Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung Transnationales Lernen
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DISSERTATION<br />
Titel <strong>der</strong> Dissertation<br />
<strong>Kontaktzonen</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
<strong>Transnationales</strong> <strong>Lernen</strong> über den Holocaust in <strong>der</strong><br />
postnazistischen Migrationsgesellschaft<br />
Verfasserin<br />
Nora Sternfeld, MA<br />
Angestrebter akademischer Grad<br />
Doktorin <strong>der</strong> Philosophie (Dr. in phil.)<br />
Wien, im Februar 2012<br />
Studienkennzahl lt. Studienblatt R092 607<br />
Dissertationsgebiet lt. Studienblatt Kunst u. kulturwiss. Studien<br />
BetreuerInnen: Univ. Prof. Dr. in Elke Gaugele und PD Dr. Dirk Rupnow
Inhalt<br />
Danksagung .......................................................................................................................... 3<br />
Einleitung – <strong>Geschichtsvermittlung</strong> als kritische Aufgabe und unvollendeter Prozess 4<br />
I Verstrickungen vermitteln. Transdisziplinäre thematische Klärungen ....................... 18<br />
I.1 Verstrickte Bedingungen ................................................................................................... 20<br />
I.1.1 Was heißt hier transnational? 21<br />
I.1.2 Die postnazistische Kondition 25<br />
I.1.3 In <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft 26<br />
I.2 Agonistische <strong>Kontaktzonen</strong> ............................................................................................... 30<br />
I.2.1 Geteilte soziale Räume 31<br />
I.2.2 Konfliktzonen 36<br />
I.2.3 Bildung in agonistischen <strong>Kontaktzonen</strong>: Offenheit, Reflexivität und Dissens 41<br />
I.3 Heterogene Kontexte .......................................................................................................... 48<br />
I.3.1 Historisches <strong>Lernen</strong> und Geschichtsbewusstsein in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik 48<br />
I.3.2 Ansprüche und Werte <strong>der</strong> Holocaust Education 67<br />
Exkurs: Multiperspektivität und die pädagogische Funktion <strong>der</strong> Bystan<strong>der</strong> 78<br />
I.3.3 Konkretion und Partizipation in <strong>der</strong> Gedenkstättenarbeit 81<br />
I.3.4 Reflexivität in Bildungstheorie und kritischer Migrationspädagogik 95<br />
I.3.5 Das Dazwischen in <strong>der</strong> Kultur- und <strong>Geschichtsvermittlung</strong> 105<br />
II <strong>Geschichtsvermittlung</strong> als Kontaktzone ........................................................................ 107<br />
II.1 Erfahrungen .................................................................................................................... 107<br />
II.1.1 Ein Projektdesign zwischen Forschung, Bildung und Ausstellung 108<br />
II.1.2 Die Vermittlungsarbeit – Wie sind wir vorgegangen? 112<br />
II.1.3 Erste Schlüsse aus <strong>der</strong> Zusammenarbeit 122<br />
II.2 Räume öffnen/Räume schließen .................................................................................... 127<br />
II.2.1 Öffnungen: Handlungsräume in <strong>der</strong> Kontaktzone 128<br />
II.2.2 Schließungen: Wie umgehen mit Antisemitismus und Rechtsextremismus? 138<br />
II.2.3 Wi<strong>der</strong>sprüche zwischen Öffnung und Schließung 153<br />
II.3 Was geschehen ist und was es für die Gegenwart bedeutet ........................................ 158<br />
Nachwort ........................................................................................................................... 166<br />
Bibliografie ........................................................................................................................ 168<br />
Internetquellen ................................................................................................................. 177<br />
Abstracts ........................................................................................................................... 180<br />
Kurzbiografie ................................................................................................................... 182<br />
2
Danksagung<br />
Diese Doktorarbeit ist ein Ergebnis des Forschungs- und Bildungsprojekts „‚Und was<br />
hat das mit mir zu tun?’ Transnationale Geschichtsbil<strong>der</strong> zur NS-Vergangenheit“, das<br />
von September 2009 bis August 2011 von Büro trafo.K umgesetzt wurde. Durchgeführt<br />
wurde dieses im Rahmen des För<strong>der</strong>programms Sparkling Science des Bundesministeriums<br />
für Wissenschaft und Forschung.<br />
Die Arbeit geht also aus einem Kontext kollektiver Wissensproduktion hervor.<br />
Ohne meine Kolleginnen Renate Höllwart und Elke Smodics-Kuscher, die mit mir<br />
gemeinsam seit vielen Jahren mit Büro trafo.K Vermittlung denken, entwickeln,<br />
umsetzen, verwerfen, verän<strong>der</strong>n und neu erfinden, wäre sie also gar nicht möglich<br />
gewesen. Bei Ines Garnitschnig, <strong>der</strong>en Dissertation parallel im Rahmen des Projekts<br />
entsteht, möchte ich mich für die vielen wertvollen Diskussionen sowie die genaue<br />
Lektüre bedanken. Mein beson<strong>der</strong>er Dank gilt Dirk Rupnow, <strong>der</strong> mich als Projektleiter<br />
und Betreuer mit seinem Fachwissen, seiner Klarheit und Reflexivität sehr dabei<br />
unterstützt hat, diese Arbeit fertigzustellen. Bedanken möchte ich mich auch bei<br />
meiner Betreuerin Elke Gaugele für ihre Offenheit und ihre konstruktiven Vorschläge,<br />
die mir wichtige Impulse für Konzept und Aufbau gegeben und meine Herangehensweise<br />
wesentlich geprägt haben. Nicht zuletzt gilt mein Dank auch Oliver Marchart<br />
für seine kritische Lektüre und für viele wichtige Gespräche während des gesamten<br />
Entstehungsprozesses.<br />
3
Einleitung – <strong>Geschichtsvermittlung</strong> als kritische Aufgabe und unvollendeter<br />
Prozess<br />
„Du brauchst die Arbeit nicht zu vollenden, aber du bist auch nicht frei, dich<br />
daraus zu entziehen“ 1 (Sprüche <strong>der</strong> Väter 2,2)<br />
Nun beginnt diese Arbeit doch mit einem rabbinischen Wort. Der Eindruck einer<br />
religiösen Orientierung <strong>der</strong>selben soll dabei aber gleich zurückgewiesen werden. Vielmehr<br />
soll es darum gehen, eine säkulare, poststrukturalistische Seite des rabbinischen<br />
Satzes herauszuarbeiten und eine solche womöglich blasphemische Auslegung für<br />
eine Bildungstheorie fruchtbar zu machen. Versuchen wir also eine Lektüre des<br />
Satzes, bei <strong>der</strong> mit „Arbeit“ eine <strong>Geschichtsvermittlung</strong> nach Auschwitz gemeint<br />
wäre. Zunächst scheint dann sofort auf <strong>der</strong> Hand zu liegen, dass es eine Vollendung<br />
dieser Arbeit nicht geben kann o<strong>der</strong> soll – denn ihr Ziel ist ja gerade eine Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
und Erinnerung, unter die kein Schlussstrich gezogen wird. Weitergehend<br />
bedeutet dies jedoch auch, dass es auszuhalten gilt, dass es stets neue, unvorhersehbare<br />
Formen <strong>der</strong> Erinnerungs- und Vermittlungsarbeit, des Lehrens und <strong>Lernen</strong>s nach<br />
und über Auschwitz geben wird und muss, die aus <strong>der</strong> jeweiligen Gegenwart ihren<br />
eigenen aktuellen Weg <strong>der</strong> Unabschließbarkeit definieren und formulieren. Es handelt<br />
sich also um eine Tätigkeit, die niemals das gute Gefühl einer positiven o<strong>der</strong> auch nur<br />
annähernden Erledigung mit sich bringen, son<strong>der</strong>n immer den Charakter <strong>der</strong> Offenheit<br />
und auch des Scheiterns beinhalten wird. Doch <strong>der</strong> rabbinische Satz hat ja gerade<br />
dahingehend etwas Beruhigendes: Wenn es nicht mehr darum geht, das Ende <strong>der</strong><br />
pädagogischen Arbeit vorwegzunehmen, lohnt es sich umso mehr, eine konkrete und<br />
alltägliche Perspektive einzunehmen und sich genau den damit verbundenen Bedingungen<br />
und damit einhergehenden Fragen nicht zu entziehen.<br />
Was sind diese konkreten Bedingungen, die den Hintergrund für eine aktuelle<br />
1<br />
Zitiert nach: Max Mannheimer, Wie viel Erinnerung braucht <strong>der</strong> Mensch? – Wie viel Gedenken braucht ein<br />
Volk?, in: Werner Nickolai, Micha Brumlik (Hg.), Erinnern, <strong>Lernen</strong>, Gedenken. Perspektiven <strong>der</strong> Gedenkstättenpädagogik,<br />
Freiburg im Breisgau 2007, S. 17–21, hier S. 20. Es handelt sich um ein Zitat aus den<br />
Sprüchen <strong>der</strong> Väter: „Es ist deine Obliegenheit nicht, die Arbeit zu vollenden, doch steht es dir nicht frei, sich<br />
ihrer zu entledigen.“, Talmud, Die Sprüche <strong>der</strong> Väter, München 2009, S. 22.<br />
4
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> zu Holocaust 2 , Nazismus 3 und Zweitem Weltkrieg an Jugendliche<br />
bilden? Zunächst sollen diese hier mit zwei Konditionen beschrieben werden, in<br />
denen jede <strong>Geschichtsvermittlung</strong> heute steht: dem Postnazismus und <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft.<br />
Beide – die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Kontinuitäten und spezifischen<br />
gesellschaftlichen und edukatorischen Verantwortungen in den NS-Nachfolgestaaten<br />
und die Realität des Aufeinan<strong>der</strong>treffens unterschiedlicher Erinnerungskollektive in<br />
jedem Klassenzimmer – geben einen Rahmen vor, dem es sich zu stellen gilt und <strong>der</strong>,<br />
wenn dies geschieht, zahlreiche, teilweise auch wi<strong>der</strong>sprüchliche Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
mit sich bringt. Beide Begriffe werden im Zuge dieser Arbeit beschrieben und in zahlreiche<br />
Kontexte gestellt werden. Dabei kann es nicht darum gehen, das Nischenthema<br />
<strong>der</strong> Migration als ein weiteres marginalisiertes Feld in die Holocaust Education<br />
hineinzureklamieren. Vielmehr soll hier eine allgemeine Diskussion bestehen<strong>der</strong><br />
2<br />
3<br />
Mit „Holocaust“ bezeichne ich in dieser Arbeit dezidiert nicht nur den industrialisierten Massenmord an<br />
Jüdinnen und Juden, son<strong>der</strong>n die Gesamtheit <strong>der</strong> nazistischen Massenverbrechen. Was <strong>der</strong> Begriff alles meint<br />
und bezeichnet, ist in <strong>der</strong> Literatur umstritten. Aber heute wird jedenfalls die Zusammenfassung aller Opfer <strong>der</strong><br />
Nazis unter dem Schlagwort „Holocaust“ empfohlen. So schreiben etwa Geoffrey Short und Carol Ann Reed:<br />
„We would therefore urge teachers, when dealing with the Holocaust, to make more than a token acknowledgement<br />
of the fate oft the Roma and Sinti and the Slavs and those who were persecuted on grounds other than<br />
ethnicity such as Jehovah’s Whitnesses, homosexuals, political opponents and Germans with disabilities“.<br />
Geoffrey Short, Carol Ann Reed, Issues in Holocaust education, Al<strong>der</strong>shot/Burlington 2004, S. xi. Den planmäßig<br />
organisierten und industriell durchgeführten Massenmord <strong>der</strong> Nazis an Jüdinnen und Juden bezeichne<br />
ich mit dem Begriff Shoah. Zahlreiche Reflexionen wurden zur Bezeichnung des Verbrechens gemacht, alle<br />
bisherigen Benennungen bleiben problematisch und ungenügend. Wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt heißt<br />
Shoah „Katastrophe“. Dass damit die Konnotation eines scheinbar täterlosen Schicksals mitschwingt, ist ein<br />
Aspekt, <strong>der</strong> die Verwendung des Begriffs schwierig macht, das Angebot einer Identifikation mit den Opfern ein<br />
an<strong>der</strong>er. Ich wähle die jüdische Selbstbezeichnung – die mittlerweile über Israel und jüdische Gemeinden hinaus<br />
Verbreitung gefunden hat – trotzdem, weil sie mir immer am sinnvollsten erscheint, um den Massenmord<br />
an Jüdinnen und Juden zu bezeichnen. Das Wort Holocaust wird in <strong>der</strong> Literatur zu den verschiedenen Themen<br />
dieser Arbeit am häufigsten verwendet, ist jedoch – und das wurde vielfach besprochen – dennoch unzulänglich<br />
und problematisch: Unter an<strong>der</strong>en macht Giorgio Agamben darauf aufmerksam, dass <strong>der</strong> Begriff Holocaust –<br />
<strong>der</strong> auf Griechisch „Brandopfer“ bedeutet und aus einem religiösen Kontext stammt – bereits im Mittelalter<br />
höhnisch gebraucht wurde, um Pogrome an JüdInnen und Juden zu beschreiben. Vgl. Giorgio Agamben, Was<br />
von Auschwitz bleibt, Frankfurt am Main 2003, S. 26 ff. Dieser antisemitischen Geschichte des Wortgebrauchs<br />
möchte ich mich nicht anschließen – auch wenn ich weiß, dass <strong>der</strong> Begriff mit dem gleichnami-gen US-Fernsehvierteiler,<br />
<strong>der</strong> 1978 bzw. in Deutsch 1979 erstmals ausgestrahlt wurde, auch im deutschsprachigen Raum<br />
Verbreitung fand und zunächst als Errungenschaft und Möglichkeit erschien, um den industriellen Massenmord<br />
<strong>der</strong> Nazis an den europäischen Juden und Jüdinnen zu benennen, <strong>der</strong> bis dahin gerne unthematisiert gelassen<br />
und in den Hintergrund gedrängt wurde. Ein weiteres Problem bei<strong>der</strong> Begriffe ist, dass sie keine „Dimension in<br />
<strong>der</strong> Alltagssprache“ des Postnazismus haben und somit dazu einladen, die Verbrechen zu externalisieren. Vgl.<br />
Detlev Clausen, Die Banalisierung des Bösen. Über Auschwitz, Alltagsreligion und Gesellschaftstheorie, in:<br />
Michael Werz (Hg.), Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und<br />
Gewalt, Frankfurt am Main, S. 55, sowie zur Problematik <strong>der</strong> Begriffe Elke Rajal, Erziehung nach/über<br />
Auschwitz. Holocaust Education in Österreich vor dem Hintergrund kritischer Theorie, Diplomarbeit, Wien<br />
2010, S. 19–23. Schlussendlich habe ich mich bei all diesen Problematiken deshalb für die Bezeichnung<br />
Holocaust entschieden, weil <strong>der</strong> Begriff vor dem Hintergrund seiner „Globalisierung“ zahlreiche Reklamationen<br />
erfahren, neue aktuelle Dimensionen erhalten und damit zumindest das Potential hat, die Verbrechen an<br />
Roma und Sinti, an Homosexuellen und den vielen an<strong>der</strong>en Opfern nicht auszuschließen.<br />
In Anlehnung an die Konvention im Englischen und Französischen wähle ich die Bezeichnung Nazismus für<br />
die Weltanschauung und politische Bewegung <strong>der</strong> Nazis. Neben einer bewussten Entscheidung für die Exilund<br />
alliierte Fremdbezeichnung ist es auch eine gegen die Selbstbezeichnung <strong>der</strong> NSDAP und die damit einhergehende<br />
scheinbare Verbindung von Nationalismus und Sozialismus. Ich verdanke Ernesto Laclau den Hinweis<br />
auf die eigentümliche Beständigkeit des langen Wortes „Nationalsozialismus“ im postnazistischen deutschen<br />
Sprachgebrauch im Gegensatz zu den meisten an<strong>der</strong>en sprachlichen Kontexten.<br />
5
Debatten und Wissensproduktionen im Bereich <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> zum Holocaust,<br />
dem Nazismus und dem Zweiten Weltkrieg im postnazistischen deutschsprachigen<br />
Raum geführt werden, um diese vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
neu zu positionieren und Kenntnisse für die Praxis zu erarbeiten.<br />
Es handelt sich dabei um zwei Bedingungen unserer Gesellschaft, die für eine aktuelle<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> des Nazismus prägend sind und heute auch in den unterschiedlichen<br />
Fel<strong>der</strong>n, die sich mit ihr theoretisch und praktisch beschäftigen, zweifellos als<br />
notwendige Hintergründe <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung gelten. 4 So werden sie auch in den<br />
Medien längst diskutiert; 5 Die Zeit schreibt etwa im Januar 2010:<br />
„Migranten sind in <strong>der</strong> großen deutschen Erzählung, in <strong>der</strong> es um die Erinnerung an die NS-Verbrechen<br />
und den anspruchsvollen Umgang mit dieser Erinnerung geht, nicht vorgesehen. Nicht als Zuhörer und<br />
schon gar nicht als Akteure mit einer eigenen Perspektive. Aber wie lange kann das so bleiben in einem<br />
Land mit mittlerweile mehr als 15 Millionen Menschen, die keine familiären Bezüge zur deutschen Vergangenheit<br />
haben?“ 6<br />
Mediale Zuschreibungen in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
Die öffentliche Debatte ist allerdings weit davon entfernt, differenzierte Perspektiven<br />
auf ein allgemein als notwendig betrachtetes Umdenken in <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong>spraxis<br />
einzunehmen. Vielmehr folgen die journalistischen Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />
mit dem Thema einer oftmals dichotomen Logik zwischen guten migrantischen<br />
VermittlerInnen einerseits und problematischen migrantischen Jugendlichen an<strong>der</strong>erseits:<br />
Am 3. Juli 2008 berichtet die FAZ 7 über Ufuk Topkara, Geschichtsvermittler im Jüdischen<br />
Museum in Berlin. Der Nachrichtenwert seiner Führungen mit Jugendlichen<br />
besteht darin, dass er muslimisch ist.<br />
Der Artikel beginnt mit einer Unterstellung: „Es sind nur acht Schüler gekom-<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
Vgl. Harald Welzer, Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25–<br />
26/2010, S. 16–29, hier S. 17.<br />
Dank an Doron Rabinovici für wichtige Gespräche und Hinweise.<br />
Özlem Topcu, Heinricht Wefing, „Bist du Jude?“ Zwei Deutschtürken versuchen, die deutsche Geschichte zu<br />
erklären – und treffen auf hartnäckige Vorurteile, Die Zeit (04/2010), http://www.zeit.de/2010/04/Umfrage-<br />
Reportage?page=all (20.01.2011).<br />
Philip Vetter, Muslime im Jüdischen Museum. <strong>Lernen</strong> vom großen Bru<strong>der</strong>, FAZ (03.07.2008),<br />
http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~ECA738C014E3E4420BC8064B37<br />
5BACE65~ATpl~Ecommon~Scontent.html (20.01.2011).<br />
6
men. Ein Mädchen aus einer arabischen Familie ist heute einfach nicht erschienen.<br />
‚Da kann man durchaus Absicht unterstellen’, sagt Lehrerin Elke Menzel, ‚und ich<br />
mache das auch mal.’“<br />
Hier wird also nicht nur ein Vermittler vorgestellt, son<strong>der</strong>n auch die Dramaturgie<br />
eines möglichen „Kulturkonflikts“ aufgebaut: Der Artikel erzählt von einem Schüler<br />
namens Zafer, <strong>der</strong> bereits im Vorfeld die Frage stellte, ob er ins Jüdische Museum<br />
müsse, obwohl er gar kein Jude sei und beschreibt das Verhalten <strong>der</strong> SchülerInnen –<br />
die alle als migrantisch vorgestellt werden 8 – als „lustlos, aber nicht feindselig“. Doch<br />
dann erfahren die Jugendlichen, dass sie es mit einem muslimischen Vermittler zu tun<br />
haben, <strong>der</strong> Verbindungen zwischen dem Islam und dem Judentum herausarbeitet und<br />
mit einem Mal wird die Führung, so <strong>der</strong> Artikel, für die Jugendlichen interessant. Am<br />
Ende des Textes wird Ufuk Topkara dann noch weit über die Führung hinaus zu<br />
einem Helden des Alltags gemacht:<br />
„Hat Topkara also etwas erreicht in <strong>der</strong> vergangenen Stunde? Konnte er Vorurteile abbauen? ‚Ich<br />
glaube, <strong>der</strong> Effekt verpufft sehr schnell, wenn sie zurückkommen in ihr soziales Umfeld’, sagt er<br />
nachdenklich. Vielleicht hat er recht. Vielleicht werden sie nicht als einzige wi<strong>der</strong>sprechen, wenn<br />
jemand gegen Juden hetzt. Aber sie werden sich an den großen Bru<strong>der</strong> Ufuk aus dem Museum erinnern.<br />
Er hätte wi<strong>der</strong>sprochen.“<br />
Für den Vermittler Ufuk Topkara interessierte sich auch Die Zeit. 9 Sie stellt ihn gemeinsam<br />
mit Aycan Demirel vor, dem Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kreuzberger Initiative gegen<br />
Antisemitismus. 10 Auch er wird als Mann mit Courage präsentiert, <strong>der</strong> sich nach<br />
seinen Jugendjahren, in denen „das Militär in <strong>der</strong> Türkei jegliche politische Aktivität<br />
unterband“, geschworen hatte, „nie wie<strong>der</strong> unpolitisch sein zu wollen“. Der problematische<br />
Tenor <strong>der</strong> Artikel geht davon aus, dass MigrantInnen Vorurteile gegen<br />
JüdInnen hätten, dass sie sogar zu einem großen Teil antisemitisch wären 11 und dass<br />
8<br />
Im Artikel wird das so beschrieben: „Bei <strong>der</strong> Gruppe im Jüdischen Museum hat heute kein Schüler deutsche<br />
Eltern.“<br />
9<br />
Topcu, „Bist du Jude?“, http://www.zeit.de/2010/04/Umfrage-Reportage?page=all<br />
10 http://www.kiga-berlin.org/<br />
11<br />
Eine kritische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem medialen Diskurs zur Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> in <strong>der</strong><br />
Migrationsgesellschaft soll nicht darüber hinweggehen, dass es tatsächlich Antisemitismus in muslimischen<br />
Communities gibt. http://www.welt.de/politik/deutschland/article6491671/Graumann-warnt-vor-Antisemitismus-bei-Migranten.html.<br />
An späterer Stelle wird hierauf noch genauer eingegangen. Hier geht es vorerst<br />
darum, die Funktion <strong>der</strong> Zuschreibung von Antisemitismus an migrantische Jugendliche für die dominanzkulturelle<br />
Beschäftigung mit Nazismus und Holocaust herauszustreichen. Astrid Messerschmidt schreibt in<br />
diesem Zusammenhang: „Aktuell werden Antisemitismen auffälligerweise auch unter marginalisierten Min<strong>der</strong>heiten<br />
mit migrantischen Hintergründen artikuliert. Für den mehrheitsdeutschen Umgang mit sekundärem<br />
Antisemitismus bietet sich dadurch eine Gelegenheit, zum einen das Problem jenseits <strong>der</strong> einheimischen<br />
Mehrheitsgesellschaft anzusiedeln und zum an<strong>der</strong>en die Nichtzugehörigkeit dieser „Nicht-ganz-Deutschen“<br />
bestätigt zu sehen. Dabei knüpft <strong>der</strong> Antisemitismus <strong>der</strong>er, die auch in <strong>der</strong> dritten Generation immer noch als<br />
‚Migranten’ bezeichnet werden, an jenen an, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> deutschen Gesellschaft nach wie vor vorhanden ist.“<br />
Astrid Messerschmidt, Postkoloniale Erinnerungsprozesse in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft –<br />
7
es eine wichtige Aufgabe <strong>der</strong> deutschen Gesellschaft sei, sich diesen Tatsachen zu<br />
stellen. In den beiden Fällen sind die „Guten“ zwei „deutschtürkische“ 12 Pädagogen,<br />
die am Abbau von Vorurteilen arbeiten. Einzelne „gute“ MigrantInnen werden einer<br />
Mehrheit von Jugendlichen, „die ein Problem haben“, gegenübergestellt.<br />
12<br />
13<br />
14<br />
Neben <strong>der</strong> Tatsache, dass in dieser Form <strong>der</strong> Berichterstattung offensichtlich zahlreiche<br />
Bil<strong>der</strong> von „An<strong>der</strong>en“ reproduziert werden, ist auch interessant, wie wenig die<br />
immer noch verbreitete nationale Form <strong>der</strong> Geschichtserzählung dabei verän<strong>der</strong>t wird.<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> wird zum „Aufeinan<strong>der</strong>treffen unterschiedlicher Kulturen“, die<br />
sich möglichst respektieren sollen – die deutsche dominanzkulturelle 13 Perspektive<br />
kann dabei weitgehend unangetastet bleiben. Die Frage, die dem entgegen im Rahmen<br />
dieser Arbeit gestellt werden soll, ist eine an<strong>der</strong>e: Mit dem Blickwechsel auf eine<br />
transnationale <strong>Geschichtsvermittlung</strong> zu Holocaust, Nazismus und Zweitem Weltkrieg<br />
in <strong>der</strong> postnazistischen Migrationsgesellschaft geht es darum auszuhalten, dass<br />
die dominante gesellschaftliche Perspektive selbst herausgefor<strong>der</strong>t wird. Eine aktuelle<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft muss sich also nicht bloß<br />
geschichtspolitischen und vermittlungstheoretischen Diskursen zum Nazismus stellen,<br />
son<strong>der</strong>n auch Ansätzen, wie sie in den Bereichen Migrationspädagogik und kritische<br />
Migrationsforschung formuliert werden. Diese for<strong>der</strong>n die gängige, noch immer<br />
weitgehend national geprägte schulische und außerschulische Vermittlung insofern<br />
heraus, als sie Fragen nach <strong>der</strong> Definitionsmacht und den mächtigen Unterscheidungen<br />
zwischen einem „Wir“ und seinen „An<strong>der</strong>en“ in <strong>der</strong> Gesellschaft stellen sowie<br />
Zuschreibungen und damit verbundene „natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsverhältnisse“<br />
bearbeiten, ohne Antworten bereits vorwegzunehmen. 14<br />
In dieser Arbeit soll vor diesem Hintergrund also nicht nach einer spezifischen<br />
Form <strong>der</strong> Vermittlung für „MigrantInnen“ gefragt werden; vielmehr geht es um die<br />
Formulierung von Konsequenzen, wie sie aufgrund <strong>der</strong> Realität <strong>der</strong> Migrationsgesellvom<br />
Umgang mit Rassismus und Antisemitismus, in: Peripherie – Zeitschrift für Politik und Ökonomie in <strong>der</strong><br />
Dritten Welt, 28. Jg., 2008, Heft 109/110, S. 42–60, hier S. 48.<br />
So lautet <strong>der</strong> Untertitel des Zeit-Artikels: „Zwei Deutschtürken versuchen, die deutsche Geschichte zu erklären<br />
– und treffen auf hartnäckige Vorurteile“.<br />
Im Unterschied zum Begriff <strong>der</strong> Mehrheitsgesellschaft, <strong>der</strong> die Dominanz einer gesellschaftlichen Gruppe<br />
implizit <strong>der</strong> Anzahl ihrer Mitglie<strong>der</strong> zuschreibt und damit analytisch ungenau ist, betont <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Dominanzkultur<br />
den deutlich zentraleren Aspekt gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Vgl. zum Konzept <strong>der</strong> Dominanzkultur<br />
Birgit Rommelspacher, Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin 1995.<br />
Vgl. Paul Mecheril, Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive, in: Paul Mecheril, Annita Kalpaka,<br />
María do Mar Castro Varela, İnci Dirim, Claus Melter, Migrationspädagogik, Weinheim – Basel 2010, S. 7–22,<br />
hier S. 13.<br />
8
schaft für das Verständnis von Bildung insgesamt und dessen konkrete Implikationen<br />
für die Vermittlung zu Holocaust, Nazismus und Zweitem Weltkrieg zu ziehen wären.<br />
Es geht also um einen Versuch, sich immer wie<strong>der</strong> neu nicht <strong>der</strong> Arbeit einer unabschließbaren<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> zu entziehen. Sich ihr zu stellen, steht mit einer<br />
Analyse <strong>der</strong> bestehenden gesellschaftlichen, diskursiven und geschichtspolitischen<br />
Bedingungen für die <strong>Geschichtsvermittlung</strong> in Verbindung. Die Migrationsgesellschaft<br />
ist eine davon. Einige weitere seien hier kurz vorgestellt:<br />
Aufgaben im Generationenwechsel<br />
In <strong>der</strong> Literatur wird immer wie<strong>der</strong> auf eine große Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Erinnerung an<br />
den Holocaust hingewiesen, die mit einem Generationenwechsel und dem damit verbundenen<br />
Tod <strong>der</strong> Überlebenden in Verbindung steht. 15 Nachdem ZeitzeugInnen eine<br />
zentrale Funktion in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> schulischen und außerschulischen Vermittlung<br />
des Holocaust eingenommen haben, geht damit die Notwendigkeit einer Neuorientierung<br />
einher. Diese ist nicht bloß eine Frage <strong>der</strong> Methodik/Didaktik, son<strong>der</strong>n betrifft<br />
die Inhalte und die Ziele <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> selbst. In gewisser Weise müssen<br />
nachgeborene VermittlerInnen sich die Frage stellen, in welchem Verhältnis sie zu<br />
den Überlebenden, <strong>der</strong>en Erzählungen und Ansätzen stehen. Das Zitat, das dieser Einleitung<br />
als Motto vorangeht, verdankt sich vielleicht auch deshalb einem Zeitzeugen.<br />
Es ist Max Mannheimer, <strong>der</strong> Präsident <strong>der</strong> Lagergemeinschaft Dachau, <strong>der</strong> den rabbinischen<br />
Satz aus den Sprüchen <strong>der</strong> Väter zitiert und dabei die Gegenwart <strong>der</strong> Erinnerung<br />
mit einem <strong>Lernen</strong> für die Zukunft verbindet. In seinem Text fragt er „Wie viel<br />
Erinnerung braucht <strong>der</strong> Mensch?“ 16 und stellt sich selbst in den Zusammenhang des<br />
rabbinischen Wortes. Er schreibt: „Wenn ich dieses Wort auf mich beziehe, so heißt<br />
das, in meiner Arbeit weiter machen, für kommende Generationen weitergeben, was<br />
an Erinnerung und Mahnung notwendig ist.“ 17 Diese Arbeit (die er nicht vollenden<br />
kann), bedeutet für ihn und viele an<strong>der</strong>e ZeitzeugInnen weit mehr als die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit den Morden <strong>der</strong> Nazis. Über sie zu sprechen, soll für die Zukunft<br />
15<br />
16<br />
17<br />
Vgl. Viola B. Georgi, Entliehene Erinnerung. Geschichtsbil<strong>der</strong> junger Migranten in Deutschland, Hamburg<br />
2003, S. 13, sowie Jens Michelsen, Von <strong>der</strong> Begegnung zum Bild. Zeitzeugenschaft in <strong>der</strong> kommunikativen<br />
und kulturellen Erinnerung, in: Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem (Hg.), Erinnerungskulturen<br />
im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit, Hamburg – Münster 2002, S. 161–172.<br />
Mannheimer, Wie viel Erinnerung braucht <strong>der</strong> Mensch?<br />
Ebda., S. 20.<br />
9
wirksam werden. Er schreibt: „Was ich den Jugendlichen heute mitgeben o<strong>der</strong> sagen<br />
möchte: Stärkt die Demokratie, seid wachsam gegenüber je<strong>der</strong> Regung von Rassismus,<br />
Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit.“ 18<br />
Dieser starke Wunsch <strong>der</strong> Überlebenden und ZeitzeugInnen, aus <strong>der</strong> pädagogischen<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Holocaust und dem Nazismus Schlüsse und<br />
Handlungsauffor<strong>der</strong>ungen für die Zukunft zu ziehen, kann in einer gegenwärtigen<br />
Vermittlungspraxis we<strong>der</strong> verleugnet werden, noch kann ihm einfach Folge geleistet<br />
werden. 19 Denn welche pädagogische und gesellschaftliche Pflicht sich aus den<br />
Verbrechen ergibt, welche Handlungskonsequenzen für die Zukunft gezogen werden<br />
sollen, sind <strong>der</strong>zeit offene, geschichtspolitisch umkämpfte Fragen, die – vor allem<br />
anhand <strong>der</strong> Stichworte Singularität und Universalisierung des Holocaust – in dieser<br />
Arbeit genauer untersucht werden.<br />
Ein Generationenwechsel in <strong>der</strong> Erinnerung ist mit <strong>der</strong> Notwendigkeit verbunden,<br />
aktuelle Neudefinitionen vorzunehmen. Der Historiker Michael Jeismann<br />
spricht sogar davon, dass es heute nicht mehr so sehr um das ginge, was tatsächlich<br />
geschah, son<strong>der</strong>n darum, „wie das Geschehene erzählt und vergegenwärtigt werden<br />
soll.“ 20 Allerdings findet die Auseinan<strong>der</strong>setzung um die Repräsentation des Holocaust,<br />
des Nazismus und des Zweiten Weltkriegs nicht im luftleeren Raum, son<strong>der</strong>n<br />
vor dem Hintergrund vergangener und aktueller geschichtspolitischer Kämpfe statt –<br />
und an diesen waren und sind Überlebende seit 1945 maßgeblich beteiligt. Eine zeitgenössische<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong>stheorie und -praxis definiert sich in diesem Spannungsfeld:<br />
Sie muss sich aktuell und neu positionieren und kann dennoch nicht einfach<br />
über Definitionen und Herangehensweisen <strong>der</strong> Überlebenden – sowie damit<br />
verbundene oft stark ethisch aufgeladene Perspektiven – hinweggehen. Wenn in<br />
dieser Arbeit also stärker <strong>der</strong> aktuellen vermittlungstheoretischen These gefolgt wird,<br />
dass die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Holocaust niemanden notwendig zu einem<br />
besseren Menschen macht, soll dadurch dennoch die Aufgabe, die mit dem rabbinischen<br />
Motto angesprochen ist, nicht geschmälert werden. Und so stehen hier bewusst<br />
die Worte und Motivationen von Max Mannheimer – auch im Hinblick auf ihren<br />
18<br />
19<br />
20<br />
Ebda., S. 21.<br />
Dank an Lisa Bolyos, die mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass unsere Überzeugungen – die die<br />
geschichtspolitische und vermittelnde Arbeit begleiten – nicht einfach über die Wünsche und Zugänge <strong>der</strong><br />
Überlebenden hinweggehen können, wenn sie diesen auch nicht hörig Folge leisten müssen.<br />
Michael Jeismann, Auf Wie<strong>der</strong>sehen Gestern. Die deutsche Vergangenheit und die Politik von morgen,<br />
Stuttgart 2001, S. 140.<br />
10
antirassistischen Horizont – am Anfang dieser Arbeit.<br />
Identitätsstiftung und Depolitisierung <strong>der</strong> Erinnerung<br />
Ein weiterer Hintergrund gegenwärtiger <strong>Geschichtsvermittlung</strong>, <strong>der</strong> hier einleitend<br />
noch angesprochen werden soll, ist eine diskursive Verän<strong>der</strong>ung, die sich mit einem<br />
neuen deutschen Selbstbewusstsein nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung für den Gegenstand<br />
des Holocausts und des Nazismus ergeben hat: In den letzten zwanzig Jahren hat sich<br />
in Deutschland und teilweise (wenn auch viel ambivalenter) auch in Österreich ein<br />
neues master narrative in Bezug auf die Shoah durchgesetzt. 21 „Immer mehr Menschen<br />
scheinen die NS-Verbrechen und insbeson<strong>der</strong>e den Holocaust ‚verstanden’ und<br />
‚internalisiert’ zu haben.“ 22 , schreibt die Historikerin Cornelia Siebeck. Teilweise geht<br />
dies sogar so weit, wie Hanno Loewy bereits 2000 kritisierte, dass die Erinnerung an<br />
die Verbrechen des Nazismus in <strong>der</strong> Bundesrepublik dazu gebraucht würden, Identität<br />
zu stiften. So spricht er polemisch von einer „ethnisierenden Form des Nationalismus“<br />
23 : Was zunächst wie ein Schuldbekenntnis aussehe, meint Loewy, sei nichts<br />
an<strong>der</strong>es als eine Identität <strong>der</strong> Ausgrenzung 24 . Astrid Messerschmidt pflichtet Loewy<br />
bei, wenn sie schreibt: „Der Holocaust eignet sich nicht als Grundlage für den Aufbau<br />
einer nationalen Identität. Die Versuche, deutsche Identität auf dieses Ereignis zu<br />
gründen, wie<strong>der</strong>holen nur den ausschließenden Gestus des deutschen Nationalprojekts.“<br />
25 In einem an<strong>der</strong>en Kontext findet sie sogar noch deutlichere Worte:<br />
„In dem Versuch, aus <strong>der</strong> NS-Vergangenheit ein nationales Gut geglückter Erinnerungsarbeit zu<br />
machen, wird Geschichte abgeschlossen und aus <strong>der</strong> Erinnerung verdrängt. Sie wird zu einem Vehikel<br />
nationaler Identität in einer Gesellschaft, die sich ausgesprochen schwer damit tut, sich selbst als eine<br />
Einwan<strong>der</strong>ungsgesellschaft anzuerkennen, obwohl sie eine lange Migrationsgeschichte hat.“ 26<br />
Cornelia Siebeck vertritt darüber hinaus die These, dass in Verbindung mit einer<br />
neuen deutschen Identität <strong>der</strong> Verantwortung für die Geschichte eine Depolitisierung<br />
21<br />
22<br />
23<br />
24<br />
25<br />
26<br />
Vgl. Enzo Traverso, Gebrauchsanleitungen für die Vergangenheit. Geschichte, Erinnerung, Politik, Münster<br />
2007.<br />
Cornelia Siebeck, Gedächtnis, Macht, Repräsentation. Zur (Un-)Möglichkeit demokratischer Gedenkstätten.<br />
Vortrag auf dem 16. Workshop zur Geschichte <strong>der</strong> Konzentrationslager: „Neue Perspektiven <strong>der</strong> Konzentrationslagerforschung:<br />
Ort, Ereignis und Gedächtnis“, Oświęcim/Gedenkstätte Auschwitz, 21. bis 25. Mai 2010<br />
(unveröff. Abstract).<br />
Hanno Loewy, Deutsche Identitäten vor und nach dem Holocaust, in: Hans Erler, Ernst-Ludwig Ehrlich (Hg.),<br />
Jüdisches Leben und jüdische Kultur in Deutschland. Geschichte, Zerstörung und schwieriger Neubeginn,<br />
Frankfurt am Main 2000, S. 240–251, hier S. 246.<br />
Ebda.<br />
Astrid Messerschmidt, Erinnerung jenseits nationaler Identitätsstiftung. Perspektiven für den Umgang mit dem<br />
Holocaust-Gedächtnis in <strong>der</strong> Bildungsarbeit, in: Lenz/Schmidt/von Wrochem (Hg.), Erinnerungskulturen im<br />
Dialog, S. 103–114, hier S. 104.<br />
Astrid Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration<br />
und Zeitgeschichte, Frankfurt am Main 2009, S. 186.<br />
11
stattfindet: „Gesellschaft wird zu Gemeinschaft harmonisiert.“ 27<br />
Die Verkomplizierungen einer Positionierung zwischen <strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong><br />
spezifischen Perspektivierung im Postnazismus einerseits und <strong>der</strong> Gefahr einer ausschließenden<br />
Identitätsstiftung an<strong>der</strong>erseits werden in dieser Arbeit untersucht und im<br />
Hinblick auf eine aktuelle <strong>Geschichtsvermittlung</strong> diskutiert.<br />
So haben sich die Kontexte <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> stark verän<strong>der</strong>t: Ging es in den<br />
ersten Jahren nach 1945 bis weit in die 1980er Jahre 28 noch darum, einen Raum für<br />
die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Holocaust geschichtspolitisch zu erkämpfen, handelt<br />
es sich heute um ein mehr o<strong>der</strong> weniger staatlich verordnetes Thema, dem sein kritisches<br />
Potential innerhalb vorgegebener nationaler Erinnerungskulturen abzuringen ist.<br />
Wie zu zeigen sein wird, geht dies mit entpolitisierenden Implikationen für die <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
einher, die viel mehr über die Gegenwart als über den historischen<br />
Gegenstand aussagen. So werden unter dem Stichwort <strong>der</strong> Multiperspektivität<br />
dennoch zahlreiche Perspektiven marginalisiert, während sich bei den historischen<br />
Positionen, die bevorzugt behandelt werden, starke Tendenzen <strong>der</strong> Individualisierung<br />
finden lassen (oft zum Zweck einer besseren pädagogischen Einfühlung).<br />
Zusammenfassen lassen sich die Positionen, die <strong>der</strong>zeit in <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong>spraxis<br />
Konjunktur haben, mit den Stichworten Opfer, Täter und Mitläufer,<br />
auf die hier kurz noch etwas genauer eingegangen werden soll: Wir haben es<br />
heute erstens mit einer Multiplikation und Ausdifferenzierung von Opferdiskursen zu<br />
tun, die in sich stark kulturalisiert werden und dennoch in ihrer Syntax und ihren Bildsprachen<br />
(ganz im Sinne einer „Globalisierung des Holocaust“ 29 ) an das Gedenken an<br />
die Shoah anknüpfen. Zweitens gibt es die Tendenz einer Ausarbeitung von TäterInnenperspektiven,<br />
denen es lei<strong>der</strong> oft nicht gelingt, einer gewissen Ambivalenz zwischen<br />
Kritik und Affirmation – konkreter zwischen Verurteilung und Empathie – zu<br />
entgehen. In Rekurs auf Raul Hilberg 30 wurde drittens die Dichotomie von Opfer- und<br />
TäterInnenperspektiven um eine ganze Bandbreite von ZuschauerInnen- und MitläuferInnenpositionen<br />
erweitert. 31 Diese ermöglichen eine differenziertere Perspektivie-<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
31<br />
Siebeck, Gedächtnis, Macht, Repräsentation.<br />
Hannes Heer, Volker Ullrich, Die „neue Geschichtsbewegung’“ in <strong>der</strong> Bundesrepublik. Antriebskräfte, Selbstverständnis,<br />
Perspektiven, in: dies. (Hg.), Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte <strong>der</strong> neuen<br />
Geschichtsbewegung, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 9–36.<br />
Vgl. Daniel Levy, Natan Sznai<strong>der</strong>, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001.<br />
Vgl. Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung <strong>der</strong> Juden 1933–1945, Frankfurt am Main 1996.<br />
Matthias Heyl, „Holocaust Education“: Internationale Tendenzen im pädagogischen Umgang mit <strong>der</strong><br />
12
ung des gesellschaftlichen Profits am Nazismus sowie eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />
Handlungsspielräumen. Diese Erweiterung ist wichtig. Wenn sie allerdings als einzig<br />
mögliche angesehen wird, stellt sie in gewisser Weise auch eine Schließung diskursiver<br />
Perspektiven dar. Sehr viel weniger Raum wird in aktuellen Unterrichts- und<br />
Vermittlungsformen etwa dem Wi<strong>der</strong>stand eingeräumt. Während dieser in Ausstellungen,<br />
Gedenk- und Bildungsdiskursen in den ersten Jahren nach 1945 überbetont<br />
wurde (und dafür in Verbindung mit einer Schuldabwehr auch zu Recht oft kritisiert<br />
wurde), scheint er heute nur noch am Rande behandelt zu werden. Wi<strong>der</strong>standsstrategien<br />
werden nur insofern thematisiert, als es sich um mutige, moralische Entscheidungen<br />
handelt, die zumeist einzelnen „RetterInnen“ zugeordnet werden. Die mit <strong>der</strong><br />
Geschichte des Wi<strong>der</strong>stands verbundene Form <strong>der</strong> politischen Organisation wird<br />
dabei zumeist nicht einmal erwähnt. So wird die kollektive Dimension des Wi<strong>der</strong>stands<br />
ausgeblendet (steht doch Kollektivität <strong>der</strong> pädagogisch-moralischen Vereinfachung<br />
gemäß eher für den Nazismus). Ein Grund dafür mag in einer antikommunistischen<br />
Hegemonie liegen, die sich bereits unmittelbar nach dem Ende des Zweiten<br />
Weltkrieges herausbildete und die freilich nach 1989 mit dem Wegfall kommunistischer<br />
Herrschaftsbereiche in Europa eine noch größere Ausprägung erfuhr. Möglicherweise<br />
damit in Verbindung könnte ebenfalls die Tatsache stehen, dass auch<br />
Siegerperspektiven heute kaum mehr thematisierbar scheinen.<br />
Dan Diner macht darauf aufmerksam, dass ein allgemeiner Anti-Kriegs-Konsens<br />
eine positive Bezugnahme auf die militärische Dimension <strong>der</strong> Befreiung durch<br />
die Alliierten in den Hintergrund treten lässt. „So lässt eine die Kriegsumstände<br />
hintansetzende Geschichtserzählung über den Holocaust es etwa zu, die Alliierten<br />
angesichts des ungeheuerlichen Geschehens vorgeblicher Untätigkeit zu zeihen. […]<br />
An die Stelle des verloren gegangenen historischen Urteilsvermögens tritt ein universell<br />
drapierter moralisieren<strong>der</strong> Diskurs über unterschiedslose Opferschaft.“ 32<br />
Gerade in einer Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Dimensionen des Zweiten Weltkrieges<br />
läge allerdings eine Möglichkeit multiperspektivischer Geschichtserzählung in <strong>der</strong><br />
Migrationsgesellschaft. In Österreich beziehen sich etwa zahlreiche Jugendliche auf<br />
den Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien – und zwar sowohl auf die damit verbundenen<br />
Verbrechen <strong>der</strong> Wehrmacht als auch auf die Kämpfe <strong>der</strong> und die Befreiung durch die<br />
32<br />
Geschichte, in: Schriftenreihe Probleme des Friedens, 1/1999, Zivilisationsbruch Auschwitz, Idstein 1999,<br />
S. 27–43; online: http://www.fasena.de/archiv/forschung.htm, S.5.<br />
Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007, S. 9.<br />
13
PartisanInnen. Neben diesen Aspekten eröffnet eine postkoloniale Geschichte zahlreiche<br />
weitere konkrete Fragen, Verbindungen und Ansätze, die Verstrickungen<br />
zwischen Kollaboration und Wi<strong>der</strong>stand beinhalten und sich schwerlich in die Dreiheit<br />
von Täter, Opfer und Zuschauer fassen lassen. 33 Diesen und weiteren Überlegungen<br />
zu einer an<strong>der</strong>en Multiperspektivität, <strong>der</strong> es gelingen kann, zugleich viel mehr<br />
Bezüge einzubeziehen und dabei dennoch nicht beliebig, son<strong>der</strong>n positioniert vorzugehen,<br />
soll in dieser Arbeit nachgegangen werden.<br />
Zwischen Theorie und Praxis: Ausgangspunkte dieser Arbeit<br />
Aus diesen ersten grundlegenden Reflexionen wird bereits klar, dass eine <strong>Geschichtsvermittlung</strong>,<br />
die sich als unabschließbare, kritische und insistierende Praxis verstehen<br />
will, zahlreiche Fragen, Wi<strong>der</strong>sprüche und Verstrickungen mit sich bringt. Aus einer<br />
poststrukturalistischen bildungs- und museumstheoretischen Perspektive soll diesen<br />
hier nachgegangen werden. Die Arbeit ist zwischen Theorie und Praxis angesiedelt:<br />
Sie entsteht mitten im Prozess <strong>der</strong> Praxis, verdankt sich einerseits <strong>der</strong>en Erfahrungen<br />
und will an<strong>der</strong>erseits auch für diese wirksam werden. Sie folgt dabei einem Prinzip<br />
<strong>der</strong> „Dringlichkeit“ (Urgency) an <strong>der</strong> Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, zwischen<br />
Forschung und Bildung. 34 Die Theoretikerin und Kuratorin Irit Rogoff spricht<br />
von „Urgency“ im Bereich <strong>der</strong> „Education“ als jenem Prozess, <strong>der</strong> vor entscheidenden<br />
Fragen nicht zurückschreckt, jedoch auch nicht bloß reaktiv handelt (das würde sie<br />
mit „Emergency“ bezeichnen), son<strong>der</strong>n sich den Dringlichkeiten produktiv und affirmativ<br />
stellt.<br />
Vor diesem Hintergrund geht <strong>der</strong> theoretischen Reflexion dieser Arbeit ein<br />
zweijähriger Prozess <strong>der</strong> Vermittlungspraxis im Rahmen von Büro trafo.K am Brigittenauer<br />
Gymnasium im 20. Wiener Gemeindebezirk voraus. Dafür wurden zahlreiche<br />
Überlegungen angestellt, Konzepte entwickelt, Ansätze erprobt, reflektiert, revidiert<br />
und neu formuliert. Die Erfahrungen und die Fragen, die sich im Zuge <strong>der</strong> praktischen<br />
33<br />
34<br />
Diesen Überlegungen widmet sich Ines Garnitschnig aus <strong>der</strong> Sicht einer sozialwissenschaftlichen Geschichtsbewusstseinsforschung:<br />
So geht es in ihrer Arbeit im Rahmen des Projekts „Und was hat das mit mir zu tun?“<br />
beson<strong>der</strong>s darum, spezifische, bisher wenig wissenschaftlich beachtete, marginalisierte o<strong>der</strong> unzureichend<br />
gedeutete Erinnerungen an und Haltungen zu Nazismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg kennen zu lernen<br />
und analytisch angemessen zu fassen. Vgl. Ines Garnitschnig, Geschichtsbil<strong>der</strong> zu Nazismus und Shoah in <strong>der</strong><br />
postnazistischen Migrationsgesellschaft und die Bedeutung transnationaler Aushandlungs- und Vermittlungskontexte<br />
(Arbeitstitel).<br />
Im Kontext des För<strong>der</strong>ungsprogramms Sparkling Science des Wissenschaftsministeriums versteht sie sich als<br />
Baustein eines Projekts, in dem sich Theorie und Praxis permanent verschränken und für einan<strong>der</strong> wirksam<br />
werden.<br />
14
Arbeit gestellt haben, sollen hier mit aktueller Theorieproduktion verknüpft und systematisiert<br />
werden, um wie<strong>der</strong>um für die Praxis fruchtbar gemacht werden zu können.<br />
So fanden im zweiten Jahr des Forschungsprojekts Theoriearbeit und Praxis <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
gleichzeitig statt. Darüber hinaus befindet sich zugleich eine<br />
empirische Arbeit von Ines Garnitschnig in Entstehung. Die Perspektiven <strong>der</strong> Theorie<br />
