und Angst Schweißperlen auf der Stirn gebildet. Und<br />

weil sie Lehrerin für deutsche Sprache gewesen sei, sei sie jetzt hier. Sie könne<br />

sich nicht vorstellen, je wieder ein vertrauensvolles Verhältnis zu einem Mann<br />

entwickeln zu können. Und selbst wenn sich so etwas entwickeln sollte, würde<br />

sie es wahrscheinlich durch ihre Psychopathie wieder zerstören.<br />

Ich hatte viel und oft mit Camille darüber geredet, und ihr auch die Geschichte<br />

mit der Lesbisch-Vermutung erzählt, aber <strong>Wege</strong> zu <strong>einer</strong> Lösung hatten wir<br />

keine gefunden. Sie hatte schon grundsätzlich Interesse an Männern, aber jede<br />

Vorstellung <strong>einer</strong> Beziehung sei an die Angst gekoppelt, wieder so oder ähnlich<br />

betrogen zu werden, und lasse es ihr unmöglich erscheinen. Zu dem werde sie<br />

ja auch älter, sie habe das für den Rest ihres Lebens ad acta gelegt. „Camille,<br />

ich versuche zu verstehen, wie schlimm es für dich ist, ich kann aber deine Situation<br />

nicht nachempfinden, weil ich es nicht erlebt habe. Nur eins weiß ich,<br />

eine Beschädigung, die mir so ein Schwein zugefügt hat, würde ich niemals<br />

einfach so akzeptieren. Bis an mein Lebensende nicht.“ erklärte ich ihr bei einem<br />

Gespräch. „Schön und gut, ich unterstütze ja deine Meinung, aber was<br />

soll ich denn tun?“ reagierte Camille. „Ne Camille, du kämpfst nicht. 'Was soll<br />

ich denn tun?' heißt: 'Ich habe schon aufgegeben.'. Wenn du kämpfen würdest,<br />

überlegtest du Tag und Nacht, was du machen könntest. Wo steht denn, dass<br />

es für dich keine Hoffnung gibt? Trotzdem sagst du dir selber vor, dass es keine<br />

mehr gibt. Alyssia hat dich spüren lassen, dass es doch Lust, Hoffnung und<br />

Freude geben kann. Daran hättest du vorher auch nie gedacht. Warum soll es<br />

für dich nicht auch wieder eine aufgehende Sonne für Beziehungen zu einem<br />

Mann geben? Was hast du bislang dafür getan? Nichts. Trotzdem weiß du, dass<br />

es nicht möglich sein wird. Mit so <strong>einer</strong> Einstellung kann es ja auch gar nicht<br />

anders werden.“ war Meine Antwort. „Meinst du, es wäre gut, wenn ich mal zu<br />

einem Psychiater ginge?“ fragte sie mich. Ich überlegte, was ich damals gemacht<br />

hatte, als ich die 'Ralfentzugsdepressionen' gehabt hatte. „Warte mal<br />

Camille, ich habe eine Idee, mir ist gerade etwas eingefallen. Ich weiß aber<br />

noch nicht, ob das sicher ist. Es kann einige Tage dauern. Dann sage ich dir<br />

Bescheid. Vielleicht könnte das ein erster Schritt werden.“<br />

Mir war eingefallen, dass Prof. Rütten mir gesagt hatte, ich könne ihn jeder<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 75 von 209


Zeit fragen. Ich würde mir einen Termin geben lassen und ihn fragen, ob es<br />

Leute gäbe, die Camilles Problem lösen könnten, und ob er die kenne. Ich hatte<br />

meine kuriose Frage, die ja mit mir gar nichts zu tun hatte, schön verpackt,<br />

und er ging darauf ein. Er kannte auch den Chef der Abteilung für derartige<br />

Angelegenheiten, rief ihn an, schilderte kurz das Problem und ließ sich gleich<br />

einen Termin für Camille für die nächste Woche geben. Ich konnte heute um<br />

14:00 Uhr das Büro verlassen und hatte Camille noch in der Schule mitteilen<br />

lassen, dass ich direkt mit ihr sprechen müsse und vorbeikäme. Als ich ihr die<br />

Story berichtete, und Adresse und Termin gegeben hatte, fragte ich sie: „Na,<br />

was hältst du davon?“ Die wunderschöne <strong>Frau</strong> mit den charaktervollen Gesichtszügen<br />

schaute mich mit großen Augen an und erklärte: „Ich habe mich<br />

immer gefragt, wo ein Mädchen wie Alyssia das her haben kann, ich habe es<br />

immer nur vermutet, aber jetzt weiß ich es. Wenn das funktioniert, was ich<br />

stark annehme, dann habt ihr beide <strong>Ruth</strong>, du und Alyssia mir ein neues Leben<br />

geschenkt. Ich werde euch immer dankbar sein und euch keinen Tag vergessen.“<br />

antwortete Camille. „Camille, das mit dem dankbar sein, kannst du ruhig<br />

mal für einige Tage vergessen, das ist nicht so wichtig, mir kommt es darauf<br />

an, dass du wieder Freude hast und Glück genießen kannst, und dich nicht gebückt<br />

von dem dicken dunklen Klotz, der an d<strong>einer</strong> Seele hängt, durch die Tage<br />

bewegst. Die Trauer, die mich oft aus deinen Augen anschaut, ist zu groß. Sie<br />

wird dich zerfressen, wenn sie nicht getröstet wird. Es freut mich, wenn ich<br />

deine Augen lachen sehen kann.“ Camille war aufgestanden, umarmte und<br />

küsste mich und wir lächelten uns an. Dann hatten wir noch Zeit, ein wenig zu<br />

albern, bevor Alyssia mit ihren Ansprüchen an Camille auftauchte.<br />

Daniel in Hamburg und Ende der Liebe<br />

Jetzt war Daniel auch da und besuchte mit Alyssia die Schule. Er hatte natürlich<br />

einige Probleme beim Verständnis, da er ja erst vor kurzer Zeit angefangen<br />

hatte Deutsch zu lernen, aber er war ja in dem meisten Fächern mit Alyssia zusammen<br />

in der Klasse und da konnte sie ihm immer helfen. Daniel war der<br />

Schwarm aller jungen Damen, so dass die Jungen zum Teil eifersüchtig auf ihn<br />

wurden. Bei allen Partys war er selbstverständlich immer eingeladen und er<br />

fühlte sich trotz gewisser Schulprobleme ausgesprochen wohl.<br />

Eines Nachts kam Alys von <strong>einer</strong> Fète zurück und eilte völlig aufgelöst und aufgeregt<br />

zu mir ans Bett. Daniel war verschwunden. Er habe mit <strong>einer</strong> anderen<br />

<strong>Frau</strong> rumgeknutscht, das passiere schon mal öfter, das störe sie nicht, aber<br />

plötzlich seien die beiden verschwunden gewesen, und nicht wieder aufgetaucht.<br />

Sie habe gewartet, bis die letzten Gäste gegangen wären, aber von Daniel<br />

keine Spur. Ich ging mit zu ihr ins Bett. Sie wechselte immer zwischen<br />

Wut, Verständnislosigkeit und Weinen. Gegen halb sechs schlief sie dann vor<br />

Übermüdung ein.<br />

Um halb elf am Samstagmorgen riefen die Eltern des Mädchens, bei dem Daniel<br />

gewesen war an. Daniel traue sich gar nicht nach Hause, sie hätten ihm<br />

aber klar machen können, dass es keine andere Möglichkeit gebe, und niemand<br />

anders als er für sein Verhalten einstehen könne. Ihre Tochter sei mittlerweile<br />

auch schon völlig verstört und weine, weil sie sich tiefe Vorwürfe ma-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 76 von 209


che. Sie brächten Daniel gleich zu uns.<br />

Daniel weinte, machte sich Vorwürfe und suchte nach Erklärungen für sein Verhalten.<br />

Es täte ihm so leid, er würde am liebsten alles rückgängig machen und<br />

versprach, dass so etwas mit Sicherheit nie wieder passieren würde. Ralf und<br />

ich sprachen den ganzen Tag abwechselnd mit Daniel und Alyssia. Erst am<br />

Sonntag sahen sich die beiden dann noch ohne zu reden beim Mittagessen zum<br />

ersten mal. Anschließend redeten sie gemeinsam bis tief in die Nacht.<br />

Wir versuchten Daniel deutlich zu machen, dass sein Verhalten nicht einfach<br />

durch Entschuldigen aus der Welt zu schaffen sei, und das Versprechen es nie<br />

wieder dazu kommen zu lassen, zwar jetzt sein Wunsch sei, aber mehr eben<br />

auch nicht. Er war immer bereit, sofort zu akzeptieren, obwohl ich der Ansicht<br />

war, dass seine Intention vordergründig die war, alles zu reparieren und er<br />

Vieles nicht richtig verstanden hatte.<br />

Alyssia wollte immer wieder wissen, wie es denn dazu kommen könne, dass<br />

man sich so verhielte. Sich immer wieder versichern, wie sehr man sich liebe,<br />

und dann dann sich mit jemand anders liebend für eine Nacht zu verschwinden.<br />

Sie war sich sicher, dass er so etwas früher nicht gekonnt und getan hätte.<br />

Wie es sich denn zu so <strong>einer</strong> Einstellung entwickeln könne, was es denn sei,<br />

das sich verändert habe. Sie wolle auf Daniel nicht verzichten, aber sie habe<br />

die Vorstellung, das es ab heute ein Traum sei. Daniel sei ein entscheidender<br />

Teil ihres Lebens, ihrer Freude, ihres Glücks gewesen, und er setze das mal so<br />

eben locker aufs Spiel, wenn ihm der Schwanz jucke. Was das denn für eine<br />

Liebe sei, wenn ihm ihr Leben, ihre Freude und ihr Glück so wenig bedeuten<br />

könne.<br />

Er sei anscheinend nicht der Daniel, den sie geliebt habe. Das sei ein Bild in ihrem<br />

Kopf. Der tatsächliche Daniel sei ein anderer, den sie gar nicht mehr kenne<br />

und von dem sie nicht wisse, ob sie ihn wolle.<br />

Wenn ein Kind immer ein Kuscheltier zum Einschlafen brauche, und man ihm<br />

sage es solle doch den neuen Teddy nehmen, weil der viel besser sei, dann bedeute<br />

der ihm nichts, dann sei der etwas Totes und fern wie ein Stein, und<br />

habe mit seinem Einschlafen nichts zu tun, so ähnlich sei das für sie. Ihren alten<br />

Freund gebe es nicht mehr, da könne sie nur noch in Erinnerungen von<br />

träumen, und ob sie den neuen werde lieben können, wisse sie nicht, dafür<br />

verstehe sie ihn zu wenig.<br />

Wie es überhaupt werden würde, wisse sie nicht, aber einfach so wie früher<br />

werde es mit Sicherheit nicht mehr sein können, und ob sie das dann wolle,<br />

könne sie jetzt überhaupt nicht sagen. Und das blieb auch ihre Position. Sie<br />

ließ sich auf keine Freundlichkeiten und Annäherungsversuche von Daniel ein,<br />

und bestand darauf, dass es nur Liebe geben könne, wenn sie sich auf <strong>einer</strong><br />

anderen Basis zwischen ihnen neu entwickeln würde. Für mich hatte es den<br />

Anschein, dass es dazu wohl eher nicht kommen würde, dazu schien mir Daniel<br />

zu wenig verstanden zu haben, worum es ging. Auch wenn er öfter weinend zu<br />

mir kam, und sich beklagte, dass er gar nicht wisse, was er tun solle und<br />

meinte, Alyssia wolle ihn sowieso nicht mehr, und ich ihm immer wieder zu erklären<br />

versuchte, worum es ging. Daniel schien nach gar keinen neuen Ansatzpunkten<br />

zu suchen, und war immer enttäuscht, wenn seine alten Nettigkeiten<br />

bei Alyssia wirkungslos blieben.<br />

Alyssia ließ sich in den ersten drei Tagen der neuen Woche krank melden,<br />

wechselte zwischen Arbeit in der Bibliothek, Gesprächen mit mir über Männer<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 77 von 209


und die Liebe, und wehmütigen Berichten von schönen Erlebnissen mit Daniel,<br />

wobei ihr sehr häufig die Tränen kamen. Das sei jetzt für sie Geschichte, eine<br />

wunderschöne Erinnerung an Erlebnisse, die ihr sehr viel gegeben hätten und<br />

die sie niemals vergessen werde, aber sie sei der Ansicht das man viel Schweres<br />

ertragen könne, man dürfe nur nicht vergessen, dass man wisse, dass es<br />

wieder anders werden würde. Mir kam es vor, als ob diese junge <strong>Frau</strong> es schaffe,<br />

in fast drei Tagen ihr emotionales Chaos wieder in Ordnung zu bringen. Ich<br />

konnte Sie nur bewundern. Sie konnte nach wenigen Tagen wieder freundlich<br />

Daniel bei Schulproblemen helfen, woraus dieser natürlich sofort falsche<br />

Schlüsse zog, die sie aber klar und deutlich zurück wies. Die Mitschülerin, mit<br />

der Daniel geschlafen hatte, wollte immer wieder Alyssia erklären, wie es dazu<br />

gekommen sei, und sich bei ihr entschuldigen, aber Alyssia machte ihr gar keine<br />

Vorwürfe, sondern erklärte ihr, dass dies ausschließlich ein Problem zwischen<br />

ihr und Daniel sei. Die Beziehung zwischen Daniel und Alyssia schien<br />

zwar immer freundlicher zu werden, sie konnten auch miteinander scherzen,<br />

aber mehr auch nicht. Er blieb ihr guter Freund, aber keinesfalls ihr Geliebter.<br />

Als Daniel s<strong>einer</strong> Mutter darüber berichtete, wollte sie mich sprechen. Ich erklärte<br />

ihr die näheren Details, und sie fing an zu weinen. Da merke man eben,<br />

dass er ein Mann sei, eine <strong>Frau</strong> würde das niemals tun, für ein so billiges Abenteuer<br />

alles aufs Spiel setzen. Ich musste ihr versichern, dass das unsere<br />

Freundschaft aber keinesfalls berühren oder belasten dürfe. Sie habe mich unabhängig<br />

von Daniel ins Herz geschlossen und wünsche sich auch, dass das so<br />

bliebe.<br />

Als das halbe Jahr vorüber war, holten Ledoux Daniel, entgegen der Planung<br />

zurück zu fliegen, ab, und blieben für zwei Tage. Jetzt hatte Daniel, der Angst<br />

vor einem Ende der Beziehung zwischen ihm und Alyssia gehabt hatte, sie selber<br />

verursacht. Er hätte nichts lieber gehabt, als wieder mit Alyssia zusammen<br />

zu sein, aber das zu initiieren war er nicht in der Lage. Auch Alyssia versicherten<br />

Ledoux, dass sie für sie mehr als Daniels Freundin sei, und dass sie auch<br />

weiterhin nicht nur ein gern gesehener Gast sei, sondern dass sie sich ihre Besuche<br />

so oft wie möglich wünschten. Daniel und Alyssia skypten auch weiterhin<br />

öfter mit einander, aber es war ein netter Informationsaustausch unter Freunden,<br />

und nicht das Feuer, dass sie sonst nicht einschlafen ließ, ohne hinreichend<br />

lange Kontakt gehabt zu haben.<br />

Ralfs Institut<br />

Ralf hatte mittlerweile die Planungen für sein Institut für Entwicklungs- und Erziehungsfragen,<br />

Prof. Dr. Ralf Lahrmann, konkretisiert. Er hatte schon MitarbeiterInnen<br />

für verschiedene Bereiche gefunden und mit ihnen bei uns häufig<br />

die Struktur und Organisation beraten und diskutiert. Sie wollten nicht nur Einzelberatung<br />

sondern auch Seminare zu bestimmten Themen anbieten, und<br />

hatten sogar einen Kinder- und Jugendtherapeuten mit Kassenzulassung in ihren<br />

Reihen. Den Teil eines Gebäudes hatte er schon angemietet, es wurde gerade<br />

renoviert. Jetzt mussten sie sich nur noch um Bürokräfte und sonstiges<br />

Hilfspersonal und vor allem das Marketing kümmern. Ich konnte Ralf davon<br />

überzeugen, dass es unerlässlich sei, es von Profis machen zu lassen. Auch<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 78 von 209


wenn ihm die Ausgaben jetzt dafür zu hoch erschienen, es würde sich hundertfach<br />

bezahlt machen. Das Institut lief fast vom ersten Tag an recht gut, aber<br />

Ralf hatte jetzt sehr viel Arbeit. Er kam oft erst spät abends erschöpft zurück,<br />

weil er noch irgendwelche Vorträge gehalten hatte, oder zu Diskussionsveranstaltungen<br />

eingeladen worden war. Das Institut lief auch finanziell recht gut,<br />

und die Einnahmen stellten seine Einkünfte als ordentlicher Professor weit in<br />

den Schatten, nur in die Dimensionen unserer Sozietät konnten sie natürlich<br />

bei weitem nicht gelangen, da es sich dabei finanziell um ganz andere Größenordnungen<br />

handelte.<br />

Meine Freundin Alyssia<br />

Die meisten Abende verbrachte ich mit Alyssia. Sie schien auch meinen Kontakt<br />

häufiger zu suchen. Unser Verhältnis zueinander hatte sich langsam verändert.<br />

Sie kam mir viel reifer und erwachsener vor. Aus m<strong>einer</strong> jungen Tochter<br />

schien für mich eine junge Freundin geworden zu sein. Natürlich waren Beziehungen<br />

ein häufiges Thema, aber bei weitem nicht das wichtigste. Wir waren<br />

der übereinstimmenden Auffassung, dass die meisten Probleme in Beziehungen<br />

dadurch verursacht würden, dass Männer keine Ahnung hätten, weil<br />

sie sich von klein auf zu wenig damit beschäftigten. Wir fanden es unverständlich,<br />

dass es kein Schulfach sei, obwohl es doch so tiefgreifende Bedeutung für<br />

das spätere Leben habe. Alyssia meinte, sie könne auch ohne Freund ganz gut<br />

leben. Sie würde sich das zwar wünschen, aber eine billige Ersatzlösung wolle<br />

sie nicht, da habe sie ja besser mit Daniel zusammen bleiben können. Dass es<br />

dazu noch einmal käme, glaube sie eher nicht. Er wolle und wolle das nicht<br />

verstehen und finge auch jetzt immer noch wieder mit Erinnerungen an schöne<br />

vergangene Erlebnisse an. „Aber was soll das? Er scheint nicht zu begreifen,<br />

dass das nichts damit zu tun hat, dass er mir versichert, wie sehr er mich liebt,<br />

und gleichzeitig mit <strong>einer</strong> anderen ins Bett steigt, auch wenn er's mir hundert<br />

mal erzählt. Und wodurch und wie sich da was bei ihm ändern könnte, dazu<br />

habe ich außer seinen wertlosen hochheiligen Versprechungen noch nichts von<br />

ihm gehört.“ erklärte Alys mir ihre Situation. Wir überlegten, ob wir uns nicht<br />

mal öfter schöne Abende unter <strong>Frau</strong>en machen sollten und wer daran teil nehmen<br />

könnte. Camille sowieso, ich schlug Anja vor, die sich bestimmt darüber<br />

freuen würde, wobei Alyssia Bedenken hatte, dass wir dann über die Arbeit reden<br />

würden, weil sie Anja zu wenig kannte. Britta mochte sie zwar sehr gut leiden,<br />

fand sie aber für ein verschworenes <strong>Frau</strong>enkränzchen eher nicht so passend.<br />

Also wir vier: Camille, Anja, Alyssia und <strong>Ruth</strong>. Zuerst würden wir mal ein<br />

gemeinsames Essen planen und dann sehen, was sich daraus entwickeln ließe.<br />

Unsere Gespräche zwischen Alys und mir fanden fast ausschließlich in der Bibliothek<br />

satt, sie vermittelte eine vertraute und warme Atmosphäre, die ich<br />

auch sehr zu schätzen gelernt hatte. Wenn Ralf kam, wusste er immer gleich,<br />

wo er uns finden konnte, und nicht selten wurde es dann noch ein langer<br />

Abend.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 79 von 209


<strong>Ruth</strong> ist unzufrieden<br />

Es kam mir vor, das mein Leben in den letzten Jahren bunter geworden war. Es<br />

hatte sich so vieles ereignet, das mich ergriffen und bewegt hatte. Vor allem<br />

gehörte dazu auch, was Alyssia für mich und uns verändert hatte, so dass ich<br />

mir eine Situation, wie damals, bei Ralfs Professur in Magdeburg gar nicht<br />

mehr vorstellen konnte. Ich freute mich zwar, wenn Ralf zu Hause war, aber<br />

diese Abhängigkeit war ein für alle mal Geschichte. Ich fühlte mich viel selbständiger<br />

und sicherer in der Gestaltung meines Lebens. Ich lebte nicht mehr<br />

nur von der Zuneigung und Liebe durch Ralf. Ich war mir auch sicher, ihn zu<br />

lieben und ich schlief auch gern mit ihm und es machte mir Spaß, aber die alte<br />

Gier und Unersättlichkeit gab es nicht mehr. Ich hatte Lust daran gefunden<br />

meine Wildheit zu entdecken und mich auszutoben. Sie war nicht mehr da, wo<br />

war sie geblieben, warum war sie verschwunden. Es hatte mich damals ekstatisch<br />

und high gemacht. Das Gefühl gab es nicht mehr. Es war alles nett, angenehm<br />

und gemütlich geworden, das reichte mir. Ich erinnerte mich gern an die<br />

kurzen kitzeligen Situationen zu Beginn unseres Verliebtseins, die mich den<br />

ganzen Nachmittag überlegen ließen, was ich am nächsten Tag machen könnte.<br />

Es war nichts mehr spannend und kitzelig. Es schien mir auch alles nicht zu<br />

fehlen. Ich war glücklich und zufrieden. Wurde ich alt, oder hatte ich mich bei<br />

meinen Aktivitäten daran gewöhnt, das es auch ohne ganz gut geht, oder hatte<br />

sich die Liebe zwischen mir und Ralf verändert? Derartige Gedanken beschäftigten<br />

mich immer öfter und es kam mir vor, als ob ich im Verlaufe der Zeit<br />

einen Teil m<strong>einer</strong> Lebenslust eingebüßt und es gar nicht bemerkt hätte. Ich sah<br />

es so, dass sich alles wieder in Richtung auf ein geordnetes zufriedenes Leben<br />

zu bewegte, zwar auf <strong>einer</strong> ganz anderen Ebene und wärmer und herzlicher,<br />

aber das wollte ich trotzdem nicht. Ich hatte mehr gewollt. Ich hatte niemand<br />

anders und nur Ralf gewollt, weil er mich hatte erleben lassen, was es<br />

bedeuten kann, eine <strong>Frau</strong> glücklich zu machen. Dachte ich heute noch jemals<br />

daran? Es machte uns heute noch Spaß, miteinander zu ficken, aber waren wir<br />

sicher, dass es nicht auch irgendwann zum standardisierten Ritual werden würde.<br />

Ralf war mir aufgefallen, weil er witzig, natürlich und sensibel zu sein schien,<br />

nahm ich das heute überhaupt noch wahr. Natürlich mag ich ihn, habe Vertrauen<br />

zu ihm und fühle mich wohl in s<strong>einer</strong> Nähe, aber entzündet das in mir<br />

eine Flamme? Was habe ich damals Torsten vorgeschwärmt, welch eine neue<br />

Lebensvorstellung er in mir bewirkt habe, natürlich hat sich Vieles verändert,<br />

aber ist uns davon noch irgendetwas bewusst?<br />

Ich wollte das so nicht weiter laufen lassen. Ich hielt unser Leben für eine trügerische<br />

Idylle, die wir eifrig zu konservieren suchten. Glück ist kein Zustand<br />

den man einfrieren kann, man muss sich jeden Tag damit auseinandersetzen,<br />

endgültig erreicht wird er nie. Es ist ein Prozess, und in diesem Prozess waren<br />

wir m<strong>einer</strong> Ansicht nach aufs falsche Gleis geraten. Ich wollte mein Leben<br />

mehr spüren, als nur ruhig von ihm gestreichelt zu werden. Ich wollte nicht nur<br />

mich mit <strong>Frau</strong>en nett unterhalten können, ich wollte auch wieder Begehren und<br />

Verlangen nach einem Mann in mir spüren können. Ich wollte intensiver Leben,<br />

nur unser harmonischer Alltag schien zum Einschlafen hin zu tendieren. Ich<br />

musste etwas unternehmen, wenn es anders werden sollte.<br />

„Herr Professor,“ sprach ich Ralf abends im Bett an, „deine <strong>Ruth</strong> ist unzufrie-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 80 von 209


den.“, und ich vergegenwärtigte ihm die aufregende Situation, wie wir uns damals<br />

kennen und lieben gelernt hatten und wie rastlos gierig wir auf einander<br />

gewesen waren, „all so etwas gibt es heute nicht mehr. Heute arbeiten wir fleißig,<br />

machen auch schöne und nette Sachen, aber unsere Beziehung wird immer<br />

langweiliger. Das will ich nicht. Ich will wieder leben mit dir, will dich mit<br />

Spannung erwarten, will mich auf dich freuen, will scharf auf dich sein. So reißt<br />

mich bald nichts mehr vom Hocker. Einfach dich nett finden, ist mir zu wenig.“<br />

Ralf meinte auch, dass wir uns zu wenig darum gekümmert hätten. Wir seien<br />

happy gewesen, zusammen sein zu können, und hätten uns über all die Jahre<br />

keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Wir sollten doch mal am Wochenende<br />

länger darüber reden, und überlegen, was wir machen könnten. Als wir<br />

heute Nacht miteinander schliefen, hatte ich das Gefühl, dass es mich so intensiv<br />

bewegte und so glücklich machte, wie seit langem nicht mehr.<br />

Am Samstagnachmittag setzten wir uns in der Bibliothek zusammen und begannen<br />

uns erst wieder lustige Erinnerungen von damals zu erzählen. „Weißt<br />

du noch als …“ fing fast jeder Satz an, so dass wir uns bald in die damalige Situation<br />

zurück versetzt fühlten. Wir begannen, uns danach zurück zu sehnen.<br />

Alyssia kam rein, und ich erklärte ihr, dass wir gern unter uns allein reden würden.<br />

Beim Rausgehen lächelte sie schelmisch und fragte: „Beziehungsprobleme?“.<br />

Ralf und ich waren aber ziemlich ratlos, wie wir denn unser Situation<br />

ändern könnten. Mir fiel ein, dass ich mir nach dem Fortbildungswochenende<br />

gewünscht hätte, mit ihm allein Urlaub zu machen. Ich hätte es aber wieder<br />

vergessen, und wir hätten es nie gemacht. Ich könne mir das aber heute noch<br />

genauso schön vorstellen, und erläuterte ihm meine Vorstellung noch näher.<br />

Das sollte als erstes auf jeden Fall so gemacht werden. Dabei fiel uns auf, dass<br />

wir uns eigentlich sonst nie Gedanken gemacht hätten, was uns zusammen mit<br />

dem anderen Freude machen würde. Wir hatten einfach immer so die Tage abgearbeitet<br />

und versucht das Beste daraus zu machen. Wenn man sich lieben<br />

würde, sei es doch eigentlich das Nächstliegendste, dass man sich frage, wozu<br />

man mit der/dem Liebsten Lust habe. Das wollten wir in Zukunft keinesfalls<br />

weiterhin versäumen. Daraus ergäben sich dann auch bestimmt neue Aspekte.<br />

Auf jeden Fall wollten wir auch häufiger miteinander über unsere Beziehung reden.<br />

Die alten Zustände konnten und wollten wir gar nicht zurück rufen, aber<br />

ich war zuversichtlich, dass sich auf <strong>einer</strong> neuen Ebene Spannendes und vielleicht<br />

ja auch ein wenig Wildes entwickeln würde. Ich freute mich und meinte,<br />

wir müssten es heute Abend ein wenig feiern. Ralf machte unsere kostbarste<br />

Flasche Wein auf und wir erzählten den Kindern Episoden, aus unserer Liebesgeschichte.<br />

Sie lachten sich manchmal halb tot, besonders als Alyssia erfuhr,<br />

dass Ralf beim Elternsprechtag gefragt habe, was wir denn machen sollten,<br />

und wir uns die ganze Zeit nur geküsst hätten. All die schönen, lustigen und<br />

spannenden Sachen gäbe es heute nicht mehr. Das mache uns nicht nur traurig,<br />

sondern wir fänden das auch nicht gut für unsere Liebe. Heute Nachmittag<br />

hätten wir überlegt, was wir anders machen und verbessern könnten, und uns<br />

sei auch schon einiges eingefallen. Weil wir uns darüber sehr freuten, würden<br />

wir heute Abend ein wenig feiern. Alyssia stand auf, umarmte mich und hatte<br />

vor Rührung Tränen in den Augen. Später wollte sie von mir dann natürlich alles<br />

noch viel detaillierter wissen. Ihr Hauptanliegen war es wohl zu verstehen,<br />

wie Liebe zwischen Mann und <strong>Frau</strong> langsam abnehmen könne. Elias wollte nur<br />

genauer wissen, was wir denn vor hätten.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 81 von 209


Urlaub in den Cevennen<br />

Unser Urlaub sollte in die Cevennen gehen. Abschließend wollten wir uns mit<br />

Alyssia in Montpellier treffen. Sie hatte nämlich währen ihrer Zeit am Lycée in<br />

Valence beschlossen, dass sie dort studieren werde, und wollte jetzt Stadt und<br />

Uni mit <strong>einer</strong> ehemaligen Mitschülerin, die dort aufgewachsen war erforschen.<br />

Auf dem Rückweg wollten wir Ledoux besuchen. Der Urlaub war so eine umwerfend<br />

frische Erfahrung für mich, einmal nicht mehr <strong>Frau</strong> Anwältin, verständige<br />

und sorgende Hausfrau und Mutter sein zu müssen, sondern völlig von allem<br />

frei mich zwischen den wilden Bergen zu bewegen, und in kleinen Landgasthöfen<br />

und Hütten zu übernachten, dass ich mir vorkam, wie ein junges<br />

Mädchen, und mich auch wohl öfter so verhielt. Trotz anstrengender Touren,<br />

kam es mir vor, dass ich schon seit langem nicht mehr so viel gelacht hatte<br />

und diese 14 Tage zu den lebhaftesten und glücklichsten unseres Zusammenseins<br />

gehörten. Dass wir so etwas Ähnliches im nächsten Jahr wiederholen<br />

würden, stand außer Zweifel fest.<br />

Montpellier hatte ich nur kurz einmal für eine halbe Stunde gesehen, Alyssia<br />

und Julienne, die auch schon bei uns in Hamburg gewesen war und ebenfalls<br />

hier studieren wollte, zeigten uns einiges und Julienne stellte uns noch kurz ihrer<br />

Tante vor, bei denen die beiden gewohnt hatten. Bei Ledoux wieder die übliche<br />

Bitte doch länger zubleiben, aber wir hatten unsere Tickets gebucht. Ich<br />

fühlte mich immer noch frisch und aufgeheitert, so dass Lucille meinte, die Cevennen<br />

müssten mir aber sehr gut getan haben, ich wirke wie in voller Blüte<br />

stehend. Sie war auch nicht der Ansicht, dass Daniel und Alyssia wieder zusammen<br />

kommen würden. Daniel träume zwar noch davon, aber er sehe es<br />

zunehmend realistischer. Alyssia könne ja sehr stark und cool sein, was für Daniel<br />

zwar hart sei, aber sie als <strong>Frau</strong> finde Alyssias Verhalten bewundernswert.<br />

Weiberrat<br />

Unser Weiberrat war zustande gekommen und wir hatten uns schon mehrmals<br />

getroffen. Anja hatte noch nie über die Arbeit gesprochen, sonder von einem<br />

Mann erzählt, der sie interessieren würde, obwohl sie das ja eigentlich gar<br />

nicht mehr wolle. Die Entwicklung sei aber ganz am Anfang, und sie wisse<br />

überhaupt nicht, wie es sich entwickeln würde. Alyssia konnte in Beziehungsfragen<br />

immer gute Ratschläge erteilen, dass wir oft viel zu lachen hatten. Camille,<br />

die zunächst nur von ihrer Therapie erzählen konnte, und dass sie lange<br />

dauern würde, berichtete davon, dass ein Arzt, der mit ihrer Therapie nichts zu<br />

tun habe, sie auf dem Flur angesprochen und sich daraus ein Gespräch entwickelt<br />

habe, an dessen Ende er sie zum Essen eingeladen habe. Beim Essen<br />

habe sie ihm ihre Situation erklärt, und verdeutlicht, dass aus einem engeren<br />

Kontakt wohl nichts werden könne. Er habe das überhaupt nicht so gesehen<br />

und ihr geraten, doch keine voreiligen Entscheidungen zu treffen. Camille empfand<br />

ihn als sehr nett, witzig, charmant und sehr einfühlsam, aber sie könne<br />

sich gar nicht vorstellen, dass mehr daraus würde. „Camille, wenn ich dich re-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 82 von 209


den höre, kriege ich Wut.“ fiel ihr Alyssia, die natürlich schon längst über alles<br />

informiert war, ins Wort, „Rede dir doch nicht selber vorher alles kaputt. Du<br />

musst dich doch nicht Hals über Kopf hinein stürzen. Aber wie du erzählt hast,<br />

ist das doch 'ne optimale Chance. Er ist etwa in deinem Alter, geschieden, weil<br />

seine <strong>Frau</strong> ihn immer betrogen hat, hat keine Kinder, und du magst ihn gut leiden.<br />

Was willst du denn mehr. Er weiß, was du für Probleme hast, und erklärt,<br />

dass er da keinen Hinderungsgrund drin sieht, dann lass es doch erst mal ruhig<br />

laufen. Für deine Ablehnung und Angst gibt es keinen realen Grund. Die einzige<br />

Chance, das zu zerstören ist, dass du dir den Unsinn immer wieder selbst<br />

vorsagst.“ Alyssias strikte Belehrungen wirkten fast ein wenig peinlich, aber sie<br />

trafen den Kern. „Camille, du weißt ja, wie das mit den Anweisungen m<strong>einer</strong><br />

Tochter ist.“ versuchte ich die Situation ein wenig scherzhaft zu entspannen,<br />

„Aber im Ernst, im Kern kann ich das auch nur unterstützen.“ Und Anja meinte<br />

auch, sie müsse sich ja nicht gleich verlieben und von rosigen Zeiten träumen,<br />

aber erst mal ruhig laufen lassen und abwarten, wie sich das entwickele, könne<br />

doch keinem schaden. Beziehungsfragen waren natürlich immer ein heißes<br />

Thema bei uns, aber bei weitem nicht nur. Weil Anja wollte, dass wir uns auch<br />

mal in ihrer kaum genutzten Wohnung träfen, wechselten wir die Orte, und<br />

trafen uns auch bei Camille.<br />

Alys Abitur und Studienbeginn<br />

Alys paukte jetzt ohne Ende fürs Abiturzeugnis. Einen Bericht über das Französische<br />

Lycée litteraire und ihren Einsatz hatte sie als besondere Lernleistung<br />

anerkannt bekommen. Zu Mathematik hatte sie zwar keinen besonderen Draht,<br />

aber nie die geringsten Probleme gehabt. Sie hatte sich aber vorsichtshalber<br />

beim Mathe-Lehrer noch mal erkundigt, ob sie irgend etwas tun könne, um die<br />

Bewertung für ein 1.0 keinesfalls zu gefährden. In allen anderen Fächern sah<br />

sie keine Probleme. Sie wollte unbedingt ein Abiturzeugnis haben, mit dem ihr<br />

alle Türen offen standen. Und tatsächlich erreichte sie nicht nur das beste<br />

Abiturzeugnis ihrer Schule, sondern von ganz Hamburg. In allen Zeitungen war<br />

sie mit dem Schulsenator abgebildet und sie war die erste Schülerin ihrer<br />

Schule, die das erreicht hatte. Ein bisschen stolz auf mich selber machte es<br />

mich schon, dass die kleine Regierungsrätin <strong>Ruth</strong> Sender die am besten<br />

beurteilte Tochter von ganz Hamburg hatte,obwohl es ausschließlich allein<br />

Alyssia selber zu verdanken war, ich hatte zwar ihre Leistungen immer anerkannt,<br />

sie aber nie zu guten schulischen Leistungen gedrängt oder angespornt,<br />

es war nie Thema gewesen. Alle Verwandten und Bekannten hatten es<br />

schon immer gewusst, dass aus der mal etwas werden würde und meine Mutter<br />

blieb zum ersten mal für eine ganze Woche bei uns. Ich wurde im Büro immer<br />

wieder auf Alyssia angesprochen und Vater Torsten schenkte ihr eine<br />

Weltreise für 2 Personen. Die wurde aufs nächste Jahr verschoben, da sie jetzt<br />

alles für Montpellier zu klären hatte. Sie wollte dann eine sechswöchige Rundreise<br />

mit Camille machen, nachdem sie mich gefragt hatte, und ich ihr einen<br />

anderen gemeinsamen Urlaub von uns beiden zugesagt hatte. Juliennes Eltern<br />

und ich hatten den beiden ein kleines Häuschen im Dörfchen Combaillaux in<br />

der Nähe von Montpellier besorgt und Ralf hat ihnen mit einem Kleinwagen ge-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 83 von 209


holfen, damit sie nicht nur auf die unzureichenden öffentlichen Verkehrsmittel<br />

angewiesen waren. Die Bedingungen hatte Alyssia schon seit ihrer Zeit am Lycée<br />

zu klären versucht, so dass jetzt alles für ihre Einschreibung an der Université<br />

Montpellier III (Université Paul-Valéry) geregelt war.<br />

An den Tag ihrer Abreise mochte ich nicht denken, denn ich wusste, jetzt war<br />

es für immer. Sie würde in den Semesterferien kommen, wir würden uns gegenseitig<br />

besuchen, aber selbstverständlich zusammen leben, würden wir nie<br />

wieder. Meine Sonne, die 19 Jahre für mich geschienen hatte, die das Zentrum<br />

meines Herzens und meines Lebens gewesen war, würde sich von mir trennen.<br />

Es war alles gut, es war ja alles wunderbar, nur ertragen konnte ich es nicht.<br />

Seit ihrer Geburt wusste ich, dass dieser Tag einst kommen würde, nur es hat<br />

bis heute nie eine Rolle gespielt. Wir haben jeden Tag gelebt, als ob er <strong>einer</strong><br />

aus der unendlichen Ewigkeit unserer gemeinsamen Tage wäre. Es wird eine<br />

schwere Umstellung für mich bedeuten, sie nie mehr intensiv arbeitend in der<br />

Bibliothek zu treffen, und sie nie mehr ihre kleinen spöttisch Frechheiten nach<br />

dem Gute-Nacht-Kuss rufen zu hören. Nie mehr mit ihr Gespräche unter <strong>Frau</strong>en<br />

führen und nie mehr ihrer Lust, mit mir zu balgen entsprechen zu können.<br />

Ich kann durch das Haus laufen, Alyssia werde ich nie mehr treffen. Ich kann<br />

sie nicht in die Arme schließen, um ihr meine Zuneigung zu zeigen, und wir<br />

werden uns nicht trösten können, wenn wir traurig sind. Das alles wird es nicht<br />

mehr geben. Wie ich das wohl verarbeiten sollte. Ich wollte mit Alyssia vorher<br />

noch mal darüber reden, nicht nur sich einfach heulend bei der Abfahrt verabschieden.<br />

Dafür heulten wir abwechselnd oder gemeinsam in der Bibliothek als<br />

wir miteinander sprachen. Wir beschlossen, dass es wichtig sei, dass zwei starke<br />

<strong>Frau</strong>en immer eng miteinander verbündet bleiben müssten. Schon als ich<br />

ihr den Namen gegeben habe, hätte ich ihr ein Geschenk gemacht, das zeige,<br />

was ich für sie tun wolle und das habe ich auch immer weiter praktiziert. Ich<br />

habe ihr nicht nur meine Liebe gegeben, sondern auch ihr Selbstvertrauen und<br />

ihre Lust das Leben und die Welt zu entdecken, habe sie mir zu verdanken Sie<br />

empfinde sich in ihrer Person überwiegend als Teil von mir, und sei sehr stolz<br />

darauf. Sie wisse, dass wir sehr viel Kontakt haben würden, und wenn es mal<br />

am Anfang zu traurig werden sollte, könne sie ja auch mal an einem Wochenende<br />

rüber kommen, oder ich könne die Combaillaulenque besuchen kommen.<br />

Keine schlechte Idee eigentlich, dachte ich, ich könnte ja schon am Donnerstagabend<br />

fliegen und Sonntags zurückkommen. So hatten wir eigentlich zum<br />

Schluss sehr gute Laune, und bevor sie in ihren kleinen Citroën stieg haben wir<br />

uns zwar lange gedrückt und geküsst und lächelnd angeschaut, aber zu mehr<br />

als leicht wässrigen Augen ist es bei mir nicht gekommen.<br />

In Combaillaux und Montpellier war alles wunderbar. Die Gegend, der Wein, der<br />

Käse, das Dorf, die Stadt und vor allem die Uni. Alyssia meinte, sie werde<br />

wahrscheinlich immer dort wohnen bleiben. Möglicherweise seien sie die einzigen<br />

Studentinnen im Dorf und es habe auch mit den ausufernden Wohnquartieren<br />

Montpelliers nichts zu tun, weil es mit öffentlichen Verkehrsmitteln im<br />

Grund kaum zu erreichen sei. Julienne bearbeite schon ihre Tante, die schon<br />

ihre Eltern zu dem Hauskauf überredet hatte, ob sie ihr nicht auch bei der Anschaffung<br />

eines kleinen Mobils behilflich sein könne, damit wir nicht immer total<br />

voneinander abhängig seien. Ich solle sie dringend sobald wie möglich besuchen<br />

kommen, und mich schon mal nach Flügen umsehen, in gut vier Stunden<br />

sei ich ja bei ihnen, und wenn Ralf und ich wieder zu Zweit Urlaub machen<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 84 von 209


wollten, müssten wir unbedingt ins Herault fahren, da gebe es bestimmt noch<br />

urigere Stellen als in den Cevennen.<br />

Alyssias Abwesenheit<br />

Ralf wollte mir helfen, das ich mit Alyssias Auszug klar käme, aber für ihn<br />

selbst sei es auch nicht einfach, damit klar zu kommen. Sie sei für ihn auch<br />

immer Teil unserer Liebe und Beziehung gewesen. Von ihr habe er den ersten<br />

Kuss in diesem Hause bekommen. Mit Wehmut denke er an das süße kleine<br />

Mädchen zurück, durch das wir uns kennengelernt hätten, und er habe miterleben<br />

können, wie sich aus ihr diese prächtige junge <strong>Frau</strong> entwickelt habe. Dass<br />

diese Zeit endgültig abgeschlossen sei, hinterlasse auch ihn ratlos.<br />

Elias meinte, wenn ich traurig sei, dass Alys nicht mehr da sei, solle ich ihn<br />

doch einfach streicheln, das würde bestimmt auch helfen. Eigentlich keine<br />

schlechte Idee, mich mehr um Elias zu kümmern als bisher. In der Pubertät<br />

könnte ihm das sicher nicht schaden, ein vertrauensvolles Verhältnis zu <strong>einer</strong><br />

verständigen <strong>Frau</strong> zu haben. Und Lust hätte ich darauf auch wohl. Ich würde<br />

mal öfter an ihn denken, in öfter einbeziehen, mir öfter etwas für ihn einfallen<br />

lassen. Und vertrauensvolle Gespräche am Abend, würden ihm auch sicher<br />

sehr gefallen. Bislang war das eigentlich Ralfs Domaine gewesen, aber wir würden<br />

uns ja nicht ins Gehege kommen, es wären für Elias ja nur zusätzliche Angebote<br />

und Möglichkeiten, die ihm dann zur Verfügung stünden. Für ihn war<br />

Alyssia ja auch nicht mehr da. Auch wenn die gemeinsamen Aktivitäten in den<br />

letzten Jahren seltener geworden waren, sie war für ihn doch so etwas wie eine<br />

große verständnisvolle Schwester, die ansprechbar war, wenn er aus der Schule<br />

kam, mit der wir gemeinsam am Tisch saßen, und von der er sicher gern vieles<br />

aufgenommen hatte.<br />

Ich selbst fühlte gar nicht mehr so große Ängste, dass mich Alyssias Abwesenheit<br />

zermürben werde. Das Gespräch mit ihr hatte mir sehr gut getan, und<br />

Vertrauen geweckt. Die Möglichkeit, sie übers Wochenende sehen und mich mit<br />

ihr freuen zu können, hatte in mir die Hoffnung aufkeimen lassen, dass ich es<br />

schaffen könnte, ohne stets quälende Trauer, Alyssias Abwesenheit zu akzeptieren,<br />

und eher die positive Seite ihres neuen Lebensabschnitts in den Vordergrund<br />

zu stellen, als immer nur meinen Verlust zu bejammern. Ich ließ mir<br />

von <strong>einer</strong> Reiseagentur die Flugmöglichkeiten meinen Bedürfnissen entsprechend<br />

zusammenstellen. Vor drei Wochen war nichts mehr möglich, von da ab<br />

aber jedes Wochenende. Wir vereinbarten in vier Wochen, da Alyssa in drei<br />

Wochen Freitags einen Termin hatte, den sie nicht streichen konnte, und das<br />

finde sie zu schade für die kurze Zeit. Die Vorstellung, dass wir uns in vier Wochen<br />

treffen würden, stimmte mich froh. Dass ich mal kurz am Wochenende<br />

nach Montpellier flog, wurde bald zur selbstverständlichen Einrichtung. Nicht<br />

weil ich es vor Schmerz über Alyssias Abwesenheit allein zu Hause nicht aushielt,<br />

sondern schon beim zweiten mal war es gleich Alyssia, die meinte, an<br />

diesem Wochenende müsse ich unbedingt kommen, wegen eines bestimmten<br />

Festes, <strong>einer</strong> bestimmten Ausstellung oder <strong>einer</strong> bestimmten Veranstaltung.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 85 von 209


Dass ich aus übergroßer Sehnsucht nach m<strong>einer</strong> Tochter runter flog, dazu kam<br />

es nie. Ich fühlte mich auch schon halb als Wochenend-Combaillaulenque und<br />

viele Leute im Dorf kannten mich schon als Mutter der deutschen Studentin.<br />

Die Wochenenden waren für mich auch immer eine Quelle der Kraft und Stärkung<br />

meines Wohlbefindens. Es tat mir immer sehr gut, zwischendurch für einige<br />

Tage dem großen verantwortungsvollen Leben in Hamburg zu entfliehen,<br />

und mit den beiden jungen <strong>Frau</strong>en in ihrem schnuckeligen Häuschen die einfachen<br />

Lebensverhältnisse zu genießen, in ihrem kleinen Gärtchen zu frühstücken,<br />

mit Alyssia redend in der Sonne draußen zu liegen oder im Dörfchen<br />

kleine Einkäufe zu machen. Für die Idee, dass ich nur ein geduldeter Gast sein<br />

könnte, und die beiden eigentlich ihre Wochenenden lieber allein verbringen<br />

würden, gab es nicht den Anflug eines Hinweises. Im Gegenteil, es kam mir<br />

eher so vor, dass sie meine Besuche als Bereicherung empfanden, und Julienne<br />

mich auch schnell ins Herz geschlossen hatte. Wer mich vom Flughafen<br />

abholte, war schon bald völlig beliebig, und sie liebten es, mir ihre Freundinnen<br />

und Freunde vorzustellen, und gemeinsam mit mir und ihnen essen zu gehen.<br />

Unseren Käse, den früher immer Alyssia im Internet bestellt hatte, brachte ich<br />

jetzt in <strong>einer</strong> kleinen Kühlbox aus Montpellier mit, und fast noch eine größere<br />

Freude als ihn zu genießen war es, ihn in der unendlichen Vielfalt des Angebots<br />

auszuwählen, und sich beim Kauf beraten zu lassen. Dass Alyssia nicht mehr<br />

zu Hause war, wurde von mir nie als Mangel empfunden, sie hatte mir durch<br />

meine häufigen Besuche eher einen neuen Lebensbereich eröffnet, der sich<br />

auch auf mein Verhalten und mein Lebensgefühl zu Hause auswirkte. Ich hatte<br />

nicht nur eine dunklere Hautfarbe, sondern auch ein reicheres Innenleben erhalten.<br />

Es schien mir, dass es mich bereicherte, mich stärker, sicherer und<br />

großzügiger machte, und mich beschwingter durch die Mühen des Alltags geleitete.<br />

Beim dritten Flug hatte ich Camille mitgenommen, weil Alyssia mich gebeten<br />

hatte, im allgemeinen war es mir aber lieber, allein zu reisen und mit<br />

den beiden Mademoiselles das Wochenende allein zu genießen. Zu dem musste<br />

ich schon ein wenig aufs Finanzielle achten, da die häufigen Hin- und Rückflüge<br />

sich ja doch schnell zu einem erheblichen Kostenfaktor summierten.<br />

Leeres Haus<br />

Zu Hause war es allerdings ein wenig still geworden. Das Haus mit den vielen<br />

und großen Räume war für uns drei nicht nur völlig überdimensioniert, es schien<br />

auch durch fehlende Betriebsamkeit an Atmosphäre zu verlieren, und<br />

manchmal zeichnete sich mir ein Bild, in dem ich es als hohles totes Schloss<br />

sah. Ich überlegte öfter, ob wir es nicht verkaufen und etwas Kl<strong>einer</strong>es Angemesseneres<br />

suchen sollten. Aber mit dem Gedanken, es anderen Leuten zu geben,<br />

konnte ich mich auch nicht anfreunden, nicht nur dass Elias dann keinen<br />

Fußballplatz für sich und seine Freunde, zu dem er unseren Park umfunktioniert<br />

hatte, gehabt hätte, in dem Haus steckte ja mein und unser ganzes Leben.<br />

Ich hatte es mir gewünscht, hier war Alyssia geboren und aufgewachsen,<br />

hier war meine große Liebe eingezogen und hatte alle Zeit mit mir verbracht,<br />

alles Bedeutende in meinem Leben hatte sich für mich in diesem Haus abgespielt.<br />

Ein Gebäude kann man vielleicht einfach wechseln, aber dies war weni-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 86 von 209


ger ein Gebäude, es war meine Heimat. Als ich mit Alyssia mal darüber sprach,<br />

erklärte sie, zwar wohl ein wenig scherzhaft: „Wenn ihr das tut, brauchst du<br />

mich nie mehr besuchen zu kommen, und ich komm nie mehr nach Hause!“<br />

und auch Julienne meinte, dass Haus sei doch ein Schatz für uns, den man in<br />

Geld gar nicht bemessen könne. Ob wir denn nicht Räume vermieten könnten,<br />

dann sei es doch nicht mehr so leer, und es gebe auch mehr Leben. Ich hielt es<br />

zwar für eine gute Idee, die man auch im Auge behalten sollte, obwohl das<br />

Haus so dafür gar nicht konstruiert war.<br />

Unser Weiberrat, war natürlich auch zu einem Triumvirat geschrumpft und man<br />

spürte es deutlich, dass Alys Frische und Freude fehlten. Wir berieten zwar<br />

immer noch alles Wichtige und Unwichtige, es machte uns auch Spaß, aber das<br />

Lachen war weniger geworden. Als ich das Problem mit unserem Haus<br />

anschnitt, meinte Camille eher scherzhaft, sie suche eine neue Wohnung. Wir<br />

waren zwar über die positive Entwicklung ihrer Beziehung informiert, aber dass<br />

sie jetzt schon mit ihrem Christoph zusammenziehen wollte, überraschte uns<br />

doch nicht wenig. Sie empfänden ihre Wohnung zwar als schön, aber für ständiges<br />

Zusammenleben, doch viel zu klein.<br />

Camille und Christoph ziehen bei uns ein<br />

Camille und Christoph bei uns im Haus, das wäre doch was. Ich konnte mir gar<br />

nicht so schnell vorstellen, wie das praktisch realisierbar sein könnte, und sagte<br />

nichts weiter dazu. Als ich zu Hause ankam, musste ich direkt Ralf alles erklären,<br />

und wir gingen noch sofort durchs Haus, um alle Möglichkeiten zu eruieren.<br />

Ein separater Eingang mit eigener Treppe, schien bei dem großen Entree<br />

und der breiten doppelten Treppe nicht realisierbar. Wir wollten auch keinesfalls<br />

dafür das Haus insgesamt verschandeln, und die gesamte erste Etage für<br />

Camille wäre uns auch schwer gefallen. Für unser Schlafzimmer gab es dann<br />

keine andere Möglichkeit als ein Gästezimmer im Dachgeschoss. Unabhängig<br />

davon wäre es uns äußerst schwer gefallen es aufzugeben, wir mochten es<br />

sehr und es bedeutete uns viel. Elias konnte nach oben ziehen. Sein Zimmer<br />

war eigentlich als kleines Kinderzimmer neben dem Elternschlafzimmer gedacht,<br />

und die Funktion hatte es ja seit Alyssias Geburt auch immer gehabt,<br />

aber Elias hatte bestimmt nichts dagegen, in ein viel größeres Gästezimmer im<br />

Dachgeschoss zu wechseln. Also hätten für Camille und Christoph sechs unterschiedlich<br />

große Räume plus Bad in der ersten Etage zu Verfügung gestanden.<br />

Die beiden Esszimmer im Parterre konnten wir ja aufteilen. Sie standen sowieso<br />

meistens leer. Eine Küche konnte man ja leicht in einem der Räume in der<br />

ersten Etage einbauen, nur ging ihnen dadurch ein Raum verloren. Ich hätte es<br />

sowieso schöner gefunden, wenn wir unsere Küche im Parterre gemeinsam genutzt<br />

hätten, denn dass wir dabei mehr Freude als Differenzen haben würden,<br />

war garantiert. Außerdem konnten sie ja dann auch noch von den Diensten unserer<br />

Haushaltsgehilfin profitieren, und fürs Esszimmer brauchte man nicht alles<br />

über die Treppe transportieren. Ich würde Camille unsere Überlegungen<br />

morgen vortragen, und hören was sie davon hielte.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 87 von 209


Ich überlegte, ihr das nicht einfach nur am Telefon mitzuteilen. Also rief ich am<br />

nächsten Morgen in der Schule an, und ließ ihr ausrichten, sie möge um 16:00<br />

Uhr dringend zu <strong>Frau</strong> Stein kommen. Camille erschien mit ängstlichem Blick<br />

und wollte wissen, was passiert sei. Wir scherzten ein wenig, und dann stellte<br />

ich ihr vor was wir überlegt hatten. Sie hörte mit großen Augen zu, als ich ihr<br />

beim Rundgang alles erklärte. Zum Schluss umarmte sie mich und bekam<br />

wässrige Augen. „Wunderbar, <strong>Ruth</strong>, wunderbar! Dadurch würde für mich ein<br />

Traum in Erfüllung gehen, den ich bisher noch nie geträumt habe. In deinem<br />

Haus mit dir, und selbstverständlich kochen wir zusammen in der Küche. Ich<br />

kann es nicht fassen.“ freute sie sich, und sie sei sicher, das Christoph nicht<br />

nur einverstanden sein, sondern es auch toll finden werde. Anschließend unterhielten<br />

wir uns noch ein wenig, und sprachen auch über Camilles Beziehung.<br />

Sie sei nicht nur zufrieden, sondern überaus glücklich. Sie hätte sich dieses Leben<br />

nicht vorstellen können, da sie es gar nicht kannte. Dass ihr so viel Glück<br />

hätte zu teil werden können, habe sie nur mir zu verdanken, sie selbst habe<br />

sich längst aufgegeben gehabt. „Nein Camille, das hast du nicht mir, sondern<br />

nur dir selbst zu verdanken. Du hast alles selber gemacht. Ich habe nur gesagt,<br />

dass ich es nicht hinnehmen würde, mir mein Leben von einem anderen<br />

zerstören zu lassen.“ reagierte ich.<br />

Abends musste ich natürlich sofort mit Alys skypen, um ihr mitzuteilen, dass<br />

Camille und Christoph eventuell bei uns einziehen würden. Sie wusste es<br />

schon. Camille war schneller gewesen, sie hatte sie direkt nach dem Besuch<br />

angerufen. Alyssia konnte und wollte ihre überschwängliche Freude gar nicht<br />

verbergen. Das sei nach m<strong>einer</strong> Entscheidung für Ralf sicher die beste Idee in<br />

meinem ganzen Leben gewesen. Dann könne ich Camille erst mal richtig kennenlernen,<br />

und feststellen, was für eine außerordentlich wundervolle <strong>Frau</strong> sie<br />

sei. Nur es wäre ihr sehr lieb, wenn Elias ein anderes als das für Daniel eingerichtete<br />

Zimmer bekäme. Ihr sei sehr daran gelegen, das Freundinnen oder<br />

Freunde, die sie mal mitbrächte, dort wohnen könnten. Als Gästezimmer,<br />

könnten wir die Räume ja jederzeit nutzen, solange sie nicht anwesend sei.<br />

Am nächsten Tag rief Camille an, und berichtete, dass sie Christoph von der<br />

Chance vorgeschwärmt habe, und er grundsätzlich mehr als einverstanden sei.<br />

Er wolle die Bedingungen natürlich selber sehen, bevor er zusagen könne, er<br />

wisse ja nicht einmal, wo wir wohnten. Sie wollten gleich heute Abend vorbei<br />

kommen. So lernte Christoph nicht nur sein neues Zuhause kennen, sondern<br />

wir auch Christoph. Ein sehr angenehmer, netter kluger Mann, der trotz s<strong>einer</strong><br />

eher zurückhalten Art nicht verbergen konnte, dass er Camille nicht nur liebte,<br />

sondern sie fast vergötterte. Er habe so viele Jahre seines Lebens verschleudert,<br />

weil er nicht hätte wahrhaben wollen, dass das schöne Äußere <strong>einer</strong> <strong>Frau</strong><br />

überhaupt nichts über ihren Charakter aussage. Es sei ihm ähnlich wie Camille<br />

ergangen, er habe den Aussagen und Zusagen s<strong>einer</strong> Gattin immer wieder<br />

Glauben geschenkt, weil er es sich gewünscht hätte, ihr vertrauen zu können.<br />

Seine Ehe sei von Anfang an falsch gewesen. Er habe es sehen können, aber<br />

es vorgezogen blind zu sein. Ideal sei für ihn die Vorstellung, Camille schon viel<br />

früher kennengelernt zu haben, und eine Familie mit Kindern von ihr gehabt zu<br />

haben. Camille lächelte, strich ihm über's Haar und gab ihm einen Kuss:<br />

„Christoph hat mich schon gefragt, ob wir nicht heiraten sollten, Aber ich habe<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 88 von 209


ihm gesagt, dass ich noch ein wenig Zeit brauche, und er hat es gut verstanden.<br />

Vielleicht werden wir hier demnächst ein Hochzeitsfest machen, ja<br />

mon chéri?.“ Wir haben uns alles noch einmal genau angesehen, und Camille<br />

und Christoph haben die Aufteilung der Räume festgelegt. Die vier verbliebenen<br />

Gästezimmer, Alyssias, Daniels und noch zwei weitere Räume im Dachgeschoss<br />

sollten gemeinsam genutzt werden. Ich schlug vor, eventuell einen<br />

Raum im Parterre, der früher mal als Raucherraum gegolten habe, als Gästezimmer<br />

umzufunktionieren. Als Gesprächsraum in s<strong>einer</strong> heutigen Funktion sei<br />

er noch nie benutzt worden. Wir verzichten aber darauf. Als Gästezimmer stünde<br />

er bestimmt die meiste Zeit leer. Vielleicht käme uns ja später mal eine<br />

zündende Idee, wie wir ihn nutzvoll verwenden könnten. Camille und Christoph<br />

sahen von sich aus keinen Grund, weshalb sie nicht schon zum nächsten Monat<br />

einziehen sollten. Ich schlug vor, wir sollten auch den Entschluss, dass sie hier<br />

einziehen würden schon mit einem kleinen Essen feiern, dann habe Christoph<br />

ja auch die Chance festzustellen, wie gut Camille auch in unserer Küche zauberhafte<br />

Dinge zubereiten könne, so dass er auch für die Zukunft keine Angst<br />

zu haben brauche, darauf verzichten zu müssen, oder sogar Hunger zu leiden.<br />

Der schöne Abend bewirkte, dass wir uns noch mehr auf unsere Wohngemeinschaft<br />

freuten, und Ralf und Christoph, der mittlerweile nicht mehr an der Uni<br />

arbeitete, sondern eine Praxis übernommen hatte Möglichkeiten <strong>einer</strong> Zusammenarbeit<br />

prüfen wollten.<br />

Allein durch die Umzugsvorbereitungen kam schon wieder reges Leben ins<br />

Haus, und von hohl, leer und still war absolut nichts mehr zu spüren. Die Einzugsfeier<br />

wurde für das Wochenende nach dem Umzug geplant, weil Alyssia<br />

unbedingt daran teilnehmen wollte. Sie hatten die ganze Strecke abwechselnd<br />

mit Julienne in einem Zug mit dem kleinen Auto zurück gelegt, weil für Julienne<br />

der Flug zu teuer war. Als sie ankam, klingelte sie zuerst bei Camille, und<br />

rief in die neu installierte Sprechanlage: „Hallo Camille! Ich bin da.“. Es wurde<br />

eine lange Begrüßungsszene, denn Alyssia war ja auch zum ersten mal wieder<br />

zu Hause.<br />

Leider ging das Wochenende viel zu schnell vorbei. In permanenter Hochstimmung<br />

wird ein Tag zur Stunde, und man empfindet beim Abschied, als ob die<br />

Ankunft gerade erst erfolgt sei. Alyssia lud alle zu sich ein, aber bitte nur zu<br />

zweit, da mehr Leute in ihrem kleinen Häuschen nicht unterzubringen seien.<br />

Sie riet Camille doch bald mit <strong>einer</strong> Heirat einverstanden zu sein, wenn sie es<br />

sowieso wolle, wäre es doch nicht gut, es immer länger hinaus zu zögern.<br />

Einen Mann, der sie so anbete, wie Christoph gebe es doch nie wieder. Mir erzählte<br />

sie noch, dass sie einen jungen Mann kennengelernt habe, den sie sehr<br />

nett finde, und er sie wohl auch, aber es sei noch alles völlig vage und offen.<br />

Er sei auch an der Paul-Valéry im gleichen Semester wie sie, sei aber eineinhalb<br />

Jahre älter als sie, da er vorher an der Ecole des Baux Arts studiert habe.<br />

Außer gemeinsamem Kaffee trinken und Reden spiele sich da nichts ab. Wenn<br />

ich das nächste mal komme, werde ich ihn sicher kennen lernen.<br />

Camille und Christoph wohnen bei uns<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 89 von 209


Jetzt sah ich Camille jeden Tag. Wir aßen fast immer gemeinsam zu Abend,<br />

und die gemeinsame Essensvorbereitung mit Camille war immer das freudigste<br />

Erlebnis. Ich erlebte diese mir immer als feinfühlige elegante Dame erscheinende<br />

<strong>Frau</strong> zum ersten mal bei ausgelassenen Albernheiten, und es dauerte<br />

nicht lange, bis wir beide zweifellos die allerbesten Freundinnen waren. Ich<br />

glaube es gab so gut wie nichts, über das wir nicht miteinander reden konnten<br />

und redeten. Auch das Sexualleben wurde eifrig untereinander besprochen. Ich<br />

vertrat auch die Ansicht, wenn sie ihren Christoph gern heiraten würde, worauf<br />

sie denn da noch warten wolle. Gegen unbegründete Angst könne man zwar<br />

nicht argumentieren, aber sie habe doch jetzt häufig die Erfahrung gemacht,<br />

dass sie am besten damit gefahren sei, wenn sie sich überwunden habe. Wenn<br />

sie anfangs ihrer Angst nachgegeben hätte, wäre es nie zu ihrer Beziehung mit<br />

Christoph gekommen. Es schien für Camille ein überlegenswerter Hinweis gewesen<br />

zu sein, denn am übernächsten Samstag eröffneten Camille und Christoph<br />

uns beim Abendessen, dass sie beschlossen hätten, zu heiraten. Christoph<br />

hätte von sich aus vorgeschlagen, dass sie den Namen Durand wählen<br />

sollten, da er froh sei, wenn er den Namen Heusken endlich los werden könne.<br />

Wann, wo und wie die Hochzeit stattfinden solle, darüber hätten sie sich noch<br />

keine Gedanken gemacht. Camille meinte, dass sie auf jeden Fall in den Semesterferien<br />

im Sommer stattfinden solle, damit Alyssia auch länger anwesend<br />

sein könne, und ich hielt es für selbstverständlich, dass die Feier hier im Haus<br />

stattfinden werde. Alyssia, die immer über alles auf dem Laufenden gehalten<br />

werden wollte, informierten wir abwechselnd, wir sprachen uns immer kurz ab,<br />

wer sie anrufen wollte.<br />

Elias hatte sich bald an Christoph gehängt. Die beiden verstanden sich sehr<br />

gut, und es war zu spüren, dass Christoph großes Einfühlungsvermögen besaß,<br />

und der Umgang mit Elias ihm Freude bereitete. Er war nicht nur der überragende<br />

Ansprechpartner und Mitspieler für Fußballangelegenheiten <strong>–</strong> er hatte<br />

selbst in s<strong>einer</strong> Jugend in einem Verein gespielt - , sondern weckte durch seine<br />

alten Anatomie Atlanten, bei Elias auch ein starkes humanbiologisches Interesse.<br />

Montpellier Besuch mit Lucien und Ferienplanung<br />

Bei meinem nächsten Besuch in Combaillaux, wollte Alyssia mir einen Eindruck<br />

von schönen, verführerischen Gegenden im Herault verschaffen. Unser regelmäßiger<br />

Einkauf am Samstagmorgen in Montpellier sollte aber nicht darunter<br />

leiden. Sie hatte Lucien, mit dem sie sich sonst immer Samstagmorgens um 10<br />

Uhr zu einem Kaffee traf, gesagt dass sie wegen des Besuchs ihrer Mutter verhindert<br />

sei, es sei denn, es störe ihn nicht, wenn ich auch anwesend sei. Keinesfalls,<br />

er würde sich freuen mich kennen zu lernen. Als wir im Café saßen<br />

kam Lucien. Nachdem wir uns vorgestellt, und er sich gesetzt hatte, meinte<br />

Alyssia, er sei ihr Freund, und während Luciens Minenspiel sich zu einem erstaunten<br />

Gesichtsausdruck verwandelte, fügte sie nach kurzer Pause hinzu, für<br />

einen guten Kaffee und nette Unterhaltung. Er konnte es gar nicht fassen, dass<br />

Alyssia nicht einen französischen Elternteil oder sonst welche französische Hil-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 90 von 209


fen von klein auf gehabt habe. Niemand, selbst gebildete Franzosen nicht, würde<br />

merken, dass sie keine Französin sei. Sie könne sich sowohl eloquent gewählt<br />

ausdrücken, als auch ordinär schimpfen. Als ich fragte, ob sie ihn denn<br />

schon mal beschimpft habe, antwortete er dass ihre Treffen immer sehr lustig<br />

seien, und sie sowohl ernste Fragen diskutierten, als auch amüsante Geschichten<br />

erzählten. Sie träfen sich auch schon mal in der Woche, aber Alyssia habe<br />

immer so selten Zeit. Sie sei meist beschäftigt wie eine Biene. Als Alyssia erklärte,<br />

dass Lucien auch Deutsch könne, wehrte er ab, und meinte: „Lesen<br />

kann ich ein wenig, aber sprechen ein sehr wenig.“ In der Schule habe er<br />

Deutsch abgewählt und Spanisch genommen. Heute bereue er es. Er studiere<br />

zwar Spanisch, aber so starkes Interesse wie Alyssia es für Französisch habe,<br />

könne er nicht dafür entwickeln. Er riet mir doch auch nach Montpellier zu ziehen.<br />

Er könne es nicht verstehen, wie man in Nordeuropa leben könne. Er sei<br />

einmal mitten im Sommer in Kopenhagen gewesen, und fast erfroren. Ich<br />

empfand Lucien als einen sehr hübschen jungen Mann. Ich konnte mir gut vorstellen,<br />

das dieser intellektuell wirkende Student, dessen Gesicht immer zu einem<br />

Lächeln bereit zu sein schien, allein vom Äußeren und vom Auftreten her,<br />

Alyssias Geschmack traf. Doch das war für sie sicherlich nicht ein entscheidendes<br />

Kriterium für ihre Beziehung zu ihm. Ihre Unterhaltung untereinander<br />

konnte ich gar nicht verstehen. Mit meinem Schulfranzösisch konnte ich nur<br />

heraus hören, dass die Sprache in der sie sich unterhielten, französisch war.<br />

Als wir über unsere Pläne für Samstagnachmittag und Sonntag sprachen,<br />

meinte Lucien, für ihn sei die schönste Gegend Frankreichs die Auvergne, auch<br />

wenn dort so gut wie kein oder nur wenig genießbarer Wein wachse. Alles andere<br />

sei aber so bunt und vielfältig und unterschiedlich vom übrigen Frankreich,<br />

dass man es sich nicht entgehen lassen dürfe, die Auvergne zu entdecken.<br />

Lucien selbst kam aus Clermont-Ferrand am nördlichen Rand des Zentralmassivs<br />

und kannte sich natürlich dort aus, und auch Alyssia bestätigte,<br />

dass sie schon viel interessantes darüber gelesen habe, aber selbst noch nie<br />

dort gewesen sei. Beim Einkauf begleitete uns Lucien und konnte uns Details<br />

zu den Käsen aus der Auvergne erklären. Ich entschied mich für ein Stück<br />

Fourme d'Ambert und einen St. Nectaire, wobei Lucien auf den gravierenden<br />

Unterschied zwischen dem aus Käsereien und dem de fabricaton fermière<br />

verwies und uns zeigte, woran man einen guten Reifegrad erkennen könne, der<br />

sehr wesentlich für den Geschmack sei. Für den Fourme d'Ambert musste ich<br />

mir natürlich auch noch einige Flaschen Sauternes mitnehmen, da wir edelsüße<br />

Weine gar nicht zu Hause hatten.<br />

Nachmittags wollten wir ins Vallée de l'Hérault bis weiter rauf nach Ganges,<br />

dort übernachten und auf <strong>einer</strong> östlicheren Route über St. Martin de Londres<br />

wieder zurück. Ich war fasziniert von den abwechselungsreichen Landschaften<br />

und den idyllischen Fußtälern mit halb verlassenen kleinen Orten. Ins Buègestal<br />

fuhren wir bis nach Saint-Jean-de-Buèges rein. Ich stellte mir vor, in diesem<br />

Dörfchen Urlaub zu machen, nicht am Strand, in irgendwelchen Chalets<br />

oder Hotels, das erschien mir alles eintönig gegenüber der dörflichen Idylle als<br />

Ausgangspunkt für verschiedenste Tagesunternehmungen in die Umgebung.<br />

Jeden Tag eine neue Forschungstour mit Essen in kleinen Landgasthäusern,<br />

Besuchen von Märkten in kleinen Städten und Wanderungen in teils unwegsamer<br />

rauer Natur. Ich ließ mir Adresse, Telefon- und Faxnummer <strong>einer</strong> kleinen<br />

Unterkunft geben. Jetzt musste ich nur noch Ralf und Elias überzeugen. Ich<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 91 von 209


war aber zuversichtlich, dass mein Feuer stark genug war, um auch in Ihnen<br />

eine Flamme entzünden zu können. Wir hatten ja nur immer ein wenig schauen<br />

können, unsere Tour war für die zwei halben Tage über verwinkelte kleine<br />

Straßen doch recht lang, aber mir gefiel alles sehr gut.<br />

Bei unserer Fahrt war natürlich Lucien und Alyssias Perspektive ein bedeutendes<br />

Thema. Alyssia mochte ihn sehr gut leiden, und sie wünsche sich auch eine<br />

intensivere Beziehung, aber sie wolle nichts voreilig initiieren. Sie meine schon,<br />

dass Lucien auch stark an <strong>einer</strong> intensiveren Beziehung interessiert sei. Er<br />

dränge sie immer, sich doch öfter zu treffen. Aber sie hielte es nicht für sinnvoll,<br />

Stunden oder Nachmittage gemeinsam abzuhängen. So würde seine Erwartung<br />

und Freude auf den Samstagvormittag immer größer, und sein Interesse<br />

an ihr könne nur zunehmen. Sie wolle mehr, als dass er sie nett finde,<br />

und ihr Komplimente mache, und dass wolle sie nicht durch ihre eigene Ungeduld<br />

gefährden.<br />

Ihre sechswöchige Weltreise mit Camille hielt sie für gefährdet. Es sei ja wohl<br />

schlecht möglich, dass sie die ganzen Sommerferien mit ihr statt mit Christoph<br />

verbringe. Aber wenn wir tatsächlich unsere Sommerferien in Saint-Jean verbringen<br />

würden, bliebe sie in der Zeit natürlich hier, dass wir dann mal einiges<br />

mit der ganzen Family machen könnten, fände sie natürlich super. Sie könne<br />

dann ja auch noch später reisen und Julienne fragen, ob sie nicht Lust habe. Es<br />

sei nur wichtig, dass Camille bald ihren Hochzeittermin festlege, den könne<br />

und wolle sie keinesfalls versäumen. Mit Lucien auf Weltreise zu gehen, wollte<br />

sie keinesfalls, dass sei ihr viel zu früh.<br />

Bei der Rückkehr sprach ich noch am Sonntagabend mit Camille. Ich bat sie<br />

mich auch bei meinem Werben für einen Urlaub im Hérault zu unterstützen.<br />

Am Montag erklärten Camille und Christoph beim Abendessen, dass sie am<br />

ersten Samstag in den Ferien heiraten wollten, dann hätten sie genug Vorbereitungszeit<br />

und gute Möglichkeiten für eine Hochzeitsreise. Bei meinem anschließenden<br />

Vorschlag für die Ferien, hatten die Jungs keine Chance gegen<br />

uns beiden <strong>Frau</strong>en. Während Elias zuerst noch mutmaßte, ich wolle das nur,<br />

um nahe bei Alyssia zu sein, konnten Camille und ich sie doch mit der Schilderung<br />

des Marktes in Ganges und s<strong>einer</strong> Geschichte, dem unvergleichlichen Naturschauspiel<br />

des Cirque de Navacelles und m<strong>einer</strong> Erklärung über die rekreative<br />

