Lösung zu Fall 1 - Prof. Dr. Christian Waldhoff
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<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Christian</strong> <strong>Waldhoff</strong><br />
Vorlesung Staatsrecht I<br />
WS 2012/13<br />
Einführungsfall Staatsrecht: „Wahl eines Bundeskanzlers“<br />
– Gedankenskizze <strong>zu</strong>r <strong>Lösung</strong><br />
Vorüberlegung:<br />
Genaue Analyse des Bearbeitervermerks ergibt den Grundaufbau der <strong>Fall</strong>lösung:<br />
Prüfung nur, ob Y (= 1. Teil) oder M (= 2. Teil) wirksam gewählt wurden; „keiner von<br />
beiden“ würde aus dem Ergebnis folgen.<br />
Die Wahl des Y und der M sind getrennt <strong>zu</strong> prüfen, da es sich um verschiedene<br />
Wahlvorgänge handelt (Indiz: drucktechnische Gestaltung des Sachverhalts).<br />
1. Teil: Wirksame Wahl des Y <strong>zu</strong>m Bundeskanzler<br />
Erster Denkschritt: Feststellen der Rechtsfolge, nach der gefragt ist; Aufsuchen der<br />
Rechtsnorm, aus der sich die gesuchte Rechtsfolge ergibt.<br />
Gefragte Rechtsfolge?<br />
wirksame Wahl des Y <strong>zu</strong>m Bundeskanzler<br />
Wo ist nach der einschlägigen Rechtsnorm <strong>zu</strong> suchen?<br />
in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland = GG<br />
Wo innerhalb des GG?<br />
Die Abschnitte III – VI des GG behandeln oberste Staatsorgane. Dabei steht der<br />
Bundeskanzler als zentrales Mitglied der Bundesregierung am Anfang des VI. Abschnitts<br />
(Art. 61 ff. GG).<br />
Welche konkrete Rechtsnorm ist einschlägig?<br />
Art. 63 GG, der nach Wahlstufen differenziert (vgl. da<strong>zu</strong> etwa G. Hermes, in: <strong>Dr</strong>eier [Hrsg.],<br />
Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Auflage 2006, Art. 63, Rdnr. 11 f.)<br />
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Art. 63 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG = 1. Wahlstufe: Präsidentenvorschlag;<br />
Regelfall/bisherige Staatspraxis (vgl. G. Hermes, in: <strong>Dr</strong>eier [Hrsg.], Grundgesetz-<br />
Kommentar, Bd. 2, 2. Auflage 2006, Art. 63, Rdnr. 16)<br />
Art. 63 Abs. 3 GG = 2. Wahlstufe (fakultativ: „kann“)<br />
Art. 63 Abs. 4 GG = 3. Wahlstufe (obligatorisch: „findet…statt“)<br />
Trotz unterschiedlicher Formulierungen ist die Rechtsfolge aller Absätze jeweils die<br />
wirksame Wahl <strong>zu</strong>m Bundeskanzler.<br />
Für die hier <strong>zu</strong>nächst <strong>zu</strong> untersuchende Wahl des Y gilt: Einschlägig ist allein Art. 63 Abs. 1<br />
in Verbindung mit Abs. 2 GG (= 1. Wahlstufe und Regelfall des Wahlverfahrens; Wahl auf<br />
Vorschlag des Bundespräsidenten). Der Sachverhalt enthält keine Hinweise auf<br />
vorangegangene Wahlakte, die dementsprechend auch nicht unterstellt werden dürfen.<br />
Zweiter Denkschritt: Darlegung der Vorausset<strong>zu</strong>ngen, von denen die Rechtsfolge abhängig<br />
ist; diese ergeben sich aus der aufgefundenen Rechtsnorm.<br />
I. Vorschlag des Bundespräsidenten, Art. 63 Abs. 1 GG<br />
II. Wahl durch den Bundestag, Art. 63 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG (beim zweiten Denkschritt ist<br />
die gesamte Norm <strong>zu</strong> lesen, auch mehrere Absätze und <strong>zu</strong>sammengehörende und<br />