und <strong>der</strong> Forschung werden also ständig in einem transdisziplinären Prozess miteinan<strong>der</strong><br />
und mit <strong>der</strong> Praxis in Verbindung gebracht.<br />
„Und was hat das mit mir zu tun?“ – Ein Forschungs- und Bildungsprojekt<br />
Unter dem programmatischen Titel „Und was hat das mit mir zu tun?“ untersuchte<br />
das Projekt von Büro trafo.K „transnationale Geschichtsbil<strong>der</strong> zur NS-Vergangenheit“<br />
35 und tat dies auf <strong>der</strong> Basis eines Vermittlungsprozesses mit SchülerInnen des<br />
Wiener Brigittenauer Gymnasiums. 36 Dabei wurden unterschiedliche Zugänge und<br />
Formen <strong>der</strong> Erkenntnisproduktion wie Sozialwissenschaft, Museologie und Theorien<br />
zur <strong>Geschichtsvermittlung</strong> mit einer konkreten Vermittlungspraxis verbunden, die<br />
wie<strong>der</strong>um zu Ergebnissen führten, die sich in Form von Interventionen in eine Ausstellung<br />
in <strong>der</strong> Gedenkstätte Karajangasse 37 am Brigittenauer Gymnasium in Wien<br />
einschrieben. Die theoretischen Überlegungen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse<br />
wurden laufend mit <strong>der</strong> Vermittlungspraxis abgestimmt. Dabei waren die SchülerInnen<br />
we<strong>der</strong> nur Objekte <strong>der</strong> Forschung noch bloße AdressatInnen <strong>der</strong> Vermittlung,<br />
son<strong>der</strong>n erarbeiteten vielmehr selbst als handelnde AkteurInnen Interventionen<br />
in eine Gedenkstätte. Die Ergebnisse <strong>der</strong> Praxis konnten ihrerseits wie<strong>der</strong>um Quellen<br />
für die Forschung werden. Auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Entwicklung von eigenen Recherche-<br />
35<br />
36<br />
37<br />
Ein Projekt von Büro trafo.K, durchgeführt im Rahmen des För<strong>der</strong>programms Sparkling Science, geför<strong>der</strong>t vom<br />
Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung. Wesentliches Ziel des Projekts „Und was hat das mit mir<br />
zu tun?“ Transnationale Geschichtsbil<strong>der</strong> zur NS-Vergangenheit war es, Beiträge zu <strong>der</strong>zeit lebhaft diskutierten<br />
Fragestellungen in Geschichtswissenschaft, Pädagogik, Museologie, empirischer Sozialwissenschaft und<br />
Migrationsforschung zu liefern. Dies geschah in Zusammenarbeit mit SchülerInnen und LehrerInnen des Brigittenauer<br />
Gymnasiums in Wien. Angesiedelt an <strong>der</strong> Schnittstelle zwischen Forschung und Bildung, arbeiteten<br />
an dem Projekt im Rahmen von Büro trafo.K: Renate Höllwart, Elke Smodics-Kuscher, Nora Sternfeld, Ines<br />
Garnitschnig, gemeinsam mit Dirk Rupnow.<br />
http://www.trafo-k.at/prodetail.php?id=50&refer=proauswahl.php?p=1 (20.01.2011) und<br />
http://www.sparklingscience.at/de/projects/312-transnationale-geschichtsbil<strong>der</strong>/ (20.01.2011).<br />
Die Vermittlungsarbeit wurde konzeptiv und in <strong>der</strong> Umsetzung schwerpunktmäßig von Renate Höllwart, Elke<br />
Smodics-Kuscher und mir getragen. Renate Höllwart und Dirk Rupnow leiteten das Projekt.<br />
Der Standort des heutigen Brigittenauer Gymnasiums hat selbst einen historischen Bezug zu Nazismus und<br />
Holocaust. Ein Gebäudeteil – eine ehemalige Volksschule – war 1938 zu einem Gestapo-Gefängnis umfunktioniert<br />
worden. Die Häftlinge waren in den Klassenräumen interniert – viele von ihnen wurden von hier nach<br />
Dachau deportiert. Seit den späten 1980er Jahren thematisieren LehrerInnen und SchülerInnen die Geschichte<br />
des Ortes in einer Gedenkstätte in den Kellerräumen <strong>der</strong> Schule.<br />
Vgl. http://www.borg20.at/a_gedenkst/index_gedenkst.html (20.01.2011).<br />
15
fragen <strong>der</strong> SchülerInnen sind Interventionen entstanden, die bei mehreren Veranstaltungen<br />
unter dem Titel „Gespräche zu <strong>Geschichtsvermittlung</strong>“ gemeinsam mit den<br />
Jugendlichen in <strong>der</strong> Gedenkstätte Karajangasse präsentiert wurden.<br />
Ziele und Herangehensweise <strong>der</strong> Arbeit<br />
Ziel dieser Arbeit ist die Entwicklung eines theoretischen Instrumentariums für die<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong>spraxis zum Holocaust, dem Nazismus und dem Zweiten Weltkrieg<br />
an Jugendliche in <strong>der</strong> postnazistischen Migrationsgesellschaft. Dies geschieht<br />
nach einer Begriffsklärung in zwei Schritten.<br />
Der erste Teil dient einer thematischen Verortung in Theorie und Praxis.<br />
Zunächst scheint es wichtig, die für das Thema relevante – und bisher weitgehend<br />
unverbundene – Theorieproduktion aus unterschiedlichen Fel<strong>der</strong>n zusammenzuführen.<br />
Dafür wird in einem ersten Schritt die Idee <strong>der</strong> Contact Zone, die die postkolonialen<br />
TheoretikerInnen Mary Louise Pratt und James Clifford formuliert haben, vorgestellt<br />
und für das Thema produktiv gemacht. Vor dem Hintergrund des Konzepts<br />
<strong>der</strong> Contact Zone wird in <strong>der</strong> Folge ein synthetisieren<strong>der</strong> Überblick über wichtige<br />
Begriffe in <strong>der</strong> für die Vermittlung wesentlichen Literatur aus den Bereichen <strong>der</strong><br />
Geschichtsdidaktik und <strong>der</strong> Holocaust Education sowie <strong>der</strong> reflexiven Bildungswissenschaft,<br />
<strong>der</strong> kritischen Migrationspädagogik und <strong>der</strong> Vermittlungstheorie gegeben.<br />
Dieser dient als Grundlage für die Erarbeitung eines Vokabulars <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong>,<br />
das im zweiten Teil <strong>der</strong> Arbeit angewendet wird: Begriffe, die in <strong>der</strong> aktuellen<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> Konjunktur haben, werden im Zuge <strong>der</strong> Arbeit auf ihre<br />
Entstehungskontexte, Konnotationen und Wirksamkeiten hin befragt und im Hinblick<br />
auf kritische Potentiale und Handlungsoptionen genauer gefasst bzw. neu besetzt.<br />
Der zweite Teil <strong>der</strong> Arbeit beginnt mit einer Reflexion <strong>der</strong> Erfahrungen aus<br />
<strong>der</strong> Praxis. Das Projekt „Und was hat das mit mir zu tun?“ im Brigittenauer Gymnasium<br />
in Wien wird in seinen Ansätzen und Herangehensweisen vorgestellt. Die konkreten<br />
Erfahrungen mit Konzepten und Abläufen in <strong>der</strong> Vermittlungspraxis werden<br />
beschrieben und im Hinblick auf ihre Fragen und Aufgaben – in ihren Erfolgen sowie<br />
in ihrem Scheitern – reflektiert. Dabei wird <strong>Geschichtsvermittlung</strong> als kritische, aktivreflexive,<br />
offene und positionierte Praxis vorgestellt und vorgeschlagen.<br />
Auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Theorie und <strong>der</strong> Erfahrungen werden dann Schlüsse für eine<br />
aktuelle, transnationale <strong>Geschichtsvermittlung</strong>spraxis in <strong>der</strong> postnazistischen Migra-<br />
16
tionsgesellschaft gezogen. Diese stehen gleichermaßen im Kontext des Stands <strong>der</strong> Debatten<br />
in den unterschiedlichen wissenschaftlich-pädagogischen Bereichen, die hier<br />
zusammengeführt werden, wie <strong>der</strong> Erfahrungen und Dringlichkeiten in <strong>der</strong> Praxis.<br />
Dabei geht es um Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> in ihren beiden<br />
unterschiedlichen wichtigsten Handlungsräumen: in <strong>der</strong> Schule und in Gedenkstätten.<br />
Jede <strong>Geschichtsvermittlung</strong> hat zwei zusammenhängende und dennoch unterschiedliche<br />
Aufgaben: Sie hat darüber zu verhandeln, was geschehen ist und darüber, was es<br />
für die Gegenwart bedeutet. Vor dem Hintergrund einer gleichermaßen geteilten und<br />
umkämpften Geschichte, die stets aus dem Heute zu verstehen ist, werden Ansätze <strong>der</strong><br />
Aktualisierung diskutiert. Dabei wird es darum gehen, eine <strong>Geschichtsvermittlung</strong> <strong>der</strong><br />
Verstrickungen zu denken und dabei Räume für unerwartete Bezüge und „gegenläufige<br />
Gedächtnisse“ 38 zu öffnen. Vor dem Hintergrund von Theorie und Praxis wird<br />
sich auch die Frage stellen, wie – d. h. mit welchen Mitteln, unter welchen Bedingungen<br />
und vor allem vor dem Hintergrund welchen Horizontes – Räume nicht nur geöffnet,<br />
son<strong>der</strong>n auch geschlossen werden müssen. Hier wird es auch um den Umgang mit<br />
revisionistischen, antisemitischen und rechtsextremen Artikulierungen gehen. Was<br />
sind die Grenzen <strong>der</strong> Offenheit, wenn Bildung und Gemeinschaft poststrukturalistisch<br />
gedacht werden sollen? Mit <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Schließung von Räumen erhält auch<br />
die politisch-theoretische Ebene <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Contact Zone und<br />
<strong>der</strong> radikalen Demokratie – welche die theoretische Grundlage für die vorliegende<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>Geschichtsvermittlung</strong> bildet – eine weitere Dimension.<br />
Denn Prozesse sind nicht unbedingt demokratischer, wenn Ausschlüsse nicht vollzogen<br />
bzw. nicht thematisiert werden. Aber um demokratische Räume solchermaßen<br />
denken zu können, müssen diese – so die These dieser Arbeit – erst geöffnet werden.<br />
Und ohne eine Vollendung dieses Projekts bewerkstelligen zu wollen, soll dies im<br />
Folgenden geschehen ...<br />
38<br />
Diner, Gegenläufige Gedächtnisse.<br />
17
I<br />
Verstrickungen vermitteln. Transdisziplinäre thematische Klärungen<br />
„What does it mean to work within these entanglements rather than striving to<br />
transcend them?“ 39 James Clifford<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> ist eine Tätigkeit, die sich keineswegs in einem luftleeren<br />
Raum definieren lässt, son<strong>der</strong>n in vielerlei Hinsicht in gesellschaftliche Verhältnisse<br />
verstrickt ist und sich innerhalb umkämpfter Fel<strong>der</strong> zu positionieren hat. Mit <strong>der</strong><br />
thematischen Schwerpunktsetzung dieser Arbeit – <strong>der</strong> Frage nach einer transnationalen<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> zu Holocaust, Nazismus und Zweitem Weltkrieg in <strong>der</strong><br />
postnazistischen Migrationsgesellschaft – sollen einige dieser Verstrickungen fassbar<br />
werden. Eine erste Annäherung an die Implikationen einer solchen <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
erfolgt zunächst in einer Begriffsklärung, die den thematischen Fokus und die<br />
damit einhergehende Positionierung in aktuellen gesellschaftlichen und geschichtspolitischen<br />
Diskussionen nachvollziehbar macht.<br />
Das Präfix „trans-“<br />
Bereits in <strong>der</strong> oben stehenden Schil<strong>der</strong>ung des weiteren Vorgehens findet sich das<br />
Präfix „trans-“, das <strong>der</strong>zeit in wissenschaftlichen Kontexten Konjunktur hat, an zwei<br />
Stellen wie<strong>der</strong>: „Transnational“ und „transdisziplinär“ sind zwei Begriffe, die heute<br />
gerne in Anträgen gesehen werden. Ihr Bedeutungszusammenhang liegt dabei – oft<br />
vage, teilweise missverständlich, manchmal jedoch auch sehr produktiv – in <strong>der</strong> Überschreitung<br />
von Grenzen und gängigen Ordnungen. Was ist im Kontext dieser Arbeit<br />
damit gemeint? Die Popularität <strong>der</strong> Vorsilbe nutzend, soll diese hier mit Hilfe <strong>der</strong><br />
Queer-Theorie konkretisiert und reformuliert werden: Nach einer grundlegenden<br />
Infragestellung <strong>der</strong> Zweigeschlechtlichkeit durch die feministische und Queer-Theorie,<br />
bezeichnet „Transgen<strong>der</strong>“ selbstverständlich nicht bloß eine Position, die Geschlechtergrenzen<br />
überschreitet. Auch Zuschreibungen eines „Dazwischen“ o<strong>der</strong> einer<br />
Vereinigung sind offensichtlich unzureichend. Vielmehr stellt eine theoretische,<br />
queere „Trans-“Perspektive die Logik <strong>der</strong> Zuordnung von Zweigeschlechtlichkeit und<br />
damit einhergehen<strong>der</strong> Heteronormativität sowie die mächtige Wissensproduktion, auf<br />
39<br />
James Clifford, Routes, Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge 1997, S. 213.<br />
18
<strong>der</strong> diese basieren, grundlegend in Frage und durchkreuzt sie. 40 Diese Radikalisierung<br />
<strong>der</strong> Vorsilbe „trans-“ bildet den Hintergrund für ihren Gebrauch in dieser Arbeit.<br />
Somit soll also unter „Transdisziplinarität“ nicht bloß die Überschreitung existieren<strong>der</strong><br />
wissenschaftlicher Disziplinen und ihre Verknüpfung miteinan<strong>der</strong> bezeichnet werden.<br />
Vielmehr soll auf <strong>der</strong> Basis bestehen<strong>der</strong> Diskussionen und Erfahrungen in Theorie<br />
und Praxis ein Handlungsraum hergestellt werden, <strong>der</strong> disziplinäre Grenzen ebenso<br />
durchkreuzt wie gängige Unterscheidungen <strong>der</strong> Produktion und <strong>der</strong> Reproduktion<br />
von Wissen (<strong>der</strong> wissenschaftlichen Theorie und <strong>der</strong> vermittelnden Praxis) und dabei<br />
die Verstricktheit des Wissens in historische und gesellschaftliche Zusammenhänge<br />
selbst thematisiert.<br />
„Transnational“ wie<strong>der</strong>um soll nicht die Zusammenschau unterschiedlicher<br />
Nationalgeschichten o<strong>der</strong> die bloße Überschreitung des nationalen Horizonts bezeichnen,<br />
son<strong>der</strong>n einen Raum für die Infragestellung, Durchkreuzung und Unterwan<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> nationalen Geschichtsschreibung und <strong>Geschichtsvermittlung</strong> eröffnen. Dabei<br />
sollen allerdings wie<strong>der</strong>um auch Kämpfe und Funktionen nationaler Geschichtsschreibungen<br />
und Vermittlungsformen in den Blick geraten.<br />
40<br />
Vgl. Persson Perry Baumgartinger (Hg.), queeropedia [print], Wien 2007. Persson Perry Baumgartinger<br />
beschreibt queeropedia [print] als „kritisches Nachschlagewerk, das die Autoritätsmacht einzelner Lexika<br />
kritisiert und diese Macht versucht aufzulösen. Aufzulösen, indem einem Begriff nicht eine ‚einzig richtige’<br />
Definition zugeordnet wird, son<strong>der</strong>n je<strong>der</strong> Eintrag mehrere Konkretisierungsmöglichkeiten bekommt.“ Ebda.,<br />
S. 8. Die untenstehenden Zitate sind also zur Definition von trans* bzw. Transgen<strong>der</strong> verkürzt und ungenügend.<br />
Sie sollen hier nur einen Eindruck über die dekonstruktive Funktion geben, die <strong>der</strong> Einsatz <strong>der</strong> Vorsilbe zur<br />
Selbstbezeichnung in <strong>der</strong> Queer-Theorie entfaltet: „Die Vorsilbe Trans zeigt an, dass etwas ‚jenseits, über,<br />
darüber hinaus’ ist. Trans, trangen<strong>der</strong>, transidentisch o<strong>der</strong> transsexuell […] bezeichnet eine (Geschlechts-)Identität,<br />
die sich definiert über Faktoren, die über die sexuell-biologischen hinausgehen bzw. sich im Gegensatz zu<br />
diesen sieht.“, zit. nach ebda., S. 109. „Transgen<strong>der</strong>: An umbrella term that includes transsexuals, transvestites,<br />
intersexed people, and just about anybody else who doesn’t conform to the tradtional model of sex/gen<strong>der</strong>“, zit.<br />
nach ebda., S. 115.<br />
19
I.1 Verstrickte Bedingungen<br />
Warum macht es Sinn, von Verstrickungen zu sprechen? Astrid Messerschmidt will<br />
mit dem Begriff <strong>der</strong> Verstrickung kennzeichnen, dass wir uns „in Wi<strong>der</strong>sprüchen […]<br />
bewegen und dabei nicht außen stehen o<strong>der</strong> neutral sein zu können. Verstrickung<br />
meint Objektivität anzustreben und nicht erreichen zu können.“ 41 Die Bedingungen<br />
sind verstrickt und sollen in ihren Verstrickungen vermittelt werden und wir sind in<br />
die Bedingungen verstrickt: „Mit <strong>der</strong> Einsicht, selbst drin zu stecken in dem, was zu<br />
erarbeiten, zu analysieren und zu reflektieren ist, verän<strong>der</strong>t sich <strong>der</strong> Bezug zum jeweiligen<br />
Gegenstand, und es verän<strong>der</strong>t sich die Beziehung aller am Bildungsprozess<br />
Beteiligten.“ 42<br />
Sowohl Transnationalität als auch <strong>der</strong> Postnazismus und die Migrationsgesellschaft<br />
werden in dieser Arbeit als Konditionen verstanden, die nicht bloß spezifische, zuweisbare<br />
Personen betreffen, son<strong>der</strong>n in denen alle in dieser Gesellschaft stehen.<br />
Wenn in einem Klassenzimmer o<strong>der</strong> einer Gedenkstätte in Deutschland o<strong>der</strong> Österreich<br />
heute mit Jugendlichen über den Holocaust, den Nazismus und den Zweiten<br />
Weltkrieg gesprochen wird, so geschieht das in Gesellschaften, die sowohl von<br />
Migration geprägt sind, als auch als NS-Nachfolgestaaten in einem „Haftungszusammenhang“<br />
zum Nazismus stehen. Beide Tatsachen bilden – so <strong>der</strong> Ausgangspunkt<br />
dieser Arbeit – den Hintergrund und die Bedingung <strong>der</strong> vermittelnden Tätigkeit.<br />
Damit ist auch die Transnationalität bereits angesprochen: Denn mit <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
treten diasporische Tradierungen und Kontexte in die Gesellschaft und<br />
damit in ihre Bildungszusammenhänge, die nationale Geschichtsschreibungen in<br />
ihrem Inneren und am Ort ihrer Vermittlung in Frage stellen. Diese „innere Transnationalität“<br />
<strong>der</strong> Migrationsgesellschaft soll hier aufgegriffen und theoretisch produktiv<br />
gemacht werden.<br />
Was dabei geschieht, ist ein Blickwechsel von <strong>der</strong> Frage nach dem Geschichtsbewusstsein<br />
auf <strong>der</strong> Basis sozialer Zuschreibungen, Segmentierungen und<br />
41<br />
42<br />
Astrid Messerschmidt, Verstrickungen. Postkoloniale Perspektiven in <strong>der</strong> Bildungsarbeit zum Antisemitismus,<br />
in: Bernd Fechler, Gottfried Kößler, Astrid Messerschmidt, Barbara Schäuble (Hg.) im Auftrag von Fritz Bauer<br />
Institut und Jugendbegegnungsstätte Anne Frank, Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen<br />
Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt – New York 2006, S. 150–171, hier S. 150.<br />
Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 10.<br />
20
Identifikationen zu einer allgemeineren Perspektivierung vor dem Hintergrund<br />
gesellschaftlicher Bedingungen. Denn als solche gehen die Migrationsgesellschaft<br />
und <strong>der</strong> Postnazismus alle an und müssen sich alle – wenn auch aus jeweils unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen Positionen, die mit ungleicher Definitionsmacht<br />
ausgestattet sind – darin bewegen und positionieren.<br />
Die beiden Begriffe „Postnazismus“ und „Migrationsgesellschaft“ stehen<br />
dabei, wie wir sehen werden, im Kontext einer aktuellen Theoriebildung an <strong>der</strong><br />
Schnittstelle zeithistorischer Bildungsansätze, geschichtspolitischer Auseinan<strong>der</strong>setzungen,<br />
antirassistischer Pädagogiken und Postkolonialer Theorien. Wichtige<br />
Referenzen in diesem Zusammenhang sind Astrid Messerschmidt 43 , Paul Mecheril 44<br />
sowie María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan 45 .<br />
I.1.1<br />
Was heißt hier transnational?<br />
Sebastian Conrads und Jürgen Osterhammels Definition zufolge zielt <strong>der</strong> Begriff<br />
„transnational“ auf „Beziehungen und Konstellationen, welche die nationalen Grenzen<br />
transzendieren“, ohne dabei den Anspruch zu erheben, eine „ausgearbeitete Theorie“<br />
vorzustellen. 46 Wie oben bereits angedeutet, soll <strong>der</strong> Begriff „transnational“ hier<br />
eine stärkere, gleichermaßen deskriptive wie ermöglichende Perspektive markieren:<br />
So soll es um die Eröffnung einer Handlungsmacht in pädagogischen Zusammenhängen<br />
gehen, die es ermöglicht, bestehende Strukturen nationaler <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
aus dem Inneren <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft zu durchkreuzen. Mit <strong>der</strong> Frage „Wessen<br />
Erinnerung?“ versucht etwa Astrid Messerschmidt, eine Erinnerungspraxis „jenseits<br />
nationaler Identität“ 47 zu denken. Verstehen wir die Nation mit Benedict An<strong>der</strong>son als<br />
„vorgestellte Gemeinschaft“, 48 dann geht es hier mit einem transnationalen Ansatz<br />
darum, eine an<strong>der</strong>e Gemeinschaft vorstellbar zu machen. Im Folgenden soll diese<br />
43<br />
44<br />
45<br />
46<br />
47<br />
48<br />
Ebda.<br />
Paul Mecheril, Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim – Basel 2004.<br />
María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005<br />
sowie María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Breaking the Rules. Bildung und Postkolonialismus, in:<br />
Carmen Mörsch, Forschungsteam documenta 12 Vermittlung (Hg.), Kunstvermittlung. Zwischen kritischer<br />
Praxis und Dienstleistung auf <strong>der</strong> documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts, Zürich – Berlin 2009,<br />
S. 339–353.<br />
Sebastian Conrad, Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational, Göttingen 2004, S. 14.<br />
Messerschmidt, Erinnerung jenseits nationaler Identitätsstiftung, S. 103.<br />
Vgl. Benedict An<strong>der</strong>son, Die Erfindung <strong>der</strong> Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt –<br />
New York 1995.<br />
21
starke Besetzung des Begriffs „transnational“ noch genauer gefasst, reflektiert und in<br />
den Kontext einiger an<strong>der</strong>er aktueller Verwendungen gestellt werden:<br />
In <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft kann von einer rezenten 49 , allerdings stark zunehmenden<br />
Tendenz zu einer sich als „transnational“ bezeichnenden Historiografie gesprochen<br />
werden, haben wir es <strong>der</strong>zeit doch mit einer „vielfältige[n] Entgrenzung des<br />
historischen Gegenstands“ 50 zu tun. Die Notwendigkeit, die monoperspektivische<br />
Verengung nationaler Geschichtsschreibungen in Frage zu stellen, betrifft dabei ebenso<br />
sehr die Wissenschaft wie die Vermittlung. „Nicht nur die Forschung, son<strong>der</strong>n<br />
auch die universitäre Lehre und <strong>der</strong> Unterricht an den Schulen stehen vor <strong>der</strong> Ausweitung<br />
von Fragestellungen und Perspektiven über den nationalen Rahmen hinaus.“ 51<br />
Gerne wird in diesem Zusammenhang von „Entangled histories“ o<strong>der</strong> „histoire<br />
croisée“ gesprochen. Die dabei entstehenden transnationalen Erzählungen stellen allerdings<br />
oft nationale Geschichtsschreibungen weniger in Frage, als sie ihnen vielmehr<br />
etwas hinzufügen: seien dies an<strong>der</strong>e nationale Geschichten o<strong>der</strong> solche von<br />
Gruppen, die sich nicht nach nationalen Kriterien formieren – wie die Geschichte <strong>der</strong><br />
ArbeiterInnen, <strong>der</strong> Schwulen- und Lesbenbewegung, des Feminismus etc.<br />
Transnationalität in <strong>der</strong> kritischen Migrationsforschung<br />
In <strong>der</strong> kritischen Migrationsforschung erhält <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Transnationalität eine<br />
darüber hinausgehende Bedeutungsdimension: „In einer transnationalen Perspektive<br />
werden Migrant/innen als aktive Subjekte verstanden, die Migrationsprozesse aktiv<br />
gestalten“ 52 , schreiben María do Mar Castro Varela und Paul Mecheril. Sie verweisen<br />
damit auf einen Paradigmenwechsel: In den letzten Jahren wurde Migration selbst als<br />
transnationales Phänomen theoretisiert. Dabei fand eine Erweiterung vorherrschen<strong>der</strong>,<br />
verkürzt erscheinen<strong>der</strong> Analysen, die sich weitgehend auf einen dualistischen Blick<br />
auf die Verhältnisse zwischen „Nationen“ und „ImmigrantInnen“, Emigration und<br />
49<br />
50<br />
51<br />
52<br />
„Auch als seit den 1970er Jahren eine neue politische Generation mit ihrer tiefen Skepsis gegenüber Nationalismus,<br />
Nation und Nationalstaat den Ton in <strong>der</strong> Neuzeitgeschichte anzugeben begann, wurde doch nur sehr<br />
selten <strong>der</strong> analytische Rahmen <strong>der</strong> Nationalgesellschaft überschritten.“ Hans-Ulrich Wehler, Transnationale<br />
Geschichte – <strong>der</strong> neue Königsweg historischer Forschung?, in: Gunilla Budde, Sebastian Conrad, Oliver Janz<br />
(Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 162.<br />
Gunilla Budde, Sebastian Conrad, Oliver Janz, Vorwort, in: dies. (Hg.), Transnationale Geschichte, S. 12.<br />
Ebda.<br />
Castro Varela/Mecheril, Grenze und Bewegung, S. 52.<br />
22
Immigration, „push“- und „pull“-Faktoren 53 beschränkten, statt. Ein neues, vielschichtigeres<br />
Verständnis von Migration mit Augenmerk auf län<strong>der</strong>übergreifende Praktiken<br />
wurde entwickelt: 54 Unter dem Stichwort „Transmigration“ o<strong>der</strong> „transnationale<br />
Migration“ geht es nunmehr darum, die Veruneindeutigungen von Zugehörigkeit, die<br />
durch Migration entstehen (wie etwa Mehrfachzugehörigkeiten und Pendelbewegungen),<br />
in den Blick zu bekommen. Dabei werden zahlreiche transnationale Räume<br />
sichtbar, die Teil des heutigen Alltags geworden sind. „Das transnationale Paradigma<br />
betont die (Möglichkeit <strong>der</strong>) Gleichzeitigkeit von Verbundenheiten zu mehreren<br />
national-kulturellen Kontexten, in <strong>der</strong> neue, transnationale Räume entstehen.“ 55<br />
Als solche transnationalen Räume – in denen Zugehörigkeiten veruneindeutigt<br />
und nationale Erzählungen erweitert bzw. in Frage gestellt werden können – sollen in<br />
dieser Arbeit auch Lernorte in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft verstanden werden.<br />
Das Paradox <strong>der</strong> Kontextgebundenheit <strong>der</strong> Transnationalität<br />
Eine kleine Zwischenbemerkung zu einem Paradox <strong>der</strong> Transnationalität soll hier<br />
nicht ausgelassen werden: Betrachtet man die Literatur zu Transnationalität, so lässt<br />
sich feststellen, dass auch diese kontextgebunden ist – und daher nicht frei von lokalspezifischen<br />
Diskursen, nationalen Machtzusammenhängen und damit verbundenen<br />
jeweils spezifischen antinationalen Kämpfen und Theoriebildungen. Einerseits wird<br />
also <strong>der</strong> nationale Rahmen transzendiert, an<strong>der</strong>erseits heißt das allerdings nicht, dass<br />
dieser nicht dennoch einen konkreten Kontext <strong>der</strong> dabei vorgenommenen Neupositionierung<br />
darstellen kann. So erzählt also auch die Überschreitung etwas von <strong>der</strong><br />
spezifischen Position mit, die sie überschreitet. Aus israelischer Perspektive lassen<br />
etwa dieselben Überlegungen und Prämissen zur Durchkreuzung und Unterwan<strong>der</strong>ung<br />
des nationalen Paradigmas an<strong>der</strong>e Bezüge und Schlüsse aufkommen als bei-<br />
53<br />
54<br />
55<br />
Eine Migrationstheorie, entwickelt von Everett S. Lee in den 1970er Jahren, geht etwa davon aus, dass sich<br />
Migrationsentscheidungen über einen „Sog“ von demografischen und ökonomischen „push- und pull Faktoren“<br />
analysieren lassen. Dies wird so beschrieben, dass manche Regionen und Faktoren Migration begünstigen und<br />
somit „hinausdrückend“ wirken und an<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>um eine anziehende Kraft haben. Vor diesem Hintergrund<br />
werden Ursprungslän<strong>der</strong> immer im Hinblick auf „push“ (Arbeitslosigkeit, Lohnniveau, Armut …) und Einwan<strong>der</strong>ungslän<strong>der</strong><br />
im Hinblick auf „pull“ (Arbeitsplätze, höhere Gehälter, soziale Sicherheit) untersucht. Everett S.<br />
Lee, Eine Theorie <strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>ung, in: György Szell (Hg.), Regionale Mobilität. 11 Aufsätze, München 1972, S.<br />
115–129. An<strong>der</strong>e Faktoren, wie etwa die Interessen von ArbeitgeberInnen, tauchen in diesem Modell gar nicht<br />
auf. Kritisiert wird darüber hinaus, dass die Handlungsmacht <strong>der</strong> AkteurInnen, ihre Netzwerke sowie vielschichtigere<br />
Grenzüberschreitungen und Pendelbewegungen unberücksichtigt bleiben.<br />
Vgl. Linda Basch, Nina Glick Schiller, Christina Blanc-Szanton (Hg.), Nations Unbound. Transnational<br />
Projects, Postcolonial Predicaments and Deterritorialized Nation-States, New York 1994.<br />
Castro Varela/Mecheril, Grenze und Bewegung, S. 51.<br />
23
spielsweise in Deutschland. In Israel kann die „Globalisierung des Holocaust“ als<br />
bewusste transnationale diskursive Intervention eingesetzt werden, die sich nationalen<br />
Sinnstiftungen wi<strong>der</strong>setzt und diese erweitert:<br />
„Der Übergang von <strong>der</strong> nationalen zur transnationalen Holocaust-Erinnerung erfolgt auf mehreren Ebenen:<br />
Erstens auf <strong>der</strong> Ebene des Objekts <strong>der</strong> Erinnerung, <strong>der</strong> Opfer o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> direkten Täter. Sind<br />
allein Juden bzw. ‚die Deutschen’ betroffen o<strong>der</strong> auch – real o<strong>der</strong> potentiell – an<strong>der</strong>e Nationen?<br />
Zweitens, und dies ist im Grunde eng mit <strong>der</strong> ersten Ebene verknüpft, auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> sich erinnernden<br />
nationalen Kollektive. Ist die Erinnerung ein Monopol von Juden, von Juden und Deutschen, von<br />
Europäern o<strong>der</strong> eine Verpflichtung auch an<strong>der</strong>er Völker und Staaten, letztlich <strong>der</strong> gesamten Welt?<br />
Drittens aber geht es bei <strong>der</strong> Erinnerungsarbeit um die Ebene <strong>der</strong> Überwindung des nationalen Rahmens<br />
an sich. Nicht nur Nationen, son<strong>der</strong>n auch Klassen, Kirchen und an<strong>der</strong>e Kollektive partizipieren an <strong>der</strong><br />
Holocaust-Erinnerung und funktionalisieren sie für ihre je eigenen Zwecke.“ 56<br />
So überschreitet Transnationalität nationale Kontexte und stellt diese in Frage –<br />
kommt aber gerade dabei nicht gänzlich von ihnen los. 57 Die von Moshe Zimmermann,<br />
Daniel Levi und Natan Sznai<strong>der</strong> 58 und vielen an<strong>der</strong>en aktuellen TheoretikerInnen<br />
(vor allem aus transnationaler israelischer Sicht) formulierte Verbindung von<br />
Transnationalität mit dem Thema <strong>der</strong> „Globalisierung des Holocaust“ klingt in dieser<br />
Arbeit an unterschiedlichen Stellen an. 59 Diese Perspektiven bilden jedoch nicht den<br />
Fokus <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung. Die Frage nach <strong>der</strong> transnationalen <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
soll hier vielmehr selbst in einen konkreten und an<strong>der</strong>en spezifischen Kontext<br />
gestellt werden: jenen des Postnazismus. 60<br />
56<br />
57<br />
58<br />
59<br />
60<br />
Moshe Zimmermann, Die transnationale Holocaust-Erinnerung, in: Budde/Conrad/Janz (Hg.), Transnationale<br />
Geschichte, S. 202.<br />
Es gibt eine noch spezifischere Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Paradox <strong>der</strong> Partikularität <strong>der</strong> Transnationalität: In<br />
seinem Essay „Gedächtnisraum Europa“ arbeitet Natan Sznai<strong>der</strong> eine jüdische transnationale Perspektive des<br />
Kosmopolitismus heraus, die er zwischen Partikularismus und Universalismus verortet. Er erzählt von jüdischen<br />
Geschichtsschreibungen, die das Judentum als transnationales Kollektiv beschreiben. Mit Bezug auf<br />
Hannah Arendt entwickelt er das Konzept eines „verwurzelten Kosmopolitismus“. Natan Sznai<strong>der</strong>, Gedächtnisraum<br />
Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive, Bielefeld 2008,<br />
S. 85.<br />
Levy/Sznai<strong>der</strong>, Erinnerung im globalen Zeitalter.<br />
Ebenso wird <strong>der</strong> Ansatz <strong>der</strong> „multidirectional memory“ von Michael Rothberg – auch dieser kann als dezidierte<br />
transnationale Intervention in den US-amerikanischen Diskurs verstanden werden – im Zusammenhang mit <strong>der</strong><br />
Debatte um Singularität und Universalisierung des Zivilisationsbruchs rezipiert werden. Michael Rothberg,<br />
Introduction: Theorizing Multidirectional Memory in a Transnational Age, in: <strong>der</strong>s., Multidirectional memory.<br />
Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009, S. 1–29.<br />
Das angesprochene Paradox gilt selbstverständlich auch für die vorliegende Arbeit, insofern diese sowohl eine<br />
transnationale als auch eine postnazistische Position einnimmt.<br />
24
I.1.2<br />
Die postnazistische Kondition<br />
Der Begriff „Postnazismus“ arbeitet mit dem Präfix „post-“ in Anlehnung an Postkoloniale<br />
Theorien 61 und bezeichnet die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Kontinuitäten nach<br />
dem Bruch – <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage <strong>der</strong> Nazis und <strong>der</strong> Befreiung durch die Alliierten. Astrid<br />
Messerschmidt zufolge soll die Begrifflichkeit <strong>der</strong> postnationalsozialistischen Gesellschaft<br />
verdeutlichen, „dass etwas zwar vergangen und doch nicht vorüber ist.“ 62 Elke<br />
Rajal verwendet den Begriff des Postnazismus bzw. den <strong>der</strong> postnazistischen Gesellschaft,<br />
um zu betonen, „dass die österreichische Gesellschaft nach wie vor wesentlich<br />
von den bewussten wie unbewussten Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus<br />
geprägt ist“ und geht davon aus, dass dies „selbstverständlich auch Auswirkungen auf<br />
die schulische wie außerschulische Vermittlung des Nationalsozialismus und seiner<br />
Verfolgungs- und Vernichtungspolitik“ 63 hat. Insofern die NS-Nachfolgestaaten von<br />
einem diskursiven, juristischen, ökonomischen und personalen Weiterwirken des Nazismus<br />
geprägt sind, leben wir also in einer postnazistischen Gesellschaft. Der Politikwissenschafter<br />
Kien Ngi Ha spricht – allerdings im Zusammenhang mit dem Postkolonialismus<br />
– von einer Analysekategorie, die nicht auf etwas Zurückliegendes, Erledigtes,<br />
son<strong>der</strong>n auf etwas Unabgeschlossenes hinweist. 64 Diese Unabgeschlossenheit<br />
betonte bereits Theodor W. Adorno in seiner Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Frage nach<br />
einer Erziehung nach Auschwitz. Er sprach von einem Nachleben des Nazismus in<br />
<strong>der</strong> Demokratie: „Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht,<br />
61<br />
62<br />
63<br />
64<br />
„Als ein theoretisches Konzept enthält <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Postkolonialität eine Doppelbedeutung, mit <strong>der</strong> zum<br />
Ausdruck kommen soll, welche Auswirkungen es hat, nach dem Ende des historischen Kolonialismus und mit<br />
den Nachwirkungen <strong>der</strong> kolonialen Erfahrung zu leben. Im Begriff <strong>der</strong> Postkolonialität kommt somit eine doppelte<br />
zeitgeschichtliche Kontextualisierung zum Ausdruck, die sich sowohl auf die Überwindung kolonialer<br />
Herrschaftszusammenhänge bezieht wie auch auf <strong>der</strong>en Weiterwirken.“ Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>,<br />
S. 47. Und auf den Punkt gebracht: „Das Präfix ‚post’ in Postkolonialismus steht eben nicht für das<br />
Vergangene, son<strong>der</strong>n für die gegenwärtige Verbindung mit <strong>der</strong> Geschichte.“ Ebda., S. 143.<br />
Ebda., S. 144. Messerschmidt spricht sich allerdings gegen eine Verkürzung <strong>der</strong> Selbstbezeichnung „Nationalsozialismus“<br />
zu „Nazismus“ aus, da sie die nazistische Aufnahme des „Sozialismus“ nicht allzu einfach<br />
unterschlagen will. Ich wähle hier wie<strong>der</strong>um bewusst die Verkürzung, da ich es nicht für problematisch halte,<br />
mich <strong>der</strong> antifaschistischen Fremdbezeichnung „Nazi“ – die in allen an<strong>der</strong>en Sprachen als Deutsch gängig ist –<br />
anzuschließen. Um zahlreiche damit verbundene Problematiken wissend, suche ich nach einer Möglichkeit <strong>der</strong><br />
Aktualisierung einer parteiischen antifaschistischen Position, die allerdings auch selbstreflexiv um ihre Verstrickungen<br />
und Selbstimmunisierungen weiß und diesen entgegenarbeiten will.<br />
Rajal, Erziehung nach/über Auschwitz, S. 27. Sie definiert ihren kritischen Gebrauch des Begriffs „Postnazismus“<br />
folgen<strong>der</strong>maßen: „Das Faktum, dass es im Jahr 1945 keineswegs zu einem vollständigen Bruch kam<br />
und zudem viele Nazis in das politische System integriert wurden, hinterließ Spuren, die weit über die unmittelbaren<br />
Nachkriegsjahre hinaus in <strong>der</strong> Gesellschaft wirksam sind. Dieses durch den Nationalsozialismus und sein<br />
Fortwirken geschaffene gesellschaftliche Verhältnis soll mit dem Begriff Postnazismus gefasst werden.“ Ebda.,<br />
S. 26.<br />
Vgl. Kien Ngi Ha, Ethnizität und Migration reloaded. Kulturelle Identität, Differenz und Hybridität im postkolonialen<br />
Diskurs, Berlin 2004, S. 95.<br />
25
ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch<br />
nicht starb, o<strong>der</strong> ob es gar nicht erst zu Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen<br />
fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“ 65<br />
Eine Perspektive, die sowohl Transnationalität als auch den Postnazismus als Kondition<br />
denken will, steht in gewisser Weise immer in dem oben angesprochenen Paradox<br />
des Transnationalen. Sie verpflichtet sich sowohl <strong>der</strong> Verantwortung aus <strong>der</strong><br />
spezifischen Situation des Postnazismus als auch <strong>der</strong> Notwendigkeit, dessen Diskurs<br />
aufzubrechen, wenn er zur nationalen Identitätsstiftung eingesetzt wird. Der Kontext,<br />
in dem diese doppelte Aufgabe virulent wird, ist die Migrationsgesellschaft.<br />
I.1.3<br />
In <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
Zu den neueren Diskursen innerhalb des Postnazismus zählt auch jener, <strong>der</strong> den<br />
Holocaust als Teil einer negativen deutschen (und – lei<strong>der</strong> durch den teilweise immer<br />
noch wirksamen Mythos von Österreich als erstem Opfer <strong>der</strong> Nazis sehr viel ambivalenter<br />
– auch österreichischen 66 ) Identität anerkennt. So hat sich „seit den 1990er<br />
Jahren eine Art Stolz auf die geleistete Aufarbeitung entwickelt, wodurch die Erinnerung<br />
an den NS geradezu als Markenzeichen <strong>der</strong> politischen Kultur <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
erscheint.“ 67 Wie wichtig diese Errungenschaft auch scheinen mag, ist sie<br />
teilweise dennoch mit einer Externalisierung problematischer Geschichtsbezüge auf<br />
MigrantInnen verbunden. Denn dabei werden, wie Astrid Messerschmidt schreibt,<br />
„einerseits nationale Selbstbil<strong>der</strong> hergestellt, an<strong>der</strong>erseits Fremdbil<strong>der</strong> von Einwan<strong>der</strong>ern,<br />
die unter Verdacht geraten, sich nicht angemessen mit <strong>der</strong> Geschichte auseinan<strong>der</strong><br />
zu setzen.“ 68<br />
65<br />
66<br />
67<br />
68<br />
Theodor W. Adorno, Was bedeutet Aufarbeitung <strong>der</strong> Vergangenheit?, in: <strong>der</strong>s., Erziehung zur Mündigkeit.<br />
Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, S. 10.<br />
Vgl. Heidemarie Uhl, Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in <strong>der</strong><br />
Zweiten Republik, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, ÖZP 2001/1, S. 19–34.<br />
Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 184.<br />
Ebda.<br />
26
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> als Exklusionsmechanismus?<br />
Die gesellschaftlichen, juristischen und diskursiven Kontinuitäten des Nazismus nach<br />
seiner Nie<strong>der</strong>lage und die Ambivalenzen in <strong>der</strong> postnazistischen Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem Holocaust scheinen weitgehend ausgeblendet zu werden, wenn von MigrantInnen<br />
eindeutige Positionen verlangt werden. Der Zivilisationsbruch wird dabei<br />
offenbar absur<strong>der</strong>weise zum Garant für „Zivilisiertheit“. So for<strong>der</strong>te etwa Armin<br />
Laschet, ehemaliger nordrhein-westfälischer Integrationsminister, ein Bekenntnis zur<br />
deutschen Vergangenheit von allen MigrantInnen in Deutschland. Anlässlich des<br />
Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2010 spricht er vom Gedenken an den Holocaust<br />
als „Teil unserer gemeinsamen Leitkultur”. 69 Vor diesem Hintergrund stellt Die<br />
Zeit eine Reihe kritischer Fragen: „Wird das Bekenntnis zur deutschen Geschichte so<br />
zum letzten, feinsinnigsten, ultimativen Einbürgerungstest? Erweist sich die Erinnerung<br />
an den Holocaust vielleicht gar als neuer, beson<strong>der</strong>s subtiler Exklusionsmechanismus?<br />
Kann in diesem Sinne ‚deutsch’ nur sein, wer erinnert?“ 70<br />
Das problematische an Laschets Diskurs ebenso wie an den diesem gegenüberstehenden<br />
kritischen Fragen ist, dass beide nicht die Migrationsgesellschaft und<br />
die mit ihr verbundenen strukturellen Ungleichheiten und Ausschlüsse adressieren,<br />
son<strong>der</strong>n die „MigrantInnen“ als „An<strong>der</strong>e“. Diesen wird ein Mangel gegenüber dem<br />
angeblichen Konsens <strong>der</strong> Dominanzkultur – <strong>der</strong> Leitkultur einer negativen Erinnerung<br />
an die nazistischen Verbrechen – unterstellt. 71<br />
Beide Herangehensweisen an das Thema werden, so die These dieser Arbeit,<br />
nicht den Herausfor<strong>der</strong>ungen gerecht, die sich an eine aktuelle <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
stellen. Diese müsste nämlich vielmehr selbst transnational werden und ihre mehrheitsgesellschaftliche<br />
Perspektive verän<strong>der</strong>n.<br />
In dieser Arbeit soll daher eben nicht nach einer spezifischen Form <strong>der</strong> Vermittlung<br />
69<br />
70<br />
71<br />
MIGAZIN (28.01.2010), http://www.migazin.de/2010/01/28/gedenken-an-holocaust-teil-unserergemeinsamen-leitkultur/<br />
(20.01.2011). Konkreter: „Auf die Frage, ob auch die Eingebürgerten, <strong>der</strong>en Eltern<br />
o<strong>der</strong> Großeltern teilweise eine an<strong>der</strong>e Geschichte haben, sich dieser Verantwortung stellen müssen, antwortete<br />
Laschet: ‚Ja. Deutsche Geschichte ist nicht nur Beethoven und Goethe, son<strong>der</strong>n auch Auschwitz und Majdanek.<br />
Kein Kind <strong>der</strong> Nachkriegsgeschichte trägt Schuld an den Ereignissen während des Nationalsozialismus. Aber<br />
für eine gemeinsame Zukunft brauchen wir auch ein gemeinsames Bewusstsein für die Vergangenheit. Das<br />
bedeutet vor allem, jeglicher Form von Antisemitismus entgegenzutreten, und uneingeschränkt für das<br />
Existenzrecht Israels einzutreten.’”<br />
Topcu, „Bist du Jude?“, http://www.zeit.de/2010/04/Umfrage-Reportage?page=all<br />
„Ein klassisch koloniales Muster kommt […] zur Anwendung, wenn die ‚Fremden’ als defizitär, weil historisch<br />
unaufgeklärt repräsentiert werden.“ Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 185.<br />
27
„für MigrantInnen“ gesucht werden; vielmehr geht es um einen Paradigmenwechsel<br />
<strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Tatsache <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft.<br />
Der Begriff <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft verschiebt dabei die Perspektive vom<br />
Blick auf „die MigrantInnen“ und <strong>der</strong> damit einhergehenden Zuschreibung als „die<br />
An<strong>der</strong>en“ hin zu einem sozialen Zusammenhang, in dem Migration – und damit verbundene<br />
gesellschaftliche Prozesse – eine lange Geschichte und Gegenwart haben, die<br />
we<strong>der</strong> wegzudenken noch rückgängig zu machen sind. Migration prägt die Gesellschaft,<br />
in <strong>der</strong> wir leben – ob wir es wollen o<strong>der</strong> nicht.<br />
Migrationsgesellschaft als Schlüsselbegriff in <strong>der</strong> Migrationspädagogik<br />
„Die Tatsache <strong>der</strong> Migration betrifft und bestimmt in entscheidendem Maße gesellschaftliche<br />
Wirklichkeit.“ 72 Mit diesem Satz beginnt Paul Mecheril seine Beschreibung<br />
des „Schlüsselbegriffs Migrationsgesellschaft“ in den einführenden Materialien<br />
„Bachelor/Master. Migrationspädagogik“. Er wählt den Begriff <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft,<br />
weil dieser zugleich allgemeiner und für die Gegenwart präziser ist als etwa<br />
die Bezeichnungen „Einwan<strong>der</strong>ungs- und Zuwan<strong>der</strong>ungsgesellschaft“. 73 Beide vermögen<br />
transnationale Migrationsphänomene nicht in ihrer Heterogenität zu fassen, da<br />
sie Migration aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Angehörigen <strong>der</strong> Dominanzkultur erstens auf „Immigration“<br />
(und die damit einhergehende Vorstellung einer einmaligen und eindimensionalen<br />
Grenzüberschreitung) reduzieren und zweitens suggerieren, diese würden<br />
einer bereits existierenden Gesellschaft bloß hinzugefügt. Um die grundlegende<br />
Durchdrungenheit <strong>der</strong> Gesellschaft von vielfältigen Migrationsrealitäten zu beschreiben,<br />
scheint <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft fruchtbarer und treffen<strong>der</strong> zu sein.<br />
Darüber hinaus sei hier noch gemeinsam mit María do Mar Castro Varela und Paul<br />
Mecheril betont, dass Migration den Normal- und nicht den Ausnahmezustand europäischer<br />
Gesellschaften darstellt. 74 Wenn hier also von einer <strong>Geschichtsvermittlung</strong> in<br />
<strong>der</strong> Migrationsgesellschaft die Rede ist, dann geht es nicht um eine Ausnahmevermittlung,<br />
son<strong>der</strong>n um eine Reflexion für den allgemeinen Vermittlungsalltag.<br />
72<br />
73<br />
74<br />
Paul Mecheril, Schlüsselbegriff: Migrationsgesellschaft, in: Mecheril/Kalpaka/Castro Varela/Dirim/Melter,<br />
Migrationspädagogik, S. 11.<br />
Zu den offiziellen Selbstdefinitionen: Deutschland definierte sich erst 1998 – unter <strong>der</strong> rot-grünen Bundesregierung<br />
– erstmals offiziell als Einwan<strong>der</strong>ungsgesellschaft. Österreich hat dies bis heute nicht geschafft. Zu<br />
Deutschland vgl. Mark Terkessidis, Interkultur, Berlin 2010, S. 29 f.<br />
Vgl. Castro Varela/Mecheril, Grenze und Bewegung, S. 23.<br />
28
Dieser Blickwechsel auf die postnazistische Migrationsgesellschaft als Kondition<br />
hat für die konkrete Frage nach <strong>der</strong> Vermittlung zu Holocaust und zu Nazismus<br />
mehrere ebenso theoretisch-programmatisch wie praktisch-erfahrungsgemäß fruchtbare<br />
Implikationen:<br />
Erstens geht es nicht mehr um die Identifizierung von irgendwelchen „An<strong>der</strong>en“<br />
(ob als „Problem“ o<strong>der</strong> als „Bereicherung“), so dass nunmehr die Logiken <strong>der</strong><br />
Identifizierung selbst in den Blick geraten können, ebenso wie Strukturen des Ausschlusses,<br />
<strong>der</strong> Diskriminierung und <strong>der</strong> Gewalt. Astrid Messerschmidt zufolge gelingt<br />