Kraft des rustikalen Lebens im Gegensatz zu unserem Alltagsleben oder Zeit<br />

vertrödeln an irgend einem Strand hinreichend überzeugen. Dass wir gleichzeitig<br />

mit Camilles und Christophs Hochzeitsreise für drei Wochen nach Saint-Jean<br />

fuhren, war beschlossen.<br />

Alyssia und Lucien in der Auvergne<br />

Drei Wochen später teilte Alyssia mir mit, dass sie am Wochenende mit Lucien<br />

zu seinen Eltern fahre. Er habe sie ein wenig ausgetrickst. Er hätte ihr mitteilen<br />

wollen, das er am Wochenende nicht da sei, und ihr gemeinsamer Kaffee ausfallen<br />

müsse. Eine andere Möglichkeit, die sie aber sicher ablehnen werde,<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 92 von 209


doch noch zu ihren gemeinsamen Unterhaltungen zu kommen sei, er würde<br />

nicht allein mit dem Zug fahren, sondern sie würden zusammen im Auto fahren,<br />

und er könne ihr gleichzeitig noch die schönsten Gegenden in der Auvergne<br />

zeigen. Es sei ihr sehr schwer gefallen, das einfach abzulehnen, und unter<br />

der Bedingung, dass sie als gute Freunde reisten, sei sie einverstanden gewesen.<br />

Hinterher berichtete sie, dass es ganz wundervoll gewesen sei. Lucien sei<br />

immer brav geblieben, und habe sie seinen Eltern auch nicht als seine Freundin,<br />

sondern gut bekannte Kommilitonin vorgestellt, der er die Auvergne habe<br />

zeigen wollen. Sein Vater sei Rechtsanwalt und seine Mutter Lehrerin in Clermont-Ferrand,<br />

und sie seien ausgesprochen nette Leute, wie viele Franzosen.<br />

Das Massiv Central sei wirklich bezaubernd. Sie sei sich sicher, hier noch öfter<br />

hin zu kommen. Aber ein Wochenende oder selbst eine Woche seien viel zu<br />

kurz, um hier ein wenig mehr zu erleben. Sie seien übrigens an mehreren Bauernhöfen<br />

vorbeigekommen, an denen man St. Nectaire habe kaufen können.<br />

Sie hätte schon mal daran gedacht, Lucien eventuell zu Camilles Hochzeit mitzubringen,<br />

was sie sich aber noch sehr reiflich überlegen müsse.<br />

Planungen für Camilles Hochzeit<br />

Camilles Hochzeitstag rückte immer näher, und die zunehmende Aufregung ließ<br />

erkennen, wie groß die Anzahl der Details war, die noch zu organisieren waren.<br />

Die standesamtliche Trauung war relativ unkompliziert aber die Feier am Abend<br />

bei uns, verlangte die vielfältigsten Entscheidungen in allen Bereichen. Das<br />

Essen, die Getränke, die Musik die Tanzmöglichkeit, die Kleider, die Unterbringung<br />

der Gäste etc.. Alyssia und Christophs jüngerer Bruder sollten Trauzeugen<br />

sein. Alyssia flehte am Telefon, sie habe sich finanziell verkalkuliert.<br />

Beim Geschenk für Camille habe sie schon nicht nein sagen können, die Anfertigung<br />

des Abendkleids sei ebenfalls nicht billig gewesen, zu dem habe sie sich<br />

noch ein dezentes Kleid für die Trauung kaufen müssen und dann habe sie<br />

noch ein Collier für das Abendkleid gebraucht. Sie habe eins gefunden, dass ihr<br />

wundervoll gefiele, und gegen dass sie die anderen als unpassend empfinde,<br />

sie wolle es unbedingt, aber sie könne es nicht bezahlen. Selbstverständlich<br />

hätte ich ihr helfen können, aber wir hatten eine strikte Finanzregelung getroffen,<br />

die sie selbst auch so gewollt hatte und die für eine Studentin sehr großzügig<br />

war. Sie bat mich ihr das Geld zu leihen, da sie es schlecht ertragen könne,<br />

dieses Collier gesehen zu haben, und zu Camilles Hochzeit ein anderes tragen<br />

zu müssen. Camilles Hochzeit sei ja ein außerordentliches Ereignis, das<br />

durch unsern Finanzplan nicht abgedeckt sei, und da sie schon so viele Sonderausgaben<br />

selber getragen habe, würde ich ihr das Collier zur Hochzeit schenken,<br />

zumal ich die Vorstellung, das ma chérie sich bei der Feier unwohl fühle,<br />

nicht ertragen könne. Lucien käme auch mit und habe sich extra einen neuen<br />

Anzug zugelegt, da er nichts Hochzeitsgemäßes besessen habe. Sie hätten<br />

schon Flüge gebucht, da die Hin- und Rückfahrt mit dem Autochen zu stressig<br />

wäre.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 93 von 209


Hochzeitstag von Camille und Christoph<br />

Camille sah zu ihrer Hochzeit noch bezaubernder aus als sonst. Ihr Lächeln,<br />

ihre charaktervollen Gesichtszüge und die Eleganz ihrer Bewegungen, machten<br />

sie für mich zur schönsten <strong>Frau</strong> der Welt, zumindest von denjenigen, die mir<br />

begegnet waren. Wie bei ihrer Wohnungseinrichtung, die wegen ihrer stimmigen<br />

Atmosphäre auf Alyssia damals ja sofort einen starken Eindruck gemacht<br />

hatte, schien sie auch bei ihrer Kleidung, ihrer Frisur und ihrem Schmuck immer<br />

genau die passendste Wahl zu treffen. Ich selbst kam mir zwar überhaupt<br />

nicht grob und rustikal vor, und hatte mich auch immer für relativ hübsch gehalten,<br />

aber Camille schien eine angeborene Feinfühligkeit für Eleganz und<br />

Harmonie zu haben, die für mich immer unerreichbar bleiben würde. In Kleidung<br />

und Aussehen genoss sie mein blindes Vertrauen, und was Camille nicht<br />

so passend fand, konnte für mich nicht angemessen sein. Die Hochzeit auf dem<br />

Standesamt verlief relativ unspektakulär gewöhnlich, aber bei der Feier wollte<br />

das Erstaunen kein Ende nehmen. Alyssia hatte sonst ihre dunkelbraunen fast<br />

schwarzen Haare immer runter hängend getragen, jetzt trug sie eine Lockenfrisur,<br />

die sie sich morgens vom Friseur noch mal extra hatte auffrischen lassen.<br />

Mit ihrer Frisur, ihrem dunkleren Teint, ihrem wundervollen Abendkleid und ihrem<br />

bezaubernden Schmuck, bot meine Tochter für mich ein Bild, das ich immer<br />

wieder mit den Augen verschlingen konnte, weil sie so für mich nie vorstellbar<br />

gewesen war. Sie war eindeutig die junge Schönheitskönigin des<br />

Abends.<br />

Eine noch größere Überraschung stellten allerdings ihre Geschenke dar. Sie<br />

schenkte Camille 6 Bücher 5 wahren eine Gesamtausgabe von Flauberts Werken<br />

in der ersten Auflage von 1891. Camille hielt es für einen unermesslichen<br />

Schatz und konnte es gar nicht fassen, dass Alyssia so etwas hatte in einem<br />

Antiquariat finden können. Sie hielt die Bücher für eine Rarität, die man sich<br />

eigentlich nur noch in Bibliotheken ansehen könne, und dann noch ausgerechnet<br />

Flaubert ihr Lieblingsschriftsteller. Camille standen die Tränen in den Augen.<br />

Sie umarmte und küsste Alyssia immer wieder.<br />

Alyssias Gedichtband<br />

Die größte Überraschung aber sollte noch kommen. Ein kleines Büchlein mit<br />

Gedichten, von denen eines für eine Camille war, mit der handschriftlichen<br />

Widmung: „M<strong>einer</strong> liebsten Freundin Camille zur Hochzeit mit Christoph. Ein<br />

Vorabdruck zum gemeinsamen oder einzelnen Lesen, Lieben und Träumen. In<br />

tiefster Liebe und Verbundenheit, deine Alyssia Stein. Das Büchlein trug den<br />

Titel „Petits poèmes d'amour et des rêves - Kleine Lieder von Liebe und Träumen“<br />

und die Autorin war Alyssia Stein. Ungläubiges Staunen: „Was ist das?<br />

Bist du das? Hast du das geschrieben?“, und bevor Alys erklärte, was es damit<br />

auf sich hatte, bekam ich auch so ein Buch mit der Widmung: „M<strong>einer</strong> geliebten<br />

Mamon, die mir alles, vor allem aber ihre Liebe gegeben hat. Ohne dich<br />

wären mir diese Worte nicht möglich gewesen. In großer Liebe und Verehrung,<br />

deine Alys“. Sie hatten für ein Lyrik-Seminar 2 Gedichte schreiben müssen<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 94 von 209


Nach anfänglichen Problemen habe sie Spaß daran entwickelt. Vor allem habe<br />

es ihr Freude bereitet, eine deutsche Version dafür zu finden, die einem deutschen<br />

Leser einen ähnlichen Eindruck vermittle, wie einem französischen Leser<br />

die Originalversion. Sie sei darauf gekommen, weil sie eine annähernd wörtliche<br />

Übersetzung für grässlich gehalten habe. So seien die deutschen Fassungen<br />

fast eigenständige Gedichte mit dem gleichen Sujet, die ihrer Auffassung<br />

nach bei einem Deutschen den fast gleichen Eindruck erwecken würden, wie<br />

das Original. Eine Kommilitonin, die bei der Studentenzeitung mitarbeitete,<br />

hätte nicht nur ihre Gedichte sondern auch ihre Art der Übertragung für sehr<br />

interessant gehalten, und hätte einen Artikel darüber mit zwei Beispielen in der<br />

Studentenzeitung veröffentlicht. Kurz darauf habe sie jemand von einem kleinen<br />

Verlag in Montpellier angesprochen, der die Gedichte auch sehr interessant<br />

gefunden hätte, und wissen wollen, wie viele solcher Gedichte sie denn geschrieben<br />

habe. Elf hätte sie gehabt, die habe er sich alle angesehen, sei begeistert<br />

gewesen und hätte sie gerne veröffentlichen wollen. Elf seien natürlich<br />

zu wenig für eine Veröffentlichung gewesen. Der Verlag hätte sie sehr gerne<br />

veröffentlichen wollen, aber dazu habe sie noch einiges mehr verfassen müssen.<br />

Sie habe mehrere Monate fast in Trance gelebt, und ständig an drei Gedichten<br />

gearbeitet. Bei 39 sei ihr die Luft endgültig ausgegangen. Sie hätte mit<br />

dem Lektor und einem Deutschprofessor von der Uni noch mal alles durchgesehen,<br />

und dann sei die Veröffentlichung gestartet worden. Die Vorabdrucke<br />

seien gerade fertig geworden, und sie habe nicht mehr als drei bekommen<br />

können. In einigen Wochen könne man es in Frankreich in den Buchläden kaufen.<br />

„Nur ihr beide und ich haben jetzt schon eins in unseren Bibliotheken.“<br />

schloss Alyssia ihre Erklärungen.<br />

Alyssias poetisches Œvre blieb den ganzen Hochzeitsabend Gesprächsthema,<br />

nur sie selbst hatte gar keine Lust, länger davon zu reden. Sie wollte viel lieber<br />

mit Lucien tanzen. Lucien konnte hervorragend tanzen, während Alyssia nie<br />

tanzen gelernt hatte. Sie wollte sich alles auf der Hochzeitsfeier beibringen lassen.<br />

Die beiden bogen sich dabei immer vor Lachen und bei einem Slow-Fox<br />

kam es dann zum ersten Kuss zwischen ihnen. Hinterher erzählte sie mir, dass<br />

es ihr sehr schwer gefallen sei, sich zurück zu halten. Sie habe kaum etwas<br />

von dem schönen Wein abbekommen, weil sie vermutet hätte, nur völlig nüchtern<br />

der Versuchung widerstehen zu können. Wenn sie nichts an Lucien auszusetzen<br />

habe, würde ich zwar nicht verstehen, warum sie sich ihren eigenen Bedürfnissen<br />

immer noch widersetzen würde, aber in ihre Liebestaktik wolle ich<br />

mich natürlich nicht einmischen, erklärte ich. Zur Perspektive mit ihrem Buch<br />

meinte sie, überhaupt nichts sagen zu können. Alles sei völlig offen. Da der<br />

kleine Verlag ja nur ganz geringe Marketingmöglichkeiten habe, werde sicherlich,<br />

wenn überhaupt, der Erfolg auch begrenzt bleiben. Dann sprachen wir<br />

noch über Näheres zum Urlaub in Saint-Jean und Alyssia musste Lucien noch<br />

zwei Tage lang Hamburg zeigen.<br />

Urlaub im Hérault<br />

Der Urlaub gestaltete sich immer abwechselnd als Unternehmungen mit und<br />

ohne Alyssia. Zum Markt in Ganges kam Lucien auch mit, und als wir zum Ba-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 95 von 209


den einen Tag ans Mittelmeer fuhren war er auch dabei. Seine Augen verfolgten<br />

dabei ständig Alys im Bikini. Ihre elegante Lockenfrisur war mittlerweile ein<br />

wenig verwüstet, so dass ihr Aussehen einen leicht wild-verwegenen Touch bekommen<br />

hatte. Ich konnte gut verstehen, dass den jungen Herrn Renouard, so<br />

hieß Lucien mit Nachnamen, nach mehr verlangte als gemeinsamem Reden.<br />

Mittlerweile küssten sie sich auch häufiger, zwar relativ zurückhaltend aber<br />

doch eindeutig verliebt. Sie lachten auch viel und spielten wie Kinder im Wasser<br />

und am Strand. Allem Anschein nach, hatte sie Camilles Hochzeitsfeier<br />

doch ein Stück näher zusammen gebracht.<br />

Anschließend an unseren Urlaub stand für Alyssia der Sechs-Wochen-Worldtrip<br />

mit Julienne an. Sie hatten geplant: 2 Wochen Afrika, 2 Wochen Südamerika, 1<br />

Woche China und 1 Woche Australien. Die Detailplanung hatte hauptsächlich<br />

Julienne übernommen, da Alyssia sich in den letzten Monaten im Dauerstress<br />

befunden habe. Allein die Geschenksuche für Camille habe zusammengerechnet<br />

bestimmt eine ganze Woche gedauert. Sie habe schon fast aufgeben wollen,<br />

bis sie eben genau das Richtige gefunden habe, aber es sei ihr eigentlich<br />

unbezahlbar erschienen. Ein wenig habe sie den Preis beim Antiquar noch runter<br />

handeln können, und dann habe sie ja auch noch einen kleinen Vorschuss<br />

vom Verlag erhalten, und weil es ja nun nicht für irgendeinen guten Freund<br />

sondern für Camilles Start in ein neues Leben gewesen sei, habe sie es dann<br />

doch gemacht. Den Preis wollte sie nicht nennen, sie meinte nur, es sei das<br />

teuerste, was sie je in ihrem Leben gekauft habe.<br />

Der Urlaub hatte allen sehr gut gefallen, und es stand fest, dass wir nie wieder<br />

einfach für ein paar Wochen an den Strand oder sonst wohin fahren würden,<br />

sondern immer nur so Abenteuerurlaub Ähnliches unternehmen wollten. Als<br />

Camille und Christoph bald darauf zurückkamen schwärmte Camille mir tagelang<br />

von der Flaubert Ausgabe vor. Sie sei nicht nur ihr persönlich liebstes<br />

Werk unter ihren Büchern, sonder eindeutig auch das objektiv wertvollste. Sie<br />

vermutete, dass ich es bezahlt hätte, aber ich konnte ihr erklären, dass es eindeutig<br />

nicht so gewesen sei, aber Alyssia mir den Preis auch nicht habe verraten<br />

wollen. Sie holte mehrfach einen der repräsentativen Bände mit graviertem<br />

Einband herunter, um mir zum Beispiel zu zeigen welche Passagen sie bei Madame<br />

Bovary als junges Mädchen besonders beeindruckt hätten. Sie habe sich<br />

das Buch heimlich besorgen müssen, da ihre Eltern es ihr verboten hätten.<br />

Wenn sie davon und darüber sprach, bekam sie oft vor Rührung und Freude<br />

wässrige Augen. Sie wäre eigentlich sicher, dass nur dies ihr aller schönstes<br />

und liebstes Hochzeitsgeschenk sein könne, aber Alyssias Gedichtband mache<br />

sie völlig ratlos. Sie fände die französischen Gedichte hervorragend und wunderschön,<br />

und sie habe ja nun doch einigen Sachverstand und sei nicht eine<br />

einfache Leserin. Es zeige nicht nur, dass sie tiefer in der französischen Sprache<br />

lebe als die meisten Franzosen selbst, sondern auch dass sie ein hohes<br />

poetisches Potential habe. Dass Alyssia zu so etwas in der Lage sein könne, sei<br />

ihr bisher völlig verborgen geblieben. Die Art der Übertragung ins deutsche<br />

fand sie nicht nur äußerst originell, sondern auch sehr beeindruckend und gut<br />

gelungen. Es seien keine irgendwie gearteten Übersetzungen, sondern eigenständige<br />

deutsche Gedichte zu dem gleichen Thema oder mit dem gleichen Inhalt.<br />

Das Bändchen sei so ungewöhnlich und gut, und dann in Frankreich von<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 96 von 209


<strong>einer</strong> jungen deutschen Studentin, dass sie sich kaum vorstellen könne, dass<br />

es unbeachtet bliebe, auch wenn es nur in einem kleinen Verlag erscheine.<br />

Erfolg von Alyssias Buch<br />

Alys und Julienne informierten uns immer aus aller Welt. Sie hatten ein Blog<br />

eingerichtet in das sie immer ihre neuesten Erlebnisse samt Bildern eintrugen.<br />

Nach den Galapagos erfuhren wir von ihren neuesten Erlebnissen in Peking,<br />

und von Sydney aus ging's dann wieder über Marseille nach Hause. Wieder in<br />

Combaillaux erfolgte dann die Überraschung die alle Erlebnisse der Weltreise in<br />

den Schatten stellen sollte. Der Gedichtband war in Literatur Sendungen mehrerer<br />

Rundfunkanstalten besprochen worden, und hatte Erwähnung in vielen<br />

Zeitungen gefunden. Er verkaufe sich so gut, dass der Verlag eine Auflage nach<br />

der anderen drucken lassen müsse, um der Nachfrage entsprechen zu können.<br />

Sie habe einen Stapel von Anfragen und Einladungen zu Interviews und<br />

Gesprächen, dass sie sie womöglich gar nicht alle bearbeiten, geschweige denn<br />

annehmen könne. Auch France TV habe sich schon beim Verlag gemeldet um<br />

die Möglichkeit <strong>einer</strong> Einladung zu <strong>einer</strong> Literatursendung, in der neue Bücher<br />

vorgestellt werden, zu prüfen. „Mami ich werde reich!“ rief Alyssia in den PC<br />

als sie mit mir mir skypte. Sie hätte jetzt schon so viel bekommen, dass sie<br />

Julienne erst mal ein vernünftiges Auto kaufen würden. Mit ihrer alten Mühle<br />

sei jede Fahrt ein Vabanquespiel gewesen. Dass sei das Dringendste. Die vielen<br />

Interviewgesuche werde sie nicht wahrnehmen. Ihr primäres Ziel sei es, ihr<br />

Studium weiter erfolgreich durchführen und dabei normal leben zu können.<br />

Eine Einladung zu France TV werde sie wohl annehmen. Wenn das halbwegs<br />

erfolgreich sei, würde dass den Verkauf noch einmal potenzieren.<br />

Das funktionierte auch. Sie hatte mir den Sendetermin genannt und wir sahen<br />

uns gemeinsam Alyssias Sendung im französischen Fernsehen an. Sie wirkte<br />

frisch offen und selbstsicher, als ob sie über langjährige TV Erfahrung verfügte.<br />

Sie wurde nicht nur von der Moderatorin mit Lob und Anerkennung überschüttet,<br />

sondern streichelte auch mit ihren Erzählungen, über die Entstehung ihrer<br />

Liebe zum Französischen und zur Französischen Sprache, die Seelen aller Franzosen<br />

tief. Auch ihre Erklärungen zur Entstehung der Gedichte und ihren Hintergründen<br />

wirkten sehr sympathisch. Sie lachte viel, wenn zum Beispiel die<br />

Moderatorin sagte, sie sei schon als Enkelin Baudelaires bezeichnet worden und<br />

sie immer drängen wollte, doch weitere Gedichte zu schreiben. Die Erklärung,<br />

das der erfolgreiche Abschluss des Studiums für sie oberste Priorität habe,<br />

verschaffte ihr sicher die Sympathien vieler Eltern. Sie wusste auch charmant<br />

und geschickt auf verfängliche Fragen zu reagieren, so dass sie allen als junge<br />

aufgeweckte sympathische Studentin mit ganz besonderen poetischen<br />

Potentialen erscheinen musste.<br />

Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Gallimard fragte beim Verlag an, was sie<br />

für die Rechte an dem Buch verlangen würden, und sie wurden sich einig für<br />

zwei unterschiedliche Variationen, einmal mit Alyssias Rechten in bestehender<br />

Form oder Alyssias Rechte mit Gallimard neu aushandeln. Da Alyssia überhaupt<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 97 von 209


keine Ahnung hatte, welche Form von Vertrag sie eingehen sollte, und was sie<br />

verlangen konnte, hatte sie sich vom Schriftstellerverband einen kompetenten<br />

Rechtsanwalt in Montpellier nennen lassen. Sie musste feststellen, dass sie<br />

dem kleinen Verlag ungeheuer viel Geld geschenkt hatte, andererseits war das<br />

Risiko eines Flops von ihm natürlich auch viel schwerer zu verkraften. Sie<br />

wollte sich Gallimard gegenüber von diesem Rechtsanwalt vertreten lassen.<br />

Gallimard startete dann noch einmal eine große Marketingkampagne, die auch<br />

dazu führte, das Arte einen Beitrag über sie in Metropolis plante. Alyssia lehnte<br />

aber alle Fahrten und Interviews außerhalb ab. Arte schien das nicht zu stören<br />

also wurde ihr kleines Häuschen in Combaillaux aufgenommen, Alyssia am<br />

Schreibtisch gezeigt und ein Interview im kleinen Garten geführt. Auch hier<br />

wirkte sie sehr freundlich, arbeitsam und intelligent. Die Folge davon war, das<br />

Gallimard die Rechte zu guten Bedingungen ins deutschsprachige Ausland verkaufen<br />

konnte, und Alyssia noch einmal einiges abbekam.<br />

Alys neuer Reichtum<br />

Alys überlegte, was sie mit dem Geld machen sollte. Nach Juliennes Auto sei<br />

das dringendste Problem, dass ihr Haus für Besuche oft sehr klein sei. Zwei<br />

kleine Gästezimmer für beide seien eben doch oft wenig, aber in ein anderes<br />

Haus ziehen, behage ihnen auch nicht. Es sei ihnen sehr ans Herz gewachsen,<br />

und wegen mehr Zimmern für andere Menschen ihr eigenes Haus verlassenen,<br />

schiene ihnen eigentlich auch ein wenig pervers. Sie hatten jetzt einen Architekten<br />

beauftragt, der prüfen solle, ob ein Dachausbau möglich sei. Alles funktionierte<br />

und wurde durchgeführt, so dass sie jetzt zwei studioähnliche Arbeitsräume<br />

und ein großes modernes Bad über dem ersten Stock hatten, wo sonst<br />

nur ein unbenutzbarer flacher Dachboden gewesen war. Gleichzeitig war der<br />

Keller renoviert und vertieft worden, so dass man hier jetzt aufrecht laufen und<br />

wesentlich mehr unterbringen konnte. Dann hatten sie noch Alyssias C3 gegen<br />

einen Citroën Berlingo eingewechselt, damit sie auch mal etwas transportieren<br />

konnten, und in dem auch zu viert oder fünft bequem für alle Platz genug war.<br />

Der Rest des Geldes, immer noch der überwiegende Teil, wurde für eventuelle<br />

andere außergewöhnliche Bedürfnisse zurückgelegt.<br />

Weitere Aktivitäten für Alyssias Buch<br />

Ganz zur Seite legen konnte sie die Beschäftigung mit ihrem Büchlein aber<br />

doch nicht. Von Gallimard aus versuchte man sie immer wieder zu drängen,<br />

doch bestimmte Gesprächsgesuche nicht abzulehnen mit dem Hinweis auf die<br />

verkaufsfördernde Wirkung. Man wusste die positive Wirkung ihre Auftretens<br />

zu schätzen, <strong>einer</strong> <strong>Frau</strong>, die nicht als verträumtes Liebeslieder singendes Mädchen<br />

auftrat, sondern als aufgeweckte, selbstbewusste, äußerst kenntnisreiche<br />

und freundliche junge Studentin. Ihr Auftritt hatte immer positive Auswirkungen,<br />

denn sie wusste auch mit verfänglichen und teils aggressiven Fragen geschickt<br />

umzugehen und ihre Bescheidenheit im Hinblick auf ihre poetischen Kapazitäten,<br />

wurden meist als höfliches Understatement gewertet. Ihr Anwalt riet<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 98 von 209


ihr Mitglied im Schriftstellerverband zu werden, obwohl sie gar nicht vor hatte,<br />

etwas Weiteres zu schreiben. Selbst wenn sie gewollt hätte, sei ihr völlig<br />

schleierhaft, was sie denn machen sollte. Ein weiteres ähnliches Büchlein hielt<br />

sie, abgesehen davon dass sie es sowieso nicht wollte, für völlig verfehlt. Alles<br />

Andere seien für sie völlig neue offene Welten. Offiziell erklärte sie immer auf<br />

das Drängen zu weiteren Werken, dass sie erst ihr Studium beenden wolle,<br />

dann werde man sehen. Gallimard hatte ihr ein eigenes Block zu diesem Buch<br />

in französisch, deutsch und englisch angelegt und eine spezielle E-Mail Adresse<br />

eingerichtet. Sie konnte das ja nicht unbearbeitet und unbeantwortet lassen.<br />

Darüber hinaus, war es auch nicht uninteressant, weil oft die kuriosesten Mails<br />

auftauchten. Eine ehemalige Klassenkameradin fragte ganz erstaunt: „Sag mal<br />

Alys bis du das? Und wenn ja was machst du und wo steckst du? Melde dich<br />

doch mal. Ich kann's gar nicht fassen.“ Ihre kleine Schwester hatte das Buch in<br />

der Schule behandelt und die Lehrerin habe gesagt, dass die Autorin aus Hamburg<br />

stamme. Von Franzosen sei ihr Buch so gut wie gar nicht kritisiert worden,<br />

in deutschen E-Mails hingegen schon recht häufig. Den Deutschen liege es<br />

anscheinend mehr zu nörgeln, als Freude dabei zu empfinden, lobende Worte<br />

auszusprechen. Wie gut, dass sie zu Hause diese Wesensart nie erfahren habe.<br />

Entwicklung der Beziehung zu Lucien<br />

Lucien bedränge sie oft. Er sei verliebt in sie, und sie in ihn, worauf sie denn<br />

dann noch länger warten sollten. Sie hätten oft über ihre Gedichte gesprochen<br />

und sie gemeinsam interpretiert und ihre unterschiedlichen Empfindungen diskutiert.<br />

Als sie dabei auch auf ihre Erfahrungen mit Daniel zu sprechen gekommen<br />

seien, habe er gefragt, ob sie so ein Verhalten etwa auch von ihm befürchte,<br />

er sei doch kein Kind. In der Tat sehe sie es auch so, dass ihre Beziehung<br />

zu Daniel stark kindliche Züge getragen habe. Sie empfinde sich selbst<br />

heute, und auch ihre Beziehung zu Lucien als wesentlich reifer und tiefer.<br />

Trotzdem bleibe ihr die positive Zeit mit Daniel immer in freudiger Erinnerung.<br />

Darüber hinaus sei er nicht nur ihr erster Junge gewesen, sondern durch ihn<br />

sei ihr auch erst der Weg zur Liebe für Frankreich und die französische Sprache<br />

eröffnet worden. Vergessen werde sie das nie, auch wenn er heute möglicherweise<br />

ein dämlicher Typ sei. Er studiere auch in Montpellier, sie habe ihn vor<br />

einiger Zeit auf der Straße getroffen. Er habe nur „Hallo, Alyssia!“ gesagt und<br />

sei einfach weiter gegangen, obwohl sie ihm noch zweimal nachgerufen habe.<br />

Es habe ihr weh getan, und sie sei richtig sauer auf ihn gewesen. Madame<br />

Ledoux, mit der sie wegen ihres Buches gesprochen habe, sei sehr traurig über<br />

ihn gewesen. Er melde sich nur sehr selten, berichte fast nur Formales und<br />

komme so gut wie gar nicht mehr nach Hause. Sie mache sich große Sorgen<br />

um ihn, wisse aber gar nicht, was sie tun könne, und wie sie an ihn ran<br />

kommen solle.<br />

Selbst wenn Daniel sich in Hamburg auch damals so idiotisch verhalten habe,<br />

mit Juliennes Liebeserfahrungen möge sie nicht tauschen. Sie habe zum ersten<br />

mal fast betrunken nach <strong>einer</strong> Party mit einem Jungen unangenehm gefickt,<br />

den sie nicht gekannt habe und den sie nie wiedergesehen habe. Es bedeute<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 99 von 209


ihr nicht viel. Mein Verhalten gegenüber Lucien sei für sie undenkbar. Wenn sie<br />

einen Freund habe, mit dem sie halbwegs klar komme, gehe sie auch mit ihm<br />

ins Bett, wenn sie Lust auf einen Mann habe. Wie lange die Beziehung halte,<br />

oder wie intensiv die gegenseitige Zuneigung oder gar Liebe sei, spiele für sie<br />

keine Rolle. Wie sie später mal leben wolle, und ob es für sie dann eine entscheidendere<br />

Rolle spielen werde, könne sie heute noch gar nicht sagen. Sie<br />

hielte Alyssias Einstellung für die Suche nach einem Ideal, wenn nicht nach der<br />

Verwirklichung eines Traumes, was ja bis jetzt bei ihr zu funktionieren scheine.<br />

Für sich selbst könne sie sich das aber überhaupt nicht realistisch vorstellen.<br />

Wenn es sich bei Alyssia weiterhin gut entwickele, sei das für sie vielleicht ein<br />

Vorbild für später. Aber jetzt sei es für sie selbst unvorstellbar, dass beide gern<br />

miteinander ins Bett gehen würden, man es aber trotzdem nicht mache.<br />

Alyssia machte sich auch Gedanken darüber, wie sich ihr Leben wohl verändern<br />

könnte, wenn sie mit Lucien schlafe, jetzt käme er manchmal von der Uni mit<br />

zu ihnen. Sie bringe ihn anschließend nach Hause und arbeite abends. An<br />

Samstagen oder Sonntagen unternähmen sie auch öfter gemeinsam etwas,<br />

aber wenn sie miteinander schlafen würden, wären sie sicher viel öfter zusammen<br />

und verbrächten viel mehr Zeit gemeinsam. Ihre Arbeit beeinträchtigen<br />

lassen, wolle sie dadurch aber auf keinen Fall. Es wäre prima wenn Lucien auch<br />

in Combaillaux wohne, dann könnten sie sich abends treffen, und gemeinsam<br />

die Nacht verbringen. Aber ohne Auto sei das nicht möglich. Sie versuchte es<br />

Lucien schmackhaft zu machen, nach Combaillaux zu ziehen. Für den Preis seines<br />

Zimmers in Montpellier bekäme er hier eine ganze Wohnung, und sie<br />

könnten sich sehen und treffen, wann immer sie Lust dazu hätten, im Übrigen<br />

hänge ihr das ständige Hin- und Zurückbringen zum Halse raus. Ob er seine Eltern<br />

denn nicht bewegen könne, ein wenig Geld für ein kleines Auto locker zu<br />

machen. Lucien habe lange nachgedacht und gemeint, die einzige Chance bestehe<br />

darin, dass sie noch einmal gemeinsam zu seinen Eltern führen. Dass er<br />

mit Alyssia jetzt befreundet sei, habe er ihnen schon gesagt.<br />

Luciens Eltern waren ganz angetan davon, dass ihr Sohn eine so berühmte<br />

Freundin habe. Sie hatten sie auch im Fernsehen gesehen, und hätten sie hervorragend<br />

gefunden. Warum sie denn bei ihrem ersten Besuch nichts davon<br />

gesagt hätten. Alyssia hätte erklärt, dass sich das alles erst später entwickelt<br />

habe, und dass sie immer noch sehr viel Arbeit mit dem Buch habe. Sie hätten<br />

dargestellt, wie entlastend es für ihre Freundschaft sei, wenn Lucien auch in<br />

Combaillaux wohnen könne, und dabei auf die Notwendigkeit eines Autos hingewiesen.<br />

Lucien habe zu s<strong>einer</strong> Mutter gesagt: „Mamon, du liebst mich doch,<br />

dann kannst du doch nicht wollen, dass die glückliche Liebe deines Sohnes an<br />

einem kleinen Auto zerbricht, und er deswegen für immer unglücklich sein<br />

wird. Ich liebe Alyssia über alle Maßen, aber der Zustand jetzt ist für uns beide<br />

unerträglich.“ Seine Mutter habe gelächelt, ihn an sich gedrückt und ihm über's<br />

Haar gestreichelt. Von ihr aus sei das kein Problem, aber sein Vater habe ziemlich<br />

festgefügte Vorstellungen darüber, wie man als Student zu leben habe,<br />

man brauche als Student nicht herumzufahren, sondern habe zu studieren. Am<br />

besten werde sie selbst mal mit ihm reden, wir sollten ihm gegenüber gar<br />

nichts davon erwähnen. Was sie Luciens Vater abends im Bett erzählt hatte,<br />

wussten sie nicht, auf jeden Fall sei sie lächelnd in Siegerpose morgens in die<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 100 von 209


Küche gekommen, und habe erklärt, dass er einverstanden sei. Später hätten<br />

sie gemeinsam darüber gesprochen, und Lucien habe erwähnt, dass so ein gebrauchter<br />

Kleinwagen ja schon für wenig Geld zu haben sei. Das habe Monsieur<br />

Renouard abgelehnt, dann habe er eventuell nur Probleme mit dem Auto und<br />

würde vielleicht öfter nicht zur Uni kommen. Wenn er ein Auto gebrauche, solle<br />

es auch schon ein ordentliches sein. Alyssia berichtete von ihren positiven<br />

Erfahrungen mit dem Citroën C3, und so einen in <strong>einer</strong> unteren Preisklasse<br />

sollte er auch bekommen. Lucien sei überglücklich gewesen und habe seine Eltern<br />

umarmt und sich tausendfach bedankt.<br />

Zurück in Combaillaux und Montpellier habe alles in die <strong>Wege</strong> geleitet werden<br />

können. Alyssias Hintergedanken habe Lucien natürlich nicht gekannt. Eine<br />

Wohnung war für Lucien in Combaillaux noch nicht gefunden, als er eines<br />

Nachmittags wieder mit zu ihnen gefahren sei. Als es später geworden sei habe<br />

Alyssia auch Wein getrunken und Lucien habe gefragt, ob Julienne ihn gleich<br />

nach Hause bringe. Alyssia habe gemeint, dass sie das wohl nicht machen würde,<br />

weil er und Alyssia heute Abend etwas zu feiern hätten. Dann habe sie ihm<br />

erklärt, dass sie genau heute vor einem Jahr ihren ersten gemeinsamen Kaffee<br />

getrunken hätten, und sie dafür gesorgt habe, dass sie sich wieder treffen würden,<br />

da müsse er hierbleiben und heute Nacht hier schlafen. Er habe aber<br />

nichts dabei, hätte er immer noch nicht verstanden. Er brauche nichts, habe<br />

Alyssia erklärt, er selber würde ihr voll ausreichen. Lucien habe gelächelt und<br />

sie erstaunt mit großen ungläubigen Augen angeschaut. Nach ausgiebigem leidenschaftlichem<br />

Küssen hätten sie sich gegenseitig ausgezogen, und die ganze<br />

Nacht über immer wieder neu geliebt. Alyssia meinte sie würde es völlig anders<br />

als früher empfinden. Sie nehme sich als viel leidenschaftlicher war, es sei für<br />

sie viel erfüllender und sie habe große Lust, es immer zu wiederholen. Es sei<br />

ungeheuer anstrengend, aber unbeschreiblich schön gewesen. Sie freue sich<br />

riesig darauf, dass Lucien sehr bald bei ihnen wohnen werde.<br />

Als Alyssia das erzählte, fielen mir meine ersten Nächte mit Ralf ein. Genauso<br />

hatte es sich für mich damals dargestellt. Für mich war es auch ein völlig neues<br />

Erlebnis, von dem ich nicht hatte genug bekommen können. Vielleicht ist die<br />

Grundlage für das Lustempfinden erblich und wird von der Mutter auf die<br />

Tochter übertragen, aber vielleicht geht es ja auch den meisten <strong>Frau</strong>en so ähnlich,<br />

wenn sie in absolut glücklichen Situationen Ficken als neues Glücksgefühl<br />

entdecken. Camille war natürlich auch über alles informiert und freute sich für<br />

Alys. Sie habe die beiden auf der Hochzeitsfeier als ein traumhaftes Paar empfunden.<br />

Lucien habe ihr auch sehr gut gefallen. Er habe auf sie einen freundlichen,<br />

sensiblen, intelligenten und gebildeten Eindruck gemacht. Ihr sei es gut<br />

erklärlich, dass die beiden sich gut verstehen und gerne mögen würden. Sie<br />

könne sich kaum vorstellen, dass es zwischen den beiden so bald zu Problemen<br />

kommen könnte. Alys habe ihr zögerliches Verhalten damit begründet, dass er<br />

ihr zu wertvoll sei, um schnell mit ihm ins Bett zu kommen, und Lucien habe ja<br />

sehr viel auf sich genommen und ertragen, um Alyssia nicht zu verlieren. Beiden<br />

sei ja auch, unabhängig vom Sex, sehr viel aneinander gelegen. Ich war<br />

der Ansicht, dass meine Besuche die beiden jetzt eher stören würden. Das sah<br />

Camille überhaupt nicht so. Jetzt würden sich sogar zwei freuen, wenn ich<br />

käme, denn Lucien habe sich ihr gegenüber bewundernd über Alyssias Mutter<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 101 von 209


geäußert und er würde sich sicher genauso freuen, wenn ich käme. Wenn Lucien<br />

mal einige Wochen in Combaillaux wohne, und sich eingelebt hätte, wollte<br />

ich das mal testen.<br />

Neue Pläne für die Kanzlei<br />

In der Kanzlei war es für mich allmählich ein wenig uninteressanter geworden.<br />

Ich erledigte zwar alles noch wie immer, aber die große Freude, die ich lange<br />

Zeit gehabt hatte, wenn ich morgens hinfuhr, wollte sich nicht mehr einstellen.<br />

Die Arbeit war mir zwar nicht unangenehm geworden, aber es gab keine neuen<br />

Entwicklungen mehr. Wir hatten die Kapazitätsgrenzen ausgeschöpft, eine Erweiterung<br />

war hier nicht mehr möglich. Es ereignete sich nichts Neues mehr.<br />

Auch wenn fast jeder Rechtsfall anders geartete Probleme behandelte, schien<br />

die Arbeit auf Grund unserer mittlerweile schon jahrelangen Erfahrung langsam<br />

zur Routine zu werden, eine Institution, in der sich nichts mehr ereignete. Mir<br />

bereitete diese Entwicklung Missfallen. Ich beriet mich mit Anja darüber. Sie<br />

habe das zwar selbst bislang noch nicht so empfunden, stimmte aber m<strong>einer</strong><br />

Einschätzung zu. Wir überlegten, ob es irgendwelche Auswege geben könne.<br />

Probleme, von denen wir immer wieder hörten bestanden darin, dass es bei<br />

Rechtsfällen im Ausland häufig zu Unsicherheiten und groben Benachteiligungen<br />

kam. Möglicherweise würde eine Rechtsberatung für Firmen, die im Ausland<br />

zu bauen beabsichtigten, gern in Anspruch genommen. Eine Hilfe beim<br />

Eintreten von Rechtsfällen sei eventuell auch ganz nützlich. Wenn wir dann<br />

noch kompetente, vertrauensvolle Anwälte im Ausland vermitteln könnten,<br />

wäre das ein weiterer Vorteil. Wir hatten allerdings von der Gesamtlage nicht<br />

den Ansatz eines Überblicks, konnten nicht einschätzen, wie hoch der Bedarf<br />

wo war, und konnten auch nicht im entferntesten einschätzen, ob so eine Einrichtung<br />

überhaupt gewinnbringend einzurichten und zu betreiben war. Wir<br />

hatten nur zufällig von eklatanten Einzelfällen gehört. Wir wussten noch nicht<br />

einmal ad hoc, wo wir uns denn gezielt informieren konnten. Das einzige was<br />

wir wussten war, dass es so gut wie kein Land gab, in dem deutsche Anwälte<br />

Mandanten direkt vor Gericht vertreten konnten, und das die Baurechtsordnung<br />

und die Gerichtsbarkeit fast in jedem Land völlig anders geregelt waren.<br />

Wir mussten uns also, bevor wir uns irgendwo zu entschließen konnten, umfangreiche<br />

Kenntnisse einholen. Wenn auch noch keine neue Perspektive, so<br />

doch zumindest eine Aufforderung, sich mit Neuem auseinander zu setzen, das<br />

sich eventuell zu <strong>einer</strong> Perspektive entwickeln könnte.<br />

Ralf ist unzufrieden und organisiert sein Institut um<br />

Abends im Bett erzählte ich Ralf davon. Er fragte, warum wir uns denn mit so<br />

riskanten Angelegenheiten beschäftigen würden. Ob uns die Kanzlei nicht reichen<br />

würde. Wir verdienten hervorragend, seien voll beschäftigt, was wir denn<br />

noch mehr wollten. Als ich ihm erklärte, wie wir darauf gekommen seien,<br />

meinte er: „Das ist doch Unfug. Kein Mensch lebt in <strong>einer</strong> permanenten Aufbruchphase.<br />

Bei mir ist es doch genauso. Seit dem alles läuft, tun wir im Prin-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 102 von 209


zip doch immer die gleiche oder ähnliche Arbeit. Und ich bin froh, dass es so<br />

ist. Alles andere wäre eine überflüssige zusätzliche Belastung. Jedem Arzt,<br />

Rechtsanwalt, Lehrer oder Apotheker geht es doch im Grunde nicht anders.“<br />

„Ralf, liebst du mich eigentlich noch?“ fragte ich ihn. „Wie kommst du denn auf<br />

so etwas?“ äußerte er sein Erstaunen auf meine Frage. „Die Art, wie du mit mir<br />

sprichst, tut mir weh. Du legst keinen Wert darauf, mich verstehen zu können,<br />

sondern zensierst mich schroff, wie du es früher bei deinen Schülern nie getan<br />

hättest. Meinst du etwa, das würde mich dazu verleiten, mich auch weiterhin<br />

mit meinen Plänen und Vorstellungen vertrauensvoll an dich zu wenden, oder<br />

wäre es dir sowieso lieber, wenn ich meinen eigenen Streifen durchziehen würde,<br />

und dich damit nicht belästigte?“ erklärte ich ihm den Hintergrund m<strong>einer</strong><br />

Frage. Ralf richtete sich im Bett auf, dachte kurz nach und schaute mich an. Er<br />

beugte sich zu mir runter und küsste mich. Dann meinte er, mit dem Kopf auf<br />

seinen linken Arm gestützt: „Das ist nicht in Ordnung, <strong>Ruth</strong>, überhaupt nicht in<br />

Ordnung. Ich weiß auch nicht, wie ich dazu komme. Wenn ich abends aus dem<br />

Institut komme, fühle ich mich immer total erschöpft. Ich möchte eigentlich<br />

nur noch Ruhe haben. Es kommt mir tagsüber gar nicht stressig vor, und es<br />

läuft eigentlich auch alles absolut reibungslos. Ich kann völlig zufrieden sein,<br />

aber glücklich bin ich nicht, eher das Gegenteil. Wenn ich abends nach Hause<br />

komme, habe ich meist eine graue, leicht reizbare Stimmung. Ich sehe deine<br />

Liebe und Schönheit gar nicht mehr. Ich habe vorrangig das Bedürfnis, in Ruhe<br />

gelassen zu werden. Und dann reagiere ich so unmöglich wie jetzt. Ich denke<br />

mir nichts dabei, es kommt einfach so raus, und hat wahrscheinlich seine Wurzeln<br />

in der Unzufriedenheit mit mir selber.“ „Warum bist du denn abends so<br />

fertig, arbeitest du zu viel oder zu intensiv?“ fragte ich ihn. Ralf zog fragend die<br />

Schultern hoch: „Ich weiß es auch nicht. Zuviel Arbeit kann es nach m<strong>einer</strong><br />

Einschätzung nicht sein. Es hat sonst häufig Phasen gegeben, in denen ich wesentlich<br />

mehr gearbeitet habe, und ich fühlte mich gut und locker hinterher.<br />

Zum Beispiel die Woche in Magdeburg war total zugeladen mit Arbeit, und die<br />

Rückfahrt war stressig, aber ich war doch nie mies drauf, wenn ich hier ankam,<br />

im Gegenteil mir ging's doch gut und ich hab mich gefreut, dass ich wieder zu<br />

Hause war. Jetzt trägt alles so einen leicht grauen Schleier. Wenn ich an die<br />

Grundschulzeit zurück denke, das wahr eine wunderbare Atmosphäre. Die Kleinen<br />

gaben einem so viel Liebe und Zuneigung zurück und auch die Kommunikation<br />

mit den Studenten hat mir selber viel gegeben. Und heute? Nichts von<br />

dem. 50 Prozent Verwaltung und Organisation und 50 Prozent Beratung in Problemen.<br />

Es gibt mir nichts, außer dass ich mir selbst sage 'Du machst es gut,<br />

Ralf, du hältst den Laden prima am Laufen.'“ „Mein Liebster, das hört sich gar<br />

nicht gut an. Ich bin ratlos. Komm ganz nah zu mir. Ich will deine traurige<br />

Seele wärmen.“ forderte ich Ralf auf. Wir küssten und wir liebten uns, und<br />

lächelten uns an und uns kamen die Tränen. „Ralf, mein Liebster, wir werden<br />

uns etwas überlegen. Uns ist immer noch etwas eingefallen. So darfst du das<br />

nicht weiter laufen lassen, für dich selbst nicht und für mich erst recht nicht.<br />

Wo soll das denn hinführen, wenn du meine Schönheit nicht mehr siehst.“<br />

meinte ich zu ihm wieder lächelnd. „<strong>Ruth</strong>, ich liebe dich immer noch wie am<br />

ersten Tag, auch wenn wir uns verändert haben und die Ausdrucksformen<br />

andere sind. Und wenn du mal vermuten solltest, dass das nicht so wäre, dann<br />

musst du mir helfen, dann bin ich einfach krank.“ erklärte Ralf. Es dauerte<br />

noch lange, bis wir in dieser Nacht zum Schlafen kamen.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 103 von 209


Mir schien es so, dass Ralf immer das Feedback <strong>einer</strong> Kommunikation mit anderen<br />

Menschen brauchte, und das genau gab es bei der Arbeit in seinem Institut<br />

überhaupt nicht. Ich war der Ansicht er brauche so etwas wie Diskussionsforen,<br />

Seminare oder Gesprächskreise und solle dafür, Aufgaben wie Organisation<br />

und Verwaltung und auch Einzelfallberatung delegieren. Im Prinzip<br />

fand Ralf das auch nicht schlecht, man müsse nur prüfen, ob und wie sich das<br />

realisieren lasse. Nach einem Vierteljahr war alles geregelt. Für die Organisation<br />

und Verwaltung war eine junge Sozialpädagogin, die beim Jugendamt gearbeitet<br />

hatte und mit der Ralf sich prächtig verstand, eingestellt. Ein Arbeitskreis<br />

Hamburger Pädagogen, war ins Leben gerufen worden, der staatlich bezuschusst<br />

wurde, 14 tägig zu unterschiedlichen Themen veranstaltet wurde,<br />

und bei LehrerInn und ErzieherInnen großen Anklang fand. Die Einzelfallberatungen<br />

waren auf zwei pro Woche reduziert worden, da er sie in seinem Institut<br />

nicht ganz abschaffen konnte. Die neuen Einnahmen deckten zwar die neu<br />

entstandenen Kosten nicht, aber dafür wurde mein Ralf nicht nur zufrieden,<br />

sondern wieder glücklich.<br />

Elias Schüleraustausch<br />

Für Elias sollte auch ein Schüleraustausch für ein Jahr geplant werden. Er wollte<br />

auch lieber nach Frankreich als in die USA, obwohl er keine persönliche Beziehung,<br />

wie Alyssia damals hatte. Und auch im Französisch Unterricht in der<br />

Schule war er zwar nicht schlecht aber keineswegs besser als im Englischen.<br />

Was ihn bewegte, war womöglich ein Ensemble mehrerer Faktoren. Die positiven<br />

Erfolge für Alyssia spielten wahrscheinlich eine Rolle, die Freundschaft mit<br />

Camille und ihrem Mann Christoph, unser letzter Urlaub in Frankreich und auch<br />

sicher die Tatsache, dass Alyssia in Frankreich lebte. Wie viel sie ihm bedeutete,<br />

und wie sehr er sie bewunderte, äußerte er nie direkt, aber man konnte es<br />

an indirekten Reaktionen spüren. Er hatte zum Beispiel in der in der Schule<br />

überall damit geprahlt, seine Schwester sei jetzt eine ganz berühmte Dichterin<br />

in Frankreich, die im Fernsehen auftrete und von der man überall Bücher kaufen<br />

könne. Er bettelte auch öfter, doch mal mitfliegen zu dürfen, wenn ich am<br />

Wochenende Alys besuchte. Seine alte Kinderliebe war nicht gebrochen, auch<br />

wenn sie nur sehr wenig miteinander zu tun hatten. Elias erklärte, Französisch<br />

sei auch eine Weltsprache, die in sehr vielen Ländern auf der ganzen Welt gesprochen<br />

werde. Aber Christoph machte ihm auch klar, was er auch immer<br />

studiere, zum Beispiel Medizin, müsse er seine Arbeiten in Englisch schreiben<br />

können, sonst würde sie niemand lesen. Schul- oder Computerenglisch würden<br />

dazu nicht ausreichen. Dann wolle er nach Frankreich nach Amerika, aber zuerst<br />

nach Frankreich. Vielleicht war das auch gar nicht so schlecht, dann<br />

brauchte er keinesfalls zum Lycée, was ja auch schwieriger war und ihn in der<br />

Oberstufe beeinträchtigt hätte. Alle wollten eruieren, welche Möglichkeiten es<br />

gab und welche am geeignetsten erschienen. An s<strong>einer</strong> Schule existierte die<br />

Möglichkeit eines Austausches mit <strong>einer</strong> Schule in Marseille, Hamburgs<br />

Partnerstadt, für gegenseitig 14 tägige Besuche, aber das war ja Spielerei.<br />

Marseille wäre prinzipiell aber nicht schlecht gewesen, dann hätte Alys ihn auch<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 104 von 209


gut mal besuchen können. Camille hatte beim deutsch französischen<br />

Jugendwerk eine Annonce aufgegeben, von denen der Austausch auch noch<br />

finanziell unterstützt werden konnte. Als ich Lucille anrief, weil ich sie bitten<br />

wollte, doch wenigstens für eine Woche zu uns zu kommen, damit sie mal ein<br />

wenig Abstand gewinne und auf andere Gedanken komme, fand sie das eine<br />

prima Idee. Wir drei <strong>Frau</strong>en würden bestimmt viel Spaß miteinander<br />

bekommen. Nebenbei erwähnte ich, das Elias jetzt auch für ein Jahr nach<br />

Frankreich wolle. Lucille erklärte, dass er doch wohl selbstverständlich zu ihnen<br />

käme, es sei denn er wolle selbst etwas anderes. Sie könne das sicher<br />

zusagen, weil sie wisse, dass ihr Mann das auch bestimmt begrüßen werde. Mir<br />

war das ein wenig problematisch, weil Ledoux bestimmt nichts dafür<br />

annehmen würden, aber vielleicht würde es Camille und mir ja mit vereinten<br />

Kräften gelingen Lucille zu überzeugen. Ich fragte Elias, was er davon halten<br />

würde, und er war absolut begeistert. Als ich Lucille mitteilte, das Elias total<br />

begeistert sei, erklärte sie mir, dass er dann auch am besten im Notre Dame<br />

Institut das Collège besuchen würde. Das sei die gleiche Schule, die Alyssia<br />

besucht besucht habe, und da dürfte es dann ja wohl keine Probleme geben.<br />

Ihr Mann, der übrigens ganz begeistert sei, werde das sicher morgen oder<br />

übermorgen mit der Schule abklären. „Lucille, wir werden gar nicht so viel<br />

Wein bei euch bestellen können, dass wir das wieder gut machen könnten.<br />

Aber sag mir bitte, wann du kommst. Wir freuen uns über jeden Tag, den du<br />

länger bleiben kannst, aber weniger als eine Woche ist es nicht erlaubt.“ teilte<br />

ich ihr mit. Sie würde alles heute oder morgen abklären, und mich dann<br />

informieren. Sie freue sich schon darauf.<br />

Als Lucille anrief, erklärte sie, dass mit der Schule alles geregelt sei. Man habe<br />

ihren Mann auf Alyssia angesprochen, und gemeint, das hätten damals schon<br />

alle festgestellt, dass sie nicht nur ein normales fleißiges Mädchen sei. Dass sie<br />

bei ihrem TV-Interview das Lycée so lobend erwähnt habe, hätte alle gefreut.<br />

Für ihren Besuch gebe es zwei Möglichkeiten. Entweder sie komme Anfang August<br />

und nehme Elias dann im Laufe des Monats mit, damit er sich vor Schulbeginn<br />

noch ein wenig einleben könne, oder sie komme jetzt in der nächsten<br />

Zeit. Ich fragte Camille, ob sie im August zu Hause sei, und Lucilles Besuch<br />

konnte auf Anfang August festgelegt werden.<br />

Neue Situation für Alyssia<br />

Ich informierte Alyssia, dass Elias für ein Jahr zu Ledoux gehen würde und in<br />

ihrer alten Schule das Collège besuchen werde. Sie fand es auch toll. Dann<br />

werde sie ihn mal in der Schule besuchen. Sie hätte immer schon mal daran<br />

gedacht, zur Schule zu fahren. Fast alle Lehrerinnen und Lehrer hätten ihr ganz<br />

liebe E-Mails zu ihrem Buch geschickt und sie eingeladen. Dann fragte sie<br />

mich, wann ich denn mal endlich wieder vorbei käme. Lucien habe auch schon<br />

mehrfach nach mir gefragt. Er habe jetzt seit 2½ Wochen eine kleine Wohnung<br />

in Combaillaux und sein Auto habe er auch schon. Es sei wunderbar. Meistens<br />

käme er Abends zu ihnen, dann kochten sie zusammen, hätten viel Spaß oder<br />

könnten auch stundenlang diskutieren, und dann gingen sie zusammen in die<br />

Falle. Sie müsse sich oft ein wenig kontrollieren, damit sie morgens auch halb-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 105 von 209


wegs ausgeschlafen sei. Ich sagte ihr, dass ich das sehr gut nachempfinden<br />

könne. Mir sei das nicht anders ergangen, als ich zuerst mit Ralf zusammen<br />

gewesen sei. Vielleicht hätte sie das von mir geerbt. „Ja, Mamon, das ist ganz<br />

furchtbar. Wenn ich mich nicht bremse, möchte ich immer bis zur Besinnungslosigkeit.<br />

Lucien sagt ich sei ein wildes Tier.“ erklärte sie näher. „Genau so.“<br />

kommentierte ich. Wie wir das denn geregelt bekommen hätten, wollte Alys<br />

wissen. Wir hätten uns ein Limit gesetzt, Maximum zwei mal. Und da hätten<br />

wir uns dann auch dran gewöhnt, und die anfängliche Sucht und das wilde Bedürfnis<br />

hätten auch nachgelassen, erklärte ich ihr. Dann bestehe ja noch Hoffnung<br />

für sie, meinte Alys scherzhaft. „Aber Mami,“ erklärte sie, „es ist nicht<br />

nur der Sex. Es ist für mich ein ganz neuer Lebensabschnitt angebrochen.<br />

Nicht mehr allein im Bett zu liegen, zu lesen, zu träumen und dann einzuschlafen,<br />

sondern immer seinen Liebsten da zu haben, ihn streicheln, küssen, und<br />

mit ihm lachen zu können, von ihm liebkost und verwöhnt zu werden, und das<br />

jeden Abend. Das finde ich so fantastisch, nur zum Einschlafen bringt mich das<br />

zur Zeit noch nicht. Ich möchte, dieses Gefühl immer haben. Der Gedanke,<br />

dass ich es einmal nicht mehr so empfinden könnte, ist für mich zur Zeit unvorstellbar,<br />

aber wahrscheinlich unrealistisch. Ich glaube, wir sollten mal wieder<br />

dringend miteinander reden.“ Das könnten wir ja machen, wenn ich käme.<br />

Ich würde schauen, wann ich einen Flug bekäme und würde sie informieren.<br />

Dann fiel Alyssia ein, dass sie auch vorgehabt hätten, im August nach Hamburg<br />

zu kommen. Ob das ungünstig für Lucille sei, wenn sie mit Lucien dann<br />

auch dort wäre. Ich meinte wir sollten es uns doch beide noch einmal überlegen.<br />

Im Moment habe ich gar keine eindeutige Meinung dazu.<br />

Südostasien Pläne<br />

Die Pläne für unsere Auslandsberatung konnten wir zwar näher konkretisieren,<br />

schienen aber nicht erfolgversprechender. Firmen über das jeweilige Baurecht<br />

informieren zu können, war ein überflüssiges Angebot. Die entsprechenden<br />

Richtlinien kannte natürlich jede Investitionsberatungs- und Architekturfirma,<br />

die in der Lage war, derartige Bauvorhaben auszuführen. In Frage kamen<br />

sowieso nur China, Südostasien und allenfalls Brasilien. Die einzige Chance<br />

hätte darin bestanden, in den Ländern selbst ein Netz von Vertrauensanwälten<br />

anbieten zu können, das in der Lage war, in Problemfällen zu helfen. In China<br />

wurde zwar am meisten gebaut, die Bauordnung war aber keine Sammlung<br />

von Rechtsvorschriften, sondern eher eine Beschreibung des Systems, und die<br />

Entscheidung durch die Behörden nicht auf dem Rechtsweg anzufechten. Eine<br />

anwaltliche Beratung war hier neben den Kenntnissen der Planungsfirmen völlig<br />

überflüssig. Blieben allenfalls noch die sehr heterogenen und teilweise ominösen<br />

Bedingungen in den übrigen Südostasien Staaten. Wir mussten uns mit<br />

den Bedingungen und Möglichkeiten detaillierter beschäftigen. Ich fand den Artikel<br />

eines Juristen über ein Verfahren gegen eine Deutsche in Indonesien. Er<br />

schien sich mit indonesischem Recht sehr gut auszukennen. Ich schickte ihm<br />

eine Mail, und bat ihn, sich doch bitte mal mit mir in Verbindung zu setzen. Er<br />

promovierte über die Entwicklung des Indonesisch Rechtssystems. In Thailand<br />

hatte er nach dem Abitur eine Art soziales Jahr verbracht, und seine Liebe zu<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 106 von 209


Südostasien entwickelt. Zu Bau- und Architekturrecht habe er überhaupt keinen<br />

Bezug, aber es dürfe nicht schwierig sein, das für die südostasiatischen<br />

Länder zu erkunden. Ich bot ihm an, dass doch als unser Beschäftigter zu tun,<br />

da für uns der Zugang sehr mühsam sei. Wir trafen uns, um die Details abzuklären.<br />

Ein sehr netter, lebendiger und sensibler junger Mann, den ich für den<br />

Beruf eines Juristen für viel zu schade hielt. Ich stellte mir vor, wie sich der<br />

arme junge Mann als Student vom Repetitor hatte quälen lassen müssen, und<br />

wie er eventuell in <strong>einer</strong> Behörde langsam verbogen und verformt würde. Er<br />

erinnerte mich an Pitt, den Referendar in der Baubehörde, nur dass er keine<br />

traurigen Züge aufwies, sondern ausgesprochen lebhaft wirkte. Meine Freude,<br />

mich mit ihm zu unterhalten, trug wahrscheinlich auch dazu bei, dass es ein<br />

sehr anregendes Gespräch wurde, und Herr Kühne, sein Name, Interesse und<br />

Lust für die Aufgabe und die Zusammenarbeit mit uns entwickelte. Wir hatten<br />

uns auf Anhieb prächtig verstanden, und ich bot ihm auch an, für seine Arbeit<br />

ein Büro bei uns zu benutzen. Wir könnten uns dann bei Fragen zu Baurechtsangelegenheiten<br />

immer direkt austauschen, er könne unser System benutzen<br />

und von hier aus seine Telefonate und Recherchen durchführen. Er wollte es<br />

sich noch überlegen. Ich mochte ihn, hätte ihn gern in m<strong>einer</strong> Nähe gehabt<br />

und würde sein frisches natürliches Lächeln gern öfter sehen. Als ich nach Hause<br />

fuhr, freute ich mich über den Tag in der Kanzlei. Es schien mir nicht nur,<br />

dass wir unserer neuen Perspektive, ein greifbares Stück näher gerückt waren,<br />

es freute mich auch mit Andreas Kühne zusammenzuarbeiten. Seine Persönlichkeit<br />

zeichnete in mir das Bild <strong>einer</strong> Knospe, die einen kommenden Frühling<br />

ankündigte.<br />

Besuch mit Roussillon-Tour<br />

Drei Wochen später war ich in Montpellier. Lucien fiel mir auch um den Hals<br />

und küsste mich überschwänglich. Ich war völlig überrascht, von ihm so intensiv<br />

begrüßt zu werden. Es kam wir vor, als ob er plötzlich, dadurch dass er<br />

auch in Combaillaux wohnte und mit Alyssia schlief, sich ähnlich wie vielleicht<br />

meinen Schwiegersohn verhielt. „Lucien,“ sagte ich zu ihm, „du verwirrst mich.<br />

Jetzt weiß ich gar nicht, wer sich mehr über meinen Besuch freut, Alyssia oder<br />

du.“ Er erklärte mir freudig, dass er jetzt auch in Combaillaux wohne und alles<br />

weitere, was ich schon wusste. Bei Alys überlegten wir, wie wir das Wochenende<br />

verbringen, könnten. Die eine Möglichkeit sei wie üblich mit Einkaufen in<br />

Montpellier, die andere, die Alys vorschlug, war eine Tour das Roussillon runter<br />

über Béziers, Narbonne, Perpignan, Colliure bis Banyules-sur Mer nahe der<br />

spanischen Grenze. Es gebe dabei eine unendliche Vielzahl an Sehenswürdigkeiten,<br />

malerischen Orten und schönen Landschaften, dass wir in zwei Tagen<br />

nur sehr selektiv vorgehen könnten, aber es würde sie auch sehr interessieren,<br />

da sie selbst bislang nur wenig gesehen hätte. Sie kenne sich besser in<br />

Richtung Westen, Camargue und Marseille aus. In Banyules könne ich den<br />

süßesten Wein kaufen, den ich je in meinem Leben getrunken hätte. Er<br />

schmecke, wie Likör aber ganz hervorragend. Lucien fand die Tour durch das<br />

alte katalanische Frankreich auch spannend. Er lerne gerade katalanisch und<br />

habe dazu ein Seminar belegt, und da ich mich auch frisch und<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 107 von 209


unternehmungslustig und nicht müde und ruhebedürftig fühlte, wurde es so<br />

vereinbart. Wir wollten am Morgen früh los, also nicht mehr viel Wein und bald<br />

ins Bett. Die beiden wirkten morgens beim Aufstehen ganz frisch und nicht wie<br />

nach <strong>einer</strong> exzessiven Nacht. Ich fragte Alyssia, ob sie sich gut kontrolliert<br />

habe. Sie lächelte mich an, umarmte und küsste mich, und flüsterte mir ein „Ja<br />

Mami“ ins Ohr. Mit einem langgezogenen „Ah“ atmete sie aus, „es ist jede<br />

Nacht wieder wunderschön. Ich möchte, dass ich es in meinem Leben nie<br />

anders empfinden werde. Darüber müsste man mal Gedichte schreiben, aber<br />

das wird dann sicher ordinär.“ Wir lächelten uns an, wie zwei wissende <strong>Frau</strong>en,<br />

die sich untereinander mehr als nur verstehen. Nur zu unserem geplanten<br />

Gespräch ist es an diesem Wochenende gar nicht gekommen. Es wurde eine<br />

wunderschöne, anregende und sehr interessante Tour, obwohl es fast<br />

unerträglich heiß war. Wir kamen wie geplant am ersten Tag bis Perpignan und<br />

übernachteten dort. Am folgenden Tag widmeten wir uns Perpignan, Colliure<br />

und Banyules so ausführlich, dass wir beinahe nicht rechtzeitig genug für<br />

meinen Flieger zurück gekommen wären. Lucien bedankte sich für meinen<br />

Besuch und riet mir, nicht so lange zu warten bis zum nächsten mal. Ich<br />

erklärte ihm, dass ich frühestens Ende September wiederkommen werde, da<br />

sie ja im August zu uns kämen, und wir vorher Besuch hätten. Die beiden<br />

wollten jetzt Mitte August kommen, da Alyssia und ich meinten, dass ihrer<br />

beider Anwesenheit Lucille doch wohl leicht traurig stimmen könne. Sie wollte<br />

dann, wenn Elias am Collège sei, Ledoux alleine besuchen.<br />

Elias Vorbereitung auf den Austausch<br />

Elias hatte Camille gefragt, ob sie ihm nicht auch ein wenig helfen könne, damit<br />

er in Frankreich keine Probleme bekomme. Sie informierte ihn über Fächer<br />

im Collège, und welche Anforderungen ihn erwarten würden. Sie meinte, er<br />

müsse noch an s<strong>einer</strong> französischen Kommunikation arbeiten. Deshalb sprachen<br />

sie während ihrer Treffen auch nur französisch, und wenn Camille Elias im<br />

Haus traf oder beim Essen redete sie auch immer französisch mit ihm. Sie versuchte<br />

ihm zu vermitteln, das es unerlässlich sei, französisch zu denken, und<br />

nicht deutsche Denkweise ins Französische zu übertragen. Camille meinte,<br />

dass er Fortschritte gemacht habe, und durchaus zurecht kommen werde.<br />

Zurecht kommen, das würde Elias auch reichen. Es war ganz anders als bei<br />

Alyssia. Dieser eigenständige Drang, Zusammenhänge und Sachverhalte für<br />

sich zufriedenstellend völlig geklärt haben zu wollen, war bei ihm nicht vorhanden.<br />

Wenn Camille sagte, er würde es schon schaffen, dann reichte ihm das,<br />

dann brauchte er sich nicht weiter anzustrengen. Alyssia war es unwichtig, was<br />

andere sagten, solange sie nicht für sich selbst die Überzeugung gewonnen<br />

hatte, dass etwas für sie befriedigend geklärt sei. Sich mit Versicherungen oder<br />

Beschwichtigungen anderer zufrieden zu geben, solange sie noch selbst offene<br />

Fragen oder Klärungsbedarf hatte, war für sie undenkbar. Das war schon so,<br />

seitdem sie als kleines Kind anfing, Fragen zu stellen. Ich war oft überrascht<br />

und freute mich, wenn sie plötzlich mit <strong>einer</strong> Frage zu <strong>einer</strong> Angelegenheit<br />

kam, die ich schon vor Tagen für geklärt gehalten hatte. Anscheinend hatte sie<br />

es die ganze Zeit verarbeitet und war dabei doch noch auf eine ungeklärte<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 108 von 209


Tatsache gestoßen. So eroberte sie sich nicht nur die Welt, in dem sie immer<br />

Neues dazu kennen lernte, sondern es entwickelte sich auch eine kleine starke<br />

Persönlichkeit, der es wichtig war, dass für sie selbst immer alles stimmig blieb.<br />

Sie war immer sehr einsichtig und hörte gut zu, aber sie zu etwas zu<br />

überreden, dass sie nicht selber wollte, war bei ihr nie möglich, gleichgültig,<br />

von wem es versucht wurde. Ich war davon begeistert, und ein wenig neidisch,<br />

dass ich als Kind nicht hatte selber so sein können. Von anderen bekam ich oft<br />

viel Kritik zum Umgang mit m<strong>einer</strong> Tochter zu hören. Schon als Baby hatte<br />

man mir vorgeworfen, sie zu <strong>einer</strong> Klette zu entwickeln, die ohne die Mama<br />

nicht lebensfähig sein werde. Ich liebte es, Alyssia immer dicht bei mir am<br />

Körper zu haben, und sie liebte es auch. Ich redete immer mit ihr, nicht Baby-<br />

Talk, sonder sprach über alles Mögliche, erklärte ihr, was in der Politik gerade<br />

passierte oder wer wie welches Fußballspiel gemacht hatte. Ihre großen<br />

Kulleraugen schauten mich dabei unentwegt an, und verfolgten alles ganz<br />

genau, als ob sie mich verstehen würde. Manchmal schien sie mitdiskutieren<br />

zu wollen, öffnete den Mund und gab ein paar „Öh, öhs“ von sich, und wenn<br />

ich selber lachen musste über den Unsinn, den ich gerade erzählt hatte, fing<br />

Alyssia auch an zu lächeln. Wenn sie mal missmutig zu werden schien,<br />

brauchte ich sie mir nur auf den Bauch zu legen, und ihr etwas zu erzählen. Ich<br />

dachte zwar nicht, dass sie irgendetwas von dem, was ich erzählte, verstehen<br />

könne, aber bei Sprachstil, Rhythmus und Melodie schien sie durchaus<br />

Differenzierungen vornehmen zu können. Wenn ich ihr zum Beispiel erklärte,<br />

dass jetzt langsam die Zeit zum Schlafen käme, ihr Geschichten davon<br />

erzählte, wer auf der Welt jetzt schon alles schlafe und träume, fing Alyssia an<br />

zu gähnen. Wahrscheinlich erzählte ich so etwas unbeabsichtigt in einem<br />

schläfrigen Tonfall, der bei ihr derartige Reaktionen auslöste. Jetzt sollte diese<br />

kleine Klette auf einmal zu selbständig und eigenmächtig sein. Mir kam es<br />

immer vor, als ob sich die allgemeinen Vorstellungen zum Umgang mit Kindern<br />

primär in den Klischeevorstellungen vergangener Zeiten bewegten, obwohl sich<br />

die Menschen selbst für modern und aufgeschlossen hielten.<br />

Warum Elias nicht so eine eigenständige Persönlichkeit hatte und es stärker<br />

bevorzugte, sich an anderen zu orientieren, war auch für Ralf ein Rätsel. Britta<br />

und er hätten ihn sicher immer auch sehr liebevoll behandelt. Vielleicht sei es<br />

der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen. Jungen seien vielleicht eben<br />

viel kantiger und holziger und nicht so sensibel wie Mädchen. Im Übrigen seien<br />

<strong>Frau</strong>en ja sowieso viel frecher als Männer, wofür ich ja ein beredtes Beispiel<br />

sei. Ralf wusste, wie er Diskussionen beenden konnte, aber jetzt wollte ich<br />

nicht. In gewisser Weise tat Elias mir ein wenig leid. Er war ein hübscher, netter<br />

und freundlicher Junge, und von zu geringer Sensibilität konnte bei ihm sicher<br />

keine Rede sein, nur er schien es sich zu verbieten, dies öffentlich erkenntlich<br />

werden zu lassen. Es wurde ihm nicht nur in der Schule vorgelebt,<br />

wie Jungen zu sein hatten, auch die Erwachsenen sprachen ihn ja immer auf<br />

Angelegenheiten an, die sie vermeintlich für Jungen als interessant erachteten.<br />

Wie sensibel, feinfühlig und empfindlich er war, bekam ich zu spüren, wenn ich<br />

ihn Abends ins Bett brachte, bzw. jetzt ihm Gute Nacht wünschte. Dann<br />

kuschelte er sich auch heute noch an mich, und erzählte und fragte, wozu er<br />

sich öffentlich nicht getraut hätte. Jetzt standen natürlich für ihn auch<br />

Beziehungsfragen im Vordergrund. Mädchen fände er alle blöd, außer Alyssia,<br />

Cynthia, Britta und mich natürlich. Alyssia und Cynthia, die seien liebevoll zu<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 109 von 209


ihm gewesen. Das könne er sich zum Beispiel von keinem Mädchen in s<strong>einer</strong><br />

Klasse vorstellen, die seien dagegen alle Tussis. Er würde später bestimmt mal<br />

eine viel ältere <strong>Frau</strong> heiraten. Ich konnte ihn beruhigen. Früher hatte er mir<br />

mal erklärt, dass er mich auch gerne Mutti nennen würde. Nach ausführlichem<br />

Gespräch darüber, hatte ich ihm erzählt, wie sehr ich mich gefreut hatte, als<br />

ich Ralf zum ersten mal meinen Namen sagen hörte, und wenn ich von ihm<br />

mich heute <strong>Ruth</strong> nennen höre, erinnere mich das oft daran. Seit dem blinzelten<br />

wir uns öfter zu, wenn er meinen Namen sagte. Den Bedarf nach Mutti schien<br />

die neue Bedeutung meines Namens für ihn völlig ausgelöscht zu haben.<br />

Unsere Beziehung war sehr vertrauensvoll und intim, aber ich konnte ihm ja<br />

nicht einfach sagen, dass es besser für ihn sei, wenn er mal ein wenig selbstbewusster<br />

werde, und selbständiger seine eigenen Interessen suche und verfolge.<br />

Aber wo konnten seine eigenen Interessen zu finden sein. Außer mit<br />

Christophs Anatomie Atlanten beschäftige er sich nur mit sogenannten jungentypischen<br />