ineinandergreifende Normen u.s.w.)<br />
<strong>Dr</strong>itter Denkschritt: Prüfung, ob diese Vorausset<strong>zu</strong>ngen nach dem Sachverhalt gegeben<br />
sind (eigentliche Subsumtion, d.h. Prüfung, ob der konkrete, geschilderte<br />
Lebenssachverhalt die abstrakten Vorausset<strong>zu</strong>ngen der Norm erfüllt).<br />
I. Vorschlag des Bundespräsidenten gem. Art. 63 Abs. 1 GG<br />
Die Wirksamkeit des Vorschlags ist die ungeschriebene Vorausset<strong>zu</strong>ng der Vorschrift. Es<br />
stellt sich daher das Problem, ob – über den Wortlaut des Art. 63 GG hinaus – Anforderungen<br />
an den Kandidaten <strong>zu</strong> stellen sind, bei deren Fehlen der Vorschlag des Bundespräsidenten<br />
2
unwirksam ist (vgl. die Schilderung im Sachverhalt: „völlig unerwartet“; Hinweis auf die<br />
Parteilosigkeit des Y).<br />
Muss der vorgeschlagene Kandidat Mitglied einer Fraktion (und damit auch des Parlaments)<br />
sein oder – noch enger – derjenige, für den die Mehrheit des Bundestages „vorgegeben“, d.h.<br />
durch das mögliche oder wahrscheinliche Wahlergebnis vorgezeichnet ist? Diese Frage ist in<br />
der Literatur strittig. Rechtsprechung oder Staatspraxis hat sich insoweit noch nicht ausbilden<br />
können.<br />
Erste Meinung: Wenn im Bundestag eine Mehrheit für einen bestimmten Kandidaten<br />
„vorgegeben“ ist, soll der Bundespräsident verpflichtet sein, diesen vor<strong>zu</strong>schlagen<br />
(vgl. W.-R. Schenke, in: Dolzer/Kahl/<strong>Waldhoff</strong>/Graßhof [Hrsg.], Bonner Kommentar<br />
<strong>zu</strong>m Grundgesetz, Art. 63, Rdnr. 44 ff.).<br />
Dafür könnte die bisherige Staatspraxis in der Bundesrepublik sprechen. Dies würde<br />
jedoch voraussetzen, dass die Staatspraxis in die Interpretation der Normen des GG<br />
ein<strong>zu</strong>beziehen ist. Kritisch – in anderem Zusammenhang – insoweit das<br />
Bundesverfassungsgericht: „Die Staatspraxis ist Gegenstand, nicht Maßstab<br />
verfassungsrechtlicher Beurteilung von Akten der öffentlichen Gewalt“. Entscheidend<br />
gegen diese Ansicht spricht auch die Unsicherheit, wann eine Mehrheit „vorgegeben“<br />
ist. Zudem kann eine politisch steuernde Aktivität des Bundespräsidenten<br />
wünschenswert sein (vgl. auch G. Hermes, in: <strong>Dr</strong>eier [Hrsg.], Grundgesetz-<br />
Kommentar, Bd. 2, 2. Auflage 2006, Art. 63, Rdnr. 21).<br />
Zweite Meinung: Der Vorgeschlagene muss Mitglied einer Fraktion des Bundestages<br />
sein.<br />
Dagegen spricht wiederum, dass das Vorschlagsrecht beim Bundespräsidenten liegt,<br />
nicht bei den im Grundgesetz nicht näher geregelten Fraktionen. Dem<strong>zu</strong>folge verlangt<br />
die herrschende Meinung nicht, dass der Vorgeschlagene Mitglied einer Fraktion des<br />
Bundestages sein muss. Unstrittig ist demgegenüber, dass keine Partei<strong>zu</strong>gehörigkeit<br />
notwendig ist (vgl. im Sachverhalt. „parteilos“). Zwar gewährt das GG den politischen<br />
Parteien einen herausgehobenen Status im Bereich der politischen Willensbildung<br />
(Art. 21 Abs. 1 GG), die Partei<strong>zu</strong>gehörigkeit ist jedoch, wie in etwas anderem<br />
Zusammenhang auch Art. 33 Abs. 2 GG andeutet, kein sachliches Kriterium <strong>zu</strong>r<br />