es einer migrationsgesellschaftlichen Perspektive <strong>der</strong> Pädagogik, ungleiche soziale<br />
Verhältnisse und Lebensbedingungen wahrzunehmen. Die Migrationsgesellschaft ist<br />
dabei „ein Kontext, <strong>der</strong> von allen Bewohner/innen geteilt wird und auf dem Ungleichheit<br />
reproduziert sowie die Ansprüche an Partizipation, Zugehörigkeit und Differenz,<br />
an Gleichheit in Verschiedenheit verhandelt und ausgetragen werden.“ 75<br />
Zweitens wird durch den Blickwechsel auf die postnazistische Migrationsgesellschaft<br />
als Kondition ein Terrain eröffnet, innerhalb dessen Verhandlungen über<br />
die Bedeutung von Geschichte in <strong>der</strong> Gegenwart stattfinden können – von einem<br />
Punkt aus, <strong>der</strong> alle betrifft und ohne dass dabei bereits alle möglichen SprecherInnenpositionen<br />
und Antworten im Vorfeld verteilt sind. Konkrete Verbindungen zwischen<br />
Antisemitismus und Rassismen in unserer Gesellschaft lassen sich dabei etwa ebenso<br />
herausarbeiten wie wesentliche Unterschiede und Brüche. In <strong>der</strong> Vermittlungsarbeit<br />
kann Geschichtsschreibung auf diese Weise als „Kampf um Deutungsmacht“, <strong>der</strong><br />
jeweils in <strong>der</strong> Gegenwart unter den Bedingungen <strong>der</strong> postnazistischen Migrationsgesellschaft<br />
erfolgt, vorgestellt werden. Dabei kann eine Aktualisierungsarbeit stattfinden,<br />
die es den Jugendlichen ermöglicht, Position gegenüber den unterschiedlichen<br />
Geschichtsbil<strong>der</strong>n, mit denen sie konfrontiert sind, zu beziehen. Sie können auf diese<br />
Weise in eine Reflexion darüber einbezogen werden, wie die „Zukunft <strong>der</strong> Vergangenheit“<br />
aussehen könnte und dazu angeregt werden, selbst Überlegungen anzustellen,<br />
wie sich einer historischen Verantwortung gerecht werden ließe, die sich dem<br />
Holocaust als Teil <strong>der</strong> Geschichte Österreichs (als NS-Nachfolgestaat) stellt und<br />
mögliche Konsequenzen daraus formuliert. 76<br />
75<br />
76<br />
Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 99.<br />
Vgl. Charlotte Martinz-Turek, Nora Sternfeld, Ein Ergänzungsblatt für das Schulbuch. Strategien <strong>der</strong> Vermittlung<br />
in <strong>der</strong> Ausstellung „Verbrechen <strong>der</strong> Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944“, in:<br />
Büro trafo.K (Nora Sternfeld, Renate Höllwart, Charlotte Martinz-Turek), Alexan<strong>der</strong> Pollak, In einer Wehrmachtsausstellung.<br />
Erfahrungen mit <strong>Geschichtsvermittlung</strong>, Wien 2003, S. 42.<br />
29
I.2 Agonistische <strong>Kontaktzonen</strong><br />
Wenn wir von solchermaßen verstrickten Bedingungen ausgehen, stellt sich die Frage,<br />
wie sich Bildungssituationen denken lassen, die diesen Konditionen gerecht werden<br />
können. Gerade die mehrfachen Verstrickungen verlangen eine Form <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung,<br />
die imstande ist, Geschichte(n) zugleich zusammen- und auseinan<strong>der</strong> zu<br />
denken: Denn we<strong>der</strong> einfache Vergleiche zwischen unterschiedlichen Unterdrückungs-<br />
und Verbrechensgeschichten noch allzu monoperspektivische Identifikationsangebote<br />
können <strong>der</strong> Situation im postnazistischen, migrationsgesellschaftlichen<br />
Klassenzimmer gerecht werden.<br />
Wie lässt sich also eine Lernsituation denken, die spezifische Geschichte(n)<br />
verhandelbar macht und dafür einen gemeinsamen Raum schafft, in dem diese überhaupt<br />
verhandelt werden können? Wie lässt sich eine Multiperspektivität denken, die<br />
ihre eigenen Ausschlüsse reflektieren kann und Zuschreibungen zugunsten <strong>der</strong> Vervielfältigung<br />
von SprecherInnenpositionen vermeidet? Wie können Referenz- und<br />
Diskursräume erweitert und dabei dennoch Machtverhältnisse nicht nivelliert werden?<br />
Die theoretische Beschäftigung mit dem Begriff <strong>der</strong> Kontaktzone soll in diesem Subkapitel<br />
dazu beitragen, ein methodisches Instrumentarium zu entwickeln und sich so<br />
möglichen Antworten auf diese Fragen anzunähern.<br />
Die postkolonialen TheoretikerInnen James Clifford und Mary Louise Pratt entwickeln<br />
in den 1990er Jahren das Konzept <strong>der</strong> „Contact Zone“. Als solche beschreiben<br />
sie gesellschaftliche Räume, in denen unterschiedliche soziale und kulturelle<br />
Positionen aufeinan<strong>der</strong>treffen und miteinan<strong>der</strong> alltäglich – mehr o<strong>der</strong> weniger konfliktuell<br />
– auskommen müssen und verhandelt werden. Pratt gebraucht den Begriff –<br />
entsprechend ihrem Forschungsgegenstand – vor allem im Zusammenhang mit westlichen<br />
Expansionen und ethnografischen Explorationen. Clifford betont, dass sich<br />
dieser auch auf soziale Differenzierungen – etwa in einer Stadt – ausweiten lässt. Vor<br />
diesem Hintergrund eignet er sich zur Beschreibung geteilter Räume in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft:<br />
77<br />
77<br />
Auch <strong>der</strong> Kurator Christian Kravagna arbeitete in seiner Ausstellung „Living Across. Spaces of Migration“, die<br />
von 4. November bis 5. Dezember 2010 im Ausstellungsraum xhibit <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> bildenden Künste Wien<br />
zu sehen war, mit dem Begriff <strong>der</strong> Kontaktzone für die Beschreibung künstlerischer Arbeiten, die das Zusam-<br />
30
„The notion of a contact zone, articulated by Pratt in contexts of European expansion and transculturation<br />
can be extended to include cultural relations within the same state, region, or city – in the centers<br />
rather than the frontiers of nations and empires. The distances at issue here are more social than geographic.<br />
For most inhabitants of a poor neighborhood, located perhaps just blocks or a short bus ride<br />
from a fine-arts museum, the museum might as well be another continent. Contact perspectives<br />
recognize that ‚natural’ social distances and segregations are historical/political products.“ 78<br />
Da das Konzept für einen Umgang mit verstrickten Konditionen produktiv scheint,<br />
seien hier einige wesentliche Merkmale dieser <strong>Kontaktzonen</strong> vorgestellt. Anhand<br />
dieser können in den folgenden Kapiteln relevante wissenschaftliche Kontexte für die<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> in <strong>der</strong> postnazistischen Migrationsgesellschaft beschrieben und<br />
analysiert werden.<br />
I.2.1<br />
Geteilte soziale Räume<br />
Zunächst muss gesagt werden, dass sowohl Mary Louise Pratt als auch James Clifford<br />
aus <strong>der</strong> Postkolonialen Theorie einerseits und <strong>der</strong> Literaturwissenschaft 79 sowie <strong>der</strong><br />
Museumstheorie an<strong>der</strong>erseits kommen. Ihr Ansatz bezieht sich also nicht direkt auf<br />
die Situation <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong>. Noch weniger haben die beiden wohl an den<br />
postnazistischen Kontext gedacht, als sie ihr Konzept entwickelt und beschrieben<br />
haben. Dennoch sinnvoll und relevant für diese Arbeit scheint die Idee <strong>der</strong> Kontaktzone,<br />
weil es mit ihrer Hilfe gelingt, Verbindungen zwischen unterschiedlichen<br />
Positionen vor dem Hintergrund von Verbrechensgeschichte zu denken, ohne dabei<br />
vereinnahmende o<strong>der</strong> vereinheitlichende Vorannahmen zu treffen. Doch versuchen<br />
wir den Begriff – bevor wir ihn für unsere Fragen anwenden – einmal aus seinem<br />
eigenen Kontext heraus zu verstehen. So schreibt Mary Louise Pratt:<br />
„I use this term to refer to social spaces where cultures meet, clash, and grapple with each other, often in<br />
contexts of highly asymmetrical relations of power, such as colonialism, slavery, or their aftermaths as<br />
they are lived out in many parts of the world today. Eventually I will use the term to reconsi<strong>der</strong> the<br />
78<br />
79<br />
menleben in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft thematisieren. Vgl. Christian Kravagna, Living Across. Spaces of<br />
Migration, in: Vida Bakondy et al. (Hg.), Viel Glück! Migration Heute. Wien – Belgrad – Zagreb – Istanbul<br />
2010, S. 464–470.<br />
Clifford, Routes, S. 204.<br />
Der Begriff „Contact Zone” stammt Pratt zufolge aus <strong>der</strong> Linguistik: „I borrow the term ‚contact’ here from<br />
linguistics, where the term ‚contact language’ refers to an improvised language that develops among speakers<br />
of different tongues who need to communicate with each other consistently, usually in the context of trade.<br />
Such languages begin as pidgins, and are called creoles when they come to have native speakers of their own.<br />
Like the societies of the contact zone, such languages are commonly regarded as chaotic, barbarous and lacking<br />
in structure. (Ron Carter has suggested the term ‚contact literatures’ to refer to literatures written in European<br />
languages from outside Europe).“ Mary Louise Pratt, Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, New<br />
York, 2. Auflage 2008, S. 8.<br />
31
models of community that many of us rely on in teaching and theorizing and that are un<strong>der</strong> challenge<br />
today.“ 80<br />
Der Begriff beschreibt geteilte 81 soziale Räume des Aufeinan<strong>der</strong>treffens und for<strong>der</strong>t<br />
dabei bestehende Konzepte von Gemeinschaft heraus: Er durchkreuzt Vorstellungen<br />
von „Authentizität“ ebenso sehr wie von „Ohnmacht“. Er ermöglicht so eine Analyse,<br />
die Unterschiede we<strong>der</strong> normiert noch essentialisiert. Hierarchien werden dabei we<strong>der</strong><br />
als einziger Bedeutung produzieren<strong>der</strong> Faktor betrachtet, noch werden sie außer Acht<br />
gelassen.<br />
„One coinage that recurs throughout the book is the term ‚contact zone’, which I use to refer to the space<br />
of imperial encounters, the space in which peoples geographically and historically separated come into<br />
contact with each other and establish ongoing relations, usually involving conditions of coercion, radical<br />
inequality, and intractable conflict.“ 82<br />
Dadurch wird es möglich, Handlungsmacht in Theorie und Praxis zu denken, die allen<br />
Beteiligten in einer Kontaktzone zur Verfügung steht – allerdings vor dem Hintergrund<br />
bestehen<strong>der</strong> Asymmetrien <strong>der</strong> Machtverhältnisse in jeweils unterschiedlicher<br />
Weise. <strong>Kontaktzonen</strong> sind also vermachtete Handlungsräume.<br />
Komplexe Interaktionen<br />
In diesen geteilten Räumen treten AkteurInnen unter unterschiedlichen Bedingungen<br />
miteinan<strong>der</strong> in Interaktion. Das Produktive an dem Begriff ist, dass hier Subjektbildung<br />
dem Kontakt nicht substantiell vorausgeht, son<strong>der</strong>n erst durch gemeinsames<br />
Handeln und Verhandeln entsteht: 83 We<strong>der</strong> ist die Idee <strong>der</strong> Contact Zone auf <strong>der</strong><br />
westlichen, humanistischen Idee scheinbar universal gleich handeln<strong>der</strong> Menschen<br />
aufgebaut noch auf kulturalistischen Vorstellungen einer Vorbestimmtheit durch<br />
Herkunft. So konstituieren sich Subjekte und AkteurInnen in <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> Contact<br />
Zone eben nicht essentiell – einer <strong>der</strong> Interaktion vorgängigen Kultur o<strong>der</strong> sozialen<br />
Position entsprechend –, son<strong>der</strong>n in Verhältnis zueinan<strong>der</strong>:<br />
80<br />
81<br />
82<br />
83<br />
Mary Louise Pratt, The Arts of the Contact Zone, Profession 91, New York MLA 1991, S. 34<br />
Das Konzept <strong>der</strong> „geteilten Räume“ bezieht sich auf den doppelten Sinn von „shared“ und „divided spaces“,<br />
wie er in <strong>der</strong> Postkolonialen Theorie in Bezug auf Grenzen und Konflikte thematisiert wird. Vgl. etwa Michael<br />
Chisholm/David Smith (Hg.), Shared Space, Divided Space: Essays on Conflict and Territorial Organization,<br />
London – New York 1990. Pratt schreibt in diesem Zusammenhang: „‚Contact Zone’ in my discussion is often<br />
synonymous with ‚colonial frontier’. But while the latter term is grounded within an European expansionist<br />
perspective (the frontier is a frontier only with respect to Europe), ‚contact zone’ shifts the center of gravity and<br />
the point at which their trajectories now intersect.“ Pratt, Imperial Eyes, S. 8.<br />
Ebda.<br />
Dies entspricht dem Stand <strong>der</strong> Debatten in <strong>der</strong> Postkolonialen Theorie. Vgl. hier etwa die dekonstruktive<br />
Foucault-Rezeption und -Relektüre bei Gayatri C. Spivak: Gayatri Chakravorty Spivak, Outside in the<br />
Teaching Machine, New York/London 1993.<br />
32
Die Praxis <strong>der</strong> Interaktion vor dem Hintergrund einer Ko-Präsenz 85 ersetzt essentialisierende<br />
Vorstellungen von Gemeinschaft: Sie adressiert we<strong>der</strong> eine „liberale Auffassung“<br />
von Gemeinschaft, „welche die Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Individuen betont o<strong>der</strong> das<br />
gesellschaftliche Band entwe<strong>der</strong> als reines Nebeneinan<strong>der</strong>sein o<strong>der</strong> als rationellen<br />
Vertrag versteht“, noch geht sie von einer „kommunitaristischen Auffassung“ aus, die<br />
„das Zusammengehören <strong>der</strong> Individuen in einer Einheit, die sie überragt und in <strong>der</strong> sie<br />
ihre Wahrheit und Sinn finden, denkt.“ 86 Sowohl das Phantasma einer Selbstbestimmung<br />
(wie sie die Aufklärung offensichtlich auf Kosten weiter Teile <strong>der</strong> Welt vorgenommen<br />
hat) als auch die Idee totaler Fremdbestimmung werden in <strong>der</strong> Konzeption<br />
<strong>der</strong> Kontaktzone zurückgewiesen. Vielmehr wird <strong>der</strong> Blick auf dynamische Aktionspotentiale<br />
und Aushandlungsprozesse gerichtet, die trotz <strong>der</strong> Dominanzverhältnisse<br />
das Ergebnis gemeinsamer Präsenzen sind: „The term ‚contact’ foregrounds the interactive,<br />
improvisational dimensions of imperial encounters so easily ignored or suppressed<br />
by accounts of conquest and domination told from the inva<strong>der</strong>’s perspective.“<br />
87 Der Begriff kontrastiert, Pratt zufolge, mit jenem <strong>der</strong> „Imagined Community“<br />
„A ‚contact’ perspective emphasizes how subjects get constituted in and by their relations to each other.<br />
It treats the relation among colonizers and colonized, or travelers and ‚travelees’, not in term of<br />
separatedness, but in terms of co-presence, interaction, interlocking un<strong>der</strong>standings and practices, and<br />
often within radically asymmetrical relations of power.“ 84<br />
bei Benedict An<strong>der</strong>son. Dieser würde Gemeinschaft als etwas beschreiben, das auf<br />
dem Reißbrett entsteht. 88 Demgegenüber handelt es sich bei <strong>der</strong> Kontaktzone um Formen<br />
<strong>der</strong> Gemeinschaft, die performativ durch Praxen und Interaktionen immer neu<br />
produziert werden. Pratt zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass in geteilten<br />
84<br />
85<br />
86<br />
87<br />
88<br />
Pratt, Imperial Eyes, S. 8.<br />
Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy erarbeitet eine Idee <strong>der</strong> Gemeinschaft als Praxis und als „Singulär/Plural<br />
Sein“ ausgehend von dem Konzept des „Mit-Seins“ bei Martin Heidegger. Auch er spricht in diesem<br />
Zusammenhang von einer Ko-Präsenz, die mit <strong>der</strong> Kontaktzone sehr kompatibel scheint: „Die bloße Tatsache,<br />
sich zusammen an einem Ort zu befinden, in einem Eisenbahnwaggon zum Beispiel o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Metro, schafft<br />
durchaus – wenngleich unendlich feine – Bezüge, die bei einem Ereignis (einem Unfall, einer Panne) in<br />
Erscheinung treten könnten. (…) Mit an<strong>der</strong>en Worten gehen ‚neben’ o<strong>der</strong> ‚bei’ stets mit Effekten einher, die<br />
man als Ansteckung und Kommunikation charakterisieren könnte.“ Jean-Luc Nancy, Mit-Sinn, in: Elke Bippus,<br />
Jörg Huber, Dorothée Richter (Hg.), Mit-Sein. Gemeinschaft – ontologische und politische Perspektivierungen,<br />
Zürich 2010, S. 21–32, hier S. 23.<br />
Marie-Eve Morin, Jean-Luc Nancys Denken des Singulär-Plurals o<strong>der</strong> Das notwendige Zusammensein, in:<br />
Bippus/Huber/Richter (Hg.), Mit-Sein, S. 33. Marie-Eve Morin liefert auch ein Verständnis <strong>der</strong> Gemeinschaft<br />
bei Nancy, das für die Definition <strong>der</strong> Kontaktzone fruchtbar sein kann: „Deshalb ist das, was das Wort<br />
‚Gemeinschaft’ versucht zu benennen – eine Praxis o<strong>der</strong> eine Weise zu sein – besser als ‚Zusammensein’ o<strong>der</strong><br />
‚Mitsein’ zu bezeichnen, wo ‚Sein’ als transitives Verbum verstanden wird.“, ebda., S. 41.<br />
Pratt, Imperial Eyes, S. 8.<br />
„The idea of the contact zone is intended in part to contrast with ideas of community that un<strong>der</strong>lie much of the<br />
thinking about language, communication, and culture that gets done in the academy“. Pratt, Arts of he Contact<br />
Zone, S. 37.<br />
33
Räumen unterschiedliche Spielregeln zugleich und nebeneinan<strong>der</strong> vorherrschen. 89<br />
Dazu muss gesagt werden, dass die Räume selbst unterschiedliche, oft unerwartete,<br />
oft taktische Formen <strong>der</strong> Vermischung generieren. 90<br />
Unebene Gegenseitigkeiten<br />
James Clifford greift den Begriff von Mary Louise Pratt auf und wendet ihn in einer<br />
Studie über ethnografische Museen an. Er macht darauf aufmerksam, dass <strong>Kontaktzonen</strong><br />
Formen <strong>der</strong> Reziprozität – <strong>der</strong> Gegenseitigkeit – erzeugen, die allerdings<br />
keineswegs auf Gleichheit innerhalb <strong>der</strong> realen Machtverhältnisse beruhen, son<strong>der</strong>n<br />
vielmehr oft auf Basis massiver hierarchischer Ungleichberechtigung stattfinden. 91<br />
Clifford betont daher, dass wir uns <strong>Kontaktzonen</strong> nicht als konfliktfreie Räume einer<br />
machtfreien Begegnung phantasieren können: „A kind of reciprocity was claimed, but<br />
not a give-and-take that could lead to a final meeting of minds, a coming together that<br />
would erase the discrepancies, the ongoing power imbalances of contact relations.“ 92<br />
Diesen Kontakt unter ungleichen Ausgangsbedingungen bezeichnet Clifford mit<br />
„uneven reciprocity“ 93 – unebene Gegenseitigkeit. 94 Was dieses Konzept so fruchtbar<br />
macht, ist, dass damit Formen <strong>der</strong> Kommunikation beschrieben werden können, ohne<br />
über reale Machtverhältnisse hinwegsehen zu müssen. Sehr oft wurde dialogische<br />
Kommunikation nämlich entwe<strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Vorannahme <strong>der</strong> Gleichheit – und damit<br />
um den Preis <strong>der</strong> Nivellierung realer Ungleichheit – gedacht o<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Grundlage<br />
von Herrschaftsverhältnissen und Hierarchien, die zumeist wenig Platz ließen, um<br />
89<br />
90<br />
91<br />
92<br />
93<br />
94<br />
Ebda., S. 38.<br />
„Autoethnography, transculturation, critique, collaboration, bilingualism, mediation, parody, denunciation,<br />
imaginary dialogue, vernacular expression – these are some of the literate arts of the contact zone. Miscomprehension,<br />
incomprehension, dead letters, unread masterpieces, absolute heterogeneity of meaning– these are<br />
some of the perils of writing in the contact zone. They all live among us today in the transnationalized<br />
metropolis of the United States and are becoming more widely visible, more pressing, and, like Guaman<br />
Poma’s text, more decipherable to those who once would have ignored them in defense of a stable, centered<br />
sense of knowledge and reality.“ Ebda., S. 35.<br />
„In contact zones (…) geographically and historically separated groups establish ongoing relations. These are<br />
not relations of equality, even though processes of mutual exploitation and appropriation may be at work. As<br />
we have seen, fundamental assumptions about relationship itself – notions of exchange, justice, recipocity –<br />
may be topics of struggle and negotiation.“, James Clifford, Museums as Contact Zones, in: Clifford, Routes,<br />
S. 194–195.<br />
Ebda., S. 193.<br />
Ebda.<br />
Sogar das Verständnis dessen, was „Reziprozität“ ist, beruht in <strong>der</strong> Contact Zone auf unterschiedlichen Prämissen:<br />
„While reciprocity is a crucial stake, it will not be un<strong>der</strong>stood in the same way by people from different<br />
cultures in assymetrical power relationships. Reciprocity in the Tlingit’s demands for help was not, as in a<br />
commercial transaction, the goal of being paid up, quit. Rather, the intent was to challenge and rework a relationship.<br />
The objects of the Rasmussen Collection, however fairly or freely bought and sold, could never be<br />
entirely possessed by the museum. They were sites of a historical negotiation, occasions for an ongoing contact.“<br />
Clifford, Routes, S. 194.<br />
34
Handlungsräume und Kommunikationen auf Seiten marginalisierter Positionen in den<br />
Blick zu bekommen. Mit <strong>der</strong> Idee von <strong>Kontaktzonen</strong> als „uneven reciprocities“ gelingt<br />
es nun methodisch, beides zugleich zu analysieren: ungleiche Machtverhältnisse<br />
und Formen <strong>der</strong> Handlungsmacht.<br />
<strong>Kontaktzonen</strong> sind deskriptiv und präskriptiv zugleich<br />
„Contact zones – places of hybrid possibility and political negotiation, sites of exclusion<br />
and struggle (…)“ 95 – mit diesen Worten benennt James Clifford die Vielschichtigkeit<br />
des Begriffs, mit dem er und Pratt die komplexen Dimensionen kolonialer,<br />
post- und neokolonialer Interaktionen konzeptualisieren: Sie erringen damit eine<br />
Analysekategorie, die es ihnen ermöglicht, Handlungen und Wissensformen, Taktiken<br />
und Praktiken in geteilten Räumen zu beschreiben, in denen unterschiedliche Machtverhältnisse<br />
und Verständnisse vorherrschen.<br />
Allerdings ist die Kontaktzone bei beiden nicht nur Analysekategorie – und<br />
das macht sie für diese Arbeit so interessant. Sie ist auch ein normativer Begriff, <strong>der</strong><br />
ein an<strong>der</strong>es Museum und ein an<strong>der</strong>es Klassenzimmer beschreiben will. 96 So schreibt<br />
Clifford dezidiert: „My account to museums as contact zones is both descriptive and<br />
prescriptive.“ 97<br />
Das Konzept <strong>der</strong> Kontaktzone wurde also ebenso zu einer Bestandsaufnahme von<br />
Handlungsmacht in geteilten Räumen herangezogen wie zur Erarbeitung von progressiven<br />
Modellen von Bildungs- und Museumskonzepten. Diese Unschärfe einer<br />
gleichermaßen analytischen wie visionären Kategorie kann einerseits, wenn etwa die<br />
Ebenen verwechselt werden, problematisch erscheinen. An<strong>der</strong>erseits liegt vielleicht<br />
gerade in dieser Unschärfe selbst auch eine gewisse Handlungsmacht: Mit <strong>der</strong><br />
bewusst doppelten Besetzung des Begriffs entwickelt Clifford seine Vision des<br />
Museums als Contact Zone aus bereits existierenden Handlungsstrategien und aus<br />
bereits bestehenden Möglichkeiten <strong>der</strong> Interaktion und Kommunikation unter unglei-<br />
95<br />
96<br />
97<br />
Ebda., S. 212.<br />
In Mary Louise Pratts „Imperial Eyes“ überwiegt ein deskriptives Verständnis des Begriffs, während in ihrem<br />
Text „Arts of the Contact Zone“ ein sehr viel stärker präskriptiver Ansatz verfolgt wird – fragt sie hier doch<br />
dezidiert nach Techniken <strong>der</strong> Kontaktzone im Klassenzimmer. James Clifford sagt selbst, dass <strong>der</strong> Begriff beide<br />
Seiten beinhaltet. Anhand seines Texts „Museums as Contact Zones“ kann <strong>der</strong> Begriff zur Analyse von Museen<br />
herangezogen werden, er kann aber vor allem als Vorschlag für eine Verän<strong>der</strong>ung ethnografischer Museen<br />
gelesen werden.<br />
Clifford, Routes, S. 213.<br />
35
chen Machtverhältnissen. Das macht ihn für den Kontext dieser Arbeit aus zwei<br />
Gründen interessant.<br />
Erstens hat diese selbst, insofern sie bildungstheoretisch vorgeht, bloß<br />
deskriptiven Anspruch: So ist auch die hier vorliegende Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> zu Holocaust, Nazismus und Zweitem Weltkrieg in <strong>der</strong> postnazistischen<br />
Migrationsgesellschaft sowohl beschreibend als auch reflexiv und<br />
normativ. Es geht um eine kritische Bestandsaufnahme bestehen<strong>der</strong> Theorien und<br />
Erfahrungen im Hinblick auf die Entwicklung möglicher Ziele und Strategien – und<br />
vor diesem Hintergrund kommt diese Bestandsaufnahme nicht ohne gesellschaftliche<br />
Ansprüche und visionäre Dimensionen aus und will sogar Position beziehen.<br />
Zweitens scheint eine transnationale Auseinan<strong>der</strong>setzung in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
nur dann stattfinden zu können, wenn sie von <strong>der</strong> Vielgeschichtlichkeit<br />
ausgeht, die in den Klassenzimmern bereits existiert und, auf diese aufbauend, neue<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> Beschäftigung mit Geschichte entwickelt. Wenn <strong>der</strong> Begriff also in<br />
seinen beiden Bedeutungsdimensionen ernst genommen wird und im Wissen um die<br />
Kontaktzone gehandelt wird, ergeben sich neue Aufgaben und Potentiale. So schreibt<br />
Mary Louise Pratt:<br />
„We are looking for the pedagogical arts of the contact zone. These will include, we are sure, exercises<br />
in storytelling and in identifying with the ideas, interests, histories, and attitudes of others; experiments<br />
in transculturation and collaborative work and in the arts of critique, parody, and comparison (including<br />
unseemly comparisons between elite and vernacular cultural forms); the redemption of the oral; ways for<br />
people to engage with suppressed aspects of history (including their own histories), ways to move into<br />
and out of rhetorics of authenticity; ground rules for communication across lines of difference and hierarchy<br />
that go beyond politeness but maintain mutual respect; a systematic approach to the all-important<br />
concept of cultural mediation.“ 98<br />
In diesem Sinn stellt sich in dieser Arbeit sowohl die Frage, inwiefern Bildungsprozesse<br />
und Gedenkstätten bereits <strong>Kontaktzonen</strong> sind, als auch die, wie sie zu solchen<br />
werden können.<br />
I.2.2<br />
Konfliktzonen<br />
Eine weitere Ebene <strong>der</strong> Kontaktzone, die bei <strong>der</strong> Verwendung des Begriffs oft missverstanden<br />
o<strong>der</strong> vergessen wird, ist jene des Konflikts. Eine Begegnung unter unglei-<br />
98<br />
Pratt, Arts of the Contact Zone, S. 40.<br />
36
chen Machtverhältnissen birgt selbstverständlich zahlreiche Konfliktpotentiale. Und<br />
diese sind in dem Begriff nicht verdrängt, son<strong>der</strong>n vielmehr integral enthalten: So<br />
ermöglicht die Kontaktzone bei Clifford – einmal bezeichnet er sie sogar als „contact<br />
(conflict) zone“ 99 – eine Analyse des Museums als Ort, in dem sich Konflikte sedimentiert<br />
haben: „When museums are seen as contact zones, their organizing structures<br />
as a collection becomes an ongoing historical, political, moral relationship – a powercharged<br />
set of exchanges, of push and pull.” 100 Museen werden auf diese Weise nicht<br />
mehr bloß als mächtige Räume, son<strong>der</strong>n vielmehr als gewachsene Strukturen gesehen,<br />
in denen sich unterschiedliche soziale Kämpfe als ständige Prozesse des Ringens um<br />
Deutungsmacht nie<strong>der</strong>schlagen. Daraus ergibt sich eine hegemonietheoretische<br />
Schlussfolgerung: Insofern es sich um gewachsene Strukturen handelt, die Ergebnisse<br />
von Kämpfen innerhalb von Machtverhältnissen sind, sind diese auch nicht unverän<strong>der</strong>lich,<br />
können in Frage gestellt werden und Neudefinitionen erfahren.<br />
Clifford versteht das Museum dabei allerdings nicht bloß abstrakt als Ergebnis diskursiver<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungen. Er beschreibt es als konkret in diese Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />
verstrickt: als Ort realen Ärgernisses über seine banalen Herrschaftsgeschichten,<br />
seine geraubten Objekte o<strong>der</strong> seine provokativen kolonialen Perspektiven. Mit „Konfliktzone“<br />
bezeichnet er also auch die Nie<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> oft schwierigen und persönlich<br />
schmerzhaften Kontestationen, die mit den Kämpfen um eine museale Verän<strong>der</strong>ung<br />
einhergehen. Da kann es auch schon einmal zu einer bitteren Kontroverse kommen. 101<br />
Genau anhand <strong>der</strong> Schil<strong>der</strong>ung eines solchen konkreten Konflikts stellt Clifford fest:<br />
„The exhibit was a ‚cultural text’ that could not be read from a stable location.“ 102<br />
Und in weiterer Folge entwickelt er gerade daraus dann seine präskriptive Vision des<br />
Museums als Kontaktzone: „By thinking of their mission as contact work decentered<br />
and traversed by cultural and political negotiations that are out of any imagined<br />
community’s control – museums may begin to grapple with the real difficulties of<br />
99<br />
Clifford, Routes, S. 207.<br />
100 Ebda., S. 190.<br />
101 Clifford erzählt hier etwa von den unterschiedlichen Reaktionen auf die Ausstellung „Into the heart of Africa“,<br />
Royal Ontario Museum, Toronto, 16. November 1989 bis 6. August 1990: „A bitter controversy ensued in the<br />
media. There were clashes between picketers at the Royal Ontario Museum and the police; all the museums that<br />
were scheduled to host the exhibit during its traveling phase canceled.“ Ebda., S. 206. Der Druck <strong>der</strong> AktivistInnen,<br />
die die Ausstellung kritisierten, zwang die Kuratorin Jeanne Cannizzo schließlich zur Kündigung. Vgl.<br />
Culture, nr. X/2, Montréal 1990, S. 121.<br />
102 Clifford, Routes, S. 207.<br />
37
dialogue, alliance, inequality and translation.“ 103<br />
Für ein besseres Verständnis <strong>der</strong> produktiven Gleichzeitigkeit von Kontakt und Konflikt<br />
in einem sozialen Raum scheint es interessant, den Begriff <strong>der</strong> Kontaktzone mit<br />
jenem des Agonismus in <strong>der</strong> Demokratietheorie von Chantal Mouffe zusammen zu<br />
lesen. Die Dimension des Konflikts in <strong>der</strong> Kontaktzone Cliffords hat nämlich zwei<br />
wesentliche Aspekte mit dem Agonismus bei Chantal Mouffe gemeinsam. Erstens<br />
geht es in beiden Fällen um hegemoniale Kontingenz: Beide Begriffe gehen davon<br />
aus, dass <strong>der</strong> Status quo we<strong>der</strong> neutral, noch objektiv o<strong>der</strong> selbstverständlich ist, son<strong>der</strong>n<br />
Ergebnis sozialer Kämpfe und dass das, was ist, daher auch an<strong>der</strong>s sein könnte<br />
und in Zukunft an<strong>der</strong>s sein kann. 104 Zweitens betonen beide Begriffe die Wichtigkeit<br />
<strong>der</strong> Anerkennung bestehen<strong>der</strong> Konflikte, statt sie zu verdrängen o<strong>der</strong> zu harmonisieren.<br />
Chantal Mouffe macht das allerdings aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Demokratietheorie<br />
viel klarer und deutlicher: „Konsens ist zweifellos notwendig. Er muss aber von Dissens<br />
begleitet werden.“ 105 , schreibt sie. O<strong>der</strong> ausführlicher:<br />
„Ich behaupte, es ist nicht nur konzeptionell falsch, son<strong>der</strong>n auch mit politischen Gefahren verbunden,<br />
wenn das Ziel demokratischer Politik in Begriffen von Konsens und Versöhnung anvisiert wird. Das<br />
Streben nach einer Welt, in <strong>der</strong> die Wir-Sie-Unterscheidung überwunden wäre, basiert auf fehlerhaften<br />
Prämissen, und wer sich die Vision zu eigen macht, muß die tatsächliche Aufgabe demokratischer<br />
Politik zwangsläufig verkennen.“ 106<br />
Worum geht es nun genau in dem Begriff des Agonismus? Chantal Mouffe geht davon<br />
aus, dass die Gesellschaft von politischen Antagonismen – heftigen Konflikten<br />
und Wir/Ihr-Unterscheidungen – durchzogen ist. Diese sind notwendig für Politik, 107<br />
verunmöglichen aber als Freund/Feind-Dichotomien jede Gemeinschaft. Im Hinblick<br />
auf ein mögliches Zusammenleben und eine Verhandlungsfähigkeit werden diese<br />
daher, Mouffe zufolge, domestiziert. Diese Form des sublimierten Antagonismus<br />
bezeichnet Mouffe nun mit „Agonismus“. Sie schreibt:<br />
„Damit ein Konflikt als legitim akzeptiert wird, muss er eine Form annehmen, die die politische Gemein-<br />
103 Ebda., S. 213.<br />
104 „Im agonistischen Kampf (…) steht die Konfiguration <strong>der</strong> Machtverhältnisse selbst auf dem Spiel, um welche<br />
herum die Gesellschaft strukturiert ist: Es ist ein Kampf zwischen unvereinbaren hegemonialen Projekten, die<br />
niemals rational miteinan<strong>der</strong> versöhnt werden können. Die antagonistische Dimension ist dabei immer gegenwärtig,<br />
es ist eine reale Konfrontation, die allerdings durch eine Reihe demokratischer, von den jeweiligen Gegnern<br />
akzeptierten Verfahrensweisen reguliert wird.“ Chantal Mouffe, Über das Politische. Wi<strong>der</strong> die kosmopolitische<br />
Illusion, Frankfurt am Main 2007, S. 31.<br />
105 Ebda., S. 43.<br />
106 Ebda., S. 8.<br />
107 „Antagonismen äußern sich auf verschiedenste Weise, und es ist illusorisch zu glauben, sie könnten je aus <strong>der</strong><br />
Welt geschafft werden. Daher muß ihnen in Gestalt des pluralistischen demokratischen Systems unbedingt eine<br />
agonistische Ausdrucksmöglichkeit gegeben werden.“, Ebda., S. 43.<br />
38
schaft nicht zerstört. Das heißt es muß zwischen den miteinan<strong>der</strong> in Konflikt liegenden Parteien eine Art<br />
gemeinsamen Bandes bestehen, damit sie den jeweiligen Gegner nicht als zu vernichtenden Feind betrachten,<br />
dessen For<strong>der</strong>ungen illegitim sind. (…) Die Gegner können jedoch nicht einfach als Konkurrenten<br />
verstanden werden, <strong>der</strong>en Interessen durch bloße Verhandlungen zum Ausgleich gebracht o<strong>der</strong><br />
durch Deliberation miteinan<strong>der</strong> versöhnt werden könnten, weil in diesem Fall das antagonistische<br />
Element schlicht eliminiert werden würde. Wollen wir einerseits die Dauerhaftigkeit <strong>der</strong> antagonistischen<br />
Dimension des Konflikts anerkennen, an<strong>der</strong>erseits die Möglichkeit ihrer „Zähmung“ zulassen, so<br />
müssen wir eine dritte Beziehungsform in Aussicht nehmen. Für diese Form habe ich die Bezeichnung<br />
‚Agonismus’ vorgeschlagen. Während <strong>der</strong> Antagonismus eine Wir-Sie Beziehung ist, in <strong>der</strong> sich Feinde<br />
ohne irgendeine gemeinsame Basis gegenüberstehen, ist <strong>der</strong> Agonismus eine Wir-Sie-Beziehung, bei <strong>der</strong><br />
die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, daß<br />
es für den Konflikt keine rationale Lösung gibt. Sie sind ‚Gegner’, keine Feinde. Obwohl sie sich also im<br />
Konflikt befinden, erkennen sie sich als <strong>der</strong>selben politischen Gemeinschaft zugehörig; sie teilen einen<br />
gemeinsamen symbolischen Raum, in dem <strong>der</strong> Konflikt stattfindet. Als Hauptaufgabe <strong>der</strong> Demokratie<br />
könnte man die Umwandlung von Antagonismus in Agonismus ansehen.“ 108<br />
Mouffe spricht von einer „Art konfliktualen Konsens“, „<strong>der</strong> den Opponenten als<br />
‚legitimen Feinden’ einen gemeinsamen symbolischen Raum erschließt.“ 109<br />
Dieser gemeinsame symbolische Raum soll hier mit <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
in Verbindung gebracht werden. Dadurch gelingt es, diese als Verhandlungsraum in<br />
den Blick zu bekommen, <strong>der</strong> grundlegend auf Konflikt – aber eben auf domestiziertem<br />
Konflikt – basiert und von konkreten, durchsetzungsfähigen, aber nicht unverän<strong>der</strong>lichen<br />
Machtverhältnissen durchzogen ist.<br />
Marie-Eve Morin schreibt über die Rolle des Agonismus für das Projekt einer<br />
radikalen Demokratie:<br />
„[D]ie politische Aufgabe scheint darin zu bestehen, einen Ort zu bilden, wo sich Meinungsverschiedenheiten<br />
und Streitigkeiten auszudrücken vermögen. Daher gründet dieser Agonismus trotzdem auf einem<br />
minimalen Konsens, nämlich dem Verlangen, den Wert <strong>der</strong> agonistischen Demokratie anzuerkennen und<br />
die Regeln des Agon einzuhalten.“ 110<br />
Der Agonismus braucht also einen Raum und Rahmen, in dem seine Regeln als Basis<br />
<strong>der</strong> Verständigung festgelegt werden: Dieser wird innerhalb <strong>der</strong> hegemonialen Verhältnisse<br />
selbst wie<strong>der</strong>um agonistisch errungen und ist solchermaßen verän<strong>der</strong>lich. 111<br />
Wenn wir nun diesen Raum des Agonismus, über Mouffe hinaus, gemeinsam<br />
mit dem Konzept <strong>der</strong> Kontaktzone denken, dann erfährt er eine Dezentrierung – dort-<br />
108 Ebda., S. 29.<br />
109 Ebda., S. 70.<br />
110 Morin: Jean-Luc Nancys Denken des Singulär-Plurals o<strong>der</strong> Das notwendige Zusammensein, S. 34.<br />
111 „Der fundamentale Unterschied zwischen <strong>der</strong> ‚dialogischen’ und <strong>der</strong> ‚agonistischen’ Perspektive liegt darin,<br />
daß letztere sich eine tief greifende Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> bestehenden Machtverhältnisse und die Schaffung einer<br />
neuen Hegemonie zum Ziel setzt. Aus diesem Grund kann die agonistische Perspektive im eigentlichen Sinne<br />
‚radikal’ genannt werden.“ Mouffe, Über das Politische, S. 70.<br />
39
hin, wo bestehende Regeln und Erzählungen von marginalisierter Seite ständig umdefiniert<br />
und an<strong>der</strong>s gelesen werden. Die agonistische Verhandlung tritt somit als an<br />
unterschiedlichen Orten <strong>der</strong> Gesellschaft stattfindend in den Blick. Denn vom Konzept<br />
<strong>der</strong> Kontaktzone wissen wir: Wo Macht ist, gibt es für <strong>der</strong>en an<strong>der</strong>e Seite nicht<br />
nur Ohnmacht, son<strong>der</strong>n immer auch Handlungsmacht. Dort wo Hegemonie durchgesetzt<br />
wird (wie etwa im Klassenzimmer o<strong>der</strong> im Museum), kann diese also – wie<br />
wir dank Mouffe nun sagen können – durch Domestizierung des Antagonismus auch<br />
agonistisch ausgetragen werden.<br />
Wie Räume für solchermaßen präskriptive agonistische <strong>Kontaktzonen</strong> geschaffen<br />
werden können, ist Gegenstand dieser Arbeit. Dabei werden uns auch die<br />
Bedingungen und Grenzen dieser Räume beschäftigen.<br />
Kontingenz, Parteilichkeit und Unabgeschlossenheit<br />
Im Anschluss an den Versuch, die Kontaktzone als Konfliktzone mit dem Begriff des<br />
Agonismus von Chantal Mouffe zu beschreiben, sollen hier noch drei wesentliche<br />
Dimensionen bei<strong>der</strong> Begriffe unterstrichen werden. Die Idee des Agonismus legt es<br />
ebenso wie das Konzept <strong>der</strong> Kontaktzone auf eine mögliche Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
an. So eröffnen beide Begriffe einen Raum für verän<strong>der</strong>nde Praxen innerhalb<br />
hegemonialer Verhältnisse. Insofern die Verhältnisse nicht notwendig so sind, wie sie<br />
sind, son<strong>der</strong>n aufgrund von Machtverhältnissen, sind sie kontingent: Sie sind gemacht<br />
und können auch verän<strong>der</strong>t werden. Chantal Mouffe betont dabei die Bedeutung von<br />
Parteilichkeit, um Dissens wirksam werden zu lassen: 112 „Weil demokratische Politik<br />
Alternativen braucht, kann sie ohne Parteilichkeit nicht existieren.“ 113 Wenn<br />
Agonismus nun immer Parteilichkeit impliziert, so liegt im Konzept <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
wie<strong>der</strong>um eine Unabgeschlossenheit. Beide Begriffe sollen hier nun zusammen<br />
gedacht werden: Agonistische <strong>Kontaktzonen</strong> sind vor diesem Hintergrund ebenso<br />
parteiliche wie unabgeschlossene Prozesse – das ist bereits mit dem<br />
hegemonietheoretischen Kontingenzbewusstsein angeklungen. Mit <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong><br />
Parteilichkeit sei hier noch einmal festgehalten, dass es sich dabei um offene, aber<br />
112 „Um Leidenschaften für demokratische Entwürfe mobilisieren zu können, muß demokratische Politik einen<br />
parteilichen Charakter haben. Tatsächlich ist das die Funktion <strong>der</strong> Links-Rechts-Unterscheidung, und deshalb<br />
sollten wir uns <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung postpolitischer Theoretiker verweigern, ‚jenseits von links und rechts’ zu denken.“<br />
Ebda., S. 13.<br />
113 Robert Misik, Konsens ist Gift, Chantal Mouffe im Interview mit <strong>der</strong> Wochenzeitung Falter (17.10.2007),<br />
http://www.misik.at/die-grossen-interviews/konsens-ist-gift.php#more (31.12.2011).<br />
40
keineswegs beliebige Prozesse handelt.<br />
Als Instrumentarium für diese Arbeit wurde mit <strong>der</strong> agonistischen Kontaktzone ein<br />
Begriff erarbeitet, <strong>der</strong> zugleich beschreibend und visionär ist. Er birgt darüber hinaus<br />
das Potential, gleichermaßen entschieden, transformativ und offen zu agieren.<br />
Agonistische <strong>Kontaktzonen</strong> sind also Verhandlungsräume, in denen eine Gleichzeitigkeit<br />
von Verschiedenheit, Auseinan<strong>der</strong>setzung, Entschiedenheit und Unabgeschlossenheit<br />
vorherrscht. Zum Abschluss <strong>der</strong> Beschäftigung mit dem Begriff <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
soll in diesem Zusammenhang noch einmal Mary Louise Pratt das Wort erhalten,<br />
in dem Moment, in dem sie die Freuden <strong>der</strong> <strong>Kontaktzonen</strong> vor dem Hintergrund<br />
<strong>der</strong> Unentscheidbarkeit ihres Ausgangs denkt: „Along with rage, incomprehension,<br />
and pain there were exhilarating moments of won<strong>der</strong> and revelation, mutual un<strong>der</strong>standing,<br />
and new wisdom – the joys of the contact zone. The sufferings and revelations<br />
were, at different moments to be sure, experienced by every student. No one was<br />
excluded, and no one was safe.“ 114<br />
I.2.3<br />
Bildung in agonistischen <strong>Kontaktzonen</strong>: Offenheit, Reflexivität und<br />
Dissens<br />
Wie kann die Kontaktzone nun für den Kontext dieser Arbeit fruchtbar gemacht werden?<br />
Drei Aspekte scheinen für den weiteren Zusammenhang wichtig:<br />
Erstens geht es bei einer Vermittlung von historischen Verstrickungen darum,<br />
die Verwobenheit von Geschichtlichkeit in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft zu fassen. Dies<br />
verlangt einen Zugang, <strong>der</strong> grundsätzlich offen für unerwartete Bezüge ist (ohne dabei<br />
beliebig zu sein).<br />
Zweitens gilt es, über eine bloße Offenheit hinauszudenken und die Machtverhältnisse<br />
– ihre historische Dimension und ihre Kontinuitäten – nicht aus den Augen<br />
zu verlieren. Die Machtverhältnisse wie<strong>der</strong>um sind in <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
nicht als eindimensionale Blöcke zu verstehen. Vielmehr sind sie durch ständige<br />
Interaktionen geprägt, die sie ebenso bestärken wie brüchig machen können – und oft<br />
114 Pratt, Arts of the Contact Zone, S. 39.<br />
41
sogar beides zugleich. 115 Dies gilt es zu bedenken, wenn wir dem komplexen Konzept<br />
<strong>der</strong> Kontaktzone gerecht werden wollen. <strong>Geschichtsvermittlung</strong> in <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
ist also notwendig reflexiv. Sie arbeitet an Handlungsräumen und versteht sich dabei<br />
dennoch selbst als Teil <strong>der</strong> Machtverhältnisse, Geschichtlichkeiten und Kontinuitäten,<br />
die sie untersucht.<br />
Drittens sind, wie hier zu zeigen versucht wurde, im Begriff <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
nicht nur Offenheit und Reflexivität adressiert. Denken wir den Begriff in seiner<br />
konflikthaften Dimension, dann tritt mit dem Agonismus auch die Frage nach einer<br />
entschiedenen Parteilichkeit auf den Plan. Im Agonismus geht es um Verhandlungen,<br />
die nicht auf Konsens abzielen, son<strong>der</strong>n Dissens möglich machen und Positionierung<br />
verlangen. Eine <strong>Geschichtsvermittlung</strong> in <strong>der</strong> Kontaktzone ist also auch dissensuell.<br />
Mit Hilfe eines Dreiecks lassen sich diese Aufgaben veranschaulichen: 116<br />
Fig. 1: Bildung in agonistischen <strong>Kontaktzonen</strong><br />
115 Bei Clifford wird die Gleichzeitigkeit von Ermächtigung und Kommodifikation in <strong>der</strong> Kontaktzone ethnografisches<br />
Museum folgen<strong>der</strong>maßen beschrieben: „On the contemporary scene, the performance of culture and<br />
tradition – what Robert Cantwell (1993) calls ‚ethnomimesis’ – may include empowerment and participation in<br />
a wi<strong>der</strong> public sphere as well as commodification in an increasingly hegemonic game of identity.“ Clifford,<br />
Museums as Contact Zones, S. 200.<br />
116 Bei dem Dreieck handelt es sich um die Weiterführung eines Modells, das ich mit meiner Kollegin Renate<br />
Höllwart im Rahmen des Vermittlungsprogramms von trafo.K für die Ausstellung „gastarbajteri. 40 Jahre<br />
Arbeitsmigration“ entwickelt habe. Es entstand im Hinblick auf die Entwicklung einer antirassistischen Vermittlungspraxis.<br />
Vgl. Nora Sternfeld, Renate Höllwart, Es kommt darauf an. Einige Überlegungen zu einer<br />
politischen und antirassistischen Pädagogik, Context XXI, Nr. 4–5, Wien 2004, S. 46–48. Hier wurde es vor<br />
dem Hintergrund <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Kontaktzone adaptiert und neu formuliert.<br />
42
Die drei Seiten des Dreiecks bezeichnen drei Aufgaben in <strong>der</strong> agonistischen Kontaktzone:<br />
a) Offenheit<br />
„Offenheit“ bezeichnet hier einen pädagogischen Umgang mit <strong>der</strong> Situation in<br />
geteilten Räumen, wie sie Bildungsräume in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft zweifelsohne<br />
darstellen. Um die Unterschiedlichkeit von Ansätzen und Zugängen nicht zu<br />
harmonisieren, son<strong>der</strong>n vielmehr zutage treten zu lassen, ist die Entwicklung von<br />
Strategien zur Erreichung einer größeren Offenheit wichtig. Dies impliziert zunächst<br />
ein Problembewusstsein für die Schließungen gängiger Unterrichtspraxen. Auf eine<br />
solche macht Mary Louise Pratt selbst aufmerksam:<br />
„What is the place of unsolicited oppositional discourse, parody, resistance, critique in the imagined<br />
classroom community? Are teachers supposed to feel that their teaching has been most successful when<br />
they have eliminated such things and unified the social world, probably in their own image? Who wins<br />