Angelegenheiten. Ralf meinte, wenn ich ihn für so sensibel halte,<br />

könne es doch nicht falsch sein, ihm etwas Kreatives oder Musisches näher zu<br />

bringen. Eine hervorragende Idee. Ich hatte mich immer dafür verurteilt, das<br />

ich es bei Alyssia völlig versäumt hatte, und jetzt war es bei Elias schon wieder<br />

passiert. Da wollten wir etwas tun. Auch wenn er jetzt eine tolle Idee gehabt<br />

habe, erklärte ich Ralf, sei seine vorherige Bemerkung über <strong>Frau</strong>en im Allgemeinen<br />

und mich im Besonderen nicht gesühnt. Auch seine vorgetäuschte Müdigkeit<br />

konnte ihn nicht der Strafe entziehen. Wenn sich in Gesprächen ein<br />

sinnvolle Perspektive aufgezeigt hatte, fühlte ich mich befreit, und es stimmte<br />

mich lustvoll. Dann brauchte ich diesen Mann, als ob ich mit ihm den Höhepunkt<br />

feiern wollte.<br />

Lucille in Hamburg<br />

Als Lucille in Hamburg ankam, war der Himmel verhangen, und es regnete permanent.<br />

Ein kühler Nordwest-Wind verstärkte den Eindruck, dass es sich eher<br />

um die ersten November- als Augusttage handeln würde. Lucille wollte wissen,<br />

ob denn bald auch Schnee fiele, sie habe gar nicht gewusst, dass sie in Winterurlaub<br />

fahre. Wir beruhigten sie, und meinten, wer in Hamburg nicht von der<br />

Sonne in seinem Herzen leben könne, habe hier keine Überlebenschance. Die<br />

schien im Haus bei uns drei Weibern fast ständig. Jede kam immer wieder auf<br />

neue verrückte Ideen, die vielfach auch umgesetzt wurden. Ralf und Christoph<br />

sahen sich zu Statisten degradiert, die uns nur zuschauen oder sich von uns<br />

einbeziehen lassen konnten. Lucille saß einmal im Sessel, hatte ein Buch auf<br />

dem Schoß liegen, und schaute in die Ferne. Dabei liefen ihr langsam Tränen<br />

aus den Augen, die sie auf der Wange immer gleich mit der Hand verwischte.<br />

Sie wusste nicht warum. Sie sei glücklich und traurig zugleich. So frei, unbeschwert<br />

und glücklich habe sie sich seit ihrer Jugend nicht mehr gefühlt. Am<br />

liebsten würde sie hier bleiben, oder wir beide sollten zu ihr ziehen. Jetzt lachte<br />

sie wieder. Nicht dass sie ihren Henri nicht mehr liebe, es sei nach wie vor<br />

nahezu perfekt für sie, nur mit Freundinnen, Verwandten oder Bekannten entstünden<br />

solche Situationen nie. Da bleibe sie immer die Madame Ledoux, die<br />

einen guten Eindruck machen müsse. Nicht dass sie auch lachen und Freude<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 110 von 209


haben könne, aber die kleine ausgelassene, alberne Lucille, dürfe es nicht geben.<br />

Sie fühle sich seitdem sie hier sei so frei von irgendwelchen Zwängen und<br />

Ansprüchen, und habe wohl noch nie in ihrem Leben so viel gelacht. Wir drei<br />

seien die richtigen Hexen, die öfter zusammentreffen müssten, und zwar um<br />

Glück und Freude zu verbreiten.<br />

Sie war jetzt seit über <strong>einer</strong> Woche bei uns, aber das Wort Daniel hatte Lucille<br />

noch nicht erwähnt. Wollte sie uns nicht die Freude verderben, oder störte es<br />

sie selber, sich jetzt damit beschäftigen zu müssen. Als es mal ein wenig ernster<br />

war, und wir beide allein in der Küche saßen, sprach ich es von mir aus an.<br />

Ich vermutete, es würde sie traurig machen und ihr leicht Tränen in die Augen<br />

treiben, aber sie redete ganz gefasst darüber. Sie und mehrere Verwandte hätten<br />

alles versucht. Daniel erkläre nur, es sei alles in Ordnung, sie brauchten<br />

sich keine Sorgen zu machen. Als sie ihm mal verdeutlicht habe, dass für ihn<br />

vielleicht nach außen alles korrekt erscheine, er aber im Grunde mit s<strong>einer</strong><br />

Mutter nicht mehr rede, habe er sie wissen lassen, dass sie akzeptieren müsse,<br />

dass er erwachsen sei, und ein eigenständiges Leben führe und nicht mehr mit<br />

Mamon alles besprechen müsse. Das sei nicht mehr ihr Daniel. Wenn er zurückkomme<br />

würde sie zwar jederzeit die Arme ausbreiten, aber so, wie er sich<br />

jetzt verhalte, existiere er für sie nicht mehr. Ob er komme oder nicht, sei ihr<br />

ziemlich egal, solange er sich nicht anders benehme. Sie bedauere es manchmal,<br />

nicht mehr Kinder bekommen zu haben, dann würde es vielleicht nicht so<br />

schmerzen, ein Kind zu verlieren, als wenn es das einzige sei. Aber sie sei sich<br />

gar nicht sicher, ob der Verlust eines Kindes für die <strong>Frau</strong> nicht immer gleich<br />

schlimm sei, egal ob es das einzige oder eins von vieren sei.<br />

Sie habe sich viel aufgeregt und oft geweint. Henri sei ihr eine große Hilfe gewesen,<br />

aber jetzt habe sie es abgeschlossen. Sie habe sich entscheiden müssen,<br />

ob und wie sie weiterleben wolle. Das Problem ein Leben lang jammernd<br />

mit sich herumzutragen, sei schließlich keine Lösung und mache es für sie<br />

selbst nur noch unerträglicher.<br />

Ich bewunderte Lucille. Sie machte auf mich einen starken Eindruck. Sie schien<br />

es sich nicht nur einzureden, sondern ehrlich zu leben. Ein wenig machte sie<br />

mir aber auch Angst. Ich war mir sicher, dass ich das nicht könnte, es aus rationalen<br />

Erwägungen einfach abzuhaken. Es würde mich ein Leben lang beschäftigen<br />

und nicht in Ruhe lassen. Ich glaube die Formulierung: „Alle Möglichkeiten<br />

versucht“ könnte es für mich nicht geben. Vielleicht würde ich für<br />

uneinsichtig gehalten, aber das wurde ich in Bezug auf meine Tochter schon<br />

öfter, und hat mich nie im Geringsten gestört.<br />

Unser Gespräch schien Lucille keineswegs die Stimmung verdorben zu haben.<br />

Sie machte den Eindruck, ganz froh zu sein, es mal gesagt zu haben. Mich<br />

selbst schien es nachdenklicher zu stimmen als sie.<br />

Ich hatte mit Lucille auch lange über Elias gesprochen. Sie meinte, vielleicht<br />

würde er sich ja auch wie Alyssia für den Weinbau interessieren, andererseits<br />

genieße die Schule einen hervorragenden Ruf, besonders auch im künstlerisch<br />

kreativen und musischen Bereich. Sie wollten mal versuchen, ob es dort nicht<br />

Ansatzpunkte für ihn gebe, zumal seine Mutter ja auch selber Kunstlehrerin<br />

sei. Wir drei <strong>Frau</strong>en wollten uns das nächste mal bei Ledoux treffen. <strong>Wege</strong>n<br />

Camille waren wir ja auf die Ferien angewiesen. Weihnachten schien uns unpassend<br />

und Ostern viel zu lang hin, also avisierten wir gleich die Herbstferien.<br />

Beim Abschied gab es keine Tränen. Stolz stieg Elias mit Madame Ledoux in<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 111 von 209


den Zug. Er schien sich sehr zu freuen und würde ja auch sicher von Lucille<br />

umhegt und umpflegt werden. Für die <strong>Frau</strong>en-Crew war es ja auch kein trauriger<br />

Abschied, wir freuten uns eher schon auf unser baldiges Widersehen.<br />

Elias in Frankreich<br />

Elias war begeistert von der Fahrt nach Valence. Auch wenn sie sehr lang gedauert<br />

habe, sei es mit Madme Ledoux sehr unterhaltsam gewesen. Sie sei<br />

sehr lustig, und er habe fast alles verstanden. Er freue sich jetzt noch viel<br />

mehr als vorher. Auch wenn er hoffe, dass es sehr schön werde, solle ich ihn<br />

nicht vergessen und immer an ihn denken. Das sei doch selbstverständlich,<br />

versicherte ich ihm, aber es verwunderte mich schon ein wenig, wie er auf solche<br />

Gedanken kam.<br />

Anruf aus Montpellier<br />

In drei Tagen wollten Alyssia und Lucien kommen. Julienne rief mich an: „Vien<br />

vite, Madame Stein!“, dann war Lucien am Telefon: „Kommen sie schnell, sehr<br />

schnell <strong>Frau</strong> Stein! Alyssia ist ein Unfall.“. Ich machte ihm klar, er solle es lieber<br />

ruhig auf Französisch erklären. Alyssia hatte bei der Rückfahrt von Montpellier<br />

einen schweren Unfall gehabt. Sie habe eine schwere Kopfverletzung<br />

und sei sofort in der Universitätsklinik operiert worden. Ob sie überleben werde,<br />

wisse man nicht. Kommen sie sofort <strong>Frau</strong> Stein. Wir holen sie am Flughafen<br />

ab, erklärte Lucien mit <strong>einer</strong> Stimme, die sich anhörte, als ob er selbst verunglückt<br />

sei. Ich ließ mir kurz Luciens und Juliennes Nummer geben, und telefonierte<br />

mit dem Reisebüro. „Ich brauche jetzt sofort einen Flug nach Montpellier.“<br />

gab ich die Anweisung. „Das geht nicht“ war die Antwort von der Gegenseite.<br />

„Doch,“ war meine Reaktion, „das muss gehen und zwar jetzt sofort auf<br />

der Stelle, egal wie und wie teuer. Finden sie was, sonst kauf ich mir ein Flugzeug.“<br />

„Moment mal,“ wurde ich aufgefordert zu warten. Dann kam der Chef<br />

persönlich: „Selbstverständlich können sie heute noch fliegen, <strong>Frau</strong> Stein. Sie<br />

müssten sich allerdings ein wenig beeilen. 16:55 Uhr geht der letzte Air France<br />

Flieger, dann währen sie um 22:45 Uhr in Montpellier, Business natürlich. Ansonsten<br />

gibt es natürlich jederzeit Privatjets, das dürfte etwa bei 5.000 € liegen.“<br />

Ich würde in spätetens 5 Minuten zurück rufen. Ich informierte kurz die<br />

anderen. Viel erzählen konnte ich ja auch nicht. Ich wusste ja nur, dass es<br />

nicht klar war, ob sie überleben würde. Camille fragte, ob sie mitkommen solle.<br />

Warum eigentlich nicht, fragte ich mich. Dann hatte ich wenigstens jemanden<br />

mit dem ich reden konnte. Sollten wir dann nicht lieber einen Privatjet<br />

nehmen, der Business-Flug würde mich ja auch 3.500 € kosten, wir brauchten<br />

nicht zu hetzen, und wären viel früher und nicht erst fast in der Nacht in Montpellier.<br />

O. K. Ich bestellte einen Flieger für 17:00. Wir brauchten ja am Flughafen<br />

nicht zu warten, wir würden in Ruhe das Notwendigste einpacken, und Ralf<br />

könnte uns hinbringen. Ich war in dem ganzen Stress noch gar nicht dazu gekommen,<br />

mir zu vergegenwärtigten, was eigentlich passiert war. Es wurde mir<br />

erst deutlich, als Camille mir Mitgefühl zeigend über den Rücken strich. Ich<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 112 von 209


hatte bislang gar kein Gefühl gehabt, außer möglichst schnell nach Montpellier<br />

kommen zu müssen. Ich war auch geschockt, was sollte ich denn fühlen? Es<br />

sollte meine Alyssia von einem zum anderen Moment nicht mehr geben. Das<br />

konnte nicht sein, da konnte ich mich nicht mit beschäftigen. Wenn ich daran<br />

dachte, was passiert war, fühlte ich mich einfach nur hilflos und orientierungslos.<br />

Im Auto zum Flughafen wiederholte ich noch mal, was ich wusste, aber es<br />

war ja nichts, außer dass Alyssia wegen eines Autounfalls mit Kopfverletzung<br />

zwischen Leben und Tod schwebte. Beim Abschied am Flugzeug standen Ralf<br />

die Tränen in den Augen, ich selbst, die sonst bei jeder Kleinigkeit losheulte,<br />

konnte gar nicht weinen. Ich fragte den Piloten, wann und wo genau wir ankommen<br />

würden, und teilte es Lucien mit. Er saß mit Julienne in Combaillaux<br />

zusammen. Sie wollten uns beide abholen. Alyssia sei mit Luciens Wagen gefahren,<br />

aber das könnten wir ja alles später besprechen. Im Jet sagte kaum jemand<br />

etwas. Die Stewardess kam sich völlig überflüssig vor, weil wir nur ruhig<br />

allein gelassen werden wollten. Camille weinte manchmal still vor sich hin,<br />

aber mir kam keine Träne. Ich starrte nur konsterniert in die Gegend.<br />

Ankunft in Montpellier<br />

Zwischen 20 und 21 Uhr kamen wir in Montpellier an. Lucien und Julienne erklärten<br />

uns, wie der Unfall sich ereignet hatte. Ein Mercedesfahrer hatte in <strong>einer</strong><br />

völlig unübersichtlichen Kurve einen Lastwagen überholt und war mit Alyssia<br />

dabei, ohne dass jemand noch bremsen konnte, frontal zusammengestoßen.<br />

Der Mercedes sei zwar auch Schrott, aber dem Fahrer sei außer einem<br />

Schreck nichts passiert. Alyssia habe sonst auch keine nennenswerten Verletzungen,<br />

außer diesem Metallstück, dass sich ihr von schräg hinten durch die<br />

Schädeldecke gebohrt habe.<br />

An der Klinik wollte man uns natürlich abwimmeln. Aber ich war schließlich<br />

nicht hergekommen, um mal erst ruhig schlafen zu gehen. Ich wollte wissen,<br />

ob meine Tochter noch lebte, und ich ginge nicht eher, bis ich mit einem Arzt<br />

gesprochen hätte. Der Mann an der Pforte telefonierte und schickte uns dann<br />

zu <strong>einer</strong> Station, wo wir einen Arzt treffen würden. Der erklärte, er sei heute<br />

Nachmittag dabei gewesen. Es sei eine sehr schwierige Operation gewesen, sie<br />

hätten ihr Möglichstes getan und seien ja anscheinend auch erfolgreich gewesen.<br />

Aber bei derartigen Operationen wisse man nie sicher, ob nicht in den<br />

nächsten Tagen doch noch Blutungen aufträten oder sich Gerinnsel bildeten,<br />

die alle Mühen zunichte machten. Und wenn sie durchkäme, was wäre dann,<br />

wollte ich wissen. „Ich will ihnen nichts vormachen Madame, aber mit Beeinträchtigungen<br />

werden sie sicher rechnen müssen. Es sind ja ganze Teile ihres<br />

Gehirns definitiv zerstört worden.“ antwortete er. Mit welchen Beeinträchtigungen<br />

eventuell zu rechnen sei, könne man überhaupt nicht prognostizieren, aber<br />

die Verletzungen seien schon sehr massiv gewesen. „Ich will sie sehen! Wo ist<br />

sie?“ „Entschuldigen sie Madame, aber das geht wirklich nicht. Sie ist natürlich<br />

auf der Intensivstation, und da können wir jetzt nicht hin“ meinte er. Ich gab<br />

mich nicht zufrieden: „Wissen sie wer meine Tochter ist?“ er nickte „ich habe<br />

mich vor einem Monat von ihrem strahlenden Gesicht verabschiedet, und ich<br />

möchte sie noch einmal sehen, bevor sie morgen früh vielleicht tot ist.“ Jetzt<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 113 von 209


kamen mir die Tränen, ungewollt aber vielleicht ganz günstig. Der Arzt verzog<br />

das Gesicht. „Alle vier oder nur die Mutter?“ fragte er noch. Ich erklärte ihm,<br />

das wir alle vier Alyssias engste Freunde seien. Er telefonierte kurz, dann<br />

gingen wir rauf. Die Ärztin erklärte, dass bei Alyssia alles ganz stabil sei, und<br />

keine Irritationen aufgetreten seien. Wir konnten sie durch eine Scheibe<br />

betrachten. Sie lag voller Schnüre zwar aber wie friedlich schlummernd in<br />

ihrem Bett. Ihr Kopf trug zwar einen großen Verband. Aber ihr Gesicht war<br />

völlig unverändert. Es machte keinen gequälten Eindruck, sie schien eher ein<br />

wenig zu lächeln. Zu ihr ins Zimmer konnte ich aber nicht mehr. Das war dann<br />

doch zu viel. Vielleicht morgen oder übermorgen tagsüber mal kurz. Jetzt hatte<br />

ich sie zumindest gesehen und wusste, wo sie war.<br />

Die große Traurigkeit wollte sich bei mir aber immer noch nicht einstellen. Ich<br />

hatte eher eine ungeheure Wut auf Menschen, die so etwas taten, mal eben<br />

zum schnelleren Fortkommen die Tötung eines anderen Menschen in Kauf nehmen.<br />

Man sollte solche Menschen nicht nach dem Straßenverkehrsrecht behandeln,<br />

sondern sie wegen Totschlags verurteilen. Jeder weiß, dass es so kommen<br />

kann. Was denken solche Leute eigentlich? Ich habe immer Glück, bei mir<br />

passiert das schon nicht, oder meinen sie der Straßenverkehr sei sowieso ein<br />

Spiel auf Leben und Tod, da müsse man mit so etwas eben immer rechnen. Ich<br />

wusste nicht was ich dem Mann antun würde, wenn er jetzt hier wäre. Einfach<br />

mal so meine Alyssia totzufahren, das war für mich unfassbar. Das hätte er<br />

wahrscheinlich nie gewollt oder getan, aber er hat schließlich etwas getan, bei<br />

dem er wusste, dass er es billigend in Kauf nehmen würde.<br />

In Combaillaux angekommen, legte sich meine Wut ein wenig. Ich wollte wissen,<br />

ob die Strecke nach Montpellier denn besonders gefährlich sei. Eigentlich<br />

nicht, meinte Lucien. Sie sei zwar recht kurvenreich, aber da gäbe es eine<br />

Menge viel schwierigerer Strecken. Die Vorstellung, möglicherweise die nächsten<br />

15 Kilometer hinter einem Laster her zockeln zu müssen, erhöhe wahrscheinlich<br />

die Risikobereitschaft der Fahrer, aber wie der Fahrer das in so <strong>einer</strong><br />

engen Kurve habe machen können, sei ihm auch völlig unverständlich. Wahrscheinlich<br />

denken die Leute, wenn in den letzten 10 Minuten kein Gegenverkehr<br />

vorhanden war, wird in den nächsten 30 Sekunden auch sicher k<strong>einer</strong><br />

kommen.<br />

Julienne erklärte, dass sie es alleine gar nicht aushalten könne. Die Polizei<br />

habe sie hier aufgesucht, weil es Alyssias Adresse gewesen sei, sie habe sofort<br />

Lucien informiert und dann hätten sie beide mich angerufen. Sie sei auch für<br />

sich froh, das wir beide so schnell gekommen seien. Allein in dem Haus zu sein<br />

und daran zu denken, dass Alyssia vielleicht im Sterben liege, sei ihr unerträglich.<br />

Lucien wollte auch nicht allein in s<strong>einer</strong> Wohnung sein. Er könne das tatenlose<br />

Abwarten nicht ertragen. Er könne nichts machen, nichts lesen, es<br />

zwinge sich ihm immer wieder der Gedanke auf, wie es Alyssia wohl ginge und<br />

was werden würde. Er sei froh, mit anderen Menschen zusammen sein zu können,<br />

und mit ihnen zu reden.<br />

Camille lobte mich noch für mein Vorgehen in der Klinik. Ohne mich hätten wir<br />

Alyssia in der Klinik mit Sicherheit nicht zu sehen bekommen. Ich wollte am<br />

nächsten Morgen mal allein zur Klinik fahren.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 114 von 209


Erste Berührung mit Alyssia<br />

Nach dem Frühstück fuhr ich schon sehr rechtzeitig los. Auf der Intensivstation<br />

wollte man mich sofort wieder vor die Tür weisen. Ich erklärte kurz, worum es<br />

gehe und man mir gestern Abend versichert habe, ich dürfe heute tagsüber zu<br />

Alyssia ins Zimmer. Die Schwester und der Arzt schauten sich zweifelnd an.<br />

„Aber Madame, was wollen sie denn dort. Ihre Tochter wird sie nicht hören, sie<br />

wird sie nicht sehen, sie wird gar nicht bemerken, dass sie da sind. Sie befindet<br />

sich in tiefster Bewusstlosigkeit.“ versuchte mir der Arzt zu erklären. „Ich<br />

möchte meine Tochter wenigstens noch einmal lebendig berührt haben, noch<br />

einmal ihre Hand gehalten haben, bevor sie morgen vielleicht tot und kalt ist.“<br />

reagierte ich und mir kamen wieder die Tränen. Wahrscheinlich kam ich durch<br />

meine theatralischen Formulierungen leichter zum Weinen, als durch die tatsächliche<br />

Situation, in der sich Alyssia befand. Der Arzt wollte mich belehren,<br />

dass ich das so nicht sehen dürfe, mit jedem weiteren Tag potenziere sich die<br />

Hoffnung, dass sie es schaffen werde. Das sie es bis jetzt geschafft habe, sei<br />

schon ein ganz großer Schritt. Am kritischten seien die ersten Stunden nach<br />

der Operationen, aber wenn sie jetzt auch schon die ganze Nacht überstanden<br />

habe, berechtige das zu sehr guten Hoffnungen. Dann öffnete er mir die Tür<br />

und meinte noch. „Aber ganz kurz und sehr zurückhaltend.“ Es war für mich<br />

richtig erhebend, meine Alyssia wieder berühren zu können, und selbst zu spüren:<br />

„Sie lebt wirklich noch. Ihre Hände sind ganz warm.“ Ich streichelte ihr<br />

Gesicht, betastete ihre Lippen, ihre Augenbrauen, ihre Nase. Sie war es wirklich,<br />

und ich musste sie einfach wieder hier zurück lassen.<br />

Ich fragte den Arzt, wie denn das Finanzielle zu regeln sei. Sie müssten die<br />

Rechnungen nämlich an mich privat schicken und wo ich denn einen Termin<br />

beim Chef bekommen könne. Er erklärte mir alles, und als ich ins Büro vom<br />

Chef kam, war er gerade selbst anwesend. Als er mitbekam worum es ging,<br />

meinte er, ich könne ja nicht so lange warten, bis ich einen Termin bekomme,<br />

es sei ja dringend. Wenn es mir möglich wäre, solle ich doch am besten Morgen<br />

schon vor der Visite kommen. Wenn es ginge schon um 7:30 Uhr, dann<br />

hätten wir eine ganze Stunde Zeit. „So lernt man auch mal die Mutter kennen.“<br />

meinte er zum Abschied. Als ich ihn mit großen fragenden Augen anschaute,<br />

fügte er hinzu „Na von unserer süßen Poetin. C'est formidable, très formidable,<br />

Madame.“. Mittlerweile hatte es sich wohl nicht nur im Krankenhaus herum gesprochen,<br />

wer Alyssia war, es stand heute in allen Zeitungen und gestern<br />

Abend war sogar in den Nachrichten kurz erwähnt worden, dass die Ärzte um<br />

ihr Überleben kämpften. Ma chèr, ganz Frankreich nahm Anteil an ihrem<br />

Schicksal, nur sie selbst bekam nichts davon mit. Trotzdem war ich mir sicher,<br />

dass sie es schaffen würde. Einen Grund gab es dafür nicht. Allein das Gefühl,<br />

Alyssia angefasst zu haben, sie berührt und gestreichelt zu haben, bereitete<br />

mir ein kleines Hochgefühl, und auch der Professor, der von Zweifeln nichts<br />

hatte erkennen lassen und nicht zuletzt der Stationsarzt, der von der sich potenzierenden<br />

Hoffnung gesprochen hatte, verstärkten meine Sicherheit, das sie<br />

überleben werde. Ich fuhr richtig gut gelaunt zurück nach Combaillaux, und<br />

berichtete den anderen. Sie wollten mir erzählen, dass es in der Zeitung stünde,<br />

aber ich wusste ja schon aus dem Krankenhaus, dass es überall in den Zeitungen<br />

stehe, und dass es sogar in den Fernsehnachrichten erwähnt worden<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 115 von 209


sei. Als ich stolz verkündete, ich sei sicher, dass Alyssia es schaffen werde, lächelten<br />

Julienne und Lucien, während Camille ihr Gesicht zu einem eher skeptischen<br />

Lächeln verzog. Sie meinte, ob es nicht riskant sei, sich zu früh zu freuen.<br />

Ich erklärte ihnen, dass man mir gesagt habe, ich könne mich nicht nur<br />

über jeden überlebten Tag freuen, sondern sich die Hoffnungen mit jedem Tag<br />

potenziere. Ich wolle mich jetzt freuen, dass sie mit jedem Tag einem immer<br />

größeren Schritt vorwärts tue, das gebe mir eine Perspektive, die ich mir auch<br />

nicht nehmen lassen wolle. Camille sollte mich morgen zum Professor begleiten,<br />

damit ich auch alles richtig mitbekäme. Mittags rief Lucille an. Ihr Mann<br />

Henri hatte es gestern bruchstückhaft im Fernsehen mit bekommen, aber heute<br />

stünde es ja in der Zeitung, ob ich reden könne und ihr Näheres erklären<br />

wolle. Natürlich konnte ich. Ich spürte keine Trauer, obwohl Alyssias Situation<br />

eindeutig sehr traurig war. Ich fühlte mich eigentlich eher gefordert für sie zu<br />

kämpfen, auch wenn ich tatsächlich gar nichts tun konnte. Vielleicht wollte ich<br />

nur stark und an ihrer Seite sein. Ich konnte mir meine emotionale Situation<br />

nicht rational erklären. Lucille weinte die ganze Zeit am Telefon und sagte nur<br />

immer wieder: „Ah, vous femme pitoyable!“ Ich meinte, sie solle lieber alle<br />

Geister beschwören, oder sonst etwas tun, damit Alyssia die erste Woche überstehe,<br />

dann sei sie voraussichtlich aus der schlimmsten Gefahr heraus. Ich erklärte<br />

ihr, dass ich sie selbstverständlich weiter informieren werde. Später erklärte<br />

Lucille mir verschämt, sie sei wirklich in die Kirche gegangen, und habe<br />

Kerzen für Alyssia angezündet, obwohl sie sonst noch nie in der Kirche war. Sie<br />

habe es nicht ertragen, nichts tun zu können. Elias hatten sie noch nichts gesagt,<br />

ob sie warten sollten, bis es Alyssia besser ginge. Ich war der Ansicht, sie<br />

sollten ihm nichts verheimlichen, sie sollten ihn auch lieber auffordern für Alyssia<br />

die Daumen zu drücken.<br />

Die anderen drei wollten auch mit zu Alyssia ins Zimmer. Ich hielt das für ein<br />

bisschen schwierig, aber vielleicht ließe sich ja morgen über den Professor etwas<br />

erreichen.<br />

Besuch beim Professor<br />

Der Professor erklärte, dass er eigentlich ganz zuversichtlich sei. Da sie die<br />

ersten Stunden und die Nacht gut überstanden habe, könne ihnen kein Fehler<br />

unterlaufen sein. Das sei die wichtigste Voraussetzung. Sicher, dass durch die<br />

veränderten Strukturen im Gehirn nicht an anderen Stellen eine Blutung auftreten<br />

könne, sei man natürlich nie. Es sei tatsächlich so, dass sich mit jedem<br />

überstandenen Tag, die Wahrscheinlichkeit drastisch verringere, so dass man<br />

nach <strong>einer</strong> Woche so gut wie sicher sein könne. Ich wollte wissen, was für bleibende<br />

Beeinträchtigungen Alyssia zu erwarten habe und welche Areale denn<br />

betroffen seien. „Madame,“ erklärte der Professor ernst „ich kann gut nachvollziehen,<br />

dass sie das sehr interessiert, nur bei der Operation geht es uns darum,<br />

das Leben ihrer Tochter zu retten, und dabei sind zwei Dinge wichtig, die<br />

sich eigentlich gegenseitig ausschließen, Geschwindigkeit und sehr exakte Arbeit.<br />

Wenn wir untersucht hätten, was genau in welcher Weise geschädigt sei,<br />

würde ihre Tochter heute nicht mehr leben, ja sie hätte nicht einmal die Operation<br />

überstanden. Ich kann ihnen aber <strong>einer</strong>seits Hoffnungen machen, die zen-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 116 von 209


tralen Körperfunktionen, wie Herz, Kreislauf und Atmung funktionieren ohne<br />

jede Beeinträchtigung. Auch ihre Motorik dürfte nicht betroffen sein. Bei der<br />

Sprache ist eine Störung allerdings wohl sicher zu erwarten. Der Metallstab ist<br />

genau am Brocka-Zentrum eingedrungen und hat es m<strong>einer</strong> Ansicht nach so<br />

gut wie vollständig zerstört. Bei vielen Funktionen ist man sich nicht ganz<br />

sicher, in wie weit sie nicht auch von anderen Bereichen übernommen werden<br />

können. Sie wird jedenfalls in Zukunft nicht völlig abwesend sein, ihre<br />

Großhirnrinde ist ja kaum betroffen.“ „Sie wird also aus dem Koma wieder<br />

aufwachen?“ fragte ich nach. Das wolle er doch stark hoffen, obwohl man da<br />

allerdings auch nie ganz sicher sein könne. Dazu wisse man viel zu wenig<br />

darüber, was den komatösen Zustand letztendlich verursache und was sich<br />

dabei genau im Gehirn abspiele. Nur nach seinen Erfahrungen müsse sie<br />

eigentlich im Laufe der nächsten Wochen, wenn sich alles wieder eingespielt<br />

habe, auch früher oder später wieder aufwachen. Er hoffe er habe uns alles<br />

sehr realistisch dargestellt, und nichts beschönigt. Er sei sehr, sehr<br />

zuversichtlich, nur eine Garantie könne er eben noch nicht geben. Ein bisschen<br />

stolz auf ihre Arbeit seien sie aber jetzt schon, denn bei ihrer Verletzung und<br />

der hohen Infektionsmöglichkeit, sei es sehr fraglich gewesen, ob sie<br />

überhaupt eine Überlebenschance haben werde. Für sie sei es eher ein Versuch<br />

gewesen, etwas fast unmöglich Scheinendes, doch schaffen zu können. Wir<br />

dankten dem Professor intensiv. Beinahe hätte ich es vergessen, ich wollte ihn<br />

ja noch auf den Zugang zur Intensivstation ansprechen. Er wollte wissen, wer<br />

das denn alles sei. Ich erklärte ihm nur ihre beste Freundin aus Deutschland,<br />

und wies auf Camille, ihre beste Freundin aus Frankreich, mit der sie<br />

zusammen lebe und ihr Verlobter, sagte ich einfach. Er schaute leicht und war<br />

einverstanden. Es sei nur wichtig, dass er die Kollegen auch informiere, die<br />

bewachten nämlich ihre Schützlinge sehr streng. Er lächelte und machte uns<br />

nebenbei noch Komplimente. Im Rausgehen wollte ich noch so kurz mal<br />

wissen, wie lange Alyssia denn wohl voraussichtlich im Krankenhaus bleiben<br />

müsse. „Madame,“ reagierte er leicht empört mit einem Lächeln, „über so<br />

etwas spreche ich jetzt nicht mit ihnen.“<br />

Das Gespräch hatte mich weiter aufgebaut, auch wenn ich wusste, dass Alyssia<br />

mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr würde sprechen können, und auch sonst<br />

wohl noch diverse Macken davon trüge. Dass sie überleben würde, galt für<br />

mich jetzt fast als Fakt. Sie würde sich bewegen und herumlaufen können und<br />

nicht ständig bettlägerig sein. Das war doch schon sehr positiv. Und wenn<br />

Herz, Kreislauf und Atmung funktionierten, würde es mit den anderen automatischen<br />

Regularien sicher auch klappen.<br />

Camille weinte immer auf der Rückfahrt. Ich meinte zu ihr, ich hätte viel Positives<br />

gehört, und würde mich eher freuen. „Wie kannst du dich freuen, wenn du<br />

erfährst, sie wird nicht mehr sprechen können und wahrscheinlich vieles andere<br />

mehr?“ fragte Lucille „Sie wird zerstört sein. Deine Alyssia, wie noch vor einigen<br />

Tagen, wird es nicht mehr geben, wie kannst du dich da freuen. Sie wären<br />

heute in Hamburg angekommen. Ich hatte mich sehr auf die beiden gefreut.<br />

Das wird sich nie mehr ereignen. Die Sonne, die unendlich viel Geld ausgegeben<br />

hat, um mir eine Freude zur Hochzeit zu machen, sie wird nicht mehr<br />

scheinen. Ich könnte unendlich Vieles weiter aufzählen. Das meiste wird man<br />

ja erst erfahren, wenn sie wieder aufwacht. Das wird nichts Positives sein. Man<br />

wird die Liste fortschreiben können, was alles nicht mehr ist, und ich vermute<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 117 von 209


sie wird sehr lang werden. Mich stimmt das endlos traurig, deine Freude kann<br />

ich nicht verstehen.“<br />

Ich musste lange überlegen, bevor ich darauf antworten konnte. Natürlich hatte<br />

sie recht, aber es schien mich gar nicht so sehr zu stören oder zu vereinnahmen.<br />

Bei mir stand ganz unbeabsichtigt das Positive im Vordergrund. Jeder<br />

Funke Hoffnung mehr, dass sie überleben würde, schien mir das Wichtigste. Ob<br />

ich immer so optimistisch empfand und dachte? Ich glaubte nicht. Ich meinte,<br />

es sei eher meine Beziehung zu Alyssia. Ich wollte zunächst mal mein Baby<br />

lebend haben, alles andere, was sie noch können würde, kam positiv hinzu.<br />

Natürlich wäre es schön, wenn sie noch sprechen könnte. Unsere Beziehung<br />

hatte sich ja zum sehr großen Teil über Reden und Gespräche aufgebaut. Aber<br />

wenn sie es nicht mehr könnte, würde ich es eben akzeptieren müssen. Ich<br />

sah es nicht aus der Perspektive, was vom Zustand vor einigen Tagen alles<br />

nicht mehr sein würde. Ich sah es aus der anderen Richtung, dass sie mit<br />

großem Glück überhaupt noch lebte. Alles Weitere schien mir als eine Zugabe,<br />

über die ich mich freute. Worüber sollte ich denn klagen, solange sie noch<br />

lebte, wenn ihr Tod die wahrscheinlichere Alternative gewesen war.<br />

Überrascht hatte mich vor allem Camilles direkter Tonfall. Sonst sprach sie immer<br />

sehr ausgeglichen, diplomatisch, jetzt hatte sie mich fast beschimpft. So<br />

hatte sie noch nie mit mir geredet. Aus ihrer eigenen Perspektive hätte sie sicher<br />

die Contenance verloren. Sie musste schon sehr erregt sein. Entweder aus<br />

Trauer über Alyssia, oder über meine Bemerkung, oder über beides zusammen.<br />

Ich wollte lieber mit ihr in Ruhe zu Hause darüber reden.<br />

In Combaillaux konnten wir den anderen alles ganz in Ruhe berichten. Mir kam<br />

es so vor, dass Julienne und Lucien die Nachrichten mehr erfreut als deprimierend<br />

aufnahmen. Lucien meinte den Namen des Profs schon mal gehört zu haben.<br />

Wenn er richtig läge, genieße er als Neurochirurg in Frankreich ziemliches<br />

Ansehen. Er müsse aber mal einen Mediziner fragen. Wenn das nicht in der<br />

Nähe von Montpellier, sondern in der Auvergne passiert wäre, würde Alyssia<br />

mit Sicherheit nicht mehr leben, meinte Lucien. Am meisten freuten sich die<br />

beiden aber darüber, dass sie zu Alys ins Zimmer durften. „Jetzt noch, oder<br />

morgen?“ fragte Lucien. Wir wollten morgen früh gemeinsam hin fahren. Ich<br />

glaubte, Lucien wäre am liebsten sofort losgebraust. Er schien am meisten darunter<br />

zu leiden, dass Alyssia nicht mehr anwesend war. Er lief meistens nervös<br />

umher, schaute mal ins Internet und und versuchte sich über das Gehirn und<br />

die Funktion der Regionen zu informieren. Julienne saß oft einfach mit enttäuschtem<br />

Gesichtsausdruck am Tisch, rauchte und starrte dabei stupide in die<br />

Gegend. Außer den Momenten, in denen es etwas zu berichten gab, und in denen<br />

das Essen zubereitet wurde, herrschte eine ziemlich trostlose Stimmung.<br />

Alle schienen zu warten, aber worauf wusste niemand. Ich sprach das beim<br />

Abendessen an, und meinte wir würden mit der trübseligen Stimmung niemandem<br />

helfen, am allerwenigsten Alyssia. Julienne bemerkte dazu: „Aber ich<br />

kann nicht etwas Lustiges machen und mich freuen. Es beschäftigt mich immer<br />

zu. Jetzt grüble ich zwar nicht mehr darüber, ob Alys morgen noch leben wird,<br />

aber wenn sie nicht mehr sprechen kann, und selbst sonst alles in Ordnung<br />

sein sollte, was ja eher unwahrscheinlich ist, wird sie nicht weiter französische<br />

Sprache studieren können. Wir werden uns voraussichtlich trennen. Ich kann<br />

damit nicht umgehen. Von einem Mann kann ich mich trennen, aber von Alyssia<br />

nicht. Sie war für mich wie eine liebevolle Schwester, was ich sonst nie er-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 118 von 209


fahren habe. Ich wüsste nicht, wer mir auf der Welt mehr bedeuten sollte, als<br />

Alyssia. Der Gedanke macht mich krank.“ und sie begann zu weinen. Camille<br />

hatte auch schon wieder ganz wässrige Augen und Lucien hatte auch aufgehört<br />

zu essen und blickte mit sehr ernstem Gesicht in die Runde. „Ich weiß gar<br />

nicht was ich denken soll.“ begann Lucien, „Ich fühle mich völlig hohl und leer.<br />

Auch wenn wir jetzt viel sicherer sein können, dass sie überleben wird. Wenn<br />

sie nicht mehr sprechen kann, das würde mich, glaube ich, gar nicht stören,<br />

obwohl wir ein ganzes Jahr lang fast nur miteinander geredet haben und<br />

unsere Beziehung sich darüber entwickelt hat. Aber jetzt ist es anders, ich<br />

würde sie gar nicht mehr hergeben wollen, egal wie. Es sei denn sie würde<br />

mich gar nicht mehr kennen und mich zurückweisen. Als Unbekannter erneut<br />

eine Beziehung mit ihr beginnen, das könnte und wollte ich nicht. Aber wir<br />

wissen ja nichts Genaues, außer dass sie voraussichtlich nicht mehr wird<br />

sprechen können, und eben einiges mehr, aber davon wissen wir überhaupt<br />

nichts. Für mich ist fast alles offen und ungewiss und in gewisser Weise<br />

beängstigend.“<br />

Ich konnte das alles gut nachempfinden und verstehen, nur sie sprachen von<br />

sich selbst und betrauerten ihre möglichen eigenen Verluste und Ängste. Das<br />

war ja auch durchaus legitim und angemessen. Aber meine Perspektive konnte<br />

und sollte das nicht sein. Wem sollte es denn helfen, wenn ich mich selbst beweinte,<br />

dass mein Glückskind und Stern, nicht mehr so sein würde, wie sie es<br />

noch vor <strong>einer</strong> Woche war. Ich brauchte mir solche Gedanken nicht extra zu<br />

verbieten, sie kamen gar nicht in mir auf. Allerdings wusste man natürlich<br />

überhaupt nicht, wie sich die zusätzlichen Beeinträchtigungen ausgestalten<br />

würden. Da hatte Lucien schon recht. Andererseits gab es ja eine unendliche<br />

Vielzahl an Möglichkeiten, und davon einige vielleicht besonders grausame<br />

durchzuspielen, hielt ich nicht nur für müßig, sondern für Panikmache, die jeder<br />

Grundlage entbehrte.<br />

Gemeinsamer Besuch in der Klinik<br />

An der Intensivstation wollte uns die Krankenschwester erst wieder nicht rein<br />

lassen. Als wir uns ein wenig aufregten, ließ sie uns warten. Die Ärztin, die wir<br />

schon von Dienstagabend kannten, entschuldigte sich. Es sei wohl nicht an das<br />

gesamte Personal weiter gegeben worden. Selbstverständlich konnten wir jetzt<br />

reinkommen. Zu Alyssia ins Zimmer durfte allerdings jeweils nur <strong>einer</strong>. Wer<br />

sollte zuerst? Ich meinte der Verlobte, der noch gar nichts von seinem Glück<br />

wusste. Lucien lächelte. Er blieb gar nicht lange. Streichelte sie überall kurz<br />

und gab ihr einen Kuss auf die Lippen. Als er herauskam meint er nur mit<br />

feuchten Augen: „Sie schläft. Sie ist schön.“. Ich bestimmte einfach Camille für<br />

den nächsten Zugang, sie sei die älteste Freundin. Camille hielt nur ihre Hand<br />

und streichelte ihren Unterarm sehr lange. Julienne gab ihr einen Kuss auf jede<br />

Wange, berührte ihre Schultern kurz und kam sofort wieder heraus gerannt.<br />

Sie weinte schon beim Herauskommen und schluchzte laut im Gang. Als wir sie<br />

trösten wollten, wehrte sie ab: „Nein, nein, es ist alles o. k.. Eigentlich freue<br />

ich mich. Ich kann einfach nicht anders.“, und versuchte, sich die Tränenflüsse<br />

aus dem Gesicht zu wischen. „Meine Liebe, wie sie so selig leicht lächelnd da<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 119 von 209


liegt. Ich weiß, ich werde dich lieben, meine Teure. Komm schnell zurück in die<br />

Welt, wir warten alle auf dich.“ dachte ich als ich bei Alyssia im Zimmer war,<br />

und hätte am liebsten ihre Hand haltend gewartet, bis sie die Augen aufmachte.<br />

Ich wollte die Ärztin noch fragen, wann sie denn wohl damit rechne. Ich<br />

hatte den Professor gar nicht gefragt, was er unter 'in den nächsten Wochen'<br />

genau verstehen würde. Die Ärztin meinte, dass es eine sehr schwierige Prognose<br />

sei. Am wahrscheinlichsten sei es in der nächsten oder übernächsten<br />

Woche. Danach fange es an immer problematischer zu werden. Je länger das<br />

Koma dauere, umso geringer werde die Wahrscheinlichkeit, wieder aufzuwachen.<br />

Wie sie es in Alyssias Bericht gelesen habe, könnten wir gute Hoffnungen<br />

haben.<br />

Der Besuch in der Klinik hatte bei allen die Stimmung gehoben. Sogar Julienne<br />

konnte wieder lachen. Ich glaube nicht, dass die Worte der Ärztin das bewirkt<br />

hatten. Es erfreut einen einfach, zu der geliebten Freundin wieder Hautkontakt<br />

gehabt zu haben. Es erinnerte mich an meine Situation mit Ralf im Landgasthaus.<br />

Wie kindliche Freude wir daran hatten, uns gegenseitig berühren zu können.<br />

Die Hand des anderen und sein Gesicht zu betasten. Wir machen das<br />

auch heute noch im Bett sehr oft. Es vermittelt einfach ein schönes zartes Liebesempfinden.<br />

Die gute Stimmung hielt auch weiter an. Wir fuhren jetzt allerdings getrennt,<br />

allein oder zu zweit. Die Übrigen unternahmen dann etwas Anderes. Beim gemeinsamen<br />

Abendessen hatten wir uns immer viel zu erzählen, und ein wenig<br />

feierten wir jeden weiteren Tag, den Alyssia überstanden hatte. Am Samstag<br />

trafen wir uns im Café, in dem Lucien und Alyssia sich immer getroffen hatten.<br />

Wir konnten das ohne große Wehmutsatacken. Julienne und Lucien waren vorher<br />

in der Klinik gewesen und Camille und ich wollten hinter her zu Alyssia. Es<br />

war ja jetzt schon der fünfte Tag. Noch zwei Tage und Alys hatte die Woche<br />

überstand. Von der Intensivstation wurde jeden Tag vermittelt, es sei alles völlig<br />

komplikationslos verlaufen. Wenn bis Montagabend alles glatt verlief, wollten<br />

wir ein wenig feiern.<br />

Ich fuhr noch am Montagabend relativ spät zur Klinik. Keine Probleme. Der<br />

Stationsarzt meinte, jetzt habe sie es wohl ziemlich sicher geschafft. Dass sich<br />

jetzt noch etwas Unvorhergesehenes ereigne, sei sehr, sehr unwahrscheinlich.<br />

„Madame Stein, ihre Tochter lebt. Freuen sie sich?“ sah mich der Stationsarzt<br />

strahlend an. Ich fiel ihm einfach um den Hals und gab ihm auf jede Wange<br />

einen Kuss. Mit Tränen in den Augen sagte ich: „Entschuldigung Monsieur, ich<br />

musste einfach meine Freude zum Ausdruck bringen. Das war für sie und alle<br />

ihre Kolleginnen und Kollegen, die das vollbracht haben. Ich bin ihnen unendlich<br />

dankbar. Geben sie ihnen das doch bitte weiter.“ Er meinte, die Kollegen<br />

würden sich ja selber freuen, wenn ihnen so etwas gelinge. Bei Alyssia sei man<br />

wegen der gravierenden Verletzungen und der starken Blutungen sehr skeptisch<br />

gewesen, ob sie die erst Nacht überstehen werde, aber sie hätten eben<br />

hervorragende Arbeit geleistet.<br />

Ich fuhr beschwingt nach Combaillaux zurück, jedes mal durch diese Kurve, in<br />

der es passiert war. Automatisch nahm ich immer das Gas zurück auf meist<br />

völlig unbefahrener Strecke.<br />

Zu Hause musste ich alles berichten, vor allem auch von dem hohen Risiko.<br />

Am ersten Abend hatte man uns das gar nicht vermittelt, wie problematisch<br />

die Nacht noch sein könnte. Ich stellte mir vor, als ich am Morgen in die Klinik<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 120 von 209


gekommen war, um Alyssia berühren zu können, sei sie tot gewesen. Jetzt<br />

hatte sie es endgültig geschafft. Die Freude war umso größer. Wir umarmten<br />

uns, küssten uns und stießen gemeinsam an. Dann musste ich unbedingt noch<br />

telefonieren und es allen weiter erzählen. Der restliche Abend gehörte uns Vieren.<br />

Camille, Julienne und Lucien hatten während m<strong>einer</strong> Zeit in Montpellier ein<br />

wunderbares Abendessen gezaubert, für das wir zwei Stunden und einige Flaschen<br />

Wein brauchten, um es zu vertilgen. Ich empfand es, wie einen großen<br />

Etappensieg, der Mut macht für den nächsten, wie die Basis, auf der sich alles<br />

Weitere entwickeln konnte. Ich fühlte mich befreit und wohlig. Jetzt lebte sie<br />

tatsächlich, meine, unsere Alyssia.<br />

Alyssia mach die Augen auf!<br />

In den folgenden Tagen geschah nichts. Es bestand zwar kein Lebensrisiko<br />

mehr, aber jetzt konnten wir es nicht ertragen, dass jeder Tag wie der vorherige<br />

war. Nichts geschah, immer das gleiche Bild. Wir rechneten jeden Tag damit,<br />

dass der Besucher aus der Klinik anrief, und verkündete: „Alyssia ist wach<br />

geworden!“ Aber nie rief jemand an. Alle kamen ohne Erfolgsmeldung zurück.<br />

Es war zermürbend. Eine ganze Woche hatten wir jetzt schon gewartet. In der<br />

Klinik mahnte man uns immer zu ein wenig mehr Geduld.<br />

Am Dienstagmorgen um 7:30 Uhr klingelte mein Telefon. Aus der Klinik rief<br />

man mich an: „Madame Stein, ihre Tochter ist aus dem Koma erwacht, aber es<br />

gibt Probleme. Kommen sie schnell.“ Welche Probleme es denn seien, wollte<br />

ich wissen. Das sähen wir dort, es sei wichtiger, dass ich schnell komme. Ich<br />

posaunte noch schnell durchs Haus, dass Alyssia wachgeworden sei, und ich<br />

schon ganz schnell vorfahren müsse. Ich war noch gar nicht angezogen,<br />

huschte schnell in die Klamotten vom Vortag, und wuselte mein Haar ein wenig<br />

zurecht. „Keine Hektik auf der Straße,“ betete ich mir ausdrücklich vor. Um 8<br />

Uhr war ich dann schon an der Klinik.<br />

Wo ist das Problem stürmte ich lächelnd auf die Intensivstation. Die Ärztin ging<br />

mit mir in Alyssias Zimmer. „Ihre Tochter,“ präsentierte sie mir die im Chirurgiehemdchen<br />

auf der Bettkante sitzende Alys, „sie will aufstehen. Nichts und<br />

niemand kann sie dazu bewegen, sich wieder hinzulegen. Vielleicht haben sie<br />

ja eine Chance.“ Ich musste sie mir erst mal richtig anschauen. Sie lächelte<br />

und saß einfach da. Ich stellte mich vor sie und sah sie an. Ihre Augen wurden<br />

groß und rund. Das Lächeln verschwand für einen Moment. Sie fixierte mein<br />

Gesicht. Das Lächeln kam wieder und vergrößerte sich. Sie zog ihre Lippen immer<br />

breiter zu einem freudestrahlenden Lachen. Sie hatte mich also erkannt<br />

und freute sich. Ich hielt ihr meine Hand hin und sagte zu ihr: „Hallo Alyssia“.<br />

Sie hob auch ihre Hand und befühlte mit ihren Fingern und ihrer Hand meine,<br />

immer und immer wieder. Dann reckte sie ihre Hand zu meinem Gesicht und<br />

wollte es befühlen. Ich beugte mich zu ihr runter. Sie befühlte alles immer wieder<br />

ganz genau. Wenn sie mein Gesicht abtastete, schaute sie meistens sehr<br />

ernst aber zwischendurch strahlte sie immer wieder, als wenn sie sagen wollte:<br />

„Ja die Falte kenn ich genau.“ Plötzlich schien es genug zu sein und sie ließ ihre<br />

Hand wieder aufs Bett fallen. Ich nahm eine ihrer Hände und legte sie in meine<br />

Hand. Während ich das tat schaute sie ganz interessiert, was da denn jetzt<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 121 von 209


wohl vor sich gehe, und als ihre Hand in m<strong>einer</strong> lag, strahlte sie mich wieder<br />

an. Ich hielt ihr meine andere Hand hin. Fragend schaute sie mich mit großen<br />

Augen an. Ich nickte eifrig, zögernd hob sie ihre Hand, legte sie in meine und<br />

strahlte mehr als je zuvor, als ob sie stolz sei, etwas großartig gemacht zu<br />

haben.<br />

Die Ärztin hatte die ganze Zeit im Hintergrund gestanden und zugeschaut.<br />

„Großartig <strong>Frau</strong> Stein, wirklich großartig,“ meinte sie, „so etwas können wir<br />

hier nicht. Sind sie Pädagogin?“ „Nein, Rechtsanwältin“ klärte ich sie auf. „<strong>Frau</strong><br />

Stein wir wissen gar nicht, was wir machen sollen. Alyssia will sich von niemandem<br />

berühren lassen, nur berühren lässt sie schon nicht zu. Normal lächelt<br />

sie immer, wenn sie jemand berührt, wird die Mine zunächst ernst, dann ärgerlich<br />

und zum Schluss richtig griesgrämig. Wenn die Belästigung dann immer<br />

noch nicht aufhört entzieht sie sich. Wenn sie jemand austrickst und schnell<br />

mit einem Schwung in Liegeposition bringt, dauert es keinen Augenblick,<br />

schwupps, sitzt sie wieder. Ein Gutes zeigt es ja, dass sie zumindest motorisch<br />

k<strong>einer</strong>lei Beeinträchtigungen hat. Vielleicht können sie sie ja dazu bewegen,<br />

sich hinzulegen, sie muss unbedingt wenigstens noch eine Woche flach liegen.<br />

Alles andere wäre höchst riskant.“<br />

Ich wollte es versuchen, aber ich musste mich erst noch mehr mit ihr beschäftigen.<br />

Ich setzte mich neben sie aufs Bett. Einen Moment lang schaute sie ganz<br />

verdutzt, dann strahlte sie mich wieder an. Ihre Finger wanderten wieder zu<br />

meinem Gesicht. Ich wollte mal ihr Gesicht fühlen. Zunächst wieder ein leicht<br />

erstaunter Eindruck, dann entspannte sich ihr Gesicht. Sie lächelte nicht,<br />

schaute auch nicht ernst sondern entspannt zufrieden, als ob sie das Streicheln<br />

genießen würde und tatsächlich legte sie auch ihren Kopf zurück, damit ich sie<br />

auch am Hals streicheln konnte. „Ah meine kleine <strong>Frau</strong>, eine Genießerin bist du<br />

jedenfalls geblieben,“ bemerkte ich. Mein Gesicht war jetzt völlig uninteressant<br />

geworden. Ich erzählte ihr dabei Geschichten mit Namen, die sie eigentlich,<br />

gut kennen müsste, aber k<strong>einer</strong>lei Reaktion. Ich schloss meine Gesichtsstreicheleinlage<br />

mit einem Kitzel am freien Ohrläppchen ab. Sie zog die Lippen zu<br />

einem ganz breiten Grinsen und kniff dabei die Augen zu, als wenn sie sagen<br />

wollte: „Huch, ist das kitzelig.“<br />

Dann gab ich ihr einen Kuss auf die Wange. Immer wieder zu Beginn dieser<br />

fragende Gesichtsausdruck, als ob sie sich fragte: „Was geschieht denn jetzt<br />

wohl?“, doch ich schien immer etwas sie Erfreuendes zu machen. Sie drehte<br />

ihren Kopf zu mir und strahlte mich wieder an. Ich hielt ihr meine Wange hin,<br />

und forderte sie durch Gesten auf, mir jetzt einen Kuss zu geben. Sie schien<br />

verstanden zu haben, was ich meinte. Anscheinend dachte sie jetzt lange nach.<br />

Dann nahm sie beide Hände, dreht meinen Kopf zu sich, und Küsste mich auf<br />

den Mund. Sie hörte gar nicht wieder auf, mich anzustrahlen. Hatte sie so lange<br />

nachgedacht und sich erinnert, dass Küssen auf den Mund viel besser sei.<br />

Sie hatte nicht nachgemacht, was ich ihr vorgemacht hatte, sondern eigenständig<br />

aus ihrer Erinnerung etwas Ähnliches gemacht. Toll meine Süße. Sie<br />

schien also ihr Gedächtnis nicht ganz verloren zu haben, aber die Namen von<br />

Julienne, Camille und Lucien schienen ihr nichts zu bedeuten. Ich stand auf<br />

und wollte es mal versuchen, sie zu umarmen. Bis jetzt hatten wir ja nur einzelne<br />

Körperpartien berührt, gestreichelt und uns geküsst. Ich stellte mich wieder<br />

vor sie, breitete meine Arme aus und schlang sie um ihren Hals. Zunächst<br />

wieder dies erwartungsvolle Staunen und dann strahlten sich unsere Gesichter<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 122 von 209


ganz nah voreinander an. Ich lege meine Wange an ihre. Sie schien es zu genießen.<br />

Plötzlich sprang sie aus dem Bett, stand vor mir, schlang ihre Arme um<br />

meinen Oberkörper und drückte mich ganz fest an sich. Alyssia wollte mich gar<br />

nicht wieder loslassen. Abwechselnd streichelten wir unsere Wangen aneinander<br />

und lachten uns zwischendurch immer wieder an. Sie schien ein altes schönes<br />

Spiel wieder entdeckt zu haben und neu zu genießen.<br />

Sie war aus ihrem Bett aufgestanden, das hatte sie glücklicherweise vorher<br />

noch nicht gemacht. Als ich meine Arme von ihrem Hals löste und ihre behutsam<br />

zurückzunehmen versuchte, sprang sie auch sofort wieder aufs Bett. Das<br />

Bett schien sie schon als ihren persönlichen Sicherheitsbereich zu betrachten,<br />

den sie von sich aus nicht verlassen wollte. Aber warum musste sie sitzen, und<br />

konnte nicht liegen. Wenn sie saß konnte sie alles sehen und mitbekommen,<br />

was in ihrer Umgebung passierte, wenn sie lag, konnte sie fast nur die Decke<br />

anstarren, denn im Liegen konnte sie wegen des Verbands auch ihren Kopf<br />

kaum bewegen. Sie konnte sich schon als ziemlich ohnmächtig, gegenüber<br />

dem, was auf sie zukam, empfinden. Aber das konnte man ja nicht ändern. Ich<br />

wollte es einfach mal mit einem Beispiel versuchen. Ich legte mich auf der anderen<br />

Seite in ihr Bett, und tatsächlich Alyssia legte sich auch hin und strahlte.<br />

Ich stützte meinen Kopf auf den Arm, sonst konnten wir uns ja nicht ansehen.<br />

Ich erzählte ihr, wie wichtig es sei, dass sie liegen bleibe, und wie froh ich sei,<br />

dass sie jetzt wieder bei uns sei, wir alle um sie gebangt hätten, und das dürfe<br />

sie doch jetzt nicht gefährden. Sie schaute mich die ganze Zeit mit großen Augen<br />

an. Sie schien wohl zu merken, dass ich ihr etwas sagen wollte, aber verstehen<br />

konnte sie mich sicher nicht. Ihre Mimik veränderte sich häufig. Mal<br />

machte sie ein nachdenkliches Gesicht, mal lachte sie mich wieder an, aber es<br />

kam mir vor, wie ich als kleines Baby mit ihr gesprochen hatte. Sie schien auf<br />

den unterschiedlichen Klang zu reagieren. Als ich aufstand, saß sie auch sofort<br />

wieder. Als ich ihr mit ernstem Gesicht, energischem Tonfall und dabei kopfschüttelnd<br />

erklärte, das sei nicht richtig, sie müsse unbedingt liegen bleiben,<br />

machte sie zwar ein leicht w<strong>einer</strong>lich erscheinendes Gesicht, reagierte aber<br />

sonst nicht. Es tat mir schon leid, sie so angesprochen zu haben und gab ihr<br />

einen Kuss auf jede Wange. Sie strahlte wieder.<br />

Sie schien ihren Eigensinn, den andere früher als Sturheit oder Ungehorsam<br />

bezeichnet hatten, behalten zu haben. Mir hatte das nie Probleme bereitet, und<br />

ich hatte es ja auch gar nicht so gesehen. Sie war ja Argumenten zugänglich<br />

und machte es, wenn sie die Angelegenheit verstanden hatte, und für sich akzeptieren<br />

konnte. Ich habe das eher bewundert und wahr stolz, dass sie sich<br />

so verhielt. Nur jetzt hatten Argumente ja keine Bedeutung und durch Liebe<br />

und Zuwendung hatte sie sich nie täuschen lassen. Selbst ihre allerliebste Omi<br />

hatte nur Erfolg, wenn sie es ihr für sie hinreichend erklärte. Vielleicht war dieser<br />

Zusammenhang sehr stark mit dem Emotionalen verbunden, und ihr Empfinden<br />

schien ja gut zu funktionieren. Sie schien nur einige Erfahrungen vergessen<br />

zu haben. Manche aber auch nicht, denn sie hatte mich ja eigenständig<br />

auf den Mund geküsst, mich von sich aus umarmt, und dafür das Bett verlassen.<br />

Ich wollte hinaus gehen, und mit der Ärztin sprechen. Als ich zur Tür ging,<br />

schaute sie mir nach und machte ein ganz böses Gesicht. Sie war wohl sehr ärgerlich,<br />

dass ich sie verlassen wollte. Ich kam zurück, sprach mit ihr und versuchte<br />

es soweit wie möglich durch Gesten zu unterstützen. Gesten schien sie<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 123 von 209


ja recht gut interpretieren zu können. Sie machte auch kein verärgertes Gesicht<br />

mehr als ich jetzt ging und noch im Herausgehen durch Gesten verdeutlichte,<br />

dass ich gleich wieder herein käme. Ich erklärte der Ärztin, dass ich<br />

mich auch hilflos fühle. Sie lege sich nur hin, wenn ich neben ihr liege. „Aber<br />

sie muss liegen, wenigstens noch eine Woche. Alles andere wäre<br />

lebensgefährlich. Sie befindet sich ja auch noch auf der Intensivstation, und<br />

muss hier diese Woche noch unbedingt bleiben. Auch wenn sie jetzt bei<br />

Bewusstsein ist, ist noch nichts verheilt und ihr fehlt noch sehr viel<br />

Gehirnflüssigkeit. Es ist nicht nur hoch riskant, wenn sie jetzt nicht liegen<br />

bleibt, es wird den Heilungsprozess auch mit Sicherheit ungünstig<br />

beeinflussen.“ erklärte die Ärztin. Ich sah das zwar ein, aber fühlte mich auch<br />

völlig ratlos. Ich konnte da nicht mehr weiter grübeln, mir fiel erst mal nichts<br />

ein. „Was meinen sie, vielleicht ist es ja hilfreich, wenn ich sie Alyssia als<br />

meine Freundin vorstelle?“ fragte ich die Ärztin. Sie war einverstanden, und wir<br />

gingen zu Alyssia. Als wir reinkamen war ihr Blick immer noch auf die Tür<br />

gerichtet. Alyssia hatte es anscheinend verstanden, dass ich wieder<br />

zurückkommen wolle, und wartete jetzt darauf. Wir stellten uns vor sie, ich<br />

legte einen Arm auf Madame Merciers Schulter und erklärte Alys, dass sie<br />

meine Freundin sei. Wir umarmten und küssten uns und ich streichelte<br />

Madame Merciers Wangen. Dann redete die Ärztin mit ihr und Alyssia hörte ihr<br />

mit großen Augen zu. Was bedeutete es wohl für sie? Plötzlich verzog sie ihr<br />

Gesicht zu einem breiten Strahlen. Madame Mercier schien akzeptiert. Als sie<br />

ihr aber die Hand hinhielt, erfolgte keine Reaktion. Auch mein Beispiel<br />

veranlasste sie zu nichts. Als ich ihre Hand nehmen und sie sanft in Madame<br />

Merciers legen wollte, wurde ihre Mine ärgerlich und sie riss ihre Hand<br />

entschieden zurück. Freundlichkeit oder Zuneigung bedeutete also nicht gleich,<br />

dass man sie auch berühren durfte.<br />

Plötzlich fasste Alyssia sich zwischen die Beine und machte ein krauses bedenkliches<br />

Gesicht. Sie hatte zwar eine Windel um, aber merkte jetzt wohl,<br />

dass sie zur Toilette musste, und sie dazu etwas anderes tun musste. Ich<br />

schlug vor, mit ihr zur Toilette zu gehen. Das lehnte die Ärztin als unmöglich<br />

ab. „Wollen sie Alyssia hier dazu erziehen, in Windeln zu machen, obwohl sie<br />

noch weiß, dass sie zur Toilette gehen muss. Das können sie mir doch nicht<br />

leichtfertig so antun.“ reagierte ich verärgert. Mit einem Seufzer entfernte die<br />

Ärztin die Schnüre. Sie durfte ganz nah an Alyssia heran kommen, nur ihre<br />

Haut durfte sie nicht berühren, dann zog sie mit einem Ruck weg. Ich nahm sie<br />

an die Hand und wir gingen zur Toilette. Sie lief völlig normal, keine irgendwie<br />

gearteten Koordinationsstörungen zu erkennen. Wunderbar! Ich nahm ihr die<br />

Windel ab und sie setzte sich sofort auf die Toilette, als ob es das Selbstverständlichste<br />

auf der Welt sei. Als sie fertig war, wollte sie aufstehen und gehen.<br />

Dass man sich den Po abwischen muss, war wohl anderswo gespeichert<br />

gewesen. Ich forderte sie auf sich wieder hinzusetzen, wischte ihr den Po, und<br />

zeigte ihr das beschmierte Toilettenpapier. Jetzt forderte ich sie auf das Gleiche<br />

zu tun. Sie zeigte mir das Toilettenpapier. Beim vierten mal blieb es sauber. Ich<br />

bedeutete ihr, jetzt sei es o. k., jetzt könne sie aufstehen. Sie strahlte wieder,<br />

als ob sie ein großes Werk vollbracht hätte. Wir umarmten und küssten uns.<br />

Am Waschbecken musste ich sie noch zum Händewaschen anhalten. Wie man<br />

das machte, musste sie auch wieder lernen. „Das ist sehr schön, Madame<br />

Stein,“ meinte die Ärztin als sie die Kabel und Schnüre wieder anschloss, „aber<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 124 von 209


wie sollen wir das denn hier machen. Zumal sie sich von niemandem anfassen<br />

lässt.“ „Sie wird ihnen nachlaufen. Alles andere wird sie selber regeln. Und in<br />

ihr Bett will sie ja schon. Sie wird ja nicht weglaufen wollen. Oder ist ihnen die<br />

andere Quälerei, bei <strong>einer</strong> <strong>Frau</strong>, die sich nicht anfassen lassen will, die Windeln<br />

zu wechseln lieber?“ fragte ich. Madame Mercier schaute mich an. Sie hatte<br />

Tränen in den Augen. „Madame Stein,“ sagte sie, „meine Tochter liest in der<br />

Schule gerade die Gedichte von Alyssia. Sie sind wunderschön. Mir kommen<br />

manchmal die Tränen. Es war mir selber eine große Freude, dass sie mir<br />

zugehört hat, und mich angelacht hat. Ich werde alles in meinen Kräften<br />

Stehende tun, damit sie so gesund wie möglich die Klinik wieder verlassen<br />

kann, und dass sie sich hier so wohl fühlt, wie es nur eben geht. Glauben sie<br />

mir, dass ist mein ganz persönliches Interesse an ihrer Tochter und als Mutter,<br />

die nachzuempfinden versucht, was es für sie bedeutet.“ Sie umarmte mich<br />

und meinte noch: „Vergessen sie nie, dass sie ganz großes Glück gehabt<br />

haben. Alle hier haben es für eher unwahrscheinlich gehalten, dass sie<br />

durchkommt, aber sie hat es ja geschafft.“ Ich bedankte mich bei ihr, und<br />

erklärte ihr, dass ihr Verlobter <strong>–</strong> Lucien war jetzt immer der Verlobte <strong>–</strong> und ihre<br />

beiden Freundinnen gleich kommen würden, um auch ihre geöffneten Augen zu<br />

sehen. Vielleicht fiele uns dann ja etwas ein.<br />

Camille, Julienne und Lucien bei Alyssia<br />

Als die drei kamen erzählte ich ihnen auf dem Flur kurz, was ich erfahren und<br />

erlebt hatte. Camille, Julienne und Lucien schmunzelten manchmal über die<br />

kuriosen Situationen. Ich versuchte sie zu warnen, dass es nicht sicher sei,<br />

dass sie jeden wiedererkennen würde. Ihr verbliebenes Gedächtnis sie höchst<br />

unterschiedlich strukturiert. Heute sollte Camille als erste mit mir reingehen.<br />

„Hallo Alyssia, ich bin's, Camille deine Freundin.“ sprach Camille sie an. Wieder<br />

die gleiche Musterung mit großen Augen, und anschließend die strahlende Erinnerung.<br />

Dies mal reckte sie den Kopf dabei vor, legte ihn leicht zurück und zog<br />

einmal tief Luft durch die Nase. Das konnten wir nicht interpretieren. Camilles<br />

Parfum jetzt konnte es nicht sein, ob sie verdeutlichen wollte, dass sie sich an<br />

frühere schöne Düfte erinnerte oder ob es angenehme Essensdüfte waren, an<br />

etwas mit Geruch schien sie sich jedenfalls bei Camille zu erinnern. „Bonjour<br />

Alyssia“ sagte Camille, als sie ihr die Hand hinhielt. Das ließ sie zwar wieder lachen,<br />

als ob sie es verstanden hätte, aber einen Griff nach Camilles Hand blieb<br />

aus, und auch als Camille vorsichtig versuchte, mit den Fingern ihre Hand zu<br />

berühren, zog sie sie sofort weg. Das stimmte ein wenig traurig. Selbst von ihrer<br />

besten Freundin, die sie ja eindeutig erkannt hatte, ließ sie sich nicht berühren.<br />

Na, meinte Camille, wenn das eben so sei, solle man es einfach akzeptieren,<br />

und nicht nach unserem Verständnis zu interpretieren und deuten versuchen,<br />

das sei unangemessen und falsch, und führe zu unsinnigen Schlussfolgerungen.<br />

Wie so etwas durch eine Gehirnverletzung entstehen könne, sich<br />

nicht mehr berühren lassen wollen, außer von der Mamon und von der gerne,<br />

sei allerdings schon sehr kurios. Sie wolle die anderen nicht so lange warten<br />

lassen, und schickte Julienne herein.<br />

Julienne ging ein wenig runter und schaute ihr direkt ins Gesicht. „Na, alte<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 125 von 209


Hexe, bist ja doch wieder wach geworden.“ sprach sie sie lächelnd an. Als Alyssia<br />

Julienne anstrahlte, reckte sie wieder ihren Kopf vor und kniff die Augen<br />

leicht zusammen, als ob sie ihr auch etwas Schelmisches mitteilen wolle. Als<br />

Julienne aber mit ihrer Nase auf Alyssias vorgestreckte Nase zu kam, zog sie<br />

sich wie erschreckt zurück. Julienne erschrak selber. „Ich habe doch nichts gemacht.“<br />

meinte sie zu mir entschuldigend. „Ja das ist für uns nicht einfach.“ erklärte<br />

ich Julienne, „Auch wenn sie jemanden mag, oder eindeutig wiedererkennt,<br />

so wie dich gerade, heißt das noch lange nicht, dass man sie auch berühren<br />

darf. Das wird dem armen Lucien wahrscheinlich nicht anders ergehen.<br />

Du kannst ihr ja mal deine Hand hinhalten, aber ich befürchte, es wird zwecklos<br />

sein.“ Und so war es auch. Julienne schien leicht pikiert und wollte raus.<br />

Auch Lucien wurde mit großen Augen gemustert. Alyssia sprang sofort aus<br />

dem Bett und breitete ihre Arme weit aus, wie ich es vorhin bei ihr gemacht<br />

hatte. Sie blieb aber einfach so mit ausgebreiteten Armen vorm Bett stehen.<br />

Als Lucien näher kam, schlang sie sie um seinen Hals, drückte abwechselnd die<br />

eine und die andere Wange an seine und küsste ihn zwischendurch immer wieder<br />

auf den Mund. Lucien war absolut glücklich und ihm standen vor Rührung<br />

die Tränen in den Augen. Er hatte befürchtet, das Alyssia ihn eventuell nicht<br />

wiedererkenne. Er hatte sie ja als letzter kennengelernt. Ich war auch verblüfft.<br />

Sie hatte wohl die Erinnerung an die Menschen nicht verloren, schien sie<br />

nach umständlicher Prüfung wieder zu erkennen, und ordnete auch jedem eine<br />

spezifische mimische Besonderheit zu, aber warum sie auf Lucien direkt selber<br />

zuging, und ihn sofort umarmte und küsste, schien wohl spezielle Gründe zu<br />

haben, die nicht allein im allgemeinen Gedächtnis verankert waren. Alyssia<br />

wollte anscheinend immer so verbleiben. Sie befingerte Luciens Gesicht und<br />

immer wieder seine feuchten Augen. Die schienen sie wohl stark zu erstaunen.<br />

„Komm, wir setzen uns aufs Bett.“ schlug ihr Lucien vor. Als ob sie ihn verstanden<br />

hätte, ließ sie Lucien los und setzte sich mit ihm aufs Bett. Sie hatte die<br />

Hände unter ihre Oberschenkel gesteckt, bewegte ihren Oberkörper leicht und<br />

lachte die ganze Zeit, als ob sie deutlich machen wolle, dass sie unendlich<br />

glücklich sei. Lucien erzählte ihr alles Mögliche. Sie schien aber gar nicht<br />

zuhören zu wollen, sondern strahlte ihn nur unentwegt an. Ich meinte, Lucien<br />

solle es doch mal versuchen, ob er sie nicht zum Hinlegen bewegen könne. Mit<br />

ihm legte sie sich natürlich auch sofort hin. Lucien versuchte sa chérie auch<br />

eindringlich unter häufigen zwischenzeitlichen Küssen zu erklären, dass und<br />

warum sie liegen bleiben müsse. Sein Vortrag und vor allem seine Küsse<br />

schienen Alyssia sehr zu gefallen, aber als er wieder aufstehen wollte, hob sie<br />

auch sofort ihren Oberkörper an. Lucien stoppte, und sagte ihr mit ernster<br />

Mine nein, nein, das sei nicht korrekt, sie müsse sich wieder hinlegen. Alyssia<br />

lächelte zwar nicht mehr, sie schaut ihn nur mit großen Augen an und legte<br />

sich wieder hin. Lucien kniete sich aufs Bett, lobte sie und streichelte ihr<br />

Gesicht. Als Lucien aufstand und zu anderen Seite des Bettes gehen wollte,<br />

richtete sie ihren Oberkörper wieder auf. Sofort wies Lucien sie an: „Non, non,<br />

wieder hinlegen.“, was sie auch brav befolgte. Sie lag zwar, aber allein im Bett<br />

zu liegen, schien ihr nicht besonders zu behagen. Lucien setzte sich aufs Bett,<br />

und während er sie streichelte, erzählte er ihr immer wieder, dass sie sich unbedingt<br />

hinlegen müsse, und jedes mal wenn er erwähnte, dass es prima sei,<br />

wie sie jetzt liege, gab es einen Kuss. Sie schien zu merken, dass er sich immer<br />

wiederholte und hatte ihre Freude daran. Ob sie etwas, und was sie ver-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 126 von 209


stand, konnte man nicht genau abschätzen, jedenfalls wenn die Stelle mit dem<br />