Bestimmung der Eignung für ein Amt.<br />
3
<strong>Dr</strong>itte Ansicht: Erforderlichkeit wenigstens der Bundestags<strong>zu</strong>gehörigkeit?<br />
Dagegen spricht die bisherige deutsche Staatspraxis (die hier lediglich als<br />
Anhaltspunkt, nicht als Prüfungsmaßstab herangezogen wird, vgl. o.). Der<br />
Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (1966 – 1969) war weder bei seiner Wahl, noch<br />
während seiner Amtszeit Mitglied des Bundestages. Darüber hinaus finden sich in der<br />
Geschichte der Bundesrepublik mehrere Bespiele für (<strong>zu</strong>mindest zeitweise)<br />
parlamentslose Minister: u.a. Manfred Lahnstein, Klaus Kinkel und Günther Rexrodt.<br />
Gerhard Schröder kandidierte 1998, Frank-Walter Steinmeier erst 2009 für den<br />
Bundestag. Rechtsvergleichend ist die französische Verfassung der V. Republik von<br />
1958 hervor<strong>zu</strong>heben. Demnach müssen Regierungsmitglieder mit ihrer Bestellung aus<br />
der Nationalversammlung ausscheiden; ähnliche Forderungen fanden oder finden sich<br />
in Parteiprogrammen. Im Hintergrund steht bei solchen Forderungen das Dogma der<br />
Gewaltenteilung. Etwas anderes als unter dem GG gilt etwa nach der nordrhein-<br />
westfälischen Landesverfassung, nach der der Ministerpräsident Landtagsmitglied sein<br />
muss (Art. 52 Abs. 1 VerfNRW: „Der Landtag wählt aus seiner Mitte … den<br />
Ministerpräsidenten…“; Anwendungsfall: Nachfolge des Ministerpräsidenten<br />
Wolfgang Clement – der ursprünglich wohl avisierte Harald Schartau kam für eine<br />
Kandidatur nicht in Frage, da er nicht Mitglied des Landtags war; vgl. demgegenüber<br />
Art. 56 Abs. 1 BerlVerf.: „Der Regierende Bürgermeister wird mit der Mehrheit der<br />
abgegebenen Stimmen vom Abgeordnetenhaus gewählt.“).<br />
Zwischenergebnis: Es bestehen keine <strong>zu</strong>sätzlichen Anforderungen an den<br />
vorgeschlagenen Kandidaten. Der Bundespräsident ist allenfalls „politisch“, nicht<br />
hingegen rechtlich nachprüfbar bei seiner Auswahlentscheidung gebunden. Unstrittig<br />
ist, dass der Vorgeschlagene deutscher Staatsangehöriger sein muss (auch hierbei<br />
handelt es sich strenggenommen um eine ungeschriebene Vorausset<strong>zu</strong>ng) und dass er<br />
das passive Wahlrecht <strong>zu</strong>m Deutschen Bundestag besitzen muss, d.h. wählbar wäre<br />
(vgl. G. Hermes, in: <strong>Dr</strong>eier [Hrsg.], Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Auflage 2006,<br />
Art. 63, Rdnr. 13).<br />
II. Wahl durch den Bundestag, Art. 63 Abs. 1 GG<br />
Konkretisierung durch Art. 63 Abs. 2 GG<br />
4
Der Begriff der „Mehrheit“ ist in Art. 121 GG legaldefiniert: „Mehrheit der<br />
gesetzlichen Mitgliederzahl“. Diese ergibt sich nicht aus dem GG, sondern aus<br />
§ 1 Abs. 1 BWahlG (vgl. den entsprechenden Hinweis im Sachverhalt).<br />
Die gesetzliche Mitgliederzahl beträgt nach § 1 Abs. 1 BWahlG grundsätzlich 598<br />
Abgeordnete. Hin<strong>zu</strong><strong>zu</strong>zählen sind gem. § 6 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 1 BWahlG die sog.<br />
Überhangmandate. Hier ergibt sich eine gesetzliche Gesamtmitgliederzahl von 622<br />
Abgeordneten.<br />
Die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl beläuft sich folglich auf 622/2 = 311.<br />