when we do that? Who loses?“ 117<br />
Ohne Frage existieren mehr Wissensarten und Diskurse in einem Klassenzimmer als<br />
von Lehrplan, -buch und -personal vorgesehen sind. Das Ziel <strong>der</strong> Offenheit kann dazu<br />
dienen, diese wirksam und agonistisch verhandelbar zu machen, statt sie zu unterdrücken<br />
und damit auf an<strong>der</strong>e Austragungsorte zu verbannen. <strong>Lernen</strong> wird so zu<br />
einem wechselseitigen Prozess.<br />
Dabei geht es allerdings gerade nicht darum, eine „heile Welt eines toleranten<br />
und friedlichen Miteinan<strong>der</strong>s“ 118 vorzugaukeln. Denken wir an die Unebenheit von<br />
Reziprozitäten in <strong>der</strong> Kontaktzone, auf die Clifford aufmerksam macht, so wird deutlich:<br />
Machtverhältnisse und politische Strukturen sollen in <strong>der</strong> Kontaktzone nicht<br />
unter den Tisch gekehrt, son<strong>der</strong>n vielmehr selbst zum Thema gemacht werden.<br />
Offenheit steht hier mit <strong>der</strong> alten pädagogischen Weisheit in Verbindung, dass<br />
die Leute dort abgeholt werden sollen, wo sie stehen – und weist sie zugleich zurück.<br />
Was dabei nämlich sehr problematisch und mit <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Kontaktzone inkompatibel<br />
scheint, ist, dass die Leute zumeist zuerst irgendwohin gestellt werden, wo sie<br />
dann in weiterer Folge abgeholt werden können. (Denken wir etwa an die Zielgruppenanalysen,<br />
die <strong>der</strong> beliebten Vorstellung vom Abholen zumeist vorangehen. 119 ) Vor<br />
117 Pratt, Arts of the Contact Zone, S. 38.<br />
118 Angelika Paseka, Gesellschaft und pädagogische Praxis, in: Bettina Fritzsche, Jutta Hartmann, Andrea Schmidt,<br />
Anja Tervooren (Hg.), Dekonstruktive Pädagogik. Erziehungswissenschaftliche Debatten unter poststrukturalistischen<br />
Perspektiven, Opladen 2001, S. 187–199, hier S. 196.<br />
119 Eine ausführlichere Kritik des Konzepts des „Abholens-wo-sie-Stehen“ findet sich in: Nora Sternfeld, Der<br />
Taxispielertrick. Vermittlung zwischen Selbstregulierung und Selbstermächtigung, in: schnittpunkt – Beatrice<br />
43
diesem Hintergrund besteht eine <strong>der</strong> schwierigsten Aufgaben <strong>der</strong> Offenheit in <strong>der</strong><br />
Kontaktzone darin, Räume für Auseinan<strong>der</strong>setzungen zu schaffen, die niemanden<br />
durch irgendwelche Zuschreibungen auf eine Position/Identität etc. fixieren. Denn<br />
dies steht <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Offenheit und <strong>der</strong> mit ihr verbundenen Dimension <strong>der</strong> Unerwartetheit<br />
in <strong>der</strong> Kontaktzone im Weg. Die Frage ist vielmehr: Wie können Räume<br />
für diese unerwarteten Bezüge geschaffen werden, ohne sie bereits vorwegzunehmen?<br />
b) Reflexivität<br />
Der Weg von <strong>der</strong> Offenheit zur Reflexivität führt über die seriöse Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem Gegenstand <strong>der</strong> Vermittlung und den unterschiedlichen Bezügen zu diesem<br />
in <strong>der</strong> Kontaktzone. Denn Offenheit heißt nicht, dass kein Wissen vermittelt werden<br />
soll. Vielmehr geht es dabei darum, dass es in geteilten Räumen unterschiedliche<br />
Zugänge und Wissensarten gibt, die das, was vermittelt wird, in jeweils unterschiedliche<br />
Kontexte stellen. Und wenn historische Entwicklungen, Machtverhältnisse,<br />
Kontinuitäten und Brüche Thema werden, dann kann dabei für alle am Prozess<br />
Beteiligten deutlich werden, dass ihre eigenen Positionen nicht authentisch und<br />
unmittelbar sind, son<strong>der</strong>n in einem Gefüge stehen. Die reflexive pädagogische Arbeit<br />
besteht dabei darin, die Brillen, durch welche wir sehen, selbst in den Blick zu<br />
bekommen. Dabei kann dann durchaus die Frage danach auftauchen, „wer“ „was“<br />
„aus welcher Perspektive“ sieht und mit welchen gesellschaftlichen Bil<strong>der</strong>n, Machtund<br />
SprecherInnenpositionen die Bil<strong>der</strong>, die Jugendliche haben (und die wir auch<br />
selbst haben), verbunden sind. Teilweise können <strong>Lernen</strong>de und auch Lehrende in<br />
solchen offenen Prozessen also sogar vielmehr von dem freigesetzt werden, wo sie<br />
stehen als bloß irgendwo abgeholt zu werden. Somit kann jedeR in einer Kontaktzone<br />
in eine reflexive Situation geraten, in <strong>der</strong> die eigenen Positionen im Kontext von<br />
Informationen verortet und überdacht werden. Doch auch dies findet nicht in einem<br />
machtfreien Raum und nicht ohne unterschiedliche Handlungsoptionen für alle<br />
Beteiligten statt.<br />
Es sind die Handlungsräume, die wohl den wichtigsten Hintergrund für das<br />
theoretische Konzept <strong>der</strong> Kontaktzone bilden. Die beiden reflexiven Fragen <strong>der</strong><br />
Kontaktzone lauten daher: Wie können Handlungsräume thematisiert werden, ohne<br />
Jaschke, Charlotte Martinz-Turek, Nora Sternfeld (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen,<br />
Wien 2005, S. 15–33.<br />
44
individuelle Lösungsmöglichkeiten für Probleme zu suggerieren, die nur gesellschaftlich<br />
zu lösen sind? Und umgekehrt: Wie können Machtverhältnisse reflexiv thematisiert<br />
werden, ohne dabei die Vorstellung von Unausweichlichkeit zu erzeugen? Diese<br />
führen den pädagogischen Prozess allerdings aus <strong>der</strong> bloßen Reflexivität – und wohl<br />
auch aus seinem Schein <strong>der</strong> Neutralität – heraus.<br />
c) Dissens<br />
Der Vorschlag, den die Idee <strong>der</strong> agonistischen Kontaktzone für Handeln bereitstellt,<br />
ist das Austragen von Konflikten. Mit Dissens ist hier also erstens die Möglichkeit<br />
formuliert, in agonistische Auseinan<strong>der</strong>setzungen zu treten. Zweitens ist damit aber –<br />
wie mit Chantal Mouffe zu zeigen versucht wurde – auch die Notwendigkeit einer<br />
Positionierung von Seiten <strong>der</strong> Lehrenden angesprochen. Dissens verlangt Entschiedenheit<br />
und damit auch eine über die Selbstreferentialität <strong>der</strong> Reflexivität hinausgehende<br />
Parteilichkeit im Sinne eines (gegen-)hegemonialen Projekts. Doch so<br />
entschieden und positioniert Dissens auch ist, so bleibt er in <strong>der</strong> Kontaktzone dennoch<br />
stets unabgeschlossen, d. h. dass entschiedene Positionen selbst herausgefor<strong>der</strong>t und<br />
verän<strong>der</strong>t werden können. Auf diese Weise führt die entschiedene Unabgeschlossenheit<br />
und unabgeschlossene Entschiedenheit wie<strong>der</strong> zur Offenheit zurück. Allerdings<br />
nicht an den Anfang, son<strong>der</strong>n zu einer neuen Möglichkeit, sich dem Prozess <strong>der</strong><br />
Kontaktzone zu stellen. Das Dreieck kann so immer wie<strong>der</strong> aufs Neue nachvollzogen<br />
werden und bildet selbst einen unabgeschlossenen und unabschließbaren Prozess <strong>der</strong><br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung in geteilten Räumen ab.<br />
Ein an<strong>der</strong>es Dreieck: Verhältnisse dekonstruieren<br />
Bei dieser Auseinan<strong>der</strong>setzung mit agonistischen <strong>Kontaktzonen</strong> findet eine mehrfache<br />
Dekonstruktion klassischer Vorstellungen von Vermittlung statt. So versteht sich das<br />
oben skizzierte Dreieck auch als Intervention in vereinfachende didaktische Vorstellungen<br />
pädagogischer Interaktionen. Dazu muss gesagt werden, dass das Format des<br />
Dreiecks eine Vorgeschichte in <strong>der</strong> Didaktik hat: So wurde und wird es gerne zur<br />
Veranschaulichung für die Beziehung zwischen Lehrenden, <strong>Lernen</strong>den und Lerninhalten<br />
– also für Vermittlungsprozesse als Wechselspiel zwischen „Subjekten“<br />
(SchülerInnen bzw. AusstellungsbesucherInnen) einerseits, „Objekten“ (den Inhalten<br />
<strong>der</strong> Vermittlung, Themen <strong>der</strong> Geschichte bzw. den Ausstellungsobjekten) an<strong>der</strong>erseits<br />
45
und einer dazwischen liegenden Vermittlung drittens – herangezogen. 120 Vermittlung<br />
o<strong>der</strong> Lehre werden in einer so gedachten Didaktik zu ÜberbrückerInnen zwischen<br />
„Subjekt“ und „Welt“. Was nun beim Durchgang durch die agonistische Kontaktzone<br />
geschah, ist eine Verkomplizierung und Dekonstruktion dieses klassischen didaktischen<br />
Dreiecks an allen seinen Seiten. Beginnen wir mit dem Subjekt: Nach <strong>der</strong><br />
„Dezentrierung des Subjekts“ in <strong>der</strong> Bildungstheorie 121 ist eine unmittelbare Bezugnahme<br />
auf die AdressatInnen <strong>der</strong> Bildung als „autonome Subjekte“, die nur dort<br />
abzuholen wären, wo sie stehen, verschiedentlich unter Kritik geraten. We<strong>der</strong> sind<br />
diese in sich einheitlich – vielmehr voller Wi<strong>der</strong>sprüche und in unterschiedliche<br />
Diskurse verstrickt –, noch finden wir sie dort vor, wo diejenigen, die sie abholen<br />
wollen, sie gerne hinstellen würden (was nicht selten mit Zuschreibungen von<br />
Identität und Differenz, Integriertheit und Marginalisierung etc. verknüpft ist). Mark<br />
Terkessidis schreibt:<br />
„Es wird Zeit, sich von alten Ideen wie Norm und Abweichung, Identität und Differenz, von Deutschsein<br />
und Fremdheit zu trennen und einen neuen Ansatzpunkt zu finden: die Vielheit, <strong>der</strong>en kleinste Einheit<br />
das Individuum als unangepasstes Wesen ist, als Bündel von Unterschieden. Die Gestaltung <strong>der</strong> Vielheit<br />
muss für dieses Individuum einen Rahmen schaffen, in dem Barrierefreiheit herrscht und es seine<br />
Möglichkeiten ausschöpfen kann.“ 122<br />
Mit <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Offenheit im Hinblick auf die Bezüge aller am Vermittlungsprozess<br />
Beteiligten geschieht hier ein wesentlicher Schritt: Anstelle von fertigen Subjekten<br />
geht das <strong>Kontaktzonen</strong>dreieck von offenen Prozessen aus, in die unterschiedliche<br />
Perspektiven eingebracht werden und in denen diese sich auch verän<strong>der</strong>n können.<br />
Was nun die zweite Seite, jene <strong>der</strong> Inhalte und Objekte <strong>der</strong> Vermittlung, betrifft,<br />
werden diese in <strong>der</strong> agonistischen Kontaktzone reflexiv in den Blick genommen:<br />
Geschichte tritt so sowohl als gemacht als auch als umkämpft in den Blick. Wir<br />
müssen uns <strong>der</strong> Tatsache stellen, dass wir we<strong>der</strong> einen unmittelbaren noch einen<br />
120 1997 veranschaulicht etwa Ruth Cohn mit dem Dreieck die Interdependenz zwischen LehrerIn, SchülerInnen<br />
und Thema. Dieses wird in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik auf die Geschichte angewandt.<br />
http://www.univie.ac.at/gonline/htdocs/site/browse.php?artiid=2819&arttyp=k<br />
In Abwandlung davon präsentiert Barbara Thimm ein eigenes Schaubild für den Gedenkstättenbereich. Hier<br />
sind auf <strong>der</strong> oberen Spitze die NS-Geschichte sowie <strong>der</strong> Ort platziert. Links unten befindet sich <strong>der</strong>/die<br />
PädagogIn und rechts die Teilnehmenden bzw. die Gruppe. Darüber hinaus wird das Dreieck bei Thimm von<br />
einem Kreis umschlossen, <strong>der</strong> das aktuelle gesellschaftliche Umfeld darstellt. Vgl. Barbara Thimm, Im Fokus:<br />
Die VermittlerInnen. Selbstverständnis und pädagogische Professionalität in <strong>der</strong> Arbeit an und mit<br />
Gedenkstätten, in: Till Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer<br />
Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, Wien 2010, S. 209–221, hier S. 214.<br />
121 Vgl. Hans-Christoph Koller, Bildung und Dezentrierung des Subjekts, in Bettina Fritzsche et al. (Hg.), Dekonstruktive<br />
Pädagogik, S. 35-48 sowie Nora Sternfeld, Das pädagogische Unverhältnis, Lehren und lernen bei<br />
Rancière, Gramsci und Foucault, Wien 2009, S. 21 bzw. 122.<br />
122 Mark Terkessidis, Interkultur, Berlin 2010, S. 125 f.<br />
46
völlig freien Zugang zu dem, was geschehen ist, haben. Und wir können die Erfahrung<br />
machen, dass es unterschiedliche Bezüge auf die Geschichte gibt ebenso wie<br />
unterschiedliche Standpunkte dazu, was diese heute für uns bedeutet.<br />
Auch die dritte Seite des Dreiecks erscheint wesentlich komplizierter, wenn<br />
sie – statt von einer bloßen Transmissionsaufgabe <strong>der</strong> Vermittlung – von einer Arbeit<br />
am, im und mit Dissens ausgeht.<br />
Das <strong>Kontaktzonen</strong>dreieck veranschaulicht also genauso wie jenes <strong>der</strong> Interaktion<br />
Verhältnisse – nur sind diese komplizierter. Denn das Konzept <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
geht von wesentlich mehr Möglichkeiten (und damit auch mehr Risiken) <strong>der</strong><br />
Gestaltung von Verhältnissen aus, als in <strong>der</strong> Vorstellung von Interaktion vorgesehen<br />
sind. Drei wesentliche Merkmale dafür sind: Prozessualität, Relationalität und<br />
Handlungsmacht.<br />
Das Dreieck wird hier zunächst für die Analyse dienlich sein. An späterer Stelle<br />
werden wir in Bezug auf die Praxis noch einmal darauf zurückkommen und untersuchen,<br />
inwieweit sich das Konzept <strong>der</strong> <strong>Kontaktzonen</strong> auf konkrete Didaktiken und<br />
Methodiken <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> anwenden lässt. Aber sehen wir uns zunächst<br />
bestehende wissenschaftliche Bildungskontexte an. Diese werden im folgenden Teil<br />
im Hinblick auf ihre Fähigkeit befragt, <strong>Kontaktzonen</strong> zu ermöglichen. Die drei<br />
Aufgaben – Offenheit, Reflexivität und Dissens – werden in den existierenden<br />
theoretischen und praktischen Bildungskontexten oft nicht gemeinsam gedacht.<br />
Zuweilen scheinen sie sogar im Wi<strong>der</strong>spruch zueinan<strong>der</strong> zu stehen. Das Konzept <strong>der</strong><br />
Kontaktzone umfasst sie in ihrer Vielschichtigkeit und kann – so die These dieser<br />
Arbeit – gerade deshalb für die vielfachen Verstrickungen in <strong>der</strong> postnazistischen<br />
Migrationsgesellschaft produktiv gemacht werden.<br />
47
I.3 Heterogene Kontexte<br />
Geschichtsdidaktik, Holocaust Education, Gedenkstättenpädagogik – verschiedene, in<br />
ihren Zielen, Methoden und Prämissen sehr unterschiedliche Kontexte beschäftigen<br />
sich mit <strong>der</strong> Frage, wie sich die Massenverbrechen <strong>der</strong> Nazis vermitteln lassen. Doch<br />
nicht nur im Hinblick auf eine Verknüpfung <strong>der</strong> Bereiche gibt es Desi<strong>der</strong>ate in <strong>der</strong><br />
Verbindung unterschiedlichen pädagogischen Wissens: Wenn die Frage nach <strong>der</strong><br />
Migrationsgesellschaft in den einzelnen Bereichen gestellt wird, scheint es kaum<br />
Anbindung an für das Thema gewinnbringende bildungstheoretische Expertisen aus<br />
den Bereichen <strong>der</strong> reflexiven Bildungswissenschaft, <strong>der</strong> Migrationspädagogik und <strong>der</strong><br />
Postkolonialen Theorie zu geben. Im folgenden Subkapitel werden daher all diese<br />
bisher wenig gemeinsam rezipierten Bereiche vorgestellt, zusammengeführt und dabei<br />
teilweise auch gegeneinan<strong>der</strong> gelesen.<br />
I.3.1 Historisches <strong>Lernen</strong> und Geschichtsbewusstsein in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik<br />
Der erste Bereich, dessen Entwicklungen in Bezug auf unser Thema hier beleuchtet<br />
werden, ist die Geschichtsdidaktik. Als „Wissenschaft vom <strong>Lernen</strong> <strong>der</strong> Geschichte“ 123<br />
führt diese uns wohl am weitesten auf eine Metaebene. Dieser Weg über eine feldspezifische<br />
Begriffsklärung ist bewusst gewählt. Denn um in weiterer Folge das<br />
Verhältnis von Geschichtsdidaktik und Holocaust Education besser verstehen zu<br />
können, lohnt sich ein etwas detaillierterer Blick auf die begrifflichen Entwicklungen<br />
und Paradigmenwechsel <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik in den letzten fünfzig Jahren.<br />
Was ist eigentlich Geschichtsdidaktik und was sind ihre wesentlichen Gebiete?<br />
Weit über bloße Fragen <strong>der</strong> Vermittlung hinaus befasst sich die Geschichtsdidaktik<br />
heute mit „allen Prozessen <strong>der</strong> Vermittlung und Rezeption von Geschichte“ 124 und<br />
versteht sich als eigenständiges Lehr- und Forschungsgebiet, als „spezialisierte Metadisziplin<br />
<strong>der</strong> Geschichtswissenschaft“ 125 . Traditionell werden ihr drei Aufgaben zuge-<br />
123<br />
Jörn Rüsen, Historisches <strong>Lernen</strong>. Grundlagen und Paradigmen, Schwalbach 2008, Klappentext.<br />
124<br />
Michael Sauer, Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, 4. Auflage, Seelze-<br />
Velber 2005.<br />
125 Ulrich Mayer, Hans-Jürgen Pandel, Kategorien <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik, in: Klaus Bergmann, Annette Kuhn,<br />
Jörn Rüsen (Hg.), Handbuch <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik, Band 1, 2. Auflage, Düsseldorf 1980, S. 181.<br />
48
schrieben, die darin bestehen, zu untersuchen, „was an und durch Geschichte gelernt<br />
wird (empirische Aufgabe), gelernt werden kann (reflexive Aufgabe) und gelernt<br />
werden soll (normative Aufgabe)“ 126 . Geschichtsdidaktik ist also gleichermaßen<br />
deskriptiv, reflexiv und präskriptiv. 127 Mit den Demokratisierungsdebatten in <strong>der</strong><br />
Bildungswissenschaft um 1968 und mit dem reflexive turn in den Geschichtswissenschaften<br />
in den 1990er Jahren wurden alle drei Aufgaben mehrfach kritischen<br />
Relektüren unterzogen und neu formuliert. Nach einer „fundamentalen Selbstreflexion“<br />
kommt es zu einer „Neukonzeptionalisierung <strong>der</strong> Disziplin“. 128<br />
Die Paradigmenwechsel <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik nach 1945 beschreibt Bodo<br />
von Borries anhand eines Dreischritts:<br />
„Stofforientierung, Systemaffirmation und Lehrerdominanz bis 1968/70<br />
Problemorientierung, Geschichtsbewusstsein und Quellenarbeit von 1968/70 bis 1995/2000 und<br />
Methodenorientierung, Kompetenzför<strong>der</strong>ung und Schülerorientierung seit 1995/2000.“ 129<br />
Der erste Bruch lässt sich also nach 1968 feststellen: Die massiven perspektivischen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen in den 1970er Jahren, die den Fokus vom Faktenwissen zur eigenständigen<br />
Erarbeitung historischer Kompetenzen – und damit auch vom Lehren zum<br />
<strong>Lernen</strong> – verschieben, wurden mit dem Begriff des historischen <strong>Lernen</strong>s zusammengefasst.<br />
Eine weitere massive Verschiebung dieser Zeit ist jene vom geschichtlichen<br />
Faktenwissen zum Geschichtsbewusstsein. Auf beide wird im Folgenden genauer<br />
eingegangen, da sie die Geschichtsdidaktik zu Nazismus und Holocaust wesentlich<br />
betreffen und verän<strong>der</strong>n. So formulierte etwa Reinhard Krammer:<br />
„Nationalsozialismus, Drittes Reich, Antisemitismus und Holocaust sind die besten Beispiele für Inhalte<br />
des Geschichtsunterrichts, die einem solchen Anspruch gerecht werden. Vieles sollten junge Menschen<br />
davon wissen, einfach deshalb, weil sie in <strong>der</strong> Zukunft dafür verantwortlich sein werden, dass die<br />
Erinnerung an diese Zeit nicht ausgelöscht wird. Diese beiden Intentionen, För<strong>der</strong>ung reflektierten<br />
Geschichtsbewusstseins und <strong>der</strong> dafür unverzichtbaren Kompetenzen […] zum einen, Vermittlung des<br />
von <strong>der</strong> Gesellschaft konsensual als wichtig empfundenen Wissen zum an<strong>der</strong>en müssen miteinan<strong>der</strong><br />
korrespondieren.“ 130<br />
Bodo von Borries’ Dreiteilung macht darüber hinaus deutlich, dass sich die<br />
126<br />
Klaus Bergmann, Geschichte in <strong>der</strong> didaktischen Reflexion, in: Handbuch <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik, Band 1, 2.<br />
Auflage, Düsseldorf 1980, S. 163.<br />
127<br />
Eine Schwierigkeit, die zugleich Potential ist und <strong>der</strong> wohl keine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Bildung entgeht,<br />
insofern es sich um eine Auseinan<strong>der</strong>setzung zwischen Theorie und Praxis handelt. Allerdings scheint es<br />
wichtig, sich darüber aufzuklären, welche <strong>der</strong> drei Aufgaben gerade am Werk ist/sind, um die Ebene <strong>der</strong><br />
Beschreibung nicht mit <strong>der</strong> Reflexion bzw. den Zielen zu verwechseln.<br />
128 Dirk Lange, Historisch-politische Didaktik. Zur Begründung historisch-politischen <strong>Lernen</strong>s, Schwalbach 2004,<br />
S. 20.<br />
129<br />
von Borries, Historisch Denken <strong>Lernen</strong>, S. 3.<br />
130<br />
Reinhard Krammer, Nationalsozialismus und Holocaust als Thema des Geschichtsunterrichts. Didaktische<br />
Anmerkungen und Vorschläge, http://www.edq.eu.com/Default.aspx?TabId=523&language=de-<br />
AT&SkinSrc=[G]Skins\EdTWIN\Print (20.01.2011).<br />
49
Geschichtsdidaktik auch <strong>der</strong>zeit mitten in einem Verän<strong>der</strong>ungsprozess befindet. 131<br />
Dieser führt einerseits die emanzipatorischen Errungenschaften <strong>der</strong> 1970er Jahre fort,<br />
markiert jedoch auch neue Verschiebungen und Herausfor<strong>der</strong>ungen, die nicht zuletzt<br />
mit <strong>der</strong> Frage nach möglichen transnationalen Perspektiven in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
verbunden sind. Denn mit dem reflexive turn in den Geschichtswissenschaften<br />
seit den 1990er Jahren wurde <strong>der</strong> traditionelle Geschichtsunterricht mit seiner tendenziell<br />
monoperspektivischen Anlage in Frage gestellt – Geschichte tritt nunmehr als<br />
„multiperspektivisch“ in den Blick. 132 Schlagworte wie Prozessorientierung und<br />
Ergebnisoffenheit gewinnen an Bedeutung.<br />
Doch vollziehen wir die Neuorientierungen <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik chronologisch<br />
nach und widmen wir uns zunächst einmal jener kritischen Wende <strong>der</strong><br />
Geschichtsdidaktik, die in den 1970er Jahren ihren Anfang genommen hat.<br />
Historisches <strong>Lernen</strong> – Umbrüche in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik seit den 1970er<br />
Jahren<br />
Nachdem <strong>der</strong> Frontalunterricht – die „Dominanz <strong>der</strong> Lehrererzählung“ 133 – sowie <strong>der</strong><br />
staatstragende Charakter des klassischen Geschichtsunterrichts zunehmend unter<br />
Kritik geraten waren, wurden neue Formen des Lehrens und <strong>Lernen</strong>s von Geschichte<br />
entwickelt, die sich stärker an den SchülerInnen orientierten. Zusammenfassen lassen<br />
sich diese unter dem Stichwort des „historischen <strong>Lernen</strong>s“. Das Ziel sollte nicht mehr<br />
bloß darin bestehen, dem Staat zu dienen, son<strong>der</strong>n vielmehr darin, zur kritischen und<br />
eigenständigen Analyse anzuregen und den SchülerInnen die Fähigkeit zu vermitteln,<br />
selbst zu lernen. 134 Der Begriff des historischen <strong>Lernen</strong>s markiert also einen Wandel:<br />
Die Bezeichnung wechselt zur SchülerInnenperspektive. Sie verschiebt den Fokus<br />
vom Wissenstransfer und seiner Didaktik/Methodik – als Aufgabe <strong>der</strong> Lehrenden – zu<br />
dem, was bei den <strong>Lernen</strong>den geschieht. So geht es beim historischen <strong>Lernen</strong> um<br />
131 Es handelt sich um einen Prozess mit offenem Ausgang und diese Arbeit versteht sich als Weg, sich in diesen<br />
einzuschreiben.<br />
132 „Der traditionelle Geschichtsunterricht war ein Belehrungsunterricht und zugleich ein Gesinnungsunterricht.<br />
Belehrt wurden die unwissenden Schülerinnen und Schüler vom allwissenden Lehrer darüber, was sich warum<br />
in <strong>der</strong> Vergangenheit zweifelsfrei zugetragen haben sollte. Der Lehrer und das Schulbuch waren die Sprachrohre<br />
einer ‚historischen Wahrheit’, die als unbezweifelbar galt und doch nur eine ideologische Konstruktion<br />
war.“ Klaus Bergmann, Multiperspektivität. Geschichte selber denken, Schwalbach am Taunus 2000, S. 8.<br />
133 Jörn Rüsen, Historisches <strong>Lernen</strong>, Köln –Weimar – Wien 1994, S. 25.<br />
134 „Immer ging es darum, den Schülerinnen und Schülern die Fähigkeit zum Selberdenken zu vermitteln und<br />
ihnen zu verdeutlichen, warum historisches Denken in den Auseinan<strong>der</strong>setzungen <strong>der</strong> Gegenwart und in den<br />
Zusammenhängen des eigenen Lebens eine erprobte und ertragreiche Betrachtung <strong>der</strong> Wirklichkeit sein könnte<br />
und ist.“ Bergmann, Multiperspektivität, S. 23.<br />
50
selbstständige und aktiv-reflexive Lernprozesse. Der Begriff „historisch“ steht dabei<br />
für eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Methoden <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft, für den<br />
Erwerb von historischer Kompetenz.<br />
Geschichtsbewusstsein<br />
Neben <strong>der</strong> Kompetenz ist die wohl wesentlichste Neuorientierung die Perspektivierung<br />
auf das Geschichtsbewusstsein. Indem das Geschichtsbewusstsein zur zentralen<br />
Kategorie und zum strukturierenden Prinzip <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik wird, erweitert<br />
diese ihren Gegenstandsbereich grundlegend. Der Historiker und Geschichtsdidaktiker<br />
Karl-Ernst Jeismann prägte den Begriff des Geschichtsbewusstseins in den<br />
späten 1970er Jahren als „Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis<br />
und Zukunftsperspektive“ 135 . Damit wird <strong>der</strong> Gegenstand <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik<br />
über die Vergangenheit hinaus auf aktuelle und prospektive Dimensionen<br />
erweitert. Das Geschichtsbewusstsein stellt ausgehend von gegenwärtigen Problemlagen<br />
Fragen an die Vergangenheit. Und mehr noch: Die Geschichte tritt teilweise<br />
sogar bereits als eine „in <strong>der</strong> Gegenwart gemachte“ in den Blick. Die Geschichtsdidaktik<br />
beschäftigt sich also nicht mehr nur mit dem Unterricht, son<strong>der</strong>n mit <strong>der</strong><br />
Analyse aller Formen von Bil<strong>der</strong>n und Rezeptionen von Geschichte. 136 So wird<br />
Geschichtsdidaktik heute auch als „Prozeß <strong>der</strong> Bildung von historischer Orientierung<br />
und Identität durch die Operation des Geschichtsbewußtseins“ 137 verstanden und als<br />
„Wissenschaft vom Geschichtsbewusstsein“ 138 beschrieben. An diesen beiden<br />
Definitionen lassen sich zwei Auslegungen geschichtsdidaktischer Praxis ablesen: Sie<br />
zeigen eine Überschneidung empirischer Befunde mit normativen Ansätzen.<br />
Geschichtsbewusstsein ist also etwas, das jedeR bereits hat, wenn er/sie in einen<br />
Vermittlungsprozesse eintritt. Dennoch ist Geschichtsbewusstsein zugleich das, was<br />
durch historisches <strong>Lernen</strong> erworben werden soll. Wichtig ist dabei, dass es verän<strong>der</strong>lich<br />
ist: „Geschichtsbewusstsein ist kein einmal erworbener gesicherter und fixierter<br />
135<br />
Karl-Ernst Jeismann, Geschichte als Horizont <strong>der</strong> Gegenwart. Über den Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung,<br />
Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive, Pa<strong>der</strong>born 1985.<br />
136<br />
„Mit Hilfe <strong>der</strong> Bewusstseinskategorie kann die Geschichtsdidaktik die subjektive Seite <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Geschichte reflektieren, die Vergangenheit konzeptionell auf die Gegenwart beziehen, historisches <strong>Lernen</strong><br />
von seiner Fixierung auf den Schulunterricht lösen, dadurch außerschulische historische Lernprozesse einbeziehen<br />
und schließlich historisches <strong>Lernen</strong> als Aspekt <strong>der</strong> Geschichtskultur analysieren.“ Lange, Historischpolitische<br />
Didaktik, S. 20.<br />
137 Rüsen, Historisches <strong>Lernen</strong>, S. 9.<br />
138 Vgl. Karl-Ernst Jeismann, Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur historischen<br />
Bildungsforschung, Pa<strong>der</strong>born 2000.<br />
51
Besitz, son<strong>der</strong>n ein lebenslanger Prozess mit offenem Ausgang“ 139 , schreibt Bodo von<br />
Borries. Der Begriff des Geschichtsbewusstseins beschreibt also zugleich identitäre,<br />
transformative und normative Elemente: Er widmet sich dem, was ist, was werden<br />
kann und was werden soll. Die Geschichtsbewusstseinsforschung bewegte sich daher<br />
von Anfang an in einem interdisziplinären Bereich zwischen Geschichtswissenschaft,<br />
Pädagogik, Psychologie und empirischer Sozialwissenschaft. Sie hat insofern eine<br />
stark empirische Dimension. 140 Der Begriff des Geschichtsbewusstseins ist aber<br />
darüber hinaus auch für die theoretische Auseinan<strong>der</strong>setzung relevant – wenn er<br />
reflexiv im Hinblick auf eine kritische Beschäftigung mit gesellschaftlichen Identitäten,<br />
Transformationen und Normen verstanden wird. Denn „einerseits gilt es, die<br />
elementare identitätsstiftende Funktion von Vergangenheitsbezügen zur Kenntnis zu<br />
nehmen, an<strong>der</strong>erseits die Tatsache <strong>der</strong> Konstruiertheit dieser Bezugssysteme.“ 141<br />
Mit dem Geschichtsbewusstsein werden also Identität und Kompetenz zu<br />
wesentlichen Kategorien <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik – und das macht das Konzept (das<br />
seit den 1980er Jahren stark im Einsatz ist 142 ) für das Thema dieser Arbeit relevant.<br />
Bodo von Borries arbeitet drei Dimensionen des vielschichtigen Begriffs heraus:<br />
„Geschichtskultur“, „historische Identität“ und „Geschichtskompetenz“. 143 Alle drei<br />
stehen durchaus in Verbindung mit einer spezifischen Beschäftigung <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik<br />
mit dem Holocaust: Musste doch vor dem Hintergrund des<br />
„Zivilisationsbruchs Auschwitz“ 144 mit einem wesentlichen Einschnitt in die<br />
Möglichkeit einer ungebrochenen deutschen Identität umgegangen werden. 145 Darüber<br />
hinaus spiegeln alle drei die Tendenzen des cultural turn <strong>der</strong> 1980er und 1990er Jahre<br />
139<br />
Vgl. von Borries, Historisch Denken <strong>Lernen</strong>, S. 7.<br />
140<br />
Für unser Projekt ist in diesem Zusammenhang vor allem die Studie von Viola B. Georgi relevant, <strong>der</strong>en<br />
wesentliche Ergebnisse im Weiteren noch beschrieben werden. Vgl. Georgi, Entliehene Erinnerung.<br />
141<br />
Claudia Lenz, Jens Schmidt, Oliver von Wrochem, Einleitung, in: dies. (Hg.), Erinnerungskulturen im Dialog,<br />
S. 9–18, hier S. 9.<br />
142 So schreibt Karl-Ernst Jeismann 1988: „Während die Vertreter <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik im internationalen<br />
Zusammenhang sich bemühen, ihre sehr unterschiedlichen Vorstellungen davon, was ‚Geschichtsbewusstsein’<br />
sei, diskursiv zu klären, ist es längst zum Inventar kulturpolitischer Rhetorik geworden. Hier wird das fehlende<br />
Geschichtsbewusstsein beklagt und sein Mangel einer verfehlten Bildungspolitik angelastet, es wird um das<br />
angemessene o<strong>der</strong> ‚richtige’ Geschichtsbewusstsein mit Eifer und Polemik gestritten, wie <strong>der</strong> jüngste<br />
Historikerstreit gezeigt hat. Aber auch auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite des Diskussionsspektrums, in <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft<br />
selbst, gewinnt die Frage nach dem geschichtlichen Selbstverständnis vergangener Epochen, sei es im<br />
Zuge <strong>der</strong> Mentalitätsforschung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Geistes- und ‚Ideologiegeschichte’, neues Interesse.“ Karl-Ernst<br />
Jeismann, Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik, in: Gerhard Schnei<strong>der</strong> (Hg.),<br />
Geschichtsbewusstsein und historisch-politisches <strong>Lernen</strong>. Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1988, Pfaffenweiler<br />
1988, S. 1.<br />
143<br />
Vgl. von Borries, Historisch Denken <strong>Lernen</strong>, S.7.<br />
144 Vgl. Dan Diner, Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1996.<br />
145 Vgl. Jörn Rüsen, Schritte ins Niemandsland, in: <strong>der</strong>s., Zerbrechende Zeit. Über den Sinn <strong>der</strong> Geschichte, Köln –<br />
Weimar – Wien 2001, S. 145–324.<br />
52
wi<strong>der</strong> und lassen sich heute kritisch vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Cultural Studies und <strong>der</strong><br />
Postkolonialen Theorien hinterfragen. Eine genauere Auseinan<strong>der</strong>setzung mit ihnen<br />
scheint daher lohnenswert.<br />
Geschichtskultur<br />
Der Begriff „Geschichtskultur“ hat <strong>der</strong>zeit, weit über die Grenzen <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik<br />
hinweg, Konjunktur. Aufgekommen ist er Mitte <strong>der</strong> 1980er Jahre, 146 als die<br />
Geschichtsdidaktik, wie oben beschrieben, ihr Gebiet von <strong>der</strong> Schulfachdidaktik zum<br />
Geschichtsbewusstsein – also zur Frage nach <strong>der</strong> gesellschaftlichen Rolle <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
– erweitert hat. Der Begriff umfasst die Repräsentation von und den Umgang<br />
mit Geschichte. 147 Jörn Rüsen zufolge hat Geschichtskultur mindestens drei Dimensionen:<br />
eine ästhetische, eine kognitive und eine politische. In weiterer Folge spricht<br />
Rüsen noch von einer emotionalen, einer weltanschaulichen und einer religiösen<br />
Ebene. 148 Holger Thünemann erweitert diese in seiner Studie zu Holocaust-Rezeption<br />
und Geschichtskultur noch um die ökonomische Dimension, die zunehmend an<br />
Bedeutung gewinne. 149 Was bei diesen Perspektivierungen implizit angesprochen,<br />
aber nicht ausgearbeitet ist, ist die Verortung von Geschichtskultur innerhalb von<br />
Machtverhältnissen, wie sie in den Cultural Studies beschrieben wurde:<br />
Stuart Hall zufolge sind es Repräsentationen, die <strong>der</strong> Bildung von nationalen<br />
kulturellen Identitäten vorausgehen. Geschichtskultur stellt in diesem Sinne<br />
146<br />
Der Begriff wurde Mitte <strong>der</strong> 1980er Jahre in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik geprägt. Erstmals findet er sich 1984 im<br />
Titel einer Publikation: Karl Pellens, Siegfried Quandt, Hans Süssmuth (Hg.), Geschichtskultur – Geschichtsdidaktik:<br />
Internationale Bibliographie, Pa<strong>der</strong>born – Wien u. a. 1984.<br />
147 Jörn Rüsen definiert Geschichtskultur als „praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im<br />
Leben einer Gesellschaft“. Jörn Rüsen, Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über<br />
Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann, Heinrich Theodor Grütter, Jörn Rüsen (Hg.), Historische<br />
Faszination. Geschichtskultur Heute, S. 5. An an<strong>der</strong>er Stelle spricht er von Geschichtskultur als dem<br />
„Gesamtbereich <strong>der</strong> Aktivitäten des Geschichtsbewusstseins“. Ders., Geschichtskultur, in: Klaus Bergmann,<br />
Handbuch <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik, 5. überarbeitete Auflage, Seelze-Velber 1997, S. 38. Rüsen verortet die<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Geschichtskultur in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik folgen<strong>der</strong>maßen: „Die Geschichtsdidaktik ist die<br />
Wissenschaft vom historischen <strong>Lernen</strong>. Historisches <strong>Lernen</strong> hat eine äußere und eine innere Seite. Die äußere<br />
betrifft seine Institution und Organisation, die Form <strong>der</strong> das <strong>Lernen</strong> vollziehenden Handlungen und die<br />
mannigfaltigen Bedingungen, die auf es einwirken. Zu diesen äußeren Gegebenheiten gehört die Schule, die<br />
Kultusbürokratie, die Richtlinien, die Schulbücher, die Museen, Ausstellungen, <strong>der</strong> ganze Kulturbetrieb, in dem<br />
es um Geschichte geht, staatlich organisierte Gedenkfeiern, die Massenmedien und ähnliches. All dies kann mit<br />
<strong>der</strong> Kategorie ‚Geschichtskultur’ zusammengefasst werden.“ Jörn Rüsen, Geschichtsdidaktik heute. Was und zu<br />
welchem Ende betreiben wir sie (noch)? in: Geschichte lernen 21, S. 14–19.<br />
Für die Vermittlungspraxis verdanken wir <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Geschichtskultur interessante<br />
Anregungen für die Arbeit in Gedenkstätten und Ausstellungen, mit Bil<strong>der</strong>n, Filmen und künstlerischen<br />
Arbeiten.<br />
148 Vgl. Rüsen, Was ist Geschichtskultur?, S. 3–26.<br />
149 Vgl. Holger Thünemann, Holocaust-Rezeption und Geschichtskultur. Zentrale Holocaust-Denkmäler in <strong>der</strong><br />
Kontroverse. Ein deutsch-österreichischer Vergleich, Idstein 2005, S. 18 f.<br />
53
historische Identität erst her. Wir werden also nicht mit nationalen Identitäten<br />
geboren, son<strong>der</strong>n diese werden durch kulturelle Repräsentationen produziert. Er<br />
schreibt:<br />
„Nationale Kulturen werden nicht nur aus kulturellen Institutionen, son<strong>der</strong>n auch aus Symbolen und<br />
Repräsentationen gebildet. Eine nationale Kultur ist ein Diskurs – eine Weise Bedeutungen zu konstruieren,<br />
die sowohl unsere Handlungen als auch unsere Auffassungen von uns selbst beeinflußt und<br />
organisiert. Nationale Kulturen konstruieren Identitäten, indem sie Bedeutungen <strong>der</strong> ‚Nation’ herstellen,<br />
mit denen wir uns identifizieren können: Sie sind in den Geschichten enthalten, die über die Nation<br />
erzählt werden, in den Erinnerungen, die ihre Gegenwart mit ihrer Vergangenheit verbinden und in den<br />
Vorstellungen, die über sie konstruiert werden.“ 150<br />
Für Stuart Hall hätte Geschichtskultur also sehr lange die Funktion <strong>der</strong> „Erzählung <strong>der</strong><br />
Nation“ gehabt. Allerdings ist diese in den letzten dreißig Jahren immer brüchiger und<br />
fragmentierter geworden. Mittlerweile stellt sich – nicht zuletzt in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
– eher die Frage nach transnationalen Geschichtskulturen im Plural. Im<br />
Rahmen dieser Arbeit sollen diese nicht bloß als die Aneinan<strong>der</strong>reihung mehrerer<br />
Nationalgeschichten verstanden werden, son<strong>der</strong>n als kritische Auseinan<strong>der</strong>setzungspraxen<br />
mit Repräsentationen und Darstellungsformen vor dem Hintergrund von<br />
Machtverhältnissen. Doch bevor dies geschieht, können die Cultural Studies auch bei<br />
<strong>der</strong> kritischen Perspektivierung eines weiteren Begriffes helfen, <strong>der</strong> für das Geschichtsbewusstsein<br />
wesentlich wurde: <strong>der</strong> historischen Identität.<br />
Historische Identität<br />
„Historische Identität“ bezeichnet die mehr o<strong>der</strong> weniger bewusste Selbstverortung in<br />
Erinnerungskollektiven. War <strong>der</strong> Geschichtsunterricht sehr lange (und ist in vielen<br />
Fällen bis heute) eine Maschine zur Konstruktion nationaler Identität, 151 so soll diese<br />
nun reflektierbar und pluralisiert werden. Wenn in <strong>der</strong> Literatur zur historischen<br />
Identität Fragmentierung auch deutlich einer „nationalen Einheit“ vorgezogen wird,<br />
150 Stuart Hall, Die Frage <strong>der</strong> kulturellen Identität, in: <strong>der</strong>s., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte<br />
Schriften 2, Hamburg 1994, S. 180–222, hier S. 201.<br />
151 Klaus Bergmann beschreibt dies sehr anschaulich: „Die Geschichte des Geschichtsunterrichts ist gekennzeichnet<br />
durch permanente Versuche, Schüler auf vorgeblich allgemein gültige Identifikationsbasen zu<br />
verpflichten. Geschichtsunterricht war und ist eine obligatorische Veranstaltung des Staates. Im öffentlichen,<br />
staatlich dekretierten und observierten Geschichtsunterricht versuchten <strong>der</strong> Staat und die ihn dominierenden<br />
gesellschaftlichen Machtgruppen, ihr Selbstverständnis in die Köpfe unterschiedslos aller Schüler umzusetzen.<br />
Im Gesinnungsfach Geschichte vermittelten sie den Standort, den sie sich selber im historischen Prozess<br />
zuschrieben, an alle Schüler, verordneten sie Loyalität und verfügten sie verbindliche Identifikationen.<br />
Geschichtsunterricht sollte die Identität des bestehenden sozialen Systems stiften, indem er dessen Vernünftigkeit<br />
historisch legitimierte; er sollte als Geschichtsunterricht den Status quo verbürgen, in dem er zu<br />
ahistorischem ‚Denken’ erzog.“ Klaus Bergmann, Geschichtsunterricht und Identität, in: <strong>der</strong>s.<br />
Geschichtsdidaktik, Beiträge zu einer Theorie historischen <strong>Lernen</strong>s, 2. Auflage, Schwalbach 2000, S. 90.<br />
54
so wird dabei die Realität <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft allerdings dennoch nur selten<br />
behandelt. 152 Doch vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft gilt es, die Frage<br />
nach <strong>der</strong> historischen Identität weiter gehend zu stellen: Wie werden Konstruktionen<br />
und Kollektive <strong>der</strong> Erinnerung in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft herausgefor<strong>der</strong>t? Wie<br />
müsste vor diesem Hintergrund Geschichtsbewusstsein reformuliert werden? Und mit<br />
welchen Zielen kann überhaupt von historischer Identität gesprochen werden?<br />
Der Identitätsbegriff hat in den letzten zwanzig Jahren in den Sozialwissenschaften<br />
einen grundlegenden Wandel erfahren – Stuart Hall spricht von einer „Krise<br />
<strong>der</strong> Identität“ und einer „Identität im Zweifel“. 153 Daher wird heute, wenn von Identitätsbildung<br />
die Rede ist, längst keine statische, „verwurzelte“, essentialistische Position<br />
mehr angesprochen, son<strong>der</strong>n ein dynamischer Prozess: 154 eine jeweilige stets<br />
vorläufige und erweiterbare Zusammensetzung aus unterschiedlichen, meist disparaten<br />
Einzelteilen, aus denen Leute „sich als individuelle Leistung eine Patchwork-<br />
Identität ‚zusammenschustern’“. 155 Diese Öffnung von Identität auf pluralistische,<br />
vielfältige und wi<strong>der</strong>sprüchliche Identitäten könnte zunächst als Errungenschaft<br />
erscheinen, an <strong>der</strong> sich eine <strong>Geschichtsvermittlung</strong> in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
orientieren könnte, um einen immer noch gängigen Bezug auf monoperspektivische<br />
und homogene Nationalgeschichte in Frage zu stellen. Doch auch die Vorstellung von<br />
Identität als Transformation bleibt keineswegs frei von Kritik: Paul Mecheril hat in<br />
seinen Ansätzen zur Migrationspädagogik, wie oben beschrieben, gezeigt, dass<br />
„Identitäten“ – so wandelbar sie auch sein mögen – sich nicht völlig von Zuschreibungen<br />
und zugewiesenen sozialen Positionen trennen lassen. Sie sind daher nicht frei<br />
wähl- o<strong>der</strong> zusammenstellbar und finden vielmehr innerhalb von gesellschaftlichen<br />
Machtverhältnissen statt. Stuart Hall spricht davon, dass Identität „Politik, den<br />
152 Erst in den 1990er Jahren taucht die Thematik vereinzelt auf. Wie etwa bei Bettina Alavi, Geschichtsunterricht<br />
in <strong>der</strong> multiethnischen Gesellschaft – eine neuere geschichtsdidaktische Position, in: Marko Demantowsky,<br />
Bernd Schönemann (Hg.), Neue geschichtsdidaktische Positionen, 2. Auflage, Freiburg 2006, S. 13–26.<br />
153 Hall, Die Frage <strong>der</strong> kulturellen Identität, S. 180 f.<br />
154 Jörn Rüsen schreibt etwa: „Wenn man sich die Komplexität vor Augen hält, scheint die Frage unvermeidlich zu<br />
sein, ob es überhaupt noch Sinn macht, nur von einer Identität einer Person o<strong>der</strong> einer Gruppe zu sprechen.<br />
Natürlich kann soziale Identität durch Klasse, Religion, Geschlecht und eine ganze Reihe an<strong>der</strong>er Faktoren<br />
definiert werden, und in jedem Falle handelt es sich um etwas Verschiedenes mit verschiedener Bedeutung und<br />
Wirkungskraft. Aber nichtsdestoweniger wäre es mißverständlich, wenn man den Begriff „Identität“ durch<br />
einen an<strong>der</strong>en ersetzen würde, <strong>der</strong> Vielfalt und Unterschiedlichkeit anstelle von Einheit ausdrückt. Identität ist<br />
eine Beziehung zwischen diesen verschiedenen ‚Identitäten’, die durch ein bestimmtes Minimum an Kohärenz<br />
definiert ist (als Modus <strong>der</strong> Selbstbezüglichkeit). Diese Kohärenz brauchen Individuen o<strong>der</strong> Gruppen, um ihr<br />
Leben führen zu können.“ Jörn Rüsen, Zerbrechende Zeit. Über den Sinn <strong>der</strong> Geschichte, Köln – Weimar –<br />
Wien 2001, S. 158. Hier wird <strong>der</strong> Wunsch deutlich, Identität auch angesichts identitärer Brüche wie<strong>der</strong> herzustellen.<br />
155 Alavi, Geschichtsunterricht in <strong>der</strong> multiethnischen Gesellschaft, S. 14.<br />
55
Spielen <strong>der</strong> Repräsentation und <strong>der</strong> Differenz unterworfen ist.“ 156 Mecheril würde<br />
daher wohl weniger für die Arbeit an <strong>der</strong> „historischen Identität“ plädieren als für<br />
<strong>der</strong>en Analyse und Dekonstruktion im Hinblick auf die „Verschiebung dominanter<br />
Zugehörigkeitsordnungen“ 157 .<br />
Auch in dieser Arbeit soll also ein Zugang vertreten werden, <strong>der</strong> vor dem<br />
Hintergrund <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft gängige geschichtsdidaktische Perspektiven<br />
überschreitet: In diesem werden Identitätskonstruktionen nicht bloß mit dem Ansatz<br />
<strong>der</strong> „Differenz“ erweitert, son<strong>der</strong>n auch hinterfragt, indem transnationale Räume für<br />
Dissens innerhalb bestehen<strong>der</strong> Machtverhältnisse geschaffen werden.<br />
Historische Kompetenz<br />
Die historische Kompetenz – <strong>der</strong> dritte Aspekt <strong>der</strong> Dimensionen des Geschichtsbewusstseins<br />
– ist deshalb so relevant für das historische <strong>Lernen</strong>, weil mit ihr die<br />
Frage in den Blick gerät, was im Zusammenhang mit dem Geschichtsbewusstsein<br />
eigentlich gelernt werden soll. Bodo von Borries definiert Geschichtskompetenz als<br />
„Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft zum historischen Denken“ 158 und auch Klaus<br />
Bergmann hält fest, SchülerInnen sollen lernen, „nach den Ursachen <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen zu fragen und sie sich zu erarbeiten sowie nach den Wertvorstellungen<br />
und den Erfahrungen zu fragen, die Menschen in <strong>der</strong> Vergangenheit in<br />
bedingt vergleichbaren Situationen gehabt und gemacht haben, und sie sich zu erarbeiten.“<br />
159 Oskar Negt spricht visionärer von „Erinnerungs- und Utopiefähigkeit“ als<br />
„historischer Kompetenz“. 160<br />
Konkret wird diese in den letzten Jahren anhand eines in sich differenzierten<br />
und strukturierten „Kompetenz-Strukturmodells“ und dessen vier historischen<br />
Kompetenzbereichen beschrieben: Fragekompetenz, Orientierungskompetenz,<br />
Sachkompetenz und vor allem Methodenkompetenz. 161 Matthias Heyl betont an<br />