Lob für's Liegen kam, hielt sie ihm schon ihren Kussmund entgegen. Lucien<br />

streichelte sie nochmal und stand wieder auf. Alyssia blieb liegen. Geschafft?<br />

Vielleicht. Die anderen kamen rein, und meinten, das könne ja noch ewig dauern,<br />

mit den Liebesspielereien, sie würden jetzt ganz gern nach Hause fahren<br />

und in Montpellier noch etwas einkaufen. Alyssia wollte sich wieder aufrichten.<br />

Sofort kam Luciens: „Non, non, wieder hinlegen.“, was auch sofort befolgt<br />

wurde, wofür sie allerdings diesmal einen Kuss erwartete. Den bekam sie zwar,<br />

aber Lucien meinte: „Du musst auch ohne Kuss liegen bleiben, du Filou.“ und<br />

kniff ihr ein wenig in die Nasenspitze. Sie schaute Lucien nicht freudig und<br />

auch nicht ernst, aber mit ganz breit gezogenen Lippen an, als wenn sie sagen<br />

wollte: „Wart's ab, das bekommst du wieder.“. Julienne, die auf dem Flur<br />

geweint hatte, war noch immer ganz erbost: „Wir dürfen sie noch nicht mal<br />

berühren, und dem alten Bock fällt sie sofort um den Hals, und befolgt sogar<br />

seine Befehle, ich kann's nicht fassen.“<br />

Die beiden verabschiedeten sich, indem sie sich leicht zu ihr beugten und mit<br />

der Hand winkten. Wir standen neben Alyssias Bett streichelten sie abwechselnd,<br />

und unterhielten uns. „Was für ein Tag,“ meinte ich zu Lucien. „Alyssia<br />

aus dem Koma zurück, und immer freundlich und zufrieden lächelnd. Eine<br />

starre Maske ist das ja nicht. Sie kann ja auch ganz andere Gefühle zeigen.<br />

Und du alter Verlobter hast ja ein ganz besondere Glück. Was empfindest du<br />

eigentlich Lucien? Sie hat dich ja nicht nur wiedererkannt, du scheinst ja ihr<br />

absoluter Favorit zu sein.“ „Ganz richtig kann ich das noch gar nicht fassen.“<br />

reagierte Lucien, „ich weiß nur, dass ich total glücklich bin.“ Während wir uns<br />

noch weiter unterhielten, gähnte Alys mehrmals und war nach wenigen Minuten<br />

eingeschlafen. Die Ärztin kam schon rein. Im Büro waren Veränderungen<br />

festgestellt worden und sie wollte nachschauen. Wir erklärten ihr, dass sie<br />

mehrfach gegähnt habe und eingeschlafen sei. Ob sie denn gelegen habe, fragte<br />

sie ganz erstaunt. Ja schon längere Zeit und ich verwies auf den Künstler.<br />

Sie reagiere auf „Non, non, recouchez toi!“ ob sie es richtig verstehe, wüssten<br />

wir nicht, aber jedenfalls wisse sie, was sie dann zu tun habe, zumindest bei<br />

Monsieur Renouard. Wenn es irgendein Problem gebe, solle sie doch bei mir<br />

anrufen, ich käme jederzeit. Mit dem selbständigen Gang zur Toilette, es sei<br />

mir ganz, ganz wichtig, wenn sie das beibehalten könnten. Wir umarmten uns<br />

und fuhren nach Hause.<br />

Julienne hatte sich mittlerweile auch wieder beruhigt. Aber wir rätselten schon,<br />

womit das ungewöhnliche Verhalten gegenüber Lucien zu erklären sei. Wir vermuteten<br />

die Ursache in den Bettgeschichten, denn emotional schien sie ja noch<br />

ziemlich fit zu sein, obwohl sie das fast ja auch alles wieder neu lernen musste.<br />

Sie lernte ja schnell und was sie einmal gesehen hatte, konnte sie auch sofort<br />

auf sich übertragen anwenden. Ich musste unbedingt die anderen informieren,<br />

und am Abend gab's natürlich eine kleine Feier zu dem, worauf wir so unendlich<br />

lange hatten warten müssen.<br />

Mittwochmorgen angeschnallt<br />

Als ich Mittwochmorgen wieder gegen 8 Uhr zu Alyssia ins Zimmer kam, lag sie<br />

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angeschnallt mit missmutig verzerrter Mine in ihrem Bett. Ich ging gar nicht zu<br />

ihr, sondern stürmte sofort ins Arztzimmer. „Monsieur kommen sie sofort!“ befahl<br />

ich ihm. „Was hat das zu bedeuten? Was soll das? Machen sie das sofort<br />

weg!“ herrschte ich ihn ärgerlich an. „Madame,“ jammerte er fast w<strong>einer</strong>lich,<br />

„was sollen wir denn machen. Wir tun das ja auch nicht gern, aber sie lässt<br />

nichts mit sich geschehen, lässt sich von niemandem berühren und wir müssen<br />

Untersuchungen machen.“ „Warum ging das gestern und heute nicht?“ ich<br />

sprach nur in barschem Tonfall zu ihm. Ich war auch überaus entsetzt,<br />

„Monsieur, ich bin ihnen unendlich dankbar, dass sie m<strong>einer</strong> Tochter das Leben<br />

gerettet haben, große Teile ihres Gehirns sind zerstört. Das ertrag' ich gern,<br />

aber wenn sie ihr jetzt die Seele zerstören, das kann und werde ich nicht<br />

ertragen wollen. Schnallen sie sie sofort los, und tun sie das nie, nie mehr<br />

wieder, hören sie. Wenn ich das noch einmal erleben muss, werde ich sie sofort<br />

hier herausholen und nach Hamburg fliegen lassen. Schauen sie sich das<br />

Gesicht doch einmal an.Bedeutet ihnen das denn nichts? Wissen sie denn<br />

nicht, das sie Normalerweise ständig lächelt?“ Er hatte schon während ich<br />

redete telefoniert. Eine Krankenschwester kam rein, und schnallte sie los.<br />

Alyssia sprang sofort auf und fiel mir freudestrahlend um den Hals, als ob sie<br />

erkannt hätte, dass ich es bewirkt hatte. „Sehen sie Madame, das geht nicht.“<br />

meinte der Arzt. „Ich werde sie doch wohl noch für die von ihnen zugefügten<br />

Qualen trösten dürfen, ja Monsieur!“ schrie ich ihn zornig an. Alyssia hatte<br />

auch ganz angstvolle Augen bekommen, obwohl sie schon zu merken schien,<br />

dass es nicht ihr galt. Ich bat sie, sich kurz aufs Bett zu setzen, ich müsse noch<br />

mit dem Arzt reden. „Monsieur, ich hatte ihnen gesagt, dass sie mich jederzeit<br />

anrufen können, wenn es Probleme gibt. Warum tun sie es nicht? Ich will gar<br />

keine Entschuldigung von ihnen hören. Ich erwarte einfach, dass ich mich in<br />

Zukunft darauf verlassen kann, dass sie es tun werden. Ich war so glücklich<br />

und dankbar und meinte, mich auf sie verlassen zu können, aber heute<br />

machen sie mir Angst. Und übrigens die Windeln möchte ich auch keinesfalls<br />

mehr sehen. Sie weiß, wann sie zur Toilette gehen muss und wird ihnen folgen.<br />

Auf der Toilette macht sie alles selbständig. Ich möchte nicht, dass das hier<br />

zerstört wird. Und noch etwas, ich möchte dringend mit dem Herrn Professor<br />

sprechen. Besorgen sie mir sofort einen Termin.“ instruierte ich den Arzt und<br />

fügte nochmal warnend mit erhobenem Zeigefinger hinzu, „Sie haben mich<br />

verstand? So etwas, wie heute morgen, nie wieder!“ Monsieur le Docteur<br />

schien geschrumpft zu sein. Als er das Zimmer verlassen wollte, wies ich ihn<br />

noch an: „Nehmen sie das mit, das wird hier niemals mehr gebraucht!“ und<br />

zeigte auf die Bettfesseln, die die Schwester auf einem Stuhl platziert hatte,<br />

„und das hier auch,“ wobei ich ihm die Windel reichte, die ich Alyssia gerade<br />

abgenommen hatte.<br />

Ich schwang mich erst mal zu Alys aufs Bett, atmete tief aus und ließ sie dabei<br />

ein erlöstes „Geschafft“ vernehmen. Wir strahlten uns wieder an, und waren<br />

glücklich. So schien die Welt für Alyssia in Ordnung. Glücklich auf der Bettkante<br />

sitzen, mit Mami Händchen halten, und sich zwischendurch manchmal anstrahlen,<br />

was wollte man da mehr. Ich wollte etwas machen. Ich wusste nicht<br />

was sie verstand, aber sie konnte ja Gehörtes wiedererkennen. Besser vielleicht<br />

auf Französisch als auf Deutsch. Ich zeigte mehrfach abwechselnd auf<br />

meine und ihre Brust und sagt dabei unsere Namen, Alyssia und Mamon. Dann<br />

forderte ich sie auf zu zeigen, sie machte eine leicht ratlose Mine. Eventuell<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 128 von 209


meinte sie, dass sie sprechen solle. Als ich aber die Namen sagte, schien alles<br />

klar. Sie machte es immer richtig. Ich wurde immer schneller. Als es zu schnell<br />

wurde, legte sie den Kopf zurück, grinste, kniff dabei die Augen zu, und zog<br />

tief Luft durch die Nase. Dann drehte sie ihren Kopf zu mir, streckte ihn leicht<br />

vor und lachte mich so schelmisch an, wie gestern bei Julienne. Allem Anschein<br />

nach hatte es ihr gefallen. Ich wollte ihr einen Kuss geben. Sie drehte sofort<br />

ihren Kopf und hielt mir ihre Kusslippen hin. Geküsst wurde jetzt nur noch auf<br />

den Mund, das hatte sich wahrscheinlich einfach als besser erwiesen, warum<br />

sollte man sich da noch mit so etwas wie Wangenküssen abgeben. Ich musste<br />

auch mal daran denken, sie wieder zum Liegen zu bringen, doch Alys deutete<br />

an, zur Toilette zu müssen, die Windel war ja auch ganz unbeschmutzt. Ich<br />

deutete Alyssia an, dass ich kurz den Arzt holen müsse. Es war nur eine<br />

Krankenschwester da, die mir erklärte, dass sie das nicht dürfe. Ich erklärte<br />

ihr, dass man das gestern gedurft hätte, die Ärztin habe es sogar selber<br />

gemacht. Sie telefonierte mit dem Arzt und ging mit. Alyssia schien den Weg<br />

zu kennen. Sie nahm auch selbständig Toilettenpapier, und hielt es mir wieder<br />

hin. Ich schüttelte den Kopf, und verdeutlichte ihr, dass sie selber schauen<br />

müsse, wobei ich ihr die Hand vors eigene Gesicht drehte. Sie nahm nochmal<br />

Toilettenpapier und hielt es sich jetzt selber vors Gesicht. Sie schaute mich an,<br />

stand auf und fiel mir um den Hals. Sie schien sich immer riesig zu freuen,<br />

wenn sie etwas Neues dazu gelernt, und es richtig gemacht hatte.<br />

Selbstverständlich wusch sie sich die Hände, als hätte sie noch nie etwas<br />

anderes beabsichtigt gehabt. Wunderbar, wie schnell sie lernte und auch nicht<br />

wieder vergaß. Die Schwester hatte im Zimmer gewartet und schloss sie<br />

wieder an.<br />

Ich versuchte Alys zu erklären, dass es besser sei, wenn sie sich wieder hinlege.<br />

Sie schien mit zu bekommen, wovon ich redete. Es schien ihr nicht sonderlich<br />

zu behagen. Sitzen hielt sie wohl für eindeutig besser. Als ich ihr versprach,<br />

sie bekomme auch einen Kuss, lachte sie wieder. Als ich versuchte ihre<br />

Beine anzuheben, und sie langsam in Liegeposition zu bringen, ließ sie es sich<br />

gefallen, und machte den Rest selbständig. Als sie lag, strahlte sie, und hielt<br />

schon ihren Kussmund hin. Einmal versuchte sie sich noch wieder aufzurichten,<br />

reagierte aber prompt auf mein: „Non, non, recouchez toi!“.<br />

Ich wollte noch zu Hause anrufen, sie sollten etwas zum Anziehen mitbringen,<br />

Slips und Nachthemdchen, oder wenn sie so etwas nicht besitze, große T-Shirts<br />

oder Oberhemden. Sie waren gerade im Aufbruch, und wollten noch etwas<br />

zusammen suchen.<br />

Ankunft von Camille, Julienne und Lucien am<br />

Mittwoch<br />

Sie hatten noch Probleme mit der Wäsche gehabt. An Höschen, die sie im<br />

Krankenhaus anziehen konnte, hatten sie nur weiße Baumwollslips auf einem<br />

gesonderten Platz gefunden, Nachthemden oder Schlafanzüge natürlich überhaupt<br />

nicht, und die T-Shirts waren alle gleich groß. Lucien hatte mal zwei<br />

Oberhemden von sich mitgebracht, aber die waren auch nicht besonders groß<br />

und weit. Als die drei reinkamen, saß sie natürlich sofort wieder. Sie bewegte<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 129 von 209


ihre Schultern abwechselnd vor und zurück, schaute von einem zum andern<br />

und zeigte stärkstes Lachen. Sie schien sich unendlich zu freuen, dass alle<br />

schon wieder da waren. Jetzt brauchte auch nicht mehr jeder gemustert zu<br />

werden. Wenn sie jemanden einmal wiedererkannt hatte, schien er neu gespeichert,<br />

und sofort zugänglich zu sein.<br />

Entsprechend unserem Spiel heute morgen erklärte ich ihr, wie sie hießen. Zunächst<br />

Lucien. Als sie an der Reihe war zu zeigen, stieß sie Lucien heftig mit<br />

ihrem Finger auf die Brust, und schien diebische Freude daran zu haben, dass<br />

sie ihn erschreckt hatte. „Die alte Gaunerin,“ meinte Lucien erstaunt, „das hat<br />

sie anscheinend nicht verlernt, ihre Freude daran, mich zu ärgern.“ Bei Camille<br />

und Julienne klappte es auch, aber ihre Fingerspitze berührte sie nicht. Es<br />

funktionierte auch entfernt mit allen gleichzeitig. Wenn gefragt wurde, wer<br />

Alyssia sei, tippte sie auf sich selber und machte dabei ein ganz wichtiges<br />

stolzes Gesicht.<br />

Ein Höschen wollte sie nicht anziehen. Ob sie erkannte, wann sie sie getragen<br />

hatte, und dass sie jetzt unpassend waren. Die T-Shirts und Luciens Hemden<br />

waren als Nachthemdersatz auch unbrauchbar. Wir wollten ihr gleich etwas anderes<br />

kaufen. Julienne bot sich an, schon sofort zu fahren. Ich berichtete den<br />

anderen, was ich heute morgen erlebt hatte. „Ah, meine arme chérie.“ wiederholte<br />

Lucien ständig, während er ihr dabei den Arm streichelte. Plötzlich wollte<br />

sich Alyssia hinlegen. Sie schaute Lucien an, und reckte ihm ihren Kussmund<br />

hin. Wir schauten uns verdutzt an. Anscheinend war Küssen mit Lucien im Liegen<br />

am besten, oder sie meinte, dass es seine Küsse nur im Liegen gäbe. Camille<br />

erklärte, dass sie unbedingt wieder zurück müsse. Die Schule habe schon<br />

wieder begonnen, und Christoph habe erklärt, dass sie in Frankreich krank geworden<br />

sei, und selbst ein Attest für sie ausgestellt. Mir hatte Anja erklärt, ich<br />

solle nicht an die Kanzlei denken, und bleiben solange es erforderlich sei, meine<br />

Arbeit würden sie schon mit erledigen.<br />

Die von Julienne mitgebrachten Sachen schienen Alyssia sehr zu amüsieren.<br />

Sie schien zu wissen, dass sie für sie sein sollten. Alles wurde genau angeschaut<br />

und untersucht. Ein Höschen schien ihr am besten zu gefallen. Sie wollte<br />

es selbst anziehen und machte es auch ganz selbstverständlich. Mit den T-<br />

Shirts schien sie nichts zu tun haben zu wollen, möglicherweise hatte sie sofort<br />

erkannt, dass sie ihr viel zu groß sein würden. Das einzige Nachthemd, das Julienne<br />

halbwegs erträglich erschienen war, bestand aus dunklem Satin, war relativ<br />

lang, und ließ sich vorne öffnen. Der Stoff schien Alys zu gefallen. Sie befühlte<br />

ihn immer wieder, aber wofür das Stück gut war, schien ihr rätselhaft.<br />

Julienne zog es sich über, befühlte dabei das Nachthemd und verdeutlichte,<br />

dass es für Alyssia sei. Sie lachte fortwährend. Als eine Schwester reinkam, bat<br />

ich sie, kurz die Verbindungen zu lösen, damit wir ihr das Negligé anziehen<br />

könnten. Sie ließ sich das Chrurgiekittelchen abnehmen und das Nachthemd<br />

anziehen. Sie streichelte abwechselnd an dem Stoff runter und schaute uns<br />

fragend zwischendurch an. Wir bestätigten sie immer wieder, dass wir es und<br />

sie ganz toll fänden, und von Lucien gab's noch einen Kuss dazu. Dann war es<br />

akzeptiert. Sie strahlte und lupfte mit dem neuen Negligé wieder auf ihre Bettkante.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 130 von 209


Alyssia isst<br />

Inzwischen war es Mittag geworden, und das Essen wurde gebracht. Die<br />

Schwester meinte, normalerweise würden sie zum Essen das Bett anliften, und<br />

ihr dann helfen, aber das meiste wolle sie alleine machen, und könne es ja<br />

auch ganz gut, nur das Messer ignoriere sie prinzipiell. Da sie jetzt schon mal<br />

sitze, könne sie ja auch gleich im Sitzen essen. Und tatsächlich sie machte alles<br />

selbstverständlich wie immer, nur das Schnitzel spießte sie mit der Gabel<br />

auf, und biss davon ab. Zwischendurch strahlte sie uns immer mal kurz zufrieden<br />

an, und aß weiter. Sie ließe sich auch füttern, meinte die Schwester, das<br />

sei kein Problem, nur an der Haut berühren dürfe man sie nicht, dann schaue<br />

sie sie erbost an, und brauche einige Zeit, bis sie sich wieder beruhigt habe.<br />

Als ob man sie mit feurigen Tentakeln berührt hätte.<br />

Ich fragte die Schwester, ob sie denn alles essen dürfe, und wir ihr auch mal<br />

etwas mitbringen könnten. Ja selbstverständlich, meinte die Schwester, ihre<br />

Verdauung und ihr Stoffwechselprozess seien ja in k<strong>einer</strong> Weise beeinträchtigt.<br />

Sie bekomme ja hier auch das normale Essen, und keine irgendwie gesonderte<br />

Bedingungen, nur dass man ihr helfe, da sie ja halb liege.<br />

Dazu mussten wir sie jetzt in ihrer neuen Bekleidung wieder bewegen. Lucien<br />

war dafür zu ständig. Bei ihm ging's ja am einfachsten. Sie legte sich auch sofort<br />

hin. Nach dem Essen und in unserer Umgebung viel es möglicherweise besonders<br />

leicht. Wir redeten noch ein wenig, und kurz darauf war Alyssia eingeschlafen.<br />

Heute war es sicher ein ganz besonders anstrengender Vormittag gewesen.<br />

Wir überlegten, was Alyssia denn besonders gern gegessen habe. Uns fiel<br />

nichts ein. Sie hatte Vorlieben für Speisen beim Essen, für Käse und Weine,<br />

aber zu Süßigkeiten, Snacks und Pralinees, die man mitbringen konnte, hatte<br />

sie keinen Bezug. „Doch!“ meinte Camille plötzlich, „Ich hatte mal Nougat de<br />

Montelimar. Den hat sie mir völlig weggefuttert, und wollte genau wissen, was<br />

das war und wo der herkam.“ „Stimmt.“ bestätigte Julienne, „den mochte sie<br />

sehr gern, und hatte auch öfter welchen zu Haus.“ Also wussten wir ja schon<br />

mal etwas. Käse konnten wir ihr ja auch mal mitbringen. Im Krankenhaus gab<br />

es zwar auch Käse, aber immer nur 'Babybel' oder 'La vache qui rit', den sie<br />

zwar verputzte, der aber sicher nicht ihrem früheren 'goût raffiné' entsprach.<br />

Nur hier hatte sie vieles geliebt, und zwar hauptsächlich abhängig vom Wein,<br />

aber Cantal und Saint-Nectaire hätten sie immer zu Haus haben müssen, und<br />

meistens auch einen Pont-l’Évêque oder Pave d`Affinois für den l'Hermitage<br />

Wein, wusste Julienne.<br />

Wir wollten noch einkaufen, und Camille hatte für den Nachmittag noch einen<br />

Platz im Flieger kommen. Sie wollte den Flug natürlich unbedingt selbst bezahlen,<br />

aber ich blieb hart.<br />

Donnerstag neue Überraschung<br />

Am Donnerstag war ich schon um 7:30 Uhr in der Klinik. Ich glaubte zwar<br />

nicht, dass sich die Vorfälle von gestern wiederholen würden, aber ich war mir<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 131 von 209


ja jetzt nicht mehr sicher. Alys frühstückte gerade im Sitzen. Sie machten das<br />

jetzt immer so, da sie sich ja hinterher wieder brav hinlege, erklärte die<br />

Schwester. Ich sagte ihr, dass wir gestern auf die Idee gekommen seien, ihr<br />

Käse mitzubringen, weil sie daran immer sehr interessiert gewesen sei. „Ja,<br />

versuchen sie doch mal,“ meinte die Schwester. Alyssia machte große Augen,<br />

als ich ihr den ganzen Saint-Nectaire auf den Teller legte. Sie nahm ihn in die<br />

Hand, roch daran und lächelte mich an. Sie legte den Käse wieder hin, und stocherte<br />

mit der Gabel darin herum. „Nein, dazu musst du schon das Messer<br />

nehmen,“ erklärte ich, und gab es ihr in die Hand. Wie selbstverständlich,<br />

schnitt sie sich ein Stückchen heraus, und steckte es in den Mund. Sie ließ es<br />

sich im Mund zergehen, und strahlte dabei abwechselnd die Schwester und<br />

mich an. Sie aß also nicht nur aus Hunger, sondern schien auch ihr<br />

Geschmackssensorium unbeschadet behalten zu haben. Alys wollte sich ein<br />

weiteres Stück Käse abschneiden. Ich stoppte sie, und zeigte ihr die anderen<br />

Käse, die ich mitgebracht hatte. Sie untersuchte und beroch sie ausführlich,<br />

dann streckte sie mir anschließend wieder ihr strahlendes Gesicht mit den halb<br />

zugekniffenen Augen entgegen. Es schien wohl der Ausdruck für eine<br />

besondere Art von Freude zu sein. Sie musste sie natürlich alle probieren, und<br />

hätte wohl permanent weiter gegessen, wenn ich ihr nicht die Montelimars<br />

gezeigt hätte. Wir hatten den Nougat in die Dose gelegt, von der Julienne<br />

wusste, dass sie ihn darin immer aufbewahrte. Sie schien sie sofort<br />

wiederzuerkennen, aber bevor Alys sie öffnete, schaute sie mich mit großen<br />

Augen fragend an, als ob sie gar nicht fassen könne, wo ich so etwas her habe.<br />

Dann wurde natürlich trotz Käse gleich eins probiert und sie strahlte. Sie nahm<br />

ein weiteres raus und hielt es mir hin, und auch die Schwester bekam eins. Die<br />

Schwester meinte, sie freue sich ja so über den Käse, sie könnten ihn gut in<br />

einem Kühlschrank aufbewahren, und ihr zum Essen etwas davon geben. Der<br />

tägliche 'Vache qui rit' oder 'Babybel' müsse ja eine Qual für sie sein. Ich hatte<br />

das Empfinden, heute auf <strong>einer</strong> anderen Station zu sein. Wir bewegten Alyssia,<br />

sich wieder hinzulegen, was sie auch brav tat, aber ihre Nougatdose wollte sie<br />

nicht abgeben. Als wenn sie sagen wollte, das ist meine, hielt sie sie fest an<br />

ihre Brust gepresst.<br />

Die Ärztin hatte heute wieder Dienst. Sie entschuldigte sich für die Vorfälle von<br />

gestern. Sie könne ihren Kollegen nicht verstehen. Sie habe ihn in der Besprechung<br />

beschimpft. Er habe die soziale Sensibilität eines Ochsen. Der Professor<br />

habe angeordnet, dafür zu sorgen, das so etwas nicht mehr vorkomme, und<br />

ich keinen Grund zu klagen habe. Alyssia habe ja so unendliches Glück. Sie<br />

habe nicht nur überlebt, sondern sei in vielem so fit, so gut gelaunt und so<br />

ausgeglichen. Es sei für sie ein zweites Wunder. Ich müsse dem Himmel oder<br />

sonst wem dankbar sein, Ärzte könnten so etwas nicht bewirken. Ihre Tochter<br />

habe geweint, als sie ihr von Alyssia erzählt habe, aber sie freue sich jedes<br />

mal, wenn sie zu ihr ins Zimmer gehe.<br />

Ich setzte mich zu Alyssia und erzählte ihr alles Mögliche. Wenn ich einen Namen<br />

der drei anderen, die sie besucht hatten, erwähnte, machte sie große Augen,<br />

als ob sie fragen wollte, „Wo ist die oder der?“ Wenn ich dann sagt: „Lucien<br />

wird kommen, oder Julienne wird kommen.“ strahlte sie, als ob sie mich<br />

verstanden hätte. Möglicherweise hatte sie ja die Wörter 'venir' oder 'viendrait'<br />

für sich schon neu aufgefasst, ohne dass man es ihr extra erklärt hatte und<br />

verband etwas damit. Das wäre natürlich ganz toll, wenn sie aus Sprachzusam-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 132 von 209


menhängen einfach etwas behielte und es weiter nutzen könnte. Das musste<br />

ich doch irgendwie testen. Ich fragte sie: „Alyssia musst du mal zur Toilette?“.<br />

Tatsächlich, sie sprang auf und fasste sich zwischen die Beine. Sie hatte es<br />

verstanden, obwohl ich ihr das Wort nie ausdrücklich erklärt hatte, sondern es<br />

nur im allgemeinen Gespräch in diesem Zusammenhang häufiger<br />

vorgekommen war. „Alyssia, ich liebe dich. Du bist toll meine Süße, wie immer.“<br />

Ich erklärte ihr, dass ich schnell <strong>Frau</strong> Mercier holen müsse und „Je reviendrai<br />

tout de suite.“ Sie schien es zu verstehen, k<strong>einer</strong>lei ängstliche oder protestierende<br />

Reaktion, als ich raus ging. Überglücklich berichtete ich <strong>Frau</strong> Mercier<br />

davon, dass sie selbständig neu verstehen lerne. Ich dämliche Kuh hatte<br />

gestern versucht ihr zu erklären, dass wir Namen hätten, und gemeint sie ihr<br />

einzupauken zu müssen. Sie hatte sie bestimmt schon längst mitbekommen<br />

und gewusst, wer gemeint war. Als ich sie auf dem Flur fragte, ob sie es mal<br />

'tout seul' probieren wolle, griff sie sofort nach m<strong>einer</strong> Hand. Sie hatte es also<br />

auch verstanden. „Was verstehst du nur schon wieder alles, meine Liebe, ich<br />

bin begeistert.“ Als sie 'Liebe' hörte machte sie einen Kussmund. Wir standen<br />

auf dem Flur, umarmten und küssten uns. Mir kamen vor Freude und Rührung<br />

die Tränen. Sie war gar nicht mehr die kleine verwirrte <strong>Frau</strong>, die nichts<br />

verstand, wie sie am Dienstag aus dem Koma gekommen war. Sie hatte in den<br />

zwei Tagen schon eigenständig vieles neu verstehen gelernt, einfach so aus<br />

den Sprachzusammenhängen. Ich konnte es gar nicht fassen. Ich musste es<br />

<strong>Frau</strong> Mercier noch mal mitteilen, als sie sie wieder anschloss. „Alyssia scheint<br />

allem, was sie hört, von sich aus neu Bedeutungen zuzuordnen. Sie wird vieles<br />

verstehen, wenn es nicht abstrakt oder für sie unsichtbar ist. Mir ist es nur<br />

zufällig aufgefallen, weil sie etwas zu verstehen schien, das ihr nie jemand<br />

erklärt hatte. Ich bin fasziniert.“ „Wieder eine neue Facette des Wunders. <strong>Frau</strong><br />

Stein, sie und Alyssia scheinen jeden Tag neu beschenkt zu werden. Ich werde<br />

den Kolleginnen mitteilen, dass sie viel mit ihr sprechen sollen, und dass sie<br />

schon viel mehr versteht, als wir annehmen. Ich freue mich für sie und<br />

Alyssia.“ erklärte <strong>Frau</strong> Mercier.<br />

Ich war so happy und rief Lucien an. Nachdem ich ihm kurz erklärt hatte,<br />

worum es sich handelte, forderte ich ihn auf, selbst mit Alyssia zu sprechen.<br />

Ich gab ihr das Telefon und hielt es ihr ans Ohr. Ihre großen Augen wurden gar<br />

nicht wieder normal. Das Handy hielt sie ans Ohr gepresst und bewegte sich<br />

nicht. Was Lucien ihr wohl erzählte? Ich wollte mal wieder mit ihm sprechen,<br />

aber Alys gab das Telefon nicht ab. Plötzlich nahm sie es vom Ohr, schaute es<br />

sich an, hielt es wieder ans Ohr, schaute es sich wieder an, und gab es mir zurück.<br />

Ich rief Lucien wieder an, er habe ja nie eine Reaktion gehört. Er habe sie<br />

aufgefordert, es mir zu geben, aber das sei ja anscheinend nicht erfolgt. Ich<br />

erklärte ihm, dass Alys total fasziniert gewesen sei, und auch jetzt schon wieder<br />

den Arm ausstrecke. Wir könnten das mit dem Abgeben noch mal versuchen,<br />

verstehen würde sie es bestimmt. Ich erklärte Alys, das sie mir das Telefon<br />

geben müsse, wenn Lucien es sage. Sie bekäme es zurück. Sonst mache<br />

Lucien 'fini'. Jetzt gab es keine großen Augen mehr. Anscheinend war es schon<br />

ganz selbstverständlich. Alyssia strahlte nur fortwährend. Tatsächlich hielt sie<br />

mir plötzlich das Handy hin. Ich berichtete Lucien, dass sie sich die ganze Zeit<br />

unentwegt freue und fragte, ob Julienne auch in der Nähe sei. Er wollte zu ihr<br />

gehen. Ich gab Alyssia das Handy zurück. Sie strahlte. Plötzlich wurden ihre<br />

Augen wieder ganz groß. Jetzt war offensichtlich Julienne ans Telefon gegan-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 133 von 209


gen. Was Julienne ihr wohle erzählte. Sie schien etwas zu verstehen, denn sie<br />

verzog ihr Gesicht wieder zu dem Grinsen mit halb zugekniffenen Augen. Plötzlich<br />

hielt sie mir das Telefon wieder hin. Freude schien ihr das nicht zu machen,<br />

aber sie schien begriffen zu haben, dass sie dem folgen müsse. Ich erklärte Julienne,<br />

was sich hier abgespielt habe, sie verstehe wahrscheinlich bereits vieles.<br />

Von dem, was sie ihr gerade erzählt habe, hätte sie auch bestimmt einiges<br />

verstanden. Alyssia fände es ganz toll, sie zu hören, sie habe mir das Telefon<br />

nur ungern abgegeben. Julienne wollte ihr noch etwas erzählen. Alyssia machte<br />

immer unterschiedliche Gesichter und schlängelte mir ihrem Oberkörper. Sie<br />

schien sich mächtig zu freuen. Dann bekam ich das Handy zurück. Julienne<br />

meinte, sie wisse gar nicht mehr, was sie erzählen solle. Es sei ja auch schwierig,<br />

wenn man k<strong>einer</strong>lei Reaktion zu spüren bekomme. Ich meinte, sie solle<br />

sich doch verabschieden und ihr mitteilen, das sie gleich kämen. Das würde sie<br />

auf jeden Fall verstehen.<br />

Alys war nicht enttäuscht oder erstaunt, das Julienne nicht mehr da war. Sie<br />

schien es verstanden zu haben und gab mir gut gelaunt das Handy zurück.<br />

Später wollte ich Camille noch anrufen. Das musste ich ihr doch unbedingt berichten.<br />

Als Lucien und Julienne kamen, hatten sie noch weiteren Käse, ihr i-Phon und<br />

ihre Kamera mitgebracht. Alys freute sich mächtig und musste Lucien wieder<br />

umarmend küssend begrüßen. Für Julienne war das immer ein wenig deprimierend.<br />

Ich versuchte sie zu trösten. Es sei nur die Berührung, am Telefon habe<br />

sie sich über sie genauso gefreut, wenn nicht sogar noch mehr. Alyssia hatte<br />

jetzt seit fast 8:15 Uhr nicht mehr gelegen, und jetzt war es schon 11:30 Uhr.<br />

Das war zwar eigentlich überhaupt nicht richtig, aber heute war ja auch ein besonderer<br />

Tag. Vorm Essen noch mal Käse probieren? Warum nicht. Die gleiche<br />

Reaktion, wie heute morgen. Sie schien sie alle zu erkennen. Für drei Sorten<br />

schien sie Julienne verantwortlich zu machen, während für den Fourme d’Ambert<br />

Lucien angelacht wurde. Sie konnte jetzt die ganze Station mit Käse versorgen.<br />

Bei dem i-Phon war ich skeptisch. Wenn sie selber anrufen könne, würde sie<br />

das wahrscheinlich ständig versuchen, und man höre ja nichts als Angerufener.<br />

Wir wollten es ihr nur mal hier demonstrieren, wie das funktionierte. Julienne<br />

rief sie an. Sie hielt sich das i-Phon auch ans Ohr, aber machte ein Gesicht, als<br />

wenn sie sagen wollte: „Was soll denn der Quatsch. Das weiß ich doch längst.<br />

Jetzt ist sie doch hier. Warum sollen wir denn telefonieren?“. Wir lachten über<br />

unsere eigene Schusseligkeit. Lucien wollte noch Fotos machen. Jeder sollte<br />

einmal mit Alyssia in ihrem tief dunkelblau glänzenden Negligé abgelichtet<br />

werden. Lucien wollte sie bis morgen mit anderen abgezogen haben.<br />

Beim Mittagessen hatte sie statt 'Vache qui rit' jetzt eine kleine Käseplatte. Die<br />

Schwester erklärte, was sich im Einzelnen auf dem Teller befinde. Alys hörte<br />

aufmerksam zu. Als die Schwester schloss: „… und das ist ein wenig von dem<br />

Käse, den deine Mamon dir heute morgen mitgebracht hat.“ strahlte sie mich<br />

an. Die Schwester wünschte ihr guten Appetit, und Alyssia begann zu essen.<br />

Sie hatte alles verputzt, auch den ganzen Käse. Vom langsamen genussvollen<br />

Essen in Frankreich, schien sie nicht viel behalten zu haben. Sie machte einen<br />

Gesichtsausdruck, als ob sie richtig erschöpft sei vom Essen. Alys zeigte, dass<br />

sie zur Toilette müsse. Ich rief die Schwester, die gerade den Raum verlassen<br />

hatte zurück, und empfahl Alys, doch mal mit Julienne zur Toilette zu gehen.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 134 von 209


Sie zeigte auf Lucien. „Nein, nein,“ erklärte ich „zur Toilette geht man nur mit<br />

<strong>einer</strong> <strong>Frau</strong>, nicht mit einem Mann.“ Sie schien es kapiert zu haben, stand auf<br />

und ging zur Tür. Dort drehte sie sich um, schaute Julienne an, als ob sie sagen<br />

wollte: „Nun komm schon endlich.“ Julienne berichtete sie mache alles<br />

selbständig einwandfrei. Zwischendurch habe sie sie immer mal angelacht.<br />

Nachdem die Schwester sie wieder angeschlossen hatte, legte Alys sich sofort<br />

hin, und schlief ein.<br />

Das war ja ein Morgen. Ich war mir nicht sicher, ob es nicht besser sei, sie<br />

heute Nachmittag ganz in Ruhe zu lassen. Andererseits schien Alyssia ja auch<br />

immer viel zu lernen, wenn man sich mit ihr unterhielt, und die Freude, mit<br />

Camille zu telefonieren, wollte ich ihr auch nicht vorenthalten. Aber ich brauchte<br />

jetzt selber erst mal eine kleine Pause. Dann rief ich Camille an und berichtete<br />

überglücklich, was ich heute morgen erlebt hatte. Sie würde sehr vieles<br />

von dem, was seit Dienstag gesagt worden sei, verstehen und es sei ihr neues<br />

Faible, sich von anderen am Telefon etwas erzählen zu lassen. Alyssia würde<br />

sich bestimmt sehr freuen, wenn Camille mit ihr sprechen würde. Sie müsse<br />

sie nur zwischendurch mal auffordern, mir das Telefon zu geben. Alys lag im<br />

Bett als ich am Spätnachmittag reinkam, und blieb auch liegen. Anscheinend<br />

hatte sie begriffen, dass sie liegen bleiben sollte, und auch keine Angst mehr<br />

vor unerwünschten Zudringlichkeiten aus unübersichtlichen Winkeln haben<br />

musste. Ich setzte mich zu ihr aufs Bett, und erklärte ihr, ich hätte überlegt, ob<br />

sie nicht mal Lust hätte mit Camille zu telefonieren. Ihre Mimik verriet mir,<br />

dass sie mich verstanden hatte. Ich holte mein Handy raus, und wählte Camilles<br />

Nummer. Alyssia verfolgte alles gespannt mit großen Augen. Als ich sagte:<br />

„Ich geb' dir jetzt mal Alyssia.“ strecke sie mir ihre Hand entgegen. Als sie Camilles<br />

Stimme hörte wiegt sie ihren Kopf mit dem strahlenden Gesicht vor<br />

Freude hin und her. Dann verschwand auf einmal das Lachen und sie schien<br />

aufmerksam zuzuhören, was Camille ihr sagte. Dann lachte sie wieder und gab<br />

mir das Handy. „Camille, was hast du ihr erzählt, sie hat dir sehr angeregt zugehört,<br />

als ob sie alles verstehen würde.“ Sie habe versucht etwas zu wiederholen,<br />

was bei ihr gesagt worden sei, z. B. das sie sie zuletzt in ihrem wunderhübschen<br />

Negligé gesehen habe, das sie eine sehr schöne <strong>Frau</strong> sei, und dass<br />

sie gehört hätte, ihre Mamon habe ihr heute morgen Käse mitgebracht etc..<br />

„Erzähl ihr noch ein wenig. Sie freut sich riesig. Und wenn du dich verabschiedest,<br />

und sagst, dass du bald wieder mit ihr telefonierst, wird sie dich verstehen,<br />

und es wird gut sein. Danke Camille“ sagte ich ins Handy und reichte es<br />

wieder Alyssia. Die hörte wieder grinsend zu, strahlte noch einmal und reichte<br />

mir das Telefon zurück. Sie schien genau verstanden zu haben, was Camille ihr<br />

gesagt hatte. Wenn ich sie fragte, ob Camille dieses oder jenes gesagt habe,<br />

grinste sie immer, wenn es zutraf, wenn nicht machte sie ein ratloses Gesicht.<br />

„Alyssia deine Mamon liebt dich über alle Maßen. Du musst ganz schnell wieder<br />

gesund werden. Ich kann es gar nicht erwarten, dass du wieder nach Hause<br />

kommen kannst. Vielleicht erkennst du ja noch vieles wieder, wie deine Nougatdose,<br />

die hast du ja auch sofort erkannt.“ da hatte ich etwas gesagt. Nougatdose,<br />

wo war die. Aufgeregt suchten ihre Augen. Als ich sie ihr auf dem<br />

Nachtisch zeigte, war die Welt wieder in Ordnung. „Wir werden immer französisch<br />

mit dir sprechen müssen,“ redete ich weiter mit ihr, „damit wir dich nicht<br />

verwirren. Dann hat die deutsche Madame <strong>Ruth</strong> Stein plötzlich eine französische<br />

Tochter, Mademoiselle Alyssia Stein“ Sie schaute mich fragend mit<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 135 von 209


großen Augen an. „Ja, ja, so ist das,“ ich machte es nochmal wie gestern, „du<br />

bist Mademoiselle Alyssia Stein und ich bin Madame <strong>Ruth</strong> Stein, deine Mamon.“<br />

Beim zweiten mal schien sie es internalisiert zu haben, wer Madame und Mademoiselle<br />

waren. Sie strahlte. Wie schnell sie es verstanden hatte, bislang hatten<br />

alle immer nur einen Namen, außer Madame Stein, das hatte sie sicher<br />

schon öfter gehört. Sollte ich ihr das von den anderen auch erklären? Wäre das<br />

zu viel und würde es sie verwirren, oder würde es ihr die Struktur noch besser<br />

verdeutlichen. Ich wollte es einfach mal versuchen. Ich sagte ihr die vollständigen<br />

Namen vor: „Mademoiselle Julienne Carriere“ Alys stutzte, als ob sie in ihrem<br />

Kopf etwas suche. Hatte sie das schon mal gehört, kam ihr das irgendwie<br />

bekannt vor? Ich bestätigte nochmal: „Ja so heißt deine Freundin, Mademoiselle<br />

Julienne Carriere.“ Es war in Ordnung. Sie strahlte. Genauso verlief es bei<br />

Camille. Als ich „Monsieur Lucien Renouard“ sagte zögerte sie nicht sondern<br />

machte sofort ihr Katzengesicht. Was war das? Brauchte sie bei Lucien gar<br />

nicht nachzudenken. War ihr Renourd geläufig, und Monsieur? Ja, das hatte sie<br />

hier ja schon häufig und intensiv gehört, und es wohl selbstverständlich den<br />

Männern zugeordnet.<br />

Alys hielt ihre Hand ans Ohr und zeigte auf meine Tasche. Die Erwähnung von<br />

Lucien hatte wohl in ihr den Wunsch geweckt, ihn am Telefon zu hören. Ich<br />

konnte es ja versuchen, vielleicht machte Lucien es nochmal. Selbstverständlich,<br />

er fragte, ob er noch vorbei kommen sollte. „Natürlich, wenn du möchtest,<br />

Alys wird sich riesig freuen. Sag es ihr zum Schluss beim Telefonieren. Sie wird<br />

es verstehen.“ antwortete ich ihm. Alys schien es richtig zu genießen, Lucien<br />

zuzuhören. Ihre Augen hatte sie halb geschlossen und abwechselnd bewegte<br />

sie ihre Schultern, während sie s<strong>einer</strong> Stimme lauschte. Als sie mir das Telefon<br />

reichte, hatte sie einen sinnlich verklärten Gesichtsausdruck, als ob sie gerade<br />

ein großes Erlebnis gehabt habe. Was in ihr wohl vorging? Was Lucien wohl für<br />

sie bedeutete. Als er reinkam sprang sie natürlich sofort aus dem Bett. Bei Lucien<br />

war das eben so. Da konnte man nicht auch mal ruhig liegen bleiben, wie<br />

bei der Mamon. Lucien musste stehend umarmt, und intensiv geküsst werden,<br />

jedes mal, als ob sie ihn seit langer Zeit wieder zum ersten mal sehe. Was sollte<br />

das nur in Zukunft werden. Lucien würde ja so nicht mit ihr weiter leben<br />

wollen, können und sollen. Es stimmte mich ein wenig traurig, wenn ich sie<br />

jetzt so glücklich sah. Aber was sollte ich mir jetzt schwere Gedanken machen,<br />

für die Zukunft war ja sowieso alles noch offen. Sie lag ja noch auf der Intensivstation.<br />

Morgen früh hatte ich ein Gespräch mit dem Professor. Da würde ich<br />

vielleicht Weiteres erfahren. Lucien erklärte Alyssia, er würde sie gern im<br />

Liegen küssen, dann sei es am schönsten. Sofort legte sie sich hin und erwartete<br />

ihren küssenden Lover. Nach <strong>einer</strong> kurzen Kusssession kam auch schon<br />

das Abendessen. Das schien Alys noch wichtiger als Küssen zu sein. Wieder<br />

bekam sie alles erklärt. Ich meinte, sie solle nicht so schnell essen, sondern<br />

langsam genießen, und gestikulierte es ihr vor. Sie nahm den ersten Bissen in<br />

den Mund, schaute mich fragend an und bewegte ganz langsam ihren Unterkiefer.<br />

Ja, lobte ich, das sei korrekt. Es schien sie total zu amüsieren. Sie warf<br />

lachend ihren Kopf zurück. Beim zweiten Bissen wieder das gleiche, nur strahlte<br />

sie jetzt einfach so. Beim dritten Bissen schaute sie nur nochmal kurz zu<br />

mir auf, und lachte auch nicht mehr anschließend, kaute aber ständig weiter<br />

langsam. Als ich sagte: „Mademoiselle Alyssia Stein, sie sind eine wunderbare<br />

<strong>Frau</strong>.“ schaute sie nochmal auf und lachte, als ob sie sich für das Kompliment<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 136 von 209


edanken wolle. Ich überlegte, ob wir uns schon jetzt verabschieden sollten,<br />

oder ob ich vielleicht anschließend mit ihr nochmal zur Toilette gehen sollte.<br />

Wir warteten. So dauerte das Essen natürlich wesentlich länger, aber es schien<br />

ihr selber auch zu gefallen. Beim Käse, meinte die Schwester, würde sie sich<br />

jetzt nicht mehr auskennen, es seien zu viele. Das wisse Alyssia selber schon,<br />

welchen Käse sie gerade äße. Wir wollten es der Schwester mal demonstrieren.<br />

„Schmeckt der Fourme d'Ambert gut?“ fragte ich Alys, als sie gerade an einem<br />

Stückchen Saint-Nectaire kaute. Sie schaute mich entgeistert an, als ob sie sagen<br />

wollte: „Was soll das denn heißen?“ und nahm das Fourme d'Ambert<br />

Stückchen demonstrativ hoch. „Incroyable, absolument incroyable!“ meinte die<br />

Schwester nur. Als ich die Schwester fragte, ob ich eventuell noch mal mit Alys<br />

zur Toilette gehen solle, hatte sie es schon mitbekommen und legte die Hand<br />

auf ihre Venus. Ich fragte die Schwester, ob sie vielleicht mal mit ihr gehen<br />

wolle. Sie brauche nichts zu tun, Alys mache alles selbstständig. Ich erklärte es<br />

Alys. Dann die gleiche Reaktion wie bei Julienne, allein bis zur Tür, und dann<br />

der Blick zur Schwester: „Komm schon. Wo bleibst du denn?“ „Excellent,<br />

merveilleux,“ meinte die Schwester bewundernd. „Und reden sie sie mit<br />

Mademoiselle Stein an,“ gab ich der Schwester noch einen guten Tip, „sie wird<br />

es verstehen.“ Die Schwester würde bestimmt verbreiten, was sie erlebt hatte.<br />

Es würde Alyssia sicher gut tun, wenn man in ihr nicht primär die defizitär<br />

Kranke sähe, sondern positive Aspekte bewundert würden. Für Alys gab's noch<br />

Gute-Nacht-Küsse und das Versprechen, morgen wieder zu kommen. Alles war<br />

in Ordnung.<br />

Freitag Neues vom Professor<br />

„Entschuldigen sie, Madame Stein, das hätte nicht passieren dürfen.“ empfing<br />

mich der Professor. Deswegen hatte ich zwar den Termin, aber darüber wollte<br />

ich eigentlich gar nicht mehr reden. Wenn Alys es auch sicher nicht vergessen<br />

hatte, aber sie hatte es ja offensichtlich ohne Schaden verkraftet. Sie war ja<br />

allen gegenüber zutraulicher als je zu vor. Ich wollte vom Professor wissen,<br />

was werden würde. Am Mittwoch würden sie Untersuchungen beabsichtigen.<br />

Sie würden versuchen alles so schnell wie möglich hintereinander zu machen,<br />

und Alyssia dazu in einen leichten Dämmerschlaf versetzen, sprich eine ganz<br />

oberflächliche Narkose. Sie brauche ja nicht tief betäubt zu sein, sondern nur<br />

zu schlafen, damit sie zum Beispiel auf die Schienen von den PET und MRT Geräten<br />

gelegt werden könne und dort auch liegen bleibe. Anschließend wisse<br />

man dann auch mehr über ihr Gehirn. Wenn grundsätzlich strukturell alles in<br />

Ordnung sei, könne sie dann auf eine normale Station, auf der man dann die<br />

Rehabilitationsmaßnahmen anbahne. Sie beabsichtigten am Mittwoch auch, ihren<br />

Verband zu wechseln, und wenn alles so sei, wie sie erwarteten, bekäme<br />

sie nur noch einen großen Pflasterverband. Das hörte sich ja prinzipiell ganz<br />

positiv an. Ich wollte nur noch wissen, wie ich denn von den Untersuchungsergebnissen<br />

erfahre, und was er sich denn unter Rehabilitation vorstelle. Die Untersuchungsergebnisse<br />

müsse er oder ein Kollege mir erläutern, sonst könne<br />

ich da nichts mit anfangen. Bei den Reha-Maßnahmen sei er allerdings auch<br />

noch ziemlich ratlos. Was man machen könne, wenn Alyssia nichts verstehe,<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 137 von 209


und sich Fremden gegenüber abweisend verhalte, dazu habe er auch keine<br />

Vorstellung. Wie viel sie mittlerweile verstehe und wie schnell sie lerne, wollte<br />

ich ihm gar nicht verraten. „Wozu muss sie denn dann unbedingt im Krankenhaus<br />

bleiben, wenn man doch nichts tun kann?“ fragte ich den Professor. Der<br />

machte ein fragendes Gesicht, als ob er überlegen würde: „Ja warum eigentlich?“,<br />

dann meinte er: „Sie ist noch nicht gesund. Die Wunden sind zwar zugewachsen,<br />

aber noch nicht endgültig verheilt. Das dauert länger als drei Wochen.<br />

Sie braucht viel Ruhe und Schonung.“ „Und was tun sie sonst noch daran?<br />

Und warum kann das nicht in Hamburg geschehen?“ wollte ich wissen. Er<br />

schien ganz perplex zu sein. „Wissen sie was,“ schlug ich ihm vor, „ich telefoniere<br />

mit der Neurochirurgie in der Uni-Hamburg und sie schicken eine Kopie<br />

von Alyssias Akte dort hin. Und wenn am Mittwoch alles in Ordnung ist, bringe<br />

ich sie nach Hamburg.“ Der Professor schaute skeptisch. „Wie wollen sie ihre<br />

Tochter denn nach Hamburg bekommen? Sie kann auf keinen Fall mit üblichen<br />

Verkehrsmitteln reisen.“ wandte der Professor noch ein, aber grundsätzlich<br />

schien er es ja schon akzeptiert zu haben. „Selbstverständlich nicht, sie wird<br />

mit einem Krankentransport vom Automobilclub geflogen.“ behauptete ich<br />

einfach. Der Professor überlegte. „Madame Stein,“ sagte er dann, „ich mag sie<br />

und ihre Tochter natürlich besonders. Ich tue etwas ganz Ungewöhnliches, weil<br />

ich mir sicher bin, dass sie verantwortungsvoll handeln werden. Wenn Mittwoch<br />

alles unbedenklich ist, werde ich ihnen Donnerstagmorgen um diese Zeit die<br />

Untersuchungsergebnisse erläutern, und ihnen grünes Licht geben. Entspricht<br />

das so ihren Vorstellungen?“ Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen.<br />

Ich lobte ihn und bedankte mich bei ihm, so überschwänglich ich konnte. Den<br />

ersten Teil ihres Lebens habe meine Tochter mir zu verdanken, aber den<br />

zweiten ihm. Ich würde das nie vergessen können, und meine Tochter würde<br />

mich immer an ihn erinnern. Er sei ein wirklicher Held. Der Professor lächelte<br />

leicht verlegen, und erinnerte bei der Verabschiedung nochmal: „Also Mittwoch<br />

Untersuchung und Donnerstag um die gleiche Urzeit.“<br />

Ich konnte es noch gar nicht realisieren. In weniger als <strong>einer</strong> Woche würde<br />

Alyssia zu Hause sein. Dass sich bei den Untersuchungen auch etwas Negatives<br />

herausstellen könnte, ließ ich einfach nicht zu. Sechs Tage müsste sie noch hier<br />

bleiben und am siebten ging es nach Hause. Ich kam vor Freude auf so alberne<br />

Gedanken, dass sie in der Zeit ja gar nicht den ganzen Käse aufessen könnte.<br />

Aber was geschah dann eigentlich mit Julienne und vor allem Lucien. Sie<br />

hatten die ganze Zeit nur mit Alyssia verbracht. Um sie gebangt, auf ihr<br />

Wachwerden gewartet, ihre Fortschritte gefeiert, und ich würde sie ihnen einfach<br />

wegnehmen. Was konnte ich da nur tun? Ich musste mir etwas einfallen<br />

lassen. Aber ich musste ja auch alles andere organisieren, mit der Uni Hamburg<br />

und vor allem mit dem ADAC, wobei ich mir gar nicht sicher war, ob das<br />

überhaupt funktionieren würde.<br />

Aber jetzt musste ich erstmal zu Alyssia und es ihr selber erzählen. Obwohl sie<br />

wahrscheinlich nichts von dem verstand, strahlte sie immer. Bestimmt weil ich<br />

so freudig erzählte, musste es bestimmt etwas besonders Lustiges oder Schönes<br />

sein. Ich wusste gar nicht wo ich mit m<strong>einer</strong> Freude bleiben sollte. Ich<br />

musste mir etwas für Lucien überlegen. Er würde sicher bald kommen. Ich<br />

würde Lucien und Julienne bitten, ob sie nicht auch erst mal mit nach Hamburg<br />

kommen könnten, es seien ja noch Semesterferien, und eine abrupte Trennung<br />

bei gleichzeitigem Leben in <strong>einer</strong> für sie völlig neuen Umgebung, könnte für<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 138 von 209


Alyssia doch sehr schwer werden. Außerdem könnten sie ja auch eine ganze<br />

Menge Sachen zum Anziehen mitbringen, sonst müsste ich in Hamburg alles<br />

neu kaufen. Stimmte ja alles, fände ich selber auch sehr gut. Als Lucien kam<br />

berichtete ich ihm, was ich heute morgen erfahren hatte und wie ich mir das<br />

Weitere vorstelle. Kurzes Nachdenken und er war einverstanden. Als wir mittags<br />

nach Hause kamen, und ich es Julienne erzählte, war die ganz enttäuscht.<br />

„Warum bleibt sie nicht bei uns?“ fragte Julienne, „sie ist doch ganz fit, und<br />

hier ist doch ihr Zuhause und nicht mehr in Hamburg. Sie wird sich hier mit Sicherheit<br />

wohl fühlen.“ Ich konnte Julienns Argumente nicht einfach verwerfen.<br />

„Im Moment hast du sicherlich Recht, ich versteh dich auch sehr gut, und finde<br />

deine Aufopferungsbereitschaft für Alyssia wunderbar. Aber während des Semesters,<br />

wie willst du es denn da machen. Du wirst sie ja nicht allein lassen<br />

können. Auch wenn sie nicht vorsätzlich etwas anstellt, niemand weiß, was sie<br />

wirklich durchblickt, und auf welche Ideen sie vielleicht kommen wird. Hier<br />

bleiben kann sie nur, wenn du dein Studium aufgibst, und das ist sicher das<br />

letzte, was Alyssia gewollt hätte.“ Julienne war nachdenklich geworden und<br />

fing an zu weinen. „Ich bin einfach total abhängig von Alys, so viel Liebe und<br />

Verständnis, wie von ihr, habe ich noch nie von jemandem erhalten. Ich will<br />

nicht ohne sie leben, und so wie sie jetzt ist, wär's total o. k. für mich, auch<br />

wenn sie mich nicht mehr anfasst, stört mich nicht. Dass sie nicht mehr<br />

sprechen kann und das meiste vergessen hat, ändert m<strong>einer</strong> Ansicht nach<br />

nichts daran, dass sie im Grunde die alte Hexe, die ich so liebe, geblieben ist.<br />

Ich hatte mich gefreut, dass sie uns erhalten geblieben ist, und jetzt soll sie<br />

nach Hamburg.“ Ich sollte besser nicht mehr argumentieren. Julienne war<br />

einfach ganz tief traurig. Man konnte sie nur zu trösten versuchen.<br />

Beim Abendbrot wirkte Julienne schon wieder gefasster. Ich meinte, ich fände<br />

es ziemlich blöd, wir würden uns schon so lange kennen, seit drei Wochen seien<br />

wir wie eine Familie, wir hätten uns alle gegenseitig viel zu verdanken, ich<br />

könne es nicht mehr hören, ihre Madame Stein zu sein. Sie sollten mich doch<br />

<strong>Ruth</strong> nennen. Das würde mich sehr freuen. Die beiden hatten zuerst ganz gespannt<br />

gelauscht, jetzt lächelten sie. Lucien meinte scherzhaft: „Sehr geehrte<br />

Madame Stein, so einfach, wie sie sich das vorstellen, kann man das nicht realisieren.<br />

Dazu benötigt man einen sehr guten Wein und eine kräftige Umarmung.“<br />

Warum er den guten Wein, denn noch nicht geholt habe. So wie er<br />

rede, habe er ihn wahrscheinlich schon selber getrunken. Schnell in den Keller<br />

und neuen holen, solle er. Julienne lachte wieder. Dann wurde die Zeremonie<br />

vollzogen.<br />

Lucien ging bald ins Bett und ich unterhielt mich noch mit Julienne. Sie meinte,<br />

bei mir würde sie sich auch sehr wohl fühlen, ich sei auch so offen, freundlich<br />

und Vertrauen erweckend. Sie könne sich gut vorstellen, warum Alys so sei.<br />

Sie habe sicher eine sehr schöne Kindheit gehabt. Und dann erzählte sie von<br />

sich, wie grau und trübe alles immer gewesen. Ihre Mutter werde sie sicher geliebt<br />

haben, aber woran sie das merken sollte, wisse sie bis heute nicht. Sie<br />

habe von sich selbst auch immer ein Bild gehabt, dass mit ihr nicht viel los sei,<br />

und sie eher zum Schrott der Gesellschaft gehöre. Alyssia habe das alles nicht<br />

interessiert, sie habe ihr das ehrliche Gefühl vermittelt, dass sie sie für eine<br />

tolle <strong>Frau</strong> halte, sie möge, und gern mit ihr zusammen sei. Sie sei wie eine lebende<br />

Sonne für sie gewesen, die ihre Nähe und ihr Vertrauen gesucht habe.<br />

Die Zeit mit Alyssia sei für sie im Nachhinein betrachtet Glück pur gewesen.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 139 von 209


Sie sehe ein, das es richtig sei, was ich gesagt habe. Sie solle lieber sehen, wie<br />

sie möglichst viel aus ihren tollen Erfahrungen für sich retten könne, anstatt<br />

der Zeit nachzutrauern. Aber das könne sie jetzt rational so einfach sagen,<br />

wenn sie daran denke, wie sie abends allein am Tisch sitze, kämen ihr schon<br />

jetzt wieder die Tränen hoch.<br />

Ich erzählte ihr von meinen Ängsten bei Alyssias Auszug, und was wir getan<br />

hätten, damit in uns keine Verlustschmerzen aufkämen. Dass Alyssia die starke<br />

<strong>Frau</strong> Julienne nicht verlieren wolle, sei doch klar, auch wenn sie es nicht sagen<br />

könne. „Aber wie soll ich das denn machen? Wie soll ich das denn bezahlen?“<br />

klagte Julienne. „Hör auf Julienne, so nicht. Du wolltest doch möglichst viel<br />

retten. So hätte Alyssia nie gedacht. Sich jammernd die Verhinderungsgründe<br />

vorbeten, macht trübsinnig und krank. Wenn ihr beide euch öfter sehen wollt,<br />

lass uns nach Möglichkeiten suchen. Ich stelle mir sowieso vor, dass sie sobald<br />

wie möglich euer Haus wiedersehen soll. Ich denke auch wie du, dass hier ihr<br />

eigentliches Zuhause war. Und in den Semesterferien könnte sie ja auch mal<br />

allein hier bleiben, wenn du wolltest. Abgesehen davon könnte ich ja auch mal<br />

etwas bezahlen, wenn's ganz dringlich ist. Es ist ja auch genauso für Alyssia,<br />

und allein reisen, wird sie jawohl nicht können.“ zeigte ich ihr einige<br />

Möglichkeiten auf. „Es ist für mich sehr ungewohnt dich, <strong>Ruth</strong> zu nennen, aber<br />

ich tue es gern. Mir vorzustellen, dass du nicht nur die relativ entfernte<br />

Madame Stein, sondern meine Freundin <strong>Ruth</strong> wärst, fände ich unbegreiflich<br />

toll.“ meinte Julienne. „Das ist doch so, meine liebe Julienne, oder nicht?“<br />

reagierte ich. Jetzt strahlte Julienne, fiel mir um den Hals und wollte gar nicht<br />

aufhören mir abwechselnd eine Wange nach der anderen zu küssen. „Ich<br />

verstehe nicht, wie es so tolle Menschen wie dich und Alyssia geben kann, und<br />

mir noch nie <strong>einer</strong> begegnet ist. Wahrscheinlich seid ihr die einzigen, und ich<br />

habe mal ausnahmsweise das Glück gehabt, euch kennen zu lernen.“ sinnierte<br />

Julienne. „Denk nicht so einen Blödsinn und rede nicht so etwas, Julienne.“<br />

entgegnete ich darauf, „Ich bin eine ganz normale <strong>Frau</strong> mit allen Macken und<br />

Alyssia ist manchmal ein bisschen nervig, nur mich hat das nie gestört,<br />

sondern eher gefreut.“ Wir redeten weiter bis tief in die Nacht, und meinten<br />

eigentlich noch unendlich viel besprechen zu müssen. Ich glaubte, Julienne<br />

habe unser Gespräch sehr gut getan und sie brauche mich, aber es war auch<br />

hilfreich für uns beide. Unsere Beziehung würde ab jetzt wesentlich enger und<br />

vertrauensvoller sein. Wir würden das schon geregelt bekommen mit Alyssia,<br />

da sei sie sich eigentlich ganz sicher, hatte sie noch zum Schluss gemeint.<br />

Freitag Fotoprüfung<br />

Das Organisatorische musste jetzt erst geklärt werden. Mit der Neurochirurgie<br />

in Hamburg wollte Ralf heute alles so weit wie möglich klären, aber beim ADAC<br />

war noch alles offen. Wie ich es mir gedacht hatte. Ich wurde zunächst mal<br />

von einem Vorzimmer oder Sachbearbeiter zum nächsten verbunden. Man erzählte<br />

mir, was alles vorgelegt werden müsste, und was ich eigentlich hätte tun<br />

müssen. Auf jeden Fall wäre das bis Donnerstag alles gar nicht realisierbar<br />

gewesen. Ich wollte mit dem Direktor sprechen. Ob das der Chef war, weiß ich<br />

nicht, eventuell ein Subalterner. Den Polizeibericht könne ich ja besorgen und<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 140 von 209


am Donnerstag mitbringen. Ich hätte um das Leben m<strong>einer</strong> Tochter gebangt,<br />

und eine Mutter, die nicht weiß, ob ihr Kind morgen noch leben wird oder nicht,<br />

denkt Gott weiß nicht daran, ob sie gegenüber dem ADAC alles richtig gemacht<br />

habe. Ich fing wieder an zu weinen, und ließ es am Telefon deutlich vernehmen.<br />

Hinterher musste ich lachen. Wieder hatte ich mich mit meinen eigenen<br />

theatralischen Schilderungen selbst ins Weinen geredet. Er wolle prüfen, was<br />

möglich sei, mehr könne er jetzt nicht versprechen. Das war mir zu wenig. Ich<br />

rief Ralf an. Er sollte herausfinden, wer der Chef vom ADAC in Hamburg sei.<br />

Nach einiger Zeit rief Ralf zurück und meinte, das sei alles ganz kompliziert, in<br />

Hamburg sitze nur ein ehrenamtliches Mitglied im Verwaltungsrat, und der<br />

meine, das würde die Geschäftsführung in völliger Eigenregie entscheiden. Die<br />

würden sich seine Einmischung strickt verbeten. Er habe einen ganz guten<br />

Draht zum Präsidenten, aber ob der sich mit Einzelfällen abgeben würde, sei<br />

höchst fraglich. Die einzige Chance sei eben der für Luftrettung und<br />

Flugdienste zuständige Herr Weßling in der Geschäftsführung. Den wollte ich<br />

heute kurz vor Mittag anrufen. Um nicht die Chance auszulassen, dass der<br />

Hamburger Vertreter doch noch erfolgreich aktiv geworden sein sollte. So war<br />

es dann auch. Herr Weßling meinte, ich schiene ja hervorragende Beziehungen<br />

zu haben. „Herr Weßling, das interessiert mich jetzt überhaupt nicht. Ich bin<br />

nur in m<strong>einer</strong> ausweglosen Situation von Sachbearbeitern mit unerfüllbaren<br />

Bedingungen konfrontiert worden, die teilweise in der Vergangenheit lagen.“<br />

erklärte ich ihm und schilderte ihm kurz die Situation von Alyssia. Er würde mir<br />

gerne helfen und sich auch in Zweifelsfällen für mich entscheiden, aber sich<br />

völlig über die rechtlichen Voraussetzungen hinwegsetzen, könne er auch nicht.<br />

Das Wenigste sei, dass eine Bescheinigung irgendeines Arztes vorliege, dass<br />

der Krankentransport unbedingt erforderlich sei. „Herr Weßling nicht irgendein<br />

Arzt, der Chef der Neurochirurgie in Montpellier hat das schon so angeordnet,<br />

ohne ihn würde meine Tochter nicht mehr leben, sonst hätte ich mich gar nicht<br />

an sie gewandt. Ich werde das alles auch schriftlich besorgen, und am<br />

Donnerstag mitbringen. Nur vorher schicken kann ich das nicht mehr. Und<br />

wenn das alles nicht reichen sollte, bezahle ich es auch selber, das sei kein<br />

Problem.“ erklärte ich ihm und erzählte von der Firma meines Mannes, die<br />

auch mit dem ADAC zusammenarbeite. Dann wurden noch die Details<br />

abgeklärt und ich verwies darauf, das bei solchen Fällen wie m<strong>einer</strong> Tochter<br />

natürlich immer aktuell Ereignisse auftreten könnten, die jeden Transport<br />

unmöglich machten. Dann solle ich doch am Donnerstagmorgen anrufen, wenn<br />

alles o. k. sei. Ein Flugzeug würde bereitstehen, sofort starten können, und sei<br />

in circa 3 Stunden am Aéroport Méditerranée. Er gab mir noch die<br />

entsprechende Nummer der Flugbereitschaft, und ich bedankte mich bei ihm.<br />

Jetzt war ja alles geregelt. Ich war total happy.<br />

Vorher war ich schon sehr glücklich gewesen. Mit Alyssia gab es jeden Tag<br />

neue Überraschungen. Als ich zu ihr reinkam, saß sie auf ihrer Bettkante und<br />

Julienne und Lucien auf Stühlen davor. Sie waren ganz in Fotos vertieft. „Sie<br />

erkennt fast alles wieder.“ verkündete Julienne stolz, „Und zum Klo ist sie mit<br />

mir auch schon gewesen.“ Ma très chère Julienne, ich glaube sie war seit heute<br />

Nacht für mich eine andere geworden. Ich hatte sie eigentlich immer schon gemocht,<br />

aber jetzt war es intensiver. Ich fühlte mich in gewisser Weise verantwortlich<br />

für sie. Ich wollte sie beschützen. Vor was? Ich wusste es auch nicht.<br />

Ich wusste nur, dass ich mich freuen würde, wenn sie glücklich wäre. Alyssia<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 141 von 209


sah sich tatsächlich alle Fotos sehr genau an, allerdings nur die mit Menschen,<br />

die sie eigentlich gut kennen musste. Völlig fremde Gesichter schienen sofort<br />

als solche identifiziert, und für unbeachtlich gehalten zu werden. Sie interessierte<br />

sich für ein Foto von ihrem Haus, wenn Julienne oder sie selbst davor<br />

standen, aber ohne Personen schien sie selbst ihr Haus nicht zu interessieren,<br />

geschweige denn andere Gebäude und Landschaften. Alys schaute nur einmal<br />

kurz zu mir auf, und lachte, als ob sie sagen wollte: „Schau mal, was wir für<br />

schöne Sachen machen. Sie war total vertieft in die Bilder. Es schien sie enorm<br />

zu interessieren. Bei Freundinnen oder Freunden, die sie kannte, kam jedes<br />

mal erst dieser lange Ausgrabungsprozess, und dann das freundliche Strahlen,<br />

wenn es ihr gegenwärtig war. Auch Madame Ledoux und Daniel habe sie erkannt.<br />

Bei Daniel habe sie allerdings nicht gelächelt, sondern sie beide ganz<br />

ernst fragend angeschaut. Sie kannte also nicht nur die Gesichter, sondern<br />

hatte auch zu den Personen noch eine Vorstellung. Ob sie für anderes als<br />

Personen keine Erinnerung mehr hatte, oder ob sie auf den zweidimensionalen<br />

Fotos nichts erkennen konnte, wussten wir auch nicht. Wir würden es ja später<br />

sehen, wenn sie aus dem Krankenhaus käme, ob sie sich dann noch an etwas<br />

erinnern würde.<br />

Die Uni-Klinik in Hamburg-Eppendorf brauche unbedingt Unterlagen. Teilte Ralf<br />

mir mit. Sie könnten zwar ein Bett frei halten, aber wenn sie gar keine Unterlagen<br />

hätten, seien sie ja völlig hilflos. Ralf gab mir die Adresse und den Namen<br />

des Professors. Der habe sich alles notiert und sei informiert. Erst mal in ein<br />

Bett der Neurochirurgie in Eppendorf? Was sollte das denn, wenn Alyssia o. k.<br />

war? Nein, keinesfalls, das wollte ich nicht. Ich würde am Freitagmorgen mit<br />

ihr in die Klinik fahren und ihm die Unterlagen geben. Ich versuchte es einfach<br />

mal selber und wurde auch durchgestellt. Nachdem er erfahren hatte, dass ich<br />

die <strong>Frau</strong> des Architekten Stein war, ließ sich alles ermöglichen. Diese verrückten<br />

Hornochsen! Worum ging es eigentlich, um Reputation oder um meine<br />

Tochter. Auch wenn offiziell alles demokratisch geregelt ist, scheinen vielen<br />

Menschen emotional Bananenrepublikverhältnisse näher zu liegen. Sie sollen<br />

an meine Tochter denken, wenn sie sich ins Zeug legen, und nicht an den Architekturimpressario,<br />

dem fehlt nichts, dem geht’s gut. Der wird noch nicht<br />

einmal etwas von ihrer Hilfsbereitschaft erfahren. Ich teilte Ralf noch die Entwicklung<br />

mit, und das wir am Donnerstag wahrscheinlich wischen 15 und 16<br />

Uhr am Flughafen Fuhlsbüttel abgeholt werden müssten. „Nein, du oder besser<br />

Camille, ganz normales Auto, möglichst groß.“ erklärte ich dem verdutzten Ralf<br />

noch, der meinte einen Krankenwagen bestellen zu müssen. Jetzt war am Freitagmittag<br />

schon alles für Donnerstag geklärt.<br />

In Combaillaux überlegten wir, ob Julienne und Lucien nicht schon vorfahren<br />

sollten. Am Mittwoch sei Alys sowie nicht ansprechbar und wenn sie schon in<br />

Hamburg wären, wenn Alyssia ankäme, das wäre doch toll. Dann würde sie<br />

sich bestimmt zu Hause fühlen, auch wenn sie das Gebäude nicht wiedererkenne.<br />

Sie wollten Dienstag alles zusammenpacken und Mittwochmorgen ganz<br />

früh losfahren. „Und wenn sich am Donnerstag herausstellt, dass doch nicht alles<br />

in Ordnung ist?“ erkundigt sich Lucien. „Und wenn, und wenn, und wenn?<br />

Lucien. Ich kann das nicht hören.“ erklärte ich barsch, „Ich kann mir millionenfach<br />

schlimme Sachen überlegen, und mich davor fürchten. Das will ich nicht.<br />

Ich will mich über das freuen können, was ist und was positiv hinzukommt,<br />

und das kann ich nicht, wenn ich immer Angst vor möglicherweise bösen Ent-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 142 von 209


wicklungen habe. Was wir tun, wenn etwas eintrifft, das wir nicht erwartet haben,<br />

werden wir dann sehen. Es wird uns schon etwas einfallen.“ „Einverstanden,<br />

Mamon.“ meinte Lucien leicht scherzhaft. Ich entschuldigte mich für meine<br />

Philippika, und sogar Julien meinte: „Ja, Lucien, du kannst einem die ganze<br />

Laune verderben. Freu' dich lieber auf unseren Trip. Ich möchte nicht neben einem<br />

trüben Zweifler sitzend nach Hamburg fahren.“ Ma chère Julienne, sie<br />

überraschte mich aufs Neue. War sie es doch, die sonst immer als erste Ängste<br />

und Befürchtungen geäußert hatte. Sollte das Gespräch <strong>einer</strong> Nacht sie völlig<br />

verändert haben? Wohl kaum, ich nahm an, dass sie sich einfach wieder sicher<br />

fühlte, und dieses angstvolle Zukunftsbild, das sie immer begleitet hatte, nicht<br />

mehr vorhanden war, so ähnlich wie bei mir damals bei der Trennung von<br />

Alyssia.<br />

Samstag bis Mittwoch<br />

Die 4 Tage bis Mittwoch gingen im Flug vorüber. Alyssia war zum Liebling der<br />