Y hat im ersten Wahlgang 309 Stimmen erreicht und damit nicht die erforderliche<br />
Mehrheit (sog. „Kanzlermehrheit“).<br />
Vierter Denkschritt: Ziehen der Folgerung: gesuchte Rechtsfolge tritt ein oder tritt nicht<br />
ein.<br />
Von den zwei Vorausset<strong>zu</strong>ngen des Art. 63 Abs. 1 GG (wirksamer Vorschlag durch den<br />
Bundespräsidenten; Wahl durch den Bundestag), die kumulativ vorliegen müssen (vgl.<br />
Wortlaut „auf“), liegt eine, der Vorschlag, nicht jedoch die Wahl durch den Bundestag vor. Y<br />
ist nicht wirksam <strong>zu</strong>m Bundeskanzler gewählt worden.<br />
2. Teil: Wirksame Wahl der M <strong>zu</strong>r Bundeskanzlerin<br />
Erster Denkschritt: Ermittlung der einschlägigen Rechtsnorm<br />
Auch hier ist auf Art. 63 GG <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>greifen. Dessen Abs. 1 (= 1. Wahlstufe) scheidet jedoch<br />
aus, da der erste Wahlgang erfolglos geblieben ist (vgl. oben 1. Teil). Die 2. Wahlstufe<br />
(Art. 63 Abs. 3 GG) scheidet aus, da innerhalb von 14 Tagen kein weiterer Wahlgang<br />
stattgefunden hat. Dieser Wahlgang ist <strong>zu</strong>dem nach dem Gesetzeswortlaut fakultativ „kann“.<br />
Damit kommt nur die dritte Wahlstufe des Art. 63 Abs. 4 Satz 1 GG als Rechtsnorm in<br />
Betracht, aus der sich die gesuchte Rechtsfolge ergibt (die Sätze 2 und 3 des Abs. 4 sind nicht<br />
einschlägig, da es hier um die Wahl und nicht um die Ernennung eines Gewählten geht).<br />
Zweiter Denkschritt: Aus welchen Vorausset<strong>zu</strong>ngen ergibt sich die Rechtsfolge?<br />
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Art. 63 Abs. 4 Satz 1: „…gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält“. Die Konkretisierung<br />
dieses Mehrheitserfordernisses ergibt sich aus Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG; es handelt sich – im<br />
Gegensatz <strong>zu</strong>r sog. „Kanzlermehrheit“ in den ersten beiden Wahlstufen, bloß um die sog.<br />
relative Mehrheit. Be<strong>zu</strong>gspunkt für die Mehrheitsermittlung sind hier die anwesenden und<br />
abstimmenden Bundestagsmitglieder, nicht die Anzahl der gesetzlich vorgesehenen<br />
Mitglieder, wie dies Art. 121 GG fordert (vgl. näher M. Morlok, in: <strong>Dr</strong>eier [Hrsg.],<br />
Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Auflage 2006, Art. 42, Rdnr. 31 ff.).<br />
<strong>Dr</strong>itter Denkschritt: Prüfung des Vorliegens der Vorausset<strong>zu</strong>ngen (=Subsumtion)<br />
M erhält 291 Stimmen und damit mehr Stimmen als S mit 159 Stimmen. Die relative<br />
Mehrheit ist erreicht. Unerheblich ist, dass die hier nicht erforderliche Kanzlermehrheit von<br />
311 Stimmen nicht erreicht wurde.<br />
Vierter Denkschritt: Folgerung, dass die gesuchte Rechtsfolge eintritt oder nicht eintritt<br />
Da M die meisten Stimmen auf sich vereinigt, wurde sie wirksam <strong>zu</strong>r Bundeskanzlerin<br />
gewählt (Achtung: nicht mehr gefragt ist nach der Ernennung durch den Bundespräsidenten;<br />
Wahl ≠ Ernennung).<br />
Gesamtergebnis:<br />
Nicht Y, wohl aber M ist wirksam <strong>zu</strong>r Bundeskanzlerin gewählt worden.<br />
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