156 Stuart Hall, Die Frage <strong>der</strong> kulturellen Identität, in: <strong>der</strong>s., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte<br />
Schriften 2, Hamburg 1994, S. 180–222, hier S. 217.<br />
157 Paul Mecheril, Einführung in die Migrationspädagogik, Weinheim und Basel 2004, S.223<br />
158 Vgl. Bodo von Borries, Historisch Denken <strong>Lernen</strong>, S.7.<br />
159 Bergmann, Multiperspektivität, S. 24.<br />
160 Oskar Negt, Kindheit und Schule in einer Welt <strong>der</strong> Umbrüche, Göttingen 1997, S. 236.<br />
161 Vgl. Andreas Körber, Waltraud Schreiber und Alexan<strong>der</strong> Schöner (Hg.), Kompetenzen historischen Denkens.<br />
Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik, Neuried 2007, S. 87–314,<br />
sowie Christoph Kühberger, Kompetenzorientiertes historisches und politisches <strong>Lernen</strong>. Methodische und<br />
didaktische Annäherungen für Geschichte, Sozialkunde und politische Bildung, 2. Auflage, Innsbruck 2009,<br />
S. 18.<br />
56
verschiedenen Stellen die Bedeutung des Kompetenzmodells für die historischpolitische<br />
Bildung an Gedenkstätten. Bei seiner Version steht die „narrative<br />
Kompetenz“ im Mittelpunkt. Sie wird gespeist durch: „Deutungs-, Analyse-,<br />
Methoden-, Urteils- und Orientierungskompetenz“ 162 . Eine Voraussetzung für den<br />
gelungenen Erwerb dieser Kompetenzen im historischen <strong>Lernen</strong> ist Ergebnisoffenheit.<br />
163 Meik Zülsdorf-Kersting macht allerdings darauf aufmerksam, dass dieser<br />
Offenheit für einen unerwarteten Ausgang die „normative Vorbestimmtheit des<br />
Themenkomplexes Nationalsozialismus/Holocaust“ 164 oft diametral entgegenstehe.<br />
Um im Sinne eines historischen <strong>Lernen</strong>s über die Produktion „sozial erwünschten<br />
Sprechens“ hinaus zu kommen, schlägt er einen reflexiven Zugang vor, bei dem<br />
„geschichtskulturelle Sedimente verflüssigt und individuelle Voreinstellungen<br />
reflektierbar gemacht werden.“ So sollen „uneindeutige Zusammenhänge“ erkannt<br />
werden, die „kontroverse Urteile“ erlauben. 165<br />
Die Verlagerung des Schwerpunkts <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik seit den 1970er<br />
Jahren weg von <strong>der</strong> „Stofforientierung“ und <strong>der</strong> Vermittlung abprüfbaren Fakten- und<br />
Datenwissens hin zu fachspezifischer Methodenkompetenz wird auch als „realistische<br />
Wende“ 166 bezeichnet. Dabei ist ein solcher methodenorientierter Zugang eigentlich<br />
keine ganz neue Entwicklung: „Historisches <strong>Lernen</strong>, das gleichermaßen schülergerecht<br />
und wissenschaftskonform organisiert werden soll, ist ohne Methodenkompetenz<br />
nicht möglich“ 167 , schreibt Hartmut Voit und zitiert mit den Worten „Der<br />
Schüler muß Methode haben“ 168 ein Standardwerk aus dem Jahr 1917.<br />
Warum erleben nun Kompetenzmodelle in jüngeren Konzepten und Publikationen<br />
wie<strong>der</strong> eine Konjunktur? 169 Dies mag unter an<strong>der</strong>em mit <strong>der</strong> Tatsache verbun-<br />
162 Matthias Heyl, Historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen im<br />
21. Jahrhun<strong>der</strong>t, in: Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 23–53, hier S. 30.<br />
163 Vgl. Meik Zülsdorf-Kersting, Die Ambivalenz <strong>der</strong> sozialen Erwünschtheit – o<strong>der</strong>: Historisches <strong>Lernen</strong> am<br />
Thema „Holocaust“, http://lernen-aus-<strong>der</strong>-geschichte.de/print/<strong>Lernen</strong>-und-Lehren/content/9440 (20.01.2012):<br />
„Schülerinnen und Schüler sollen im Geschichtsunterricht die Analyse von Quellen und Darstellungen sowie<br />
die Bildung von Sach- und Werturteilen lernen. Eine Voraussetzung des Gelingens ist, dass SchülerInnen und<br />
Schüler ergebnisoffen arbeiten, diskutieren und sich selbst einbringen können.“<br />
164 Vgl. ebda.<br />
165 Ebda.<br />
166 Sauer, Geschichte unterrichten, S. 5.<br />
167 Hartmut Voit, „Zeitgeschichte als Aufgabe“. Überlegungen in geschichtsdidaktischer Absicht, in: Marko<br />
Demantowsky, Bernd Schönemann (Hg.), Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik: Schnittmengen,<br />
Problemhorizonte, Lernpotenziale, Bochum 2004, S. 21.<br />
168 Hugo Gaudig: Die Methode, in: <strong>der</strong>s., Die Schule im Dienste <strong>der</strong> werdenden Persönlichkeit. Band 1, Leipzig<br />
1917, S. 90; zit. nach Voit, „Zeitgeschichte als Aufgabe“, S. 21.<br />
169 Vgl. z.B. Werner Heil, Kompetenzorientierter Geschichtsunterricht, Stuttgart 2010. Dennoch hat Kompetenzorientierung<br />
bis heute noch längst nicht in alle Praxen des Geschichtsunterrichts Einzug gehalten. Er gilt daher<br />
auch immer noch als emanzipatorisch: „Methodenorientierter Geschichtsunterricht bedeutet, dass die Schüler<br />
von <strong>der</strong> Grundschule an die Chance erhalten, in Abkehr von einem autorisierten und scheinbar objektiven<br />
57
den sein, dass die Tendenz, zunehmend vielfältige marginalisierte Geschichten in den<br />
vorherrschenden Kanon zu reklamieren – bei gleichzeitigem Abnehmen <strong>der</strong> Stundenzahlen<br />
des Faches in <strong>der</strong> Schule – eine schiere Unmöglichkeit <strong>der</strong> dauerhaften Festlegung<br />
von Lehrinhalten produziert. Je mehr Geschichte also als „umkämpftes<br />
Terrain“ anerkannt wird, desto wichtiger werden Methoden im Verhältnis zu Faktenwissen.<br />
SchülerInnen sollen mit den wesentlichen geschichtswissenschaftlichen<br />
Techniken ausgestattet werden, um mit historischen Quellen und Medien, aber auch<br />
mit geschichtskulturellen Tatsachen 170 operieren zu können: Dafür soll sich <strong>der</strong><br />
Geschichtsunterricht sowohl an <strong>der</strong> Erkenntnisstruktur <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft als<br />
auch an <strong>der</strong> Lernstruktur <strong>der</strong> SchülerInnen orientieren. 171<br />
Als ein zentraler Aspekt <strong>der</strong> Arbeit an <strong>der</strong> Methodenkompetenz gilt die<br />
„Handlungsorientierung“, die – seitdem sie erst 1997 als eigener Artikel ins Handbuch<br />
Geschichtsdidaktik 172 aufgenommen wurde – zunehmend an Bedeutung gewonnen<br />
hat. Volkhard Knigge spricht etwa im Zusammenhang mit Gedenkstätten von<br />
historischem Erinnern „als handlungsorientierte[r] politische[r] Bildung“ 173 . Auch bei<br />
<strong>der</strong> Handlungsorientierung geht es um eine Verknüpfung zwischen historischen<br />
Quellen und Medien, fachspezifischen Methoden, den Ansätzen und Fragen <strong>der</strong><br />
SchülerInnen sowie um eine Reflexion <strong>der</strong> eigenen Geschichtsbil<strong>der</strong>. 174 <strong>Lernen</strong> wird<br />
als aktiver Prozess von Suchen und Forschen verstanden. 175 Insofern SchülerInnen die<br />
Möglichkeit erhalten sollen, mit historischen Methoden eigene Perspektiven auf<br />
Geschichte zu gewinnen, stellt die Schwerpunktsetzung auf „historische Kompetenz“<br />
Geschichtsbild die historische Erkenntnis- und Urteilsbildung in und außerhalb <strong>der</strong> Schule weitgehend selbstständig<br />
zu organisieren.“ Voit, „Zeitgeschichte als Aufgabe“, S. 21.<br />
170 „Geschichtskultur ist ohne Kompetenz nicht erfahrbar. Eine solche Kompetenz ist die Fähigkeit, sich mit<br />
wissenschaftlichen, rhetorischen, imaginativen, kontrafaktischen und diskursiven Formen gegenwärtiger<br />
Darstellung von Geschichte auseinan<strong>der</strong> zu setzen. An<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> normale an den sog. Fakten orientierte<br />
Geschichtsunterricht lässt sie sich nicht in einem Kanon festschreiben.“ Hans-Jürgen Pandel, Geschichtskultur<br />
als Aufgabe <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik: Viel zu wissen ist zu wenig, in: Vadim Oswalt, <strong>der</strong>s. (Hg.), Geschichtskultur.<br />
Die Anwesenheit von Vergangenheit in <strong>der</strong> Gegenwart, Schwalbach 2009, S. 19–33, hier S. 32.<br />
171 Vgl. Voit, „Zeitgeschichte als Aufgabe“, S. 31.<br />
172 Ulrich Mayer, Handlungsorientierung, in: Klaus Bergmann u.a. (Hg.), Handbuch <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik,<br />
5. Auflage, Seelze-Velber 1997, S. 411–413.<br />
173 Volkhard Knigge, Europäische Erinnerungskultur. Identitätspolitik o<strong>der</strong> kritisch-kommunikative historische<br />
Selbstvergewisserung, in: Thomas Flierl, Elfriede Müller (Hg.), Vom kritischen Gebrauch <strong>der</strong> Erinnerung,<br />
Berlin 2009, S. 69–80, hier S. 77.<br />
174 „[I]n handlungsorientierten Zugängen [liegt] eine Möglichkeit, durch die Entwicklung methodischer Kompetenzen<br />
und unter Einhaltung fachwissenschaftlicher Standards bestehende Geschichtsbil<strong>der</strong> zu hinterfragen und<br />
gleichzeitig eine Brücke zu schlagen zwischen den individuellen Erfahrungen <strong>der</strong> Schüler und Schülerinnen<br />
und <strong>der</strong> Geschichte, um so einen Beitrag zur Anbahnung von Geschichtsbewusstsein im Sinne des Fachbegriffes<br />
zu leisten.“ Tagungsbericht HT 2006: Geschichtsbild und Handlungsorientierung. 19.09.2006 – 22.09.2006,<br />
Konstanz, in: H-Soz-u-Kult, 18.10.2006, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1236.<br />
175 Vgl. Ulrich Mayer, Handlungsorientierter Geschichtsunterricht, in: Demantowsky/Schönemann (Hg.), Neue<br />
geschichtsdidaktische Positionen, S. 33.<br />
58
immer noch eine Herausfor<strong>der</strong>ung für klassische Unterrichtsformen dar, die einen<br />
monolithischen, mehrheitsgesellschaftlichen, nationalen Geschichtskanon verfolgen.<br />
In diesem Sinn lassen sich Aspekte <strong>der</strong> Methodenorientierung sehr gut für eine<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> in <strong>der</strong> postnazistischen Migrationsgesellschaft produktiv<br />
machen.<br />
Gegenwartsbezug<br />
Ein weiterer wesentlicher Begriff, <strong>der</strong> im Vokabular <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik nach<br />
1970 nicht fehlen darf, ist <strong>der</strong> „Gegenwartsbezug“. 176 Dieser hat in den 2000er Jahren<br />
mit einer Publikation von Klaus Bergmann eine Aktualisierung erfahren. 177 Darin<br />
macht er deutlich, dass <strong>der</strong> Gegenwartsbezug nicht Ziel, son<strong>der</strong>n Voraussetzung je<strong>der</strong><br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> ist. Diese findet immer vor dem Hintergrund und im Hinblick<br />
auf die Gegenwart statt. Gerade dies macht das Thema dieser Arbeit aktuell, denn die<br />
Gegenwart <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft scheint bisher noch nicht ausreichend im Alltag<br />
<strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> angekommen zu sein. So formuliert Gottfried Kößler:<br />
„Der nationalgeschichtlich orientierte Zugang <strong>der</strong> deutschen Geschichtsdidaktik, eng verwoben mit dem<br />
Anspruch einer ‚Erziehung nach Auschwitz’, prägt die Angebote zum historisch-politischen <strong>Lernen</strong> oft<br />
bis in die Gegenwart. Das bedeutet, dass die Frage <strong>der</strong> Zugehörigkeit zur deutschen Mehrheitsgesellschaft<br />
verhandelt wird. […] Dabei bleibt die Erinnerung an Nationalsozialismus und die Massenverbrechen<br />
NS-Deutschlands in <strong>der</strong> Regel an eine nationale Abstammungsgemeinschaft gebunden. Es ist<br />
die Aufgabe <strong>der</strong> Pädagogik, gerade in einer Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Massenverbrechen, Zugänge<br />
zum kollektiven Gedächtnis jenseits nationaler Identitäten zu öffnen. […] Historisches <strong>Lernen</strong> wird nicht<br />
durch die einfache Aneignung historischer Fakten gegenwartsrelevant. Vielmehr ist es die gemeinsame<br />
Arbeit am Verständnis unterschiedlicher Erinnerungen und wi<strong>der</strong>sprüchlicher zeitgenössischer Quellen,<br />
die Chancen <strong>der</strong> politischen Bildung eröffnet.“ 178<br />
Umbrüche in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik seit den 1990er Jahren<br />
Die oben beschriebenen Entwicklungen werden bis heute weitergeführt und teilweise<br />
radikalisiert. Eine noch stärkere Prozessorientierung rückt die Fragen <strong>der</strong> SchülerIn-<br />
176 Zur Reflexion in den 1970er Jahren vgl. Klaus Bergmann, Hans-Jürgen Pandel, Geschichte und Zukunft.<br />
Didaktische Reflexionen über veröffentlichtes Geschichtsbewußtsein, Frankfurt am Main 1975.<br />
177 Klaus Bergmann, Der Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht, Schwalbach 2002.<br />
178 Gottfried Kößler, Der Gegenwartsbezug gedenkstättenpädagogischer Arbeit, in: Barbara Thimm, Gottfried<br />
Kößler, Susanne Ulrich (Hg.), Verunsichernde Orte. Selbstverständnis und Weiterbildung in <strong>der</strong> Gedenkstättenpädagogik,<br />
Frankfurt am Main 2010, S. 45–52, S. 51.<br />
59
nen „als konstitutives Element des Unterrichts“ 179 in den Blick. Die Idee <strong>der</strong> „Ergebnisoffenheit“<br />
ermöglicht historische Investigationen, ohne dabei alle Ergebnisse<br />
vorher zu kennen o<strong>der</strong> vorwegnehmen zu wollen. Dabei gibt es nun durchaus Ähnlichkeiten<br />
zur Offenheit des Dreiecks <strong>der</strong> Kontaktzone. Allerdings muss aus <strong>der</strong><br />
dekonstruktiv-kritischen vermittlungstheoretischen Perspektive dieser Arbeit festgehalten<br />
werden, dass nicht jede Theorie und Praxis, die sich selbst als ergebnisoffen<br />
tituliert, den „Schwenk vom Lehren zum <strong>Lernen</strong>“ 180 tatsächlich vollzieht. Denn da, wo<br />
damit bloß gemeint ist, dass die <strong>Lernen</strong>den dort abgeholt werden sollen, wo sie<br />
stehen, handelt es sich sehr oft weiterhin um eine Orientierung an <strong>der</strong> Lehre – um eine<br />
weitere Methode, einen prädeterminierten Stoff trickreich an die Leute zu bringen, die<br />
dabei eben oft erst dorthin gestellt werden, wo sie vermeintlich stehen.<br />
Die Orientierung am Prozess des <strong>Lernen</strong>s ernst zu nehmen, müsste demgegenüber<br />
vielmehr bedeuten, dass Lehrende den SchülerInnen – ihren Fragen, Ansätzen<br />
und Forschungsinteressen – genauso sehr verpflichtet sind wie dem historischen<br />
Gegenstand. Gerade wo <strong>Lernen</strong>de als Fragende (und teilweise sogar als Forschende)<br />
auf einen Gegenstand treffen, ergeben sich neue Perspektiven. Dieser Konsequenz<br />
wird u. a. wohl deshalb gerne ausgewichen, weil Themen und Fragen <strong>der</strong> SchülerInnen<br />
den Horizont des Faktenwissens <strong>der</strong> Lehrenden überschreiten. Orientierung an<br />
den <strong>Lernen</strong>den würde allerdings bedeuten, auszuhalten, dass sich alle Beteiligten auf<br />
ungesichertes Terrain ohne Wissensvorsprung begeben, um gemeinsam anhand von<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit historischen Materialien und Medien und mithilfe historischer<br />
Kompetenzen Wissen zu erwerben und zu generieren. Die Orientierung an den<br />
<strong>Lernen</strong>den ist also eigentlich mit <strong>der</strong> Affirmation eines Kontrollverlustes verbunden,<br />
<strong>der</strong> es möglich macht, den reproduktiven Aspekt des <strong>Lernen</strong>s und Lehrens zu überschreiten.<br />
Wo Unerwartetes geschehen kann, kann historisches Wissen nicht bloß<br />
erworben, son<strong>der</strong>n auch produziert werden, können Geschichtsbil<strong>der</strong> zur Verhandlung<br />
kommen. Für eine transnationale <strong>Geschichtsvermittlung</strong> in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
scheint dieser Schritt schon deshalb unerlässlich, weil viel mehr Geschichte(n) und<br />
Geschichtsbil<strong>der</strong> im Raum stehen, als Lehrende abrufbar zur Verfügung haben<br />
können.<br />
179 Vgl. Brigitte Dehne: Schülerfragen als konstitutives Element des Geschichtsunterricht, in: GWU 51,11 (2000),<br />
S. 661–680.<br />
180 von Borries, Historisch Denken <strong>Lernen</strong>, S. 15.<br />
60
Multiperspektivität<br />
„Geschichte ‚an sich’ gibt es nicht, sie wird immer aus einer bestimmten Perspektive<br />
wahrgenommen.“ 181 Mit diesen Worten beginnt <strong>der</strong> Eintrag zur Multiperspektivität im<br />
Wörterbuch Geschichtsdidaktik. Mit Multiperspektivität ist also eine Herangehensweise<br />
an Geschichte gemeint, die sich klar macht, dass historische Überlieferungen<br />
grundsätzlich perspektivisch sind und einen historischen Sachverhalt daher aus mehreren<br />
– mindestens zwei – Blickwinkeln betrachtet. Durch den Vergleich mehrerer<br />
Quellen soll es zur Fähigkeit <strong>der</strong> Analyse ihrer jeweiligen Positioniertheit kommen.<br />
Darüber hinaus bezeichnet <strong>der</strong> Begriff aber auch die unterschiedlichen Sichtweisen,<br />
die in <strong>der</strong> Gegenwart auf die Quellen und auf die Geschichte gerichtet werden. Und<br />
mehr noch: Er verweist auch auf eine Bandbreite an Möglichkeiten für zukünftige<br />
Deutungen. So for<strong>der</strong>t Jörn Rüsen: „Multiperspektivität“ bei <strong>der</strong> „historischen Wahrnehmung“,<br />
„Kontroversität“ bei <strong>der</strong> „historischen Deutung“ und „Pluralität“ bei <strong>der</strong><br />
„historischen Orientierung“. 182 Wenn Rüsen hier auch drei Begriffe für unterschiedliche<br />
Zeitlichkeiten einführt, so wird Multiperspektivität bzw. Perspektivität doch für<br />
alle drei Zeitlichkeiten eingesetzt – für die Deutung jeweils positionierter Quellen aus<br />
<strong>der</strong> Vergangenheit, für die Positioniertheiten <strong>der</strong> dabei stattfindenden Wahrnehmungen<br />
in <strong>der</strong> Gegenwart und für die Orientierung im Hinblick auf Positionen in <strong>der</strong><br />
Zukunft. So schreibt Melanie Salewski:<br />
„Wenn das Prinzip <strong>der</strong> Perspektivität Anwendung findet, sind die Schüler nicht nur einer einzigen Darstellung<br />
über historische Ereignisse ausgesetzt, son<strong>der</strong>n haben vielmehr auch die Möglichkeit, anhand<br />
<strong>der</strong> multiperspektivischen Zeugnisse und kontroversen Darstellungen über Geschehenes nachzudenken<br />
und so zu unterschiedlichen Ansichten und Urteilen zu gelangen, die in <strong>der</strong> Klasse kontrovers und<br />
diskursiv verhandelt werden.“ 183<br />
Eine wesentliche Referenz für die jüngste Konjunktur des Begriffes stellt Klaus Bergmanns<br />
Buch „Multiperspektivität. Geschichte selber denken“ dar. Hier schreibt er:<br />
„Das historische <strong>Lernen</strong> in <strong>der</strong> Schule muss immer wie<strong>der</strong> neu bedacht werden, wie ja auch Geschichte<br />
immer wie<strong>der</strong> neu gedacht wird. Die gegenwärtige Diskussion kreist um ein historisches <strong>Lernen</strong>, das es<br />
den Schülerinnen und Schülern ermöglichen soll, selbständig historisch zu denken und über Kategorien<br />
zur historischen Reflexion ihrer Lebenslagen zu verfügen. Dabei kommt einem historischen <strong>Lernen</strong>, das<br />
auf Perspektivität und Multiperspektivität abhebt, eine beson<strong>der</strong>e Bedeutung zu. Bei diesem <strong>Lernen</strong> werden<br />
Verfahren <strong>der</strong> historischen Orientierung in <strong>der</strong> Welt kennen gelernt, Kategorien historischen Den-<br />
181 Melanie Salewski, Multiperspektivität, in: Ulrich Mayer, Hans-Jürgen Pandel, Gerhard Schnei<strong>der</strong>, Bernd<br />
Schönemann (Hg.), Wörterbuch Geschichtsdidaktik, 2. Auflage, Schwalbach 2009, S. 143–144, hier S. 143.<br />
182 Vgl. Rüsen, Historisches <strong>Lernen</strong>. Grundlagen und Paradigmen, S. 156–170.<br />
183 Salewski, Multiperspektivität, S. 144.<br />
61
kens eingeübt, Erfahrungen bedacht und utopischer Überschuss aus <strong>der</strong> Vergangenheit eingeholt. Damit<br />
wird zugleich ein didaktisch wesentlicher Kern historischen Denkens gelernt: Das Erkennen und Anerkennen<br />
von Vielfalt und Differenz in menschlichen Lebensverhältnissen und Wertvorstellungen.” 184<br />
Nachdem <strong>der</strong> Begriff in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik geprägt war, hat er bei seiner ebenso<br />
häufigen wie oft unklaren Verwendung 185 in den letzten zwanzig Jahren zwei für das<br />
Thema dieser Arbeit relevante Implikationen erhalten und dabei jeweils einen interessanten<br />
Bedeutungswandel erfahren: einerseits im Kontext <strong>der</strong> Vermittlung von TäterInnengeschichte<br />
und an<strong>der</strong>erseits im Zusammenhang mit Migration. 186 Was die<br />
Vermittlung von TäterInnengeschichte betrifft, hält das Schlagwort vor allem in<br />
Verbindung mit <strong>der</strong> Etablierung <strong>der</strong> Holocaust Education im deutschsprachigen Raum<br />
Einzug: Hier wird dann oft eine <strong>Geschichtsvermittlung</strong> als multiperspektivisch<br />
bezeichnet, die von den Kategorien „Täter, Opfer, Zuschauer“ von Raul Hilberg ausgeht.<br />
Einer Problematisierung dieser Implikation ist nach dem nächsten Kapitel ein<br />
Exkurs gewidmet. Bereits hier seien allerdings zwei Fragen angesprochen, die sich<br />
vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Gefahr eines Relativismus stellen, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Multiperspektivität<br />
verbunden sein kann: Sollen überhaupt alle Seiten verstanden werden? Und wie<br />
kann in einem multiperspektivischen Unterricht Position bezogen werden?<br />
Was nun den zweiten Aspekt – die Migrationsgesellschaft – betrifft, so wird <strong>der</strong><br />
Begriff zunehmend verwendet, um den Unzulänglichkeiten eines monoperspektivischen<br />
nationalen Unterrichts etwas entgegensetzen zu können. So schreibt Astrid<br />
Messerschmidt:<br />
„Im Umgang mit <strong>der</strong> Zeitgeschichte spiegeln sich Selbst- und Weltbil<strong>der</strong>. Bildungsprozesse, die sich auf<br />
erinnerte Geschichte beziehen, werden erst dann eröffnet, wenn eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit eben jenen<br />
Bil<strong>der</strong>n herausgefor<strong>der</strong>t wird. Im Kontext <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft wird zeitgeschichtliche Bildungsarbeit<br />
mit vielfältigen Perspektiven auf den Nationalsozialismus und mit unterschiedlichen Beziehungen<br />
und Bedeutungsebenen konfrontiert. Deshalb wird in pädagogischen Ansätzen zunehmend versucht,<br />
Multiperspektivität als Anknüpfungspunkt für eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Komplexität zeitgeschichtlicher<br />
Beziehungen aufzugreifen.“ 187<br />
Multiperspektivität meint in diesem Zusammenhang eine Erweiterung <strong>der</strong> Geschichtsnarrative<br />
auf Min<strong>der</strong>heitengeschichten vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Migrationsgesell-<br />
184 Klaus Bergmann, Multiperspektivität. Geschichte selber denken, Schwalbach 2000, S. 8.<br />
185 vgl. Robert Stradling, Multiperspectivity in history teaching. A guide for teachers: Coucil of Europe 2003,<br />
http://www.coe.int/t/dg4/education/historyteaching/Source/Notions/Multiperspectivity/MultiperspectivityEnglis<br />
h.pdf (15.10.2011). Hier schreibt er auf S. 13. „Multiperspectivity is a term more often used than defined“.<br />
186 Karl Peter Fritzsche schreibt 1992 einen Aufsatz mit dem Titel „Multiperspektivität. Eine pädagogische Antwort<br />
auf die multikulturelle Gesellschaft”, in: PÄDEXTRA 11/1992, S. 14–16.<br />
187 Astrid Messerschmidt, Involviertes Erinnern. Migrationsgesellschaftliche Bildungsprozesse in den Nachwirkungen<br />
des Nationalsozialismus, in: Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 277–299, hier S. 277.<br />
62
schaft. Dabei geht es um eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Geschichte als transnationaler<br />
„Beziehungsgeschichte“. 188<br />
Bettina Alavi macht darauf aufmerksam, dass Multiperspektivität auch mit <strong>der</strong><br />
Möglichkeit verbunden sein muss, die eigene Sichtweise im Hinblick auf ihre diskursive<br />
Dimension innerhalb von Machtverhältnissen zu befragen:<br />
„Es geht nicht nur darum, wie ‚wir’ und die ‚an<strong>der</strong>en’ geworden sind, was ‚wir’ und ‚sie’ sind, son<strong>der</strong>n<br />
auch darum, wie die Zuordnungen und Abgrenzungen von ‚wir’ und ‚die an<strong>der</strong>en’ durch Selbst- und<br />
Fremdzuschreibungen geworden sind und wie sich die Gruppen ‚wir’ und ‚die an<strong>der</strong>en’ heute notwendig<br />
begegnen, überschneiden und relativieren. Insgesamt blieb bisher die heterogene Perspektive <strong>der</strong><br />
Schüler/innen auf die Geschichte wenig beachtet. Sie sollten lernen zu fragen: Durch welche Erfahrungen,<br />
Vorinformationen, Wertvorstellungen wird meine Perspektive beeinflußt? Multiperspektivität im<br />
interkulturellen Geschichtsunterricht bedeutet also auch eine Denkbewegung in zwei Richtungen: auf die<br />
Perspektive <strong>der</strong> historischen Menschen und reflexiv auf den eigenen Bezugsrahmen.“ 189<br />
Dies führt uns zu unserer Frage: Wo steht die Geschichtsdidaktik in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft?<br />
Geschichtsdidaktik in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
„Die in den letzten Jahren intensiv geführte Auseinan<strong>der</strong>setzung um die Erinnerungskultur<br />
hat sich kaum auf die Diskussion um die Migrationsgesellschaft<br />
bezogen.“ 190 , schreibt Astrid Messerschmidt. Dem kann nur beigepflichtet werden:<br />
Die Migrationsgesellschaft und damit verbundene Fragen <strong>der</strong> Transnationalität<br />
wurden in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik bisher eher marginal und erst in den letzten Jahren<br />
thematisiert. Und wenn ihre Wichtigkeit zwar mittlerweile ins Bewusstsein gekommen<br />
ist, so gibt es bisher dennoch nicht viele AutorInnen, die sich dem Thema<br />
fundiert widmen. Bettina Alavi gehört zu den wenigen DidaktikerInnen, die sich<br />
bereits seit den 1990er Jahren genauer mit Migration und Bildung beschäftigt<br />
haben: 191 Sie geht dabei von <strong>der</strong> „Heterogenität als Normalfall“ 192 und <strong>der</strong> empirischen<br />
Wirklichkeit einer „multi-ethnischen Gesellschaft“ 193 aus und macht auf die damit<br />
verbundenen Implikationen im Hinblick auf eine notwendige Verän<strong>der</strong>ung des<br />
188 Vgl. Ulla Kux, Produktive Irritationen. Multiperspektivische Bildungsprojekte zur Beziehungsgeschichte<br />
hiesiger Mehr- und Min<strong>der</strong>heiten, in: Fechler/Kößler/Messerschmidt/Schäuble (Hg.), Neue Judenfeindschaft?,<br />
S. 318–328, hier S. 326.<br />
189 Vgl. Alavi, Geschichtsunterricht in <strong>der</strong> multiethnischen Gesellschaft, S. 19 f.<br />
190 Messerschmidt, Involviertes Erinnern, S. 278.<br />
191 Vgl. Alavi, Geschichtsunterricht in <strong>der</strong> multiethnischen Gesellschaft.<br />
192 Ebda., S. 14.<br />
193 Vgl. Bettina Alavi, Gerd Henke-Blockschatz (Hg.), Migration und Fremdverstehen. Geschichtsunterricht und<br />
Geschichtskultur in <strong>der</strong> multiethnischen Gesellschaft, Idstein 2004.<br />
63
Unterrichts aufmerksam. Dies kann selbstverständlich nicht ohne Auswirkungen auf<br />
die bisher davon kaum berührt scheinenden zentralen Kategorien <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik<br />
bleiben. 194 Alavi zeigt einen Modifikationsbedarf geschichtsdidaktischer<br />
Kategorien wie Identität, Geschichtsbewusstsein und Multiperspektivität auf: 195<br />
„In den Schulen lernen inzwischen (…) zu einem hohen Prozentsatz Schülerinnen und Schüler mit<br />
höchst unterschiedlichen Herkunftstraditionen zusammen. Wenn die Gesellschaft heterogener wird und<br />
eine heterogener gewordene Schülerschaft zusammen lernt, sollte dies Konsequenzen auf den<br />
schulischen Unterricht insgesamt haben.“ 196<br />
Teilweise wurde darauf bereits in Form von Tagungen, Wettbewerben und Unterrichtsmaterialien<br />
reagiert: Mit dem 18. Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten<br />
in Deutschland 2002/2003 mit dem Thema „Weggehen – Ankommen. Migration in<br />
<strong>der</strong> Geschichte“ ging etwa ein gleichnamiges Unterrichtsmaterial einher, das sich <strong>der</strong><br />
deutschen Geschichte als Migrationsgeschichte widmet. 197<br />
Eine weitere Autorin, die in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben<br />
darf, ist Viola B. Georgi. Mit Hilfe <strong>der</strong> Geschichtsbewusstseinsforschung geht sie in<br />
ihrer Studie „Entliehene Erinnerung“ 198 <strong>der</strong> Frage nach den Bezügen von jugendlichen<br />
MigrantInnen zu Nazismus und Holocaust nach. Insofern es sich dabei um eine<br />
empirische Untersuchung anhand detaillierter, narrativ orientierter Interviews handelt,<br />
findet sich eine eingehende Reflexion und Bezugnahme auf Georgi in <strong>der</strong> parallel zu<br />
dieser Arbeit entstehenden Studie von Ines Garnitschnig. Dennoch sei hier einiges<br />
Wesentliches festgehalten: Georgi geht von <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland als<br />
Einwan<strong>der</strong>ungsland aus und erarbeitet auf <strong>der</strong> Basis von biografischen Interviews mit<br />
jungen MigrantInnen und entsprechend <strong>der</strong> Grounded Theory vier Typen von<br />
Geschichtsbezügen: Bei Typ 1 wird Georgi zufolge <strong>der</strong> Fokus auf die „Opfer <strong>der</strong> NS-<br />
194 So widmete sich auch die alle zwei Jahre stattfindende „Konferenz für Geschichtsdidaktik“ von 1. bis 3.<br />
Oktober 2003 an <strong>der</strong> Pädagogischen Hochschule in Freiburg dem Thema „Migration und Fremdverstehen.<br />
Geschichtsunterricht und Geschichtskultur in <strong>der</strong> multiethnischen Gesellschaft“. Dazu aus dem Vorwort des<br />
daraus hervorgegangenen Sammelbandes: „Die Wahl und die Auffächerung des Themas signalisierten, dass<br />
‚Migration’ nicht nur als ein Phänomen begriffen werden sollte, das im Rahmen einer globalisierten und<br />
internationalisierten Gesellschaft aktuell danach drängt, zum Gegenstand historischen <strong>Lernen</strong>s gemacht zu<br />
werden. Migration sollte vielmehr darüber hinaus als ein Grundtatbestand menschlichen Lebens in Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft verstanden und in dieser Form in die Planung nicht nur einzelner Unterrichtsstunden<br />
und Ausstellungen, son<strong>der</strong>n übergreifen<strong>der</strong> Lehrpläne, Curricula, Museumskonzeptionen etc. einbezogen<br />
werden.“ Ebda., S. 11.<br />
195 Vgl. Alavi, Geschichtsunterricht in <strong>der</strong> multiethnischen Gesellschaft.<br />
196 Ebda., S. 15.<br />
197 Bodo von Borries hat die Ergebnisse (von 50 aus fast 2000 Beiträgen) analysiert und damit verbundene „gesellschafts-<br />
und geschichtspolitische Trends“, „geschichtswissenschaftliche Irrtümer und Entdeckungen“, „arbeitsmethodische<br />
Beson<strong>der</strong>heiten“ sowie „geschichtsreflexive […] Defizite und Kompetenzen“ zum Thema gemacht.<br />
Vgl. Bodo von Borries, Ergebnisse des Geschichtswettbewerbs 2002/2003 „Weggehen – Ankommen.<br />
Migration in <strong>der</strong> Geschichte“, in: Bettina Alavi, Gerd Henke-Blockschatz (Hg.), Migration und Fremdverstehen,<br />
S. 69–83.<br />
198 Georgi, Entliehene Erinnerung.<br />
64
Verfolgung“ gelegt. 199 Typ 2 legt wie<strong>der</strong>um den Fokus auf „Zuschauer, Mitläufer und<br />
Täter im Nationalsozialismus“. 200 Bei Typ 3 orientieren sich die Geschichtsbezüge an<br />
<strong>der</strong> „eigenen ethnischen Gemeinschaft“, 201 während es bei Typ 4 die gesamte<br />
„Menschheit“ 202 ist, die den Fokus <strong>der</strong> Bezugnahme bildet; hier stellt Georgi eine<br />
„postnationale o<strong>der</strong> auch postethnische Orientierung <strong>der</strong> Jugendlichen“ 203 fest.<br />
Abschließend plädiert Viola Georgi für einen hermeneutischen Umgang mit<br />
Geschichtsgeschichten – ein Begriff, den Volkhard Knigge geprägt hat. Dabei geht es<br />
darum, dass die Geschichten <strong>der</strong> Jugendlichen in den Wissenserwerb über Geschichte<br />
einbezogen und für diesen produktiv gemacht werden können. Die „durch Migration<br />
verstärkte Pluralisierung von Vergangenheitsbezügen, Geschichtskonstruktionen und<br />
Geschichtsgeschichten“ könne, so Georgis Schluss, „Anlass sein für eine kritische<br />
Reflexion <strong>der</strong> bisherigen geschichtsdidaktischen Praxis, die die subjektiven Formen<br />
<strong>der</strong> Geschichtsaneignung weitgehend ausblendete.“ 204 Die Bezüge <strong>der</strong> Jugendlichen –<br />
ihre „individuellen Biografien, Familiengeschichten und außerschulischen Aneignungsformen“<br />
– sollten auf diese Weise als „Lernpotential“ und nicht als „Lernwi<strong>der</strong>stand“<br />
begriffen werden. 205<br />
Obwohl vor dem Hintergrund <strong>der</strong> kritischen Migrationsforschung Skepsis<br />
gegenüber <strong>der</strong> Untersuchung von migrantischen Jugendlichen als dem beliebtesten<br />
Forschungsobjekt <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft formuliert werden muss, 206 sind gerade<br />
Georgis Schlüsse ein wichtiger Einstieg in die Beschäftigung mit aktuellen<br />
Theoriebildungen für eine pädagogische Praxis. Denn wie oben beschrieben, gehört<br />
die Frage nach dem Geschichtsbewusstsein heute nicht zu unrecht zu einem wesentlichen<br />
Forschungsfeld <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik. Dennoch muss auch diese sich von<br />
einer reflexiven Erziehungswissenschaft sowie von Migrationspädagogik und Postkolonialer<br />
Theorie einige Fragen hinsichtlich dessen gefallen lassen, wer hier welches<br />
Wissen über wen generiert und inwieweit Geschichtsbewusstsein durch Erforschung<br />
199 Vgl. ebda., S. 301–303.<br />
200 Vgl. ebda., S. 303–305.<br />
201 Vgl. ebda.<br />
202 Vgl. ebda., S. 305–307.<br />
203 Ebda.<br />
204 Ebda., S. 315.<br />
205 Vgl. ebda.<br />
206 „Wenn es um Integration geht, sind die Migrant/innen in den letzten Jahren die am meisten untersuchte Gruppe,<br />
und auch wenn sie in diesen Untersuchungen nicht mehr Auslän<strong>der</strong> genannt werden, ist man sich doch insgeheim<br />
sicher, dass sie es sind. Sie haben Auskunft zu geben über ihre Bildungsbiografien, ihre kulturellen und<br />
religiösen Identitäten, über ihre Auffassungen von Staat, Demokratie und Abendland.“ Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong><br />
und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 88.<br />
65
nicht bloß vorgefunden, son<strong>der</strong>n erst produziert wird. 207<br />
Auf die Herausfor<strong>der</strong>ungen einer diskursiven Fragmentierung und Pluralisierung<br />
historischen Wissens seit den 1980er Jahren reagiert die Geschichtsdidaktik also mit<br />
einer allgemeinen Kulturalisierung und einer spezifischen Methodenorientierung.<br />
Einerseits erfährt sie als Wissenschaft vom Geschichtsbewusstsein eine massive<br />
Erweiterung ihres Referenzrahmens – geht es doch nunmehr nicht bloß um fachdidaktische<br />
Aspekte, son<strong>der</strong>n um das weite Feld von Geschichtskulturen in <strong>der</strong> Gesellschaft.<br />
An<strong>der</strong>erseits wird, was den lernspezifischen Charakter <strong>der</strong> Disziplin betrifft,<br />
<strong>der</strong> Fokus auf die Entwicklung von Kompetenzen gelegt, beson<strong>der</strong>s auf die Fähigkeit<br />
zur Reflexivität im Umgang mit Quellenmaterial. Starke Ansprüche und normative<br />
Ziele geraten dabei eher in den Hintergrund – werden oft als Gesinnungspädagogik<br />
und Betroffenheitskitsch entlarvt bzw. abgetan. 208 Die <strong>Lernen</strong>den sollen fit für eine<br />
Welt werden, in <strong>der</strong> Geschichte umkämpft ist und sich im ständigen Umbruch<br />
befindet.<br />
Bei all diesen Ansätzen und Umbrüchen haben wir es mit einer Theorie zu tun,<br />
die kaum explizit auf die Tatsache <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft zu reagieren imstande<br />
ist: Die Nation ist – wenn sie auch reflexiv geworden ist – weitgehend bei sich selbst.<br />
Die Frage, die sich für diese Arbeit nun stellen wird, ist, welche Erkenntnisse sich aus<br />
<strong>der</strong> Tatsache <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft für die relevanten Konzepte <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik<br />
(wie Prozessorientierung und Multiperspektivität) ziehen lassen. Darüber<br />
hinaus sind die konkreten Implikationen für das spezifische Thema <strong>der</strong> Vermittlung<br />
207 „Dadurch verstärken pädagogische Handlungsformen und Forschungsperspektiven gesellschaftliche Spaltungen,<br />
wenn sie in Bildungskonzeptionen und -analysen die Unterscheidungen zwischen Herkunftsdeutschen und<br />
‚An<strong>der</strong>en’ verankern und migrantische Min<strong>der</strong>heiten immer wie<strong>der</strong> zu Forschungsobjekten und Son<strong>der</strong>zielgruppen<br />
machen.“, Messerschmidt, Involviertes Erinnern, S. 280.<br />
208 Vgl. Michele Barricelli, Das Visual History Archive des Shoah Foundation Institute, in: Vadim Oswalt, Hans-<br />
Jürgen Pandel (Hg.), Geschichtskultur. Die Anwesenheit <strong>der</strong> Vergangenheit in <strong>der</strong> Gegenwart, Schwalbach<br />
2009, S. 198–211, hier S. 202 f. „Es gibt mittlerweile auch von <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik breit rezipierte (erziehungswissenschaftliche)<br />
Studien, die ein ‚<strong>Lernen</strong> aus <strong>der</strong> Geschichte’, gerade was die Beschäftigung mit <strong>der</strong><br />
NS-Zeit betrifft, unwahrscheinlich anmuten lässt. Eher üben die Jugendlichen als ‚Zeugen <strong>der</strong> Erinnerung’<br />
lediglich das ritualisierte, normativ hochgradig überformte und politisch korrekte Sprechen über diesen<br />
furchtbarsten Abschnitt <strong>der</strong> deutschen und europäischen Geschichte ein; und insofern den Heranwachsenden<br />
diese Rede weitgehend äußerlich bleibt, sind im Grunde auch nur Lippenbekenntnisse im Hinblick auf den<br />
Einsatz für eine demokratisch organisierte und pluralistisch orientierte Weltgesellschaft zu erwarten (was<br />
natürlich nicht ausschließt, dass im Zweifelsfall <strong>der</strong>- o<strong>der</strong> diejenige doch noch in dem intendierten Sinne tätig<br />
wird). Eine wirkliche intellektuelle wie emotional verantwortliche Bewegung abseits distanzierter Gleichgültigkeit<br />
wird man im Zuge historischer Lernprozesse wohl nur auslösen können, wenn die in dieser Materie<br />
so überdeutliche normative Perspektive des Geschichtslernens soweit es geht zurückgenommen und trotz des<br />
beklemmenden Themas Platz für subjektive Relevanzsetzungen sowie echte, d. h. ergebnisoffene Reflexivität<br />
geschaffen wird.“<br />
66
zum Nazismus und seinen Massenverbrechen noch weitgehend offen geblieben.<br />
Allerdings schien es wichtig, das Vokabular <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik zunächst einmal<br />
zu etablieren, da wir diesem immer wie<strong>der</strong> – zum Beispiel in den konkreten Ansätzen<br />
<strong>der</strong> Gedenkstättenpädagogik – begegnen werden. Doch bevor dies geschehen kann,<br />
widmen wir uns nun einem an<strong>der</strong>en Bereich <strong>der</strong> Reflexion über Ziele und Inhalte <strong>der</strong><br />
Vermittlung. Denn in <strong>der</strong> Zeit, in <strong>der</strong> die Geschichtsdidaktik reflexiv und kompetenzorientiert<br />
wurde, entwickelte sich in den USA parallel dazu eine von starken ethisch<br />
aufgeladenen Zielen und Visionen motivierte pädagogische Strömung: die Holocaust<br />
Education.<br />
I.3.2 Ansprüche und Werte <strong>der</strong> Holocaust Education 209<br />
Holocaust Education ist mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum zu einem<br />
gebräuchlichen Begriff geworden. Matthias Heyl bezeichnete sie 1999 im Verhältnis<br />
zur Geschichtsdidaktik als eine „sehr pragmatische auf die pädagogische Praxis<br />
zielende Diskussion darüber (…), wie <strong>der</strong> Holocaust zum Gegenstand <strong>der</strong> Erziehung<br />
werden könne“. 210 Neun Jahre später – nach ihrer weitgehenden Etablierung im<br />
deutschsprachigen Raum – wird diese sehr allgemein als „pädagogisch-didaktische[r]<br />
Diskurs <strong>der</strong> Vermittlung von Wissen und Werten über die Judenvernichtung“ 211<br />
definiert. Betrachten wir diese Definition und vergleichen wir sie mit <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik,<br />
so zeigt sich zunächst eine Gemeinsamkeit: Beide bildungstheoretischen<br />
Zugänge wollen nach Auschwitz über bloße Wissensvermittlung hinausgehen. Sie<br />
unterscheiden sich allerdings in den Schlüssen, die sie daraus ziehen: Im Fall <strong>der</strong><br />
Geschichtsdidaktik führt <strong>der</strong> Bruch mit <strong>der</strong> reinen Wie<strong>der</strong>gabe von Faktenwissen, wie<br />
oben beschrieben, zu einer verstärkten Orientierung an Methoden, während es in <strong>der</strong><br />
Holocaust Education um Werte geht: 212 um ethische Entscheidungen, gesellschaftliche<br />
209 Dank an Yariv Lapid für seine kritische Lektüre und hilfreichen Anmerkungen.<br />
210 Heyl, „Holocaust Education“, S. 6.<br />
211 Angela Kühner, Phil. C. Langer, Robert Sigel, Ausgewählte Studienergebnisse im Überblick, in: Bayrische<br />
Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit, Einsichten und Perspektiven, Bayrische Zeitschrift für Politik und<br />
Geschichte, Themenheft 1/2008, Holocaust Education. Wie Schüler und Lehrer den Unterricht zum Thema<br />
Nationalsozialismus und Holocaust erleben, S. 76–82.<br />
212<br />
So schreibt Juliane Wetzel, dass unter Holocaust-Erziehung „nicht so sehr eine Vermittlung kognitiven Wissens<br />
über den Holocaust verstanden [wird], son<strong>der</strong>n vielmehr eine Moral- und Werteerziehung, die gegen Rassismus,<br />
Rechtsextremismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und vieles mehr immunisieren soll und das<br />
eigentliche Geschehen immer weiter in den Hintergrund treten lässt. Die Vermittlung historischen Wissens<br />
steht dabei nicht im Mittelpunkt.“ http://www.bpb.de/themen/VIJUTF,0,HolocaustErziehung.html<br />
67
Handlungsoptionen 213 und Aktualisierungsansprüche. 214<br />
Dies wird – von unterschiedlichen bildungstheoretischen Seiten vor allem im<br />
deutschsprachigen Raum – im Hinblick auf eine Gefahr unzulässiger Instrumentalisierung<br />
des Holocaust kritisch hinterfragt. Andreas Peham und Elke Rajal liefern eine<br />
differenzierte Reflexion des Begriffs in seiner aktuellen Verwendung:<br />
“Holocaust Education ist <strong>der</strong> gängige Begriff für die pädagogisch-didaktisch reflektierte, schulische und<br />
außer-schulische Vermittlung des Holocaust. (…) Hier wird bereits deutlich, dass unter Holocaust<br />
Education mehr als bloße Wissensvermittlung verstanden wird: An sie werden immer auch eine Reihe<br />
von Lernzielen und Erwartungen geknüpft, wie etwa die För<strong>der</strong>ung demokratischer Denk- und Verhaltensweisen,<br />
<strong>der</strong> Abbau von Vorurteilen, Aggression und Gewalt.<br />
Unter Holocaust Education können also zwei Diskursstränge subsumiert werden: die Vermittlung eines<br />
historischen Wissens einerseits und eines ethisch fundierten Handlungsimperativs an<strong>der</strong>erseits. Der<br />
‚Argumentationstopos, dass das Gedenken an Auschwitz zur Einübung freiheitlich-demokratischen<br />
Handelns beitragen könne’, bildet dabei ‚den kaum hinterfragten Kern.’“ 215<br />
Inwieweit eine Aktualisierung, die Verbindungen zwischen dem Holocaust und<br />
aktuellen Themen vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Arbeit in agonistischen <strong>Kontaktzonen</strong><br />
knüpft, schwierig bzw. notwendig ist 216 und welche Rolle ethische Ansprüche dabei<br />
spielen können und sollen, wird in dieser Arbeit noch besprochen werden. Doch<br />
widmen wir uns zunächst den Diskussionen um die Holocaust Education: Um <strong>der</strong>en<br />
Entwicklung im Postnazismus nachzuvollziehen, lohnt sich ein Blick auf ihren Entstehungskontext<br />
in den USA, den internationalen Kontext ihrer Etablierung sowie auf<br />
ihre späte, aber zunehmende Verbreitung im deutschsprachigen Raum.<br />
(20.11.2011), und auch Thomas D. Fallace stellt in Bezug auf die ersten Holocaust-Education-Curricula, die<br />
Mitte <strong>der</strong> 1970er Jahre entstehen, fest: „The presentation of the Holocaust was designed to have the greatest<br />
possible effect on students. In this sense its purpose was not only to transmit the facts of the Holocaust, but also<br />
to transformt he attitudes of future citizens – a central goal of the social studies in general.“ Thomas D. Fallace,<br />
The Origins of Holocaust Education in American Public Schools, in: Holocaust and Genocide Studies, V20/Nr.<br />
1/Spring 2006, S. 92.<br />
213 Doch auch in <strong>der</strong> US-amerikanischen Literatur ist die Frage, ob und was aus <strong>der</strong> Geschichte des Holocaust für<br />
die Zukunft zu lernen wäre, umstritten. So schreibt etwa Berel Lang: „Would we dare to ask someone that is<br />
dying what ‚lessons’ his experience promised for us, the living? And what would we expect to ‚learn’ from the<br />
response if we did venture the question?” Berel Lang, The future of the Holocaust between history and memory,<br />
Ithaca 1999, S. 174.<br />
214 Die Debatte um die Holocaust Education wird auch in den USA keineswegs einhellig geführt. Peter Novick<br />
sieht etwa das Potential <strong>der</strong> Holocaust Education für die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> US-amerikanischen<br />
Gegenwart mit einiger Skepsis: „The principal lesson of the Holocaust, it is frequently said, that it sensitises us<br />
to oppression and atrocity. In principle it might, and I don’t doubt that sometimes it does. But making it the<br />
benchmark of oppression and atrocity works in precisely the opposite direction, trivialising crimes of lesser<br />
magnitude.“, Peter Novick, The Holocaust in American Life, New York 1999, S. 14 und Simone A. Schweber<br />
spricht von einer „Holocaust Fatigue“ in <strong>der</strong> pädagogischen Praxis. Vgl. Simone Schweber, Holocaust Fatigue,<br />
in: teaching today. Social Education, 7/2006, S. 44–50<br />
215 Andreas Peham, Elke Rajal, Erziehung wozu? Holocaust und Rechtsextremismus in <strong>der</strong> Schule, in: Dokumentationsarchiv<br />
des österreichischen Wi<strong>der</strong>standes (Hg.), Jahrbuch 2010, Vermittlungsarbeit mit Jugendlichen und<br />
Erwachsenen, Wien 2010, S. 38–65, hier S. 40.<br />
216 Vgl. das Kapitel II.3 Was geschehen ist und was es für die Gegenwart bedeutet.<br />
68
Die Entstehung <strong>der</strong> Holocaust Education in den USA<br />
Die ersten Ansätze einer Holocaust Education wurden in den 1970er Jahren in den<br />
USA entwickelt. An<strong>der</strong>s als vielfach angenommen wird, zeigt Thomas D. Fallace,<br />
dass es sich dabei keineswegs ausschließlich um eine gouvernementale Top-down-<br />
Strategie handelte. Vielmehr entstand die erste Welle <strong>der</strong> Holocaust Education aus<br />
einem Bedürfnis von LehrerInnen, sich dem Gegenstand vor dem Hintergrund ihrer<br />
konkreten Situation im Klassenzimmer zu widmen. „Why, one must ask, did a number<br />
of public school teachers in different locations all decide in 1973-75 to start<br />