Station geworden. Alle wollten mit ihr reden, ihre großen fragenden Augen sehen,<br />

ihr freundliches Lachen erleben, und am liebsten ihr schelmisches Grinsen<br />

mit den halb geschlossenen Augen erzeugen. Die Schwestern berichteten mir<br />

immer stolz, welche tollen Sachen sie mit ihr erlebt hatten, und Madame Mercier<br />

meinte, dass sie bestimmt alle traurig sein würden, wenn der Sonnenschein<br />

Alyssia nicht mehr bei ihnen wäre. „Aber soll ich sie deswegen hier lassen?“<br />

meinte ich lachend, „Madame Mercier, ich bin ihnen persönlich überaus<br />

dankbar, über ihre ärztlichen Funktionen hinaus, sind sie mir als <strong>Frau</strong> sehr<br />

nahe. Ich würde ihnen persönlich aus Hamburg gerne schreiben. Wollen sie mir<br />

nicht ihre Adresse geben.“ Sie zögerte keinen Moment, sondern schien sich zu<br />

freuen, und wollte auch meine Adresse haben.<br />

Der Mittwoch war der längste Tag. Julienne und Lucien waren schon um 5 Uhr<br />

früh mit vollgepacktem Wagen losgebraust. Ich saß allein in Combaillaux und<br />

wartete. Um spätestens 16 Uhr sei bei Alyssia alles abgeschlossen. Ich spielte<br />

den morgigen Tag noch einmal durch, rief vorsichtshalber noch mal bei der<br />

Flugrettung an, und ging durchs Haus, ob alles zum Verlassen bereit sei. Ich<br />

fuhr noch mal nach Montpellier rein. Vielleicht verging dort ja die Zeit schneller.<br />

Ah, wir hatten ja für Alyssia gar nicht den richtigen Käse. Aber jetzt hier<br />

einkaufen und in <strong>einer</strong> kleinen Tasche im Krankenflieger mitschleppen, das<br />

ging auch nicht. Ich rief Ralf an, welche Käsesorten er unbedingt besorgen<br />

müsse. Vier unverzichtbar, und vier wenn möglich, vielleicht würde Camille ihm<br />

ja helfen.<br />

Als ich endlich zu Alys reinkam, lag sie friedlich in ihrem Bett. Keine Kabel, keine<br />

Schläuche mehr, und auch kein großer Kopfverband mehr. Nur an der linken<br />

Seite ein großes Pflaster vom Nacken bis zur Schläfe. Fast alle Haare außerhalb<br />

des Pflasters waren unversehrt vorhanden. Ich dachte immer, man würde bei<br />

Schädeloperationen aus hygienischen Gründen kahl geschoren, aber vielleicht<br />

hatte man ja bei solchen Notfällen keine Zeit dafür. Meine Hübsche lag einfach<br />

so süß lächelnd im Bett. „Steh auf, meine Liebe, und gib d<strong>einer</strong> Mamon einen<br />

Kuss!“ forderte ich sie auf. Lächelnd bewegte sie sich langsam auf, als wenn sie<br />

dächte: „Na schön, wenn's sein muss.“ Aber vielleicht wahr sie ja auch noch<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 143 von 209


ein wenig benommen durch die Narkose, daran hatte ich gar nicht gedacht. Wir<br />

umarmten uns, küssten uns, und schauten uns sehr lange in die Augen. Ich<br />

streichelte ihr durchs Haar. Alyssia machte einen ausgesprochen ruhigen<br />

Eindruck und legte sich auch nach der Begrüßung sofort wieder hin. Ich wollte<br />

mit jemandem sprechen. Jetzt hätte mir <strong>Frau</strong> Mercier gut gefallen, nur die<br />

hatte heute leider keinen Dienst. Der Arzt wusste gar nichts Detailliertes, dazu<br />

müsse man die Bilder sehen. Man habe ihnen nur mitgeteilt, dass alles in<br />

Ordnung sei, sie nicht mehr überwacht werden brauche und morgen früh nach<br />

Hamburg geflogen würde. Das war ja mehr als ich erwartet hatte. Ich rief<br />

sofort noch mal die Flugbereitschaft an, und teilte ihnen mit, dass jetzt schon<br />

alles klar sei. Wir vereinbarten 10 Uhr Méditerranée. Dann organisierte ich<br />

auch noch sofort einen Krankentransport von der Klinik aus um 10 Uhr am<br />

Aéroporte. Ralf musste ich auch noch informieren, dass wir früher kämen.<br />

Dann konnte ich mich wieder m<strong>einer</strong> verträumten 'Geliebten' widmen, die ja<br />

leider noch gar nicht wusste, was ihr bevor stand. Hamburg, zu Haus, Fliegen,<br />

das sagte ihr ja nichts. Ich erzählte ihr von Lucien und Julienne, die schon<br />

gefahren seien, und die wir morgen wiedersehen würden, und dass Camille<br />

schon Käse gekauft habe, und vieles mehr. Zwischendurch wollte sie immer<br />

mal ein Küsschen haben. Streicheln und Küssen gefielen ihr so gut, warum<br />

durften das nur Mamon und Lucien. Vielleicht würde ich ja in Hamburg mehr<br />

dazu erfahren. Dass Alyssia je wieder würde sprechen können, hielt ich nach<br />

meinem Laienverständnis für ausgeschlossen. Sie wusste ja noch nicht einmal,<br />

irgendwelche Laute zu produzieren. Zu ihren Stimmbändern schien kein<br />

irgendwie gearteter Kontakt mehr zu bestehen. Was sie wohl empfand, wenn<br />

sie andere sprechen hörte und es selbst nicht konnte. Es schien sie nicht zu<br />

stören. Sie war immer gut gelaunt. Warum sollte es mich da stören? Ein<br />

Gedanke, das mir ihr Sprechen fehlen würde war mir auch noch nie<br />

gekommen. Natürlich konnte ich rational Vergleiche anstellen zwischen früher<br />

und jetzt, aber wozu? Emotional empfand ich gar nicht so, emotional freute ich<br />

mich mit Alyssia, und das war auch gut so.<br />

Abends konnte ich überhaupt nicht einschlafen. Das kannte ich eigentlich gar<br />

nicht, aber es stand ja auch so ein événement exceptionnel bevor. Ich wollte<br />

immer das Bild sehen: Alyssia am frühen Nachmittag vor unserem Haus in<br />

Hamburg. Ob sie innen wohl etwas wiedererkennen würde, ihr Zimmer, die Bibliothek?<br />

Wie sie wohl auf Ralf und Christoph reagierte. Alles schrecklich spannend.<br />

Mögliche Probleme beim Krankentransport und Flieger würden wir schon<br />

geregelt bekommen. Darüber machte ich mir keine Sorgen.<br />

Komm nach Haus meine Liebe<br />

Am Donnerstag war ich schon um 7 Uhr in Kliniknähe, um einen Parklatz für<br />

Julienns Auto zu finden, wo es unentgeltlich länger stehen bleiben konnte. Als<br />

ich den Professor traf, erklärte er mir, dass ich grundsätzlich sehr zufrieden<br />

sein könne. „Sie kann also heute nach Hamburg fliegen?“ unterbrach ich ihn,<br />

und wollte nochmal die Bestätigung hören. „Ja, ja, selbstverständlich,“ reagierte<br />

er leicht gereizt, als ob es darum gar nicht ginge. Mir ging es aber fast ausschließlich<br />

darum. Alles andere würde ich mir sowieso lieber in Hamburg erklä-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 144 von 209


en lassen. Ich hörte aber noch brav zu. Jetzt fing er auch noch an mir erklären<br />

zu wollen, mit welchen üblen Spätfolgen bei Gehirnverletzungen grundsätzlich<br />

immer zu rechnen sei. Das wollte ich aber überhaupt nicht hören. Ich bat ihn<br />

mir doch etwas für die Kollegen in Hamburg mit auf den Weg zu geben. Ich<br />

bekäme ja die Akte mit, aber die Ergebnisse von Gestern wären noch nicht<br />

verschriftlicht. Mit dem Versprechen, sie zurückzuschicken bekam ich<br />

schließlich in einem großen Umschlag auch die Bilder mit. Ich lobte in noch<br />

einmal überschwänglich, und stürmte rauf zu Alyssia. Dass sie sich anziehen<br />

sollte, schien sie zu erstaunen. Nach dem sie alle Sachen inspiziert hatte, ging<br />

ich nochmal mit ihr zur Toilette, und dann wurde angezogen. Alles schien o. k.<br />

nur die Söckchen in Turnschuhen schienen ihr nicht zu gefallen und wurden<br />

verweigert. Mit ihren langen dunklen Haaren, der Lederjacke und den Jeans<br />

sah sie richtig kess aus, meine süße Biene. Man wollte mir unbedingt den restlichen<br />

Käse mitgeben. Den brauche Alyssia doch, der bedeute ihr doch so viel,<br />

den könne ich doch nicht einfach zurück lassen. Alles wurde gut verpackt in<br />

eine zusätzliche Tragetasche gegeben, und ich musste ihn mitnehmen. <strong>Frau</strong><br />

Mercier kam mit zum Krankenwagen für den Fall, dass es Probleme geben<br />

sollte. Es war schnell geklärt, dass Alyssia nicht auf der Liege angeschnallt<br />

wurde, sondern ich mit mir hinten saß, und der Arzt vorne. Ich glaube nicht,<br />

dass so etwas ohne Madame Mercier so problemlos möglich gewesen wäre. Als<br />

wir uns verabschiedeten, kamen ihr die Tränen. Alyssia schaute zwar immer<br />

fragend, aber sie machte dann doch alles problemlos mit. Ich zeigte ihr, wie ich<br />

den Gurt befestigte, reichte ihr dann ihren, und sie machte es auch. Wenn ich<br />

das machte schien das o. k. zu sein. Genauso im Flugzeug. Sie musste zwar<br />

vorher alles genau inspizieren, machte aber immer, was ich von ihr erwartete,<br />

obwohl alles völlig ungewohnt für sie war, und sie überhaupt nicht wusste, was<br />

es zu bedeuten hatte. Sie hatte einen ganz komfortablen Krankensitz, aber<br />

vorm Hinsetzen musste er auch erst unter die Lupe genommen werden. Was<br />

konnte sie denn wohl Schreckliches vermuten, wovor hatte sie denn Angst.<br />

Alles Neue, Ungewohnte schien prinzipiell verdächtig, und konnte erst nach<br />

klärender Inspektion genutzt werden. Der Arzt war völlig verblüfft, dass eine<br />

so schwer Verletzte nach so kurzer Zeit ganz normal herumlaufen könne. Ich<br />

sprach immer abwechselnd mit dem Arzt und mit Alyssia. Wir hätten mit ihr<br />

bislang nur französisch gesprochen und da verstehe sie schon wieder sehr viel.<br />

Sie greife neue Wörter und ihre Bedeutung aus Gesprächen auf, und verstehe<br />

sie dann. Sie weiß z. B. auch, dass sie Mademoiselle Alyssia Stein ist, und als<br />

ich das sagte strahlte sie natürlich wieder. „Et je suis Monsieur Christian<br />

Decker.“ erklärte ihr der Arzt.<br />

„Monsieur Christian Decker.“ wiederholte er, und Alys strahlte ihn an. „Sie hat's<br />

verstanden.“ meinte ich, „Wenn sie so ein lachendes Gesicht macht, bedeutet<br />

das, dass ihr etwas klar ist, verdeutlicht aber zugleich auch ein Zeichen von<br />

Sympatie, heiß also auch ich mag dich, du bist o.k.“ „Oh merci, Madmoiselle<br />

Stein.“ sagte der Arzt zu ihr. Alys strahle ihn wieder an. Ich erklärte Alyssia er<br />

sei das selbe, wie Madame Mercier, er sei auch Arzt. Sie schaute zu ihm rüber<br />

und strahlte wieder. Sie scheint sie ja wirklich zu verstehen <strong>Frau</strong> Stein. Sonst<br />

hätte sie ja nicht mich angeschaut. Monsieur Decker sah sich auch die<br />

Krankenakte an, und meinte, schade dass sein Französisch so mangelhaft sei,<br />

aber so wie er es einschätze, müssten die Kollegen in Montpellier ziemliche<br />

Künstler sein. Bei den genannten Verletzungen ginge er davon aus, dass ein<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 145 von 209


Mensch keine Überlebenschance habe. Das sie das überhaupt versucht hätten,<br />

zeuge davon, dass sie sich viel zutrauen würden. Dann versuchte Monsieur Decker<br />

mal wieder etwas aus s<strong>einer</strong> Französisch-Schatzkiste hervorzuzaubern.<br />

Alys hörte ihm gut zu, aber wenn sie lächelte, hatte sie dabei auch manchmal<br />

die Augenbrauen hoch gezogen, und es wirkte eher, als ob sie sagen wollte:“So<br />

ein Blödsinn. Das soll ich glauben?“ Das Interesse von dem freundlichen Herrn<br />

Decker sorgte mit dafür, dass die Zeit für alle sehr rasch verging. Alyssia<br />

schien auch genau zuzuhören, wenn wir deutsch sprachen. Wahrscheinlich<br />

konnte sie gar nicht differenzieren und es waren für sie alles Wörter <strong>einer</strong><br />

Sprache, nur dass sie die deutschen eben noch nie gehört hatte.<br />

In Fuhlsbüttel winkte Ralf uns vom Terminal zu, man hatte ihn nicht reinlassen<br />

wollen, nur Krankenwagen dürften zu den Flugzeugen. Herr Decker fragte<br />

noch, ob er etwas unternehmen solle. Ich winkte ab, das würde dann viel länger<br />

dauern, als wenn wir gingen. Wir umarmten uns zum Abschied mit der gegenseitigen<br />

Erklärung, dass es sehr interessant und angenehm gewesen sei.<br />

Ralf, den Alyssia zuerst sah, wurde wie üblich gemustert und dann wiedererkennend<br />

angestrahlt. Als ich Ralf erklärte, was es bedeute, hatte Alys Camille<br />

gesehen. Sie rannte auf sie zu, blieb kurz vor ihr stehen, beugte sich vor und<br />

wiegte sich hin und her. Sie lief wieder uns entgegen, zerrte mich am Ärmel zu<br />

Camille, als wenn sie mir zeigen wollte, wen sie entdeckt hatte, und fiel mir um<br />

den Hals und küsste mich. Entweder wollte sie einfach ihre überschwängliche<br />

Freude verdeutlichen, oder sie war der Ansicht, ich hätte das große Glück, Camille<br />

wider zu sehen, ermöglicht, wie damals bei den Fesseln im Krankenhaus.<br />

Aber jetzt musste ich auch erst mal Camille umarmen, ich freute mich ja auch,<br />

sie wiederzusehen. Aber vor allem Ralf, und das tat ich auch einen Moment<br />

ganz heftig, wobei kurz alles um mich herum verschwunden war. Wir schauten<br />

uns an und mir kamen die Tränen. Dann erklärte ich Alys, das Ralf mon ami,<br />

mon Lucien sei, der mich immer küssen müsse. „Küss mich mal, Ralf!“ forderte<br />

ich ihn auf und streckte ihm meinen Kussmund entgegen. Ralf lachte und fragte,<br />

was das denn für ein Spiel sei. Ich klärte ihn auf, das Mademoiselle mittlerweile<br />

schon eine ganze Menge wieder verstehe, aber nur französisch, und Lucien<br />

ihr absoluter Favorit sei, und es bei mir das gleiche mit dir sei. „Oder<br />

stimmt das etwa nicht?“ meinte ich noch ironisch. „Ralf ich weiß im Moment<br />

vor Freude gar nicht, wo ich hin soll. Ich freue mich unmäßig, dass es mit Alyssia<br />

alles so gut und reibungslos funktioniert hat, aber nicht viel weniger freue<br />

ich mich, selber wieder zu Hause zu sein. Ich könnte tanzen, platzen, dich verhauen,<br />

ich weiß nicht was.“ versuchte ich meine Stimmung zu beschreiben.<br />

„Komm, lass uns nach Hause fahren. Ich kann es kaum erwarten.“ trieb ich ein<br />

wenig. Das Auto war natürlich wieder neu. Ich setzte mich rein und schnallte<br />

mich an, Alyssia tat es auch. Unterwegs erzählte ich Alys immer wieder, dass<br />

wir jetzt in Hamburg seien, und wer alles in Hamburg wohne, und dass hier<br />

unser Haus mit unserem Bett sei, das wir in Hamburg schlafen und Käse essen.<br />

Und schon waren wir zu Hause eher die unendliche Geschichte von Hamburg<br />

zu Ende war.<br />

Ralf hupte, aber Julienne und Lucien warteten schon vor dem Haus. Das war zu<br />

viel. Alyssia schaute und schaute. Auch wenn sie über Lucien und Julienne erstaunt<br />

war, schien ihr doch auch das Haus etwas zu bedeuten. Jetzt viel sie mir<br />

erst um den Hals und drückte und küsste mich so heftig, wie nie zuvor. Es<br />

schien doch deutlich, dass sie der Ansicht war, ich hätte dies ermöglicht. Dann<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 146 von 209


annte sie zu Lucien und wollte ihn gar nicht wieder los lassen. Als Lucien<br />

meinte, sie müsse auch Julienne begrüßen, drehte sie ihren Kopf zu Julienne<br />

und strahlte sie an. „Nein, nein,“ meinte Lucien, „du musst schon selber zu Julienne<br />

hingehen.“ Sie ließ sofort Lucien los und ging zu Julienne. Sie bekam<br />

wieder das schelmische Grinsen, Julienne erzählte, sie seien auch mit einem<br />

Auto hierher nach Hamburg gekommen und hätten, dies mitgebracht und das<br />

mitgebracht, und Alyssia stand leicht gebückt vor ihr und lauschte. Jetzt schien<br />

alles andere unbedeutend zu sein. „Lass uns doch rein gehen.“ schlug ich vor,<br />

„wir können ja sonst den ganzen Nachmittag vorm Haus erzählen.“ Als wir ins<br />

Haus rein kamen, wieder großes Staunen und und Schauen bei Alyssia, ein<br />

kurzes Strahlen, dann griff sie nach Luciens Hand und rannte mit ihm die Treppe<br />

rauf. „Lass die beiden laufen, es wird ihnen schon gefallen. Lucien wird es<br />

uns bestimmt gleich erzählen.“ fand ich. Ich könnte erst mal gut einen Kaffee<br />

gebrauchen, erklärte ich. „Wahrscheinlich, schleppt sie ihn sofort ins Bett, die<br />

rollige Ziege.“ meinte Julienne. Ich schaute sie fragend an. „Na ja, da sag ich<br />

lieber nichts zu.“ ergänzte Julienne. Es schien sie doch immer noch ein wenig<br />

zu ärgern, wenn sie zu spüren bekam, dass Lucien für Alys eine so<br />

herausragende Bedeutung hatte. Ich meinte, es sei nicht gut, wenn Alyssia<br />

renne. Es freue mich zwar, dass sie es könne, aber für ihren Kopf sei das sicher<br />

eher ungünstig. Wir hatten jetzt Unmengen Käse. Ich musste den<br />

mitgebrachten erst mal in den Kühlschrank legen, bevor er völlig zerlief. Zu<br />

Hause am Küchentisch einen Kaffee trinken, ich wusste gar nicht, wie glücklich<br />

einen das machen konnte. Wir hatten alle so vieles zu erzählen. Plötzlich<br />

tauchten die beiden händchenhaltend wieder auf. „Süß seht ihr beide aus, sehr<br />

süß Lucien und Alyssia“ erklärte ich noch mal für Alys, und sie strahlte. „Sie<br />

hat mir das ganze Haus gezeigt, jedes Zimmer,“ meinte Lucien, „aber sie wollte<br />

es wohl hauptsächlich selber wissen. Sie ist sofort direkt erst zu ihrem Zimmer<br />

gerannt. Da hat sie ihre Kleidung gesehen, und wollte gar nicht aufhören, sie<br />

zu untersuchen. Ich glaube sie erkennt auch außer Gesichtern vieles wieder,<br />

aber beim ersten mal muss sie immer stark überlegen.“<br />

Alys und ich hatten seit dem Frühstückt nichts gegessen. Camille hatte heute<br />

morgen noch schnell Baguettes geholt. „Oh ja, Baguette, Café au lait und Ei,<br />

dann war für Alyssia alles in Ordnung.“ meinte Julienne. „Dann machen wir das<br />

doch so. Hätte ich auch wohl Lust drauf.“ erklärte ich, denn ein Hungergefühl<br />

hatte ich eigentlich nicht. Dafür war ich noch viel zu aufgeregt. „Sie soll eigentlich<br />

keinen Kaffee trinken. Aber einmal gibt’s heute eine Ausnahme. Für morgen<br />

brauchten wir dann entkoffeinierten.“ erläuterte ich noch. <strong>Frau</strong> Richter,<br />

unsere Küchenhilfe, wollte sofort noch welchen holen. Ich fand es besser, so<br />

lange zu warten. Alyssia musste sich ja anschließend auch noch hinlegen. Sie<br />

hatte mittags immer geschlafen, brauchte viel Ruhe, und dann dieser schrecklich<br />

aufregende Tag heute. Also bereiteten wir schon alles Übrige vor. Alys<br />

schaute sich alles genau inspizierend an. Ich verteilte zwei Schalen, gab ihr die<br />

übrigen Bols, sie verteilte sie und strahlte mich an. Ich musste sie umarmen,<br />

meine neue Haushaltsgehilfin. Sie hatte immer noch ihre Lederjacke an. Als ich<br />

ihr andeutete, sie auszuziehen, schien ihr das nicht zu behagen. Ich wusste,<br />

dass sie ihre Lederjacke liebte, deshalb hatte ich sie auch für heute, fürs erste<br />

Anziehen, ausgesucht. Ich zeigte ihr, dass niemand im Haus eine Jacke an<br />

habe, und ging mit ihr zur Garderobe. Dort wurde sie auch brav ausgezogen,<br />

und ich nach vollbrachter Tat angelächelt. Als wir alle bei Café au lait, Baguette<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 147 von 209


und Ei zusammen am Tisch saßen, schien sie außer sich vor Freude. Sie strahlte<br />

jeden königlich an und fiel Lucien, neben dem sie natürlich sitzen musste,<br />

um den Hals. Camille standen die Tränen in den Augen und Christoph meinte:<br />

„Mein Gott, ist das rührend! Wie sie sich freuen kann, dass alle ihre Freunde<br />

um sie versammelt sind. Warum können wir das eigentlich nicht? Wahrscheinlich<br />

haben wir ganz vergessen, dass es eigentlich das Wichtigste für uns sein<br />

sollte.“ Jetzt wurde aber gegessen, und jedes Ei beschmierte, in Kaffee eingetauchte<br />

Baguettestückchen wurde bei strahlendem Gesicht in den Mund geführt.<br />

Nicht nur nette Menschen um sich, sondern auch noch ein fürstliches<br />

Mal, das Glück schien perfekt. Alle hatten ihre Freude daran. Ihr beim Essen<br />

zuzusehen, und Camille meinte: „Es ist ungeheuerlich, da ist diese junge <strong>Frau</strong><br />

so krank, ist fünf Minuten zu Hause, und schafft es alle glücklich zu machen.<br />

Ich habe ja immer gesagt, dass es ihr Wesen ist, Freude zu verbreiten, der<br />

man sich nicht entziehen kann, und davon scheint nichts verloren gegangen zu<br />

sein. Es ist wunderbar.“ Und ihr kamen wieder die Tränen. Mir viel ein doch anschließend<br />

die Käseplatte zu holen. Das würde Alys bestimmt gefallen. Wieder<br />

enormes Staunen, alles bis auf die Klinikstücke wurde genau untersucht und<br />

berochen, und dann ein Stückchen Lou Pitchou Blu ausgewählt. „Wo habt ihr<br />

den denn her?“ fragte ich erstaunt, und Ralf wies auf Camille, die lächelte.<br />

Wahrscheinlich hatte Alys diesen Käse am längsten vermisst.<br />

Anschließend wollte ich mich mit Alyssia ein wenig hinlegen, ich sei heute<br />

Abend sonst zu nichts zu gebrauchen, und dachte dabei: 'Heute Nacht. Ich<br />

wollte es genießen können, und nicht gleich erschöpft müde werden.'. Alys und<br />

ich gingen zu meinem Schlafzimmer für mich ein Nachthemd holen. Anschließend<br />

gingen wir zu ihr, und ich zeigte ihr, wie ich mein Negligé anzog und mich<br />

in ihr Bett legte. Ganz schnell zog sie sich auch aus, schlüpfte zu mir ins Bett<br />

und freute sich riesig. Nur ihr Negligé war auf dem Stuhl liegen geblieben.<br />

Wahrscheinlich gehörte es für sie hier nicht hin und sie erinnerte sich, dass sie<br />

in ihrem Bett immer nackt geschlafen hatte. Ich bezweifelte, ob das sinnvoll<br />

sei. Sie würde ja, wenn sie aufwachte dann möglicherweise auch einfach nackt<br />

durchs Haus laufen. So etwas wie Scham schien sie ja nicht mehr zu kennen.<br />

Ich wusste auch nicht, wie man ihr so etwas vermitteln sollte. Sie hielt sich<br />

aber immer an Gewohnheiten. Ob es da nicht besser wäre, wenn sie auch zu<br />

Hause im Bett etwas anzöge. Ja sie sollte das Negligé anziehen, wozu sie sich<br />

auch, ein wenig widerwillig zwar, überreden ließ. Und dann strahlte sie doch<br />

wieder mit Negligé im Bett. Ich erinnerte mich wieder an die Babyzeit, wie ich<br />

sie damals in den Schlaf geredet hatte und erzählte ihr jetzt auch wer alles<br />

schlafen würde. <strong>Frau</strong> Mercier würde schlafen, Schwester Adrienne würde schlafen,<br />

Monsieur Decker würde schlafen etc., und tatsächlich fing sie an zu gähnen<br />

und schlief ein. Unglaublich, ich sollte mich vielleicht demnächst mehr an<br />

ihre Kleinkindzeit erinnern. Möglicherweise war da vieles erhalten geblieben,<br />

worauf sich wieder aufbauen ließe. Plötzlich wurde ich mit einem Kuss geweckt.<br />

Ich hatte geschlafen, und die aufgewachte Alyssia wollte ihrer schlafenden<br />

Mamon einen Kuss geben. Da strahlten wir uns beide an, befühlten unsere<br />

Gesichter und küssten uns immer wieder. Wir standen auf zogen uns wieder<br />

an, und gingen runter. Alles wie völlig routiniert. Am Nachmittag ließ ich mir<br />

noch von Julienne ihre üblichen Speisepläne erläutern. Wir wollten versuchen<br />

hier auch möglichst viel davon umzusetzen. Wir saßen in der Bibliothek und<br />

Alyssia hörte andächtig zu. Vielleicht nahm sie ja all die Wörter auf, und wuss-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 148 von 209


te, wenn es die entsprechenden Gerichte gab, gleich etwas damit anzufangen.<br />

Baguette, Café au lait, Käse und Wein, seien unverzichtbare Grundnahrungsmittel,<br />

die immer vorhanden sein müssten. Mit Wein war es ja nun erst mal<br />

vorbei. Für uns war das auch nicht leicht. Wir würden ja in Alyssias Anwesenheit<br />

keinen Wein trinken können, und es ihr verbieten, wie sollten wir ihr dass<br />

denn erklären. Dass sie vorsichtig mit ihrem Verband sein solle, hatte ich ihr<br />

wohl verständlich klar gemacht, aber keinen Wein in den Mund nehmen wegen<br />

ihres Verbandes, das wäre abstrus gewesen, das hätte sie für sich nicht akzeptiert.<br />

Gab es nicht wie bei Bier auch alkoholfreien Wein? Das wusste Julienne<br />

auch nicht, aber es gab sie, jede Menge. Ralf sollte sofort herum telefonieren,<br />

ob in Hamburg irgendein marchand de vin so etwas vorrätig habe und wenn ja<br />

sofort holen, von jedem eine Flasche, außer Rosé und lieber französischen als<br />

deutschen. Ich konnte mir kaum vorstellen, das man in Frankreich ungenießbare<br />

'vins desalcoolisés' verkaufen konnte, bei deutschen war ich mir da nicht<br />

so sicher.<br />

In der Bibliothek schien Alyssia sich sehr wohl zu fühlen, aber die Bücher interessierten<br />

sie überhaupt nicht. Vielleicht war es wie beim Sprechen, wenn sie<br />

merkte, dass sie etwas nicht können würde, war es für sie uninteressant. An<br />

den Raum erinnerte sie sich gewiss, wie an alle anderen Räume auch, und von<br />

ihren intensiven Aktivitäten hier, sollte ihr nichts mehr gegenwärtig sein? Möglicherweise<br />

wusste sie gar nicht was das war, was sie hier gemacht hatte,<br />

konnte mit dem Bild, lesend in Bücher schauen, nichts verbinden, und es war<br />

für sie klar, dass es sich um eine für sie unzugängliche Welt handelte, mit der<br />

sie sich nicht weiter beschäftigte.<br />

Ralf war erfolgreich gewesen und zum Abendbrot gab es für alle Wein. Zu erst<br />

wieder die stolze Freude über die versammelte Runde mit einem Kuss für Lucien,<br />

dann die Weinprobe. Es kam wie erwartet. Sie probierte den Merlot von<br />

Weinkönig, der m<strong>einer</strong> Ansicht nach recht passabel schmeckte, aber Mademoiselle<br />

wägte ab, kräuselte ihre Stirn und schob das Glas weg. Nicht genießbar!<br />

Ein Rotwein aus dem Elsass 'Cote de Vincent' bekam ein Strahlen. Akzeptiert!<br />

Ralf hatte auch noch Weißweine mitgebracht, aber die trank sie nur, wenn vin<br />

rouge absolut nicht mit dem Essen harmonieren wollte. Unsere Mademoiselle<br />

hatte ihre französische Küche und das französische Essen wieder, und dazu<br />

noch alle Freunde um sich herum versammelt. Konnte es eine schönere, glücklichere<br />

Welt geben? Niemals. Beim Essen schaute sie immer wieder zwischendurch<br />

lachend auf, und manchmal hielt sie auch Lucien ihren Kussmund hin.<br />

Christoph beklagte sich bei Camille, das sie das nie für ihn mache, und Camille<br />

meinte: „Kein Problem,“ und wartete auf einen Kuss von Christoph. Wenn er<br />

sich auch so über ihre Kochkünste gefreut hätte, wäre sie vielleicht schon eher<br />

darauf gekommen. „Ich bin einfach begeistert, dass Alyssia wieder zu Hause<br />

ist. Du hattest damals schon recht, <strong>Ruth</strong>. Ich konnte dich nicht verstehen, und<br />

sah immer nur, was sie verloren hatte. Heute sehe und erlebe ich es genauso<br />

wie du. Vielleicht liegt es einfach daran, dass eine Mutter eher in der Lage ist,<br />

so positiv zu empfinden und sich zu freuen.“ Wir blieben noch lange am Tisch<br />

sitzen. Alyssia stand zwischendurch auf, und schleppte Lucien in die Bibliothek.<br />

Sie wollte anscheinend nur mit ihm gemütlich allein sein, sich von ihm etwas<br />

erzählen lassen, und ab und zu geküsst werden.<br />

Es war mittlerweile 10 Uhr geworden. Alyssia gähnte, und ich brachte sie ins<br />

Bett. Sie zog auch sofort ihr Nachthemd an, aber dass ich mich nicht auch zu<br />

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ihr ins Bett legte, schien ihr überhaupt nicht zu gefallen. Sie wollte mich ausziehen<br />

und machte eine ganz ärgerliche Mine, wenn ich nein sagte. Ich musste<br />

ihr irgendwie mehr erklären. Wir gingen gemeinsam zu meinem Schlafzimmer,<br />

und ich legte mein Nachthemd auf mein Bett, wobei ich ihr immer wieder in<br />

verschiedenen Versionen erklärte, dass dies mein Bett sei und ich hier schlafen<br />

würde, in meinem Raum und sie in ihrem. Als ich das Empfinden hatte, sie<br />

habe es verstanden, gingen wir wieder zurück. Alyssia legte sich ins Bett, ließ<br />

sich noch einige Gute-Nacht-Küsse geben und lachte. Alles verstanden und akzeptiert,<br />

hervorragend.<br />

Je reviens mon amour<br />

Im Bett mussten wir uns erst noch erzählen, wie es für uns die lange Zeit ohne<br />

einander gewesen sei. Ich sei nicht nur ohne Depressionen geblieben, ich hätte<br />

gar kein Bedürfnis verspürt. Ich hätte zwar oft an Ralf gedacht tagsüber, aber<br />

es komme mir vor, als ob ich die ganze Zeit völlig asexuell gewesen sei. Am<br />

Flughafen heute, da habe ich ihn allerdings beim ersten Kuss am liebsten<br />

gleich ausgezogen. „Ralf pass auf, dass ich mich nicht total vergesse. Ich will<br />

morgen ausgeschlafen in der Klinik sein. Alyssia konnte sich auch immer kontrollieren,<br />

wenn's erforderlich war“ erklärte ich. Das verstand Ralf nicht, und<br />

ich erzählte ihm, das wir beide sexuell wohl viel Ähnlichkeiten miteinander hätten.<br />

Es wurde auch nicht spät, aber ich fühlte mich himmlisch beglückt. Ein<br />

wunderschöner Tag.<br />

Vorstellung in der Klinik und erste Einkäufe<br />

„Was ist das, sie fahren mit ihrer Tochter einfach so herum.“ empfing mich der<br />

Professor. Er habe mal kurz mit Montpellier telefoniert, damit er eine minimale<br />

Vorstellung davon hätte, was auf ihn zukäme. Sie hätten für Alyssia ein Bett<br />

reserviert. Ich klärte ihn über alle Bedingungen auf, und und erläuterte ihm,<br />

wie meine Tochter sich jetzt entwickle, und dass und warum ein Aufenthalt in<br />

einem deutschen Krankenhaus für sie jetzt eine ungeheure Belastung sei und<br />

immense Rückschritte bewirken würde. Ich hatte den Eindruck, es sei schon<br />

akzeptiert, aber Herr Professor wollte sich erst mal die Unterlagen ansehen. Er<br />

nickte dabei öfter anerkennend, und nach eingehendem Studium meinte er:<br />

„Tolle Leute da in Montpellier“ und zu Alyssia gewandt, „Mademoiselle Stein, sie<br />

haben außergewöhnlich großes Glück gehabt, dass sie heute hier bei mir sitzen<br />

können.“ und Alys strahlte ihn an. Ich erklärte ihm, dass sie wahrscheinlich<br />

alles verstanden habe, und wie sich das bei ihr neu entwickle. Ich bekam die<br />

Röntgenbilder an der Leuchttafel detailliert erläutert mit den einzelnen<br />

Funktionszusammenhängen der Regionen, die zerstört bzw. unterbrochen waren.<br />

Es wurde ein sehr langes Gespräch, und der Professor meinte, sie könnten<br />

sehr vieles tun, nur müsse das eben auf Alyssias Besonderheiten abgestimmt<br />

sein. Er wolle das mal mit den Reha-Leuten besprechen, nur müsse sie wieder<br />

deutsch lernen, sonst könne sie ja niemanden verstehen. Ich erläuterte ihm<br />

meine Bedenken, aber da kannte er sich auch nicht aus, die Sprachfachleute<br />

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jedoch mit Sicherheit. Ich sagte ihm noch, dass die Universität Montpellier die<br />

Aufnahmen unbedingt zurück haben wolle. Er konnte es gut verstehen, und<br />

meinte, dass man sie kopieren könne, denn das sei eigentlich das wichtigste<br />

für die weitere Planung. Wir vereinbarten einen Termin zum gleichen Zeitpunkt<br />

in <strong>einer</strong> Woche, und ich solle Mademoiselle doch wieder mitbringen, vielleicht<br />

könne man dann ja schon etwas ausprobieren, ohne Berührung, versteht sich,<br />

meinte er scherzhaft, und versuchte es Alys noch einmal auf Französisch zu erklären,<br />

und sie lachte ihn an. Herrn Professor schien es auch zu gefallen, von<br />

ihr verständnisvoll angelacht zu werden. Mit der Ermahnung zu viel Ruhe und<br />

Schonung, und Vermeidung von Hektik und heftigen Bewegungen wurden wir<br />

wieder nach Hause entlassen. Wunderbar, ich sah eine Perspektive. Noch ein<br />

Grund mich zu freuen, dass ich wieder in Hamburg war.<br />

Die anderen hatten mit dem Frühstück gewartet. Ralf war extra noch zu Hause<br />

geblieben und Camille brauchte Freitags erst später zur Schule. Nur Christoph<br />

hatte nicht länger warten können. Das war auch wohl nicht so schlimm. Ralf<br />

und Christoph erhielten sowieso nicht so viel Beachtung. Alyssias Favoriten waren<br />

eindeutig die Vier aus der Klinik-Peergroup. Julienne und Lucien hatten ihren<br />

Spaß beim Baguettes kaufen gehabt. Es war immer sehr umständlich. Man<br />

musste fast bis in die Innenstadt fahren und bekam sehr schlecht einen Parkplatz.<br />

Vielleicht würde Alys ja auch akzeptieren, was in den üblichen Bäckereien<br />

als Baguette verkauft wurde. Lucien habe seine Deutschkenntnisse anbringen<br />

wollen, sei aber kläglich gescheitert. Als er gesagt habe: „6 französisch<br />

Brot, bitte.“ habe ihn die Verkäuferin fragend angelächelt. Als er es auf Französisch<br />

gesagt habe, sei alles klar gewesen.<br />

Julienne und Lucien schienen sich auch ganz wohl zu fühlen. Während Lucien<br />

häufig zu Bibliotheksgesprächen herangezogen wurde, unterhielt sich Julienne<br />

gerne mit mir. Ich wollte doch noch wissen, was es mit der 'rolligen Ziege' auf<br />

sich gehabt habe. „Na ja,“ meinte Julienne, „Alyssia hat wohl einen stark ausgeprägten<br />

Sexualtrieb, zumindest abends. Dass gerade sie es so lange ausgehalten<br />

hat, nicht mit Lucien zu schlafen, habe ich gar nicht verstehen können.<br />

Sie hätte es bestimmt lange vorher sehr, sehr gern gehabt. Sie konnte eben<br />

beides sein, absolut emotional und gleichzeitig total cool und hart mit sich selber.<br />

Das war vielleicht die tolle Mischung, die sie ausmachte. Sie hat immer<br />

von der tiefen Liebe gesprochen, die sie brauche. Ich glaube ihr das auch, aber<br />

Lucien, so einen intelligenten, netten, klugen Mann, hat sie völlig abhängig von<br />

sich gemacht. Der weiß doch gar nicht mehr, dass die anderen außer Alyssia<br />

auch <strong>Frau</strong>en sind. Das man mit jemand anders ficken kann, außer mit Alyssia,<br />

ist doch für den überhaupt nicht mehr vorstellbar. Wie der mal mit der Vorstellung<br />

klar kommen soll, Alyssia gibt es nicht mehr für ihn, ist mir ein Rätsel. Er<br />

äußert des vielleicht nicht so leicht, aber ich glaube, dass er wesentlich empfindlicher<br />

ist als ich. Ehrlich gesagt, hier ist es ja jetzt sehr schön, aber wie es<br />

wird, na ja.“ „Ma chère Julie, wir haben doch etwas besprochen. Wir werden ja<br />

jetzt sowieso öfter telefonieren oder skypen, und wenn Unannehmlichkeiten<br />

auftreten, werden wir's uns sagen und Lösungen finden. Denk so, und nicht ich<br />

weiß nicht. Wir beide zusammen werden immer wissen.“ verdeutlichte ich ihr<br />

noch mal. Julienne umarmte mich, und meinte: „Ja ich glaube, es fällt mir<br />

schwer, wahr haben zu können, wie gut es mir jetzt eigentlich geht. Aber ich<br />

verspreche dir, <strong>Ruth</strong>, ich werde besser. Bin ich eigentlich schon geworden. Zu<br />

wissen, dass ich in dir eine Freundin habe, tut mir ständig gut.“<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 151 von 209


Nach dem Mittagsschlaf wollten wir am Hafen spazieren gehen und mit Alyssia<br />

weitere Negligées kaufen. Am Hafen kein Blick für irgendetwas. Nur wir drei<br />

waren interessant. Wir zeigten ihr, wie man mit seinem Liebsten auch anders<br />

als Händchen haltend spazieren gehen kann. Alles wurde ausprobiert, aber den<br />

Arm um die Taille des anderen legen, schien ihr am besten zu gefallen. Lucien<br />

gab ihr einen Klaps auf den Po. Ihre Mimik wechselte von erschrocken über lachen<br />

zu Lucien ernst anschauen. Kurz darauf machte Alyssia es bei ihm. Als er<br />

erschreckt auffuhr, lachte sie und legte ihren Kopf dabei in den Nacken. „Ich<br />

sag es ja,“ meinte Lucien „dass es ihr Spaß macht mich zu ärgern, hat sie nicht<br />

vergessen.“ Das erste Geschäft war ein totaler Reinfall. Schicke französische<br />

Dessous, aber Nachthemden wie zu m<strong>einer</strong> Jugend. Der zweite Laden war besser.<br />

Das billigere war meist sehr erotisches Flatterzeug, und wurde überhaupt<br />

nicht in Betracht gezogen. Seide und Satin in dunklen Farben das schien ihr zu<br />

gefallen. Sie schien schon noch ein Faible für erotisches zu haben, aber elegant<br />

musste es sein. Ein burgunderfarbenes Seidenneglgée mit schwarzem Spitzenbesatz<br />

war der absolute Favorit. Sie wollte es nicht wieder hergeben. Aber 189<br />

€ für ein Nachthemd, da wahr eigentlich das Limit weit überschritten, aber<br />

m<strong>einer</strong> Süßen, konnte ich ihr das verwehren, wenn sie es so gern mochte. Ich<br />

tröstete mich damit, dass ja auch noch ein passender Morgenmantel dazu<br />

gehörte. Jetzt brauchten wir noch ein weiteres, aber jetzt nicht mehr in dieser<br />

Preisklasse. Alys griff sofort zu einem langen smaragdgrünen aus Satin,<br />

besetzt mit schwarzen Spitzen an den Rändern und teils darüber hinaus. Der<br />

Rücken war allerdings in Teilen fast bis auf den Po frei. Ich versuchte ihr zu<br />

zeigen, dass sie ja nichts außer zwei Trägerchen am Rücken habe. Sie hörte<br />

zwar zu und lachte, aber ihre Entscheidung blieb. Sie hatte vorher ja außer in<br />

der Kindheit nie Nachthemden besessen. Aber genauso war das ja auch bei<br />

ihren Dessous, erotisch, aber nicht ordinär, sondern Elegance und Glamour<br />

waren wichtig. Diese Einstellung schien sich voll erhalten zu haben. Wieder zu<br />

Hause wurde alles anprobiert und vorgefürt. „Oh je, oh je,“ bemerkte Camille<br />

bei der Modenschau, „wen soll Alyssia denn damit verführen?“<br />

Zum Abend hatte ich Anja eingeladen. Sie solle doch schon zum Essen kommen.<br />

Es wäre ja auch interessant, ob Alys sie wiedererkennen würde. Sie hätten<br />

sich ja nur an einigen Abenden gesehen. Selbstverständlich wurde sie, wie<br />

bei allen anderen üblich, erkannt. Personen mit denen sie auch nur kurz zu tun<br />

gehabt hatte, waren ihr also auch verfügbar. Anja sprach sie an. Ich klärte sie<br />

auf, dass Mademoiselle nur französisch verstehe. Alles neu gelernt, alte Begriffe<br />

seien überhaupt nicht mehr vorhanden oder verfügbar. „Mein Gott, was tun,<br />

ich spreche nicht gut französisch“ meinte Anja auf Französisch. „Sie hat dich<br />

höchstwahrscheinlich verstanden.“ erklärte ich, „Wenn sie so strahlt bedeutet<br />

das immer: „D'accord mit Sympathie“. Anja freute sich auch, und meinte zu<br />

Alys gewandt: „Merveilleux, ma belle Alyssia.“ Ich nahm eine Flasche Wein und<br />

unsere Gläser mit, und ging mit Anja in die Bibliothek. Alys kam auch mit.<br />

Dass sie kein Glas hatte und keinen Wein bekommen sollte gefiel ihr absolut<br />

nicht. Sie holte sich selbst ein Glas, aber ich musste ja auch ihren Wein holen.<br />

Wir wollten überlegen, wie es mit der Kanzlei weiter laufen solle. So lange Lucien<br />

und Julienne noch da wahren, konnte ich ja mal vorbei kommen, aber<br />

sonst war außer <strong>Frau</strong> Richter ja niemand zu Hause, und <strong>einer</strong> aus der Peergroup<br />

musste es schon sein. Anja meinte, ob wir nicht einen Raum herrichten<br />

könnten, in dem sie nach ihren Interessen etwas machen könne zum Beispiel:<br />

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Musik hören. Musik! Musik! Musik! wie konnte ich nur schon wieder nicht daran<br />

gedacht haben. Von selbst schien mir der Gedanke daran nicht verfügbar. „Ja<br />

aber Anja, das ist ja eine unendlich lange Zeit, und dann allein in einem Raum,<br />

das halte ich für unmöglich. Im Moment hat sie nur die Vorlieben, sich etwas<br />

erzählen lassen, direkt oder am Telefon, essen und Wein trinken, und heute<br />

Nachmittag horrend teure Sachen kaufen. Anja musste lachen und wollte Näheres<br />

wissen. So redeten wir den ganzen Abend anstatt über die Kanzlei über<br />

Alyssia. Die fing zwischendurch mal an zu gähnen, und ich fragte Julienne, ob<br />

sie nicht mal versuchen wolle, Alys ins Bett zu bringen. Alles verlief ohne Probleme,<br />

sie habe nur unbedingt ihr rotes Seidennachthemd anziehen wollen,<br />

habe sich darin vor Freude gewiegt und immer wieder den Stoff befühlt. Julienne<br />

habe ihr 'Au clair de la lune' vorgesungen und dabei Lubin und brune<br />

durch Lucien und Alys ersetzt. Alys habe sie während dessen mit ganz großen<br />

Augen angesehen, und sich anschließend riesig gefreut. Sie habe vor Freude<br />

immer ihre erhobenen Hände gedreht, das habe sie noch nie gesehen. Beim<br />

Herausgehen habe sie den Schlusssatz wiederholt 'Mais je sais qu'la porte sur<br />

eux se ferma.', und Alys sei friedlich lächelnd liegen geblieben. Camille sollte<br />

morgen sofort mit den beiden alle möglichen in Frage kommenden CDs<br />

bestellen, vielleicht auch französische Kinderlieder.<br />

Bon week-end<br />

Am Samstag wurden nach dem Frühstück zunächst mal in der Bibliothek CDs<br />

ausgesucht, damit sie am Montag noch ankamen. Camille hatte einige von sich<br />

mit herunter gebracht und erinnerte sich, das Alys sich früher sehr für Jacques<br />

Brel interessiert habe. Also wurde 'Quand on n’a que l’amour' aufgelegt. Ob<br />

Alyssia es wiedererkennen konnte? Sie hatte doch sonst keine Erinnerung an<br />

sprachliche Begriffe mehr. Konnte sie Musik wiedererkennen? Sie kroch förmlich<br />

in die Lautsprecher hinein. Hatte sie bei 'Au clair de la lune' gestern Abend<br />

eventuell auch etwas wiedererkannt, deshalb so gestaunt und sich riesig gefreut.<br />

Einfaches Interesse für die Musik allein, reichte als Erklärung für ihr Verhalten<br />

nicht aus. Wir fanden eine wunderschöne Ballettszene von Maurice<br />

Béjart zu 'Quand on n’a que l’amour' bei You Tube. Die Bewegungen des Paa res<br />

hätten sie bestimmt interessiert, aber der Bildschirm ließ sie völlig unberührt.<br />

Alys schaute gar nicht hin, als ob sich dort nichts ereigne. Julienne und Lucien<br />

sollten es nachtanzen. Jetzt hatte nicht nur Alys ihre helle Freude, sonder wir<br />

mussten alle über die vorgeführten Ballettkünste ausgiebig lachen. Was da<br />

wohl bei Alys visueller Wahrnehmung vorging. Musste sie denn bei Gesichtern<br />

nicht genauso aus der Zweidimensionalität übertragen können? Ich wollte<br />

unbedingt mehr darüber wissen. Ich hatte zwar erfahren, dass ihr Neokortex<br />

kaum beeinträchtigt wurde, aber ein Hippocampus beschädigt sei. Nur wieso<br />

konnte Alys dann alle neuen Eindrücke und Wörter dauerhaft abrufbar speichern.<br />

Für mich war sie ein großes Rätsel, Wahrnehmungs- und Gedächtnisforscher<br />

könnten mich der Lösung bestimmt ein Stück näher bringen, und mir raten,<br />

wo man wie ansetzen könne. Dass man sie nicht berühren durfte schien<br />

ebenso wie ihre fehlende Sprache schon als selbstverständlich akzeptiert und<br />

fiel gar nicht mehr auf. Ich wollte aber doch mehr dazu erfahren, wie solche<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 153 von 209


Phobien durch eine Gehirnläsion entstehen können, und was man in Alyssias<br />

Lage eventuell dagegen tun könne. Sie hatte ja keine allgemeine Aphephosmophobie,<br />

Gegenstände berühren war ja überhaupt kein Problem, und eine reine<br />

Agaraphobie war es auch nicht, denn sie ließ sich ja anfassen von Lucien und<br />

mir, und zwar sogar gerne. Vielleicht hatte es mit Phobie im herkömmlichen<br />

Sinne gar nichts zu tun, sondern hatte ganz andere Ursachen. Die bisherigen<br />

Mutmaßungen der Ärzte waren mir zu wenig. So etwas konnte sich ja auch jeder<br />

Laie mal ausdenken, und zeigte k<strong>einer</strong>lei Ansatzpunkte auf. Aber wir waren<br />

beim Musik-aussuchen. Mir fielen die französischen Yéyé-Sängerinnen ein. Eine<br />

hatte immer so verträumt, sinnlich gesungen, auch auf Deutsch. Mir viel der<br />

Name nicht mehr ein, ich erinnerte mich aber an 'L'amour s'en va'. Natürlich<br />

war das Françoise Hardy, wussten die anderen. France Gall, und Sylvie Vartan<br />

seien die gleiche Preislage meinten sie. Früher sei sie darauf nicht so abgefahren,<br />

aber man wisse ja nicht, wenn sie sich über 'Au clair de la lune' so gefreut<br />

habe, könne ihr so etwas Nettes ja jetzt auch gefallen. Wir Schussel hatten<br />

ihre eigenen CDs gar nicht mitgenommen, weil wir sie für nicht nutzbar hielten,<br />

aber Julienne meinte, das für sie Wichtigste habe sie sowieso auf ihrem PC<br />

gespeichert. Waren wir stupid. Entscheidendes viel uns immer nur zufällig ein.<br />

Wie sie wohl auf Fotos von Personen auf dem PC reagierte. Das mussten wir<br />

jetzt sofort ausprobieren. Bei der Musik geschah das Gleiche, wie bei Jaques<br />

Brel auf dem CD-Player. Alys bewegte ganz aufgeregt ihre Finger über der<br />

Tastatur, als ob sie am PC etwas eingeben wolle, nur nicht wisse, was genau<br />

sie mit den Fingern machen müsste, da würde man bestimmt ansetzen<br />

können. Man stelle sich nur vor unsere Mademoiselle, weiß nichts mehr, spricht<br />

nicht mehr und arbeitet am PC. Dann müsste sie ja auch die Buchstaben<br />

unterscheiden können. Vielleicht könnte sie ja sogar wieder lesen lernen. Es<br />

stimmte mich überaus hoffnungsvoll, obwohl ich ja wusste, das Lesen und<br />

Verstehen ein wesentlich komplizierterer Prozess als Buchstaben<br />

wiedererkennen war. Wir warfen kurz einen Blick über die Musiktitel, damit wir<br />

davon nichts neu bestellten. Jetzt wollte ich aber doch mal die Fotos<br />

ausprobieren. Wir fingen mit denen an, die Lucien ausgedruckt hatte.<br />

Selbstverständlich alles klar. Nachforschungen in tieferen Zonen waren nicht<br />

mehr erforderlich. Ich zeigte Alys, worauf sie drücken musste, damit das<br />

nächste Bild käme. Alles verstanden, sie war jetzt Chefin der Bildregie.<br />

Besonders schienen sie die Fotos aus der Klinik zu interessieren, aber sie<br />

schaute auch fragend, als ob sie sagen wollte: „Wo ist denn dieses? Wo ist<br />

denn jenes?“ Ein mit 'Alys_E' betitelter Ordner enthielt wilde erotische Fotos<br />

von ihr. „Ja sie wollte das unbedingt“ entschuldigte sich Lucien leicht verlegen,<br />

„Sie hat gedroht sonst zum Fotografen zu gehen, wenn ich das nicht mache.“<br />

„Kann ich mir gut vorstellen.“ meinte Julienne bestätigend. „Ist sie nicht<br />

schön?“ meinte Lucien noch zu den leicht verwegenen Aktfotos mit wild<br />

aufgeblasener Mähne in der rustikalen Umgebung ihres Häuschens. Ich meinte,<br />

das könnten sie beide sich ja öfter ansehen, und wollte Alys bewegen, etwas<br />

anderes anzuschauen. Mit tief bösem Blick wurde jeder Versuch von mir<br />

beantwortet. Wir mussten alle Fotos anschauen.<br />

Uns kam die Idee, wenn sie die Menschen auf den Fotos erkannte, wisse sie ja<br />

vielleicht auch mit Skypen etwas anzufangen. Camille sollte raufgehen, wir<br />

würden sie anrufen. Alyssia war ganz außer sich, Camille auf dem Bildschirm<br />

zu sehen und sie sprechen zu hören. Sie lief sofort rauf zu Camille und wollte<br />

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sie holen, wahrscheinlich um ihr zu zeigen, was man unten sähe. Camille wollte<br />

ihr erst noch ihren Bildschirm zeigen, auf dem jetzt Lucien und Julien zu sehen<br />

waren. Camille bat mich, herauf zu kommen, Alyssia wolle ihr zeigen, was<br />

man unten sehen könne. Das war zu viel, jetzt war nicht mehr Camille zu sehen,<br />

sonder ihre Mamon, die sie gerade auf der Treppe gesehen hatte. Camille<br />

erklärte ihr hier zu warten. Sie ginge jetzt rauf zu ihrer Mamon, dann könne sie<br />

wieder Camille sehen. Sie wartete auch brav, und schien tief zu grübeln, als<br />

Camille mich ablöste. Dann strahlte sie plötzlich und räkelte sich vor Freude.<br />

Jetzt schien sie es verstanden zu haben. Sie deute Lucien an rauf zu gehen,<br />

und tatsächlich, es verlief so, wie sie es erwartet hatte. Lucien erschien auf<br />

dem Bildschirm. Dann sollte sich Julienne vor den Laptop setzen und sie selbst<br />

rannte nach oben. Ja Julienne war bei Camille zu sehen. Helle Begeisterung,<br />

dass es so war, wie sie vermutet hatte. Sie hatte es verstanden, das man beim<br />

Skypen Leute sah, die nicht anwesend waren, sondern anderswo am PC saßen.<br />

Toll, ich musste sie in die Arme schließen. Wenn ich das tat, erwartete sie das<br />

natürlich auch von Lucien. Dass wir jetzt aufhören wollten zu skypen, und wieder<br />

in die Bibliothek gehen, schien ihr nicht so sehr zu behagen, aber nach Erklärungen<br />

war sie einverstanden. Wenn sie skypen verstand konnten wir ja<br />

auch mal mit Elias und Lucille sprechen. Sie konnte sich von Freunden aus<br />

Montpellier ja etwas erzählen lassen, wenn die Lust dazu hätten. Alles<br />

wunderbar. Immer wieder neue Möglichkeiten taten sich auf. Mademoiselle<br />

sorgte jeden Tag für neue Überraschungen.<br />

Nachmittags wurden ihre mitgebrachten Sachen eingeräumt. Wahnsinnig aufregend<br />

schien das zu sein. Außer ein paar eleganten Sets besaß sie nur kleine<br />

Strings und Tangas. Ich konnte Juliennes Einschätzung immer besser nachvollziehen.<br />

Sie schien Erotisches sehr gemocht zu haben. Na ja, pour quoi pas,<br />

war ja auch schön. Aber mehr als dass sie Streicheln und Küssen schön fand,<br />

hatte sie noch nicht erkennen lassen. Es schien so, als ob sie vergessen hätte,<br />

was es sonst noch gab. Sie entdeckte das Kleid von Camilles Hochzeit und<br />

schien es wieder zu erkennen. Es musste angezogen werden, inklusive Collier<br />

und Ohrgeschmeide. Nach einigen Drehungen vorm Spiegel, sollte es den anderen<br />

vorgeführt werden. Sie rannte einfach raus zu den anderen und stellte<br />

sich jedem stolz strahlend vor. Sie wollte gar nicht wieder mit nach oben kommen,<br />

um es auszuziehen. Wir erklärten ihr, es sei nur zum Tanzen. Lucien<br />

musste einmal mit ihr in sanften Bewegungen tanzen. Große Begeisterung,<br />

wenn sie nicht gerade küsste strahlte sie unentwegt. Woran es sie wohl erinnerte.<br />

Lucien war selbst ganz wehmütig, hier hatten sie sich ja zum ersten mal<br />

geküsst, hier hatte eine neue Phase ihrer Beziehung begonnen. Ab hier war es<br />

für beide eindeutig, dass sie mehr als schöne Worte wollten. Ich wusste ja,<br />

welche Angst Alys gehabt hatte, sich nicht beherrschen zu können, aber das<br />

hatte sie Lucien bestimmt alles schon selber erzählt. Lucien ging mit rauf, und<br />

unter mehrfachen Erklärungen, das dieses Kleid nur zum Tanzen sei, zog sie es<br />

auch wieder aus. Alyssia hatte erkannt, dass sie in diesem Kleid sehr schön<br />

aussah. Sie schien also eindeutig, wie gestern bei den Negligés schon, ihr Geschmacksempfinden<br />

behalten zu haben. Ich sollte mir mal aufschreiben, was<br />

ich alles feststellte, damit ich später bei den Beratungen nichts vergaß, weil es<br />

für mich mittlerweile selbstverständlich geworden war.<br />

Sie könnte ja mal etwas anderes anziehen. Seit Donnerstag trug sie die gleichen<br />

Sachen. Kleider und Röcke gab es kaum. Ich kannte sie eigentlich auch<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 155 von 209


nur in Hosen. Ein dicker Pullover mit offenem weiten Rollkragen wurde ausgesucht.<br />

Nein, das sei nicht möglich, viel zu warm, es sei Sommer, sie müsse etwas<br />

Leichtes aussuchen. Ein Mini-Top mit Spaghettiträgern wurde ausgesucht.<br />

Einen BH, den sie darunter anziehen konnte fanden wir nicht. „Schatz, du bist<br />

unmöglich. Willst du nicht dies anziehen, oder das?“ bot ich ihr einige Sachen<br />

an. Strikte Ablehnung, sie hatte sich entschieden. Also o. k., morgen eventuell<br />

etwas anderes. „Oh Mademoiselle, geht’s auf die Rolle?“ bemerkte Ralf scherzhaft,<br />

als er sie sah, und Julienne meinte, sie habe sich gern so ein wenig aufreizend<br />

gekleidet, aber das habe sie nur für sich selber so gemacht. Jemand<br />

anders so zu gefallen, habe sie überhaupt nicht interessiert, vielleicht allenfalls<br />

ihrem lieben Lucien, aber selbst das glaube sie nicht mal. Später erzählte mir<br />

Julienne mal, die beiden hätten sich immer mit Gesprächen gepuscht. Nichts<br />

Erotisches oder Anzügliches, die hätten sich über Philosophisches unterhalten<br />

können, und man habe gemerkt, wie sie immer schärfer aufeinander wurden.<br />

Total komisch sei das gewesen. Ihr sei das richtig pervers vorgekommen, wie<br />

kann man von einem Gespräch über Kant rollig werden. Sie habe sich das mit<br />

ihrer Tradition erklärt. Sie hätten sich ja ein ganzes Jahr lang nur unterhalten,<br />

und hätten dabei wahrscheinlich immer den Wunsch gehabt, miteinander zu ficken,<br />

und jetzt hätten sie's eben gedurft. Wie es in Lucien wohl aussähe, wie<br />

er Alyssia wohl wahrnehme, was er wohl empfinde, wenn sie sich küssten, ob<br />

er jetzt auch wohl sexuelle Gedanken bei Alys habe. Julienne meinte, dass so<br />

etwas für ihn zur Zeit wohl kein Thema sei. Er träume eher von vergangenen<br />

schönen Erlebnissen. Im Moment sei er wahrscheinlich nur daran interessiert in<br />

ihrer Nähe zu sein, von ihr gemocht zu werden, und alles für sie zu tun.<br />

Ich hatte mich eigentlich darauf gefreut, mit Alyssia viel spazieren zu gehen,<br />

ihr alles Mögliche wieder zu zeigen und zu erklären, aber sie schien nichts zu<br />

interessieren. Sie freute sich immer, wenn wir wieder im Auto saßen, und nach<br />

Hause fuhren. Nur im Wald schien sie es schaurig schön zu finden. Sie umschlang<br />

mich dann ganz fest an der Taille, drückte sich an mich und lachte.<br />

Zwischendurch wagte sie immer wieder einen kurzen Rundblick in die Umgebung,<br />

krallte sich fest in meine Seite, und strahlte mich an, als ob sie uns für<br />

absolut mutig in dieser schaurigen Umgebung hielte, aber verstehen konnte ich<br />

es natürlich nicht. Die einzelnen Bäume konnten es nicht sein, so etwas kannte<br />

sie ja aus unserem Park. Es musste also die Atmosphäre sein, die sie als so<br />

prickelnd empfand.<br />

Am Sonntagnachmittag rief Torsten an. Oh je das hatte ich ganz vergessen,<br />

und die Omi natürlich auch. Torsten hatte gehört Alyssia sei wieder zu Hause.<br />

Wo hört man so etwas denn, na egal. Ob er mal vorbei kommen und sie besuchen<br />

könne. Ich schlug ihm vor, dass ich lieber zu ihm kommen würde, das sei<br />

für ihn selbst wahrscheinlich einfacher und für Alyssia eventuell ganz interessant.<br />

„Ist sie denn schon transportfähig?“ fragte er. „Hör mal mein Junge,“<br />

antwortete ich scherzhaft, „transportfähig? Was soll dass den heißen. Sie<br />

könnte auch zu dir laufen, wenn's sein müsste.“ Ich klärte ihn auf, wie es Alys<br />

ging, und vor allem, dass sie schon wieder eine Menge Französisch verstehe<br />

und einiges mehr. Er freue sich und werde bis zu unserer Ankunft fleißig französisch<br />

üben, meinte er. Selbstverständlich bekam er die übliche Begrüßung,<br />

und Torsten freute sich auch. Alyssia schaute sich lange fragend im Raum um,<br />

aber ein bestätigendes Lächeln erfolgte nicht. Wenn sie jedoch nicht das Empfinden<br />

gehabt hätte, dass es sie möglicherweise an irgendetwas erinnern könn-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 156 von 209


te, hätte sie sich gar nicht dafür interessiert. Torsten erzählte, wie ich ihn vorher<br />

instruiert hatte, etwas vom Essen, von Käse, von Wein und Negligés und so<br />

weiter. „Sie hört dir zu, versteht dich und findet dich o. k.. Wenn sie etwas<br />

nicht verstanden hätte, würde sie dich fragend anschauen oder gar nicht reagieren.<br />

Sie hat sich das alles selber neu beigebracht. Wir haben es aufgegeben,<br />

ihr alles einzeln erklären zu wollen, als wir schon in den ersten Tagen merkten,<br />

dass sie selbst aus Gesprächen viel mehr aufschnappt und für ihr Verständnis<br />

verwendet.“ erklärte ich Torsten.“Ist eben doch trotz allem eine kluge <strong>Frau</strong><br />

geblieben, unser Töchterchen.“ meinte er anerkennend. Ich wollte ja nichts<br />

sagen. Was war denn an Alyssia außer ein paar Genen und ein paar Kröten<br />

unser Töchterchen, doch im Moment war mir das Schnuppe. „Sie ist kein<br />

Töchterchen, sie ist eine hübsche junge <strong>Frau</strong> geblieben, schau sie dir doch mal<br />

an.“ gab ich ihm zu verstehen. „Ja sehr, sehr,“ meinte er „es werden sich<br />

bestimmt viele junge Männer nach ihr umschauen.“ „Sag's ihr selber auf französisch.<br />

Sie wird es gern hören.“ forderte ich ihn auf. Torsten versuchte es ein<br />

wenig verlegen. Er radebrach etwas von schöner <strong>Frau</strong>, jungen Männern und<br />

verliebten Augen, und Alyssia strahlte ihn mit ihrem schelmischen Grinsen mit<br />

halb zugekniffenen Augen und leicht vorgestreckten Kopf an. Warum sie das<br />

jetzt wohl tat, ob sie sich tatsächlich über den Inhalt besonders freute, oder sie<br />

seinen leicht krampfhaften Versuch lustig fand? Torsten erklärte ich einfach, sie<br />

benutze eine Vielzahl von mimischen Variationen, und dies sei ein Zeichen,<br />

dass sie sich besonders freue. Torsten staunte immer wieder, dass sie so fit<br />

und so gut gelaunt sei, nach so kurzer Zeit. Er bat mich seine Hilfe in Anspruch<br />

zu nehmen, wo es nur ginge. Ich hätte gesagt, dass ich mit einem Privatjet<br />

runter geflogen sei, so etwas könne er doch wenigstens bezahlen, und in der<br />

Kanzlei habe ich doch auch gewiss hohe Ausfälle. Ich solle ihm doch etwas<br />

sagen oder irgendwelche Summen nennen, er wolle sich doch zumindest<br />

finanziell daran beteiligen. Ich dankte ihm, und machte ihm deutlich, dass ich<br />

an so etwas bislang noch überhaupt keine Gedanken verschwendet habe, ich<br />

aber auf sein Hilfsangebot zurückkommen werde. Mit dem Versprechen, uns<br />

bald wieder zu treffen, und der Erklärung von Torsten, dass er immer noch<br />

Liebe für mich empfinde, fuhren wir wieder nach Hause.<br />

Semaines prochaines<br />

Die Tage vergingen schnell. Omi Sylvia musste ich am Telefon klar machen,<br />

das sie aufhören solle zu weinen. Wir freuten uns alle sehr, und wenn sie selber<br />

käme, würde sie sehen, das Heulen völlig fehl am Platze sei. Sie würde sich<br />

mit Sicherheit auch freuen, wenn sie käme. So kam's dann auch schon gleich<br />

an der Tür. Ich hatte Alys mitgenommen als es klingelte. Riesengroßes<br />

Staunen und dann das Lachen mit vorgebeugten Kopf. Sylvia steckte auch ihren<br />

Kopf vor und machte ihr ein ähnliches Gesicht. „Oh mein Schatz, du bist ja<br />

total fit. Am liebsten würde ich dich ja ganz fest drücken.“ und zu mir gewandt,<br />

„<strong>Ruth</strong>, meinst du nicht, dass sie sich von mir anfassen lässt?“ „Sylvia, wir können's<br />

ja nachher mal probieren, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du<br />

eine Chance haben wirst. Niemand durfte sie bisher berühren, ihre allerbesten<br />

Freunde nicht, außer mir und ihrem Liebsten. Sei nicht enttäuscht, das ist nor-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 157 von 209


mal. Hier fällt das gar nicht mehr auf. Ich bin mir so gut wie sicher, dass es<br />

auch bei dir nicht anders sein wird. Aber du sollst anscheinend die Treppe rauf<br />

kommen, sie will dir bestimmt etwas zeigen. Gib mir deinen Mantel. Omi Sylvia<br />

bekam das neue Nachthemd gezeigt und das Ballkleid, das Alys sofort wieder<br />

anziehen wollte. „Non, non, pas maintenant!“ erklärte ich. Vielleicht können wir<br />

ja heute Abend noch einmal tanzen. Dazu kannst du es dann anziehen. Mir fiel<br />

ein, dass wir Alyssias Ankunft noch gar nicht gefeiert hatten, das durften wir<br />

nicht mehr lange hinausschieben, sonst passte es ja nicht mehr. Aber jetzt<br />

musste ich Sylvia alles erklären, während sie sich dabei in der Bibliothek im<br />

Hintergrund Jaques Brel anhören musste. „Sylvia du wirst französisch lernen<br />

müssen, dann kannst du dich mit d<strong>einer</strong> Liebsten unterhalten. Sich von anderen<br />

etwas erzählen lassen, ist zur Zeit ihre liebste Beschäftigung, aber eben<br />

nur französisch.“ erklärte ich. „Wie könnt ihr Alys denn so etwas anziehen?“<br />

fragte Sylvia und wies auf Alys Top, den sie auch heute wieder anziehen musste.<br />

„Wir ihr anziehen?“ reagierte ich entgeistert „Mademoiselle lässt sich nicht<br />

von uns anziehen und auch nicht ihre Sachen auswählen. Meinst du ich hätte<br />

es nicht versucht. Keine Chance.“ „Da ist sie ja doch noch die alte geblieben.“<br />

meinte Sylvia. „Ja selbstverständlich ist sie die alte geblieben.“ergänzte ich erklärend,<br />

„Nur das sie eben Vieles nicht mehr weiß. Wenn sie dich so freundlich<br />

anlächelt und sich freut, dass du da bist, ist das auch die alte, das hat ihr<br />

k<strong>einer</strong> in den Kopf operiert. Wenn sie dir stolz etwas vorführt, ist das auch die<br />

alte, die denkt, dass du Interesse an ihr hast und dich freust, wenn sie sich<br />

freut. So erleben wir sie hier, dass sie nicht spricht, und sich nicht berühren<br />

lässt fällt uns gar nicht mehr auf, und dass sie vieles vergessen hat, ist für alle<br />

Anreiz ihr Neues beizubringen. Das macht besondere Freude, da sie sehr<br />

schnell lernt und nichts zu vergessen scheint. Das Nachthemd zum Beispiel<br />

bedeutet ihr besonders viel. Sie hat es sich richtig erkämpft. Sie wollte es<br />

unbedingt haben, aber das Seidenhemdchen war so unverschämt teuer, das ich<br />

es nicht kaufen wollte. Sie bestand aber unbedingt darauf, und wollte es nicht<br />

wieder rausgeben.“ „Dann kannst du ihr das doch auch nicht abschlagen.“<br />

meinte Sylvia, „Das muss doch für dich selbst die größte Freude sein, wenn du<br />

ihr eine Freude machen kannst. Hilft Torsten dir denn etwa nicht?“ „Doch er<br />

hat mir jede Hilfe angeboten, ich solle ihm sagen wie viel.“ meinte ich eine<br />

zufriedenstellende Antwort zu geben. Aber Sylvia war da anderer Ansicht. Was<br />

ich durchgemacht hätte sei doch sowieso mit Geld gar nicht zu bezahlen, und<br />

dass ich hohe Kosten gehabt hätte und haben würde, sei doch klar. Er könne<br />

von sich aus doch mal einfach etwas überweisen, sozusagen als Vorschuss. Da<br />

würde sie sicher für sorgen, wie ich sie kannte. „Aber Alyssia scheint's ja nicht<br />

nur gut zu gehen, sie scheint ja auch schon wieder recht selbstständig. Du hast<br />

Recht, ich wüsste nicht warum man weinen sollte, höchstens Freudentränen.<br />

Schade ist nur, dass sie mich nicht verstehen kann, aber ich kann doch kein<br />

französisch mehr lernen, dafür bin ich ja viel zu alt.“ meinte Sylvia. „Zu alt,<br />

das gibt’s doch nicht. Es wird deinem Gehirn gut tun. Alyssia muss auch alles<br />

völlig neu lernen, und es bringt ihr k<strong>einer</strong> bei. Sie lernt es selber, aus dem was<br />

sie hört. Wir haben hier drei Franzosen im Haus, die alle Alyssias derzeitigen<br />

Wortschatz so ziemlich kennen, mit denen könntest du ja schon mal anfangen.<br />

Das wäre doch was.“ schlug ich vor. Sylvia schien zu überlegen. Aufgeweicht<br />

war ihre eindeutige Ablehnung auf jeden Fall.<br />

Sylvia war immer aufs Neue erstaunt und überrascht. Ihr etwas, auf den Teller<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 158 von 209


geben, kleinschneiden, füttern, an so etwas hatte sie eher gedacht. Aber vor<br />

ihr saß die Königin der Tafel, die zwischendurch aufschaute, andere anlächelte,<br />

Wein trank und sich auf unserer größten Käseplatte sicher orientieren konnte.<br />

Früher war es auch immer gemütlich am Tisch gewesen, aber jetzt war es immer<br />

offen freudig, wenn man jetzt nicht gerade Alyssia ein paar Worte sagte,<br />

scherzte man mit dem Nachbarn, und Omi Sylvia fragte, ob das etwa jeden<br />

Abend so wäre, dann seien wir das glücklichste Haus, das sie je erlebt habe.<br />

Sie blieb auch noch einige Tage, obwohl sie es gar nicht vorgehabt hatte. Die<br />

anderen hatten ihr auch zugeredet, doch Französisch zu lernen, das sei ja ihre<br />

einzige Chance, mit Alyssia zu kommunizieren, sonst könnten sie sich nur anschauen<br />

oder mal etwas zeigen. Also fing sie schon gleich an. Wenn Camille<br />

dabei war, ging's natürlich einfacher, aber Sylvia schien es viel mehr Spaß zu<br />

machen, mit den beiden Jungen, Lucien und Julienne, zu lernen. Alle schienen<br />

ihre Freude dabei zu haben, und hatten ständig etwas zu lachen. Die tollste<br />