teaching about the holocaust?“ 217 , fragt Thomas D. Fallace. Die Antwort ist ihm<br />
zufolge weniger in verordneten Gedenkkulturen zu finden als in spezifischen edukativen<br />
Situationen, in denen empfundene Notwendigkeiten den Grund für die<br />
Entstehung einer Praxis <strong>der</strong> Holocaust Education bilden. 218 Er spricht von „a grassroots<br />
movement pioneered by schoolteachers, many of whom were not Jewish. Their<br />
actions were not necessarily connected to those events usually associated with the rise<br />
in Holocaust Consciousness in America.“ 219 Für das Thema dieser Arbeit ist Fallaces<br />
Blick auf die Entstehungsgeschichte <strong>der</strong> Holocaust Education vor allem deshalb so<br />
relevant, weil er zeigt, dass <strong>der</strong>en Aktualisierungsanliegen für SchülerInnen öffentlicher<br />
Schulen in <strong>der</strong> US-amerikanischen Migrationsgesellschaft formuliert wurden.<br />
Die Verbindung <strong>der</strong> Thematiken des Holocaust und <strong>der</strong> Migration ist <strong>der</strong> Holocaust<br />
Education also keineswegs äußerlich, son<strong>der</strong>n lässt sich bereits in ihren Anfängen<br />
finden. Wie kam es dazu?<br />
Fallace stellt die Entwicklung in den Kontext einer allgemeineren „affective revolution“<br />
im progressiven US-amerikanischen Bildungsdiskurs <strong>der</strong> frühen 1970er Jahre.<br />
Die SchülerInnen berühren zu wollen, war dabei mit einem explizit politischen und<br />
politisierenden Programm verknüpft. Vor dem Hintergrund <strong>der</strong> sozialen und politischen<br />
Kämpfe um 1968 sollte <strong>der</strong> Unterricht gesellschaftlich relevant sein: „it would<br />
deal with the real social world“. 220 Für die VertreterInnen <strong>der</strong> affektiven Revolution<br />
217 Fallace, The Origins of Holocaust Education in American Public Schools, S. 80.<br />
218 „We developed our program to meet the needs of our community“, formulierte Richard Flaim, <strong>der</strong> gemeinsam<br />
mit KollegInnen eines <strong>der</strong> ersten High-School-Programme zum Holocaust für die Vineland High School in<br />
New Jersey entwickelte, in einem Interview mit <strong>der</strong> New York Times. Ira Rosenblum, „State Backs Holocaust<br />
Course“, New York Times, 17. Februar 1985, zit. nach: Fallace, The Origins of Holocaust Education, S. 89.<br />
219 Fallace, The Origins of Holocaust Education, S. 81.<br />
220 Fallace zitiert hier aus den „Social Studies Curriculum Guidelines“, in: Social Education 36/71, S. 860.<br />
Interessant ist, dass er in <strong>der</strong> Fußnote davon ausgehend von einem „rapid shift to ethnic studies“ spricht, den er<br />
69
war das <strong>Lernen</strong> von Geschichte also im Hinblick auf ein Verständnis <strong>der</strong> jeweils<br />
aktuellen Gesellschaft angelegt: „History, they argued, should be taught as a continuing<br />
conflict of values and tied to the immediate needs of society.“ 221 Gefor<strong>der</strong>t<br />
wurden Curricula, die sich mit Themen beschäftigen, die die SchülerInnen in ihrer<br />
Gegenwart etwas angehen sollten – konkret mit <strong>der</strong> rassistischen gesellschaftlichen<br />
Ungleichheit in den USA und vor allem mit zivilem Ungehorsam. Der moralische<br />
Anspruch, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Entwicklung damit einhergehen<strong>der</strong> neuer Unterrichtsmaterialien<br />
verbunden war, erschien damals nicht als von oben herab dekretierte Meinungsmache,<br />
son<strong>der</strong>n als Aktualisierung, um ein Bewusstsein für die eigene Rolle in <strong>der</strong><br />
Gesellschaft zu entwickeln sowie als kritische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Möglichkeit,<br />
nicht mitzumachen.<br />
Fallace zeigt, dass diese Bildungsansätze, verbunden mit einem wachsenden Interesse<br />
am Holocaust in den Geschichtswissenschaften, einige LehrerInnen Mitte <strong>der</strong> 1970er<br />
Jahre dazu inspirierten, den Holocaust in den Unterricht zu integrieren. Anhand von<br />
Fallstudien geht er konkreter auf die ersten Curricula ein. So erzählt er etwa von den<br />
Projekten an <strong>der</strong> Vineland High School – den ersten vollen Semesterkursen zum<br />
Holocaust in einer High School in den USA:<br />
„Vineland, New Jersey in 1973 was a community of 50.000 people with an ethnically and social<br />
economically diverse population. Richard Flaim, head of the Social Studies Department, reveled in the<br />
multiple cultures of his community. He reflected that it was ‚almost like a laboratory for social studies<br />
education … a good place to do interesting things with kids to prepare them for a multiethnic society and<br />
world’“ 222<br />
Die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Holocaust sollte die SchülerInnen einerseits wachrütteln<br />
und an<strong>der</strong>erseits dazu anhalten, allgemeine Schlüsse über Handlungsoptionen<br />
in <strong>der</strong> Gesellschaft zu ziehen. Und wenn dies auch aus heutiger Sicht allzu verallgemeinernd,<br />
fast kitschig wirkt, so scheint es doch zu mehr als bloß eindimensionalen<br />
Reaktionen bei den SchülerInnen geführt zu haben: „His students ‚were really struggling<br />
to find their own way, to know what was right to do […] kids had all kind of<br />
questions’“. 223<br />
Eine weitere, mittlerweile sehr bedeutende Initiative, von <strong>der</strong> Fallace berichtet,<br />
an den Titeln <strong>der</strong> NCSS-Jahrbücher <strong>der</strong> Folgejahre ausmacht: „Teaching Ethnic Studies (1973), Teaching<br />
American History: The Quest for Relevance (1974)“. Ebda., S. 99.<br />
221 Ebda., S. 83.<br />
222 Ebda., S. 88.<br />
223 Ebda.<br />
70
ist Facing History and Ourselves. Das erste Curriculum unter diesem Namen wurde<br />
von zwei Social-Studies-LehrerInnen, Margot Stern Strom und William Parsons, in<br />
Brookline, einem Vorort von Boston, entwickelt. Die beiden hatten sich 1974 bei<br />
einer Holocaust-Konferenz <strong>der</strong> Anti-Defamation League kennengelernt, bei <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Holocaust „as a human problem, not a Jewish one“ thematisiert wurde. Vor diesem<br />
Hintergrund entschieden die LehrerInnen, ihr eigenes Holocaust-Curriculum zu entwickeln<br />
– „as a way to combat societal ignorance.“ 224 Auch ihnen ging es also darum,<br />
die Verbrechen <strong>der</strong> Nazis so zu behandeln, dass sie verallgemeinert und mit den<br />
brennenden Fragen <strong>der</strong> Gegenwart verknüpft werden könnten. 1976 begannen die<br />
beiden, anhand ihres Curriculums in ihrer jeweiligen Schule zu unterrichten. Fallace<br />
berichtet von den Kontexten und Erfolgen:<br />
„In the 1970s, Brookline was segregated along racial and socio-economic lines, and this resulted in what<br />
Parsons referred to as the ‚ghettoization’ of the city. Stern Strom’s school was mostly middle-class with<br />
a substantial Jewish population. Parsons described his community as blue-collar, mostly Black and<br />
Hispanic. Despite the different demographics, the response to the curriculum was positive in both<br />
schools.“ 225<br />
Nachdem die Methoden <strong>der</strong> Holocaust Education entwickelt waren, wurden diese seit<br />
den 1980er Jahren zunächst in den USA und dann international zunehmend in den<br />
Unterricht implementiert. 226<br />
1982 erschien die erste Auflage des Quellenbandes „Facing History and<br />
Ourselves – Holocaust and Human Behavior“ von Margot Stern Strom und William<br />
Parsons. 227 Im Zuge <strong>der</strong> 1980er und frühen 1990er Jahre wurde sie von zahlreichen<br />
Schulen und Schulbehörden in den USA übernommen und vom National Diffusion<br />
Network zum Modellcurriculum erklärt. 228 1995 beschrieb Mary Johnson, eine Mitarbeiterin,<br />
„Facing History“ als „Konzept aktiven Erinnerns“. Die Organisation war<br />
damals bereits ein „nationales, gemeinnütziges Lehrerfortbildungsprogramm und eine<br />
curriculare Einrichtung, die Lehrer und Schüler ermutigt, über das Fällen individueller<br />
224 Ebda., S. 92.<br />
225 Ebda., S. 93.<br />
226 Matthias Heyl beschreibt dies 1999, wie oben zitiert, so: „Seit den achtziger Jahren ist – mit Schwerpunkt in<br />
den USA – eine sehr pragmatische auf die pädagogische Praxis zielende Diskussion darüber entstanden, wie <strong>der</strong><br />
Holocaust zum Gegenstand <strong>der</strong> Erziehung werden könne; diese Debatte verbindet sich international mit dem<br />
Begriff ‚Holocaust Education’“. Heyl, „Holocaust Education“, S. 6.<br />
227 Margot Stern Strom, William Parsons, Facing History and Ourselves – Holocaust and Human Behavior,<br />
Watertown 1982.<br />
228 Vgl. Mary Johnson, Facing History als Konzept aktiven Erinnerns, in: Helmut Schreier, Matthias Heyl (Hg.),<br />
„Daß Auschwitz nicht noch einmal sei …“ Zur Erziehung nach Auschwitz, Hamburg 1995, S. 250–272, hier<br />
S. 250.<br />
71
Entscheidungen nachzudenken und die Fähigkeit, selber zu urteilen, einzuüben.“ 229<br />
Mittlerweile ist Facing History and Ourselves zu einer internationalen NGO geworden.<br />
Mit dem Untertitel „Helping classrooms and communities worlwide link the past<br />
to moral choices today“ 230 agiert sie in über achtzig Län<strong>der</strong>n. Auch heute geht es <strong>der</strong><br />
Organisation vor allem um die Gegenwart: Migration, gesellschaftliche Partizipation,<br />
Politisierung, Gewalt. 231<br />
Fallace arbeitet heraus, dass die Entwicklung <strong>der</strong> Holocaust-Curricula in erster<br />
Linie eine Aktivierung <strong>der</strong> SchülerInnen zum Ziel hatte. Die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />
<strong>der</strong> Geschichte des Holocaust sollte aufrütteln. Dabei ging es vor allem um die jeweilige<br />
Gegenwart <strong>der</strong> SchülerInnen in den USA. Da in <strong>der</strong> Ära Reagan <strong>der</strong> kalte Krieg<br />
und die nukleare Aufrüstung die wesentlichen aktuellen Themen zu sein schienen,<br />
wurden diese im Curriculum sofort in Verbindung mit dem Holocaust gebracht:<br />
„The Facing History curriculum outlined the similarity between the global silence surrounding the<br />
Holocaust during World War Two and the global acquiescence to an arms buildup with the potential to<br />
lead to a nuclear war in the present. Both events, it posited, required a majority of passive bystan<strong>der</strong>s too<br />
apathetic or frightened to intervene.“ 232<br />
Die hier stattfindende flexible Verallgemeinerung des Holocaust auf die jeweiligen<br />
politischen Dringlichkeiten im US-amerikanischen Klassenzimmer durch die engagierte<br />
Pädagogik – konkret <strong>der</strong> Vietnamkrieg, Watergate, die nukleare Aufrüstung<br />
sowie <strong>der</strong> Rassismus in <strong>der</strong> US-amerikanischen Gesellschaft – kann bereits als Teil<br />
einer zunehmenden Globalisierung des Holocaust gelesen werden. 233 Auf die moralische<br />
Funktion, die Raul Hilbergs Figur des Bystan<strong>der</strong>s dabei einnimmt, soll hier nur<br />
hingewiesen und später noch einmal eingegangen werden.<br />
Aber kontextualisieren wir diese Entstehungsgeschichte zunächst vor dem Hintergrund<br />
unserer Ausgangsfrage: Handelte es sich bei diesen ersten Holocaust-Curricula<br />
nun um Ermöglichungen agonistischer <strong>Kontaktzonen</strong>?<br />
Fallace arbeitet drei wesentliche Kriterien heraus, nach denen sie entwickelt<br />
wurden: Erstens „engage students“, zweitens „connect the events of the Holocaust to<br />
229 Vgl. ebda., S. 249.<br />
230 http://www.facinghistory.org/.<br />
231 Und insgesamt scheint die Holocaust Education vor allem die jeweilige Gegenwart und Zukunft zu adressieren.<br />
So schreiben auch Geoffrey Short und Carol Ann Reed für den Kontext Kanada und Großbritannien: „The most<br />
compelling reason for studying the Holocaust is to help secure the future against further violations of human<br />
rights whether based on ethnicity, religion, gen<strong>der</strong>, sexual orientation or disability.“ Short/Reed, Issues in<br />
Holocaust education, S. 2.<br />
232 Fallace, The Origins of Holocaust Education, S. 95.<br />
233 Vgl. ebda., S. 98 sowie zur Globalisierung des Holocaust vgl. Levy/Sznai<strong>der</strong>, Erinnerung im globalen Zeitalter.<br />
72
contemporary events and issues“ und drittens „help students navigate value conflicts<br />
in the present and empower them to prevent genocides in the future“. 234 Offensichtlich<br />
wurden die Materialien mitten in einer Migrationsgesellschaft und diese bewusst<br />
adressierend entwickelt. Aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Holocaust Education scheint die Verbindung<br />
<strong>der</strong> Thematiken <strong>der</strong> Massenverbrechen <strong>der</strong> Nazis einerseits und des Rassismus<br />
an<strong>der</strong>erseits also auf <strong>der</strong> Hand zu liegen. Die Jugendlichen, die mit den Materialien<br />
adressiert wurden, schienen damit auch viel anfangen zu können. Auch werden<br />
sowohl Prozessualität ermöglicht als auch klare Positionierung erwartet. Allerdings<br />
scheint dabei die Funktion von Moralerziehung als Herrschaftstechnik 235 an keiner<br />
Stelle reflektiert zu werden. Mary Johnson von Facing History and Ourselves<br />
beschreibt den Anspruch:<br />
„Facing History and Ourselves appelliert an Schüler jeden Alters und verschiedener ethnischer, religiöser<br />
und kultureller Hintergründe. Indem die Vorstellung, daß Geschichte ein Zweig <strong>der</strong> Moralphilosophie<br />
sei, wie<strong>der</strong>belebt wird, läßt Facing History diese Disziplin für gegenwärtige Überlegungen<br />
relevant werden und zwingt die Teilnehmer zu fragen, was sie tun würden, wenn sie mit moralischen<br />
Entscheidungssituationen konfrontiert würden.“ 236<br />
Der Zwang tritt in diesem Zitat deutlich zutage. Handelt es sich dabei um einen<br />
Zwang zur Freiheit? Dies bleibt fraglich, denn die Entscheidungssituationen scheinen<br />
sowohl in Bezug auf die Geschichte als auch auf die Gegenwart kaum offen formuliert<br />
zu sein. Alle Themenkomplexe zielen zwar auf Aktivierung und zeugen auch von<br />
einer klaren Position <strong>der</strong> EntwicklerInnen <strong>der</strong> Curricula: gegen die nukleare Aufrüstung,<br />
gegen den Vietnamkrieg, gegen den US-amerikanischen Alltagsrassismus 237 .<br />
Doch wenn all diese Formen <strong>der</strong> Aktualisierungen bereits feststehen und sowohl<br />
Ausgangspunkt (<strong>der</strong> Holocaust) als auch Ziel <strong>der</strong> Education (gegen die nukleare<br />
Aufrüstung, gegen den Vietnamkrieg und den US-amerikanischen Alltagsrassismus)<br />
234 Fallace, The Origins of Holocaust Education, S. 96.<br />
235 Eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den fließenden Grenzen zwischen notwendiger Positioniertheit <strong>der</strong> eigenen Arbeit<br />
einerseits und <strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong> Manipulation an<strong>der</strong>erseits scheint hier wichtig. Im deutschsprachigen Kontext<br />
einer kritischen politischen Bildung wird dies seit einigen Jahren thematisiert. „Manipulation vermeiden“ gehört<br />
so etwa zu den Übungen, die im Zuge des Modellprojekts „Gedenkstättenpädagogik und Gegenwartsbezug<br />
– Selbstverständigung und Konzeptentwicklung“ 2007–2010 entwickelt wurden. Hier ein Zitat aus dem<br />
Übungsteil: „Im pädagogischen Handeln ist Einflussnahme Teil des pädagogischen Prozesses. Im besten Falle<br />
ist sie für alle Beteiligten transparent. Die Intentionen <strong>der</strong> Lehrenden sollten den <strong>Lernen</strong>den bekannt o<strong>der</strong><br />
zumindest erfragbar sein. Im Gegensatz dazu ist Manipulation <strong>der</strong> Versuch, gezielt o<strong>der</strong> verdeckt Meinungsbildung<br />
und/o<strong>der</strong> Bewusstsein zu lenken bzw. zu prägen. […] Gedenkstätten sind Orte, <strong>der</strong>en Geschichte als<br />
überwältigend wahrgenommen werden kann. Deshalb sollte dort beson<strong>der</strong>s sensibel mit dem Thema Manipulation<br />
umgegangen und auf Transparenz geachtet werden. Ziele <strong>der</strong> Übung: […] Die Unterscheidung zwischen<br />
unproblematischem und problematischem pädagogischen Vorgehen reflektieren bzw. sich darüber austauschen.“<br />
Thimm/Kößler/Ulrich (Hg.), Verunsichernde Orte, S. 152.<br />
236 Johnson, Facing History, S. 272.<br />
237 Weniger geht es allerdings um rassistische Polizeigewalt und Justiz.<br />
73
ereits ausgemacht sind, dann können (und müssen) die SchülerInnen unter sehr klar<br />
abgesteckten Bedingungen aktiv werden. Reflexivität und Dissens scheinen bei so<br />
einer Herangehensweise nicht wirklich möglich.<br />
Holocaust Education in <strong>der</strong> postnazistischen Gesellschaft<br />
Anlässlich des 50. Jahrestages <strong>der</strong> Befreiung von Auschwitz formulierte Matthias<br />
Heyl ein Exposé zur Gründung einer internationalen Forschungs- und Arbeitsstelle<br />
„Erziehung nach Auschwitz/Institute for Holocaust Education“. In diesem heißt es:<br />
„Hierzulande gibt es kaum zusammenhängende Forschungsbemühungen im Bereich dessen, was im<br />
internationalen wissenschaftlichen Diskurs unter dem Begriff ‚Holocaust Education’ firmiert. Dieser<br />
Begriff ist ins Deutsche kaum übersetzbar, weshalb hier einerseits <strong>der</strong> von Adorno geprägte Begriff <strong>der</strong><br />
‚Erziehung nach Auschwitz’ und an<strong>der</strong>erseits <strong>der</strong> <strong>der</strong> ‚Holocaust Education’ verwendet wird. Zur selben<br />
Zeit finden beispielsweise in den U.S.A. und Großbritannien Bemühungen statt, ‚Holocaust Education’<br />
zu einem festen Bestandteil <strong>der</strong> Lehrerausbildung und des schulischen Curriculums werden zu lassen.<br />
An <strong>der</strong> Universität Amsterdam wurde 1990 <strong>der</strong> erste europäische Lehrstuhl für ‚Holocaust Education’<br />
eingerichtet. In diesem Jahr findet in Großbritannien die ‚First European Teachers’ Conference’ zum<br />
Thema statt.“ 238<br />
1995 war Holocaust Education also in Deutschland noch gar nicht etabliert. 239 Das<br />
Zitat zeugt von einem Moment des Übergangs. 240 Denn in den darauf folgenden<br />
Jahren etablierte sie sich zunehmend und ist heute als Begriff und Methode aus dem<br />
Diskurs über die Vermittlung nach Auschwitz nicht mehr wegzudenken. Was ist<br />
seither geschehen? Elke Rajal fasst die zahlreichen internationalen Initiativen<br />
zusammen, die seit den späten 1990er Jahren entstanden und die den Hintergrund<br />
einer Etablierung <strong>der</strong> Holocaust Education in Europa bilden:<br />
„Auf EU-Ebene setzen das ‚European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia’ (EUMC) (1997–<br />
2007) beziehungsweise seine Nachfolgeinstitution, die ‚Fundamental Rights Agency’ (FRA), Maßstäbe<br />
zur Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus, die eng mit den Bemühungen um Holocaust<br />
Education verbunden sind. Die im Europarat maßgebliche Institution ist die ‚European Commission<br />
against Racism and Intolerance’ (ECRI), die 1993 gegründet wurde. Auf UN-Ebene agiert seit 2006 das<br />
‚United Nations Committee on the Elimination of Racial Discrimination’ (UNCERD). Auf Ebene <strong>der</strong><br />
OSZE beschäftigt sich das 1990 gegründete ‚Office for Democratic Institutions and Human Rights’<br />
(ODIHR) mit Anti-Antisemitismus-Erziehung und Holocaust Education. Im Beschluss Nr. 607 vom<br />
April 2004 hält die OSZE ihre Mitgliedslän<strong>der</strong> dazu an, ‚to promote educational programmes for<br />
combating Anti-Semitism, as well as to promote remembrance and education about the tragedy of the<br />
238 Matthias Heyl, Jews are no metaphors, o<strong>der</strong>: Die Kontextualisierung des Holocaust in Deutschland, in: Helmut<br />
Schreier, <strong>der</strong>s. (Hg.), „Daß Auschwitz nicht noch einmal sei …“ Zur Erziehung nach Auschwitz, Hamburg<br />
1995, S. 27–62, hier S. 57.<br />
239 Dass Heyl die Bezeichnung in seinem Exposé jedes Mal unter Anführungszeichen setzt, mag dafür zusätzlich<br />
zu dem, was er sagt, ein deutliches Zeichen sein.<br />
240 Zu diesem Zeitpunkt gibt es Heyl zufolge in den USA „etwa 70 Museen, Einrichtungen und Organisationen, die<br />
die ‚Holocaust Education’ als einen o<strong>der</strong> den Schwerpunkt ihrer Arbeit betrachten.“ Ebda., S. 59.<br />
74
Holocaust’. Seither wurden mehrere Konferenzen dazu abgehalten und 2006 erschien schließlich <strong>der</strong><br />
Bericht ‚Education on the Holocaust and on Anti-Semitism. An Overview and Analysis of Educational<br />
Approaches’, <strong>der</strong> auch Berichte über die Aktivitäten <strong>der</strong> einzelnen Mitgliedslän<strong>der</strong> enthält. Die wohl<br />
maßgebendste Institution ist jedoch die bereits erwähnte ‚Task Force for International Cooperation on<br />
Holocaust Education, Remembrance and Research’ (ITF), <strong>der</strong> neben einer Mehrzahl <strong>der</strong> europäischen<br />
Staaten auch die USA, Kanada, Argentinien und Israel angehören. Die ITF wurde 1998 vom schwedischen<br />
Premierminister Göran Persson initiiert.“ 241<br />
Im Januar 2000 fand ein von <strong>der</strong> ITF initiiertes internationales Holocaust-Forum in<br />
Stockholm statt, das für die Etablierung <strong>der</strong> Holocaust Education in Europa wesentlich<br />
werden sollte. 242 Bei diesem waren VertreterInnen aus 45 Län<strong>der</strong>n anwesend. Die<br />
TeilnehmerInnen kamen aus den Bereichen <strong>der</strong> Politik, <strong>der</strong> Wissenschaft, <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> sowie von Überlebendenorganisationen. Am letzten Tag <strong>der</strong><br />
Konferenz wurde eine Deklaration 243 verabschiedet, die die Holocaust Education<br />
zentral verankerte. So verpflichten sich die Beteiligten dazu, „Erziehung, Gedenken<br />
und Forschung über den Holocaust zu för<strong>der</strong>n“. 244<br />
„Die Empfehlungen sind ein wesentlicher Schritt zur Internationalisierung und Vereinheitlichung von<br />
Holocaust Education, auch wenn angemerkt wird, dass die Vermittlung des Holocausts von Land zu<br />
Land unterschiedlich aussehen müsse. (Vgl. Sigel 2008, 7f.) Die ITF gibt damit seit dem Beitritt<br />
Österreichs 2001 die konkretesten Richtlinien zur Holocaust Education vor. Zudem wurde die<br />
internationale Zusammenarbeit nicht nur intensiviert, son<strong>der</strong>n auch verbindlich. Österreich muss seither<br />
jährlich einen Bericht an die ITF schicken, in dem die Aktivitäten, die Lage <strong>der</strong> Lehrpläne, <strong>der</strong><br />
Schulbücher, <strong>der</strong> Lehrer*innenaus- und fortbildung, die Besucher*innenzahlen <strong>der</strong> Gedenkstätten und so<br />
weiter dokumentiert sind.“ 245<br />
So etablierte sich also auch in Österreich spät und keineswegs flächendeckend, aber<br />
dennoch eine offiziell organisierte Holocaust Education: 246 1996 bildete ein „Memo-<br />
241 Rajal, Erziehung nach/über Auschwitz, S. 117 ff.<br />
242 Volkhard Knigge erzählt: „Auf dem ‚Stockholm International Forum on the Holocaust. A Conference on<br />
Holocaust Education, Remembrance and Research’ haben sich […] im Jahr 2000 beinahe alle Staatschefs<br />
West- und Osteuropas – und außereuropäische Staatschefs – in öffentlichen Erklärungen stellvertretend für die<br />
jeweiligen Nationen zur dauerhaften Erinnerung des Holocausts als negativen Bezugspunkt nationaler und<br />
übernationaler Werteorientierung verpflichtet. Konkretisiert hat sich diese Verpflichtung u. a. in <strong>der</strong><br />
Etablierung von Holocaust-Gedenktagen und <strong>der</strong> Gründung einer ‚Task Force for International Cooperation on<br />
Holocaust Education, Remembrance and Research’.“ Knigge, Europäische Erinnerungskultur, S. 71.<br />
243 „Die acht Punkte <strong>der</strong> ‚Stockholm Declaration’ aus dem Jahr 2000 bilden das Fundament <strong>der</strong> Organisation. Die<br />
ITF gibt des Weiteren fünf ‚sets of guidelines’ vor.“, Rajal, Erziehung nach/über Auschwitz, S. 117 ff.<br />
244 Vgl. dazu Harald Welzer, Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25–<br />
26/2010, S. 16–29, hier S. 16.<br />
245 Rajal, Erziehung nach/über Auschwitz, S. 117 ff.<br />
246 Die Gründe für diese einerseits späte und an<strong>der</strong>erseits durchaus offizielle Etablierung <strong>der</strong> Holocaust Education<br />
in Österreich macht Elke Rajal sowohl in <strong>der</strong> geschichtspolitischen Situation in Österreich als auch einer zunehmenden<br />
Etablierung <strong>der</strong> Holocaust Education im internationalen Kontext aus: „Seit den späten 1990er-Jahren<br />
ist in Österreich von Holocaust Education, […] und <strong>der</strong> daraus folgenden Praxis, zu sprechen. Als Entstehungs-<br />
75
andum of Un<strong>der</strong>standing on Cultural and Educational Cooperation“ 247 zwischen<br />
Österreich und Israel die Grundlage für eine langfristige Zusammenarbeit im Hinblick<br />
auf Bildungsaustausch (u. a. ein österreichisch-israelischer Schulbuchdialog nach dem<br />
Vorbild Deutschlands) und die Entwicklung von Forschungs- und Bildungsinitiativen<br />
zur Holocaust Education. 1999 wurde auf dieser Basis die Plattform erinnern.at<br />
gegründet. 248 Der eng mit dem Unterrichtsministerium verbundene Verein beschreibt<br />
sich auf seiner Website folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
„Der Verein ‚Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart’ – kurz ‚erinnern.at’ – ist<br />
ein Vermittlungsprojekt des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur für Lehrende an österreichischen<br />
Schulen. Es will den Transfer von historischem und methodisch-didaktischem Wissen för<strong>der</strong>n<br />
sowie seine Bedeutung für die Gegenwart reflektieren. <strong>Lernen</strong>de sollen sowohl Kenntnisse erwerben<br />
als auch ethisch sensibilisiert werden.“ 249<br />
Wesentlicher Teil <strong>der</strong> Tätigkeit von erinnern.at sind Seminare zur Fortbildung österreichischer<br />
LehrerInnen in Yad Vashem, die im Auftrag des Unterrichtsministeriums<br />
organisiert und begleitet werden. Seit November 2000 finden jährlich zwei solcher<br />
LehrerInnen-Fortbildungsseminare an <strong>der</strong> International School for Holocaust Studies<br />
in Yad Vashem statt. Dabei geht es um eine Verbreitung <strong>der</strong> Methoden und Ansätze:<br />
„Die Absolvent/innen sollen in <strong>der</strong> Folge als MultiplikatorInnen wirken und ihre Kenntnisse und<br />
Erfahrungen nicht nur in ihrer täglichen Arbeit, son<strong>der</strong>n darüber hinaus in Folgeveranstaltungen,<br />
regionalen Seminaren, schulinternen Fortbildungsveranstaltungen und im Rahmen des österreichweiten<br />
Netzwerks von erinnern.at nutzbar machen.“ 250<br />
Erinnern.at ist seither zu einer bedeutenden Schnittstelle zwischen dem Diskurs <strong>der</strong><br />
Holocaust Education und den Schulen geworden.<br />
Anhand zahlreicher transnationaler und teilweise durchaus gouvernementaler Initiativen<br />
war es also gelungen, die Holocaust Education seit den 1990er Jahren zunehmend<br />
im postnazistischen Bildungsbereich Deutschlands und Österreichs zu etablieren.<br />
Doch lassen sich die in den USA und Israel 251 entwickelten Strategien einer<br />
bedingungen können <strong>der</strong> Zusammenbruch des Opfer-Mythos Ende <strong>der</strong> 1980er-, Anfang <strong>der</strong> 1990er-Jahre und<br />
die daraus hervorgegangenen vergangenheitspolitischen Umbrüche, internationale Verpflichtungen, die rund<br />
um 2000 eingegangen wurden, und eine internationale Tendenz <strong>der</strong> verstärkten Beschäftigung mit dem Holocaust,<br />
die Globalisierung und Universalisierung des Holocausts, genannt werden.“ Ebda., S. 115 f.<br />
247 http://bilaterales.bmukk.gv.at/tools/upload/bilaterales_dok_1471.pdf.<br />
248 Vgl. Werner Dreier, _erinnern.at_. Historisch-politische Bildung über Nationalsozialismus und Holocaust, in:<br />
Dokumentationsarchiv des österreichischen Wi<strong>der</strong>standes (Hg.), Jahrbuch 2010, Vermittlungsarbeit mit<br />
Jugendlichen und Erwachsenen, Wien 2010, S. 26–37, hier S. 26.<br />
249 http://www.erinnern.at/bundeslaen<strong>der</strong>/oesterreich/zu-erinnern-at (20.01.2012).<br />
250 http://www.erinnern.at/bundeslaen<strong>der</strong>/oesterreich/aktivitaten/Seminare_in_Israel/Allgemeine%20<br />
Informationen%20zu%20den%20Seminaren/seminare-in-israel (20.01.2012).<br />
251 Matthias Heyl beschreibt die Bedeutung <strong>der</strong> Holocaust Education in Israel folgen<strong>der</strong>maßen: „In <strong>der</strong> israelischen<br />
76
Werteerziehung durch die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Holocaust, Nazismus und<br />
Zweitem Weltkrieg so einfach auf die postnazistische Situation übertragen?<br />
Einige AutorInnen stellen dies in Frage: So beschreiben etwa Andreas Peham<br />
und Elke Rajal Holocaust Education – im Zusammenhang mit erinnern.at – als das<br />
„globale Konzept einer Werteerziehung mittels des (oft auch noch als einer unter<br />
vielen Völkermorden relativierten) Holocaust, das die Spezifika <strong>der</strong> postnationalsozialistischen<br />
Gesellschaften weitgehend außer Acht lässt”. 252 Aus diesem Grund<br />
betont Elke Rajal auch die Notwendigkeit einer Kontextgebundenheit von Bildungsansätzen<br />
zu den Massenverbrechen <strong>der</strong> Nazis. In einem NS-Nachfolgestaat bedeutet<br />
die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Verbrechen wohl auch schon deshalb etwas an<strong>der</strong>es,<br />
weil sich hier viele SchülerInnen nicht in ferne Figuren, son<strong>der</strong>n in Mitglie<strong>der</strong> ihrer<br />
Familie hineinversetzen, wenn es um die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Geschichte von<br />
ZuschauerInnen und TäterInnen geht. Rajal schreibt,<br />
„dass aufgrund <strong>der</strong> differierenden gesellschaftlichen Strukturen und <strong>der</strong> unterschiedlichen intergenerativen<br />
Geschichtstradierungen auch die Pädagogik nach und über Auschwitz in Österreich – einem<br />
Land <strong>der</strong> (mehrheitlichen) Täter*innen/Mitläufer*innen und <strong>der</strong>en Nachkommen – eine an<strong>der</strong>e sein<br />
muss als in den ehemals alliierten Staaten o<strong>der</strong> während des Zweiten Weltkriegs besetzten Län<strong>der</strong>n mit<br />
starker Wi<strong>der</strong>standsbewegung, in nicht direkt in den Zweiten Weltkrieg involvierten Staaten o<strong>der</strong> im<br />
Opfer-Nachfolge-Staat Israel.“ 253<br />
Sie for<strong>der</strong>t daher, dass „Gesellschafts- und Antisemitismuskritik“ einen „festen Platz<br />
im Konzept <strong>der</strong> Holocaust Education“ 254 einnehmen müssten.<br />
Trotz <strong>der</strong> teilweise berechtigten Kritik an entkontextualisierenden und moralisierenden<br />
Zugängen scheint eine undifferenzierte Gegenpositionierung zu den Modellen <strong>der</strong><br />
Holocaust Education in manchen Polemiken doch zu einfach o<strong>der</strong>, gar mit einem gewissen<br />
Ressentiment und Antiamerikanismus verbunden, problematisch. So formulierte<br />
Annegret Ehmann ihre Skepsis gegenüber <strong>der</strong> Holocaust Education keineswegs<br />
als Kritik am postnazistischen Diskurs. Sie sieht das Problem vielmehr ausschließlich<br />
Gesellschaft gibt es insbeson<strong>der</strong>e zwei Stränge, die sich miteinan<strong>der</strong> verbinden: einerseits gibt es die Erinnerung<br />
<strong>der</strong> Überlebenden <strong>der</strong> Shoah, die es in Israel anfangs nicht leicht hatten, ihre Geschichte(n) zu erzählen –<br />
oft wurde ihnen von den Juden, die während des Mordens in Palästina lebten, vorgehalten, sie hätten sich ‚wie<br />
Schafe zur Schlachtbank’ führen lassen; an<strong>der</strong>erseits fiel es <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>generation des Staates Israel leichter,<br />
sich mit den jüdischen Partisanen zu identifizieren, <strong>der</strong>en heroischer Wi<strong>der</strong>stand in <strong>der</strong> israelischen Gesellschaft<br />
eher einen Platz erhielt. Ein Einbruch war <strong>der</strong> Eichmann-Prozess, <strong>der</strong> für viele Überlebende dazu führte, daß<br />
ihren Erinnerungen erstmals Bedeutung beigemessen wurde. Die maßgebliche Lehre aus <strong>der</strong> Geschichte für die<br />
Israelis was ‚nie wie<strong>der</strong> Opfer’ sein zu wollen.“ Heyl, „Holocaust Education“, S. 27–43; online:<br />
http://www.fasena.de/archiv/forschung.htm, S. 1.<br />
252 Peham/Rajal, Erziehung wozu?, S. 39.<br />
253 Rajal, Erziehung nach/über Auschwitz, S. 27.<br />
254 Ebda., S. 15.<br />
77
in <strong>der</strong> Amerikanisierung <strong>der</strong> Debatte:<br />
„Im Zentrum steht allein <strong>der</strong> Holocaust, <strong>der</strong> im Laufe <strong>der</strong> vergangenen zwei Jahrzehnte zunehmend aus<br />
dem historischen Kontext gelöst und als ein quasi mystisches, sakrales Ereignis des unverhüllten Bösen<br />
interpretiert wurde […]. Diese dekontextualisierte, amerikanisierte Interpretation des Holocaust wird<br />
zunehmend nach Europa und Deutschland reimportiert und rezipiert, sinnbildlich unter an<strong>der</strong>em im<br />
Holocaust-Mahnmal in Berlin. Seit 1998 beschäftigt sich ein international besetztes Gremium, die so<br />
genannte ‚Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research’<br />
damit, ein auf amerikanischen und israelischen Curricula basierendes, weitgehend genormtes<br />
Konzept von Holocaust Education und einen weltweiten ‚Holocaust Remembrance Day’ zu etablieren.<br />
Fragwürdig ist <strong>der</strong> Ansatz dieser so gedachten ‚Holocaust Erziehung’ gerade vor dem Hintergrund <strong>der</strong><br />
spezifischen deutschen Situation, wenn vermittelt wird, dass im Wesentlichen nur Juden von <strong>der</strong> NS-<br />
Massenvernichtung betroffen waren. Problematisch bzw. falsch, weil völlig unzureichend ist die Folgerung,<br />
die für die historisch-politische Bildung daraus vielfach in die Praxis abgeleitet wird, dass es<br />
reicht, sich exemplarisch ausschließlich mit dem Holocaust – Insi<strong>der</strong> sprechen dann nur noch von Shoah<br />
– und dem Antisemitismus auseinan<strong>der</strong> zu setzen. An<strong>der</strong>e Themenkomplexe und Opfergruppen, die in<br />
<strong>der</strong> Forschung längst belegten weit reichenden Interdependenzen im Konzept <strong>der</strong> rassistischen Bevölkerungs-<br />
und Vernichtungspolitik insbeson<strong>der</strong>e in Osteuropa werden so auch aus <strong>der</strong> Erinnerung<br />
ausgeblendet. […] Die Begründungen für die For<strong>der</strong>ung einer weltweiten Holocaust Erziehung nach<br />
diesem Muster lässt erkennen, dass es den Initiatoren gar nicht primär um Geschichte lernen geht,<br />
son<strong>der</strong>n dahinter verbirgt sich ein naives Konzept vor<strong>der</strong>gründiger moralischer Erziehung.“ 255<br />
In dieser Beschreibung sieht es so aus, als ob eine ebenso mächtige wie naive USamerikanische<br />
„Holocaust Education“ allen an<strong>der</strong>en Opfergruppen als den Jüdinnen<br />
und Juden die Möglichkeit <strong>der</strong> Sichtbarkeit entziehen würde. Hier wird nicht einfach<br />
für eine konkrete Ausweitung <strong>der</strong> Perspektive auf ihre toten Winkel hin plädiert.<br />
Vielmehr steht die gesamte Holocaust Education unter Generalverdacht. Ein solcher<br />
Wi<strong>der</strong>stand gegen den Zugang <strong>der</strong> Holocaust Education erzählt von einer gewissen –<br />
vor allem vor dem Hintergrund begrenzter För<strong>der</strong>gel<strong>der</strong> durchaus materiellen – Konkurrenz<br />
zwischen einer deutschen und einer US-amerikanischen Bildungstradition.<br />
Exkurs: Multiperspektivität und die pädagogische Funktion <strong>der</strong> Bystan<strong>der</strong><br />
Mary Johnson schreibt 1995 über Facing History and Ourselves: „Das Programm<br />
erhöht nicht nur das Bewußtsein für die Perspektive <strong>der</strong> Täter, son<strong>der</strong>n warnt die<br />
Schüler nachdrücklich vor den inhärenten Gefahren des Zuschauer-Verhaltens.“ 256<br />
Interessant ist, wie sehr sich die Terminologie Raul Hilbergs in <strong>der</strong> pädagogischen<br />
255 Annegret Ehmann, Aktuelle Fragestellung in <strong>der</strong> historisch-politischen Bildung, in: Lenz/Schmidt/von<br />
Wrochem (Hg.), Erinnerungskulturen im Dialog, S. 91–102, hier S. 99 f.<br />
256 Johnson, Facing History, S. 267.<br />
78
Praxis nie<strong>der</strong>geschlagen hat. 257 Gerade für das ethische Anliegen <strong>der</strong> Holocaust<br />
Education – für eine Reflexion darüber, was es bedeutet, die Entscheidung zu treffen,<br />
nicht zuzuschauen – eignet sich Hilbergs Kategorie <strong>der</strong> „Bystan<strong>der</strong>“ sehr gut. An ihr<br />
lassen sich Handlungsoptionen und moralische Fragen diskutieren. Im deutschsprachigen<br />
Raum sind diese Kategorien in den letzten Jahren – wohl über die Rezeption<br />
und Implementierung <strong>der</strong> Holocaust Education – in Unterrichtsmaterialien und<br />
geschichtsdidaktische Texte eingegangen. Hier verbinden sie sich mit <strong>der</strong> oben<br />
beschriebenen geschichtsdidaktischen Kategorie <strong>der</strong> „Multiperspektivität“. 258<br />
Die Frage ist nun, inwieweit sich die Anliegen <strong>der</strong> Holocaust Education verän<strong>der</strong>n,<br />
wenn sie in den postnazistischen Kontext übertragen werden. Was heißt die<br />
Frage, wenn die beiden Satzteile „Facing History“ und „Ourselves“ nicht mehr zwei<br />
verschiedene Aspekte historischen <strong>Lernen</strong>s bezeichnen, son<strong>der</strong>n insofern miteinan<strong>der</strong><br />
verstrickt sind, als mit <strong>der</strong> historischen Auseinan<strong>der</strong>setzung die Geschichte <strong>der</strong><br />
eigenen Familien adressiert wird? Günther Jacob macht darauf aufmerksam, dass<br />
unter den Bedingungen des nazistischen Erbes die Frage „was hättet ihr getan“<br />
möglicherweise mehr mit Empathie verbunden ist als mit Aktivierung. So spricht er<br />
von einer „Rhetorik <strong>der</strong> Einfühlung“, die mehr Verständnis als Verstehen hervorruft.<br />
259 Auch handelt es sich bei <strong>der</strong> Frage um einen im postnazistischen Kontext<br />
etwas problematischen Konjunktiv: Hannah Arendt konstatierte den beliebten Einsatz<br />
einer solchen grammatikalischen Möglichkeitsform bereits 1950 in ihrem „Bericht<br />
aus Deutschland“. Sie macht deutlich, dass diese die tatsächlichen Verbrechen in<br />
potentielle verwandelt: „Aus <strong>der</strong> Wirklichkeit <strong>der</strong> Todesfabrik wird eine bloße<br />
257 Der Historiker Raul Hilberg etablierte die Kategorien „Täter, Opfer und Zuschauer“ in seinem Buch „Perpetrators,<br />
Victims, Bystan<strong>der</strong>s: The Jewish Catastrophe 1933–1945“, das 1992 in den USA erschien und im Kontext<br />
<strong>der</strong> Holocaust Education stark rezipiert wurde; die Materialien nehmen oft direkt auf Hilberg Bezug. So widmet<br />
sich etwa das Kapitel 8 von „Facing History and Ourselves“ dem Thema „Bystan<strong>der</strong>s and Rescuers“.<br />
http://www.facinghistory.org/bystan<strong>der</strong>s-rescuers-0 (20.01.2012).<br />
258 Vgl. z. B. Wolf Kaiser, Die Shoah in <strong>der</strong> Erwachsenenbildung, in: „Wie sagen wir es unseren Kin<strong>der</strong>n?“ Die<br />
Behandlung <strong>der</strong> Schoah im schulischen Unterricht, Evangelischer Pressedienst 4–5/2006, S. 75–82, hier<br />
S. 81 f., o<strong>der</strong> Andreas Schmoller, Vermittlung am historischen Ort. Perspektiven <strong>der</strong> BesucherInnenbetreuung<br />
an <strong>der</strong> KZ-Gedenkstätte und im Zeitgeschichte-Museum Ebensee, in: Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen,<br />
S. 163–173, hier S. 169.<br />
259 Vgl. Günther Jacob, „Empathie und Erbe“. In: Wolfgang Schnei<strong>der</strong> (Hg.), Wir kneten ein KZ. Aufsätze über<br />
Deutschlands Standortvorteil bei <strong>der</strong> Bewältigung <strong>der</strong> Vergangenheit, Hamburg 2000, S. 20–27, hier S. 22:<br />
„Mit <strong>der</strong> „Erinnerungskultur“ hat sich im wie<strong>der</strong>vereinigten Deutschland ein neuer Phantasieraum für kollektive<br />
mentale Empfindungen gebildet. In diesem Raum hat die Frage ‚Wie hätte ich damals gehandelt?’, die man<br />
dem psychoanalytischen Konzept <strong>der</strong> Gegenübertragung entlehnt hat, eine zentrale Bedeutung. Die Rhetorik<br />
<strong>der</strong> Einfühlung hat, seit die Zeit gekommen ist, das materielle und politische Erbe anzutreten, Konjunktur. (...)<br />
Das Element <strong>der</strong> privaten Partikularität verschiebt die Wahrnehmung. Aus dieser Perspektive kann nicht mehr<br />
gefragt werden, warum jemand vor Stalingrad lag. Erzählt wird nur noch, wie sich jemand dort gefühlt hat. Der<br />
Sohn weiß von <strong>der</strong> Mutter, daß <strong>der</strong> Vater beim Einmarsch <strong>der</strong> Englän<strong>der</strong> alle Dokumente vernichtet hat. Der<br />
Sohn geht in die Ausstellung, wo er sich ‚in die Fotos hineinversetzt’: ‚Ich versuche mir eben vorzustellen, was<br />
in den Menschen, die da stehen, vorgeht’ (Besucher einer Ausstellung). Er meint die Soldaten.“<br />
79
Möglichkeit: Die Deutschen hätten nur das getan, wozu an<strong>der</strong>e auch fähig seien (was<br />
natürlich mit vielen Beispielen illustriert wird) und wozu an<strong>der</strong>e künftig in <strong>der</strong> Lage<br />
wären.“ 260<br />
Zunehmend werden die Perspektiven von TäterInnen und ZuschauerInnen also<br />
in Unterricht und Gedenkstätten thematisiert. Der Verein Gedenkdienst etwa „bezieht<br />
die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Tätern seit Langem umfassend ins Programm von<br />
Gedenkstättenbesuchen ein“ 261 , so Florian Wenninger, Historiker und ehemaliger<br />
langjähriger Präsident des Vereins Gedenkdienst.<br />
„Erst seit wenigen Jahren findet dagegen die Perspektive <strong>der</strong> ‚kleinen’ Nazis stärkere Berücksichtigung<br />
in unserer Arbeit: <strong>der</strong> Blickwinkel jener, die nicht im Terrorapparat Dienst getan haben, die keine hohe<br />
Funktion an <strong>der</strong> Heimatfront innehatten, kurz: den bie<strong>der</strong>en Menschen von nebenan, die aus verschiedensten<br />
Gründen mitgemacht haben.“ 262<br />
In den letzten Jahren wird also auch im deutschsprachigen Raum die Rolle <strong>der</strong><br />
TäterInnenschaft mitten in <strong>der</strong> Gesellschaft sowie jene <strong>der</strong> ZuschauerInnen in <strong>der</strong><br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> thematisiert. Wenninger begrüßt diese Tendenz, insofern sie<br />
über eine bloße Identifikation mit den Opfern hinausgeht, die ihm zufolge einer<br />
kritischen und aktualisierenden Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Verbrechen nicht immer<br />
unbedingt dienlich ist. Dies ist, gerade weil diese allzu leicht dazu tendieren kann, die<br />
Verbrechen zu externalisieren, überzeugend. Allerdings stellt sich <strong>der</strong> Kontext in<br />
postnazistischen Gesellschaften doch etwas an<strong>der</strong>s dar als in den USA. Von „TäterInnen<br />
und ZuschauerInnen lernen“ ist hier nicht wie dort zu verstehen – heißt es im<br />
Postnazismus doch, sich mit den Positionen <strong>der</strong> eigenen Familien auseinan<strong>der</strong>zusetzen.<br />
Und dies wird wohl – wie oben mit Günther Jacob formuliert – immer an <strong>der</strong><br />
Schnittstelle von Empathie, Identifikation und Desidentifikation geschehen. Thematische<br />
Hegemonien von <strong>der</strong> Opferperspektive zur TäterInnenperspektive zu verschieben,<br />
scheint aus diesem Blickwinkel nicht ganz so einfach. Denn es geht hier ja auch<br />
um Ökonomien <strong>der</strong> Aufmerksamkeit unterschiedlicher gesellschaftlicher Tradierungsdiskurse.<br />
So liest sich auch Wenningers Plädoyer gegen die bloße Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Opferperspektiven nicht mehr ganz so überzeugend:<br />
„So ist es eine unserer katholischen Sozialisation entsprechende, historisch aber wenig tragfähige<br />
Annahme, ein Opfer sei per se jemand, von dem o<strong>der</strong> <strong>der</strong> man lernen könne. Tatsächlich trifft das we<strong>der</strong><br />
auf moralischer noch auf faktischer Ebene mit <strong>der</strong> unterstellten Selbstverständlichkeit zu. Extreme<br />
260 Hannah Arendt, Die Nachwirkungen des Naziregimes – Bericht aus Deutschland (1950), in: dieselbe, In <strong>der</strong><br />
Gegenwart. Übungen im politischen Denken II, München 2000, S. 38–63, hier S. 41.<br />
261 Florian Wenninger, Die Wohnung des Rottenführers D. Über Opferfokus und Täterabsenz in <strong>der</strong> zeitgenössischen<br />
Vermittlungsarbeit, in: Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 54–74, hier S. 67.<br />
262 Ebda.<br />
80
Gewalterfahrung traumatisiert häufig und hinterlässt nicht selten auch charakterliche Spuren. Zudem ist<br />
<strong>der</strong> Status als Opfer an sich noch kein Verdienst, aus dem mehr o<strong>der</strong> weniger selbstverständlich auf<br />
moralische Superiorität o<strong>der</strong> erhöhtes Verständnis für gegenwärtige Probleme geschlossen werden<br />
könnte. Dazu kommen die historischen Untiefen: Der Status als NS-Opfer war abseits politisch Verfolgter<br />
nicht bewusst gewählt. Im mo<strong>der</strong>nen und weite Gesellschaftsbereiche organisierenden und kontrollierenden<br />
Staat blieb dem einmal als solchen ausgemachten Opfer ein minimaler Handlungsspielraum,<br />
unter Bedingungen <strong>der</strong> Konzentrationslager häufig nur auf Kosten an<strong>der</strong>er Opfer. We<strong>der</strong> bieten die<br />
Gewalterfahrung aber Gewähr für ein aufgeklärtes Weltbild, noch für einen vorbildlichen Lebenswandel.<br />
Die Geschichte des Faschismus aus <strong>der</strong> Opferperspektive ist häufig die einer unvermuteten,<br />
unerklärlichen Bestialität.“ 263<br />
Aus <strong>der</strong> Sicht dieser Arbeit handelt es sich darüber hinaus jedenfalls um eine ziemlich<br />
monoperspektivische Herangehensweise, wenn drei Sichtweisen adressiert werden<br />
und zahlreiche Perspektiven, die im migrationsgesellschaftlichen Klassenzimmer zu<br />
finden sind, offensichtlich ausgeschlossen bleiben. Denken wir etwa an Viola Georgis<br />
Plädoyer gegen den diskursiven Ausschluss von MigrantInnen aus den Debatten zur<br />
Geschichtskultur, scheint es wichtig die Multiperspektivität weit über die drei Dimensionen<br />
von Opfern, TäterInnen und ZuschauerInnen zu überschreiten. Teilweise wird<br />
dies heute in <strong>der</strong> Gedenkstättenpädagogik versucht, versteht diese sich doch zunehmend<br />
als transnational. Was das bedeutet, wie es dazu kam und inwieweit Gedenkstätten<br />
dabei zu <strong>Kontaktzonen</strong> wurden, behandelt das nächste Subkapitel.<br />
I.3.3 Konkretion und Partizipation in <strong>der</strong> Gedenkstättenarbeit 264<br />
„Professionell gesprochen bin ich mir nicht sicher, ob ein ehemaliges Konzentrationslager,<br />
eine Gedenkstätte <strong>der</strong> Ort ist, an dem so etwas wie Empathie erzeugt werden<br />
kann“, meint Yariv Lapid, <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Vermittlung in <strong>der</strong> Gedenkstätte Mauthausen,<br />
in einem Interview mit <strong>der</strong> Zeitschrift Malmoe.<br />
„Ich denke, das ist eher die Aufgabe an<strong>der</strong>er Gremien in dieser Gesellschaft. Ich bin <strong>der</strong> Meinung,<br />
Empathie sollte mehr über positive Dinge entstehen und nicht über negative. An einem Ort wie<br />
Mauthausen kann man vor allem Verantwortung o<strong>der</strong> Schuldgefühle lernen, Empathie sollte eher über<br />
positive Schienen laufen, über Respekt und Zuneigung etwa – das fände ich irgendwie logischer und<br />
auch besser.“ 265<br />
Dass Yariv Lapid das betont, zeugt davon, wie viele Erwartungen heute an Gedenkstättenpädagogik<br />
herangetragen werden. Von <strong>der</strong> Idee einer „Schutzimpfung gegen<br />
263 Ebda., S. 66.<br />
264 Dank an Yariv Lapid, Peter Larndorfer und Heidemarie Uhl für wichtige Gespräche und Hinweise.<br />
265 Yariv Lapid, Grenzen des Begreiflichen, in: Malmoe 47 (09.10.2009).<br />
81
Rechtsextremismus“ 266 über die „Vorbeugung von Antisemitismus“ 267 bis zur<br />
Menschenrechtserziehung reichen die öffentlichen Wünsche und Zuschreibungen.<br />
Vor diesem Hintergrund bedeutet Gedenkstättenarbeit also mittlerweile auch, sich<br />
zahlreichen hohen Erwartungen zu wi<strong>der</strong>setzen. Das war nicht immer so:<br />
Die „Gedenkstättenpädagogik“ ist eine verhältnismäßig junge pädagogische<br />
Disziplin. Die Bezeichnung hat sich erst Mitte <strong>der</strong> 1980er Jahre herausgebildet, um<br />
die Arbeit mit BesucherInnen in Gedenkstätten zu beschreiben. Nachdem diese lange<br />
und oft marginalisiert – und etwa an ZivildienerInnen übertragen – wurde, ist sie in<br />
den letzten Jahren ins Zentrum <strong>der</strong> Aufmerksamkeit gerückt. So sind Gedenkstätten<br />
„in den letzten Jahren zu zentralen Orten des <strong>Lernen</strong>s aus <strong>der</strong> Geschichte geworden.“<br />
268 Vielerorts ist von <strong>der</strong> „Notwendigkeit einer professionalisierten Vermittlungstätigkeit“<br />
269 die Rede, wird an Aus- und Fortbildungen gearbeitet.<br />
In ihrem Selbstverständnis steht die Gedenkstättenpädagogik in Verbindung<br />
mit den Fel<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik, <strong>der</strong> historisch-politischen Bildung, <strong>der</strong><br />
Museumspädagogik sowie <strong>der</strong> Kunst- und Kulturvermittlung – unterscheidet sich<br />
jedoch auch von diesen. 270 Denn die Erinnerungsorte mit ihren Verbrechensgeschichten<br />
271 bringen spezifische Aufgaben mit sich und haben mehrere Funktionen 272 : Sie<br />
266 Der damalige Innenminister Ernst Strasser (ÖVP) meinte 2001 anlässlich <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> Reformpläne für<br />
die Gedenkstätte im ehemaligen KZ Mauthausen: „Wir wollen eine zeitgemäße Form des Gedenkens für nachfolgende<br />
Generationen schaffen. Wir wollen damit eine Art Schutzimpfung gegen Rechtsradikalismus, Menschenhatz<br />
und jede Form <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>betätigung finden und Mauthausen als Zentrum <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>betätigungsprävention<br />
sichern.“ www.bmi.gv.at/cms/BMI_OeffentlicheSicherheit/2001/03_04/Artikel_14.aspx.<br />
Ursprünglich stammt diese Idee einer Schutzimpfung von Adorno, <strong>der</strong> sich 1959 in dem Vortrag „Was bedeutet:<br />
Aufarbeitung <strong>der</strong> Vergangenheit“ im Hinblick auf eine solche „Schutzimpfung“ für die Etablierung psychologischer<br />
und pädagogischer Propagandatricks ausgesprochen hat. „Aufarbeitung <strong>der</strong> Vergangenheit als Aufklärung<br />
ist wesentlich solche Wendung aufs Subjekt, Verstärkung von dessen Selbstbewußtsein und damit auch<br />
von dessen Selbst. Sie sollte sich verbinden mit <strong>der</strong> Kenntnis <strong>der</strong> paar unverwüstlichen Propagandatricks, die<br />
genau auf jene psychologischen Dispositionen abgestimmt sind, <strong>der</strong>en Vorhandensein in den Menschen wir<br />
unterstellen müssen. Da diese Tricks starr sind und von begrenzter Zahl, so bereitet es keine gar zu großen<br />
Schwierigkeiten, sie auszukristallisieren, bekanntzumachen und für eine Art von Schutzimpfung zu verwenden.<br />
Das Problem des praktischen Vollzugs solcher subjektiven Aufklärung könnte wohl nur eine gemeinsame<br />
Anstrengung von Pädagogen und Psychologen lösen, die nicht unter dem Vorwand wissenschaftlicher Objektivität<br />
<strong>der</strong> dringendsten Aufgabe sich entziehen, die ihren Disziplinen heute gestellt ist.“ Theodor W. Adorno, in:<br />
Was bedeutet Aufarbeitung <strong>der</strong> Vergangenheit (1959), in: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt am Main 1971,<br />
S. 10–28, hier S. 27.<br />
267 Vgl. Andreas Peham, Elke Rajal, Antisemitismus in Österreichs Klassenzimmern. Eine pädagogische Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />
http://yad-vashem.org.il/yv/en/education/languages/german/newsletter/03/peham_rajal.asp: „Vom<br />
Faktenwissen über das Menschheitsverbrechen, am besten noch durch authentische Erfahrungen in einer<br />
Gedenkstätte ergänzt, wird erwartet, dass es zur Vorbeugung von Antisemitismus ausreiche. Vergessen wird<br />
dabei, dass und wie leicht (vor allem undurchdachte) Erziehung über Auschwitz bei den Jugendlichen Abwehraggressionen<br />
hervorrufen kann. Diese können sich schnell zu antisemitischen Ressentiments verhärten, wenn<br />
sie nicht umgehend bearbeitet werden.“<br />
268 Zur Konzeption <strong>der</strong> Tagung „Diesseits und Jenseits des Holocaust. Aus <strong>der</strong> Geschichte lernen in Gedenkstätten“,<br />
Österreichische Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften, 15.–17. September 2011.<br />
269 Till Hilmar, Einleitung, in: <strong>der</strong>s. (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 11–20, hier S. 12.<br />
270 Vgl. Heike Kuhls, Erinnern lernen? Pädagogische Arbeit in Gedenkstätten, Münster 1996, S. 34 ff.<br />
271 Ein offene Frage in Bezug auf Gedenkstätten ist die, ob mit dem Begriff ausschließlich jene Orte <strong>der</strong> Erinnerung<br />
bezeichnet werden sollen, die sich dort befinden, wo die Verbrechen stattgefunden haben, an die sie<br />
82
sollen den Verbrechen ein ehrendes Gedenken entgegensetzen und zugleich Wissen<br />
über die Verbrechen vermitteln. Sie sind Friedhöfe ebenso wie historische Museen.<br />
Gedenkstätten sind „Orte des Gedenkens, Mahnens und <strong>Lernen</strong>s. Sie sollen weiterhin<br />
an die Opfer erinnern, aber auch historisch-politische Lernprozesse und eine Übertragung<br />
auf die Gegenwart ermöglichen.“ 273 Gerne wird dafür <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Erinnerungsarbeit<br />
– „als Schnittstelle zwischen Erinnerung und Vermittlung“ 274 – gebraucht.<br />
Bernd Faulenbach definiert Erinnerungsarbeit als „die Arbeit von Gedenkstätten und<br />
Einrichtungen <strong>der</strong> politischen Bildung, die sich mit <strong>der</strong> jüngeren Geschichte, insbeson<strong>der</strong>e<br />
mit <strong>der</strong> NS-Zeit beschäftigen.“ 275 Sie kann „als eine die Vergangenheit in<br />
ihrer Sperrigkeit und Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit ernst nehmende Vergegenwärtigung von<br />
Geschichte aufgefasst werden, die <strong>der</strong> Aufklärung über Vergangenheit im Hinblick<br />
auf Gegenwart und Zukunft dient.“ 276<br />
In einem Artikel stellt er einen Katalog wi<strong>der</strong>sprüchlicher Aufgaben zusammen,<br />
die demokratische Erinnerungsarbeit ausmachen. Sie ist, ihm zufolge:<br />
„Pluralistisch, doch nicht beliebig<br />
Partizipatorisch, gleichwohl wissenschaftlich fundiert,<br />
Sie ist nicht zentralistisch und von oben diktiert, son<strong>der</strong>n dezentral und gesellschaftlich verankert,<br />
Auf die deutsche Gesellschaft bezogen, doch international vernetzt.“ 277<br />
Die Definition bringt die hohen Ansprüche an die Vermittlungsarbeit in Gedenkstätten<br />
auf den Punkt. Es ist gerade die wi<strong>der</strong>sprüchliche Verbindung zwischen<br />
erinnerndem Gedenken, konkreter Geschichte und aktueller Vermittlung, die einen<br />
historischen Ort zu einer Gedenkstätte macht. Uwe Neirich definiert Gedenkstätten<br />
nämlich folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
erinnern – ob es sich also um eine Bezeichnung für Gedenkeinrichtungen an Tatorten o<strong>der</strong> um einen allgemeinen<br />
Begriff für Gedenk-, Ausstellungs- und Vermittlungsorte handeln soll. Die Gebundenheit an originale<br />
Schauplätze in <strong>der</strong> Definition birgt das Problem, dass mit dem „Topos <strong>der</strong> Authentizität“ ein „Standortvorteil“<br />
für die Orte <strong>der</strong> Verbrechen geschaffen wird, bei dem etwa ein Memorial wie Yad Vashem aus <strong>der</strong> Definition<br />
ausgeschlossen bleibt. Sonja Klenk nimmt in ihrer Arbeit diese enge Definition vor: „Der Begriff Gedenkstätten<br />
wird in dieser Arbeit ausschließlich auf Einrichtungen bezogen, die an nationalsozialistische Verbrechen<br />
erinnern und sich an den Orten befinden, wo diese Verbrechen stattgefunden haben.“ Sonja Klenk, Gedenkstättenpädagogik<br />
an den Orten nationalsozialistischen Unrechts in <strong>der</strong> Region Freiburg-Offenburg, Berlin 2006,<br />
S. 20.<br />
272 Gedenkstätten „verstehen sich als zeithistorische Museen mit eigentümlichen, ihrer Geschichte als ehemalige<br />
nationalsozialistische Konzentrationslager entspringenden Eigenschaften, die sie bei aller Gemeinsamkeit von<br />
klassischen Geschichtsmuseen unterscheiden. Denn im Gegensatz zu diesen sind sie als Denkmale aus <strong>der</strong> Zeit<br />
sowohl Tat- und Leidensorte wie auch – konkret und symbolisch – Grabfel<strong>der</strong> und Friedhöfe.“ Volkhard<br />
Knigge, Zur Zukunft <strong>der</strong> Erinnerung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25–26/2010, S. 10–16, hier S. 11.<br />
273 Uwe Neirich, Erinnern heißt wachsam bleiben. Pädagogische Arbeit in und mit NS-Gedenkstätten, Mühlheim<br />
an <strong>der</strong> Ruhr 2000, S. 78.<br />
274 Hilmar, Einleitung, S. 11.<br />
275 Bernd Faulenbach. Erinnerungsarbeit und demokratische politische Kultur heute, in: Lenz/Schmidt/von<br />
Wrochem (Hg.), Erinnerungskulturen im Dialog, S. 81–90, hier S. 81.<br />
276 Ebda., S. 83.<br />
277 Ebda., S. 88.<br />
83
„Unter Gedenkstätten im engeren Sinne sollen hier diejenigen Orte verstanden werden, die nicht nur<br />
unmittelbar an das historische Geschehen an diesen Orten erinnern, son<strong>der</strong>n auch durch ein Museum, ein<br />
Archiv o<strong>der</strong> die Betreuung von Gruppen den BesucherInnen pädagogisch vertiefende Angebote bieten<br />
o<strong>der</strong> ermöglichen.“ 278<br />
Musealisierung und Pädagogisierung <strong>der</strong> Erinnerungsorte gehen also heute mit dem<br />
Begriff <strong>der</strong> Gedenkstätte einher. 279<br />
Mittlerweile gibt es vor dem Hintergrund einer Konjunktur von Erinnerungskulturen<br />
eine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit und ebenjene teilweise unerfüllbaren Erwartungen,<br />
die Yariv Lapid im eingangs zitierten Interview zurückweist. Zu diesen gehören<br />
auch zunehmend zweckgerichtete Aufgaben, wie etwa eine Erziehung zu Toleranz<br />
o<strong>der</strong> die „Respektierung <strong>der</strong> Menschenwürde in <strong>der</strong> Gegenwart und Zukunft“ 280 . Aus<br />
Sicht <strong>der</strong> Schule wie<strong>der</strong>um wird Gedenkstättenbesuchen im Geschichtsunterricht die<br />
Möglichkeit eines „entdeckenden <strong>Lernen</strong>s“ zugeschrieben; als außerschulische Lernorte<br />
281 versprechen sie Schlagworte wie „Veranschaulichen und Vergegenwärtigen“<br />
282 .<br />
Und genau jene Arbeit an einer Aktualisierung in <strong>der</strong> Gegenwart ist zugleich<br />
notwendig und umstritten. Auf dem Spiel steht dabei unter an<strong>der</strong>em die Frage, welche<br />
Gegenwartsbezüge sinnvoll, wichtig und zulässig erscheinen, mit welchen Mitteln<br />
diese hergestellt werden sollen und können und was demgegenüber von Gedenkstätten<br />
eben nicht geleistet werden kann. Einige diesbezügliche Positionen werden im<br />
Folgenden vorgestellt und im Anschluss vor dem Hintergrund des Konzepts <strong>der</strong> agonistischen<br />
<strong>Kontaktzonen</strong> reflektiert und weiter gedacht.<br />
Negative Erinnerung und reflexive <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
Während in <strong>der</strong> öffentlichen Debatte also die Lösungen aller möglichen Probleme von<br />
den Orten <strong>der</strong> Verbrechen erwartet werden, hat sich im professionalisierten Gedenk-<br />
278 Uwe Neirich, Erinnern heißt wachsam bleiben. Pädagogische Arbeit in und mit NS-Gedenkstätten, Mühlheim<br />
an <strong>der</strong> Ruhr 2000, S. 22.<br />
279 „Hier wird nicht nur an Emotionen appelliert, son<strong>der</strong>n erläutert, erzählt, kontextualisiert und ein Raum für<br />
politische Diskussion eröffnet.“ Jan Philipp Reemtsma, Wozu Gedenkstätten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte,<br />
25–26/2010, S. 3–9, hier S. 6.<br />
280 Wolf Kaiser, Gedenkstätten als Lernorte – Ziele und Probleme (Vortrag auf <strong>der</strong> Tagung „Pädagogik in Gedenkstätten“<br />
12.–15.10.2000 im Haus <strong>der</strong> Wannsee-Konferenz, Berlin),<br />
http://www.ghwk.de/deut/tagung/kaiser.htm.<br />
281 Vgl. http://www.lernort-gedenkstaette.de/.<br />
282 Vgl. Hans-Jürgen Pandel, Gerhard Schnei<strong>der</strong>, Veranschaulichen und Vergegenwärtigen. Zu zwei zentralen<br />
Kategorien <strong>der</strong> geschichtsdidaktischen Mediendiskussion, in: dies., Medien im Geschichtsunterricht, Düsseldorf<br />
1985, S. 3–10.<br />
84
stättendiskurs in Deutschland (und langsam auch in Österreich) seit den 1990er Jahren<br />
eine reflexive Auseinan<strong>der</strong>setzung durchgesetzt – die entgegen den Zuschreibungen<br />
stark auf Konkretion und historische Ortsspezifität setzt. Ein wesentlicher Motor und<br />
Vertreter dieses Diskurses ist Volkhard Knigge – seit 1994 Leiter <strong>der</strong> Gedenkstätte<br />
Buchenwald. Für ihn geht es in Gedenkstätten um selbstkritische historische Bildung.<br />
Und diese ist ihm zufolge reflexiv angelegt, geht von den konkreten Geschichten des<br />
Ortes aus und zielt auf die Gegenwart. 283 Knigge spricht von „negativer Erinnerung“.<br />
Was bedeutet dies?<br />
„Charakteristisch für dieses historische Erinnern ist, […] dass Schuld und Verantwortung nicht mehr<br />
verleugnet, abgeschoben o<strong>der</strong> überdeckt werden, son<strong>der</strong>n dass sie zu Anlässen kritischer gesellschaftlicher<br />
Selbstreflexion und Selbstvergewisserung gemacht werden. Solche Erinnerung doppelt das<br />
Negative ebenso wenig, wie sie – ein oft gehörter Einwand aus nationalistischer Perspektive – durch<br />
Selbstkritik Selbstbewusstsein schwächt. Vielmehr transzendiert sie die negative Vergangenheit durch<br />
bewusstes Überwinden ihrer politischen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen, sodass Gegenwart<br />
und Zukunft <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung ähnlicher Untaten entgegenstehen. […] So gesehen ist negative<br />
historische Erinnerung absichtliche Selbstbeunruhigung an <strong>der</strong> (eigenen) Geschichte.“ 284<br />
Die reflexive Position will sich <strong>der</strong> Tatsache stellen, dass die Arbeit an einer Gedenkstätte<br />
aus vielen Gründen eine schwierige Aufgabe ist, <strong>der</strong> man eigentlich nicht<br />
gerecht werden kann. Hintergrund dafür bilden die Debatten um den „Zivilisationsbruch<br />
Auschwitz“ 285 . Sie hinterließen in den 1990er Jahren ihre Spuren in einer<br />
Gedenkstättenvermittlung, die es sich nicht erlauben wollte, den Verbrechen Sinn zu<br />
unterstellen o<strong>der</strong> zu verleihen. Die Dramaturgie <strong>der</strong> Vermittlung <strong>der</strong> Morde sollte kein<br />
Happy End in einer besseren, toleranteren Welt versprechen. So schreibt Till Hilmar:<br />
„Die Voraussetzung eines Gedenkstättenbesuches ist hier die Überwindung einer<br />
negativen Differenz, ohne doch jemals auf die imaginiert ‚gute Seite’ zu gelangen.“ 286<br />
Erhabenheitsgesten – wie sie in <strong>der</strong> Architektur durchaus angelegt waren – und allzu<br />
vereinfachend scheinende Sinnstiftungen wurden in <strong>der</strong> Vermittlung kritisch hinterfragt.<br />
Vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Sinnlosigkeit <strong>der</strong> Verbrechen führte das bewusste Aussetzen<br />
einer emphatischen pädagogischen Sinngebung in den 1990er Jahren zu einer<br />
Tendenz zum Fragmentarischen und Konkreten. Gefor<strong>der</strong>t wurde Kontextualisierung<br />
283 Vgl. Knigge, Europäische Erinnerungskultur, S. 78.<br />
284 Ebda.<br />
285 Vgl. Diner, Zivilisationsbruch.<br />
286 Till Hilmar, Abschied vom Erinnerungsort. Studienfahrten als Form <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit NS und Holocaust,<br />
in: <strong>der</strong>s. (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 75–93 , hier S. 79 f.<br />
85
statt Sakralisierung. 287 So traten die Orte selbst und ihre konkreten Geschichten in den<br />
Vor<strong>der</strong>grund. Jan Philipp Reemtsma schreibt: „Es ist das historisch Beson<strong>der</strong>e, das<br />
sich so sehr <strong>der</strong> Anwendung sperrt. Und es ist dennoch das historisch Beson<strong>der</strong>e, das<br />
uns drängt, es zu dokumentieren, zu analysieren – manches tatsächlich immer wie<strong>der</strong><br />
neu – und Orte, die für die Beson<strong>der</strong>heit stehen, zu Orten <strong>der</strong> Dokumentation und<br />
Analyse zu machen.“ 288<br />
Gegen eine angesichts <strong>der</strong> Sinnlosigkeit unhaltbar scheinende Moralerziehung<br />
setzte eine kritische Vermittlung also die Konkretion von Topografien und Spuren.<br />
Matthias Heyl formuliert „die Aufgabe <strong>der</strong> Gedenkstättenpädagogik“: Spuren <strong>der</strong><br />
Geschichte vor Ort sichtbar zu machen, in ihrem historischen Kontext zu analysieren<br />
und zu deuten.“ 289 Diese investigative Arbeit am konkreten Ort und Material ermöglichte<br />
auch eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Kontinuitäten – denn die an den Orten<br />
hinterlassenen Spuren enden ja nicht 1945. Vielmehr weisen diese nicht selten auch<br />
Einschreibungen späterer Internierungen, alternativer Nutzungen, geschichtspolitischer<br />
Kämpfe, alltäglicher Umgangsformen, offizieller Verharmlosung o<strong>der</strong> auch<br />
neonazistischer Angriffe auf.<br />
Erinnerungsstolz und Selbstreflexionen<br />
Allerdings verän<strong>der</strong>te sich das Bild <strong>der</strong> Erinnerungslandschaft und ihrer Aufmerksamkeiten<br />
im Zuge <strong>der</strong> 1990er und 2000er Jahre. So war es in Deutschland zusehends gelungen,<br />
die „negative Erinnerung“ in eine positive Identifikationserzählung zu integrieren.<br />
290 Was noch in den 1980er Jahren unwahrscheinlich war, ist real geworden:<br />
Gedenken kann heute von oben verordnet werden. Theorie und Praxis <strong>der</strong> Geschichtsarbeit<br />
konnten davon profitieren – sie mussten sich allerdings auch vor Augen führen,<br />
dass sie, von ihren jeweiligen Positionen aus, auch an dieser Transformation beteiligt<br />
waren und sind. Heute stellt sich also längst nicht mehr die Frage, ob erinnert wird, 291<br />
son<strong>der</strong>n wie. Und Ausschlüsse treten in den Blick. Daher richtete sich die Reflexivität<br />
287 Vgl. Peter Larndorfer, Gedenken, <strong>Lernen</strong>, Fragen? Praktische Überlegungen zu den Studienfahrten des Vereins<br />
Gedenkdienst, in: Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 94–114, hier S. 105.<br />
288 Reemtsma, Wozu Gedenkstätten, S. 9.<br />
289 Heyl, Historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen im 21.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t, S. 50.<br />
290 Knigge spricht davon, dass in <strong>der</strong> Bundesrepublik „negatives Gedächtnis als staatlich geför<strong>der</strong>te, öffentliche<br />
Aufgabe“ etabliert werden konnte. Vgl. Knigge, Zur Zukunft <strong>der</strong> Erinnerung, S. 12.<br />
291 Volkhard Knigge macht darauf aufmerksam, dass die Frage nach dem „Ob“ – „die Frage nach <strong>der</strong> politischen<br />
Durchsetzbarkeit gegen nicht selten heftigste Wi<strong>der</strong>stände“ – bis in die 1980er Jahre im Vor<strong>der</strong>grund gestanden<br />
hatte. Vgl. Volkhard Knigge, Gedenkstätten und Museen, in: <strong>der</strong>s., Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern.<br />
Die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. 378–389.<br />
86
zunehmend auch an die Arbeit <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> selbst. Till Hilmar meint in<br />
diesem Zusammenhang, dass es gelte, „sich die Präsenz gesellschaftlicher Machtverhältnisse,<br />
von denen auch ‚Orte <strong>der</strong> Vergangenheit’ heute keine Ausnahme bilden,<br />
vor Augen zu halten.“ 292 Eine aktuelle, selbstreflexive Vermittlungspraxis versucht<br />
dies nicht herunterzuspielen, son<strong>der</strong>n macht die zeitgenössische Umkämpftheit von<br />
Geschichte innerhalb von Machtverhältnissen zum Thema in <strong>der</strong> Vermittlung:<br />
„Erinnerung ist als Auseinan<strong>der</strong>setzung zu denken, auch deshalb, weil sie in <strong>der</strong> einen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Form immer schon auf politischer und gesellschaftlicher Ebene stattfindet – es gilt sie also zu bewerten.<br />
Sich zur Erinnerungskultur in Beziehung zu setzen, zu positionieren und damit die begrifflichen<br />
Kriterien für die Partizipation an politischen Ausverhandlungsprozessen zu lernen, ist ein Ziel <strong>der</strong><br />
Studienfahrten.“ 293<br />
Allerdings ist dabei wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> reflexive Blick in den letzten Jahren so wichtig<br />
geworden, dass er vielleicht droht, das Geschehen selbst auf Abstand zu halten bzw.<br />
zu überschreiben. Matthias Heyl befürchtet: „Die Analyse <strong>der</strong> Perzeption rückt so<br />
sehr in den Mittelpunkt, dass dahinter die Anlass gebende Geschichte <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />
Verbrechen zu verschwinden droht, als sei sie nur die Folie, die im<br />
Hintergrund entfaltet wird.“ 294<br />
Darüber hinaus traten bei aller kritischen Selbstreflexion und Ortsspezifität in <strong>der</strong><br />
Literatur und den Konzepten <strong>der</strong> deutschen Gedenkstättenpädagogik AdressatInnen<br />
und AkteurInnen <strong>der</strong> Vermittlung kaum in den Blick. Dass wir im wissenschaftlichen<br />
Diskurs zur Gedenkstättenpädagogik so wenig von tatsächlichen VermittlerInnen<br />
lernen konnten, kann damit zu tun haben, dass die klassische Trennung zwischen<br />
Didaktik und Methodik – und dadurch de facto lei<strong>der</strong> auch zwischen Theorie und<br />
Praxis – in <strong>der</strong> Vermittlung zu einer diskursiven Diversifizierung und Distinktion<br />
führt. Da Vermittlungstheorie und Didaktik in Deutschland klassischerweise mit mehr<br />
symbolischem Kapital ausgestattet sind als die Praxis (wenn auch mit weniger als die<br />
nicht-pädagogischen Wissenschaften), werden Vermittlungsprozesse oft einfach<br />
unterschätzt. So sind in <strong>der</strong> reflexiven, geschichtsdidaktischen und gedenkstättenpädagogischen<br />
Literatur oft Überlegungen zur sozialwissenschaftlichen Geschichtsbewusstseinsforschung<br />
o<strong>der</strong> zur Ausstellungstheorie viel wichtiger als <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong><br />
292 Hilmar, Einleitung, S. 14.<br />
293 Hilmar, Abschied vom Erinnerungsort. S. 91 f.<br />
294 Heyl, Historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen im 21.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t, S. 31.<br />
87
Vermittlung selbst. Und da dieser vernachlässigt wurde, ist es kaum verwun<strong>der</strong>lich,<br />
dass es den geschichtsdidaktischen Ansätzen trotz Geschichtskultur und realistischer<br />
Wende we<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Schule noch in Gedenkstätten wirklich gelungen ist, offen zu<br />
kommunizieren und die Handlungsmacht ihrer AdressatInnen ernst zu nehmen. Auch<br />
wenn die Vermittlung in Gedenkstätten also (zumindest in <strong>der</strong> Literatur) reflexiv<br />
geworden war, war sie dennoch (in <strong>der</strong> Praxis) oft frontal. Und die VermittlerInnen –<br />
<strong>der</strong>en Handlungswissen wie beschrieben wenig in die Welt <strong>der</strong> Sammelbände zu<br />
Gedenkstätten eingehen konnte und daher auch wenig anknüpfungsfähig war – fanden<br />
sich vom kritisch-reflexiven Diskurs einigermaßen allein gelassen vor.<br />
Was hat es mit mir zu tun?<br />
Mittlerweile – nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund zunehmen<strong>der</strong> Ausbildungen<br />
für VermittlerInnen – wird die Frage nach <strong>der</strong> jeweiligen Konfrontation (von BesucherInnen<br />
und VermittlerInnen) mit <strong>der</strong> Geschichte, dem Ort und dem Material<br />
wie<strong>der</strong> wichtiger. Bei <strong>der</strong> Neukonzeption <strong>der</strong> Vermittlung für die NS-Gedenkstätte<br />
Mauthausen steht sie im Mittelpunkt. So lautet die Leitfrage des Konzepts: Was hat es<br />
mit mir zu tun? 295 Und es geht von einer gleichberechtigten Dreiteilung in „Ich“,<br />
„Ort“ und „Geschichte“ aus. Die AutorInnen des Konzepts schreiben: „Neben <strong>der</strong><br />
topographischen Orientierung und <strong>der</strong> historischen Aufklärung sehen wir daher den<br />
Besucher/die Besucherin selbst mit seinen/ihren Verständnisvoraussetzungen als<br />
dritte grundlegende Komponente des Gedenkstättenbesuchs.“ 296 Im Vergleich zu den<br />
Ansätzen von Volkhard Knigge liegt hier eine deutliche Betonung auf <strong>der</strong> Interaktion<br />
mit den BesucherInnen:<br />
„Von <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong> Informationen und Themen, von <strong>der</strong> ebenso konkreten wie behutsamen Bildung<br />
von Zusammenhängen zwischen damals und heute, von <strong>der</strong> Formulierung offener Fragen, vom Tonfall,<br />
<strong>der</strong> zum Mitfragen und Mitdenken einlädt, hängt ab, wie <strong>der</strong> Besucher/die Besucherin Ort und Geschichte<br />
wahrnimmt. Deshalb wird die Kommunikation zwischen Vermittler/innen und Besucher/innen zur<br />
Schlüsselfrage bei Gedenkstättenbesuchen.“ 297<br />
Alle drei Bereiche – die Topografie, die Geschichte und die Interaktion – sind zu gleichen<br />
Teilen in die Ausbildung für VermittlerInnen in Mauthausen integriert worden.<br />
In dieser setzen sich VermittlerInnen also erstens mit <strong>der</strong> Geschichte des Ortes sowie<br />
295 Vgl. Yariv Lapid, Christian Angerer, Maria Ecker, Was hat es mit mir zu tun? Zum neuen Vermittlungskonzept<br />
an <strong>der</strong> Gedenkstätte Mauthausen, Wien 2010.<br />
296 Ebda., S. 4.<br />
297 Ebda.<br />
88
seinen historischen Kontexten auseinan<strong>der</strong>. In diesem Zusammenhang lernen sie die<br />
Geschichte des KZ und jene <strong>der</strong> an diese erinnernde Gedenkstätte zu unterscheiden,<br />
erhalten einen Überblick über die Opfergruppen, setzen sich mit TäterInnen auseinan<strong>der</strong>,<br />
beschäftigen sich mit den Zusammenhängen zwischen dem KZ und seinem Umfeld<br />
und erfassen die wirtschaftlichen Funktionen des KZ. Sie lernen die Herrschaftsstruktur<br />
des KZ zu erkennen und machen sich einen Begriff vom Wi<strong>der</strong>stand im KZ.<br />
Zweitens widmet sich die Ausbildung <strong>der</strong> VermittlerInnen <strong>der</strong> Topografie –<br />
den sichtbaren Spuren und den unsichtbaren Geschichten des Ortes. Der Ort und seine<br />
Umgebung werden räumlich erfasst. So werden abstrakte Informationen und konkrete<br />
Gegenstände verbunden.<br />
Und drittens geht es eben um die Interaktion zwischen den VermittlerInnen,<br />
den BesucherInnen, dem Ort und seiner Geschichte. Die VermittlerInnen setzen sich<br />
in <strong>der</strong> Ausbildung damit auseinan<strong>der</strong>, wie die BesucherInnen erfahren können, dass<br />
sie ernst genommen werden, zum genauen Hinsehen veranlasst werden können, Bezüge<br />
zur eigenen Lebenswelt herstellen können und zur weiteren Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem Thema angeregt werden. Hier kann es auch darum gehen, „Dissonanzen<br />
wahrzunehmen und zu formulieren.“ 298<br />
Das Vermittlungskonzept in Mauthausen setzt also deutlich auf Interaktion mit<br />
den BesucherInnen. Teilweise steht es damit wohl in <strong>der</strong> Tradition einer <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
in Yad Vashem, die weniger die Konkretion des Materials als die Bezüge<br />
<strong>der</strong> SchülerInnen in den Vor<strong>der</strong>grund stellt: „Die <strong>Lernen</strong>den bilden den Ausgangspunkt,<br />
nicht <strong>der</strong> Lernstoff“ 299 . Inwieweit ist das Konzept dabei wirklich offen für<br />
unerwartete Bezüge? In Mauthausen sind <strong>der</strong> Weg und seine Inhalte mehr o<strong>der</strong><br />
weniger vorgegeben. Zwar sind <strong>der</strong> Verlauf des Rundgangs und die dabei stattfindenden<br />
Gespräche offen angelegt – im Grunde geht es aber um eine möglichst gut durchführbare<br />
Form <strong>der</strong> Weitergabe wesentlicher Informationen und <strong>der</strong> Anregung zum<br />
Nachdenken. Das ist sicherlich innovativ und sehr professionell an einem Ort, an dem<br />
Vermittlung täglich für mehrere hun<strong>der</strong>t SchülerInnen stattfinden soll. Vor dem<br />
Hintergrund <strong>der</strong> eingangs vorgestellten Idee <strong>der</strong> „agonistischen Kontaktzone“ ist es<br />
allerdings nicht wirklich offen. We<strong>der</strong> das Konzept noch die Ausbildung gehen auf<br />
298 Die gesamte Beschreibung <strong>der</strong> Ausbildung <strong>der</strong> VermittlerInnen ist teilweise wörtlich, teilweise zusammengefasst<br />
dem Konzept zur Vermittlung entnommen: ebda., S. 13–18.<br />
299 Noa Mkayton, Holocausterziehung im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t – die Nähe zum Entfernten,<br />
http://lernen-aus-<strong>der</strong>-geschichte.de/<strong>Lernen</strong>-und-Lehren/content/8880/2010-10-04-Holocausterziehung-im-21-<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t-die-Naehe-zum (20.01.2012).<br />
89
die Tatsache <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft ein. Die Dramaturgie scheint sich trotz ihrer<br />
„Ich-Fokussierung“ weitgehend selbst zu genügen und ist wenig auf die Ermöglichung<br />
unerwarteter Reaktionen vorbereitet. Um vielfältigen Bezügen Raum zu geben,<br />
braucht es allerdings – so die These dieser Arbeit – mehr als bloß ein Bekenntnis zur<br />
Offenheit: Partizipation muss, wenn sie über eine bloße erwartbare Interaktion hinaus<br />
gehen will, konzeptuell und strukturell verankert werden.<br />
Wenn sich Gedenkstätten <strong>der</strong> Gegenwart in ihren Selbstdefinitionen heute also auch<br />
gerne als partizipativ, inklusiv, demokratisch und kontrovers 300 verstehen, dann sind<br />
sie dies nicht immer unbedingt in ihren Konzepten und methodischen Zugängen. Wie<br />
kann nun eine transnationale Gedenkstättenarbeit in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft aussehen?<br />
Gedenkstätten als <strong>Kontaktzonen</strong><br />
Um diese Frage zu beantworten, sollen Gedenkstätten im Folgenden zunächst noch<br />
einmal in ihrer nationalen und transnationalen Dimension beleuchtet werden. Vor<br />
diesem Hintergrund können sie in weiterer Folge als <strong>Kontaktzonen</strong> in den Blick<br />
geraten. Einerseits ist es – wie bereits im Zuge dieser Arbeit deutlich wurde – in<br />
Deutschland gelungen, die negative Erinnerung selbst als nationales Identifikationsmodell<br />
nutzbar zu machen. An<strong>der</strong>erseits haben wir es mit einer zunehmenden Transnationalisierung<br />
<strong>der</strong> Erinnerungsorte zu tun, <strong>der</strong>en Implikationen ebenfalls teilweise<br />
problematisch sind.<br />
Beginnen wir mit <strong>der</strong> nationalen Dimension „kritischer historischer Selbstreflexion“<br />
301 . Insofern gerade in Deutschland die negative Erinnerung erfolgreich in einen<br />
nationalen Diskurs integriert werden konnte, gehen mit ihr, wie Viola Georgi gezeigt<br />
hat, Mechanismen des Ein- und Ausschlusses einher.<br />
Astrid Messerschmidt formuliert ihre Skepsis deutlich: „Die Diskussion um<br />
kollektive Erinnerung war bisher in Deutschland weitgehend selbstbezüglich, man<br />
drehte sich um die eigene nationale Identität, um ein immer noch in nationalen Kate-<br />
300 Hilmar, Einleitung, S. 13.<br />
301 Knigge, Zur Zukunft <strong>der</strong> Erinnerung, S. 10.<br />
90
gorien beschriebenes Verhältnis zur Geschichte.“ 302<br />
Vor diesem Hintergrund fragt Anne Fröhlich in einem Artikel zum Umgang<br />
mit heterogenen Gruppen auf Studienfahrten:<br />
„Befasst man sich mit dem Thema <strong>der</strong> ‚Erinnerungsgemeinschaft’, sollte man meinen, es gehe um<br />
gemeinschaftliches Erinnern. Es entsteht jedoch schnell <strong>der</strong> Eindruck, dass es vielmehr Hegemonie ist,<br />
die durch ‚Gemeinschaftsmodelle’ geltend gemacht werden soll: Wer hat Ansprüche auf die Geschichte<br />
und wer darf an einer (nationalen) Erinnerungsgemeinschaft teilhaben? Können, sollen o<strong>der</strong> müssen sich<br />
MigrantInnen an ‚österreichische’ bzw. ‚deutsche’ Geschichte erinnern? O<strong>der</strong> sich sogar an geschichtspolitischen<br />
Diskursen beteiligen? Wem ‚gehört’ die Geschichte?“ 303<br />
Diese Fragen führen zu einer weiteren: Wenn die negative Erinnerung in <strong>der</strong> Gefahr<br />
steht, national zu wirken, unter welchen Bedingungen kann sie sich dann transnationalisieren?<br />
Zunächst ist festzustellen, dass Gedenkstätten längst (wenn nicht seit ihrer Entstehung)<br />
transnationale Bezüge haben. Einerseits hat dies mit dem Weltkrieg und dem<br />
Anspruch <strong>der</strong> Nazis auf „Europa“ und die „Welt“, mit <strong>der</strong> weit über die deutschen<br />
Grenzen hinaus gehenden Involvierung in die Verbrechen sowie mit <strong>der</strong> Emigration<br />
<strong>der</strong> Überlebenden und den u. a. damit verbundenen vielfachen nationalen Bezüge<br />
ihrer Kin<strong>der</strong> und Enkelkin<strong>der</strong> zu tun. An<strong>der</strong>erseits werden in den letzten Jahren – im<br />
Zusammenhang mit einer „Globalisierung des Holocaust“ 304 – auch die pädagogischen<br />
Ansprüche an Gedenkstätten immer transnationaler und universaler:<br />
„Nie sind Gedenkstätten nur Friedhöfe gewesen. Die Orte sollen zugleich etwas an<strong>der</strong>es sein, etwas das<br />
über die engagierte Erinnerung <strong>der</strong> sich als Nachkommen fühlenden hinausreicht, ein Ort ‚für kommende<br />
Generationen’ und für die kommenden Generationen ‚aller Nationen’. […] Hier wird etwas postuliert<br />
wie ein Menschheitserbe, das über Zeit und Ort hinausreicht, das sozusagen nicht mehr in <strong>der</strong> Geschichte<br />
steht, son<strong>der</strong>n seinerseits Geschichte definiert, die sich ihm zuordnen soll.“ 305<br />
In den letzten 15 Jahren wurde Erinnerung also massiv transnationalisiert – denken<br />
wir etwa an die Deklaration <strong>der</strong> Holocaust-Konferenz 2000 in Stockholm und die<br />
damit verbundene Etablierung und Verbreitung des Holocaust-Gedenkens in fast allen<br />
ehemaligen „westeuropäischen“ und sehr vielen ehemaligen „osteuropäischen“ Län<strong>der</strong>n.<br />
„Dieser Gründungsakt einer transnationalen Erinnerungskultur“, schreibt Harald<br />
Welzer, „fiel in den meisten europäischen Län<strong>der</strong>n mit einer neuen Geschichtsbezogenheit<br />
zusammen, in <strong>der</strong>en Zentrum <strong>der</strong> Holocaust, <strong>der</strong> Zweite Weltkrieg, die<br />
302 Messerschmidt, Involviertes Erinnern, S. 278.<br />
303 Anne Fröhlich, Der Diversity-Ansatz als Basis für den Umgang mit heterogenen Gruppen auf Studienfahrten,<br />
in: Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 128–138, hier S. 130 f.<br />
304 Vgl. Levy/Sznai<strong>der</strong>, Erinnerung im globalen Zeitalter.<br />
305 Reemtsma, Wozu Gedenkstätten, S. 4.<br />
91
Vertreibungen und schließlich auch die Kollaboration standen und noch stehen.“ 306<br />
Daniel Levy und Natan Sznai<strong>der</strong> schreiben bereits 2001 – ein Jahr nach dem<br />
Holocaust-Forum in Stockholm –, dass die „Kosmopolitisierung <strong>der</strong> Holocaust<br />
Erinnerung mittlerweile integraler Bestandteil europäischer Politik“ 307 geworden sei.<br />
So steigt die Erwartung an die Möglichkeit von Gedenkstätten, als „transnationale<br />
Erinnerungsräume“ 308 über staatliche und soziale Grenzen hinweg Geschichte<br />
zu vermitteln, die für die Gegenwart relevant ist. Gründe für diese zunehmende Transnationalisierung<br />
des Diskurses um Gedenkstätten lassen sich sowohl in <strong>der</strong> Geschichte<br />
als auch in <strong>der</strong> europäischen Identitätspolitik finden. Darüber hinaus hat – wenn<br />
auch spät – die Realität <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft auch den Diskurs um Erinnerungsorte<br />
und Geschichtskulturen erreicht. So schreibt Harald Welzer: „Der Umstand, dass<br />
alle westeuropäischen Gesellschaften inzwischen Einwan<strong>der</strong>ungsgesellschaften sind,<br />
bringt die Notwendigkeit <strong>der</strong> Entwicklung einer transnationalen Erinnerungskultur<br />
mit sich.“ 309 Auch widmen sich zunehmend Tagungen und Sammelbände <strong>der</strong><br />
„Erinnerungspädagogik in <strong>der</strong> deutschen Einwan<strong>der</strong>ungsgesellschaft“. 310 Allerdings<br />
ist diese Anfor<strong>der</strong>ung nicht ohne Fallen:<br />
Einerseits gilt es eben die moralischen Aufladungen und Vorstellungen von<br />
Empathie und Menschenrechtserziehung, die die Transnationalisierung und gouvernementale<br />
Europäisierung <strong>der</strong> Erinnerung begleiten, kritisch zu hinterfragen. An<strong>der</strong>erseits<br />
ist die Transzendierung des Nationalstaatsparadigmas gleichermaßen notwendig<br />
wie schwierig. Denn das Heraustreten aus homogenen Diskursen und die Öffnung für<br />
differente Zugänge birgt immer auch die Gefahr <strong>der</strong> Reproduktion von Differenz.<br />
„Dabei steht“, wie Astrid Messerschmidt schreibt, „die pädagogische Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
in <strong>der</strong> Gefahr, die Unterschiede, auf die sie eingehen will, erst durch andauernde<br />
Unterscheidung hervorzubringen und festzuschreiben.“ 311 Und Anne Fröhlich<br />
weiß davon zu berichten: „Immer wie<strong>der</strong> tappen (auch) PädagogInnen in die Falle <strong>der</strong><br />
‚Kulturalisierung’ und ‚Ethnisierung’. Aufgrund ihres Migrationshintergrunds werden<br />
306 Harald Welzer, Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25–26/2010,<br />
S. 16–29, hier S. 17.<br />
307 Levy/Sznai<strong>der</strong>, Erinnerung im globalen Zeitalter, S. 210.<br />
308 Vgl. Daniel Levy, Natan Sznai<strong>der</strong>, Memory Unbound: The Holocaust and the Formation of Cosmopolitan<br />
Memory, in: European Journal of Social Theory, 5/2002, S. 87–106.<br />
309 Welzer, Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis, S. 17.<br />
310 Eine Tagung unter diesem Titel fand im Oktober 2004 in <strong>der</strong> KZ-Gedenkstätte Neuengamme statt,<br />
www.umdenken-boell.de/downloads/pubErinnerungspaedagogik.pdf (20.01.2012).<br />
311 Messerschmidt, Involviertes Erinnern, S. 280.<br />
92
Menschen zu ExpertInnen ‚ihrer’ Geschichte erklärt.“ 312 Dies führt uns zu einem<br />
dritten Problem: Aktuell fehlt es Lehrenden und Vermittelnden schlichtweg an<br />
Wissen über marginalisierte Geschichten. Und dieser Mangel kann immer wie<strong>der</strong><br />
dazu führen, dass entwe<strong>der</strong> das Wissen <strong>der</strong> VermittlerInnen favorisiert wird und den<br />
Unterricht dominiert o<strong>der</strong> die Kenntnisse, die den VermittlerInnen fehlen, unzulässig<br />
bzw. kulturalisierend von SchülerInnen erwartet werden.<br />
Nehmen wir die drei angesprochenen Probleme – eine allzu einfache Sinnstiftung an<br />
den Orten des industriellen Massenmordes einerseits, die Gefahr <strong>der</strong> Ethnisierung bei<br />
dem Wunsch pädagogischer Transnationalisierung an<strong>der</strong>erseits und den Mangel an<br />
nicht dominanzkulturellem Wissen bei den VermittlerInnne – ernst, so können daraus<br />
Schlüsse in Bezug auf die Öffnung gängiger Selbstverständnisse gezogen werden:<br />
Denn als Fazit dieses Kapitels soll ein Zugang zu Gedenkstätten als <strong>Kontaktzonen</strong><br />
vorgestellt werden, <strong>der</strong> die Konkretion <strong>der</strong> kritischen Gedenkstättenarbeit seit den<br />
1990er Jahren ebenso ernst nimmt wie die Frage, was dies mit „uns“ d. h. mit<br />
denjenigen zu tun hat, die sich damit konfrontieren. 313<br />
Denn wenn wir Gedenkstätten als <strong>Kontaktzonen</strong> und geteilte Erinnerungsorte<br />
verstehen, begegnen wir dort zwei unterschiedlichen Dimensionen <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong>:<br />
Erstens dem was geschehen ist. Und zweitens dem, was es heute für die<br />
Gesellschaft bedeutet. Diese beiden Aspekte <strong>der</strong> Geschichtsarbeit unterscheiden sich<br />
kategorial von einan<strong>der</strong>. Dem, was geschehen ist, können wir uns nur historisch annähern.<br />
Wir müssen uns an das konkrete Material halten (Dokumente, Spuren an den<br />
konkreten Orten, Aussagen von Überlebenden) und an die davon ausgehenden Auslegungen<br />
<strong>der</strong> Geschichtswissenschaft. Dies gilt es ernst zu nehmen und nicht durch<br />
allzu einfache Erhabenheitsgesten und Sinnstiftungen in den Hintergrund treten zu<br />
lassen. Darüber hinaus scheint aus <strong>der</strong> transnationalen Perspektive <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
eine Revision <strong>der</strong> Inhalte <strong>der</strong> Geschichtskulturen und -vermittlungsformen auf <strong>der</strong><br />
Tagesordnung zu stehen. Was wissen wir über die europäischen Dimensionen <strong>der</strong><br />
Verstrickungen in die Verbrechen? Warum steht in österreichischen Schulbüchern<br />
312 Fröhlich, Der Diversity-Ansatz als Basis für den Umgang mit heterogenen Gruppen auf Studienfahrten, S. 134.<br />
313 Diesen Ansatz verfolgt etwa auch <strong>der</strong> Gedenkdienst: „Im Rahmen unserer Studienfahrten zu NS-Gedenkstätten<br />
wollen wir also persönliche Zugänge schaffen ohne den konkreten historischen Kontext zu vergessen; zugleich<br />
gehen wir <strong>der</strong> Frage nach, was aus <strong>der</strong> Geschichte gelernt werden kann, ohne diese Schlüsse vorwegzunehmen<br />
o<strong>der</strong> zu oktroyieren.“ Peter Larndorfer, Gedenken, <strong>Lernen</strong>, Fragen? Praktische Überlegungen zu den<br />
Studienfahrten des Vereins Gedenkdienst, in: Hilmar (Hg.), Ort, Subjekt, Verbrechen, S. 94–114, hier S. 106.<br />
93
etwa nichts über die Verbrechen in Jugoslawien, über die Rolle <strong>der</strong> PartisanInnen?<br />
Wie vertraut ist uns die postkoloniale Perspektive auf den Nazismus? Wie differenziert<br />
können wir die Rolle <strong>der</strong> Türkei im Zweiten Weltkrieg sehen? Es gilt also<br />
weiterhin – gegen bloße Bekenntnisse und Rhetoriken – auf historischer Arbeit und<br />
auf ihrer Konkretion und Methodologie zu bestehen.<br />
Zweitens geht es um eine davon kategorial unterschiedene partizipative<br />
Dimension: Aktuell verhandelt werden kann nicht das, was war, son<strong>der</strong>n nur dessen<br />
Bedeutung für die Gegenwart. Insofern sich Gedenkstättenarbeit aber als partizipativ<br />
verstehen will, muss dies stets und jeweils gemeinsam geschehen. Im Sinne <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
bedeutet dies, dass nicht alle Antworten auf das, was die Massenverbrechen<br />
<strong>der</strong> Nazis für uns bedeuten, bereits feststehen. Vielmehr gilt es, einen Verhandlungsraum<br />
zu eröffnen, <strong>der</strong> offene Ziele hat und auch Dissens möglich macht – denken wir<br />
hier wie<strong>der</strong> an den „konfliktualen Konsens“ 314 <strong>der</strong> agonistischen Kontaktzone.<br />
Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Das heißt keineswegs,<br />
dass Geschichtsarbeit neutral sein soll. Ganz im Gegenteil, denn Agonismus bedeutet<br />
bei Chantal Mouffe Parteilichkeit:<br />
„Der fundamentale Unterschied zwischen <strong>der</strong> ‚dialogischen’ und <strong>der</strong> ‚agonistischen’ Perspektive liegt<br />
darin, daß letztere sich eine tief greifende Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> bestehenden Machtverhältnisse und die<br />
Schaffung einer neuen Hegemonie zum Ziel setzt. Aus diesem Grund kann die agonistische Perspektive<br />
im eigentlichen Sinne ‚radikal’ genannt werden.“ 315<br />
In diesem Sinn soll hier für eine Geschichtsarbeit an geteilten Erinnerungsorten plädiert<br />
werden, die sich gleichermaßen als partizipativ und reflexiv wie als antifaschistisch<br />
und antirassistisch versteht.<br />
Wenn Gedenkstätten nicht zu bloßen moralischen Instanzen <strong>der</strong> Selbstvergewisserung<br />
werden sollen, dann gilt es auf den Brüchen und Fragen zu bestehen, die<br />
mit den Worten „Niemals vergessen“ verbunden waren, bevor sie zur leeren Worthülse<br />
wurden. Die beiden hier angesprochenen Aspekte <strong>der</strong> Geschichtsarbeit – das<br />
historische Material und die Kontaktzone – können dabei als gleichberechtigte Wi<strong>der</strong>stände<br />
gegen Top-down-Sinngebungen verstanden werden. Denn sowohl <strong>der</strong> historische<br />
Gegen-Stand, als auch die Akzeptanz einer Vervielfältigung von Bezügen zu<br />
Erinnerungsorten in <strong>der</strong> Kontaktzone können nicht in eine einfache Moral verpackt<br />
werden. Sie stellen oft unerwartete Begegnungen dar und zwingen, Brüche zu akzep-<br />
314 Mouffe, Über das Politische, S. 70.<br />
315 Ebda.<br />
94
tieren und Sinngebungsansprüche zu revidieren.<br />
Anhand von reflexiven Ansätzen in Bildungswissenschaft und Migrationspädagogik<br />
werden im nächsten Subkapitel Ansätze vorgestellt, die von einer solchen Offenheit<br />
ausgehen und dabei Ausschlüsse und Verstrickungen benennen – im Hinblick auf eine<br />
Verän<strong>der</strong>ung.<br />
I.3.4<br />
Reflexivität in Bildungstheorie und kritischer Migrationspädagogik<br />
Das letzte Subkapitel in diesem Abschnitt ist Bildungsansätzen gewidmet, die<br />