Bestätigung für Sylvia aber war, dass Alyssia sie verstand, und sie freundlich<br />

anstrahlte, wenn sie zum Beispiel: „Gute Nacht meine Liebe.“ auf Französisch<br />

sagte. Sylvia hatte sich schon einen dicken Block voller Vokabeln und Redewendungen<br />

aufgeschrieben, als sie fuhr, und war bestimmt für einen Anfängerkurs<br />

in Französisch völlig überqualifiziert.<br />

Ich nahm Alyssia mal mit in die Kanzlei. Sie wahr zwar öfter hier gewesen,aber<br />

wir hatten uns nur manchmal hier getroffen, wenn wir gemeinsam in die Stadt<br />

wollten. Das Haus selbst ließ sie völlig unberührt. In meinem Büro aber intensives<br />

Grübeln. Ich setzte mich in meinen Schreibtischsessel, jetzt hatte sie's und<br />

strahlte. Sie wollte darin sitzen, und strahlte. Warum hatte ich nicht einen Fotoapparat<br />

dabei, da sie es doch so liebte, sich Bilder anzuschauen, und die Umgebung,<br />

auf den Fotos, die sie sich anschaute, schien sie ja auch in gewisser<br />

weise wahrzunehmen. Es waren ja nicht ausschließlich die Gesichter. Bei den<br />

Klinikfotos schien sie ja eindeutig erkannt zu haben, dass hier noch etwas fehlte.<br />

Wir mussten doch Fotoapparate genug im Haus haben, aber wo? Ich wollte<br />

Anja fragen. Anja hier zu treffen, war natürlich die totale Überraschung. Alys<br />

stellte sich gebeugt vor sie hin und strahlte, und jetzt sah ich sie auch ihre gespreizten<br />

Hände drehen, wovon Julienne berichtet hatte. Anja hatte selbst<br />

hatte einen Fotoapparat, und sie meinte zu Alys: „Das ist die größte Freude die<br />

ich heute hier erlebe, dass du mich besuchen kommst, meine Liebe.“ und zu<br />

mir, „Ich möchte ihr so gern einen Gefallen tun, womit kann man ihr denn eine<br />

Freude machen?“ „Mit Käse und Wein,“ scherzte ich, „Nein Nougat aus Montelimar<br />

ist das einzige, was ihr an Sweets gefällt, aber es muss schon original<br />

sein. Imitate, die man hier viel bekommt, werden abgelehnt.“ Anja schaute sofort<br />

im Netz nach. „Ja genau der,“ zeigte ich auf den Bildschirm, „den mag sie<br />

auf jeden Fall sehr gern.“ Sofort wurden Unmengen bestellt. „Vielleicht mag ich<br />

ihn ja selber auch gern.“ beantwortete Anja lächelnd meinen erstaunten Blick.<br />

„Anja, Alys scheint dich ja sehr gern zu mögen, wir wollen übermorgen ihrer<br />

Rückkehr feiern. Dickes Essen und dann Ball mit Tanzen. Hättest du nicht Lust<br />

zu kommen. Alys würde sich bestimmt sehr freuen.“ und ich erklärte ihr die<br />

näheren Zusammenhänge. Natürlich würde sie in ihrer schönsten Abendrobe<br />

erscheinen, und lachte sich halb tot. Ich wollte noch wissen, was unsere Ostasienabteilung<br />

denn machte. Ich hatte die Befürchtung, dass ohne mein Interesse<br />

wahrscheinlich alles eingeschlafen sei. „Nein, nein,“ meinte Anja, „er<br />

kommt voran. Toller Typ, der Andy, der macht das ganz alleine. Er will mir das<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 159 von 209


oft detailliert erklären, aber ich kann das alles gar nicht aufnehmen. Ich stecke<br />

ja auch selbst bis über beide Ohren in der Arbeit. Er wird sich sicher freuen,<br />

wenn er dir etwas berichten kann. Er wollte übrigens ständig wissen, wie es<br />

Alyssia und dir ging.“ Also gingen wir auch noch zu Andreas Kühne. Andy?<br />

Fand Anja eventuell mehr als seine Arbeit gut an ihm? Nachempfinden hätte<br />

ich es sehr gut können. Freudestrahlend empfing mich Herr Kühne, und wollte<br />

gleich alles wissen. Ich erklärte ihm, dass wir uns zuerst mal vor m<strong>einer</strong> Tochter<br />

begrüßen müssten, und ich ihn als meinen Freund vorstellen würde, da sie<br />

sonst fremde Menschen ablehne. Ich erklärte Alys alles auf französisch natürlich<br />

und strahlend war alles geklärt. Französisch versteht sie einiges, alles neu<br />

gelernt. „In der kurzen Zeit?“ staunte Herr Kühne, „Sie hat doch noch lange im<br />

Koma gelegen, habe ich gehört.“ „Ja, ja, sie hat sofort alles Mögliche aus Gesprächen<br />

aufgegriffen, und es nicht wieder vergessen. Wir bringen ihr nichts<br />

speziell bei. Sprechen sie zu ihr mal über … .“ und ich nannte ihm die Bereiche,<br />

aus denen sie sicher etwas verstand. Er stellte sich noch einmal vor, begrüßte<br />

sie und bat sie doch im Sessel am Schreibtisch gegenüber Platz zu nehmen.<br />

Was sie auch abwechselnd mich und Andy Kühne anstrahlend tat. Dann legte<br />

sie ihre Arme auf den Schreibtisch, beugte sich vor und fixierte Herrn Kühne,<br />

der ihr alles Mögliche und auch noch mit viel Mimik und Gestik und dazu noch<br />

ziemlich witzig erzählte. Als er dann noch meinte 'Monsieur Kühne' und<br />

'Mademoiselle Stein', das sei doch blöd. Er wäre lieber nur 'Andy' für sie, und<br />

würde sie gern nur 'Alyssia' nennen, freute sie sich wieder diebisch. Er bekam<br />

ein Lachen mit halb zugekniffenen Augen und schon wieder dieses<br />

Händedrehen, das wir bis jetzt nur zweimal gesehen hatten. Alyssia scheint sie<br />

außergewöhnlich zu mögen, ihre Erzählungen haben ihr sichtbar ungeheure<br />

Freude bereitet. Sie werden ihr noch mehr erzählen müssen, zum Beispiel vom<br />

Tanzen und Ballkleid und Seidennegligés, da versteht sie auch einiges. Alys<br />

schien ihn wieder gut zu verstehen, und schaute zwischendurch manchmal zu<br />

mir, als ob sie fragen wollte: „Woher weiß der das alles?“ Oder vielleicht auch:<br />

„Ist der nicht klasse?“. Zumindest schien es ihr sehr zu gefallen und Andy war<br />

auf jeden Fall ihr Typ. Ich kam auf die Idee, ihn zu unserer Fète einzuladen.<br />

Eigentlich hatte er mit uns privat ja gar nichts zu tun, aber Alys würde es<br />

bestimmt freuen, und außerdem sprach er ja fließend Französisch, besser als<br />

ich mit meinen, mittlerweile zwar relativ gut ausgebauten, Schulkenntnissen.<br />

Er würde sich auch gut mit Lucien und Julienne unterhalten können. Ich klärte<br />

ihn auf und lud ihn ein. Monsieur Kühne zögerte ein wenig. Ich sagte ihm, dass<br />

Anja auch kommen würde, er für Alyssias Freunde und besonders für sie selbst<br />

eine große Bereicherung wäre, und er bestimmt noch weiter in ihrem Ansehen<br />

steigen würde, wenn er beim Fest dabei sei. Also kam er. Er meinte noch, ob<br />

wir uns nicht auch duzen sollten. Er duze sich mit fast allen hier, auch mit<br />

Anja, nur ich nenne ihn immer noch Herr Kühne, ob ich nicht auch schlicht<br />

Andy zu ihm sagen wolle. Ich, meine Frühlingsknospe Andy nennen und er<br />

mich <strong>Ruth</strong>? War das nicht ein wenig riskant für mich? Ach Quatsch. Niemals.<br />

Also d'accord, die <strong>Ruth</strong> bin ich dann für den Andy. Jetzt strahlten wir uns an,<br />

und ich fuhr mit Alys wieder nach Hause. Dass ich Andy, einen völlig Fremden,<br />

eingeladen hatte schien den anderen nicht so sehr zu behagen, wurde aber<br />

nach meinen Erklärungen akzeptiert. „Lucien, ich glaube du bekommst<br />

Konkurrenz.“ meinte ich scherzhaft, was der nur mit einem selbstsicher<br />

überheblichen Augenaufschlag quittierte.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 160 von 209


Ralf wollte allerdings noch wissen, ob ich Andy eingeladen habe, weil ich ihn<br />

selber gern möge. „Wenn ich nicht dich, sondern Andy damals kennengelernt<br />

hätte, könnte ich mir durchaus vorstellen, Interesse an ihm gehabt zu haben.<br />

Aber da war er noch ein Schüler, und jetzt reicht mir ein frecher Mann völlig<br />

aus. Ich finde es zwar angenehm, dass er bei uns arbeitet, aber darüber hinaus<br />

sollen sich mal die jüngeren Damen um ihn kümmern. Vielleicht bevorzugt<br />

er auch Männer. Ich weiß nichts von ihm, außer dass er nicht verheiratet ist.<br />

Ich will auch gar nichts Weiteres wissen, mein lieber Herr Gemahl. War das<br />

eine ausreichende Auskunft für sie?“ Schien es gewesen zu sein, denn es hatte<br />

die üblichen Folgen, die kleine Sticheleien immer bewirkten.<br />

Die Feier zu Alyssias Rückkehr wurde wundervoll. Die Damen alle in Ballkleidern.<br />

Alyssia stolz wie eine Königin, hörte gar nicht auf zu strahlen. Und es<br />

kam wie erwartet. Dass Andy bei uns auftauchte, schien der absolute Gag zu<br />

sein. Allen musste ihre Neuentdeckung vorgeführt werden, und Alys war nur<br />

mit Mühe davon abzubringen, ihn nach oben zu lotsen. Ob sie ihm auch wohl<br />

ihr Negligé zeigen wollte, denn das Kleid hatte sie ja schon an. Lucien wollte<br />

wissen, was er ihr denn erzählt habe, dass sie so begeistert sei. Julienne hatte<br />

sich extra mit Camille ein Kleid ausgeliehen und sich frisieren lassen. „Mon<br />

Dieu, Julienne,“ entfuhr es mir, „ich wusste gar nicht, dass du so schön sein<br />

kannst.“ Sie lächelte leicht verlegen, und ich meinte während wir uns<br />

umarmten: „Du musst dich anders zurecht machen. Das kann man doch im<br />

Alltag nicht einfach so verstecken. Das brauchst du doch für dich selber.“ Für<br />

mich stand fest, dass wir in den letzten Tagen, die sie noch hier waren, auf<br />

jeden Fall mit Julienne noch Klamotten kaufen würden. Die Herrn waren nicht<br />

ganz so 'comme il faut' gekleidet, aber das fiel auch weniger ins Gewicht. Wir<br />

hatten draußen gedeckt, und ich schärfte allen noch mal ein, Obacht zu geben,<br />

dass sich Alyssia nicht selbst anderen Wein einschenkte. Tanzen war das<br />

absolute Highlight. Durch die vielen Kussunterbrechungen und <strong>einer</strong> Pause<br />

nach jedem Tanz wurde es auch für Alyssia nicht zu anstrengend. Andy hatte<br />

seinen Fotoapparat mitgebracht, wir hatten natürlich wieder nicht daran<br />

gedacht. Andy tanzte auch mal mit jemand anders, aber am besten schien es<br />

ihm mit Julienne zu gefallen. Die beiden lachten und scherzten, schauten sich<br />

an und ließen durch ihre Mimik erkennen, dass es beiden sehr gut gefiel. Da<br />

hatte ich gar nicht dran gedacht. Das wäre doch was, wenn die beiden Gefallen<br />

aneinander finden würden. Aber ich wusste ja in dieser Beziehung von Andy<br />

nichts. Homophil schien er ja offenbar nicht zu sein, aber dann hatte so ein<br />

hübscher netter junger Mann doch bestimmt eine Freundin. Oder hätte er etwa<br />

Schwierigkeiten mit <strong>Frau</strong>en, aber er schien ja wohl charmant plaudern zu<br />

können. Alles Unsinn, ich wusste einfach nichts, fertig. Plötzlich waren die<br />

beiden verschwunden. „Oh nein, ma chère Julie, wirf dich doch nicht einfach so<br />

weg. Du wolltest doch von Alys so viel wie möglich behalten.“ ging es mir<br />

durch den Kopf. Aber das musste sie ja schließlich allein entscheiden. Ich<br />

konnte ihr ja nicht vorschreiben, mit wem sie wann ins Bett zu gehen hätte.<br />

Aber Alyssia war auch verschwunden. K<strong>einer</strong> hatte es mitbekommen. Julienne<br />

und Andy saßen mit Alyssia in der Bibliothek und unterhielten sich. Sie hätten<br />

mal in Ruhe miteinander reden wollen und Alys sei ihnen gefolgt. Welche<br />

Erleichterung ich empfand, wusste k<strong>einer</strong>. Julienne hatte ihn als sehr nett<br />

empfunden und könnte sich auch wohl mehr vorstellen, aber wie das für ihn<br />

sei, wisse sie überhaupt nicht. Er scheine sie auch wohl zu mögen, aber er<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 161 von 209


habe von seinen Schwierigkeiten erzählt, dass er immer nur oberflächliche<br />

Beziehungen gehabt habe, wenn er sich dann vorgestellt habe, mehr und<br />

dauerhaft mit dieser <strong>Frau</strong> zu tun zu haben, sei es zu Ende gewesen. Warum<br />

wisse er auch nicht. Ob er die Richtige noch nicht gefunden habe, oder ob es<br />

bei ihm ein psychisches Problem gebe. „Aber wenn er dir so etwas alles<br />

erzählt, obwohl ihr euch gerade erst kennengelernt habt, ist das doch ein tolles<br />

Zeichen.“ meinte ich. Sie hatten auch ihre Adressen ausgetauscht, und wollten<br />

sich schreiben.<br />

Der Klamottenkauf wurde wieder zum absoluten Ereignis. Mademoiselle hatte<br />

zwar verstanden, dass es um Sachen für Julienne ging, aber sie wollte entscheiden.<br />

Bei manchen Teilen wurde ihr auch gefolgt, aber hauptsächlich wurden<br />

Camilles Empfehlungen berücksichtigt. Auch Kosmetikartikel wurden nach<br />

Camilles Vorstellungen eingekauft. Unterwäsche interessiere sie nicht, meinte<br />

Julienne. So ein Stilbruch wurde aber nicht akzeptiert. Bei den Dessous schien<br />

es Mademoiselle Alyssia überhaupt nicht mehr zu interessieren, dass es um Julienne<br />

ging. Selbstverständlich wurden sofort die exquisitesten Sets angesteuert.<br />

Alles erklären, half nichts, wenigstens eins musste sie bekommen. Julienne,<br />

die das gar nicht annehmen wollte, hatte ich erklärt, dass alles vom 'big<br />

spender' bezahlt würde, und der gar nicht wisse, wo er mit seinem ganzen<br />

Geld sonst hin solle. „Die Frisur steht dir absolut gut.“ meinte ich zu Julienne<br />

noch, „Das macht total viel aus. Ich an d<strong>einer</strong> Stelle würde daran keinesfalls<br />

sparen, wenn ich mich einmal so erlebt hätte.“ Bei der Modenschau am Abend<br />

wollte Alyssia natürlich auch ihr neues Set vorführen. Sollten wir sie das<br />

machen lassen? Nein lieber nicht, sonst würde sie uns später eventuell alle<br />

Höschen und BHs vorstellen wollen. Also Modenschau 'mais pas les dessous'.<br />

Als Lucien und Julienne Abschied nahmen, verstand Alyssia es wohl nicht, dass<br />

sie jetzt für länger nicht mehr hier sein würden, obwohl Lucien sich zum Baguette<br />

holen noch nie so intensiv und weinend verabschiedet hatte. Sie hatten<br />

ja auch gesagt, dass sie wiederkommen würden, und dann war für sie eigentlich<br />

immer alles o. k.. Richtig realisieren konnte ich es allerdings auch nicht.<br />

Seitdem ich wieder in Hamburg war, hatte ja für mich auch eine neue Zeit begonnen,<br />

und da gehörten Julienne, meine Liebe, und Lucien dazu. Nicht nur<br />

dass sie sich viel mit Alyssia beschäftigt hatten, wir hatten ja auch vorher<br />

schon die teils sehr schweren 3½ Wochen gemeinsam durchgestanden. Wenn<br />

sie jetzt einfach nicht mehr da waren, sie würden meinem Herzen fehlen. Zur<br />

Familie gehören war zu schal für das Bild, dass sich mir von ihnen zeichnete,<br />

sie hatten einen Platz ganz eng an m<strong>einer</strong> Seite.<br />

Allein in Hamburg<br />

Als wir in Hamburg ankamen, war es eine Überraschung. Lucien und Julienne<br />

auch in Hamburg. Es hatte sich aber so entwickelt, dass sie selbstverständlich<br />

hierher gehörten, und jetzt fehlten. Als sie noch hier waren, hatten alle untereinander<br />

fast ausschließlich französisch gesprochen, jetzt sprachen vor allem<br />

Ralf und Christoph wieder nur deutsch, außer wenn sie sich direkt an Alyssia<br />

wandten. Man antwortete natürlich auch auf deutsch, so dass Alyssia insgesamt<br />

nur einen Bruchteil von dem zu hören bekam, den sie vorher immer ver-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 162 von 209


nommen hatte. Sie war gern in Camilles Nähe, auch wenn sie ihr sagte, dass<br />

sie jetzt zu arbeiten habe, und sich nicht mit ihr unterhalten könne. Alyssia<br />

setzte sich einfach in einen Sessel oder auf die Couch, und ihr schien's gut zu<br />

gehen. Bei mir war's natürlich auch immer in Ordnung. Sie half gern in der Küche,<br />

wobei sie nach kurzer Anweisung vieles völlig selbständig machen konnte.<br />

Natürlich bereitete sie den Café au lait selber zu, und sich dann mit mir am<br />

Tisch sitzend etwas erzählen zu lassen, schien purer Genuss. Wenn ich dabei<br />

Julienne oder Lucien erwähnte, wollte sie mich immer sofort in die Bücherei<br />

zerren, um mit ihnen zu skypen. Das taten wir sowieso fast jeden Tag, aber<br />

wenn sie die Namen hörte, sollte es bei den beiden immer sofort sein.<br />

Die Bibliothek war eindeutig wieder ihr Lieblingsraum, nur jetzt nicht um sich<br />

mit den Büchern zu befassen, sondern hier wurde Musik gehört und geskypt,<br />

hier wurden Fotos angeschaut, und hier ließ man sich etwas erzählen. Am<br />

schönsten war es, wenn man dazu abends noch ein Gläschen Wein und ein<br />

Stückchen Käse hatte. Allmählich gefiel es allen gut, nach dem Abendbrot sich<br />

noch ein wenig bei Wein und Käse in der Bibliothek zu unterhalten. Ich erklärte<br />

den beiden Männern, wenn sie versuchten Französisch zu sprechen, würden sie<br />

sich doch nur selber helfen, und ihre Sprachfähigkeit verbessern und Alyssia<br />

würden sie einen großen Gefallen tun, die habe schon unter dem Entzug von<br />

Julienne und Lucien genug zu leiden. Wenn sie's machten würde es ihnen immer<br />

leichter fallen und selbstverständlicher werden. Ich habe doch auch nur<br />

meine minimalen Schulkenntnisse gehabt, und heute würde ich mal vielleicht<br />

ein Wort oder eine Redewendung nicht verstehen. Es wüchse ganz leicht und<br />

ganz schnell, und besonders bei Camilles professioneller Unterstützung. Les<br />

messieurs waren d'accord.<br />

Ich hatte Madame Mercier angerufen und ihr von den vermissten Fotos in der<br />

Klinik erzählt. Sie wollte welche machen und per E-Mail schicken. Sie wollte<br />

aber auch wissen, wie es Alyssia denn ging, und was sie mache. Sie musste<br />

immer lachen, und als ich ihr sagte, dass ihre liebste Beschäftigung skypen sei,<br />

meinte sie das sollten wir doch mal probieren, ob Alys sie da wohl wiedererkenne.<br />

Sie müsse dazu allerdings eben zu ihrer Tochter, da ginge das. Wir holten<br />

das heiß geliebte Negligé zur Bibliothek, damit sie es Madame Mercier zeigen<br />

könne. Alys schien nicht ganz zu begreifen, was sich jetzt entwickelte.<br />

Wahrscheinlich konnte man ihrer Vorstellung nach nur mit den bislang bekannten<br />

Leuten skypen. Als Madame Mercier auf dem Bildschirm erschien, machte<br />

sie riesengroße Augen, schaute mich an, als ob sie fragen wollte: „Wie geht<br />

das denn? Ist die das wirklich?“, und schien sich riesig zu freuen. Sie wäre am<br />

Liebsten in den Bildschirm hineingekrochen. Ich versuchte ihr zu erklären, das<br />

Madame Mercier so nur ihre Haare sehen könne. „Madame Mercier sieht, was<br />

auf dem kleinen Bild von dir ist, wenn du so machst oder so kann sie nichts sehen.<br />

Ob sie es verstanden hatte, wahrscheinlich. Sie hielt sich immer in passender<br />

Entfernung von der Kamera, und Madame Mercier schien auch der Ansicht,<br />

denn sie habe öfter kurz nach unten geschaut. Als sie auf das Negligé zu<br />

sprechen kam, forderte ich Alys auf, es doch Madame Mercier mal zu zeigen.<br />

Alyssia wollte sich sofort ausziehen und das Neglgé anziehen. Ich erklärte ihr,<br />

wie sie es Madame Mercier auch so zeigen könne, was auf dem kleinen Bild zu<br />

sehen sei könne Madame Mercier sehen. Und tatsächlich, während Madame<br />

Mercier das Prachtstück über alle Maßen lobte, schaute Alyssia angestrengt auf<br />

den kleinen Ausschnitt und bewegte das Negligé vor der Kamera. Madame<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 163 von 209


Mercier war ganz überwältigt, und fragte, ob ihre Tochter, die die ganze Zeit<br />

hinter ihr stehe, auch mal mit Alys reden könne. Sie müsse sie als ihre Tochter<br />

und Freundin vorstellen und ihr einen Kuss geben, dann könnte es gehen. Und<br />

tatsächlich, Alys staunte zuerst und schaute genau zu und passte auf, was Arlette<br />

Mercier ihr zu sagen hatte. Als sie von ihrer Mamon sprach und sie auch<br />

ins Bild zog, schien Alys das schrecklich komisch zu finden, und als sie von den<br />

Montelimars erzählte, und dass sie sie auch so gerne esse, weil die ja auch so<br />

schrecklich lecker seien, wobei sie ein entsprechendes Gesicht machte, war<br />

Alys total begeistert und wiegte ihre Schultern. Arlette war schwer in Ordnung.<br />

Ich erklärte noch aus dem Hintergrund, dass sie sich verabschieden müssten<br />

und ihr zusagen bald wieder zu skypen, wenn sie aufhören wollten, dann sei<br />

für Alys alles in Ordnung. Das taten sie dann auch. Madame Mercier rief mich<br />

später noch an, um mit mir darüber zu sprechen. Sie war nicht nur verwundert<br />

darüber, wie viel sie schon wieder verstand, sie meinte es sei auch wichtig ihrem<br />

Informationsbedürfnis immer neue Nahrung zu geben. Sie schiene ja<br />

förmlich danach zu hungern. Und da sie doch auch Zusammenhänge so leicht<br />

verstehe, wie bei der Kamera und dem kleinen Bild, könne man ihr doch gar<br />

nicht genug anbieten. Wir sollten Obacht geben, dass dieses Interesse aufrecht<br />

erhalten bliebe, und sie sich nicht dahin entwickle, das sie nur Bekanntes, Vertrautes<br />

stoisch reproduziere. Dazu käme es bei schwer Hirnverletzten nicht selten.<br />

Das wollten wir natürlich auf keinen Fall. <strong>Frau</strong> Mercier meinte noch, wenn<br />

sie sich für Musik interessiere, sollten wir ihr doch mal ihre Gedichte vorlesen<br />

oder rezitieren, das sei doch auch rhythmisch und melodisch und wahrscheinlich<br />

auch tief in ihr verwurzelt. Ihre Tochter habe sich übrigens riesig gefreut,<br />

und gefragt, ob sie sie nicht mal besuchen könnten. Ich erklärte ihr, dass wir<br />

sie lieber heute als morgen in Hamburg als unsere Gäste begrüßen würden. Einige<br />

Tage später kam eine E-Mail mit Fotos von <strong>Frau</strong> Mercier in der Klinik und<br />

allen Schwestern der Station. Dazu Fotos von Madame Mercier zu Hause am PC<br />

und ihrer Tochter. Wunderbar, wir druckten sie aus, damit sie sich die Bilder<br />

wie die anderen jederzeit ansehen konnte. Ich rief an, um mich für die vielen<br />

Fotos zu bedanken. Warum wir denn nicht skypten, fragte Madame Mercier, sie<br />

empfinde das auch sehr angenehm, mich sehen zu können. Sonst habe sie das<br />

eher als eine Spielerei für junge Leute angesehen, aber seit sie mit mir und<br />

Alyssia gesprochen habe, gefalle es ihr selber sehr gut. O. k. also wurde am PC<br />

angerufen und ich rief noch Alyssia, die bei Camille war. Wir kamen kaum zu<br />

mehr, als uns zu begrüßen, da wurde ich zur Seite gedrängt. Das war doch ihre<br />

Madame Mercier, mit der musste sie doch persönlich sprechen. Ohne das<br />

irgendjemand etwas gesagt hatte, hielt sie ihr ein Foto von sich in die Kamera.<br />

Sie hatte also übertragen, dass man nicht nur Nachthemden, sondern so alles<br />

Mögliche anderen zeigen konnte. Nachdem Madame Mercier einiges dazu gesagt<br />

hatte, folgte das nächste Bild. So ging es weiter, bis alle Fotos durch waren.<br />

Wenn sie das entsprechende gehört hatte, strahlte sie jedes mal. Zum<br />

Schluss schien sie etwas zu suchen. Sie schaute mich fragend an, <strong>Frau</strong> Mercier<br />

fragend an, irgendetwas schien sie zu vermissen. Ob es Arlette war, die jetzt<br />

zu Madame Mercier dazu gehörte. Sie wurde gerufen, und natürlich jetzt war<br />

das Glück wieder komplett. Arlette erzählte ihr dass sie in der Küche sei, und<br />

bei der Abendbrotzubereitung helfe, und was es bei ihnen heute Abend zu essen<br />

gebe. Dass sie von den leckeren Sachen vorher gerne etwas nasche und<br />

untermalte alles mit ausdrucksstarker Mimik. Alys starrte immer auf Arlette<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 164 von 209


und wand sich zwischendurch vor Freude. Dann erklärte Arlette, dass sie jetzt<br />

wieder in die Küche müsse, verabschiedete sich und winkte mit <strong>einer</strong> Hand,<br />

und Alys machte es auch. Nie hatte sie selbst gewinkt, wenn Leute sich winkend<br />

verabschiedeten, warum machte sie es plötzlich jetzt bei Arlette. Ich<br />

wollte auch noch kurz mit Madame Mercier sprechen. Nach einigen Erklärungen<br />

war Alys dann einverstanden. Ich sprach noch mit ihr über die mir rätselhaften<br />

Phänomene bei Alyssias visueller Wahrnehmung, und sie meinte auch, dass sie<br />

ohne die Fähigkeit Zweidimensionales in Dreidimensionales zu transferieren,<br />

nicht in der Lage wäre, Personen zu identifizieren. Sie könne ja auch die<br />

Umgebung einordnen und habe ihr das Neglgé selber kontrollierend vorgeführt.<br />

Ich solle mich mal mit Wahrnehmungspsychologen, die Alyssias Läsionen<br />

beurteilen könnten in Verbindung setzen. In Anwesenheit von Alyssia könnten<br />

wir jetzt wohl nicht mehr ohne Arlette skypen. Diese Begeisterung sei ganz<br />

außergewöhnlich, und dann gegenüber jemandem, den sie noch nie real<br />

gesehen habe. So etwas könne ich mir auch überhaupt nicht erklären.<br />

Möglicherweise verspüre sie die ihr entgegengebrachte Zuneigung. Das konnte<br />

Madame Mercier sich auch gut vorstellen. Ihre Tochter bewundere sie und<br />

möge sie sehr gern. Sie habe es schon überall ganz stolz verbreitet, dass sie<br />

mit Alyssia Stein geskypt habe. Wir verabschiedeten uns lächelnd mit den<br />

erforderlichen Floskeln, und wieder hatte sich ein herrliches Erlebnis ereignet.<br />

So vergingen die Tage wie im Fluge. Alte Bekannte wiedertreffen, life oder skypend,<br />

war Allysias Lieblingsbeschäftigung. Britta und Maximilian, der sich jeden<br />

Tag in der Schule von Camille hatte berichten lassen, wollten wissen, was sie<br />

ihr denn mitbringen könnten. Ich teilte ihr mit in welchen Preislagen sich Alyssias<br />

bevorzugte Gegenstände bewegten, sie könne es ja vielleicht mal mit ein,<br />

zwei Milchkaffeeschalen versuchen, aber elegant und wertvoll müssten sie<br />

schon sein, sonst hätten sie keine Chance beachtet zu werden. Britta und Maxe<br />

bekamen auch Lust daran, ihr minimales Französisch aufzufrischen und zu vertiefen,<br />

weil sie es auch für sich selbst als großen Gewinn betrachteten, und mit<br />

Alys nicht reden zu können, sei ja unerträglich. Alle mussten Skype installieren,<br />

damit sie Kontakt aufnehmen konnten. Selbst Omi Sylvia, die zwar einen<br />

PC hatte, aber nur ein Schreibprogramm benutzen und im Internet etwas<br />

nachschauen konnte, wurde zur intensiven Skype-Aktivistin, die ihrem chèrie<br />

immer ihre neuesten Französisch-Errungenschaften vortragen musste.<br />

Mit Elias habe ich erst lange telefoniert, da Lucille mir erklärt hatte, dass er viel<br />

wegen Alyssia geweint habe. Ich machte ihm klar, wie und warum wir alle sehr<br />

glücklich seien und am meisten Alyssia selber, und dass sein Daumendrücken<br />

für Alys bestimmt geholfen habe, denn sie habe riesengroßes Glück gehabt.<br />

Ich hätte ihm unendlich viel zu erzählen, und würde ihn sehr vermissen, aber<br />

am wichtigsten sei es, das er zunächst mal Alys etwas erzähle. Dazu machte<br />

ich ihm die Bedingungen klar, und Elias konnte es gar nicht mehr abwarten, sie<br />

am PC zu sehen. Elias konnte sich selbst vor Freude am PC gar nicht mehr halten,<br />

und wiederholte immer nur: „Hallo Alys, hallo Alys, oh nein, hallo Alys!“<br />

„Du musst ihr etwas erzählen, sie will von dir etwas hören, und vergiss nicht,<br />

gleich Madame Ledoux mit vor die Kamera zu holen.“ sagte ich aus dem Hintergrund.<br />

Es war Begeisterung pur, und als Madame Ledoux dazu kam, war es<br />

nicht mehr zu fassen. Elias und Madame Ledoux gleichzeitig, was sich da wohl<br />

in ihrem Kopf ab spielte. Lucille schickte Elias, Henri holen, der würde sich<br />

auch bestimmt freuen. Nach der üblichen Musterung wurde er auch freudig be-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 165 von 209


grüßt und Lucille forderte ihn auf; Alys etwas zu erzählen. Dass er gerade vom<br />

Wein komme, und dass es sehr viel Wein in diesem Jahr gebe, und der wahrscheinlich<br />

sehr lecker sei. Alys schien es zu verstehen, und quittierte es mehrfach<br />

mit einem verständnisvollen Strahlen. Er meinte wir sollten doch öfter<br />

miteinander telefonieren und mitteilen, worüber man mit Alyssia sprechen könne,<br />

Lucille oder Elias würden es dann notieren, und alle wüssten Bescheid. Es<br />

tue ihm richtig gut, Alys so lebendig wiedergesehen zu haben. Keine schlechte<br />

Idee, sollte ich für mich selber mal machen. Es wahr ja mittlerweile schon so<br />

viel, dass ich es auf Anhieb gar nicht mehr alles erzählen konnte. Ich fragte<br />

Lucille, ob sie es nicht ermöglichen könnten um Weihnachten oder meinetwegen<br />

auch gern an Weihnachten selbst zu uns zu kommen, das sei doch für alle<br />

wunderschön, und außerdem das Hexentreffen, ich habe es nicht vergessen.<br />

Ich sei ja schon wieder sehr gut drauf, meinte Lucille. „Lucille, du magst es mir<br />

nicht glauben,“ antwortete ich ihr, „ich war zwar oft sehr eingespannt, aber gut<br />

drauf war ich immer. Es gab immer nur jeden Tag eine neue positive Entwicklung.<br />

Mademoiselle, die noch vor ein paar Wochen mehr tot als lebendig war,<br />

bereitet sich heute ihren Café au lait selber zu, um nur ein Beispiel zu nennen.<br />

Wie soll ich da nicht gut drauf sein, wenn Alyssia selber hier die reine Freude<br />

verbreitet. Alle hier sind gut drauf, und haben ihre Freude daran.“ Sie fände<br />

den Vorschlag mit Weihnachten gar nicht schlecht, ob uns das denn auch wirklich<br />

nicht stören würde. Ich versicherte ihr noch mal, dass das Gegenteil der<br />

Fall sei. So hatte sich die Liste der häufigen Skype-Kandidaten wieder erweitert.<br />

Immer wenn Alyssia nicht gerade mit etwas anderem beschäftigt war, fiel<br />

ihr ein dass sie skypen wolle. Wir hatten eine Fotoliste von allen, mit denen sie<br />

skypen konnte, und nach ihrer Auswahl entschied ich dann, ob es derzeit möglich<br />

sei. Wenn ich sie gelassen hätte, wäre sie sicher schnell dazu allein in der<br />

Lage gewesen. Dass sie auf das entsprechende Icon klicken musste, um starten<br />

zu können, hatte sie schon mitbekommen, ohne dass es ihr jemand gezeigt<br />

hatte. Bei Lucien, der sich sowieso jederzeit selbst freute, wenn er Alys sah,<br />

machte sie es auch völlig selbständig und konnte erkennen, wenn es zwecklos<br />

war, weil er den PC nicht an hatte. Deshalb striktes Gebot, skypen nur mit<br />

Mamon.<br />

Die Tage waren ausgefüllt mit Alyssia. Alles drehte sich nur um sie und ihre<br />

Entwicklung. Im Moment war das auch toll, gut und richtig so. Aber auf die<br />

Dauer, wie sollte es da werden. Sie könnte ja einen herausgehobenen Platz bei<br />

mir haben. Das hatte sie ja immer gehabt, aber das übliche Leben musste<br />

auch beachtet werden. Ich wollte meine Arbeit in der Kanzlei eigentlich nicht<br />

aufgeben, zur Zeit war das aber ein unlösbares Problem. Aber nicht nur die<br />

Kanzlei, auch die anderen Bereiche außerhalb von Alyssia konnten nicht immer<br />

unberücksichtigt bleiben. Ich durfte diese Gesichtspunkte nicht aus dem Auge<br />

verlieren, und wollte sie auch mit den anderen besprechen. Auf jeden Fall waren<br />

wir jetzt schon mal ein französisches Haus geworden. Die Herren hielten<br />

sich brav daran. Im Bett allerdings gefiel es uns dann doch besser auf deutsch,<br />

obwohl es wahrscheinlich französisch viel schöner geklungen hätte. Wir haben<br />

uns Alys Liebes- und Traumgedichte im Bett vorgelesen, und so eigentlich erst<br />

erfahren, wie schön sie wirklich sind.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 166 von 209


Lucien und Julienne<br />

Mit Lucien wurde so gut wie täglich geskypt. Um 17 Uhr war er immer spätestens<br />

zu Hause und schaltete den PC ein. Alys wollte zunächst immer den Bildschirm<br />

streicheln und küssen, aber auch hier hatte sie schnell den Unterschied<br />

zwischen Kamera und ihrem Bildschirm verstanden. Lucien hatte oft Tränen in<br />

den Augen, und versicherte Alyssia ständig, er werde bald wiederkommen, und<br />

dann würden sie sich wieder richtig streicheln, umarmen und küssen können.<br />

Sie würde wieder ihr Ballkleid anziehen und sie würden wieder tanzen. Er würde<br />

sie ins Bett bringen und ihr ganz viele Küsse geben, sie würden in der Bibliothek<br />

sitzen, und er würde ihr viele schöne Sachen erzählen. Während Alyssia<br />

sich jedes mal bei den gleichen Worten von Lucien immer wieder mächtig<br />

freute, hatte Lucien oft feuchte Augen und schien ihr seinen eigenen Traum zu<br />

erzählen, den er lieber heute als morgen realisiert hätte. Mitte Oktober rief<br />

mich Madame Renouard, Luciens Mutter an. Sie meinte, Lucien habe völlig den<br />

Bezug zur Realität verloren, und es sei mit ihm gar nicht mehr vernünftig zu<br />

reden. Er könne es nicht verstehen, warum er und Alyssia, denn nicht zusammen<br />

sein könnten, wenn sie es doch beide wollten. Es sei ja alles schlimm genug<br />

für Alyssia, aber dass ihnen jetzt auch noch ihre Liebe verboten würde, die<br />

ja zu ihrer beider übergroßen Freude erhalten geblieben sei, könne er nicht<br />

verstehen. Er mache kaum noch etwas an der Universität, könne sich nicht<br />

konzentrieren, und sei fast jedes Wochenende zu Hause, um ihr immer wieder<br />

von Alyssia vorzuschwärmen und zu erklären, dass er ohne sie nicht leben<br />

könne. Sie habe manchmal Angst, dass er sich etwas antun würde. Ich erklärte<br />

ihr, warum ich das in gewisser Weise nachvollziehen könne. Wir hätten<br />

gemeinsam um ihr Leben gebangt, gemeinsam gezweifelt und ausgeharrt, ob<br />

sie uns wohl wiedererkennen würde, und Lucien sei von Anfang an ihr<br />

absoluter Liebling gewesen. Alyssia sei selig, wenn sie sich umarmten und<br />

küssten, oder gemeinsam tanzten. Von ihm habe sie das erste neue Wort<br />

gelernt und überhaupt, dass Wörter etwas bedeuteten, und er sei eben bis<br />

heute außer ihrer Mutter der einzige, von dem sie sich berühren ließe und zwar<br />

gerne. „Aber wie soll das denn funktionieren?“ hob Madame Renouard an. „Mir<br />

brauchen sie es nicht zu erklären.“ unterbrach ich sie, „Ich hab es ihnen in<br />

Combaillaux ja selber erklärt, und sie haben es auch eingesehen. Ich hab<br />

Lucien und Alyssias Freundin mit nach Hamburg genommen, um ihnen den<br />

Abschied zu erleichtern. Aber das scheint sich emotional so tief eingegraben zu<br />

haben, dort hin, wo rationale Argumente keinen Zugang mehr haben. Es ist<br />

Lucien ja auch nichts verboten worden. Im Gegenteil, ich habe die beiden<br />

aufgefordert, so oft wie möglich zu kommen, und ihnen angeboten die<br />

Fahrtkosten zu tragen, da es ja für Alyssia sei, die selbst noch nicht reisen<br />

könne.“ „Aber was soll ich denn machen, Madame Stein, ich habe Angst um<br />

Lucien?“ fragte sie ratlos. „Ich frage mich, warum Lucien mir das selber noch<br />

nicht gesagt hat. Ich dachte wir seien gute Freunde. Wir telefonieren fast jeden<br />

Tag miteinander. Wenn er mir gesagt hätte, dass er nichts mehr tun könne,<br />

sich nicht mehr konzentrieren könne, hätte ich ihm gesagt, dass er ganz<br />

schnell nach Hamburg kommen solle. Wenn er sowieso nicht mehr arbeitet,<br />

was will er dann an der Uni. Vielleicht bekommt man es ja im Beisein von<br />

Alyssia wieder hin, die bestimmt nicht gewollt hätte, dass er aufhöre zu<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 167 von 209


studieren.“ antwortete ich Madame Renouard. „Wollen sie nicht mal mit ihm<br />

sprechen?“ fragte sie, „Er ist hier.“ Lucien meinte, es sei ihm peinlich gewesen,<br />

er habe sich geschämt. Ich befahl ihm fast, sich sofort den nächsten Flieger<br />

von Clermont-Ferrand nach Fuhlsbüttel zu suchen, auch Business, ich würde<br />

bezahlen. Am nächsten Morgen kam er schon an. Natürlich fuhr ich mit Alyssia<br />

zum Flughafen. Als sie Lucien von weitem zu erkennen schien, schaute sie<br />

mich zunächst mit großen Augen an, als ob sie fragen wollte: „Ist das wirklich<br />

wahr, was ich sehe?“ Dann war's vorbei, beide rannten wie frisch verliebte<br />

Kinder aufeinander zu, und hätten wahrscheinlich nie mehr aufgehört sich zu<br />

umarmen, zu küssen, und ihre Gesichter zu befühlen, wenn ich sie nicht<br />

aufgefordert hätte, das doch lieber zu Hause oder im Auto fortzusetzen.<br />

Mit Julienne telefonierte ich häufig. Sie skypte auch oft mit Alys, aber da blieb<br />

ich ja immer so gut wie außen vor. Ich wollte mich mit ma chère Julienne aber<br />

doch selbst unterhalten. In den ersten Tagen teilte sie mir schon mit, dass sie<br />

zusätzlich Deutsch belegt habe. Wie das, warum, sie konnte doch gar kein<br />

Deutsch. Sie hatte sich gedacht, dass es nicht schlecht sei deutsch zu lernen,<br />

damit sie später eventuell auch mal in Deutschland leben könne, und so einen<br />

Anfängerkurs, der ein halbes Jahr dauere mit zwei neuen Vokabeln jede Woche,<br />

finde sie zum Einschlafen. Jetzt habe sie zwei aufeinanderfolgende Intensivkurse<br />

belegt, bei denen man garantiere, sich nach einem halben Jahr problemlos<br />

in Deutschland unterhalten zu können. Da sei ihr die Idee gekommen,<br />

warum sie es da nicht gleich als Studienfach belegen solle, dann könne sie ja<br />

auch in Deutschland schon studieren. Ob das denn nicht neben den anderen<br />

Studienbereichen eine Überforderung sei. Sie werde ohne Zweifel viel büffeln<br />

müssen, aber arbeiten könne sie an sich ganz gut. Zusätzlich würde es sie eher<br />

davon abhalten, auf irreführende Gedanken zu kommen. Wenn sie mal<br />

verzweifle, müsse ich sie mental unterstützen. Das erste Semester sei sicher<br />

am schwierigsten, da sie ja überhaupt keine Vorkenntnisse habe. Ob sie mich<br />

da mal öfter um Hilfe bitten dürfe? „Jeden Tag sieben mal, ma chère,“<br />

antwortete ich ihr, „und Camille auch bestimmt, die ist ja französische<br />

Deutschlehrerin.“ Was dazu wohl der Hintergrund war. Wollte sie in Alyssias<br />

Nähe leben und arbeiten können, oder dachte sie dabei an Andy, der ihr<br />

vielleicht doch viel besser gefallen hatte, oder wollte sie eventuell näher bei<br />

mir, bei uns sein können, alles schien möglich, vielleicht kam auch alles<br />

zusammen und sagte ihr, wenn du eins von dem willst, musst du Deutsch<br />

lernen. In der folgenden Zeit rief Julienne tatsächlich oft mehrmals täglich an,<br />

weil sie etwas erklärt oder übersetzt haben wollte. Es gab natürlich auch<br />

immer ein nettes Wort oder ein Scherzchen.<br />

Wir sprachen auch noch mal über ihr Outfit. Ich meinte, im Abendkleid sei mir<br />

aufgefallen, das ist die wirkliche, die wunderschöne Julienne. Ich meinte sie<br />

habe sonst in ihrem Äußeren immer so herb, schroff und spröde gewirkt. Vielleicht<br />

hätte sie den Eindruck erwecken wollen, aber warum? „Du bist doch zum<br />

Glück eine sensible, einfühlsame, und feinsinnige junge <strong>Frau</strong>. Darauf kannst du<br />

doch stolz sein. Lass das doch erkennen. Das heißt doch überhaupt nicht, dass<br />

du nicht eine starke <strong>Frau</strong> bist. Dafür ist doch entscheidend, dass du weißt, was<br />

du willst und das harte Outfit und die grande Gueule sind meist nur ein Zeichen<br />

dafür, dass du so tun willst, als ob du's wüsstest, aber in Wirklichkeit völlig<br />

unsicher bist. Du siehst so richtig exquisit, stilvoll und kultiviert aus. Das passt<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 168 von 209


zu dir. Sei stolz drauf.“ versuchte ich meine Vorstellungen näher zu erläutern.<br />

„Ja, ja, das stimmt schon.“ meinte Julienne, „die raue Schale das ist nicht mein<br />

ich. Am Tisch habe ich mich über Alyssias Traumprinzenliebe lustig gemacht,<br />

und hinterher im Bett habe ich geheult, dass ich so etwas niemals bekommen<br />

würde.“ „Bleib so, wie du jetzt bist Julienne, dann werden sich alle<br />

Traumprinzen dieser Welt um dich reißen.“ antwortete ich leicht scherzhaft.<br />

„Ich würde euch alle so gerne wieder sehen.“ fügte sie noch hinzu. Ich erklärte<br />

ihr, das das allein an ihr läge. Als sie im Oktober erfuhr, dass Lucien hier sei,<br />

wollte sie auch kommen, aber sie könne nur übers Wochenende. Selbstverständlich<br />

wieder Business.<br />

Bei Juliennes Ankunft wieder das gleiche nur ohne Umarmung natürlich. Der<br />

Flughafen schien eine gute Adresse. Zu Hause wurde Lucien vor Julienne platziert,<br />

als ob Alys zu Julienne sagen wollte: „Schau mal wer hier ist.“. Sie umarmten<br />

sich natürlich auch, nur statt vieler Küsse, bekam Lucien zu hören: „Du<br />

alter Bock, warum hast du dich so selten gemeldet?“ The hole Family war wieder<br />

komplett, Alyssia ließ es deutlich erkennen. „Deutsch lernen, wieso bin ich<br />

nicht auf den Gedanken gekommen? Warum hast du mir nichts davon erzählt?“<br />

fragte Lucien, als er davon erfuhr. „Du scheinst dich ja für mich überhaupt<br />

nicht mehr zu interessieren. Und mir immer dein herunterziehendes Gejammer<br />

anzuhören, dafür ruf ich dich nicht an.“ gab Julienne zur Antwort, die ich später<br />

über Luciens Situation informierte. Sie meinte, sie brauche noch Sachen für<br />

den Winter, Camille habe sie so gut beraten, darüber hinaus mache das Einkaufen<br />

mit Alys viel Spaß, aber diesmal bezahle sie selbst. Also wurden am<br />

Samstagmorgen Klamotten gekauft. Die chicsten Sachen, gehörten natürlich<br />

meist zu den teuersten. „Nein, das ist zu teuer. Das kann ich mir nicht leisten.“<br />

erklärte Julienne, während Alyssia solche Skrupel überhaupt nicht kannte. Nur<br />

wenn ich ihr erklärte, sie habe so etwas schon zu Hause und brauche nicht<br />

noch ein zweites davon, war sie bereit das Teil wieder herauszurücken. „Ma<br />

chère, ich kann das nicht haben, dass du die Sachen, die dir am besten stehen,<br />

wieder weg hängst, weil sie dir zu teuer sind. Du hast mir so unendlich viel gegeben,<br />

was ist dagegen schon ein bisschen Geld. Ich freue mich doch auch,<br />

dich als 'La belle de l'hiver' zu sehen. Lass es mich bezahlen.“ bat ich Julienne.<br />

Mademoiselle entdeckte immer neues für sich. Besonders die teuersten Lederjacken<br />

hatten es ihr angetan. Nur mein striktes „Non fini!“ konnte sie von weiteren<br />

Einkaufswünschen abhalten. Etwas brauchte sie ja schließlich auch für<br />

die kalten, stürmischen und nassen Hamburger Wintertage.<br />

Wie es denn mit Andy stehe, ob sie den nicht besuchen wolle, fragte ich Julienne.<br />

Sie hatte mir erzählt, dass er ihr so sonderbare Briefe schreibe. Am Anfang<br />

seien sie wunderschön, richtig poetisch fast, und zum Ende würde er immer<br />

absolut nüchtern und kühl. Und immer nur die langweilige Grußformel „Je<br />

t'embrasse, Andy“, als wenn er s<strong>einer</strong> Tante schreibe. Sie könne überhaupt<br />

nicht einschätzen, welche Vorstellungen er habe. Sie freue sich immer sehr<br />

über seine Briefe, aber zum Schluss müsse sie immer weinen. Wenn er kein<br />

Interesse an ihr habe, würde er ihr doch nicht so oft schreiben, und so wunderschöne<br />

Fotos mitschicken, die er selbst gemacht habe, aber warum dann<br />

immer dieser Schluss, der für sie so klinge wie, sie brauche sich überhaupt keine<br />

Hoffnungen zu machen. Julienne hatte Andy nicht darüber informiert, dass<br />

sie an diesem Wochenende nach Hamburg komme, und sie wollte ihn auch<br />

nicht sehen, ihre blumigen Worte über Monsieur Kühne verdeutlichten aber<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 169 von 209


schon, dass er ihr überhaupt nicht unbedeutend war. „Sag mal ehrlich,“ wollte<br />

ich von Julienne wissen, „magst du Andy, liebst du ihn?“ „Ja ich mag ihn schon<br />

irgendwie sehr gern, und finde ihn eigentlich auch ganz toll, aber soll ich ihm<br />

schreiben 'Andy, ich liebe dich', wenn sein letzter Brief mit der Frage endet, ob<br />

wir uns wohl jemals wiedersehen würden.“ antwortete Julienne leicht zornig<br />

und verzweifelt. Ich fand Juliennes Vorgehen auch richtig, sie solle auf keinen<br />

Fall den Eindruck erwecken, als ob sie ihm nachliefe, warum er so sonderbare<br />

Briefe schrieb, blieb mir allerdings auch verschlossen.<br />

Julienne erklärte noch, dass sie sich in den nächsten Tagen entscheiden müsse,<br />

ob sie jetzt schon ein Auslandssemester in Deutschland mache, und dass<br />

Hamburg auch möglich sei. „Gibt es denn da eine Frage?“ wollte ich von ihr<br />

wissen, und sie nannte ein paar geringfügige Bedenken. „Julienne, das ist doch<br />

klar. Du wirst im Sommersemester bei uns sein. Mon Dieu, wie wunderschön.<br />

Camille meinte, es sei, doch schwer für sie, hier in einem der Gästezimmer die<br />

ganze Zeit zu wohnen und zu studieren. Sie würden zwei von ihren Räumen so<br />

gut wie gar nicht nutzen, dort könne Julienne doch wohnen, dann habe sie<br />

einen Arbeits- und Lebensraum und ein Schlafzimmer. Das könne sie doch gar<br />

nicht bezahlen, die Unterstützung für das Stipendium sei sehr geringfügig. „Ich<br />

spring dir gleich an die Gurgel, Julienne,“ schaute ich sie leicht böse an, „wenn<br />

du noch mehr so dämliche Argumente bringst, oder willst du es in Wirklichkeit<br />

gar nicht?“ „Ja und das Haus in Combaillaux, was wird damit?“ fragte sie.<br />

„Willst du etwa Alyssias Haus verkaufen?“ fragte ich leicht ironisch „Wenn es<br />

k<strong>einer</strong> mehr nutzt, ist es eben unser gemeinsames Ferienhaus. Ich kann es mir<br />

nicht vorstellen, nicht mehr an den Ort zurück zu können, wo wir gemeinsam<br />

um Alyssias Leben gebangt haben, wo ich sie so oft in ihren glücklichen Tagen<br />

besucht habe, wo sie so voll Freude gelebt hat. Julienne, dieses Haus können<br />

wir doch nicht einfach verlassen und Fremden geben, das würde dir doch auch<br />

weh tun, oder?“ Wir besprachen noch Details für's Sommersemester, und<br />

Camille schärfte ihr noch mal ein, sie jeder Zeit anzurufen, wenn es irgendein<br />

Problem gebe. Überlegungen für den nächsten Besuch führten dazu, dass<br />

Julienne auch Weihnachten kommen würde. Am Flughafen erlebte Alyssia jetzt<br />

zum ersten mal, dass hier nicht nur heiß geliebte Freunde ankamen, sondern<br />

auch verabschiedet wurden. Das PC-Winken, die gespreizte Hand hin und her<br />

bewegen wie bei Arlette, gab es auch für Julienne. Anscheinend reizten sie<br />

flatternde Hände nicht zur Nachahmung.<br />

Lucien schien es bei uns prächtig zu gehen. Dass er verzweifelt, traurig, unkonzentriert<br />

sein könne, war nicht vorstellbar. Aber wie sollte es weiter gehen.<br />

Er konnte doch nicht einfach hier wohnen, mit Alyssia schmusen und ein wenig<br />

im Haushalt helfen, und dabei langsam älter werden. Alyssia zog mittlerweile<br />

zum Mittagsschlaf nicht mehr extra ein Nachthemd an und stand auch selbständig<br />

auf, wenn sie wach wurde. Zu Anfang hatte sie auf der Bettkante sitzend<br />

gewartet, bis sie abgeholt wurde. Aber zum Schlafen hin begleitet werden,<br />

war für sie immer noch unverzichtbar. Ein paar nette Worte, ein Lied und<br />

gegebenenfalls ein paar Küsse waren für's Einschlafen zwingend erforderlich.<br />

Alys war vom Mittagsschlaf schon wieder herunter gekommen und zu Camille<br />

gegangen. Ich wollte nachschauen, wo Lucien steckte. Er war mit Alyssia selber<br />

eingeschlafen und wurde wach, als ich das Zimmer betrat. Ich legte mich<br />

zu ihm aufs Bett. „Sag mal Lucien,“ fragte ich ihn, „warum nennt Julienne dich<br />

eigentlich immer 'alter Bock?“ „Das sagt sie ja nicht immer, nur ganz selten.“<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 170 von 209


erwiderte Lucien „so ein wenig spaßige Stichelei, aber ich glaube auch, dass sie<br />

immer so etwas ähnliches wie eifersüchtig war. Alyssia war ja dann für sie nicht<br />

mehr da, wenn wir zusammen ins Bett gingen, und weil Alys ja keine Schuld<br />

treffen konnte, war ich der Bock, der mit ihr ficken wollte, obwohl es in<br />

Wirklichkeit eher umgekehrt war.“ Ob er jetzt viel daran denke, wollte ich von<br />

ihm wissen. Ganz selten, so gut wie nie. Er denke immer an jetzt, wie sie sich<br />

über ihn freue, ihn lieb habe und anstrahle, ihm zuhöre und von ihm geküsst<br />

werden wolle, das sei natürlich seine Alyssia von früher, es störe ihn auch gar<br />

nicht, dass sie sich nicht unterhalten könnten, obwohl es ihnen früher sehr viel<br />

bedeutet habe, und sie es sehr gern getan hätten. Er könne meine Position von<br />

damals in Combaillaux jetzt nicht nur gut nachvollziehen, sondern empfinde<br />

absolut genauso, und könne sich etwas anderes gar nicht mehr vorstellen. Diese<br />

Alyssia sei es, die er so vermisse, wenn er nicht hier sei. Sie möge ihn und<br />

liebe ihn und wolle ihn gern spüren, und das sei nicht möglich. Es zwinge sich<br />

ihm ständig auf, und stimme ihn ungeheuer traurig, dass es nie möglich sei.<br />

„Manchmal habe ich das Gefühl, dass es bei mir im Kopf schon nicht mehr ganz<br />

richtig zugeht. Einerseits freue ich mich riesig, wenn ich sie beim Skypen auf<br />

dem PC sehe, aber hinterher bin ich oft umso trauriger, dass sie dann nicht real<br />

bei mir ist. Manchmal umarme ich tatsächlich hinterher den PC und küsse den<br />

Bildschirm. Ich habe schon mal daran gedacht zum Psychiater zu gehen, aber<br />

soll ich mir von einem Arzt meine Liebe zu Alyssia weg therapieren lassen?<br />

Selbst wenn's ginge, wollte ich das doch gar nicht.“ so erläuterte Lucien weiter<br />

sein großes Problem. Ich erzählte Lucien von m<strong>einer</strong> Situation als Ralf in<br />

Magdeburg war. „Du <strong>Ruth</strong>?“ fragte er ungläubig, „Ich dachte dir könnte so<br />

etwas gar nicht passieren.“ „Für jeden Menschen kann es etwas geben, dass<br />

ihn seelisch aus dem Gleichgewicht bringt.“ meinte ich dazu, und mir wurde<br />

zunehmend selber klarer, dass Lucien nicht einfach durch gutes Zureden zum<br />

fleißigen Studieren in Montpellier zu bewegen sein würde. Ich hatte nichts<br />

derartiges gesagt, aber Lucien meinte: „<strong>Ruth</strong>, ich glaube du bist die einzige,<br />

die meine Situation verstehen kann.“ Wir schauten uns an, und umarmten uns.<br />

Ich musste dabei an Alyssia denken, wie sie früher ihren Lucien umarmt, und<br />

sich dabei erotisch angeregt gefühlt hatte. Ich streichelte ihm übers Haar und<br />

meinte: „Lucien, ich werde dir helfen, wie und wo es nur geht. Du bist für mich<br />

so etwas Ähnliches, wie ein Teil von Alyssia, aber ich weiß überhaupt nicht, wie<br />

und wodurch ich es tun könnte. Einfach nur hier sein, und Alyssia lieben, dass<br />

ist auch keine Hilfe oder Lösung. Du selbst bist ja auch noch mehr, als der<br />

Lucien, der Alyssia liebt. Der Lucien, der Kunst und Philosophie und die<br />

französische Literatur liebt, ist ja nicht ausgelöscht, auch wenn ihm das<br />

momentan nicht viel bedeutet. Ich mag diesen Lucien auch sehr, und er ist<br />

immer mit dabei in meinem Bild, wenn ich sehe, wie dieser hier“ wobei ich ihn<br />

leicht lächelnd rüttelte, „und meine Tochter sich liebend umarmen. Ich fände es<br />

äußerst schade, wenn du versuchen solltest, ihn zu missachten, und Alyssia<br />

wahrscheinlich erst recht. Sie hat zu diesem Lucien ja erst ihre Liebe<br />

entwickelt.“ erläuterte ich selber eigentlich ratlos. Es schien ihn zu bewegen.<br />

„Ich will das ja auch nicht. Ich bin ja zu Semesterbeginn wieder nach Hause<br />

gefahren, weil ich selbstverständlich weiter studieren wollte. Ich habe mir ja<br />

nicht gesagt 'Ach Studium, interessiert mich nicht, ich träume lieber von<br />

Alyssia.' <strong>Ruth</strong>, es ist wie eine Sucht in mir, von der ich mich nicht lösen kann,<br />

über die ich keine Macht habe. Ich kann mir nicht vornehmen: tagsüber<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 171 von 209


studiere ich, abends träume ich von Alyssia, es kommt einfach, ist ständig da,<br />

wann es will, und scheint immer schlimmere Formen anzunehmen. Wenn ich<br />

mir selber aufzeige, wie absurd ich mich verhalte, hat das überhaupt keinen<br />

Einfluss darauf.“ verdeutlichte er noch näher, „Wenn ich hier bin, ist es so, als<br />

ob es das alles nie gegeben hätte. Ich kann auch allein sein, und etwas lesen,<br />

wenn sie zum Beispiel bei Camille ist oder dir in der Küche hilft. Ich hänge<br />

nicht immer an ihren Fersen. Meistens ist sie es, die mich zu irgendetwas<br />

veranlasst. Wenn ihr einkaufen oder sonst wie unterwegs seid, warte ich nicht<br />

sehnsuchtsvoll auf ihre Rückkehr. Es ist einfach alles ganz normal.“<br />

Sollte ich ihn auch mal zu meinem Professor Rütten schicken? Ich war skeptisch,<br />

und dann nur französisch und spanisch verstehen können, was konnte<br />

das bringen. Klar war für mich nur, dass er so nicht einfach wieder nach Montpellier<br />

fahren konnte, und dass er etwas tun musste, um nicht intellektuell zu<br />

verkommen, aber was. „Lucien, dass du gern hier bleiben kannst, ist ja überhaupt<br />

keine Frage. Das hätte dir ja selbstverständlich immer offen gestanden,<br />

aber hast du dir denn schon mal irgendwelche Gedanken gemacht, wie es weiter<br />

gehen, könnte?“ fragte ich ihn. „Auf jeden Fall werde ich jetzt auch ganz<br />

schnell Deutsch lernen. Nur ich kann dazu nicht nach Montpellier fahren, und<br />

ein halbes Jahr auf Alyssia warten, das funktioniert nicht. Da weiß ich im Voraus,<br />

das so etwas nicht läuft. Einige Wochen, wenn's hoch kommt, werde ich<br />

vielleicht von der Perspektive leben können, aber spätestens dann wird sich die<br />

gleiche Situation wieder entwickeln, da bin ich mir absolut sicher. Ich bin nicht<br />

so stark, dass ich das verkraften könnte.“ antwortete er. „Lucien, jetzt fang<br />

auch noch an, so etwas zu reden, dass es daran liege, das du nicht stark<br />

genug seist, mach dir schön viele Selbstvorwürfe, und sieh dich selber als<br />

totalen Schwächling. Wie kommst du nur auf so etwas, du warst immer<br />

selbstsicher, und hattest es angenehmer Weise nie nötig, das zu<br />

demonstrieren. Ich bewundere dich. Die allermeisten Menschen hätten bei<br />

Alyssia gedacht, was soll ich mit so <strong>einer</strong> denn anfangen, und hätten sich<br />

möglichst bald zurück gezogen. Dass du es nicht tun würdest, war mir<br />

selbstverständlich. Ein anderer Gedanke ist mir gar nicht in den Sinn<br />

gekommen. Das ist für mich ein Zeichen von absoluter Stärke und nicht von<br />

Schwäche, die Angst darum hat, ihre Vorteile könnten ihr eventuell genommen<br />

werden. Ich halte dich schon für sehr sensibel, aber das finden alle schön, und<br />

hat mit Schwäche nun überhaupt nichts zu tun.“ reagierte ich leicht ärgerlich.<br />

„Also hier in Hamburg deutsch lernen und dann?“ führte ich die<br />

Perspektiverkundung weiter fort. „Ich weiß nicht, ob ich dann hier in Hamburg<br />

weiter studieren kann und will.“ erklärte Lucien weiter, „Ich möchte ja auch<br />

etwas mit Alyssia machen. Ich habe schon mal daran gedacht, ob wir nicht<br />

eventuell ein kleines Bistro aufmachen könnten.“ sprach er zögernd. Ich<br />

schaute ihn intensiv fragend an. Jetzt schien er doch durchzudrehen. „Lucien,<br />

wo von träumst du?“ reagierte ich erstaunt, „Dass du selber, außer sich im<br />

Bistro bedienen zu lassen, von Gastronomie keine blasse Ahnung hast, und von<br />

deutscher erst recht nicht, ist ja noch das aller geringste Hindernis, aber was<br />

willst du denn mit <strong>einer</strong> <strong>Frau</strong>, die nicht spricht, die kein Deutsch versteht, die<br />

man nicht berühren darf, und die sich Fremden gegenüber ablehnend verhält in<br />

<strong>einer</strong> Gaststätte. Das musst du mir mal erklären.“ Das konnte er zum Teil sehr<br />

detailliert. Er hatte anscheinend schon häufig darüber nachgedacht. Aber<br />

zuerst hatte er mich gefragte, warum ich auf einmal so abschätzig über Alyssia<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 172 von 209


ede, und gar nicht ihre positiven Entwicklungsmöglichkeiten sehe, was mich<br />

dazu veranlasste, seine Vorstellungen wohlwollend zu betrachten. Ganz<br />

überzeugen konnte er mich allerdings nicht, aber absolut unmöglich schien es<br />

mir auch nicht mehr. Wenn das eine Perspektive wäre, die funktionieren würde,<br />

ungeheuerlich. Sollte so etwas überhaupt möglich sein, ginge das natürlich nur<br />

mit Lucien. Unsere Mademoiselle als als Barista in einem französischen Bistro,<br />

die Idee ließ mich jetzt auch nicht mehr los. Obwohl ich noch nicht daran<br />

glaubte, erfreute mich das Bild ungemein. Ich musste Lucien umarmen und<br />

küssen. „Mon cher Lucien je t'adore. Ich habe nur daran gedacht, dem armen<br />

verstörten jungen Mann helfen zu müssen, und dabei ganz vergessen, was für<br />

ein toller Junge du doch bist.“ bewunderte ich ich ihn. Er grinste ein wenig<br />

verlegen und meinte leicht spöttisch: „Und? Jetzt weißt du's wieder?“ Bei<br />

Alyssia hätte so etwas früher zu gemeinsamer Balgerei geführt, wir schauten<br />

uns aber nur lächelnd an, und ich meinte: „Sei nicht so frech!“, während ich<br />

ihm in die Nase kniff. „Komm, lass uns runter gehen. Wir haben viel zu tun,<br />

und dürfen keine Zeit versäumen.“ meinte ich hoffnungsfroh. Wir gingen bei<br />

Camille vorbei zur Küche und ließen uns von der Barista in Spe einen Café au<br />

lait zubereiten. „Wir werden noch viel überlegen und durchdenken müssen,<br />

aber das absolut vorrangige ist natürlich zunächst, dass du fließend deutsch<br />

sprichst und zwar möglichst schnell.“ meinte ich. Ein sündhaft teurer<br />

Managerkurs schien am erfolgversprechendsten. Also gleich morgen anmelden<br />

und pauken.<br />

La Barista<br />

Ich traute mich gar nicht, den anderen von Luciens Bistro-Idee zu erzählen. Sie<br />

würden mich für absolut verrückt halten. Aber Alyssia verstand und konnte ja<br />

mittlerweile so vieles, und schien, immer schneller dazuzulernen. Ihre Wortschatzerweiterungen<br />

aufzuschreiben, war unmöglich geworden. Ich führte nur<br />

noch ein Tagebuch, in das ich neue Erlebnisse und Erfahrungen eintrug. Sie<br />

war auch nicht mehr so eigensinnig, wie es sich zu Anfang oft gezeigt hatte,<br />

vielleicht einfach, weil sie viel mehr verstand. Natürlich skypte sie längst völlig<br />

selbständig, kam aber immer fragend mit einem Bild zu mir, ob sie die oder<br />

den jetzt anrufen könne. Sie beachtete auch selbständig, dass sie nur ihren<br />

speziellen Wein und Kaffee verwenden durfte, und mit einem Verweis auf die<br />

Position ihrer großen Narbe, von der man aber wegen der darüber liegenden<br />

Haare nichts sah, wurde alles akzeptiert. Lucien hatte versucht, ihr ihren Unfall<br />

und ihre erste Zeit in der Klinik, wie lange sie geschlafen habe, und was sie gemacht<br />

habe, als sie ihn wiedergesehen habe, verstehbar und mit reicher gestischer<br />

und mimischer Unterstützung zu erzählen. Wahnsinnig spannend, Alyssia<br />

wollte es immer wieder hören, und Lucien fügte immer wieder neue und andere<br />

Details hinzu. Wenn sie die Hände wie ein Lenkrad steuernd bewegte, und<br />

Lucien fragend anschaute, hieß das immer: „Erzählst du's mir noch mal?“.<br />

Ralf erzählte ich zuerst, was Lucien für eine Idee gehabt hatte. Ich hätte es zunächst<br />

auch für völlig absurd gehalten, aber wie er seine Vorstellung näher erläutert<br />

habe, sei es mir gar nicht mehr so absolut unmöglich erschienen. Es<br />

würde keine Bedienung geben, sondern man könne sich nur an der Theke et-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 173 von 209


was holen. Zwei Leute stünden hinter der Theke, Alyssia sei nur für die Getränke<br />

zuständig. Das Bistro solle original französisch wirken, und die Leute über<br />

der Bar aufgefordert werden, französisch zu sprechen. Außer Alyssia, sollten<br />

aber alle auch deutsch verstehen können, und Alyssia könne sich immer an sie<br />

wenden. Wobei er glaube, dass Alyssia durchaus in der Lage sei, eine deutsche<br />

und eine französische Bezeichnung, für die gleiche Sache zu verstehen, und sie<br />

sich dadurch nicht verwirren lasse. Zu lernen, die unterschiedlichsten Kaffeearten<br />

zuzubereiten wäre, für sie ein Kinderspiel und Zahlen zu verstehen war zur<br />

Zeit eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Alles musste ich ihr durchzählen,<br />

nicht nur ihre Skype-Partner und ihre Musiktitel, sondern auch Teller und Tassen<br />

im Schrank, und immer, wenn ich ein falsches Zahlwort nannte, wurde ich<br />

geknufft, weil sie wusste, dass ich es extra machte, um sie zu ärgern. Dass sie<br />

beim Tischdecken einen Teller zu viel oder zu wenig aus dem Schrank holte,<br />

kam nicht vor. Das Bistro solle irgendetwas mit 'Sourir' im Namen führen, damit<br />

die Kunden gar nicht auf die Idee kämen, mit griesgrämigen Gesichtern zu<br />

bestellen. Irgendwo solle ein Schild darauf verweisen, dass die Barista nicht<br />

antworte, weil sie nicht sprechen könne, sich aber über ein freundliches Lächeln<br />

freue. „Wenn die Leute zu ihr freundlich sind und immer Lucien oder <strong>einer</strong><br />

s<strong>einer</strong> Freunde neben ihr hinter der Theke steht, was soll da schief gehen,<br />

und anderen etwas zuzubereiten erfüllt sie mit Stolz und Freude. Zur Zeit wäre<br />

das natürlich noch eine zu große Belastung, aber bis Lucien erst mal richtig<br />

deutsch sprechen kann, und das alles organisiert sein wird, dauert es ja auch<br />

noch sehr lange, und bis dahin wird sich ja auch noch viel entwickeln lassen.“<br />

meinte ich zu Ralf. „Ja eigentlich verrückt, aber wie du es schilderst, ist es für<br />

mich auch durchaus vorstellbar.“ stimmte mir Ralf zu, „stell dir vor, das liefe,<br />

alle würden sie besuchen, um bei ihr einen Kaffee zu trinken und sie würde<br />

sich doch wahrscheinlich ohne Ende freuen, wenn sie ihnen einen zubereiten<br />

könne. Aber das darf nicht so eine hässliche Imbissbude oder etwas Stehcafé<br />

ähnliches sein. Es müsse schon Stil haben und vielleicht ein spezielles Flair<br />

ausstrahlen, damit es für sie selbst eine angenehme Atmosphäre habe, und<br />

auch attraktiv für die Gäste wirke. Als Gäste seien ja nur Leute aus der Mittelund<br />

Oberschicht zu erwarten, denn wer ginge sonst in ein Café, in dem er<br />

französisch sprechen solle.“ Ralf steckte schon mitten in der Planung. Ich<br />

freute mich über meinen tollen Mec, und musste es ausgiebig mit ihm feiern.<br />

Jetzt traute ich mich auch, es Camille zu erzählen. Die schnitt zunächst ein<br />

sehr skeptisches Gesicht, aber als sie die detaillierten weiteren Vorstellungen<br />

hörte, begann sie selbst mit eigenen Planungsvorschlägen. Man könne es doch<br />

als Literaturcafé einrichten, dann könne sie ihren eigenen Gedichtband verkaufen,<br />

und Bilder von französischen Literaten sagten ihr auch etwas. Das wollte<br />

ich natürlich genauer wissen. Camille hatte ihr ein bekanntes Bild von Flaubert<br />

gezeigt. Sie hatte es sich lange grübelnd intensiv angeschaut, und dann fragend<br />

zu Camille auf geblickt. „Flaubert ist das. Das ist Flaubert.“ habe sie gesagt,<br />

„Der hat sehr schöne Geschichten aufgeschrieben.“ Darauf hin habe sie<br />

sich das Bild nochmal intensiv angeschaut und gestreichelt. Es habe kein sonst<br />

übliches bestätigendes Lächeln gegeben, aber an etwas erinnert haben müsse<br />

sie es schon. Dann sei ihr das bekannte Bild von Balzac eingefallen, und absolut<br />

identisch habe sie darauf reagiert. Camille wollte im Internet nach weiteren<br />

Schriftstellern suchen, und mehr Fotos zusammenstellen. Man könne doch<br />

auch Lesungen mit französischen Gegenwartsautoren organisieren, und zu<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 174 von 209


Alyssia Stein würden sie doch alle kommen. Vielleicht könne man ja auch ein<br />

Regal mit französischen Büchern integrieren, keine Bibliothek mit aktuellen Büchern,<br />

sondern nur Antiquarisches zum Anschauen und vielleicht mal einen<br />

Blick rein zu werfen. Alyssia wolle zwar von Büchern im Einzelnen nichts wissen,<br />

aber in ihrer Umgebung fühle sie sich doch nach wie vor recht wohl. Vor<br />

ein paar Tagen hatte mir Lucien seinen Plan erst verraten und jetzt steckten<br />

schon alle tief in den Vorbereitungen, obwohl es noch so lange hin sein würde.<br />

Wir hielten alles in einem Bistro-Planungsbuch fest.<br />

Lucien musste viel arbeiten. Das meiste wurde zwar elektronisch übermittelt,<br />

aber manchmal musste er auch zu Präsenzveranstaltungen. Damit war immer<br />

ein Problem verbunden, das wir noch nicht hatten lösen können. Seit s<strong>einer</strong><br />

Rückkehr durfte Lucien das Haus nicht mehr verlassen. Alle Versicherungen<br />

über Wieder- und Zurückkommen waren wirkungslos, sie schien ihm in diesem<br />

Punkt auf Grund ihrer Erfahrungen nicht mehr zu vertrauen. Entweder musste<br />

Alyssia selbst mitfahren, oder Lucien wurde fest gehalten. Alles gute Zureden,<br />

auch von Lucien selbst, beantwortete sie nur mit Hin- und Herbewegungen des<br />

Kopfes, wodurch sie seit einiger Zeit ihr klares 'Nein' zum Ausdruck brachte.<br />

Was war da in ihr vorgegangen? Bei allen war es o. k., sich verabschieden,<br />

Rückkehr versprechen, alles war in Ordnung. Was empfand sie? Wenn Lucien<br />

das sagt, stimmt es nicht. Ich habe es dir geglaubt, und dann warst du so lange<br />

nicht hier, das passiert mir nicht nochmal. Sie hatte ihn doch fast jeden Tag<br />

am PC gesehen, aber das reichte ihr anscheinend auch nicht. Als Lucien sie<br />

mal von seinem PC oben aus zum Spaß in der Bibliothek anskypte, habe sie<br />

sich gar nicht gefreut, sondern ein sehr bestürztes Gesicht gemacht, so dass er<br />

schnell zu ihr runter gekommen sei. Wahrscheinlich hatte sie gedacht, wenn er<br />

skypt, ist er wieder weit weg. Solange Lucien im Haus war, war alles o. k. Alys<br />

musste nicht immer mit ihm zusammenhängen, sie lebte weiter wie vorher<br />

auch. Lucien war zwar bevorzugter Partner für Bibliotheksgespräche, als<br />

Tischnachbar, und fürs zu Bett bringen, aber sie ging genauso weiterhin zu<br />

Camille, half in der Küche, hörte Musik oder skypte. Sie wollte sich auch gern<br />

neben Lucien an den Schreibtisch setzen, wenn er lernte, aber nach mehreren<br />

Versuchen meinte Lucien: „Sie sitzt ganz brav neben mir, und stört mich auch<br />

nicht. Ich finde es schön, aber wenn ich aufschaue, sieht sie mich mit großen<br />

Augen tief an und lächelt, dann muss ich sie einfach küssen, und das scheint<br />

sie genau bewirken zu wollen. Das bringt mich jedes mal aus dem Konzept.<br />

Obwohl sie ganz brav da sitzt, bekomme ich kaum etwas geschafft.“<br />

Alyssia hatte entdeckt, was sie außer Mimik mit Blicken bewirken konnte.<br />

Manche ließen sich dadurch völlig irritieren, wenn sie von ihr fixiert wurden.<br />

Alyssias Rehabilitation<br />

Bei den Reha-Leuten, die ich alle für völlig inkompetent hielt, machte es mir<br />

manchmal richtig Spaß, wenn sie jemanden ernst leicht überheblich spöttisch<br />

anblickte, als ob sie dächte: „Sag mal, was bist du eigentlich für ein Arschloch.“.<br />

Ich beschwerte mich beim Professor darüber, dass ich mit allen nichts<br />

anfangen könne, da sie sich alle als ratlos erwiesen hätten, und nur nach ihren<br />

bekannten Schemata verfahren könnten, während sie sich auf die spezielle Si-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 175 von 209


tuation von Alyssia gar nicht einstellen wollten oder könnten. Alyssia sei eine<br />

erwachsene <strong>Frau</strong>, wie man sie denn da zu Spielen mit Kindergarten Legeplättchen<br />

auffordern könne. Es sei doch kein Wunder, dass sie den Mann anschaue,<br />

als ob sie fragen wolle: „Ist noch alles richtig bei dir im Kopf?“ als so einen Unfug<br />

mitzumachen. Der Prof. musste lächeln, und rieb sich mit den Fingerspitzen<br />

s<strong>einer</strong> rechten Hand über die in Falten gelegte Stirn. „Tja, das ist schon ein<br />

Phänomen mit ihre Tochter, sie ist ja außer in den durch die Läsion zerstörten<br />

Bereichen, außergewöhnlich fit und selbständig. Andererseits wäre es sehr<br />

schade, wenn sie nicht gerade jetzt intensiv gefördert würde. Im Heilungsprozess<br />

kann vieles neu entstehen, zwar nicht die zerstörten Areale, aber die neuen<br />

Kanäle und Bahnen bilden sich vornehmlich nach Bedarf. Sie sollten sich<br />

vielleicht an Spezialisten wenden, die direkt zu einzelnen Fragen forschen. Ich<br />

nenne ihnen mal zwei Bücher zu Hirnverletzungen, das eine beschreibt hervorragend<br />

und ist auch für Laien relativ gut verständlich, während das andere eine<br />

fast vollständige Bibliographie von Schriften deutscher Wissenschaftler enthält.<br />

Vielleicht ist darauf ja auch Mademoiselle besser zu sprechen.“ und zu Alyssia<br />

gewandt, „Mir machst du doch auch kein böses Gesicht, mein Herz, nicht<br />

wahr?“ Wofür er natürlich ein Lächeln bekam. Er habe mir das so schön an der<br />

Tafel erklärt. Ich wisse davon auch noch vieles, aber wenn ich mich selber<br />

weiter bemühen solle, wäre es sehr hilfreich, eine schriftliche Unterlage zu<br />

haben. Der Hausarzt bekäme einen Arztbrief und ich eine Kopie davon. Ich gab<br />

die Adresse von meinem Hausarzt an, den ich erst noch über sein Glück informieren<br />

musste, dass er jetzt eine neue Patientin habe.<br />

Julienne und Andy<br />

Die Tage wurden zunehmend nebliger, trüber und verregneter. Ein starker Wind<br />

schien Alyssia allerdings Spaß zu machen. Der Wald war ohne Blätter auch<br />

uninteressant geworden, und die Möglichkeiten, außerhalb des Hauses<br />

Bewegung zu bekommen, schränkten sich für Alyssia fast ausschließlich aufs<br />

Einkaufen ein. Ob Wein, Brot, Klamotten oder Käse, alles war für sie interessant.<br />

Alles andere draußen interessierte sie noch immer nicht. Jetzt, da Lucien<br />

anwesend war, konnte ich auch mal öfter in die Kanzlei fahren. Andy erklärte<br />

mir all seine Ostasien-Entwicklungen, und ich sprach ihn, wie mit Julienne<br />

vereinbart, an. Ob er sich noch an die junge Französin, die Freundin von Alyssia,<br />

erinnere, die käme im nächsten Semester zum studieren nach Hamburg.<br />

„Nein, das kann doch nicht sein.“ reagierte er ganz aufgeregt, „das hätte sie<br />

mir doch gesagt. Wir schreiben uns doch sehr häufig. Ich glaube das nicht, wie<br />

will sie denn hier studieren, sie kann doch gar kein deutsch.“ „Natürlich kann<br />

sie deutsch. Sie studiert doch deutsch. Deshalb kommt sie doch nach Hamburg.<br />

Ich werde dir doch keinen Unsinn erzählen. Es ist schon alles geregelt.<br />

Sie wird in zwei Zimmern bei uns wohnen.“ antwortete ich ihm. „Oh diese verlogene<br />

Biene,“ meinte er erstaunt, „warum erzählt sie mir denn nichts davon?<br />

Was soll das denn bedeuten, warum sagt sie nichts.“ Andy war sichtbar aufgeregt.<br />

„Magst du sie eigentlich immer noch?“ fragte ich ihn. „Ja natürlich, sehr,<br />

sehr gern sogar, aber ich wollte mich immer bremsen, weil es ja überhaupt<br />

keine Perspektive hatte. Sie mit Französisch und Englisch wird in Frankreich<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 176 von 209


leiben, und ich, was soll ich denn als deutscher Jurist in Frankreich. Sich nur<br />

im Urlaub treffen können, ist für mich keine Perspektive. Es war immer, wie ein<br />

schöner Traum, den ich noch nicht aufgeben wollte, von dem ich aber wusste,<br />

dass er einmal zu Ende sein würde.“ Und Andy bekam feuchte Augen. „Wird sie<br />

mich denn überhaupt mögen, wenn sie mir so etwas nicht erzählt.“ wollte er<br />

noch wissen. „Andy das weiß ich nicht. Das solltet ihr beide untereinander<br />

klären. Ich denke ihr solltet mal dringend miteinander sprechen.“ antwortete<br />

ich ihm. Ob ich ihm mal ihre Telefonnummer geben könne. Wenn sie sie ihm<br />

nicht selbst gegeben hätte, wisse ich nicht ob Julienne das recht sei, wenn ich<br />

sie einfach weitergeben würde. Er solle ihr doch ganz schnell schreiben, und<br />

sie darum bitten. Als letzte Möglichkeit bliebe immer noch Weihnachten, da sei<br />

sie nämlich bei uns.<br />

Das musste ich natürlich alles sofort Julienne erzählen, die nicht konnte, weil<br />

sie gerade in einem Seminar saß. Nur ein Satz vorab: „Andy liebt dich heiß und<br />

innig.“ Später konnte ich dann alles detailliert berichten und aufklären. Sie solle<br />

sich bloß nichts anmerken lassen und sich wegen ihres Schweigens etwas<br />

einfallen lassen. „Brauch ich gar nicht. Ich sag ihm einfach, wie es ist, dass ich<br />

aus seinen Briefen nicht schlau geworden bin.“ erklärte Julienne gelassen. Am<br />

Nachmittag rief Julienne dann nochmal an wegen einiger Nachfragen. „Ja er<br />

hatte ganz feuchte Augen, als er das von dem Traum erzählte, der einmal zu<br />

Ende sein würde. Bestimmt hat er viel von dir geträumt, und geheult, wenn er<br />

daran dachte, dass es nie etwas werden würde. Der ist total verknallt in dich,<br />

da gibt es keine Spur von Zweifel.“ verdeutlichte ich ihr noch mal. Tage später<br />

telefonierten sie schon miteinander, und Andy wollte Julienne sofort am Wochenende<br />

besuchen, aber das habe sie nicht gewollt, und ihm erklärt, sie habe<br />

gar keine Zeit für ihn, sie müsse schrecklich viel arbeiten. Auch Telefongespräche<br />

wurden meist von Julienne beendet mit dem Verweis, dass sie jetzt aber<br />

wieder arbeiten müsse. Julienne musste für Andy die fleißigste <strong>Frau</strong> mit der<br />

meisten Arbeit auf der Welt sein. Julienne erklärte, dass sie ihn wunderbar finde<br />

und eine intensive Beziehung mit ihm sei schon ein Traum für sie, und das<br />

wolle sie nicht durch ein nettes Wochenendgeflatter gefährden. Zu schnelles<br />

Miteinander-ins-Bett-gehen sei der Tiefe <strong>einer</strong> Beziehung eher abträglich, und<br />

endloses Telefongeschwafel fördere sie auch nicht. Wenn Andy sie liebe, sei es<br />

nicht schlecht, wenn er dafür auch etwas tun müsse. Passte das zu dem, was<br />

Alyssia mir damals von Julienne erzählt hatte? Aber ganz unbekannt war mir<br />

solch taktisches Verhalten auch nicht.<br />

Weihnachtsvorbereitung<br />

Weihnachtsmarkt wollten wir mal versuchen, aber da fehlte bei Alyssia nicht<br />

nur das Interesse, sondern sie hatte Aversionen dagegen, und wollte sofort<br />

wieder nach Hause. Ich wusste nicht, ob sie mein Empfinden teilte, dann hätte<br />

ich sie sehr gut verstehen können. Mir waren diese ganzen Hypes auch zutiefst<br />

zuwider. Ich konnte mich bei eingebildeten Glücksseligkeiten und gemeinsam<br />

gegrölten Jubelklängen nicht freuen. Sie machten mir eher Angst. Die Verführbarkeit,<br />

etwas für den betreffenden Einzelnen völlig Irrelevantes großartig oder<br />

wunderbar zu finden, weil so viele es tun, hielt ich für erschreckend und absto-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 177 von 209


ßend. Zum Mitmachen bewegen, konnte mich so etwas überhaupt nicht. Was<br />

hatten die meisten Menschen und ich mit Weihnachten zu tun, nichts, rein gar<br />

nichts. Ich hatte ja nichts dagegen, das man Traditionen aufrecht erhält, es<br />

sich gemütlich macht und sich kleine Nettigkeiten zukommen lässt, aber dieser<br />

ganze Aufgeblasene Hype, als wenn Jesus und seine sieben Geißlein in jede<br />

Wohnung persönlich einfahren würden, und das schon Wochen vorher, inklusive<br />

Geschenkerausch und -qual. Woran dachten die Menschen eigentlich, nur an<br />

Alles-mitmachen, weil viele es so machen und dann war es schrecklich<br />

spannend und aufregend. War das sonst auch die grundsätzliche Leitlinie ihrer<br />

Lebensführung? Mir stieß es übel auf.<br />

Es gab bei uns Weihnachten etwas Leckeres zu essen, wir waren alle zusammen,<br />

meistens noch mit Freunden, und es wurden gegenseitig kleine Überraschungen<br />

ausgetauscht, und gemeinsam etwas unternommen. Ich brauchte<br />

mich nicht massiv gegen den Willen anderer durchzusetzen, dass tatsächlich<br />

empfundene Freude, wichtiger sei als aufgesetzter Pomp und Glitzerschein,<br />

fand keinen Widerspruch, und auch meine Erklärung, dass ich Bäume lieber<br />

draußen wachsen sehe, als im Zimmer mit Straß behangen vertrocknen, wurde<br />

übernommen. Außer zu Weihnachten würde es niemand als schön und sinnvoll<br />

empfinden, sondern so etwas wohl für ziemlich verrückt halten.<br />

Lucille hatte ich auch mitgeteilt, dass wir alles sehr schlicht und natürlich halten<br />

würden, und sie auf keinen Fall große Geschenke mitbringen sollten. Sie<br />

war begeistert, wir würden immer wieder neue Bereiche finden, in denen wir<br />

feststellten, wie ähnlich wir empfinden würden. Lucien wollte am zweiten Weihnachtstag<br />

nach Cermont-Ferrand. Julienne hatte schon seine Wohnung in Combaillaux<br />

aufgelöst, und Luciens Sachen bei sich untergebracht. Sie wollte Weihnachten<br />

mit dem Berlingo kommen, und einen Teil davon mit nach Hamburg<br />

bringen. Juliennes C3 stand noch in Clermont, mit dem wollte Lucien dann runterfahren<br />

und weitere Gegenstände mitbringen. Alyssia, der wir versucht hatten,<br />

etwas von Weihachten und der 'fête de Noël' zu erklären, verband das natürlich<br />

sofort wieder mit Tanzen und Ballkleid. Also sollte Weihnachten auch<br />

getanzt werden. Endlich war es soweit.<br />

Fête de Noël<br />

Ledoux waren schon früh los gefahren und kamen mit Elias als erste an. Obwohl<br />

sie ja alle öfter beim Skypen gesehen hatte, schien Alyssia total überrascht,<br />

dass sie jetzt leibhaftig vor unserer Haustür stehen konnten. Zuerst<br />

rannte sie auf Elias zu, beugte sich strahlend leicht zu ihm vor und beugte ihre<br />

Arme mit geballten Fäusten rauf und runter, als ob sie einen alten Sparringpartner<br />

wiedergetroffen hätte. Nach viereinhalb Monaten eine neue Geste, die<br />

noch k<strong>einer</strong> gesehen hatte. Madame und Monsieur Ledoux bekamen ein ganz<br />

liebes Lächeln, dann wurde Lucien vorgezeigt, aber nur den Ledoux und nicht<br />

Elias, als ob sie gewusst hätte, dass die ihn noch nicht kannten. Wir standen<br />

die ganze Zeit vorm Haus. Wir sollten doch endlich mal hinein gehen. Die Begrüßungszeremonien<br />

zwischen Lucille und Camille waren ähnlich wie zwischen<br />

mir und Elias, als wenn man sich seit Jahrhunderten nicht gesehen hätte. Ich<br />

forderte alle auf, sich doch zuerst mal an den Küchentisch zu setzen. „Ich habe<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 178 von 209


Alyssia erzählt, dass ihr nach der langen Fahrt gerne einen Café au lait trinken<br />

würdet. Sie hat schon alles vorbereitet, und wird nichts lieber tun als euch<br />

einen servieren.“ erklärte ich. „Ich möchte aber lieber einen Espresso.“ meinte<br />

Elias mit schelmischem Grinsen. „So weit sind wir im Moment noch nicht, aber<br />

wenn du das nächste mal wiederkommst, wird sie dir garantiert auch deinen<br />

Espresso servieren. Unsere Mademoiselle will nämlich Barista werden.“ erklärte<br />

ich, und erläuterte, wie Lucien auf die Idee für ein Bistro gekommen war, und<br />

wie wir uns das tatsächlich vorstellen könnten. Wenn das funktionieren würde,<br />

kämen sie extra nach Hamburg, um bei Alyssia einen Kaffee zu trinken. Ob<br />

Monsieur Ledoux denn dann seine <strong>Frau</strong> auch mal kurz bei uns vorbei bringen<br />

würde, wollte ich von ihm wissen. Monsieur Ledoux reagierte mit einem Scherz<br />

und meinte, wir würden uns schon so lange und so gut kennen, ob es uns unangenehm<br />

wäre, ihn mit seinem Vornamen Henri anzureden. Selbstverständlich<br />

duzten wir uns auch mit Henri Ledoux. Er habe etwas mitgebracht, das eigentlich<br />

als Geschenk gedacht sei, aber es fiele ihm so schwer, damit zu warten,<br />

dann könne auch Alyssia mit anstoßen. Er sei wahnsinnig stolz darauf und<br />

würde es ihr gerne zeigen. „Pack es aus Henri, wir sind ja alle stolz, dass es so<br />

gut geklappt hat und neugierig sind auch alle.“ wies ihn Lucille an. Henri zeigte<br />

Alyssia eine Flasche von dreien, und erklärte: „Das ist für dich, nur für dich,<br />

extra für dich gemacht.“ Alyssia sah sich die Flasche an, strahlte Henri an, - offensichtlich<br />

hatte sie ihren Lieblingswein erkannt <strong>–</strong> aber schüttelte mit lächelndem<br />

Gesicht den Kopf. „Doch,“ meinte Henri, „dein Lieblingswein, wir haben<br />

ihn extra so gemacht, dass du ihn trinken kannst.“. Fragend schaute Alys mich<br />

an, jetzt wurde es schwierig. Wir hatten ihr nur erklärt, dass die anderen Weine<br />

nicht richtig für ihren Kopf seien, und sie nur diesen trinken dürfe. Zum<br />

Glück hatten wir eine Flasche des gleichen L'Hermitage da, der nicht désalcoolisé<br />

war. Ich zeigte ihr die Unterschiede auf dem Etikett. Der eine war für sie,<br />

der andere war verboten. Auf ihrem Wein stand das gleiche drauf. 'sans alcool',<br />

wenn es fehlte war er für sie verboten, aber wenn 'sans alcool' darauf stand,<br />

war es Wein für Alyssia, und Monsieur Ledoux habe ihn extra für sie 'sans<br />

alcool' gemacht. Sie dachte nach, schaute Henri an und strahlte ihn mit ihren<br />

besonders freundlichen, augenkneifenden Lächeln an. Sie rannte sofort zum<br />

Küchenschrank holte einen Korkenzieher und ein Glas, und ließ sich von Henri<br />

eine Probe einschenken. Während der Wein sich in ihrem Mund bewegte,<br />

schaute sie Henri fragend an, als sie ihn aber herunter geschluckt hatte,<br />

bekam Henri ein zustimmend nickendes Lächeln, als ob sie sagen wollte: „Ist<br />

in Ordnung. Hast du gut gemacht.“ „Na, Degustation knapp bestanden, Henri.“<br />

meinte Lucille, „dass ist unglaublich, wie schnell sie versteht, worum es geht,<br />

aber vor allem, wie sie Henri angeschaut hat bei der Probe, als ob sie<br />

geschmeckt hätte, das es nicht das Original wäre. Er ist ja auch nicht absolut<br />

identisch im Geschmack. Wirklich unglaublich, die Qualifikation als Sommelière<br />

hat sie schon fürs Bistro.“ Jetzt wollten wir aber von Henri wissen, wie er das<br />

gemacht habe. Ihm sei die Idee gekommen, als er von Alyssia gehört habe,<br />

dass sie nur entalkoholisierten Wein trinken dürfe. Davon müsse es doch<br />

eigentlich viele Menschen geben. Er habe sich kundig gemacht, sich eine keine<br />

Versuchsanlage ausgeliehen, und es natürlich mit Alyssias Lieblingswein<br />

probiert. Das Ergebnis sei überraschend gut ausgefallen. Er sei sich noch nicht<br />

schlüssig, ob er es machen wolle, es bedeute ja schließlich dann auch<br />

erhebliche Investitionen. „Aber wir wollten doch gemeinsam anstoßen.“<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 179 von 209


erinnerte Henri. Alyssia und Lucien holten für alle Gläser und so wurde am<br />

frühen Nachmittag schon zugeprostet, Gründe dazu gab's ja schließlich genug.<br />

Es klingelte. Alyssia war dann immer als erste an der Tür. Julienne stand vor<br />

der Tür. Alys stand wiegend und strahlend vor ihr. „Lass Julienne doch mal erst<br />

reinkommen, sie wird ja ganz kalt draußen.“ meinte ich. Sie wollte Julienne<br />

sofort in die Küche lotsen, aber ich musste mich doch mit m<strong>einer</strong> Liebsten erst<br />

mal umarmen. „Wie steht's“ wollte ich sofort schon bei der Begrüßung wissen.<br />

Breite Lippen und hochgezogene Augenbrauen unterstrichen ein: „Nicht<br />

schlecht. Erzähl ich dir alles gleich.“ Dann ging's erst mal zur Vorstellung in die<br />

Küche.<br />

Als Julienne am Küchentisch stand, fiel mir auf, dass sie auf mich einen anderen<br />

Eindruck machte, als das Bild, das sich mir von Julienne eingeprägt hatte.<br />

Natürlich trug sie andere Sachen, einen anderen Stil, sehr schön, aber das<br />

meinte ich nicht, mit dem anderen Eindruck. Es kam mir vor, als ob sie sich<br />

anders bewegte, ihr Körper einen anderen Eindruck vermittelte. Ja, das Bild,<br />

dass ich von ihr hatte, war eher das patzige große Mädchen, dass sich explosiv<br />

oder tranig bewegen könnte, und das wollte mit dem, was ich jetzt sah in k<strong>einer</strong><br />

Weise übereinstimmen. Jetzt viel mir eher eine feste sichere Körperhaltung<br />

auf mit einem Anflug von Grazie. Auch die Art und Weise ihrer Bewegungen<br />

wirkte mehr getragen und in sich gefestigt. Zu dieser Julienne würden rudernde<br />

Armbewegungen oder schlaff herunter hängende Schultern nicht mehr passen.<br />

Ihre Erscheinung sprach eine andere Sprache. Der Eindruck des großen<br />

Mädchens war passé, hier stand eine reife, selbstsichere junge <strong>Frau</strong>. Wunderschön!<br />

Wie hatte sich das so schnell ändern können. Offensichtlich vermittelte<br />

ihre veränderte Körpersprache ein Bild ihrer inneren Haltung, ihrer Selbstsicherheit,<br />

ihres neuen Selbstbewusstseins und ihres gesteigerten Selbstwertgefühls.<br />

Als wir im Wohnraum saßen, hätten wir ohne Probleme bis in die Nacht Neuigkeiten<br />

oder interessante Ereignisse austauschen können. Nicht nur Ledoux<br />

wollten unbedingt eine Kostprobe der Deutschkenntnisse von Julienne und Lucien<br />

hören. Sie wetteiferten miteinander, aber machten es sehr lustig. Lucien<br />

sagte zum Beispiel zu Julienne: „Ich werde einen großen Teil der Mehrheit der<br />

Aktien ihres Unternehmens erwerben, verehrte <strong>Frau</strong> Carriere.“ Julienne darauf:<br />

„Der Herr ist ein großer Geschäftsmann. Ich hingegen bin vielmehr eine Geschäftsfrau,<br />

die sich um die Geschäfte der Familie kümmert. Die Erziehung der<br />

Kinder, das Essen kochen, den Abwasch, und ich werde ihren Schwiegervater<br />

ermorden, mein lieber Herr Renouard.“ Trotz lustiger Redepassagen, die sie<br />

wohl besonders beeindruckt hatten, war ihr Wortschatz für die kurze Zeit<br />

enorm, und ihre Grammatik fast immer fehlerfrei. „Wir könnten uns ja gern auf<br />

deutsch unterhalten, aber dann verstehen Alyssia, Lucille und Henri ja nichts.“<br />

meinte ich. Für Lucien und Julienne war das auch eher ein Scherz, unterhalten<br />

würden sie sich schon lieber auf Französisch.<br />

Bevor die drei Nornen sich sich zur Essensvorbereitung am Küchenborn versammelten,<br />

brannte ich aber doch darauf, von Julienne neues von Andy zu hören.<br />

Wir gingen ins Bad und Julienne erklärte, das Andy ganz verrückt nach ihr<br />

sei. „Er wollte unbedingt wissen, wann ich hier ankäme und sich sofort mit mir<br />

treffen. Jetzt haben wir uns für morgen früh verabredet, da ja mit schönem<br />

Wetter zu rechnen ist. Ich habe ihm das auch mal gesagt, dass ich seine lieben<br />

Worte zwar sehr mag, mir aber nicht daran gelegen sei, madonnengleich ver-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 180 von 209


ehrt zu werden. Ein vertrauensvoller Freund, mit dem ich auf der gleichen Wellenlänge<br />

läge, und mit dem ich Lust habe, mich auf gleicher Ebene unterhalten<br />

zu können, das sei mir wichtig. <strong>Ruth</strong>, er macht sich über jedes Wort, das ich<br />

sage Gedanken. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie er das einmal alles vergessen<br />

haben könnte. Ich bin mit Sicherheit die erste <strong>Frau</strong>, bei der das für ihn<br />

so ist. Aber bei mir ist es ja auch so. Ich bin richtig verliebt, und <strong>Ruth</strong>, das<br />

macht mich gar nicht aufgeregt und nervös, ich komme mir so cool und stark<br />

vor, wie nie zuvor. Ich fühl mich einfach absolut super, mir geht’s total gut.“<br />

berichtete sie, strahlte und fiel mir um den Hals.<br />

In der Küche standen wir drei <strong>Frau</strong>en uns gegenüber, schauten uns an und ich<br />

sagte: „Im Herbst wollten wir uns in Tain-l'Heremitage treffen. Es ist viel, sehr<br />

viel geschehen seit dem, aber verändert hat sich nichts.“ Die fragend zweifelnden<br />

Gesichter wandelten sich über ein Lächeln zu freudigem Strahlen. Wir umarmten<br />

und drückten uns. „Außer dass wir jetzt natürlich eine hilfsbereite Assistentin<br />

haben,“ ergänzte ich lächelnd und zog Alyssia näher, die unser Wiedersehen<br />

hinter mir stehend beobachtet hatte. Wenn in der Küche etwas geschah,<br />

war Alyssia immer anwesend. Diese Region, die zusammenhing mit leckeren<br />

Speisen, Wein, Käse und Kaffee, aber auch mit ständig neuen Erfahrungen<br />

beim Kochen und der Utensilienanwendung, war für sie ein herausgehoben<br />

wichtiger Lebensbereich. Darüber hinaus wurde ja nicht nur das Essen zubereitet,<br />

man traf sich ja auch fast immer hier zum gemeinsamen Essen mit großer<br />

Kommunikation. Aber auch das gemütliche intime Treffen mit der Mamon bei<br />

<strong>einer</strong> Schale Café au lait fand hier statt. Mit uns drei <strong>Frau</strong>en schien sie es besonders<br />

toll zu finden. Wie viel sie verstand, konnte man nicht wissen. Meistens<br />

war es mehr als man annahm, aber vielleicht war es auch primär die Atmosphäre<br />

der ständig lachenden drei albernen <strong>Frau</strong>en, die glücklich waren, so<br />

wieder zusammen zu sein.<br />

Während sich die Männer über Vakuumrektifikation, das Verfahren zum Alkoholentzug,<br />

dass Henri Ledoux angewandt hatte, unterhielten, saßen Lucien und<br />

Julienne bei leiser Hintergrundmusik in der Bibliothek. Elias hatte zunächst mal<br />

sein Zimmer inspiziert und kam dann zu uns in die Küche. Camille war sehr interessiert<br />

von ihm zu hören. Ich hatte ihr zwar einiges erzählt, aber sie selbst<br />

hatte schon lange nicht mit ihm gesprochen. Er redete mit ihr, als ob er nie<br />

eine andere Sprache als Französisch gesprochen habe. Ob er denn jetzt auch<br />

später in Frankreich leben wolle, fragte Camille ihn. Er wiegte fragend den<br />

Kopf, wenn er bei Ledoux lebe auf jeden Fall, aber sonst sei er sich da nicht so<br />

ganz sicher. Dafür gab's von Lucille einen lächelnden Kuss. Er fände vieles zwar<br />

sehr toll, aber ob alles besser sei als hier, da sei er sich nicht so ganz sicher.<br />

Jedenfalls erlebe er sehr viel und sei auf viele Ideen gekommen, woran er hier<br />

nie gedacht habe. „Völlig richtig, absolut einverstanden, Elias.“ bestätigte ihn<br />

Lucille, „es ist wichtig, dass man weiß, wo man die besten Freunde hat, und<br />

das hat mit Frankreich oder Deutschland überhaupt nichts zu tun. Meine<br />

besten Freundinnen sind ja auch nicht in Tain-l'Heremitage, weil ich Französin<br />

bin, sondern sind diese beiden Hexen hier, die in Hamburg wohnen.“ Das<br />

bereitete Elias sichtlich Spaß und Alys freute sich auch. Es schien ihr überhaupt<br />

gut zu gefallen, dass Elias auch in der Küche war. Sie hatte ihn vom gemeinsamen<br />

Gespräch weg überall hin gelotst, und ihm alles gezeigt. Wie sie<br />

skypte und Musik hörte bis zur Wäsche in ihrem Zimmer, wozu natürlich auch<br />

die Nachthemden gehörten. Als Elias sich vor Erstaunen ohnmächtig aufs Bett<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 181 von 209


habe fallen lassen, hätte sie sich vor Vergnügen gar nicht wieder ein gekriegt.<br />

So übertriebene Gesten und Spiele liebte sie sehr. Bei mir in der Küche machte<br />

sie manchmal etwas absichtlich falsch, lächelte leicht und schaute mich mit<br />

großen fragenden Augen an. Wenn ich mich dann voller Empörung äußerte:<br />

„Na warte. Was hast du gemacht?“ war sie auch immer vor Vergnügen außer<br />

sich.<br />

An Heilig Abend wurde im großen Esszimmer gegessen. Alys wäre wahrscheinlich<br />

der Küchentisch lieber gewesen, aber dafür war er dann doch zu klein. Ich<br />

forderte Alys nur auf, ihren Wein hin zubringen, und sie nahm den l'Hermitage.<br />

Jetzt war kein Zweifel mehr möglich, dass sie es verstanden hatte. Wenn wir<br />

zusammen saßen, schien die Zeit immer zu verfliegen bei der Vielzahl interessanter<br />

und lustiger Ereignisse, die man sich zu erzählen hatte. Dass Julienne<br />

sich morgen mit ihrem Freund hier treffen würde, war natürlich eine 'message<br />

spécial' und bedurfte der ausführlichen Erläuterung. Ich wurde als Kupplerin<br />

vermutet, konnte aber einleuchtend erklären, warum ich Andy damals eingeladen<br />

hatte. Wir wollten ja noch tanzen und jetzt war es schon nach 9 Uhr. Dass<br />

Alys zur gewohnten Zeit zu Bett ging, war auch Weihnachten wichtig, und ihretwegen<br />

machten wir es ja. Stolz stand sie in ihrem Ballkleid da. Camille und<br />

ich zogen uns auch entsprechend um, weil es sonst doch sehr sonderbar für<br />

Alys wirken musste. Julienne fragte, warum ich denn nichts gesagt habe, sie<br />

hätte so ein ähnliches Kleid wie damals hier das geliehene in Montpellier gesehen,<br />

und gekauft. Demnächst würde sie es vorsichtshalber immer mitbringen.<br />

Hier müsse man ja immer mit großen Bällen rechnen. Henri lachte sich halb tot<br />

über unsere Weihnachtstänze. Er könne Lucille allmählich immer besser verstehen,<br />

dass sie so gern hier sei. Er empfinde es mittlerweile bei uns auch<br />

nicht nur angenehm, sondern ausgesprochen interessant und lustig. Für Alyssia<br />

war es nicht lustig und kurios, sondern himmlisch schön, im Abendkleid eng<br />

an Lucien geschmiegt zu tanzen und sich zu küssen. Natürlich brachte er sie zu<br />

Bett und las ihr aus ihren Gedichten vor, wobei sie glücklich neben ihm lag,<br />

und einen Arm um seine Schultern legte. Ein ereignisreicher freudiger Tag fand<br />

sein beschaulich zufriedenes Ende.<br />

Im Bett an Ralf gekuschelt meinte ich, dass ich mich total selig fühle, obwohl<br />

ich denke, dass es doch eigentlich gar nicht möglich sein könne. „Ich mache so<br />

gut wie nichts mehr in der Kanzlei, und es stört mich überhaupt nicht. Früher<br />

hätte mich das nervös und unzufrieden gemacht. Das ist doch mein Leben, na,<br />

zumindest ein wichtiger Teil davon. Wo ist das geblieben? Brauche ich das auf<br />

einmal nicht mehr? Was ist mit mir geschehen? Bin ich jetzt zufrieden als<br />

Hausfrau und Mutter?“ „Ich sehe das nicht so, dass du nur Hausfrau und Mutter<br />

bist.“ erwiderte Ralf, „Mir kommt es eher so vor, dass du einen neuen Aufgabenbereich<br />

gefunden hast, der nicht nur viel komplexer ist als die Kanzlei,<br />

sondern bei dem es auch um viel Wesentlicheres, Wertvolleres geht. Was bedeutet<br />

es schon, ein Verfahren zu gewinnen, wenn du dafür sorgen kannst,<br />

dass deine geliebte Julienne selbstsicher und glücklich wird. Du brauchst die<br />

relativ unbedeutende Kanzleibestätigung nicht mehr für dein Ego, weil du<br />

spürst, das du etwas viel Bedeutenderes machst, auch wenn es dir rational gar<br />

nicht bewusst wird. Im Übrigen bist du ja wohl nicht nur Hausfrau und Mutter,<br />

du managst hier derart viel, dass andere dazu einen ganzen Planungsstab<br />

brauchen würden und alles mit Freude verbreitendem Enthusiasmus. Du bist<br />

durch das Ereignis mit Alyssia eine neue, andere <strong>Frau</strong> geworden.“ „Und die<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 182 von 209


magst du nicht mehr?“ fragte ich spöttisch. „Doch ich bewundere dich mehr als<br />

je zuvor, und habe aller größte Achtung vor dir.“ antwortete Ralf. „Mein aller,<br />

aller Liebster, willst du mich verlegen machen?“ meinte ich ihn mit Küssen bedeckend,<br />

„Du sollst mich lieben. Bewundern? na, vielleicht ein ganz kleines<br />

bisschen doch.“ Es stimmte mich immer wieder ausgelassen freudig an s<strong>einer</strong><br />

Seite. Ich musste an Lucien denken. Ich glaube, ohne grundsätzlich meinen<br />

Ralf zu haben, ginge es mir auch schlechter als nur übel.<br />

Weihnachten<br />

Alyssia schien es zu bemerken, dass Julienne am Frühstückstisch fehlte. Sie<br />

schaute mich fragend an, schaute Lucien fragend an, was sollte sonst fehlen.<br />

Mir kam die Idee ihre Skype-Fotos zu holen, und genau, sie suchte Julienne<br />

aus. Als ich ihr erklärte, dass Julienne nicht weg sei, sondern sich nur mit Andy<br />

treffe, und der Juliennes Liebster sei, genau wie sie und Lucien, und sie sich<br />

auch küssen würden. Dann komme Julienne wieder zurück. Schaute Alys mich<br />

zunächst lächelnd fragend an, und strahlte dann voll. Verstanden, natürlich. Als<br />

Julienne später zurückkam, holte sie sofort das Skype-Foto von Andy und hielt<br />

es ihr hin. Nach m<strong>einer</strong> Empfehlung gab Julienne Andys Foto einen Kuss und<br />

Alys war total happy.<br />

Weihnachtsspaziergang<br />

Die Mahlzeiten und ihre Vorbereitung nahmen den größten Teil des Tages ein.<br />

Aber an diesem klaren, sonnig kalten, wunderschönen Wintertag wollten wir<br />

zumindest ein wenig spazieren gehen und in Begleitung von acht Freunden<br />

würde Alyssia sowieso nicht da zu kommen, die uninteressante Umgebung<br />

wahrzunehmen. Während Lucien und Alys Spaß daran hatten, sich gegenseitig<br />

zu necken, meinte Lucille, das sei das das Gegenteil von dem häufigen Wetter<br />

hier. Das Schlimme sei das Graue, Regen verhangene. „Wenn der Himmel blau<br />

ist und die Sonne strahlt, kann es ruhig kalt sein. Es ist trotzdem schön. So ist<br />

das auch, wenn Alyssia dich anlacht, da kannst du gar keine trüben Gedanken<br />

haben, da fühlst du dich auch von selbst glücklich.“ Obwohl der Vergleich ein<br />

wenig hergeholt erschien, so ganz unrecht hatte Lucille nicht. In der Anwesenheit<br />

von Alys waren alle immer freundlich und nett, außer bei den Reha--<br />

Menschen, denen sie aber auch kein freundliches Lächeln geschenkt hatte. Ob<br />

und wann sie denn wieder verreisen könne, fragte Henri. „Wenn alles glatt<br />

läuft, nach einem halben Jahr, also Februar-März“ meinte ich. Das sei doch gar<br />

nicht lange hin, ob wir denn nicht im Frühling zu ihnen kommen wollten, dann<br />

sei Elias doch auch noch da, und für ihn sei bis dahin auch klar, ob er das Vakuumrektifikations-Verfahren<br />

anwende. Vielleicht könnten wir ja dann ganz<br />

viele Flaschen für Alyssia mitnehmen. „Henri wir haben uns überhaupt noch<br />

keine Gedanken über's Reisen gemacht, obwohl es ja wirklich schon bald sein<br />

wird, dass sie es kann. Wir wollten nur auf jeden Fall zu ihrem Haus in Combaillaux,<br />

zur Klinik und eventuell zur Uni in Montpellier. Vielleicht könnten wir<br />

das ja miteinander verbinden. Und mitten im Sommer, wenn's total heiß ist,<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 183 von 209


wollten wir auf keinen Fall reisen.“ erklärte ich.<br />

Lucien verschwunden<br />

Am Abend brachte Lucien Alyssia wieder zu Bett. Dass sie es verstand, was er<br />

ihr von der Reise zu seinen Eltern am nächsten Morgen erzählte, stand außer<br />

Frage. Sie hatte es sich angehört und keine besonderen Reaktionen gezeigt.<br />

Am folgenden Morgen war sie aber doch völlig aufgelöst, als sie Lucien nirgendwo<br />

fand. Hatte sie sich gestern Abend im Stillen gedacht: „Ich werde es<br />

schon zu verhindern wissen.“ Wir hatten einen größeren Wochenkalender für<br />

jeweils drei Wochen, eine Monatsübersicht und einen Jahresplan in der Bibliothek<br />

aufgehängt. Alyssia stand oft davor und schaute sich die Kalender detailliert<br />

an, obwohl sie ja nichts lesen konnte. Bilder und Symbole wurden nur auf<br />

dem Wochenplan befestigt, den sie ganz genau verstand. Ob sie ihr Zeitverständnis<br />

oder Reste davon behalten hatte, oder auch sich selbst alles wieder<br />

neu angeeignet hatte, wussten wir nicht, und es würde auch jetzt nicht mehr<br />

zu klären sein. Sie konnte ja schon an den ersten Tagen in der Klinik zwischen<br />

sofort, gleich und morgen unterscheiden. Der abwartende Blick zur Tür, ob ich<br />

auch tatsächlich wieder komme, war nur einmal erforderlich gewesen. Jetzt<br />

schien sie die unterschiedlichen Monate internalisieren zu wollen. Sie liebte es,<br />

wenn ich ihr etwas dazu erzählte, und zeigte auf Monate, von denen sie etwas<br />

hören wollte. Nachdem ich ihr erklärt hatte, wann ihr Lucien wieder komme,<br />

und sein Bild dort befestigt hatte, war alles in Ordnung. Lucien hatte nach der<br />

Ankunft bei s<strong>einer</strong> Mutter sofort Skype installiert, und nach einem lächelnd gestrengen<br />

Blick, den sie immer zeigte, wenn Lucien sie neckte oder ärgerte,<br />

hörte sie ihm strahlend zu. Als Lucien noch seine Mutter holte, die Alyssia natürlich<br />

freudestrahlend erkannt, und der sie angeregt zuhörte, bekam Madame<br />

Renouard vor Rührung feuchte Augen. Als er zurück kam, berichtete er, seine<br />

Mutter habe ihn nicht nur gut verstanden, sondern er sei von ihr noch nie mit<br />

soviel Lob und Anerkennung überschüttet worden wie jetzt. Nicht nur speziell<br />

wegen Alyssia, sondern für sein ganzes Leben. Sie habe sich oft unnötig<br />

Sorgen um ihn und seine Entscheidungen gemacht, aber sie wisse, dass sie<br />

ihm selbst mehr vertrauen könne, als ihren eigenen Vorstellungen. Wenn sein<br />

Vater, der das wohl alles nicht verstehen könne, Ansätze von Bedenken habe<br />

äußern wollen, sei sie ihm immer sofort über den Mund gefahren. Seine Mutter<br />

habe ihn nur gefragt, ob er auch nicht vergessen würde, dass sein Kopf zu<br />

mehr in der Lage sei, als ein Bistro zu führen. Dass sei ihr sehr wichtig.<br />

Andy besucht Julienne<br />

Am Nachmittag kam Andy zu uns. Alys ließ die beiden nicht aus den Augen.<br />

„Ich könnte mir vorstellen, dass sie sehen möchte, wie ihr beide euch küsst.<br />

Dass hatte sie ja auch bei der Erklärung schon sehr beeindruckt.“ meinte ich<br />

ihr Verhalten deutend. Exakt so war es. Ihre Begeisterung mit bewegenden<br />

Schultern und gespreizt drehenden Händen wahr maßlos. Als sie lachend aufhörten,<br />

sich zu küssen, schaute Alys sie abwechselnd mit großen Augen an. Sie<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 184 von 209


wollte es bestimmt nochmal sehen. Wir hatten für 'nochmal' gar keine einheitliche<br />

Geste vereinbart. „Warum freut sie das so?“ fragte Julienne erstaunt. Ich<br />

versuchte zu erklären, dass alles was mit Liebe, Küssen, Streicheln zu tun<br />

habe, einen hohen freudig belegten Stellenwert für sie besitze, und wenn sich<br />

das mit ihrer besten Freundin und Andy, den sie ja auch sehr gern möge, ereigne,<br />

schon eine famose glückliche Überraschung für sie sei. Die beiden lachten,<br />

und küssten sich nochmal, ohne mit der Absicht, es Alyssia demonstrieren<br />

zu wollen.<br />

Andy hatte die Fotos von gestern mitgebracht. „Kann er nicht wunderschön fotografieren,<br />

wie ein Profi?“ erwarte Julienne Bestätigung. „Du bist wunderschön,<br />

ma belle de l'hiver.“ erwiderte ich, und Andy nickte lächelnd Zustimmung.<br />

„Ich habe überhaupt keine Ahnung davon, aber so schöne Fotos möchte<br />

ich auch machen können. Andy wird es mir im Sommer, wenn ich hier studiere,<br />

beibringen. Ich habe ja nur ein <strong>–</strong> na ja geht so <strong>–</strong> Foto von ihm, dabei ist er<br />

doch ein so schnuckeliger Typ, nicht wahr <strong>Ruth</strong>?“ fragte sie und brachte dadurch<br />

alle zum Lächeln. „Aber das können wir doch machen. Andy stellt alles<br />

ein, und auf den Auslöser drücken werde ich ja noch wohl können.“ meinte ich.<br />

Also gab's nach Andys Beratung eine Fotosession im Park. Alle sollten und<br />

wollten in allen denkbaren Konstellationen fotografiert werden, bis wir zu erfroren<br />

waren, um noch weitere Vorstellungen entwickeln zu können. Während wir<br />

alles vorbereiten, um uns innerlich aufwärmen zu können, überspielte Andy die<br />

Fotos auf Alyssias PC in der Bibliothek. Beim Anschauen später wurde er nach<br />

den ersten Fotos von Alyssia verdrängt, die selbst die Bildregie übernehmen<br />

wollte. Wirklich très bien. Ich wollte von Andy mehr dazu wissen. Er meinte, es<br />

liege <strong>einer</strong>seits an der Kamera, da man hier alle Einstellungen selber vornehmen<br />

könne, aber andererseits brauche man dazu natürlich auch einiges an Erfahrung,<br />

wenn man das erreichen wolle, was man sich vorstelle. „Möchtest du<br />

denn wirklich gern fotografieren lernen?“ fragte ich Julienne. „Ja, ich finde Andys<br />

Bilder absolut toll. Das sind Gemälde und nicht nur einfache Abbildungen.<br />

Du musst dir mal seine Sammlung im Netz ansehen, da könntest du dir jedes<br />

Bild an die Wand hängen. Der hat, glaube ich, den völlig falschen Beruf gewählt.“<br />

antwortete Julienne. „Wenn man dazu so viel Erfahrung braucht,<br />

warum willst du dann erst im Sommer anfangen, und übst nicht schon jetzt.<br />

Andy kann dich ja im Netz kritisieren und dir Tipps geben.“ erkundigte ich<br />

mich. Sie habe doch gar keine Kamera nur so einen kleinen Knipser. „Die wirst<br />

du doch im Sommer auch benötigen, warum dann nicht jetzt gleich. Besorgen<br />

wir doch unter Andys fachkundiger Beratung etwas für dich.“ meinte ich. Dass<br />

Julienne keine teure Kamera bezahlen konnte, war klar, sie sagte es aber nicht,<br />

weil sie wusste, dass ich dann die Kosten trüge. In den nächsten Tagen im<br />

Geschäft, war klar, dass Andy sie bezahlte. Julienne hatte ihm wohl ihr Problem<br />

erläutert. Andy schwärmte von <strong>einer</strong> Kamera, aber als Anfänger brauche man<br />

so etwas nicht. „Andy an welche Preislage hattest du denn gedacht?“ fragte ich<br />

ihn. „Ja also, maximal 1.000 €. Dafür bekommt man schon etwas ganz<br />

Ausgezeichnetes.“ war seine Reaktion. „Weißt du was Andy, 500 € bezahlst du,<br />

und dann suchst du für Julienne die schönste Kamera aus, die du am liebsten<br />

für dich haben würdest.“ erklärte ich ihm. Er hatte wahrscheinlich nicht so viele<br />

Skrupel wie Julienne, da er sicherlich auch einiges von den finanziellen<br />

Dimensionen der Kanzlei mitbekommen hatte, aber dass jemand einfach so<br />

sagt: „Such dir etwas aus, ich bezahle es.“ schien ihn doch wohl zu erstaunen.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 185 von 209


Andy wusste sofort, zu welcher Kamera er greifen musste, und überschüttete<br />

Julienne mit begeisternden Erklärungen über ihre Vorzüge und Möglichkeiten,<br />

die sie lächelnd aufnahm, aber nur zum geringen Teil verstand, <strong>einer</strong>seits weil<br />

ihr die Sachkenntnis fehlte, und andererseits Andy die französischen<br />

Bezeichnungen fehlten. Julienne war ganz sprachlos auf einmal Besitzerin <strong>einer</strong><br />

solchen Kamera zu sein. Zu Hause wurde den ganzen Nachmittag alles erklärt,<br />

erkundet und ausprobiert. Alyssia saß immer gespannt daneben, und schien<br />

auf die Fotos zu warten. Julienne gab ihr dann auch einmal die Kamera, und<br />

zeigte ihr wo sie abdrücken musste. Ihr erstes Foto: 'Julienne und Andy<br />

gemeinsam auf der Couch'. Nach dem Abendessen wurden auch diese ersten<br />

Fotos mit Julienns neuer Kamera angeschaut, hier war ja einiges auch<br />

absichtlich falsch gemacht, aber als das Bild mit den beiden auf der Couch<br />

kam, war Alys so begeistert, dass sie sich erst nach gutem Zureden bewegen<br />

ließ, das nächste anzuschauen. Wir würden es abziehen und in der Bibliothek<br />

aufhängen. Alyssia hatte ja selbst eine gar nicht mal schlecht Kamera. Uns war<br />

wieder eine gute Idee nur durch Zufall in den Sinn gekommen.<br />

Abends wollte Julienne mir noch ihre Skrupel verdeutlichen, aber ich wehrte<br />

ab, und erklärte ihr, dass ich traurig wäre, wenn sie mein kleines Cadeau de<br />

Noël nicht einfach akzeptieren würde. Nach <strong>einer</strong> Umarmung unterhielten wir<br />

uns noch lange. Ihre Erklärungen darüber, was sie mir alles zu verdanken<br />

habe, wollte ich nicht hören. Sie sei in kürzester Zeit ein ganz anderer Mensch<br />

geworden, sagte sie. Von der Julienne vor Alyssias Unfall sei kaum noch etwas<br />

geblieben, Gedanken an ihr früheres Verhalten seien ihr heute oft regelrecht<br />

peinlich. Und die Ängstliche, Unsichere und Verzweifelte aus der Unfallzeit,<br />

gebe es auch nicht mehr. Sie habe zwar aus Angst, eventuell durchdrehen zu<br />

können wie Lucien, mit der Entscheidung für Deutsch begonnen, und sei auch<br />

heute noch sehr froh, dass sie es getan habe, aber sie habe jetzt keinesfalls<br />

mehr Angst davor, nicht ständig in Alyssias Nähe sein zu können. „Ich habe sie<br />

sehr gern und freue mich auch, bei ihr sein zu können, daran hat sich nichts<br />

geändert, aber alles andere ist auch wieder da, unabhängig von Alys. Es hat<br />

sich nur alles sehr verändert. Möglicherweise hat das Ereignis dazu geführt,<br />

aber ohne unsere Gespräche, deine Unterstützung und unsere Freundschaft<br />

wäre es nie dazu gekommen, dass ich mich heute so sicher, zufrieden und<br />

glücklich empfinde. Mit Alys war es auch sehr schön, ich habe mich toll gefühlt,<br />

und will das auch gar nicht mindern, aber heute komme ich mir in gewisser<br />

weise erwachsener und reifer vor. Das gibt mir ein erhebendes starkes Empfinden,<br />

das ich sogar manchmal mit ein wenig Stolz betrachte.“ sagte Julienne. Ja<br />

das entsprach genau der schönen, starken, selbstsicheren jungen <strong>Frau</strong>, die ich<br />

in der Küche am Tisch hatte stehen sehen. Diese kluge, selbstsichere junge<br />

<strong>Frau</strong> mit den sensiblen Gesichtszügen sprach Empfindungen in mir an, die ich<br />

nicht kannte. Ich fing an zu träumen, wenn ich sie ansah und ihr zuhörte. „Was<br />

ist los, <strong>Ruth</strong>?“ fragte Julienne als ich nicht sofort reagierte. „Julienne, du weißt,<br />

dass ich dich sehr gern mag. Nicht nur Andy, mir würde es auch gefallen, wenn<br />

du nicht immer so schrecklich weit weg wärst. Warum willst du nur ein halbes<br />

Jahr in Hamburg bleiben?“ fragte ich sie. Julienne lächelte, und meinte scherzend:<br />

„Weil ich im Winter hier erfrieren werde. Nein, ich weiß es nicht. Ich<br />

habe mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht. Das Stipendium ist eindeutig<br />

auf ein Semester begrenzt. Ob ich danach einfach hier studieren könnte,<br />

weiß ich noch nicht einmal, und ob ich es dann will, weiß ich auch nicht.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 186 von 209


Natürlich wäre ich gern in d<strong>einer</strong> Nähe, aber wie es sich mit Andy entwickeln<br />

wird, kann man ja auch nicht absolut vorhersagen. Vielleicht komme ich ja<br />

auch mit den Studienbedingungen hier überhaupt nicht klar. Ich weiß noch<br />

nichts, <strong>Ruth</strong>.“ Von den Fotos die Andy von ihr am Weihnachtsmorgen an der<br />

Binnenalster gemacht hatte, würde ich auch gern welche haben, zumindest das<br />

mit dem Fairmont Hotel im Hintergrund. Julienne wusste nicht genau, welches<br />

ich meinte, aber Andy hatte ihr auch einen Stick mit den Fotos gegeben, wir<br />

könnten sie ja eben überspielen. In der Bibliothek erzählte ich ihr dann, was es<br />

für mich mit dem Fairmont auf sich hatte, und empfahl ihr, jetzt schon mal mit<br />

dem Sparen für ihre Hochzeitsnacht mit Andy zu beginnen. Wir plauderten und<br />

alberten noch weiter, und ich verspürte Lust bei der Vorstellung, dass Julienne<br />

und Andy auch wie Camille und Christoph bei uns wohnen würden. Von der<br />

Quadratmeterzahl her, wäre das überhaupt kein Problem, aber mit der Raumaufteilung,<br />

wie sollte das funktionieren. Ich würde mir doch mal Gedanken darüber<br />

machen, aber das hatte ja noch Zeit. Am Neujahrsmorgen fuhr Julienne<br />

zurück. Andy, der bei uns auf <strong>einer</strong> Couch übernachtet hatte, bekam beim Abschied<br />

feuchte Augen. „Oh Andy, wie verliebt musst du sein, wenn du es nicht<br />

verkraften kannst, deine Julienne einen Monat zu entbehren.“ Er lächelte und<br />

erklärte mir dann in der Küche, was für eine tolle <strong>Frau</strong> Julienne sei. „Zu alledem<br />

empfinde ich sie noch als überaus schön. Wenn ich abends im Bett liege,<br />

mich ihre Augen anschauen, und ihre Lippen meinen Mund berühren, fühle ich<br />

mich himmlisch. <strong>Ruth</strong>, ich bin zum ersten mal in meinem Leben richtig verliebt.<br />

Auch wenn das vielleicht ein wenig wie ein Rausch ist, aber dass es jemals völlig<br />

anders sein könnte, ist für mich absolut undenkbar. Wenn sie mich fragte,<br />

ob ich sie heiraten würde, ich machte es auf der Stelle.“ Ob das nicht ein wenig<br />

hastig sei, gab ich zu bedenken. Dass Julienne ihn auch sehr möge, habe sie<br />

mir gesagt, aber sie komme ja schließlich nach Hamburg, um hier zu studieren,<br />

und nicht primär, um Andy zu lieben, und dass ihr die Arbeit an der Hochschule<br />

sehr viel bedeute, und die ungewohnten Bedingungen hier eine zusätzliche<br />

Belastung darstellen würden, könne er doch sicher gut nachvollziehen. Ich<br />

meinte, wenn er sie wirklich liebte, würde er das berücksichtigen und sie darin<br />

unterstützen, und sie nicht eventuell damit bedrängen, seine Bedürfnisse<br />

stärker zu berücksichtigen. Verstanden! Julienne würde also auch hier eine<br />

fleißige Arbeitsbiene sein, die nicht unbegrenzt ihre Zeit mit ihm verbringen<br />

würde.<br />

Ledoux und Elias fuhren am Tag nach Neujahr zurück. Ich versprach sofort mit<br />

der Reiseplanung zu beginnen, und Henri wollte uns über den Stand der Entalkoholisierung<br />

auf dem Laufenden halten. Lucille empfand die Weihnachtstage<br />

bei uns als die schönsten, die sie erlebt habe. Sie fühle sich immer so frei,<br />

wenn sie hier sei. Vielleicht sei das die Grundlage für alles weitere Angenehme.<br />

Ob Camille denn nicht auch nach Tain-l'Heremitage kommen könne, wenn wir<br />

bei ihnen seien. Sie könne nur in den Ferien, also zu Ostern meinte Camille.<br />

Wir mussten überlegen, ob sich das alles sinnvoll koordinieren ließ.<br />

Neues Lernen<br />

Christoph half mir beim Verständnis des Arztbriefes, der Bücher und der Biblio-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 187 von 209


graphie. Er und Ralf wechselten sich ab bei Anrufen und Nachfragen. Häufig<br />

gab es Hinweise auf weiterführende Literatur oder eine Aufforderung zur Vorstellung.<br />

Bis Bremen, Hannover und allenfalls noch Münster konnten wir mit<br />

Alyssia auch reisen. Am günstigsten war immer ICE mit Speisewagen, dann<br />

verging die Zeit schnell und die Bewegungsfreiheit war groß. Wir entwickelten<br />

uns alle zu Semi-Neurologen und halben Sonderpädagogen, aber der praktische<br />

Effekt, gegenüber dem was Alyssia sich selbst aneignete oder sonst vermittelt<br />

bekam, war sehr mäßig. Alle l’art pour l’art Spielchen lehnte sie grundsätzlich<br />

ab, und zu banal durfte es auch nicht sein. Sie schaute mich dann immer<br />

fragend mit einem abwertenden Lächeln an: „Was soll der Quatsch?“. Ein<br />

Bezug zur Realität war zwingende Voraussetzung. Signalwörter würde sie auf<br />

jeden Fall erkennen können. Sie unterschied ja auch zwischen ihren Skype-Namen<br />

und Zahlzeichen konnte sie ja auch unterscheiden. Es war bald ein absoluter<br />

Spaß, den Teilnehmern am Tisch mit Tischkärtchen immer wieder neue<br />

Plätze zuzuweisen, außer Lucien neben Alyssia, dachte sie sich immer wieder<br />

neue Konstellationen aus. Als Camille sie mal bat, sie würde so gern neben ihrem<br />

Liebsten, dem Christoph, sitzen, wurde der Wunsch selbstverständlich berücksichtigt.<br />

Wir sollten ihr allmählich beibringen die unterschiedlichen Kaffeesorte<br />

nach Schriftsignalen unterscheiden zu können. Julienne sollte eine Karte<br />

aus dem Bistrot Saint Come in Montpellier besorgen und sich auch nach der<br />

Kaffeemaschine dort erkundigen. Dort hatten die beiden sich immer Samstagmorgens<br />

getroffen. Wir würden uns eine zumindest ähnliche besorgen. Ein moderner<br />

Vollautomat in einem südfranzösischen Bistro wäre ja wohl ein absoluter<br />

Stilbruch gewesen. Mit der Speisekarte kam ein großes Foto von Julienne<br />

an einem der Tische vorm Bistro und noch eins von innen vor der Theke. Für<br />

Alyssia war das nicht zu fassen. Obwohl sie Julienne ja sofort erkennen musste,<br />

kam kein freudiges Lachen. Abwechseld schaute sie beide Bilder immer<br />

wieder intensiv an, und rannte dann sofort mit ihnen rauf zu Lucien, den sie<br />

sonst bei der Arbeit nie störte. Dass sie die Umgebungen und Bedingungen der<br />

Fotos auch erkannte, war längst eindeutig klar, aber hier ging es ja um Erinnerungen,<br />

die wieder lebendig wurden, obwohl auf dem Bild eindeutig ausschließlich<br />

Julienne als Person zu erkennen war. Wenn wir gewusst hätten, welche Erinnerungen<br />

wodurch wieder hervorzurufen wären, könnten wir ihr viel weiterhelfen,<br />

aber darüber hatte bislang noch k<strong>einer</strong> von uns irgendetwas Brauchbares<br />

gelesen. Ich wusste ja auch nicht, was sie genau erinnerte. Aber dass sie<br />

das Bistro erkannt hatte, dass es primär mit Lucien zusammenhing und irgendwie<br />

ganz wichtig war, so viel musste ihr ja auf jeden Fall bewusst geworden<br />

sein.<br />

Bettgeflüster<br />

Zu Ralf meinte ich abends im Bett mal, dass ich glaube, sexuell nicht monogam<br />

veranlagt zu sein. Ralf schaute mich weitere Erklärungen erwartend mit<br />

hochgezogenen Augenbrauen erstaunt an. „Nein, nein, keine Angst.“ erleichterte<br />

ich ihn, „Ich werde dir jetzt nicht erklären, dass ich mit jemand anders<br />

geschlafen habe, oder es gern tun würde. Ich meine nur, dass ich auf andere<br />

Männer ganz unterschiedlich reagiere, dass sie ganz unterschiedliche Empfin-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 188 von 209


dungen in mir evozieren können. Zum Beispiel Christoph, ich mag ihn sehr<br />

gern, finde ihn sehr nett, unterhalte mich sehr gern mit ihm, und seine Gegenwart<br />

ist mir äußerst angenehm, aber dass er ein Mann ist, mit dem man ja<br />

auch etwas anderes machen könnte, so ein Gedanke würde mir bei ihm nie<br />

kommen. Es gibt aber auch Männer, bei denen ist das für mich völlig anders.<br />

Wenn ich sie sehe, mich mit ihnen unterhalte, höre was und wie sie sprechen,<br />

ihren Gesichtsausdruck und ihre Mimik betrachte, dann ist das mehr als angenehm,<br />

es erfreut mich, regt mich an. Mir fällt ein, dass es schön wäre, es öfter<br />

zu erleben, und wenn ich mich frage, was diesen Unterschied ausmacht, ob es<br />

erotische Gefühle sind, ob ich Lust haben würde, mit diesem Mann ins Bett zu<br />

gehen, kann ich mir durchaus vorstellen, dass es sich dahin entwickeln könnte.<br />

Ralf, du brauchst keine Angst zu haben, ich werde es nicht tun, ich will es gar<br />

nicht und brauche es auch nicht, ich denke auch gar nicht weiter daran, es beschäftigt<br />

mich überhaupt nicht. Ich meine nur, dass ich Männer unterschiedlich<br />

wahrnehme, und einige bei mir erotische Empfindungen auslösen. Nicht auf<br />

Bildern, die sagen mir gar nichts. Da finde ich die meisten, die besonders<br />

schön sein sollen eher lächerlich und abstoßend. Auch diese nackten Oberkörper<br />

oder mehr lösen in mir nichts aus. Dein Körper ist mir schon sehr wichtig,<br />

aber das ist ja dann auch eine völlig andere Situation. Aber auch ganz normale<br />

Männergesichter mit markanten Gesichtszügen mögen vielleicht ganz nett und<br />

gut fotografiert sein, aber mehr empfinde ich da nicht. Da gefallen mir Fotos<br />

von <strong>Frau</strong>en viel besser, aber das ist ja auch eine ganz andere Dimension. Ich<br />

meine vom Ästhetischen aus betrachtet, da rangieren Männer generell ja frühestens<br />

zehn Plätze hinter den <strong>Frau</strong>en. Wie ist das denn eigentlich bei dir, Ralf?<br />

Männer haben doch viel schneller erotische Gedanken bei visuellen Reizen.<br />

Denkst du manchmal 'Oha, die <strong>Frau</strong> möchte ich mal gern ficken.'?“ Ralf lachte<br />

sich tot zog mich auf sich, küsste mich und meinte: „Mein <strong>Ruth</strong>chen, ich sehe<br />

dich mit absoluter Achtung und Anerkennung, aber manchmal bist du einfach<br />

total süß.“ Ich wusste gar nicht, was ich davon halten sollte. „Und <strong>Ruth</strong>chen?“<br />

fragte ich. „Na ja, es gibt zu <strong>Ruth</strong> eben gar keinen Diminutiv, keine Koseform,<br />

oder soll ich etwa <strong>Ruth</strong>ilein sagen?“ erklärte Ralf. „Gar nichts.“ erklärte ich<br />

strikt, „Ich bin nicht dein Hasilein. Und jetzt antworte.“ „Oha denke ich eigentlich<br />

weniger. Auch bei <strong>Frau</strong>en nicht.“ meinte Ralf immer noch belustigt.<br />

Meine Formulierung fand er wohl absolut komisch. „Aber du meinst, ob andere<br />

<strong>Frau</strong>en in mir erotische Empfindungen hervorrufen. Klar ich sehe es gern, es<br />

gefällt mir. Besonders gefallen mir bei <strong>Frau</strong>en schöne Pos in engen Hosen oder<br />

Röcken, aber es macht sehr viel aus, wer das ist. Bei <strong>einer</strong> <strong>Frau</strong>, die mir wenig<br />

sympathisch ist, interessiert mich auch ihr vielleicht schöner Hintern nicht.<br />

Auch im Sommer, wenn <strong>Frau</strong>en Tops mit viel freiem Rücken tragen, gefällt mir<br />

das sehr gut. Busen und tiefe Ausschnitte, die für viele Männer so besonders<br />

wichtig sind, berühren mich eigentlich nicht, außer wenn eine <strong>Frau</strong> keinen BH<br />

trägt, und man sieht, wie sich ihre Brüste bewegen, das mag ich schon. Ich<br />

finde das alles schön und angenehm, und es erfreut mich auch, aber auf den<br />

Gedanken deshalb mit <strong>einer</strong> ins Bett zu wollen, das hab ich noch nie erlebt. Ich<br />

komme mir selbst manchmal ein wenig komisch vor, aber ich glaube, die<br />

intime vertrauensvolle Situation ist für mich genauso wichtig wie das Ficken<br />

selbst. Ich habe beim Masturbieren als kl<strong>einer</strong> Junge mir immer schon<br />

ausgemalt, dass die imaginierte <strong>Frau</strong> meine beste Freundin wäre. Wie Männer<br />

ins Bordell oder etwas Ähnliches gehen können, ist für mich selber<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 189 von 209


unvorstellbar. Vielleicht ist das ungewöhnlich für einen Mann, aber mich stört<br />

es überhaupt nicht, ich kann damit sehr gut leben. Ich wüsste nicht, warum es<br />

erstrebenswert sein sollte, Lust dabei empfinden zu können, meinen Penis in<br />

die Vagina <strong>einer</strong> mir unbekannten <strong>Frau</strong> zu stecken.“ Mon amour! „Sollte ich<br />

denn auch öfter rücken freie Tops und enge Röcke tragen, oder ohne BH<br />

herumlaufen?“ fragte ich leicht spöttisch. „So weit ich weiß, hast du ja im Bett<br />

meist nie einen BH an, und Röcke im Bett, das würde doch auch nicht so ganz<br />

passen, oder?“ spöttelte Ralf zurück. „Sag mal,Ralf,“ wollte ich noch wissen,<br />

„wie ist das denn für dich eigentlich mit anderen Männern, kannst du dir<br />

vorstellen, dass du da etwas empfinden würdest?“ „Also ich mag andere Jungs<br />

ganz gern, Christoph oder Maxe zum Beispiel. Ich unterhalte mich gern mit<br />

ihnen, das macht mir auch Spaß, aber Streicheln und Amore oder so etwas,<br />

völlig unvorstellbar für mich. Ich habe mir mal als kl<strong>einer</strong> Junge gemeinsam<br />

mit einem Schulfreund einen runter geholt, als es so gerade ging, irgendwie<br />

zum Ausprobieren oder Erforschen, aber mit Zuneigung oder so Ähnlichem<br />

hatte das nichts zu tun.“ meinte Ralf „Ja mir geht das auch so.<br />

Selbstverständlich habe ich überhaupt keine Probleme damit, das andere Leute<br />

Gleichgeschlechtliches lieben, aber für mich selber nachzuempfinden ist das<br />

überhaupt nicht. Ich finde manche <strong>Frau</strong>en sehr schön, besonders wenn sie<br />

nicht mehr ganz jung sind, und ihre Gesichter ausdrucksstarke, charaktervolle<br />

Züge aufweisen. Zum Beispiel Camille, ich finde sie wunderschön, es macht<br />

mir Freude sie anzusehen, aber Empfindungen, die etwas mit Erotik zu tun<br />

haben könnten, überhaupt nichts. Als ich mich neulich mit Julienne unterhielt,<br />

empfand ich mich ganz sonderbar. Ich mag sie sehr gern, ja natürlich ich liebe<br />

sie, aber irgendwelche erotischen Gefühle sind mir da bislang auch noch nie<br />

gekommen, aber jetzt merkte ich, wie ich ihr zuhörte und sie anschaute, dass<br />

ich anfing zu träumen. Ich weiß gar nicht mehr konkret was, ich weiß nur, dass<br />

ich in <strong>einer</strong> anderen schönen Welt war. Ich frage mich was das sein könnte, das<br />

sie in mir auslöst. Sind das erotische Empfindungen für eine andere <strong>Frau</strong>? Ja,<br />

sie küssen und ihr Gesicht streicheln würde mir schon gefallen, aber mehr?<br />

Fehlanzeige, keine Vorstellung, keine Bedürfnisse. Vielleicht hat das ja auch<br />

mit Sexualität gar nichts zu tun. Sie ist mir durch unsere langen Gespräche,<br />

durch ihre missliche Kindheit und Jugend, durch ihre Liebe zu Alyssia und ihre<br />

Verzweiflung, und durch ihre jetzt so fabelhafte Entwicklung so tief ans Herz<br />

gewachsen, dass es auch für mich selbst ein völlig neues emotionales Erlebnis<br />

ist. Sie ist so etwas wie heißgeliebte Tochter und allerbeste Freundin zugleich.<br />

Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr jemand Unannehmlichkeiten bereitete.<br />

Wenn Andy sie zum Beispiel betrügen würde, brächte ich ihn glaube ich um. Na<br />

ja, zumindest sofort rausschmeißen würde ich ihn, ich könnte dann seien<br />

Anblick nicht mehr ertragen. Sonderbar, nicht wahr?“ Ralf wusste auch keine<br />

Antwort, meinte aber es müsse doch beides schön sein für mich. <strong>Frau</strong>en hätten<br />

doch im allgemeinen viel häufiger auch erotische Empfindungen für andere<br />

<strong>Frau</strong>en als Männer, die allerdings die Diskussion um gleichgeschlechtliche Liebe<br />

dominierten. Wenn wir beide Lust daran hätten, könne es doch sehr schön<br />

sein. Ralf und ich, wir seien eigentlich sowieso sehr konservativ in unseren<br />

erotischen Vorstellungen. „Träumst du von etwas anderem. Möchtest du mich<br />

gern fesseln, auspeitschen oder zusammenschnüren?“ fragte ich Ralf<br />

sprachlos. „Nein, nein überhaupt nichts.“ reagierte er lachend „Ich finde das<br />

absolut toll zwischen uns und möchte auch gar nichts anderes. Ich habe nur<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 190 von 209


konstatiert, dass es zwischen uns so ist, wie man sich das eigentlich gut<br />

bürgerlich vorstellt, normaler weise müsste man das für verlogen und<br />

krankhaft halten, ich kann es aber gar nicht so empfinden. Ich finde es toll und<br />

fühle mich absolut glücklich mit dir. Wenn du auch Lust daran hättest, mit <strong>einer</strong><br />

anderen <strong>Frau</strong>, zum Beispiel Julienne, glücklich zu sein, würde mich das im<br />

Prinzip überhaupt nicht stören, wenn du mich nicht all zu oft allein ließest. Ich<br />

hielte das für absolut normal und verständlich. Aber das ist ja alles blauer<br />

Dunst.“ „Nein,nein, mit Julienne wird sich so etwas auch nie ereignen. Sie soll<br />

mit ihrem Andy glücklich werden, exclusivement. Da brächte ich es nie<br />

zustande irgendeine Art von Verwirrung zu stiften. Mich hat nur mein eigenes<br />

Empfinden stutzig gemacht, dass mich zweifeln ließ, ob ich auch für <strong>Frau</strong>en so<br />

etwas wie erotische Empfindungen entwickeln kann, oder ob es nur Juliennes<br />

Person ist, die mich emotional außerordentlich tief berührt. Und außerdem<br />

gutbürgerlich, was für ein guter Bürger bist du denn, der seine <strong>Frau</strong> die ganze<br />

Nacht durch halb tot fickt?“ schloss ich meine Replik. „Was ich jetzt antworten<br />

würde, weißt du ja, deshalb kann ich's mir ersparen. Aber vielleicht hast du ja<br />

Recht, dass es doch nicht so ganz gutbürgerlich ist. Und jetzt hör auf zu<br />

reden.“ erwiderte Ralf noch, bevor das vielleicht doch nicht so ganz bürgerliche<br />

Liebesspiel seinen Verlauf nahm. Ich weiß nicht, ob öfter mein oder Ralfs<br />

Verlangen dominierte. Es war nur einfach immer ein wunderbares Erlebnis, das<br />

sonst mit nichts zu vergleichen war, und das mich am nächsten Morgen wie<br />

neu geboren fühlen lies, wenn ich mich nicht halb tot fühlte, weil wir's wieder<br />

mal zu extensiv gemacht hatten.<br />

Printemps<br />

Mademoiselle Barista hatte schnell alle Kaffeearten internalisiert, nur wir konnten<br />

gar nicht genügend Kaffee trinken. Mitte Januar, als Alyssia und Lucien sich<br />

im Wohnraum umarmten und küssten, zog sie plötzlich Lucien den Pullover<br />

aus. Ob sie mit Pullover nicht genug von ihm spürte? Aber dann wurde auch<br />

noch sein T-Shirt ausgezogen, und Alys streichelte Luciens nackten Oberkörper<br />

vorn und auf dem Rücken. Dann schien sie an ihm zu riechen, und begann ihn<br />

zu küssen. Der völlig verdutzte Lucien ließ regungslos alles mit sich geschehen.<br />

Plötzlich machte Alyssia ihren Oberkörper frei, legte auch den BH ab, und rieb<br />

sich mit genießerisch strahlenden Blick an Lucien. Wunderschön, aber nicht<br />

hier unten. Das sollte sie sich doch besser nicht angewöhnen. Lucien lächelte<br />

verlegen, und wusste gar nicht, wie ihm geschah. Ich meinte, sie könnten doch<br />

alles machen, wozu Alyssia Lust habe, warum nicht, nur nicht hier unten. Und<br />

Alyssia nehme keine Pille, da würde ich mich aber ganz schnell drum<br />

kümmern. Lucien berichtete, dass sie aber nur ihre Brüste an ihm habe reiben<br />

wollen und es wunderbar gefunden habe, wenn er sie gestreichelt und geküsst<br />

habe. Dass es unterhalb der Gürtellinie vielleicht auch noch Interessantes<br />

gebe, wisse sie wohl nicht mehr. Auch das Interesse für die schönen<br />

Empfindungen an den Brüsten, hatte sie mit Sicherheit neu entdeckt, als sie<br />

merkte, dass der dicke Pullover störte. Konkrete sexuelle Aktivitäten schienen<br />

ihr nicht mehr gegenwärtig zu sein. Warum sollte sie es sich nicht wieder neu<br />

aneignen, wenn sie Lust daran hätte? Lucien wäre mit Sicherheit einfühlsam<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 191 von 209


und rücksichtsvoll genug. Lucien sollte immer wieder zu den Brustspielen mit<br />

ihr aufs Zimmer kommen, hatte es dann aber auf einmal pro Tag begrenzt. Als<br />

er ihr dann mal auch die Hose ausgezogen, und sie auch an Beinen und Po<br />

gestreichelt hatte, hätte sie von sich aus ihren Slip ausgezogen, und dort auch<br />

gestreichelt werden wollen. Sie hatte einen Orgasmus bekommen, Lucien mit<br />

großen Augen angeschaut, und ihn dann mit Küssen überdeckt. Darauf habe<br />

sie seine Hand zwischen ihre Beine geführt, und habe es noch einmal gewollt.<br />

Das sollte jetzt immer gemacht werden. Jeden Abend, wenn Lucien sie zu Bett<br />

brachte <strong>–</strong> und nur er durfte es noch <strong>–</strong> hob sie ihr Nachthemd an, legte sich mit<br />

gespreizten Beinen aufs Bett und erwartete Luciens Aktivitäten. Lucien<br />

berichtete immer, wie sie völlig passiv sich alles gefallen ließ, es genieße, und<br />

ihm hinterher umarmend und küssend dankbar sei. Er würde es zwar gern für<br />

Alyssia tun, wenn es ihr Freude bereite, aber andererseits käme er mit ihrer<br />

völligen Passivität auch nicht klar. Er würde gerne mit ihr zusammen glücklich<br />

sein, und nicht immer nur den geliebten Masturbator spielen, und berichtete<br />

detailliert über Alys Verhalten. „Lucien ich will das alles gar nicht wissen. Das<br />

war ,ist und bleibt euer eigenes Persönliches, Intimes und Privates. Aber du<br />

bist doch kein kl<strong>einer</strong> Junge mehr, dir wird doch wohl etwas einfallen, das<br />

Alyssia selber auch zu aktivem Handeln veranlasst. Sie selber scheint ja nichts<br />

mehr zu wissen. Sie will immer nur das, was sie am Vortag als schön erfahren<br />

hat. Du musst ihr alles neu beibringen und es ihr schmackhaft machen.<br />

Überleg dir doch mal etwas. Sie wird von sich aus auf nichts kommen, weil sie<br />

anscheinend überhaupt nichts mehr davon weiß.“ riet ich ihm. Er könne mich<br />

immer gerne ansprechen, wenn es irgend eine Art von Problemen geben sollte,<br />

aber von ihren sexuellen Praktiken wolle ich im Detail nichts wissen. Nach<br />

kurzer Zeit meinte Lucien, es sei fast alles wie früher, nur dass Alys nicht mehr<br />

so wild sei, dafür empfinde er sie als freundlicher und lustiger, nur ob<br />

überhaupt oder nicht miteinander schlafen, da sei sie völlig kompromisslos. Sie<br />

drehe sich von ihm weg, starre trostlos in die Gegend, und erwecke den<br />

Eindruck, als wenn sie darüber nachdenke, ob so ein Mann überhaupt ihr<br />

Freund sein könne. Dass sie selbstverständlich jeden Abend miteinander<br />

schliefen, störte Lucien nicht. Er meinte, das sei ja früher auch nicht viel<br />

anders gewesen, nur dass er jetzt immer schon um 10 Uhr ins Bett musste,<br />

störte ihn sehr. Also verschoben wir die Schlafzeit um eine Stunde, was Alyssia<br />

allerdings nur in den seltensten Fällen veranlasste morgens dafür länger zu<br />

schlafen.<br />

Reise wieder zurück<br />

Julienne war schon Anfang Februar gekommen, um ihr neues Zuhause einzurichten<br />

und Hamburg inklusive Uni ein wenig näher kennenzulernen. Das Andy<br />

sie zu sehr bedrängte, brauchte sie nicht zu befürchten. Er hatte in den nächsten<br />

Tagen das Rigorosum für seinen Doktorexamen und hatte auch ohne Julienne<br />

schon zu wenig Zeit. Aber um die Osterzeit, wenn wir zusammen erst<br />

nach Combaillaux/Montpellier und anschließend zu Ledoux in Tain-l'Heremitage<br />

fahren wollten, hatte er längst alles hinter sich gebracht. Er musste nämlich<br />

tolle Fotos machen, die wir später eventuell im Bistro verwenden konnten. Sie<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 192 von 209


sollten die Barista in Frankreich zeigen, aber vor allem auch dafür sorgen, dass<br />

Alyssia sich wohl und heimisch fühlte. Wir hatten uns entschieden, in kleinen<br />

Etappen mit dem Auto zu fahren, so waren wir in der Tagesgestaltung völlig<br />

frei. Julienne und Andy sollten eigentlich fliegen, aber Julienne meinte, es gefalle<br />

ihr auch mit uns zu zockeln, dann könne sie unterwegs viele Erinnerungsfotos<br />

machen. In Wirklichkeit wollte sie Andy nicht allein bei sich im Hause haben,<br />

wem sie dabei mehr misstraute, Andy oder sich selbst, wusste sie auch<br />

nicht so genau.<br />

Die Reise selbst wurde zum unvergleichlichen Erlebnis, vor allem in Combaillaux<br />

und Montpellier. Besonders natürlich Madame Mercier, die uns vom Krankenhaus<br />

mit zu sich nach Hause nahm, und Alyssia und Arlette sich so live begegnen<br />

ließ. Sie war so begeistert und gerührt, dass sie versprach, mit Arlette<br />

nach Hamburg zu kommen, spätestens zum Ende des Sommers, wenn das<br />

Bistro eröffnet werden sollte. Auch sie fand es mittlerweile unpassend, dass wir<br />

uns gegenseitig immer noch mit Madame anredeten, also waren wir ab jetzt<br />

Ginette und <strong>Ruth</strong>. Der Chef des Bistros erkannte die beiden wieder, und wollte<br />

wissen, warum sie so lange nicht da gewesen seien. Als er erfuhr, was sich ereignet<br />

hatte, und was die beiden in Hamburg vorhatten, hätte er ihnen am<br />

liebsten seine halbe Einrichtung geschenkt. Weil seine Hilfsangebote und Tips<br />

gar kein Ende nahmen, fuhr Lucien am nächsten Morgen nochmal gesondert zu<br />

ihm. Der Bistrochef wollte sich sowieso eine neue Kaffeemaschine zulegen, weil<br />

sie ihm sehr viel Arbeit erspare. Er habe sehr an der alten gehangen, aber<br />

wenn er wisse, dass sie bei ihnen gebraucht würde, bekämen sie sie geschenkt.<br />

Im Sommer würde bestimmt jemand runter fahren, und könnte sie<br />

mitbringen. Einige alte Reklametafeln nahmen wir schon jetzt mit. Die Tage<br />

waren völlig ausgefüllt und die Autos vollgepackt, als wir zur Rhône fuhren.<br />

Camille war schon zwei Tage früher gekommen. Ihr war sehr gut verständlich,<br />

wie die ausgeglichene Atmosphäre hier gegenüber dem aufreibenden Alltag in<br />

Hamburg Alyssia schon sehr schnell deutlich gemacht hatte, dass gutes Leben<br />

nur so <strong>–</strong> also hier in Frankreich <strong>–</strong> möglich sei. Alyssia selbst kam aus dem<br />

Staunen nicht mehr heraus, über die Menschen, die sie hier traf aber auch die<br />

immer wieder neu erinnerten Teile der Gebäude. Andy war ständig beschäftigt.<br />

Sehr lustigst waren die Fotos vom Ostereiersuchen im Weinberg.<br />

Tempo le Bistro<br />

Auf der Rückreise legten wir gleich einen Stopp in Lyon ein, weil die Eltern eines<br />

Freundes von Lucien hier ein Bistro besaßen und ihn beraten wollten. Außerdem<br />

kauften wir eine Kaffeemühle, die modern aber relativ stilvoll war, und<br />

von <strong>einer</strong> Firma hier hergestellt wurde. Wir hatten zwar schon Einrichtungsgegenstände<br />

und wage Pläne, wie das Bistro etwa gestaltet werden könnte, aber<br />

sonst nichts. Wir wussten nur, dass es in spätestens einem halben Jahr, nach<br />

den Sommerferien eröffnet werden sollte. Die aufkommende Panik veranlasste<br />

uns dazu, gezielt projektorientiert zu planen. Als ich Torsten nach Kontakten<br />

fragte, konnte er es gar nicht fassen, dass es in die Tat umgesetzt wurde. Er<br />

überschlug sich vor Hilfsbereitschaft, und wollte sich um alles kümmern. Er besorge<br />

ein tolles Lokal, würde auch die Kosten tragen und alles ganz schnell. Als<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 193 von 209


ich vorsichtshalber schon mal unsere Innenarchitektin <strong>Frau</strong> Lenders anrief,<br />

meinte sie, dass Gaststätten zwar nicht ihr Gebiet seien, aber in diesem Fall sei<br />

es ihr eine persönliche Herzensangelegenheit und würde ihr auch vom Sujet<br />

her Freude machen. Übliche Gastronomie-Designer hätten so etwas gar nicht<br />

drauf. Sie kam vorbei und schwärmte von allem, was wir schon gesammelt und<br />

uns ausgedacht hatten. Sie meinte nur, dass es trotz aller südfranzösischer<br />

Schlichtheit und Rustikalität auch so gestaltet sein müsse, dass es intellektuelle<br />

Bedürfnisse von Mittel- und Oberschicht anspreche, denn nur hier seien die<br />

potentiellen Gäste zu finden. Eine Pizzakette wechselte ein sehr großes Lokal in<br />

<strong>einer</strong> belebten Fußgängerzone. Wir wollten gar nicht wissen, was Torsten dafür<br />

wohl bezahlen musste. Nach gut einem Jahr hatte er das Haus gekauft, wahrscheinlich<br />

weil ihm die Kosten dafür langfristig geringer schienen als die ständigen<br />

Mietzahlungen.<br />

Le petit sourire<br />

Es war bezaubernd geworden, alle waren glücklich über die gelungene Gestaltung,<br />

besonders Alyssia, die immer mit wollte, wenn Lucien hinfuhr, und nachdem<br />

die Abnahme erfolgt war, immer fleißig alle möglichen Bekannten zur Probe<br />

und zum Üben bedienen musste. Das Bistro hieß schlicht 'Le petit sourire'.<br />

Der Name sollte ja auf jeden Fall etwas mit sourire zu tun haben, und alle anderen<br />

Möglichkeiten waren als nicht ansprechend verworfen worden. Es handelte<br />

sich um ein Eckhaus, bei dem auch der Innenraum der Gaststätte um ein<br />

Quadrat aus Küche, Büro und Toiletten gestaltet war. Während die eine Ecke<br />

beschaulicher war, konnte man in der anderen Ecke Musik hören, sich Bilder<br />

aus Frankreich anschauen, zwei Laptops benutzen und Alyssias Buch kaufen,<br />

dass sie mittlerweile in Grundschulschönschrift signieren konnte. Die Wand in<br />

der anderen Ecke war mit <strong>einer</strong> Fototapete beklebt, auf der eine Bouquiniste<br />

vor ihrem Klappladen stand. Der Teil des Ladens neben ihr war ausgehöhlt und<br />

mit realen alten Büchern aus aus französischen Antiquariaten bestückt. Vorm<br />

unteren Teil des Ladens befand sich ein Regal mit aktuellen französischen Zeitungen<br />

und Zeitschriften. Nach oben wurde der Himmel über der Seine immer<br />

heller und durch ein Band mit Plakaten von Balzac, Baudelaire, Flaubert, Molière,<br />

Zola abgeschlossen. Zwischen ihnen hing jeweils immer eins aus Alyssias<br />

wilder Aktserie, allerdings nur mit Kopf, Schulter und Brustansatz. <strong>Frau</strong> Lenders<br />

war auf die Idee gekommen, und jetzt wirkte Alyssias wilde Mähne mit<br />

dem leicht verwegenen Blicken zwischen den alten Zottelbären nicht nur<br />

kontrastreich, sondern konnte auch zum Nachdenken anregen. Niemand wagte<br />

das Schild über der Theke 'Parlez-vous français, s'il vous plaît!' zu missachten.<br />

Wenn man etwas nicht wusste oder sich nicht sicher war, fragte man erst den<br />

Begleiter. Auch das zweisprachige Schild, auf dem zu lesen war: „Mademoiselle<br />

Alyssia Stein wird ihnen nicht anworten, da sie nicht sprechen kann, aber sie<br />

freut sich über ein kleines Lächeln von ihnen.“ erzeugte regelmäßig ein<br />

solches, das Alyssia immer freundlich beantwortete. Alle, alle kamen. Torsten<br />

kam mit <strong>einer</strong> ganzen Crew und bekam feuchte Augen. Ich wüsste nicht, dass<br />

ich ihn je so erlebt hätte. Als sie geboren wurde zum Beispiel, war er ziemlich<br />

cool, aber vielleicht war so eine Wiedergeburt ein emotional tiefgreifenderes<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 194 von 209


Erlebnis. Er war auch begeistert davon, wie wir es gemacht hatten, und meinte<br />

scherzhaft, jetzt brauche er ja gar nicht mehr weg zu fahren, sondern könne<br />

bei Alyssia Urlaub machen. Er würde bestimmt vielen Bekannten davon<br />

vorschwärmen, die alle mal zum Ausprobieren kämen. Viele waren enttäuscht,<br />

wenn sie kamen und Alyssia war nicht da, so dass wir ein Schild mit ihren<br />

Anwesenheitszeiten aufhängen mussten. Alyssias und Luciens Bistro sprach<br />

sich ungeheuer schnell herum, und wurde schon nach kurzer Zeit zum<br />

absoluten Renner. Es galt als chic, sich hier zu treffen, Franzosen fühlten sich<br />

hier zu Hause, häufig kamen Schulklassen mit den Lehrern hierher, und<br />

Alyssias Buch wurde nach einem Besuch von Verlagsvertretern mit <strong>einer</strong><br />

Zusatzinformation über ihre Lage neu aufgelegt, obwohl es eigentlich nicht<br />

beabsichtigt war. Wer von Alyssia gehört hatte, und nach Hamburg kam,<br />

musste natürlich im 'Le petit sourire' gewesen sein, und bald stand es auch in<br />

Fremdenführern als original französisches Bistro mit seinen kuriosen<br />

Bedingungen. Es lief so gut, dass es fast immer absolut voll war, aber Lucien<br />

brauchte nicht immer mehr Geld, sondern Hilfe. Alle, auch Elias, der ja jetzt<br />

perfekt französisch sprach, halfen, aber das waren ja im Grunde zwar nicht<br />

unbedeutende, aber doch eben Aushilfen. Lucien brauchte einen festen Partner,<br />

mit dem er sich die Arbeit teilen konnte.<br />

Bedenken<br />

Ich konnte stolz sein, auf alles, was wir gemeinsam mit so vielfältiger Unterstützung<br />

geschaffen hatten, nur so empfand ich schon lange nicht mehr. Ich<br />

versuchte mir vorzuhalten, dass es doch k<strong>einer</strong>lei Grund gebe, unzufrieden zu<br />

sein. Alyssia machte zuverlässig eine verantwortliche Arbeit mit fremden Menschen<br />

für fünf Stunden jeden Tag. Wer hätte das außer Lucien träumen können.<br />

Nur wovon träumte er jetzt? Ich glaube nicht, dass seine Träume noch<br />

viel mit Alyssia zu tun hatten. Als ich erfuhr, dass er mit seinem Freund, einem<br />

französischen Ökonomiestudenten die Gründung eines französischen Delikatessen<br />

Geschäfts erwog, musste ich es ansprechen. Ich lobte ausführlich seine<br />

Verdienste wegen der Ideen und Realisierung, erinnerte ihn aber auch daran,<br />

aus welcher Situation und mit welcher Motivation alles entstanden sei. Heute<br />

stelle sich die Situation für mich völlig anders dar. Er könne, ja er lebe praktisch<br />

schon ohne Alyssia, auch wenn er regelmäßig mit ihr schlafe. In erster Linie<br />

habe er sich zum Geschäftsmann entwickelt, bei dem zwar nicht das Geld,<br />

das von selbst auch käme, sondern eher so etwas wie Anerkennung im Vordergrund<br />

stehe, und Alyssia habe eher die Rolle <strong>einer</strong> Zirkuspuppe, die für die<br />

Gäste tanze. Heute vermittele sich mir manchmal der Eindruck, dass er sie<br />

brauche, weil sie Grundlage seines Geschäftes sei, aber psychische Probleme<br />

zu bekommen, weil sie nicht in s<strong>einer</strong> Nähe sei, hielte ich heute bei ihm für unvorstellbar.<br />

Lucien schwieg lange. Schaute in die Gegend, schaute mich an, und<br />

sagte dann: „<strong>Ruth</strong>, ich kann darauf jetzt nicht antworten. Es spricht so viele<br />

Fragen in mir an, über die ich mir noch nie Gedanken gemacht habe. Auch<br />

wenn es hart ist und mir teilweise sehr weh tut, bin ich froh, dass du es so<br />

deutlich gesagt hast. Ich habe überhaupt in letzter Zeit wenig nachgedacht,<br />

nur dass ich heute nicht mehr der Lucien bin, den du als Studenten in Montpel-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 195 von 209


lier kennengelernt hast, das glaube ich allerdings schon. Ich empfinde es so,<br />

dass du den, also mich jetzt, nicht mehr liebst. Und das, <strong>Ruth</strong>, tut mir sehr<br />

weh. Nicht nur, weil ich nicht vergessen kann, dass du mir eigentlich das Leben<br />

gerettet hast, sondern jedes mal, wenn ich deinen Namen ausspreche, es mich<br />

an unsere geschlossene Freundschaft erinnert, die mir heute genauso viel bedeutet,<br />

wie am ersten Tag.“ „Lucien, ich merkte, dass ich mich jeden Tag weniger<br />

darüber freute, wie er verlief, und habe mich gefragt, wo dieses Gefühl<br />

der Unzufriedenheit herrühren könnte. Früher hatte Alyssia fast jeden Tag etwas<br />

Neues entwickelt oder erkennen lassen, und wir hatten uns darum gekümmert,<br />

ihr bei der Vertiefung, Übertragung oder beim Ausbau zu helfen. Das alles<br />

gibt es überhaupt nicht mehr, ist völlig verschwunden seit sie im Bistro arbeitet.<br />

Sie vollzieht jeden Tag fünf Stunden lang das Gleiche auf dem gleichen<br />

Entwicklungsstand. Zu Hause ist sie zum Schlafen, Essen und für ein wenig Rekreation.<br />

Sie geht ja auch immer noch gerne ins Bistro, aber wenn ich mich<br />

frage, was neu dazugekommen sein könnte, fällt mir überhaupt nichts ein. Das<br />

ist nicht nur ungünstig für sie selbst, sondern macht mich auch traurig. Wenn<br />

du sie liebst, solltest du dir doch eigentlich auch Gedanken darüber machen.<br />

Und da glaube ich, dass du an so etwas mittlerweile gar nicht mehr denkst. Du<br />

bist auf den Gedanken mit dem Bistro gekommen, weil du mit Alyssia etwas<br />

zusammen machen wolltest, worüber du heute nachdenkst, hat mit Alyssia<br />

nichts zu tun. Wenn Alys sprechen könnte, würde sie dir sicher eines Tages sagen:<br />

„Lucien, du brauchst mir nicht erzählen, was du wieder für tolle Ideen gehabt<br />

hast. Ich bewundere dich auch so. Erzähl mir lieber von den Ideen, die du<br />

hast, wenn du an mich denkst.“, und dann würde dir auffallen, dass du an sie<br />

gar nicht gedacht hast. Ich weiß nicht, ob man das noch Liebe nennen kann?<br />

Als das Bistro funktionierte und mit Alyssia alles klappte, da hast du dich noch<br />

mit ihr und für sie gefreut, da war das Glück für euch beide perfekt, nur das<br />

bleibt es nicht automatisch, weil ihr jeden Tag das gleiche tut. Es gibt kein einmal<br />

installiertes Glück, es ist ein täglich neu zu suchender und bearbeitender<br />

Prozess. Zu sagen, jetzt haben wir alles erreicht was wir wollten, und das wird<br />

uns für immer glücklich machen, ist ein fataler Irrtum mit meistens sehr<br />

schmerzlichen Folgen. Lucien, ich sage dir das nicht, weil ich Zweifel an unserer<br />

Freundschaft habe, sondern eher, weil mir ein Gedanke daran völlig fern<br />

liegt. Ich habe Sorgen und Befürchtungen, deinetwegen und wegen Alyssia,<br />

wenn ich mir vorstelle, dass es noch lange unreflektiert so weiter läuft, wie zur<br />

Zeit. Und ich sage dir das so offen, weil ich weiß, dass du mir zuhören, und dir<br />

Gedanken darüber machen wirst, mein Freund Lucien.“ schloss ich mit einem<br />

Lächeln. Lucien schlug vor, ob es nicht hilfreich sein könne, wenn wir drei, also<br />

gemeinsam mit Julienne, darüber reden würden. Umso besser, also wurde ein<br />

gemeinsamer Termin für die Bücherei ausgemacht.<br />

Auch für die andern im Haus hatte sich das Leben, nachdem die große Euphorie<br />

für's Bistro vorüber war, verändert. Es mussten nur immer die Termine für's<br />

Bistro geregelt werden, wer Alyssia hinbringt und abholt, und wer bei Bedarf<br />

aushelfen kann. Ich war jetzt wieder öfter in der Kanzlei, und fand es dort<br />

manchmal interessanter als zu Hause. Wahrscheinlich ging es den andern nicht<br />

viel anders. Jeder hatte seinen Beruf, und zu Hause gab es nur noch die gemeinsame<br />

Verpflegung und Bistro-Organisation. Natürlich redeten und lachten<br />

wir noch miteinander, aber es fand kein gemeinsames Leben mit eigenen Inhalten<br />

mehr statt. Mir wurde deutlich, dass es eigentlich ja auch gar nicht<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 196 von 209


mehr um Alyssia ging, sondern primär um die Aufrechterhaltung dieses Ladens.<br />

Das Leben in unserem Haus hatte sich - vielleicht ein wenig übertrieben<br />

gesagt <strong>–</strong> zu einem Dienstleistungsunternehmen für das Bistro entwickelt. Zu<br />

Beginn war das ja auch völlig in Ordnung, um Alyssia und Lucien die Möglichkeit<br />

dafür zu bereiten, aber eine florierende Gaststätte musste doch in der<br />

Lage sein, sich selbsttragend zu organisieren. Es konnte doch nicht sein, dass<br />

sie das Geld zur Bank schleppten, und 6 ehrenamtliche Helfer eingesetzt wurden.<br />

Darüber hinaus müsste Alyssia wieder überwiegend zu Hause sein. Dass<br />

sie es konnte, hatte sie ja hinreichend unter Beweis gestellt, nur dazugelernt<br />

hatte sie nichts. Ich hatte noch mit niemandem darüber gesprochen, und wollte<br />

erst abwarten, was die Beratung mit Julienne und Lucien ergeben würde.<br />

Dass Alyssia nur noch an einem Tag in der Woche, am Freitag, ins Bistro kommen<br />

sollte, war schnell geklärt. Das Gespräch verlief völlig einvernehmlich, da<br />

Lucien meinen Ansichten voll zustimmte, und erklärte, dass er selbst diese<br />

Entwicklung für sich eigentlich nicht wolle. Es habe sich unreflektiert so entwickelt.<br />

Er würde jetzt alle Gedanken an Ausgestaltung, Perfektionierung und Erweiterung<br />

aufgeben, sondern sich mehr auf das inhaltliche konzentrieren. Es<br />

sei ja eigentlich ein literarisches Bistro, und dieser Aspekt sei bisher vernachlässigt<br />

worden. Er denke mehr an Lesungen und Diskussionen im Hinblick auf<br />

französische Literatur. Das läge ihm auch selbst viel näher, als immer wieder<br />

neue ungewöhnliche französische Spezialitäten zu besorgen. Darüber hinaus<br />

würde ihn die Diskussion über ein neues französisches Buch auch zu anderen<br />

Gedanken animieren als die Beschaffung eines speziellen Käses aus der Dordogne.<br />

Die Regelung des Personals ohne unsere ständigen Hilfseinsätze sei eine<br />

Selbstverständlichkeit, an die Lucien bislang nur noch nicht gedacht hätte. Wir<br />

hofften das Beste, und waren der Ansicht einen neuen guten Weg gefunden zu<br />

haben.<br />

Alyssia wieder zu Hause<br />

Dass Alyssia wieder überwiegend zu Hause war, bedingte auch meine Anwesenheit.<br />

Wir unternahmen alles gemeinsam, wobei den Einkäufen immer eine<br />

besondere Bedeutung zukam. Sie konnte die Schriftbilder aller Getränke des<br />

Bistros erkennen, warum nicht auch die der Lebensmittel zu Hause. Natürlich<br />

kein Problem, wir erstellten immer eine Einkaufsliste, mit der sie selbständig<br />

im Geschäft die Sachen zusammen suchte. Dass wir ein bestimmtes Produkt<br />

kauften, weil es besser schmeckte, war verständlich, aber wenn wir etwas<br />

kauften, weil es billiger war, obwohl das teurere viel schöner aussah, schien<br />

Alyssia nicht ganz zu verstehen. Sie hatte sich ja mit den Zahlzeichen auch<br />

gleichzeitig die Mengenvorstellungen angeeignet. Bis zu welchen<br />

Größenordnungen sie damit umgehen konnte, oder auch gleich die ganze<br />

Struktur des Zehnersystems durchschaut hatte, wusste k<strong>einer</strong>. Ich versuchte<br />

ihr zu Hause das Geld und die Preise zu erklären, und bekam ein leicht<br />

abschätziges, mitleidiges Lächeln. Sollte sie vielleicht alles längst kennen und<br />

k<strong>einer</strong> hatte es bemerkt, weil es ihr k<strong>einer</strong> beigebracht hatte. Ich fragte sie<br />

nach dem Lebensmittel, für das wir laut Kassenbon am meisten Geld bezahlt<br />

hatten. Ein zielsicherer Fingerzeig bestätigte meine Vermutung. Sollte sie im<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 197 von 209


Bistro also durch eigene Kombinationen doch etwas gelernt haben? Warum<br />

man nicht mehr bezahlen sollte, wenn etwas eine schönere Verpackung hatte,<br />

war für sie aber unerklärlich. Mehr oder weniger Geld schien ihr nichts zu<br />

bedeuten. Aber das verstand sie schnell am Beispiel der Einnahme und<br />

Ausgabemöglichkeiten <strong>einer</strong> Hilfskraft im Bistro, die sich zu guter Letzt noch<br />

ein Negligé für 160 € kaufen wollte, damit aber die die noch vorhanden Mittel<br />

aus ihrem Salaire weit überschritten hätte. Alyssia sann einige Zeit nach,<br />

bearbeite dann immer wieder die anderen Ausgaben, bis sie schließlich einen<br />

Weg gefunden hatte, der Auxiliaire doch noch zu ihrem Negligé zu verhelfen.<br />

Sie schaute mich mit einem überlegenen Lächeln, als wenn es nicht um das<br />

Wertverständnis von Geld ginge, sondern darum dass sie es geschafft hatte,<br />

der Auxiliaire ihr Negligé zu besorgen. Preisvergleiche und<br />

Einsparmöglichkeiten waren für die kommende Zeit ihr neues Hobby.<br />

Ich sprach mit ihr mal darüber, wie man sich anredet, ob mit Vornamen oder<br />

Nachnamen, und schrieb ihr dabei meinen Namen auf. Als ich Alyssia fragte, ob<br />

sie auch mal meinen Namen, <strong>Ruth</strong>, schreiben wolle, schrieb sie ihn ohne<br />

Zögern genauso schön, wie sie ihren eigenen Namen schrieb. Als ich sie lobte,<br />

bekam ich von ihr einen freudigen Kuss. Ob sie auch mal Camille schreiben<br />

wolle, selbstverständlich, und Julienne, natürlich. Sie war mächtig stolz, und<br />

hatte ja auch guten Grund dazu, denn bislang hatte sie ja nur ihren eigenen<br />

Namen geschrieben, ziemlich häufig zwar, aber nichts anderes. Jetzt schrieb<br />

sie aber nach der Vorlage und Zusehen beim Schreiben, als ob sie im zweiten<br />

Schuljahr sei. Wahrscheinlich nahm sie nicht nur die Bilder auf, sondern prägte<br />

sich auch die Schwünge der schreibenden Hand ein, sonst war es nicht zu erklären,<br />

warum sie plötzlich etwas konnte, das sie nie gelernt und auch nur ansatzweise<br />

geübt hatte. Als Camille aus der Schule kam, rannte sie sofort zu ihr,<br />

und führte ihr die neue Kunst vor. Nach dem Erstaunen darüber, das Alys Camilles<br />

Namen schreiben konnte, wurde auch noch '<strong>Ruth</strong>' und 'Julienne' geschrieben.<br />

Julienne bekam am Abend die gleiche Vorstellung. Wir hatten das<br />

gar nicht geübt oder wiederholt, und trotzdem konnte sie es Stunden später<br />

ohne jede Vorlage selbständig nachvollziehen. Das Namenschreiben bereitete<br />

mächtig Spaß. Alle Skype-Fotos erhielten jetzt neue Beschriftungen mit eigenhändig<br />

geschriebenen Namen. Wenn sie so gut schreiben konnte und nichts<br />

vergaß, würde sie doch auch alles mögliche Andere schreiben können. Selbstverständlich,<br />

das nächste Projekt war die Einkaufsliste, die sie bald auf Benennung<br />

von mir eigenhändig erstellte. Früher hatte es sie nicht gestört, dass im<br />

Geschäft überall etwas anderes draufstand, als auf unserem französischen Zettel,<br />

jetzt fiel ihr die Diskrepanz auf. Dass es französisch und deutsch gab,<br />

wusste sie natürlich längst, nur hatten wir in dieser Richtung nie etwas entwickelt,<br />

und Alyssia hatte auch nie irgendwo durch Interesse erkennen lassen,<br />

jetzt wollte sie aber die Einkaufsliste auf Deutsch schreiben können. Das Üben<br />

dafür fand sie immer wieder ungeheuer lustig.<br />

Alyssias Kummer<br />

Es schien Alyssia zu gefallen, die Woche über zu Hause zu sein und am Freitag<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 198 von 209


im Bistro Dienst zu tun. Trotzdem empfand ich ihr Verhalten verändert. Es war<br />

mir schon während der Zeit im Bistro aufgefallen, dass sie oft ruhiger wirkte,<br />

häufig in die Gegend starrte, als ob sie träume, oder einfach allein irgendwo<br />

saß, ohne etwas zu tun. Sonst hatte sie auch manchmal einfach nur dagesessen,<br />

bei Camille oder mir, aber jetzt saß sie öfter ganz allein in der Bibliothek<br />

und träumte. Damals hatte ich es mir damit erklärt, dass sie von der Arbeit erschöpft<br />

sei, und sich einfach ausruhe und erhole, aber seitdem sie nicht mehr<br />

im Bistro arbeitete, hatte es sich in k<strong>einer</strong> Weise verändert. Sie hatte früher<br />

häufig Spaß an kleinen Streichen mit mir gehabt, auch das kam nur noch sehr<br />

selten vor. Ihre früher frische Fröhlichkeit schien einen leicht melancholischen<br />

Touch bekommen zu haben, unabhängig davon ob sie im Bistro arbeitete oder<br />

nicht.<br />

Ich sprach mal mit den anderen darüber, und Camille bestätigte meinen Eindruck,<br />

hatte es nur von sich aus noch nicht zur Sprache gebracht. Einen möglichen<br />

Grund dafür, wusste niemand ausfindig zu machen. „Vielleicht hat sie Liebeskummer<br />

mit Lucien. Da ist man doch immer traurig.“ meinte Elias forsch,<br />

„Und es ihm sagen, oder mit anderen darüber sprechen, kann sie ja nicht.“ Unmöglich<br />

war das nicht, was Elias sagte. Wenn Alyssia irgendwo saß und träumte,<br />

hatte sie eine ernste Mine, und das bedeutete, dass sie eher an etwas Unangenehmes<br />

dachte, und dass ereignete sich im Laufe des Tages bei uns eigentlich<br />

nicht. Alyssia und ich saßen nebeneinander auf der Couch, und ich erzähle<br />

ihr etwas von Julienne und Andy, und dass ich mir schon mal überlegt<br />

hätte, ob Andy nicht später auch hier einziehen könne. Normalerweise hätte so<br />

etwas bei Alyssia Begeisterungsstürme ausgelöst, aber jetzt quittierte sie es<br />

nur mit einem freundlichen Lächeln, als ob es sie relativ cool lasse. „Du bist<br />

manchmal so traurig, Alyssia.“ sagte ich zu ihr, „Ist das wegen Lucien? Ist er<br />

nicht mehr so lieb zu dir?“ Ein ernstes Gesicht mit weit aufgerissenen erstaunten<br />

Augen starrte mich an. Ich interpretierte es so, als ob sie mich erschrocken<br />

fragte: „Woher weißt du das?“. Dann vergrub Alyssia ihr Gesicht an meinem<br />

Hals, wie wenn sie weinte, und drückte mich ganz fest dabei. Nach <strong>einer</strong> Weile<br />

nahm sie den Kopf hoch und lächelte mich an. Sie sprang auf meinen Schoß<br />

und setzte sich breitbeinig vor mich, streichelte mein Gesicht, küsste mich und<br />

schaute mich ganz liebevoll lächelnd an. Dann begann sie zu spielen, stupste<br />

meine Nase, kitzelte meine Ohrläppchen, und hatte deutlich Spaß daran. Eindeutig<br />

erklären konnte ich mir ihr Verhalten nicht, nur dass es in der Beziehung<br />

zu Lucien für sie ein Problem gab, war klar, ob ihre mir erwiesene Zuneigung<br />

ein Zeichen Alyssias war, wie sie sich freute, mich noch zu lieben, oder ob<br />

sie sich freute, das ich es wusste, war eher Spekulation. Als Lucien nach<br />

Hause kam, bat ich ihn in die Bibliothek und sprach ihn an: „Lucien es gibt ein<br />

Problem. Zwischen dir und Alyssia stimmt etwas nicht. Schon länger nicht. Was<br />

ist das. Erkläre es mir.“ Er schaute mich erstaunt an. Ob mehr wegen m<strong>einer</strong><br />

direkten Frage, oder weil er erstaunt war, woher ich es wusste, war nicht<br />

deutlich. Er antwortete nachdenklich zögernd: „Ja, ich weiß es nicht, aber das<br />

etwas anders ist zwischen uns, sehe ich auch so. Wir schlafen zwar immer<br />

noch miteinander, aber es hat sich irgendwie sehr verändert. Es kommt mir so<br />

vor, als ob alles ein bisschen trister geworden ist. Zum Beispiel hat Alys mich<br />

sonst hinterher mit freudigen Liebkosungen überdeckt, heute bekomme ich<br />

noch einen netten Gute-Nacht-Kuss, und sie dreht sich zum Schlafen zur Seite.<br />

Das hat sie früher nie getan, mir den Rücken zudrehen, außer wenn sie sauer<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 199 von 209


auf mich war. Ich weiß aber gar nicht, warum das so ist, und wodurch sich das<br />

dahin entwickelt hat. Es muss sich langsam so entwickelt haben, mir ist nur<br />

irgendwann mal bewusst geworden, dass es anders ist, als es zu Anfang war.<br />

Ich finde es zwar auch nicht schön so, nur mir fällt andererseits auch<br />

überhaupt nichts ein dazu.“ „Mir fällt schon etwas ein dazu.“ reagierte ich auf<br />

Luciens Darstellung, „Wenn ich schon höre, wie du sprichst 'Wir schlafen zwar<br />

immer noch miteinander.', dann impliziert das, aber möglicherweise nicht mehr<br />

lange. Und wenn es dann so kommt, wirst du es als gottgegeben hinnehmen,<br />

weil dir ja nichts einfällt dazu. Lucien, früher hätte dich so etwas in Panik<br />

versetzt, heute ist dir deine Beziehung zu Alyssia ziemlich beliebig. Was du<br />

machst ist Gewohnheitsrituale zelebrieren, aber mit Liebe hat das ja wohl<br />

nichts mehr zu tun. Auch wenn du dir selber rational darüber nicht im Klaren<br />

bist, meinst du denn Alyssia würde das nicht spüren, denkst du denn eine <strong>Frau</strong><br />

würde nicht merken, ob sie begehrt oder einfach nur so akzeptiert wird. Dazu<br />

brauchst du kein Wort zu sagen, du wirst es vor ihr nicht verbergen können,<br />

dass sie dir nicht mehr das bedeutet, was es früher einmal war. Wenn sie reden<br />

könnte, würde sie dir sagen, dass sie es so nicht will. Dass sie keinen<br />

Gewohnheitsficker will, sondern jemanden mit dem sie zusammen glücklich ist,<br />

und das ist sie ja wohl eindeutig nicht. Du machst sie nicht glücklich, Lucien,<br />

sondern traurig. Und das läuft so nicht. Auch wenn Alyssia volljährig ist, bleibt<br />

sie trotzdem meine Tochter, und es ist nicht nur meine Pflicht, sondern<br />

selbstverständlich für mich, sie vor Leid zu schützen. Ich hoffe, Lucien, du<br />

siehst das genauso wie ich, und machst dir Gedanken, ansonsten ist<br />

tatsächlich unsere Freundschaft gefährdet. Du siehst wie ernst mir das ist. Ich<br />

will jetzt keine Antwort hören, erwarte sie aber sehr bald von dir.“<br />

Später hat er mir mal erklärt, dass ich ihn darauf aufmerksam gemacht habe,<br />

dass er eigentlich wie ein Trottel von einen Tag zum anderen lebe, sich über die<br />

Zusammenhänge gar keine Gedanken mache, sich aber trotzdem noch<br />

großartig dabei vorkomme. Dass er sich einmal zu einem solchen Verhalten<br />

entwickeln könne, habe er früher für ausgeschlossen gehalten. Jetzt sagte er<br />

mir am nächsten Tag, dass er fast die ganze Nacht nicht habe schlafen können.<br />

Er habe über alles nachgedacht, auch oder besonders über ihre früheren<br />

gemeinsamen Gespräche über Liebe, und könne nicht nur Alyssia gut verstehen,<br />

sondern wenn er bei Besinnung wäre, müsse er eigentlich, auch in Bezug<br />

auf sich selbst, den derzeitigen Zustand für unerträglich halten. Ein weiter so<br />

sei für ihn indiskutabel, er glaube aber schon, dass er Alyssia noch liebe, auch<br />

wenn er sich derzeit überhaupt nicht so verhalte. „<strong>Ruth</strong>, ich will Alyssia und will<br />

sie auch nicht verlieren.“ sagte er und begann zu weinen, „Sie war und ist meine<br />

Traumprinzessin, nur ich dummes Arschloch scheine es vergessen zu haben.<br />

Als ich deutsch gelernt habe, war alles in Ordnung, wenn ich studieren würde,<br />

wäre das sicher kein Problem, nur dieser dämliche Laden scheint aus mir einen<br />

Menschen gemacht zu haben, den ich eigentlich selbst nicht ausstehen kann.<br />

Ich will absolut, dass es anders wird, und dazu muss ich raus aus dem Bistro.“<br />

„Lucien, wenn man dich angestoßen hat, bist du immer auf gute Ideen und zu<br />

klugen Entscheidungen gekommen.“ erwiderte ich ihm, „Wenn du hier jetzt von<br />

heute auf morgen das Bistro aufgibst, und mit etwas anderem beginnst, dann<br />

stelle ich mir die Situation nicht plötzlich als rosig für euch vor. Auch wenn du<br />

wieder ein anderer Mensch werden möchtest, wirst du es nicht mit deinem<br />

Beschluss für Alyssia auf einmal sein. Ich denke, dass eine Zeit für euch in<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 200 von 209


<strong>einer</strong> anderen Umgebung am besten wäre, wenn ihr zum Beispiel mal Urlaub<br />

machen würdet, bis ihr beide wieder glückliche <strong>–</strong> und vernünftige - Menschen<br />

seid. Kannst du nicht deinen Freund Gérald als Verwalter einstellen, du hast<br />

mir doch mal gesagt, dass er eine Stelle sucht, und du ihn mit dem<br />

Spezialitäten Geschäft betrauen wolltest. Bezahlen kannst du ihn doch sicher<br />

locker, und wenn ihr wiederkommt macht er es weiter, während du dich um<br />

etwas anderes kümmerst. Dann ist auch unser aller Traum, das schöne Bistro,<br />

nicht zerstört, sondern bleibt bestehen und gehört euch weiter. Das Bistro ist<br />

und bleibt schließlich ein toller Laden, nur welche Folgen es für euch beide<br />

haben würde, konnte ja niemand vorausahnen.“ Obwohl Lucien das Bistro im<br />

Moment ein wenig hasste, weil er es für seinen Zustand verantwortlich machte,<br />

fand er es richtig, es zu erhalten. Die Vorstellung mit dem Urlaub gefiel ihm,<br />

und dass Gérald Laguerin, sein Freund, sich über nichts mehr freuen würde, als<br />

Chef des Bistros zu sein, stand für ihn fest. Lucien meinte es sei am besten,<br />

nach Combaillaux in Urlaub zu fahren. Dort hätten sie ihre schönsten Zeiten<br />

miteinander verbracht, und er könne sich nicht vorstellen, dass sie da nicht<br />

wieder ein anderes Verhältnis zueinander bekommen würden.<br />

Urlaub für Lucien und Alyssia<br />

Als wir Alyssia davon erzählten, machte sie jedoch ein skeptisches Gesicht. Sie<br />

umarmte mich, und es wirkte, als ob sie sich an mir festhalten wollte. So hatte<br />

es keinen Sinn. Ich führte ein längeres Gespräch mit Alyssia über Lucien, und<br />

dass er sie sehr liebe und wolle, dass es wieder so werde wie früher. Ich erzählte<br />

ihr Geschichten von früher aus Combaillaux, wie sie sich geliebt hatten,<br />

und wie sich ihre Liebe entwickelt hatte. Bei Wein und Käse in der Bibliothek<br />

hörte sie mir gespannt zu. Es gab oft etwas zu lachen, und wenn ich etwas erzählte,<br />

das ihr besonders gefiel, bekam ich ein Küsschen. Ob Lucien ihr nie etwas<br />

darüber berichtet hatte, aber früher verstand sie ja auch vieles nicht so<br />

einfach. Ich sagte ihr auch, dass sie erst mit ihm geschlafen habe, als sie sich<br />

sicher gewesen sei, dass er sie sehr, sehr liebe. Vorher hätte sie es nicht gemacht,<br />

auch wenn sie davon geträumt habe. Das fand Alyssia zum Beispiel<br />

sehr aufregend und lustig. Ich erklärte ihr, dass Lucien extra deshalb mit ihr<br />

nach Combaillaux fahren wolle, weil er sich wünsche, dass es wieder so werden<br />

würde wie früher. Wenn sie sich das auch wünsche und vorstellen könne, sei<br />

das eigentlich keine schlechte Idee. Als Zeichen dafür, das Alyssia es auch so<br />

sah, wurde ich geküsst, gedrückt und mit strahlendem Gesicht gestreichelt.<br />

Lucien gab ich noch den guten Rat, Alyssia mehr von früher zu erzählen, sie<br />

höre das sehr gerne, und er habe da bisher anscheinend viel versäumt. Sie<br />

hatten den Berlingo voll gepackt mit allem Möglichem, weil unten ja kaum<br />

etwas vorhanden war. Vor allem durften auf keinen Fall die Nachthemden<br />

vergessen werden, von denen Alyssia mittlerweile eine beträchtliche Anzahl<br />

besaß. Sie, die sonst nie eins trug, hatte sich zu <strong>einer</strong> richtigen Négligé<br />

Fetischistin entwickelt, deren Sammlung bereits ein kleines Vermögen wert<br />

war.<br />

Nach drei Tagen waren sie angekommen, und hatten als erstes den Laptop angeschlossen,<br />

um skypen zu können. Sie saßen immer beide vor der Kamera<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 201 von 209


und Lucien erzählte, was sie gemacht und erlebt hatten und Alys kommentierte<br />

durch ihre Mimik. Es war ein idyllisches Bild von Anfang an, als ob alles wie<br />

früher wäre. Lucien berichtete mir allerdings am Telefon darüber, dass Alyssia<br />

ihn manchmal rauswerfe, beziehungsweise ihn gar nicht erst in ihr Zimmer lasse.<br />

Beim ersten mal habe sie ihn hinausgeführt und zum Bett im Gästezimmer<br />

gebracht, jetzt winke sie nur noch mit der Hand, wenn ihr Bett für ihn in dieser<br />

Nacht tabu sei. Warum genau, wisse er nicht, aber er vermute, dass es dann<br />

geschehe, wenn seine Gespräche oder sein Verhalten kein Verlangen nach ihm<br />

in ihr weckten. Wenn es schon vorher sehr nett gewesen sei und sie sich liebkost<br />

hätten, sei er noch nie abgewiesen worden. Er müsse sich richtig um ihre<br />

Gunst bemühen, sonst könne er die Nacht im Gästezimmer verbringen. Auch<br />

sonst sei sie die absolute Chefin, aber es sei schön und sehr lustig. Bis aufs<br />

Autofahren sei sie völlig selbständig. Schreibe auf, was sie einkaufen wolle,<br />

und gebe den Zettel ab. Sie hebe selbst Geld von ihrem Konto ab, wenn das<br />

Portemonnaie leerer würde, sei bestimmt die beliebteste Person im ganzen<br />

Dorf, und überall führe man jetzt Henri Ledoux Wein sans alcool. Sie besuchten<br />

alle Bekannten, luden sie zu sich ein und machten auch Ausflüge zu bekannten<br />

Orten in der Umgebung. Lucien war der Ansicht, dass es nicht mehr zutreffe,<br />

dass sie sich für die Umgebungen nicht interessiere. Wenn er ihr etwas dazu<br />

erzähle, was ihr Interesse wecke, schaue sie sich alles sehr genau an.<br />

Mittlerweile waren sie schon seit drei Monaten weg, und der Urlaub dauerte<br />

immer noch an. Zunächst erklärte Lucien, sie brauchten noch ein wenig Zeit,<br />

als ich sie aber dann mal besuchte, meinte er, dass er eigentlich gar keine Lust<br />

habe, zurück zu kommen, es sei hier alles viel schöner für sie geworden, als es<br />

in Hamburg jemals gewesen sei, und wenn er es mit Alyssia mal anspreche,<br />

wolle sie es auch nicht. Es sei für sie nicht nur eine schöne Zeit, die sie verbracht<br />

hätten, sondern eine Lebensweise, die sie nicht aufgeben möchten. Sie<br />

möchten die vielen Bekannten und Freunde die sie hier hätten, nicht einfach<br />

zurücklassen, es finde hier ein anderes Leben statt. In Hamburg habe man<br />

Alyssia und ihn bewundert, hier wolle man sie zu Freunden haben, und das sei<br />

eben doch wesentlich mehr wert und angenehmer, vor allem aber schütze es<br />

vor unheilvollen Entwicklungen. Also würden wir in Zukunft damit rechnen<br />

müssen, dass sie uns nur noch im Urlaub oder zu besonderen Anlässen würden<br />

besuchen kommen. So war, was ich für unmöglich gehalten hatte, über viele<br />

Umwege und Zufälle doch Realität geworden. Mademoiselle Alyssia lebte wieder<br />

selbständig in ihrem Haus in Combaillaux und freute sich über uns als ihre<br />

Gäste.<br />

Die neue Zeit ohne Alyssia<br />

Als Alyssia damals nach Frankreich zum Studieren zog, hatte mir ihr Abschied<br />

und die Vorstellung eines Lebens ohne sie Angst bereitet, jetzt war sie einfach<br />

verschwunden. In Urlaub gefahren, und nicht zurück gekehrt. Zunächst war es<br />

für mich selbstverständlich, dass sie zurückkehren, und wieder hier leben würde,<br />

aber auch jetzt umgaben mich eher glückliche Empfindungen für sie, als<br />

Trauer darüber, dass meine Tochter, für die ich mich bis an mein Lebensende<br />

meinte kümmern zu müssen, nicht mehr bei mir war. Ich glaube, dass ich<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 202 von 209


Alyssia damals viel stärker für mich selbst brauchte, dass sie für mich ein wichtiger<br />

Bestandteil meines eigenen Glücks war, um das ich fürchtete, wenn sie<br />

fort wäre. Heute viel es mir leichter, mich über ihr Glücklichsein zu freuen, und<br />

daraus selber Genugtuung zu schöpfen. Ich hoffte sogar, dass es niemals mehr<br />

einen Grund geben würde, aus dem sie wieder dauerhaft zurückkehren müsse.<br />

Natürlich fehlte sie uns. Selbstverständlich hätten wir sie lieber hier gehabt.<br />

Sie war schließlich für Jahre ein Focus des Lebens in unserem Haus gewesen,<br />

aber wir alle hatten es uns abgewöhnt, das Fehlende zu betrauern, sondern<br />

uns über neuerliche Zusätze zu freuen, und für alle war es klar, dass Alyssia<br />

und Lucien ein so erfülltes Leben hier nicht würden führen können. Auch Julienne,<br />

die extra ihretwegen begonnen hatte, deutsch zu lernen und zu studieren,<br />

um in ihrer Nähe in Hamburg sein zu können, war keineswegs enttäuscht,<br />

und dachte auch überhaupt nicht daran, wieder nach Frankreich zurückzukehren.<br />

Sie lebte nämlich glücklicher als je zuvor mit Andy zusammen, der mittlerweile<br />

auch bei uns wohnte. Wir hatten wieder mal umgebaut, und aus den<br />

überflüssigen Räumen im Erdgeschoss Fremdenzimmer gemacht, so dass sie<br />

drei Räume im Dachgeschoss und zwei in der ersten Etage zur Verfügung hatten.<br />

Also wohnte meine Frühlingsknospe mit s<strong>einer</strong> von uns beiden verehrten<br />

Freundin jetzt auch bei uns im Haus. Ich hatte zwar kein Büro mehr, aber zum<br />

Tasche abstellen konnte ich ja auch Ralfs Arbeitszimmer benutzen, auch wenn<br />

es durch den zweiten Schreibtisch sowieso schon ein wenig voller geworden<br />

war. Andy selbst war jetzt mit der Zusage seinen Fachanwalt machen zu wollen,<br />

voll bei uns eingestiegen. Selbstverständlich sollte er dann unsere Südostasien<br />

Abteilung leiten, die er ja ganz allein praktikabel entwickelt hatte,<br />

auch wenn der Aufwand sich im Moment noch nicht rentierte. Eingerichtet hatte<br />

sich Julienne in Combaillaux allerdings auch wieder, denn einfach mit Andy<br />

am Wochenende oder für einige Tage ohne viel Gepäck, zu Alyssia und Lucien<br />

fahren zu können, war für alle Beteiligten ein wunderbares Erlebnis. In ihrem<br />

Urlaub wohnten die beiden auch immer in Combaillaux, und starteten von dort<br />

aus kl<strong>einer</strong>e oder größere Unternehmungen. Zwei Gästezimmer hatten Lucien<br />

und Andy sich als ihre Privaträume eingerichtet, dadurch war es für Besuche<br />

bei ihnen wieder so eng wie früher geworden. Wenn mehr als zwei Personen<br />

kamen, mussten sie außerhalb übernachten. Als Julienne berichtete, dass ein<br />

Nachbarhaus frei werde und verkauft werden solle, war mein erster feuriger<br />

Gedanke, es sofort zu kaufen. Es war sogar ein wenig größer als Juliennes und<br />

Alyssias Haus, dafür aber im Laufe der Jahre arg verschandelt worden, obwohl<br />

es auch über eine relativ idyllische Grundsubstanz verfügte. Mir kamen Zweifel<br />

auf, ob es überhaupt angenehm für die beiden wäre, wenn Mamon und ihr<br />

Freund direkt im Nebenhaus wohnten, und mir war selber ein wenig unwohl bei<br />

der Vorstellung, mich in ihre Nähe drängen zu wollen, was ich für mich selber<br />

ja gar nicht brauchte. Andererseits hätten Julienne und Alyssia dann auch<br />

wieder mehr Freunde übernachten lassen können. Vielleicht wäre es eine<br />

Lösung, dass Ralf und ich das Haus nicht alleine kauften, sondern mit Camille<br />

und Christoph zusammen. Ja, so könnte es auf vielfältige Weise für alle<br />

genutzt werden, und hatte nicht so einen eventuell leicht unangenehmen<br />

Beigeschmack. Das wollte ich mit Camille besprechen, und hoffte, sie<br />

begeistern zu können. Das geschah auch schnell. Am meisten freute sie die<br />

Tatsache, wieder gern in Frankreich wohnen zu können, und sogar noch in<br />

einem eigenen Haus, von dem aus jeden Tag das Mittelmeer zu erreichen sei.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 203 von 209


Sie bekam wässrige Augen und meinte: „Das ist die letzte Stufe der<br />

Überwindung all m<strong>einer</strong> Kränkungen, die ich hier erfahren, und m<strong>einer</strong><br />

Schmerzen, die mir hier zugefügt wurden. Sie bedeuten mir nichts mehr, ich<br />

weiß es zwar noch und werde es natürlich auch nie vergessen, aber es tut<br />

nichts mehr weh, nie, überhaupt nichts. So wieder zurückkehren zu können, ist<br />

ein Traum für mich, den ich nie geträumt habe, weil mir das als eine irre<br />

Illusion erschienen wäre. Und <strong>Ruth</strong>, ich weiß dass du es nicht gerne hören<br />

willst, aber immer hat es wieder mit dir zu tun, um es mal so neutral wie<br />

möglich zu sagen.“ Wir umarmten uns und Camille fügte noch scherzhaft<br />

hinzu: „Wenn Christoph nicht auch begeistert ist, werde ich ihn so lange<br />

foltern, bis er es ist.“ Ich musste jetzt so schnell wie möglich in Combaillaux<br />

alles klären. Die Freude darüber, dass wir gemeinsam das Haus kaufen wollten,<br />

und sie es natürlich auch nutzen konnten war groß. So konnten wir auch hier<br />

wieder 'Familientreffen' veranstalten, ohne dass Alyssia und Lucien dazu nach<br />

Hamburg reisen mussten. Der Architekt aus Hamburg, der den Umbau planen<br />

sollte, verstand meinen Hinweis, dass wir keine gestylte südfranzösische<br />

Dorfromantik wollten, sondern ein möglichst natürliches Ambiente,<br />

selbstverständlich mit moderner Technik. Es wurde sehr angenehm, und alle<br />

empfanden es als absolut gelungen. Für die Kosten hätten wir allerdings<br />

bequem ein neues bauen können. Mir war es wichtig, dass Camille und<br />

Christoph jetzt auch tatsächlich die Hälfte dazu beitrugen, damit Camille nicht<br />

wieder das Gefühl bekam, von mir hilfreich unterstützt zu werden, und mir<br />

dafür dankbar sein zu müssen. Ob es für sie finanziell einfach war, wusste ich<br />

nicht, zumindest schien es für sie von völlig untergeordneter Bedeutung. Zum<br />

Einzug mit anschließender Familienparty hatten wir Alyssias Abendrobe<br />

mitgebracht, die sie ja bislang hier nicht gebraucht hatte. Es wurde ein<br />

exotisch wirkender Ball, wie eine Hochzeitfeier für alle Unverheirateten, und<br />

das waren ja schließlich außer Camille und Christoph alle. In den gemeinsamen<br />

Ferientagen hier, gefiel es uns so gut, das wir am liebsten alle hier geblieben<br />

wären. Dass die beiden, Lucien und Alyssia, nicht wieder nach Hamburg zurück<br />

wollten, konnte jeder nachempfinden.<br />

Meine Tochter liest und schreibt wieder<br />

Alyssia konnte jetzt auch fast alles schreiben. Keine langen Texte oder Berichte,<br />

meist waren es kurze Antworten, Hinweise, Wünsche oder Erklärungen. Angefangen<br />

hatte es damit, dass sie es sehr lustig fand, nicht nur Namen oder<br />

Bezeichnungen aufschreiben zu können, sondern auch Tätigkeiten, wie 'geh<br />

einkaufen', 'geh schlafen', 'trink den Kaffee' oder ähnliches. Ziemlich freche<br />

Sprüche gefielen ihr besonders gut. So musste Lucien damit rechnen, von ihr<br />

Zettel zu bekommen, auf denen etwa stand 'Halt die Klappe.' Meist waren sie<br />

allerdings mit bewusst provozierender Absicht verfasst, und sie hatte ihre helle<br />

Freude daran, wenn sie Lucien damit schockieren konnte. Es war allerdings<br />

nicht immer nur Spaß, sie konnte auch ernstes verfassen und leicht zynisch<br />

sein. Als sie Lucien einmal ihr Bett für die Nacht versagt hatte, bekam er einen<br />

Zettel mit dem Text: „Nicht weinen, morgen.“ Sie wollte ihn wieder zurück haben,<br />

und fügte ein „Vielleicht“ hinzu. Über schwierige Zettelkommunikation<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 204 von 209


hatte Lucien auch erfahren, warum sie ihn manchmal aussperrte. Es reiche<br />

nicht, dass er gern mit ihr schlafen wolle, sie selbst müsse es auch wollen, nur<br />

nett finden, dann wolle sie es nicht, dann freue sie sich nicht darauf, und habe<br />

keine Lust.<br />

Ich animierte Lucien, sie dahin zu bringen, dass sie auch mal kleine Briefe<br />

schreiben könnte. Dann könne sie mir zum Beispiel E-Mails schicken und selbständig<br />

Fotos zu senden. Nach vielen kleinen Einzeletappen konnte sie es. Sie<br />

schrieb es sich immer zuerst mit der Hand auf, und tippte es dann ins E-Mail-<br />

Formular. Sie war so stolz und gespannt auf die Reaktion, dass sie gar nicht<br />

völlig ernst bleiben konnte, und ihre ersten Briefe, kurios, lustig und süß waren.<br />

Im ersten Brief schrieb sie: „Lucien ist heute böse zu mir gewesen. Er hat<br />

meinen Wein getrunken. Lucien ist heute auch lieb gewesen. Er hat die Wäsche<br />

gemacht. Ist Lucien ein guter Freund für mich?“ Die Antworten interessierten<br />

sie brennend, und Lucien musste sie sofort vorlesen, denn Lesen hatte sie über<br />

ihre eigene Schreibkompetenz hinaus nie interessiert. Durch die eigenen E-<br />

Mails, veränderte sich das natürlich auch schnell. Jetzt bekam ich fast jeden<br />

Tag eine neue E-Mail von Alyssia, und sie wurden rasend schnell besser und<br />

kompetenter. Einmal schrieb sie mir: „Ich weiß noch sehr viel, aber leider kann<br />

ich nicht alles schreiben vielleicht bald. Lucien hilft mir sehr gut.“ Einmal bekam<br />

ich eins ihrer Gedichte zugeschickt mit der Erklärung: „Kennst du es? Es<br />

ist ein Gedicht, dass ich vor meinem Unfall geschrieben habe. Gefällt es dir?“<br />

Natürlich kannten wir alle Gedichte, die meisten sogar auswendig, Nur Alyssia<br />

hatte über das Lesen m<strong>einer</strong> E-Mails auch wieder Interesse an anderen Texten<br />

gefunden. Als Lucien das auffiel, hatte er sie zunächst für ihr eigenes Büchlein<br />

interessiert, in dem sie jetzt Tag für Tag studierte, und Lucien um Erklärungshilfen<br />

bat, die er noch teilweise von ihr selbst früher kannte. Warum sie denn<br />

nicht anderen Leuten auch E-Mails schreibe, so könne sie doch wieder mit ihnen<br />

reden, genügend kompetent dafür sei sie doch mittlerweile. Langsam entfaltete<br />

sich ein neuer Zauber. Alyssia konnte wieder reden, und ihre Texte waren<br />

schon schnell keine reinen Berichte mit lustigen Grüßen mehr, sondern gingen<br />

häufig tiefgreifenden Gedanken nach, wobei sie immer einen Weg fand,<br />

den Empfänger mit ihren Darstellungen zu erfreuen. Bald las sie auch nicht<br />

mehr nur ihre eigenen Gedichte, sondern als Lucien ihr erzählte, dass sie früher<br />

die Gedichte von Baudelaire sehr bewundert und gemocht habe, wurden<br />

die als nächstes erforscht. Dadurch dass sie sehr viel schreiben musste, wenn<br />

sie sich mit Lucien unterhalten wollte, war auch ihre Schrift schnell und flüssig<br />

geworden. Alyssia hatte immer Blöcke zum Schreiben dabei, und konnte sich<br />

so überall leicht verständlich machen und mit allen diskutieren. Lucien meinte,<br />

es unterscheide sich kaum von früher, nur dass er ihre Meinung jetzt nicht<br />

mehr zu hören bekäme, sondern sie lesen müsse. Sie verbiete ihm auch nicht<br />

mehr ihr Bett, sondern bekäme es rechtzeitig genug mitgeteilt, wenn Alyssia<br />

etwas an ihm störe. Mit Lesen und Schreiben waren Alyssias Tage ausgefüllt,<br />

so dass Lucien sich fast allein um alles Übrige kümmern musste.<br />

Natürlich waren Alyssias E-Mails nicht nur bei uns im Haus Gesprächsstoff,<br />

manche wollten es gar nicht glauben und hielten es zunächst für einen Fake,<br />

bis ich ihnen die Echtheit bestätigen konnte. Torsten hatte auch eine E-Mail bekommen,<br />

und war sehr gerührt. Sie hatte ihm dafür gedankt, wie er mit dazu<br />

beigetragen habe, dass sie jetzt so glücklich leben könne. Er solle sie doch unbedingt<br />

besuchen kommen, und solle Omi Sylvia mitbringen, sie habe große<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 205 von 209


Sehnsucht nach ihr. Genaue Pläne ihres Wohnorts und Fotos habe sie beigefügt.<br />

Geschlossen habe sie mit dem deutschen Satz: „Leider spreche ich kein<br />

Deutsch, nur mein Liebster.“ Auch Lucille hatte zunächst gezweifelt, ob der<br />

Brief tatsächlich von Alyssia sei, oder Lucien versucht habe ihre Gedanken<br />

nachzuempfinden. Sie habe geschlossen mit der Bemerkung „Liebe Lucille, ich<br />

möchte dir noch so unendlich viel erzählen und von dir hören. Ihr müsst uns<br />

sobald ihr es eben ermöglichen könnt, besuchen kommen. Aber sag deinem<br />

Mann Henri, er soll uns vorab schon 6 Kartons Wein von jeder Sorte, mit und<br />

ohne Alkohol, schicken, wir vertrocknen bald.“. Ich erklärte Lucille, wie Alyssia<br />

sich dahin entwickelt habe, und sie wollte sofort hin fahren. Wenn Henri Probleme<br />

mache, würde sie eben alleine fahren. Ginette Mercier habe dem Professor<br />

eine E-Mail von Alyssia gezeigt. Der habe gedankenverloren reagiert, und<br />

gesagt, ich war damals erstaunt dass alles so gut funktioniert hat, aber wenn<br />

es einen Gott gibt, dann hat er uns damals sicher beigestanden, dieses wundervolle<br />

Leben zu erhalten. Erklärlich sei es für ihn nicht, wie sie bei diesen<br />

Verletzungen wieder so wunderbar formulieren könne.<br />

Damals hatte Alyssia Französisch gelernt, vornehmlich über die Beschäftigung<br />

mit französischer Literatur, jetzt lernte sie Schreiben und Formulieren durch<br />

das Lesen von französischen Gedichten.<br />

Alyssias Besuch in Hamburg<br />

Als sie uns wieder in Hamburg besuchen kamen, interessierte sie jetzt natürlich<br />

auch die Bibliothek wieder, nur war das meiste eben auf deutsch. Sie<br />

meinte: „Ich sollte eigentlich wieder deutsch lernen. Ich kann ja nur deutsche<br />

Einkaufszettel schreiben, und das reicht nicht mal dafür, dass ich meine eigenen<br />

deutschen Gedichte verstehen kann.“ Natürlich las sie nicht mehr nur Gedichte,<br />

und Flaubert war ihr nicht mehr nur vom Namen bekannt. Sie hatte damit<br />

begonnen 'L'Éducation sentimentale' zu erforschen und konnte sich endlos<br />

mit Camille unterhalten. Sie liebte die Geschichten von aus der Zeit vor ihrem<br />

Unfall, und wir brannten natürlich darauf, von ihr Erklärungen für ihr Verhalten<br />

zu bekommen und zu erfahren, wie sie ihre eigenen Motivationen begründete.<br />

„Ich weiß nicht viel, weil ich gar nicht darüber nachdenke.“ schrieb Alyssia auf.<br />

Die Bücher in der Bibliothek zum Beispiel seien ihr wie ein Land mit verschlossenen<br />

Türen, die sie nicht habe öffnen können, erschienen, und daran habe<br />

man dann kein Interesse, das gelte ja schließlich für alle Menschen. Warum<br />

solle sie sich bemühen, sprechen zu lernen, wenn sie wisse, das sie es nie können<br />

werde. Es mache sie nicht traurig, wenn sie unverbrüchlich Feststehendes<br />

nicht ändern könne, sie habe mehr Interesse daran, das Mögliche glücklich genießen<br />

zu können. Wenn jemand sage, schau mal, die Arme kann nicht sprechen,<br />

dann sage das sehr viel über denjenigen selbst aus. Er sei nämlich nicht<br />

in der Lage wahrzunehmen, dass sie sich sehr wohl fühle und glücklich sei, und<br />

jemand der so etwas nicht bemerken könne, sei bestimmt eher zu bedauern<br />

als sie. Auch dass sie niemanden berühren könne, sei nicht etwas, worüber sie<br />

sich Gedanken mache und überlege, wie sie es ändern könne. Sie habe keine<br />

Lust, ständig darüber traurig zu sein, dass sie ihre Freundinnen nicht mehr<br />

umarmen könne, ihr gefalle es besser, trotzdem zusammen glücklich zu sein<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 206 von 209


und Freude zu haben. Nur so mache es Spaß und zeige vielleicht <strong>Wege</strong> auf, die<br />

einen dahin führen könnten, für verschlossen gehaltene Türen, doch noch geöffnet<br />

zu bekommen. „Als ich in der Klinik wach wurde,“ schrieb Alyssia, „war<br />

es für mich eine Geburt. Dieses neue Leben will ich leben. Ich will nicht leben,<br />

um ein früheres zurückzuholen, das ich nicht einmal kenne. Ihr habt mir alle<br />

sehr viel dabei geholfen, dass ich heute glücklich sein, und sogar wieder über<br />

den Stift mit euch sprechen kann. Ganz, ganz großen Dank und nie endende<br />

Liebe dafür.“ Ein neues Leben mit Alyssia hatte begonnen, seit die Kommunikation<br />

mit ihr nicht mehr auf die Interpretation ihrer Mimik beschränkt war. Sie<br />

war nicht mehr die, um deren Wohlergehen wir uns kümmern mussten, sonder<br />

sie machte Vorschläge, hatte Ideen, dachte sich Lustiges aus, was wir machen<br />

könnten, auch wenn sie nur für wenige Tage in Hamburg war. Immer wieder<br />

wurde mir deutlich, das sie die von mir so geliebte Tochter geblieben war, eine<br />

liebevolle sensible junge <strong>Frau</strong>, die aber ihre Entscheidungen traf, nach dem,<br />

was sie für sich selbst als richtig erkannt hatte. Bevor sie zurückfuhren schrieb<br />

Alyssia zum Abschied: „Meine geliebtesten <strong>Frau</strong>en wohnen alle in meinem Zuhause,<br />

und ich fahre weg, um anderswo zu leben. Eine perverse Situation.<br />

Trotzdem glaube ich, dass es besser so ist. Ich bin auch nicht traurig, weil ich<br />

weiß, dass wir uns oft besuchen werden, und uns schreiben, was unsere Herzen<br />

und Gedanken bewegt.“<br />

Haus der drei Freundinnen<br />

Nun lebte ich mit den <strong>Frau</strong>en zusammen, die Alyssia zu ihren Freundinnen gemacht<br />

hatte, und die es liebten Alyssia zur Freundin zu haben. Jetzt waren sie<br />

auch meine eigenen besten Freundinnen. Nicht weil ich es etwa schön gefunden<br />

hätte, Alyssias Freundinnen auch gern zu mögen. Unsere Freundschaften<br />

hatten ihre eigene Geschichte. Camille, die sich in vielen Bereichen aufgegeben,<br />

hatte, weil sie sich dazu nicht mehr in der Lage wähnte, Julienne, die ein<br />

Bild von sich malte, das ihr nicht entsprach, und dass sie oft verzweifeln ließ,<br />

beiden war deutlich geworden, dass sie die Vorstellungen und Einschätzungen<br />

anderer übernommen, und sie zu ihren eigenen erklärt hatten. Sie hatten in<br />

unseren gemeinsamen Beziehungen gelernt, ihre eigenen Einschätzungen und<br />

Empfindungen zu mögen, und sie für wertvoll und richtig zu halten. Sie hatten<br />

in ihren Erfahrungen stets Bestätigung gefunden, und konnten ein selbstsicheres,<br />

selbstbewusstes glückliches Leben führen.<br />

Vielleicht hatten sie das wiedergefunden, was kleine Kinder zunächst alle haben,<br />

das Gefühl, dass ihre Empfindungen und Ansichten richtig und berechtigt<br />

sind. In der Regel wird ihnen das schnell abgewöhnt. Sie lernen, dass ihre Intentionen<br />

falsch seien, und die anderer richtig, weil sie Erwachsen sind, weil sie<br />

schlauer sind, weil sie Personen sind, die zu bestimmen haben, und so weiter.<br />

Was sie dabei einprägsam lernen ist, sich selbst nicht zu glauben und zu<br />

vertrauen, sondern anderen meistens unverstanden Einschätzungen mehr zu<br />

vertrauen, als sich selbst. Die Kunst des Zweifelns an sich selbst, wird meist<br />

schon in den frühkindlichen Bahnen der Hirne kl<strong>einer</strong> Kinder fest verankert. Bei<br />

Alyssia hatte ich keine begründeten pädagogischen Absichten, es gefiel mir<br />

einfach, dass dieses kleine Fräulein etwas noch lange nicht tat, weil ich es woll-<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 207 von 209


te oder die Omi es schön gefunden hätte, sie musste es für sich selber akzeptieren<br />

können, und sie verhielt sich so, als ob dies ihr selbstverständlich gutes<br />

Recht sei. Ich fand es wundervoll, und wollte dieses Verhalten auf keinen Fall<br />

stören. Ich scherzte damals, dass es daran läge, dass sie Alyssia heiße, und<br />

damit Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit in ihr festgelegt seien. Es ist<br />

aber wohl zunächst bei allen Kindern so, wird ihnen nur sehr schnell abgewöhnt.<br />

Alyssia hat ja nie irgendwelche Probleme gehabt. Im Gegenteil, ihr war<br />

ständig daran gelegen, etwas genau zu verstehen, dann war es ihre eigene Sache.<br />

Wenn ich ihr etwas so erklären konnte, dass es für sie verständlich und<br />

akzeptabel war, nahm sie es auch für sich an. Das fordere ich bis heute selbstverständlich<br />

auch für mich selbst, und nicht anders ist es bei Camille und Julienne.<br />

Niemand von uns wird gegen seine eigenen Empfindungen und Entscheidungen<br />

handeln, nur weil es der liebe Christoph, Ralf oder Andy gern so möchten.<br />

Wir <strong>Frau</strong>en haben gelernt zu wissen, dass unsere empfundenen Entscheidungen<br />

richtig sind, und setzen sie auch um. Der größte Fehler, sich selbst<br />

nicht zu glauben, kommt bei den <strong>Frau</strong>en in unserem Hause nicht mehr vor.<br />

Vielleicht verbindet uns das auch mit m<strong>einer</strong> Tochter, die seit ihrer Geburt nie<br />

anders gedacht und empfunden hat, es auch in ihrem zweiten Leben nie tat,<br />

und damit selbst größte Schwierigkeiten glücklich überwunden hat.<br />

FIN<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 208 von 209


L'amour sumonte tout.<br />

Beim nächsten Elternsprechtag saßen<br />

wir beide uns an einem kleinen Schultisch<br />

gegenüber. Wir blickten uns<br />

spöttisch lächelnd an, und Ralf begann<br />

formelhaft etwas von Alyssia<br />

vorzutragen. „Ralf, hörst du mal bitte<br />

auf, so einen Stuss zu reden!“ stoppte<br />

ich ihn. „Was sollen wir denn machen?“<br />

fragte er hilflos. Ich war aufgestanden,<br />

zu ihm rüber gegangen und forderte<br />

ihn auf: „Steh bitte auf, so kann man<br />

doch nicht sitzen.“ Wir standen uns<br />

direkt gegenüber, und sahen uns in die<br />

Augen. „Weißt du was der Schülerin<br />

Alyssia Stein am aller besten helfen<br />

wird, wenn du jetzt sofort und unverzüglich ihre Mutter küsst.“ erklärte ich. Er<br />

atmete tief, schaute mich mit großen Augen an, und zog mich zu sich. Obwohl<br />

ich es für mein offizielles Selbstverständnis immer abgestritten hätte, aber<br />

jetzt ging für mich ein kl<strong>einer</strong> Traum in Erfüllung. Ich presste mich an ihn, und<br />

rieb mich an seinem Körper. Ralf begann an m<strong>einer</strong> Bluse zu fummeln. Ich<br />

wehrte ab. „Küssen, nicht ausziehen!“ erklärte ich, obwohl ich nach meinem<br />

Empfinden eigentlich nichts dagegen, wahrscheinlich sogar nichts lieber gehabt<br />

hätte.<br />

<strong>Ruth</strong> - <strong>Lebensszenen</strong> <strong>–</strong> Seite 209 von 209

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