bewusst in und mit „Wi<strong>der</strong>sprüchen“ operieren. Wir werden diesen in <strong>der</strong> doppelten<br />
Bedeutung des Wortes begegnen: als reflexive Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> eigenen<br />
kritischen Position innerhalb von Diskursen und Institutionen einerseits und als<br />
Dissens, als „talking back“ gegen die bestehenden Verhältnisse an<strong>der</strong>erseits. Nach<br />
einer Beschäftigung mit den Verstrickungen je<strong>der</strong> Bildung in <strong>der</strong> postnazistischen<br />
Migrationsgesellschaft und einer kritischen Perspektivierung <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><br />
Migrationspädagogik wird es also auch um die Möglichkeit von Dissens gehen.<br />
Selbstkritische Erinnerung in <strong>der</strong> postnazistischen Migrationsgesellschaft<br />
„Sich in Wi<strong>der</strong>sprüchen zu bewegen, gehört zu den alltäglichen Anfor<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft und ihren Institutionen.“ 316 Mit diesen Worten beginnt die<br />
Erziehungswissenschafterin Astrid Messerschmidt ein Buch, in dem sie sich unter<br />
dem Titel „Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>“ mit den Verstrickungen <strong>der</strong> institutionalisierten<br />
Bildung in Herrschaftszusammenhänge (und <strong>der</strong>en postnationalsozialistische<br />
317 , strukturell rassistische 318 und postkoloniale Dimensionen) auseinan<strong>der</strong>setzt.<br />
Sie thematisiert Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und<br />
316 Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 7.<br />
317 Messerschmidt spricht bewusst nicht von „Nazismus“ und „Postnazismus“. Für sie ist es wichtig, dass die „Bezeichnung<br />
Nationalsozialismus sowohl die nationalistische Ideologie als auch die antisemitisch strukturierte<br />
sozialpolitische Integrationspraxis“ wi<strong>der</strong>spiegelt und dass die „Attraktivität des NS“ in <strong>der</strong> „Kombination<br />
bei<strong>der</strong> Komponenten“ lag. Vgl. Astrid Messerschmidt, Erinnerungsbeziehungen in den Nachwirkungen des<br />
Nationalsozialismus, Keynote zur Tagung „Und was hat das mit mir zu tun? Perspektiven <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
zu Nazismus und Holocaust in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft, 17.–20. November 2011, Unveröffentlichtes<br />
Manuskript, S. 1.<br />
318 „Emanzipatorische Selbstvergewisserungsprozesse sowie die Ideen von Gleichheit und Vernunft sind historisch<br />
verknüpft mit den Abwertungen <strong>der</strong>er, die als ethnisch ‚An<strong>der</strong>e’ identifiziert werden. Rassismus ist also auch<br />
für die Geschichte <strong>der</strong> Pädagogik keinesfalls außerhalb pädagogischer Ideen zu entlarven, son<strong>der</strong>n integraler<br />
Bestandteil ihrer wissenschaftlichen Genese.“ Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 216.<br />
95
Zeitgeschichte und entwickelt dabei ein „Instrumentarium von Wi<strong>der</strong>spruchsanalysen“:<br />
einen reflexiven Zugang, <strong>der</strong> Ungleichheiten benennt, Machtverhältnisse in den<br />
Blick nimmt und Ausschlüsse analysiert, in die die Pädagogik mit ihren Begriffen und<br />
Handlungsansätzen involviert ist. Doch auch darin liegt ihr zufolge ein bildungsimmanenter<br />
Wi<strong>der</strong>spruch: „Die Mittäterschaft an Herrschaft bei gleichzeitiger Kritik an<br />
herrschaftlich strukturierter Bildung macht die innere Zwiespältigkeit von Bildungsprozessen<br />
aus, die sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in einer globalisierten<br />
Einwan<strong>der</strong>ungsgesellschaft auseinan<strong>der</strong>setzen.“ 319 Ein solcher reflexiver Ansatz steht<br />
im Kontext des breiteren Zusammenhangs einer reflexiven Erziehungswissenschaft –<br />
als Begriff entstand diese vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne zu Beginn <strong>der</strong><br />
1990er Jahre; 320 als umfassen<strong>der</strong>es bildungswissenschaftliches Projekt entwickelte sie<br />
sich verstärkt in den letzten Jahren. 321 Messerschmidt radikalisiert allerdings die<br />
reflexive Bildungswissenschaft vor dem Hintergrund von Postkolonialismus und<br />
Postnazismus und wendet sie zugleich stark selbstreflexiv an. So schreibt sie:<br />
„Anknüpfend an die vielfältigen Einsprüche gegenüber einem in sich ungebrochenen<br />
Bildungsbegriff erscheint es mir angemessen, von einem Konzept <strong>der</strong> Bildung<br />
auszugehen, das es mir ermöglicht, Brüche und Infragestellungen meiner eigenen<br />
durch Bildung angeeigneten Selbst- und Weltbil<strong>der</strong> zu artikulieren.“ 322 Bildung<br />
versteht Astrid Messerschmidt also als kritische Selbstreflexion und als Praxis <strong>der</strong><br />
Reflexion in umstrittenen gesellschaftlichen Fel<strong>der</strong>n. 323 Sie spricht von „involvierten<br />
Bildungsprozessen“: „Eine kritische Bildungstheorie, die Engagement nicht<br />
suspendieren will, muss sich mit tief greifenden Verunsicherungen auseinan<strong>der</strong>setzen,<br />
die ihre Protagonist/innen im Zentrum ihrer Überzeugung treffen und von ihnen<br />
verlangen, das eigene Involviertsein in die kritisierten Verhältnisse offen zu legen.“ 324<br />
319 Ebda., S. 9.<br />
320 Dieter Lenzen, Reflexive Erziehungswissenschaft am Ausgang des postmo<strong>der</strong>nen Jahrzehnts o<strong>der</strong> Why should<br />
anyone be afraid of red, yellow and blue? In: Dietrich Benner, Dieter Lenzen, Hans-Uwe Otto (Hg.), Erziehungswissenschaft<br />
zwischen Mo<strong>der</strong>nisierung und Mo<strong>der</strong>nitätskrise. Beiträge zum 13. Kongress <strong>der</strong> Deutschen<br />
Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 16.–18. März 1992 an <strong>der</strong> Freien Universität Berlin. Zeitschrift<br />
für Pädagogik: 29. Beiheft, Weinheim – Basel 1992, S. 75–91.<br />
321 Vgl. Barbara Friebertshäuser, Markus Rieger-Ladich, Lothar Wigger (Hg.), Reflexive Erziehungswissenschaft.<br />
Forschungsperspektiven im Anschluss an Pierre Bourdieu, 2. Auflage, Wiesbaden 2009. Aus gouvernementalitätstheoretischer<br />
Perspektive wurde Reflexivität in <strong>der</strong> Bildungsarbeit bereits kritisch als zwischen Affirmation<br />
und Kritik angesiedelt analysiert. Vgl. Michael Winkler, Reflexive Pädagogik, in: Heinz Sünker, Heinz-Hermann<br />
Krüger (Hg.), Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?!, Frankfurt am Main 1999, S. 270–299,<br />
sowie Susanne Weber, Susanne Maurer (Hg.), Gouvernementalität und Erziehungswissenschaft. Wissen,<br />
Macht, Transformation, Wiesbaden 2006.<br />
322 Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 16.<br />
323 Ebda.<br />
324 Ebda., S. 17.<br />
96
Umgehen mit Heterogenität als Normalfall<br />
Eine beson<strong>der</strong>s herausfor<strong>der</strong>nde Aporie – die uns bereits an mehreren Stellen begegnet<br />
ist –, ist dabei die Frage, wie die Monoperspektivität des Nationalstaatsparadigmas<br />
und <strong>der</strong> Dominazkultur herausgefor<strong>der</strong>t werden kann, ohne selbst wie<strong>der</strong>um<br />
ethnisierende Zuschreibungen und Differenzen vorzunehmen. Mit an<strong>der</strong>en Worten:<br />
Wie können wir über Differenz sprechen, ohne Differenz zu reproduzieren? 325 Astrid<br />
Messerschmidt meint dazu:<br />
„We<strong>der</strong> eine Ignoranz gegenüber dem Migrationsaspekt, noch dessen identitäre Aufladung entsprechen<br />
den gesellschaftlich-kulturellen Gegebenheiten. Anzustreben ist eher eine Kontextualisierung von<br />
Migration im Zusammenhang vielfältiger Differenzen und Zugehörigkeiten und ein Bezug zu den<br />
Erfahrungen in einem gemeinsamen gesellschaftlichen Raum, in dem Geschichte repräsentiert wird.“ 326<br />
Messerschmidt beschreibt diese Zuschreibungen von An<strong>der</strong>sheit mit den Mitteln <strong>der</strong><br />
Postkolonialen Theorie als Praxen des „Othering“ o<strong>der</strong> auch als „creating strangeness/foreignness“.<br />
327<br />
Messerschmidt geht es darum, Zuschreibungen zu verlernen und dennoch die homogene<br />
dominanzkulturelle Erzählung mit ihren Ausschlüssen zu überwinden. Dies<br />
gelingt ihr über den Weg einer Reflexivität, in <strong>der</strong> sich alle Teilnehmenden des Bildungsprozesses<br />
ihrer Involvierung in gesellschaftliche Verstrickungen bewusst werden:<br />
„Alle Beteiligten in pädagogischen Zusammenhängen sind selbst Teil <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft,<br />
und Bildungsarbeit hat die Aufgabe, das eigene Involviertsein einer<br />
Reflexion zugänglich zu machen.“ 328 Dabei gilt es auch auszuhalten, dass Lehrende<br />
nicht alles wissen und <strong>der</strong> Kanon des Lehrplans tote Winkel hat – und daher im Lernprozess<br />
durchaus herausgefor<strong>der</strong>t werden kann und soll. Messerschmidts Reflexivität<br />
öffnet also auch für neue Perspektiven und durchkreuzt dabei das klassisch hierarchische<br />
Verhältnis zwischen Lehrenden und <strong>Lernen</strong>den: „Die eigene Beziehung zu den<br />
Thematiken wahrnehmen zu können, sich in Beziehung zu denselben zu verstehen,<br />
325 Ich verdanke die konkrete Formulierung dieser Frage einer Arbeitsgruppe nach einem Vortrag von Paul<br />
Mecheril auf dem Symposium: Kunstvermittlung in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft. Eine Arbeitstagung, 27.–28.<br />
Mai 2011, Institut für Kunst im Kontext, Universität <strong>der</strong> Künste, Berlin.<br />
326 Messerschmidt, Involviertes Erinnern, S. 281.<br />
327 Astrid Messerschmidt, Intercultural Education in a post-NS society – processes of remembrance in dealing with<br />
racism and anti-Semitism, in: Heike Niedrig, Christian Ydesen (Hg.), Writing Postcolonial Histories of Intercultural<br />
Education (im Erscheinen). Sie macht deutlich: „the interest in the foreign cannot be perceived as<br />
innocent curiosity, but it belongs into the context of colonial interests.“<br />
328 Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 14.<br />
97
lässt mich auch in <strong>der</strong> institutionalisierten Funktion <strong>der</strong> Lehrenden andauernd selbst<br />
<strong>Lernen</strong>de sein.“ 329<br />
Migrationspädagogik<br />
Eine Verstrickung, <strong>der</strong> sich jede Vermittlungsarbeit in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
stellen muss, ist die wenig ruhmreiche Geschichte <strong>der</strong> hegemonialen Migrationspädagogik.<br />
Sehen wir uns – gemeinsam mit den BildungstheoretikerInnen Astrid<br />
Messerschmidt und Paul Mecheril – ihre Entwicklung in Deutschland und Österreich<br />
näher an, fällt ihre Involviertheit in strukturelle Rassismen ins Auge. Diesen gegenüber<br />
entwickelt Paul Mecheril eine kritische Migrationspädagogik, die im Folgenden<br />
gemeinsam mit den mächtigen Diskursen, gegen die sie sich wendet, vorgestellt<br />
werden soll.<br />
Unter Migrationspädagogik werden Paul Mecheril zufolge zwei unterschiedliche<br />
Aufgaben <strong>der</strong> Bildung gefasst: Erstens <strong>der</strong> Unterricht unter den Bedingungen<br />
von Migration, zweitens jener über Migration. Wenn diese auch oft gemeinsam<br />
behandelt werden, haben sie doch unterschiedliche Implikationen, Aufgaben und<br />
Anwendungsgebiete: Einerseits kann Migrationspädagogik also Migration zum<br />
Gegenstand haben. Im besten Fall beschäftigt sie sich dann mit den mächtigen Unterscheidungen<br />
zwischen einem „Wir“ und seinen „An<strong>der</strong>en“ in <strong>der</strong> Gesellschaft und<br />
macht Zuschreibungen und damit verbundene „natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsverhältnisse“<br />
zu ihrem Inhalt. 330 Darüber hinaus gibt es allerdings eine viel weiter<br />
gehende Dimension <strong>der</strong> Migrationspädagogik: Gestehen wir uns die Realität <strong>der</strong><br />
Migrationsgesellschaft ein, muss <strong>der</strong> zunächst und zumeist national geprägte Unterricht<br />
durch Migrationspädagogik insgesamt hinterfragt werden. Insofern handelt es<br />
sich also um eine Querschnittaufgabe, die die gängige schulische Praxis in ihrer Allgemeinheit<br />
herausfor<strong>der</strong>t (das heißt nicht, dass Migration dabei je<strong>der</strong>zeit zum Thema<br />
gemacht werden muss). Das Hauptaugenmerk liegt im Kontext des Themas dieser<br />
Arbeit auf jenen Schlüssen, die für eine <strong>Geschichtsvermittlung</strong> zu ziehen sind, die<br />
Migration nicht zum vordringlichen Inhalt hat und dennoch <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
gerecht werden will, in <strong>der</strong> sie agiert. Und diese sind beträchtlich, stellen doch<br />
329 Ebda., S. 13.<br />
330 Davon spricht Paul Mecheril, wenn er schreibt: „Migrationspädagogik beschäftigt sich mit Zugehörigkeiten und<br />
den Bedingungen und Konsequenzen ihrer Herstellung.“ Mecheril, Migrationspädagogik. Hinführung zu einer<br />
Perspektive, S. 13.<br />
98
die neueren Ansätze, Erkenntnisse und Zugangsweisen <strong>der</strong> Migrationspädagogik eine<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung gängiger Sichtweisen für die gesamte Bildungstheorie und -praxis<br />
dar, sofern diese ihre eigene migrationsgesellschaftliche Realität ernst nehmen will.<br />
Doch bevor diese hier vorgestellt werden können, muss noch ein Blick auf den<br />
problematischen Kontext geworfen werden, aus dem heraus und gegen den sie entwickelt<br />
wurden. Sehr lange war die pädagogische Literatur und Praxis, die sich mit<br />
Migration beschäftigte, nämlich lei<strong>der</strong> von einer von <strong>der</strong> Dominanzkultur dominierten<br />
Perspektive auf Migration geprägt. Eine kleine Geschichte <strong>der</strong> bedenklichen Umgangsweisen<br />
mit <strong>der</strong> Tatsache <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft in <strong>der</strong> Pädagogik kann<br />
vielleicht dabei helfen, die eigene Position zu schärfen. Deshalb seien einige wesentliche<br />
Entwicklungslinien hier kurz skizziert:<br />
Seit dem Beginn <strong>der</strong> Arbeitsmigration in den 1960er Jahren haben sich die<br />
pädagogischen Auseinan<strong>der</strong>setzungen, Ansätze und Konzepte in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
zum Teil stark verän<strong>der</strong>t. Sie spiegeln jeweils nationale Diskurse und<br />
damit einhergehende Migrationspolitiken, die von strukturellen Ausschlüssen und<br />
Zuschreibungen gegenüber MigrantInnen geprägt sind. Die Entwicklung lässt sich<br />
(selbstverständlich nur schematisch) anhand von fünf Tendenzen – die jeweils mit<br />
einem Begriff mit D benannt werden können – beschreiben. Diese sind jeweils als<br />
Reaktion auf Diskussionen und Kritiken an vorhergehenden Ansätzen zu verstehen.<br />
Sie lösen einan<strong>der</strong> nicht ab, son<strong>der</strong>n existieren problematischerweise alle bis heute<br />
teilweise nebeneinan<strong>der</strong>.<br />
Die erste Reaktion im Bildungsbereich auf die Realität <strong>der</strong> Migration war die<br />
so genannte „Auslän<strong>der</strong>pädagogik“. Sie ging in den 1960er Jahren von einem Defizit<br />
<strong>der</strong> MigrantInnen aus: von <strong>der</strong> rassistischen Vorstellung, dass diese etwas aufzuholen<br />
hätten und sich anpassen müssten. Wie<strong>der</strong>belebt wird dieser problematische migrationspädagogische<br />
Ansatz in den letzten fünfzehn Jahren vom „Integrationsdiskurs“.<br />
Dieser setzt auf eine Assimilationspädagogik mit den Mitteln <strong>der</strong> Disziplinierung und<br />
Prüfung. 331 Da die Nationalsprache dabei ein wesentliches Kriterium für Zugehörigkeit<br />
wurde, kommt es zu <strong>der</strong> absurden Situation, dass Mehrsprachigkeit gegenüber<br />
einem bewusst präferierten Monolingualismus des Schulsystems zum Defizit wird.<br />
Demgegenüber legt das zweite Konzept des „interkulturellen <strong>Lernen</strong>s“ das<br />
Hauptaugenmerk auf die „kulturelle Differenz“: Es geht also von <strong>der</strong> ebenfalls ziem-<br />
331 Vgl. Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 100.<br />
99
lich von Zuschreibungen getragenen und auf mehrheitsgesellschaftlichen Nutzen ausgerichteten<br />
Prämisse aus, dass MigrantInnen eine Bereicherung seien. Paul Mecheril<br />
zeigt auf, dass dabei allerdings An<strong>der</strong>sheit nicht nur berücksichtigt, son<strong>der</strong>n vor allem<br />
oft erst hergestellt wird: „Wichtig an dem den Bezug auf Differenz kritisierenden<br />
Ansatz ist die Einsicht, dass durch den Rückgriff etwa von sich alteritätsoffen (‚auslän<strong>der</strong>freundlich’)<br />
generierenden Bildungsinstitutionen auf kulturelle und ethnische<br />
Kategorien die Fremden als Fremde bestätigt und zuweilen erst erzeugt werden.“ 332<br />
Der Motor, mittels dessen die Differenz hergestellt wird, ist die Rede von den „an<strong>der</strong>en<br />
Kulturen“. Vielfach wurde aufgezeigt, dass <strong>der</strong> Kulturbegriff hier oft die Funktion<br />
<strong>der</strong> Abgrenzung hat und dabei durchaus rassistische Züge annehmen kann. 333 „Kultur<br />
kommt als historische Differenzierungs- und Beschreibungsform immer dann ins<br />
Spiel, wenn es um die ‚an<strong>der</strong>e Kultur’ geht. Erst in <strong>der</strong> Abgrenzung kommt <strong>der</strong><br />
Kulturdiskurs so richtig in Schwung.“ 334 Der Autor und Migrationsforscher Mark<br />
Terkessidis formuliert seine Kritik an dieser Kulturalität pointiert anhand einer eigenen<br />
Erfahrung: „Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich in <strong>der</strong> Schule, vor<br />
allem zu Beginn meiner Gymnasialzeit, oftmals zum Fachmann für Griechenland<br />
avanciert bin – in Fragen von Sprache, Geschichte o<strong>der</strong> Religion. Nun war ich zu<br />
diesem Zeitpunkt noch gar nicht in Griechenland gewesen.“ 335 Ausgehend davon<br />
macht Terkessidis deutlich:<br />
„Wo die Mittel zur Reflexion fehlen, greift man auf die verbreiteten Wissensbestände zurück, und die<br />
besagen in Deutschland: Die Kin<strong>der</strong> mit Migrationshintergrund sind von vornherein an<strong>der</strong>s, selbst wenn<br />
sie ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht haben. Das aber ist ein schwerer und folgenreicher Irrtum,<br />
da diese Herangehensweise die Kin<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s macht.“ 336<br />
Und nicht nur das, denn zuerst wird durch die Etablierung <strong>der</strong> „Interkulturalität“ eine<br />
Verschiedenheit hergestellt und in einem zweiten Schritt wird dann die Gleichheit <strong>der</strong><br />
so produzierten „An<strong>der</strong>en“ behauptet.<br />
Und damit wäre auch gleich das zentrale Problem eines dritten Ansatzes mit D<br />
– <strong>der</strong> Diversity-Pädagogik – angesprochen: Hier geht es weniger um eine Betonung<br />
<strong>der</strong> jeweiligen Unterschiede als um eine behauptete allgemeine Gleichheit, trotz aller<br />
Unterschiedlichkeit – die vor dem Hintergrund eines mit Diversity einhergehenden<br />
332 Mecheril, Einführung in die Migrationspädagogik, S. 95.<br />
333 Vgl. Hakan Gürses, Funktionen <strong>der</strong> Kultur. Zur Kritik des Kulturbegriffs, Stefan Nowotny, Michael<br />
Staudigl (Hg.), Grenzen des Kulturkonzepts. Meta-Genealogien, Wien 2003, S. 13–34.<br />
334 Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 111.<br />
335 Mark Terkessidis, Interkultur, Berlin 2010, S. 77.<br />
336 Ebda., S. 79.<br />
100
gouvernementalen Wettbewerbsdiskurses auch gerne „Chancengleichheit“ genannt<br />
wird. Doch obwohl es keine kulturelle Verschiedenheit als essentielle Differenz gibt,<br />
gibt es <strong>der</strong>zeit lei<strong>der</strong> dennoch keine reale gesellschaftliche Gleichheit zwischen<br />
MigrantInnen und Angehörigen <strong>der</strong> Dominanzkultur, da nationalstaatliche Strukturen<br />
und Gesetze ebenso wie Diskurse und Pädagogiken Unterschiede produzieren. Der<br />
Diversity-Ansatz nivelliert diese realen, gesellschaftlichen Ungleichheiten (etwa im<br />
Zugang zu Macht und Ressourcen). Astrid Messerschmidt formuliert vor diesem<br />
Hintergrund ihre massive Skepsis gegenüber <strong>der</strong> Interkulturalität:<br />
„Indem sich Konzepte des interkulturellen <strong>Lernen</strong>s auf die ‚Verschiedenheit von Kulturen’ konzentrieren,<br />
etablieren sie zugleich einen harmonisierenden Umgang mit dieser vorausgesetzten Verschiedenheit.<br />
Alle sollen gleichberechtigt sein. Es kommt dadurch in <strong>der</strong> pädagogischen Praxis zu einer doppelten<br />
Verdrängung von Konflikten: einerseits werden durch den kulturalistischen Blick soziale Ungleichheiten<br />
verdeckt, an<strong>der</strong>erseits verdrängt <strong>der</strong> harmonisierende Gleichheitsansatz die strukturelle Ebene von<br />
Ungleichheiten, die in den ungleichen Zugangsvoraussetzungen zu Macht und Ressourcen liegen.“ 337<br />
Dies führt uns zum vierten <strong>der</strong> migrationspädagogischen Ansätze. Dieser legt den<br />
Fokus auf Phänomene <strong>der</strong> Diskriminierung. So schreibt Astrid Messerschmidt zu<br />
Recht: „Wer von Diskriminierung nicht sprechen will, sollte auch von Integration<br />
schweigen.“ 338 Dabei können zwei unterschiedliche Zugänge ausgemacht werden, die<br />
beide in unterschiedlicher Weise Diskriminierung in den Vor<strong>der</strong>grund stellen und sich<br />
damit von Differenz- und Diversitätspädagogiken unterscheiden: Bei einem dieser<br />
Ansätze geht es um Antidiffamierung und bei dem an<strong>der</strong>en um Demokratisierung.<br />
Beginnen wir mit <strong>der</strong> Antidiffamierungspädagogik. Sie versucht, rassistische<br />
Stereotype in den Blick zu bringen, zu dekonstruieren und damit die Bil<strong>der</strong>, die<br />
Jugendliche haben, zu verän<strong>der</strong>n: Differenzen werden dekonstruiert und Zivilcourage<br />
geför<strong>der</strong>t. Teilweise wird Diskriminierung hier allerdings als persönliches Problem<br />
bearbeitet, ohne die Machtverhältnisse zu analysieren. Strukturelle Ausschlüsse und<br />
politische Selbstorganisation werden nur am Rande behandelt. Dies erscheint unter<br />
an<strong>der</strong>em deshalb als ungenügend und problematisch, weil es mit <strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong><br />
Reduktion politischer Zusammenhänge und sozialer Probleme auf persönliche Konflikte<br />
verbunden ist, für die individuelle Lösungen erarbeitet werden. Dieses Problem<br />
stellt sich in gesteigertem Maße, insofern es eine gesellschaftliche Tendenz gibt, das<br />
Phänomen des Rassismus auf ein psychologisches Problem zu reduzieren, die sich<br />
nicht nur in pädagogischen und sozialpädagogischen Konzepten, son<strong>der</strong>n auch in<br />
337 Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 117.<br />
338 Ebda., S. 91.<br />
101
Analysen <strong>der</strong> Sozialwissenschaften und in offiziellen Werbekampagnen gegen Rassismus<br />
ausmachen lässt. Es gibt also eine Tendenz <strong>der</strong> Pädagogik, gesellschaftliche<br />
Phänomene zu personalisieren und dabei die Analyse realer Macht- und Herrschaftsverhältnisse<br />
auszublenden: 339 Selbst wenn pädagogische Programme einen aufklärerischen<br />
Anspruch haben und diskriminierende Vorstellungen und Logiken problematisieren,<br />
bleibt die Auseinan<strong>der</strong>setzung zumeist dem Persönlichen verhaftet.<br />
Dies kann auch auf sich als „aufklärerisch“ verstehende Ansätze einer „antirassistischen“<br />
Pädagogik zutreffen. Denn auch sie gehen oft von individualisierenden<br />
Prämissen aus, stellen Themen wie „Sensibilisierung“ und „Zivilcourage“ in den<br />
Mittelpunkt, individuelle Handlungsspielräume in den Vor<strong>der</strong>grund. Eine Herangehensweise<br />
in diesem Zusammenhang sind etwa Übungen zur Sensibilisierung.<br />
Diese bestehen darin, Konstruktionen und Zuschreibungen auf einer individuellen<br />
Ebene zu verschieben. Es kann dort zum Beispiel darum gehen, sich als Teil unterschiedlicher<br />
Gruppenidentitäten wahrzunehmen (Brillenträger, Stadtmensch, Türkin<br />
usw.) und seine eigenen Vorurteile zu erkennen. Ein solcher Ansatz beschränkt sich<br />
auf die individualisierende De- und Re- Konstruktion von Identitäten. Die gesellschaftlichen,<br />
politischen und ökonomischen Strukturen – die die materielle Basis <strong>der</strong><br />
Konstruktionen darstellen – geraten jedoch nicht in den Blick. Die Rolle <strong>der</strong> rassistischen<br />
Gesetze, die Maßnahmen <strong>der</strong> Abschiebung sowie die Mechanismen <strong>der</strong> Ausbeutung<br />
werden dabei nicht thematisiert, weil es nur um persönliche Verbindlichkeiten<br />
eines besseren Miteinan<strong>der</strong>s geht. In diesem Zusammenhang ist kritisch zu<br />
hinterfragen, ob sich pädagogische Konzepte nicht missbrauchen lassen, indem sie so<br />
tun, als könnten sie einfache Antworten auf Diskriminierungen geben, die bei kritischer<br />
Betrachtung innerhalb des pädagogischen Diskurses nicht lösbar sind. 340<br />
Demgegenüber nimmt Astrid Messerschmidts reflexiver Ansatz mit dem Ziel<br />
einer Demokratisierung die Machtverhältnisse in den Blick und zeigt strukturelle<br />
Rassismen auf. Messerschmidt geht es darum, ungleiche soziale Verhältnisse und<br />
Lebensbedingungen sichtbar und diskutierbar zu machen. „MigrantInnen“ werden<br />
hier endlich nicht mehr bloß zu „An<strong>der</strong>en“, „Objekten“ o<strong>der</strong> „Problemen“ gemacht.<br />
339 Der Politikwissenschafter Gazi Caglar stellt diese „Tendenz zur Subjektivierung und Psychologisierung“ in<br />
einen zeithistorischen Kontext und stellt fest, „dass die Pädagogisierung eines Problems regelmäßig dann<br />
einsetzt, wenn kein Konsens für politisches Handeln, welches bitter nötig wäre, zu erreichen ist.“ Gazi Caglar,<br />
Rasse, Klasse, Nation, in: <strong>der</strong>s., Peyman Javaher-Haghigi (Hg.), Rassismus und Diskriminierung im Betrieb,<br />
Hamburg 1998, S. 14.<br />
340 Vgl. Paseka, Gesellschaft und Pädagogische Praxis, S. 187–199.<br />
102
Vielmehr wird die Aufmerksamkeit auf die Strukturen gelegt, die Ungleichheit<br />
produzieren. „Untersucht werden hier nicht mehr diejenigen mit dem großen Unterschied,<br />
son<strong>der</strong>n die Mechanismen einer Macht, die so funktioniert, dass es zur<br />
Schlechterstellung von Schüler/innen mit Migrationshintergrund im deutschen<br />
Bildungssystem kommt.“ 341 Messerschmidt schlägt einen Paradigmenwechsel von<br />
einer multikulturellen zu einer postkolonialen Pädagogik vor: Diese würde die vielen<br />
Fragen nach Differenzen hinter sich lassen und vielmehr die Globalisierung als<br />
Kontext dieser Gesellschaft aufgreifen und auf ihre historischen Bedingungen hin<br />
untersuchen. Es geht um eine Reflexion des geschichtlichen Gewordenseins, die in<br />
die Gegenwart <strong>der</strong> Einwan<strong>der</strong>ungsgesellschaft hineinführt und zugleich die<br />
Globalisierungsaspekte <strong>der</strong> Kolonisierung in den Blick nimmt.“ 342 Dabei tritt auch die<br />
Rolle, <strong>der</strong> Pädagogik in den Blick. Messerschmidt fragt pointiert nach <strong>der</strong>en<br />
Mechanismen: „Inwiefern tragen Bildungsinstitutionen selbst zur Ausgrenzung bei<br />
und produzieren die Klientel, auf die sich dann Integrationsanstrengungen richten?“ 343<br />
Allerdings können diese bloß als Verstrickungszusammenhang stets mitreflektiert<br />
werden. Handlungsoptionen werden dabei kaum eröffnet.<br />
Und obwohl Messerschmidts Ansatz <strong>der</strong> Demokratisierung hier in allen Punkten<br />
beigepflichtet werden kann, soll (mit <strong>der</strong> Hilfe von Paul Mecheril) deshalb noch<br />
eine fünfte Perspektive eröffnet werden, die wie<strong>der</strong>um mit einem D beginnt: eine<br />
Vermittlung, die Dissens innerhalb von Machtverhältnissen in den Vor<strong>der</strong>grund stellt.<br />
„Migration problematisiert Grenzziehungen.“ 344 , schreibt Paul Mecheril. Vor diesem<br />
Hintergrund produziert sie Dissens (gegenüber dem nationalen Konsens): Sie for<strong>der</strong>t<br />
nationale Eindimensionalität und Monoperspektivität heraus. Paul Mecheril zufolge<br />
sind die „machtvollen Unterscheidungen“ zwischen einem „Wir“ und den damit<br />
einhergehenden „An<strong>der</strong>en“ wesentlicher Gegenstand <strong>der</strong> Migrationspädagogik. Mit<br />
Grenzen meint er also<br />
„nicht so sehr die konkreten territorialen Grenzen, son<strong>der</strong>n eher symbolische Grenzen <strong>der</strong> Zugehörigkeit.<br />
Durch Migration wird die Frage <strong>der</strong> Zugehörigkeit – nicht bloß die <strong>der</strong> sogenannten MigrantInnen –<br />
individuell, sozial und auch gesellschaftlich zum Thema, da durch Migration eine Differenzlinie befragt<br />
wird, die zu den grundlegendsten gesellschaftlichen Unterscheidungen gehört.“ 345<br />
So fokussiert Mecheril in seiner migrationspädagogischen Perspektive zwei prinzi-<br />
341 Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 90.<br />
342 Vgl. Messerschmidt, Verstrickungen, S. 156.<br />
343 Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 90.<br />
344 Mecheril, Migrationspädagogik. Hinführung zu einer Perspektive, S. 12.<br />
345 Ebda.<br />
103
pielle Fragen: erstens die Frage „<strong>der</strong> natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung,<br />
in <strong>der</strong> Menschen unterschieden und so positioniert werden, dass ihnen unterschiedliche<br />
Werte <strong>der</strong> Anerkennung und Möglichkeiten des Handelns zugewiesen werden“<br />
und zweitens die Frage, „wie Pädagogik einen Beitrag zur (Re-)Produktion dieser<br />
Ordnung leistet und welche Möglichkeiten <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung und Schwächung dieser<br />
Ordnung gegeben sind und entwickelt werden können.“ 346 Ebenso wie bei Messerschmidt<br />
wird hier also eine selbstreflexive Perspektive in <strong>der</strong> Bildungswissenschaft<br />
eingenommen. Diese wird allerdings um einen entscheidenden Blickwinkel erweitert:<br />
die Frage nach <strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung. Mecherils Ansatz widmet sich also<br />
einer Analyse <strong>der</strong> Machtverhältnisse im Hinblick auf ihre Verän<strong>der</strong>ung:<br />
„Insgesamt kann <strong>der</strong> migrationspädagogische Ansatz als Offerte zu einer Praxis (des Denkens, Sprechens<br />
und Handelns) verstanden werden, die von <strong>der</strong> Überzeugung getragen wird, dass es sinnvoll ist,<br />
nach Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen, die weniger Macht über an<strong>der</strong>e ausüben, Ausschau zu<br />
halten und sie wirklich werden zu lassen. Die Art <strong>der</strong> Kritik, die den migrationspädagogischen Ansatz<br />
kennzeichnet, kann in einem allgemeinen Sinn als suchende, notwendig reflexive, beständig zu entwickelnde<br />
und unabschließbare, gleichwohl entschiedene Praxis bezeichnet werden. Diese Praxis zielt<br />
darauf, nicht <strong>der</strong>maßen auf symbolische, räumliche, institutionelle Einteilungen von Menschen angewiesen<br />
zu sein, die ihre Würde und ihr Handlungsvermögen beschneiden.“ 347<br />
Was heißt das für die <strong>Geschichtsvermittlung</strong> im Postnazismus?<br />
Beginnen wir mit einer weiteren Problematisierung des „Othering“: Paul Mecheril<br />
macht darauf aufmerksam, dass ein Sprechen über den Holocaust in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
lei<strong>der</strong> allzu oft zu einem Sprechen über MigrantInnen wird. Er spricht<br />
von einem „Sprechen über das Sprechen über den Holocaust“, das nicht selten das<br />
Sprechen über die Massenverbrechen <strong>der</strong> Nazis selbst überschreibt, indem es den<br />
„An<strong>der</strong>en“ antisemitische Stereotype zuschreibt. Dieses Sprechen über das Sprechen<br />
wie<strong>der</strong>holt Mecheril zufolge die mächtige Unterscheidung zwischen „Wir“ und<br />
„Nicht-Wir“. 348 Dem gegenüber entwickelt er eine antiessentialistische bildungstheoretische<br />
Perspektive, die sich diesem Sprechen wi<strong>der</strong>setzt. „Die Erinnerung an<br />
den Holocaust wird nicht erst durch die Vervielfältigung <strong>der</strong> biographischen Bezüge<br />
346 Ebda., S. 15.<br />
347 Ebda., S. 19.<br />
348 Paul Mecheril, Nicht beson<strong>der</strong>s beson<strong>der</strong>s. Zur Aneignung <strong>der</strong> historischen Tatsache des Holocaust in <strong>der</strong><br />
Migrationsgesellschaft, Vortragsmanuskript, Keynote zur Tagung „Und was hat das mit mir zu tun? Perspektiven<br />
<strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> zu Nazismus und Holocaust in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft, 17.–20. November<br />
2011, Unveröffentlichtes Manuskript.<br />
104
in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft plural; sie ist es von Beginn an.“ 349 , sagt er und beschäftigt<br />
sich mit <strong>der</strong> Möglichkeit einer dissensualen Position in Bezug auf die Geschichte<br />
<strong>der</strong> nazistischen Massenverbrechen. Als Bildungsziel bezeichnet er in diesem Zusammenhang<br />
eine „Solidarität unter Unverschwisterten“. 350 Darauf werden wir noch<br />
zurückkommen.<br />
I.3.5<br />
Das Dazwischen in <strong>der</strong> Kultur- und <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
Als verhältnismäßig junge Bezeichnung für die Geschichtsarbeit an <strong>der</strong> Schnittstelle<br />
von Bildung und Wissensproduktion ist <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> in den<br />
letzten Jahren zunehmend in Gebrauch (und zwar sowohl im schulischen Kontext als<br />
auch vor allem in jenem zeithistorischer Ausstellungen sowie in <strong>der</strong> Gedenkstättenpädagogik).<br />
Eingang fand dieser in den Bereich des historischen <strong>Lernen</strong>s über die<br />
Museologie und die Ausstellungspraxis: Unter <strong>der</strong> Selbstbezeichnung „Kunst- und<br />
Kulturvermittlung“ finden seit den frühen 1990er Jahren zahlreiche Bildungsprojekte,<br />
Führungen und Publikumsaktivitäten in Museen und Ausstellungen statt. Der Begriff<br />
entstand vor dem Hintergrund von Aktualisierungsbestrebungen des Feldes (zunächst<br />
vor allem im Kunstfeld, aber bald auch in vielen an<strong>der</strong>en musealen Bereichen) in<br />
Anlehnung an die und gleichzeitiger Abgrenzung von <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Museumspädagogik.<br />
Als „VermittlerInnen“ verstanden und verstehen sich VertreterInnen einer<br />
jüngeren Generation von AkteurInnen im Ausstellungsbereich: Sie begreifen ihre diskursive<br />
Praxis als eigenständiges Berufsfeld im Kontext von Museen und Ausstellungen.<br />
Sie verfolgen eine angewandte Praxis, zwischen Kritik und Dienstleistung: So<br />
reklamieren sie einerseits AutorInnenschaft für ihr Sprechen, agieren dabei an<strong>der</strong>erseits<br />
jedoch bewusst immer innerhalb von konkreten Rahmenbedingungen, die durch<br />
die Institution, ihre Objekte und Quellen sowie vor allem durch ihre BesucherInnen<br />
definiert werden. Vermittlung ist daher we<strong>der</strong> als bloß dienende Weitergabe institutionellen<br />
Wissens noch als völlig freie Meinungsäußerung noch als ein bruchloses Übertragen<br />
von Informationen vorzustellen: „In <strong>der</strong> Vermittlung steckt die Mitte, das Dazwischen.“<br />
351 , schreibt die Kunstvermittlerin Eva Sturm:<br />
349 Ebda.<br />
350 Ebda.<br />
351 Eva Sturm, Vom Schießen und Getroffen-Werden. Kunstpädagogik und Kunstvermittlung „von Kunst aus“,<br />
105
„Eine Zeit bzw. ein Raum, ein ‚Schauplatz’ wird hergestellt, in dem etwas entstehen kann, von dem man<br />
vorher nichts wußte. Der o<strong>der</strong> die Ver-MittlerIn ist in dem Fall eine anwesende Person, die etwas, das<br />
durch sie wahrnehmbar wird, in Verbindungen bringt zu an<strong>der</strong>em und an<strong>der</strong>en, die verknüpft, trennt,<br />
durchkreuzt, die assistierend, helfend, ergänzend, störend eingreift, mitmischt. Eine bestimmende Position,<br />
denn es bleibt zu bedenken: Der Mittler in Goethes ‚Wahlverwandtschaften’ (Goethe 1980) – ein<br />
immer gern gesehener Gast – war letztlich jener, <strong>der</strong> Ottilies Tod herbeiführte. Dabei hatte er es immer<br />
gut gemeint, sich mit bester Absicht mitunter heftig eingemischt in die Ereignisse, manchmal einfach nur<br />
durch Zuhörerschaft. Der Ver-Mittler o<strong>der</strong> sie steht in <strong>der</strong> Mitte am Rand, im Weg, dabei und daneben,<br />
anwesend-abwesend, zwischen aktiv und passiv, ist ‚Medium’. Er/sie ist ziemlich bestimmend, und tritt<br />
er/sie noch so zurück. Und irgendwann passiert vielleicht etwas – o<strong>der</strong> nicht. Das läßt sich bei allem<br />
guten Willen nicht kontrollieren, nicht planen, nicht voraussehen und oft auch schwer feststellen.“ 352<br />
Eva Sturm prägte einen Begriff <strong>der</strong> Vermittlung, <strong>der</strong> alles an<strong>der</strong>e als die bloße Vorstellung<br />
eines „Sen<strong>der</strong>-Empfängermodells“ bezeichnet (die vielleicht durch das Wort<br />
Vermittlung suggeriert werden könnte): Hier geht es nicht um den bloßen Transfer<br />
eines Wissens, das die einen haben und die an<strong>der</strong>en brauchen. Was mit dem Paradigmenwechsel<br />
in <strong>der</strong> Museumspädagogik vielmehr geschieht, ist die Entwicklung einer<br />
Praxis <strong>der</strong> Eröffnung von diskursiven Verhandlungsräumen, die als soziale Räume im<br />
„Dazwischen“ angesiedelt sind und eine Auseinan<strong>der</strong>setzung über Deutungsmacht –<br />
über das, was unter dem Titel „Kunst“ o<strong>der</strong> eben „Geschichte“ verhandelt wird –<br />
ermöglichen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang eine Offenheit, die weit über bloß<br />
methodische Fragen hinausgeht (diese allerdings selbstverständlich auch betrifft) und<br />
Fragen <strong>der</strong> Didaktik – <strong>der</strong> Bildungsinhalte und -ziele – berührt. Was also in <strong>der</strong><br />
„Vermittlung“ verhandelbar werden soll, ist <strong>der</strong> Gegenstand und <strong>der</strong> Sinn <strong>der</strong> Vermittlung<br />
selbst. Denn – so argumentiert Eva Sturm nach Derrida – nur wenn nicht<br />
schon vorher klar ist, was bei einem Bildungsprozess herauskommen soll, kann überhaupt<br />
etwas geschehen.<br />
Kunstpädagogische Positionen 7/2005, Hamburg 2005, S. 29.<br />
352 Ebda., S. 29 f.<br />
106
II<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> als Kontaktzone<br />
Nach diesem Überblick über die Literatur geht es nun im zweiten Teil dieser Arbeit<br />
um die konkrete Vermittlungsarbeit. Was geschieht, wenn in <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
offene Prozesse ausgelöst werden? Welche Methoden können in <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
angewandt werden? Welche Reaktionen und welche Konflikte sind damit verbunden?<br />
Inwieweit interessieren sich SchülerInnen überhaupt dafür? Aus den Erfahrungen<br />
eines zweijährigen Projekts sollen in <strong>der</strong> Folge Schlüsse für Theorie und<br />
Praxis <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> gezogen werden.<br />
II.1<br />
Erfahrungen<br />
Von September 2009 bis Juni 2011 arbeiteten wir als transdisziplinäres Projektteam<br />
aus VermittlerInnen und WissenschafterInnen im Rahmen des Projekts „Und was hat<br />
das mit mir zu tun?“ 353 mit Jugendlichen an Vermittlungsformen zum Nazismus und<br />
den Massenverbrechen <strong>der</strong> Nazis in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft. Das Projekt verschränkte<br />
Vermittlung und Forschung mit dem Ziel, Beiträge zu <strong>der</strong>zeit lebhaft<br />
diskutierten Fragestellungen in Geschichtswissenschaft, Pädagogik, Museologie,<br />
empirischer Sozialwissenschaft und Migrationsforschung zu erarbeiten. Zwei Jahre<br />
lang gingen SchülerInnen des Brigittenauer Gymnasiums in dem Projekt ihren eigenen<br />
Fragen an die Zeitgeschichte nach und entwickelten Interventionen in die an ihrer<br />
Schule angesiedelte Gedenkstätte. Zusammen mit WissenschafterInnen, LehrerInnen<br />
354 , VermittlerInnen und GestalterInnen wurden Wissensformen ausgetauscht und<br />
zusammengeführt und neue Ansätze für Forschung und Vermittlung entwickelt. Die<br />
Schule wurde dabei nicht nur zum Ort <strong>der</strong> Untersuchung, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Wissensproduktion.<br />
Hier sollen nun unsere Erfahrungen und Ergebnisse reflektiert werden. Zunächst<br />
werden das Setting des Projekts, Ziele und Erwartungen, theoretische Hinter-<br />
353 Renate Höllwart, Elke Smodics-Kuscher, Nora Sternfeld und Ines Garnitschnig (Sozialwissenschafterin)<br />
gemeinsam mit Dirk Rupnow (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck). Das Projekt wurde von Büro<br />
trafo.K im Rahmen des För<strong>der</strong>programms Sparkling Science des Bundesministeriums für Wissenschaft und<br />
Forschung durchgeführt. http://www.sparklingscience.at.<br />
354 Die beteiligten LehrerInnen für Geschichte und politische Bildung waren Renate Pražak, Heldis Stepanik-Kögl<br />
und Michael Zahradnik. Ermöglicht wurde diese Zusammenarbeit auch durch die Unterstützung <strong>der</strong> Direktorin,<br />
Margaret Witek.<br />
107
gründe und Fragestellungen vorgestellt. Es folgt ein Bericht über die Vermittlung und<br />
eine Vorstellung <strong>der</strong> Methoden und Erfahrungen.<br />
II.1.1 Ein Projektdesign zwischen Forschung, Bildung und Ausstellung 355<br />
Um uns den ebenso aktuellen wie komplizierten Fragen anzunähern, die mit den<br />
Perspektiven einer <strong>Geschichtsvermittlung</strong> des Holocaust in <strong>der</strong> postnazistischen<br />
Migrationsgesellschaft verbunden sind, entwickelten wir ein transdisziplinäres<br />
Projekt. Dabei ging es uns darum, Verbindungen von unterschiedlichen theoretischen<br />
Zugängen und Formen <strong>der</strong> Erkenntnisproduktion – wie Geschichtswissenschaft,<br />
Sozialwissenschaft, Museologie und Ansätzen <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> – mit <strong>der</strong><br />
konkreten Vermittlungspraxis in einer Schule herzustellen. Die theoretischen Überlegungen<br />
und empirischen Herangehensweisen sollten mit <strong>der</strong> Vermittlungspraxis<br />
abgestimmt und vor ihrem Hintergrund erprobt und konkretisiert werden können.<br />
Dabei waren die SchülerInnen we<strong>der</strong> nur Objekte <strong>der</strong> Forschung noch bloße AdressatInnen<br />
<strong>der</strong> Vermittlung, son<strong>der</strong>n entwickelten vielmehr selbst als handelnde<br />
AkteurInnen Interventionen in die Gedenkstätte Karajangasse am Brigittenauer<br />
Gymnasium in Wien. Die Ergebnisse <strong>der</strong> Praxis konnten so ihrerseits wie<strong>der</strong>um<br />
Quellen für die Forschung werden.<br />
Die Kooperationen zwischen SchülerInnen und WissenschafterInnen wurden<br />
darüber hinaus noch durch die Beteiligung von Studierenden des Instituts für das<br />
künstlerische Lehramt <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> bildenden Künste Wien erweitert. 356 Die<br />
Studierenden beobachteten und analysierten den Vermittlungsprozess und beteiligten<br />
sich an <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Interventionen in Zusammenarbeit mit den SchülerInnen.<br />
Die Geschichte <strong>der</strong> Schule und <strong>der</strong> Gedenkstätte in <strong>der</strong> Karajangasse 14<br />
Der Standort des heutigen Brigittenauer Gymnasiums 357 hat selbst einen historischen<br />
355 Dank an Ines Garnitschnig, Renate Höllwart und Elke Smodics-Kuscher für die gemeinsame Reflexion dieses<br />
Abschnitts.<br />
356<br />
Angelika Stephanie Böhm, Isabella Bugnits, Tobias Dörler, Cornelia Hauer, Werner Prokop, Anna Schähle,<br />
Melanie Wurth (Studierende am Institut für das künstlerische Lehramt, Akademie <strong>der</strong> bildenden Künste Wien,<br />
im Rahmen des Vertiefungsfachs „Schule und Vermittlung“ von Maria Hündler, die zudem auch als Lehrerin<br />
für Bildnerische Erziehung am Brigittenauer Gymnasium wesentlich zum Gelingen des Projekts beigetragen<br />
hat).<br />
357<br />
http://www.borg20.at/ (20.01.2012).<br />
108
Bezug zu Nazismus und Holocaust. Ein Gebäudeteil – eine ehemalige Volksschule –<br />
war 1938 zu einem Gestapo-Gefängnis umfunktioniert worden. Die überwiegend<br />
jüdischen Gefangenen waren in den Klassenräumen interniert – viele von ihnen<br />
wurden von hier nach Dachau deportiert. 358<br />
In den späten 1980er Jahren wurde die Geschichte <strong>der</strong> Schule von dem Geschichtslehrer<br />
Michael Zahradnik aufgearbeitet. Gemeinsam mit SchülerInnen richtete er im<br />
Gedenkjahr 1988 im Rahmen eines Projekts <strong>der</strong> Gruppe „politische Bildung“ in den<br />
Kellerräumen <strong>der</strong> Schule eine Ausstellung ein, die den Titel trug „Als Schulen zu<br />
Gefängnissen wurden“. In den Folgejahren arbeiteten zahlreiche weitere SchülerInnen<br />
mit den Ergebnissen. Ende <strong>der</strong> 1990er Jahre kam es dann in Kooperation mit <strong>der</strong> Projektreihe<br />
„Die verlorene Insel“ des Aktionsradius Augarten unter <strong>der</strong> Projektleitung<br />
einer weiteren Geschichtslehrerin, Renate Pražak, zur Einrichtung einer dauerhaften<br />
und öffentlichen Gedenkstätte auf 200qm Ausstellungsfläche sowie zur Erweiterung<br />
<strong>der</strong> bestehenden Ausstellung um ein Projekt zur Erforschung <strong>der</strong> Lebensläufe <strong>der</strong> ehemaligen<br />
jüdischen SchülerInnen <strong>der</strong> Schule. 2007 bis 2009 wurde die Ausstellung<br />
wie<strong>der</strong>um von Renate Pražak in Kooperation mit SchülerInnen um weitere personenbezogene<br />
Aspekte zu den Biografien <strong>der</strong> ehemaligen jüdischen SchülerInnen ergänzt.<br />
Als wir im Herbst 2009 mit unserem Projekt begannen, fanden wir also eine<br />
Gedenkstätte mit zahlreichen Entwicklungsschichten vor, in <strong>der</strong> bereits unterschiedliche<br />
Präsentationsformen ihren Ausdruck gefunden hatten. Beson<strong>der</strong>s interessant war<br />
in diesem Zusammenhang <strong>der</strong> gewachsene und vielschichtige Charakter einer 20-jährigen<br />
Geschichte von Ausstellungserweiterungen, die in partizipatorischen Prozessen<br />
entwickelt worden waren. Diese waren heterogen, spiegelten Tendenzen und Diskurse<br />
ihrer jeweiligen Entstehungszeit wi<strong>der</strong> und vermittelten so anschauliche Einblicke in<br />
die Geschichte von Erzählstrategien in Schulen, Schulbüchern und Ausstellungen.<br />
Da das Ziel unseres Projektes darin bestand, gemeinsam mit den SchülerInnen<br />
Interventionen in die bestehende Ausstellung/Gedenkstätte zu erarbeiten, war es wichtig,<br />
diese im Hinblick auf ihre Errungenschaften zu analysieren und über mögliche<br />
Formen einer Aktualisierung nachzudenken. Gemeinsam mit Carlos Toledo und Eva<br />
Dertschei vom Wiener Gestaltungsbüro Toledo i Dertschei 359 entwickelten wir die<br />
Idee eines erweiterbaren Archivsystems: Alle Tafeln <strong>der</strong> Ausstellung wurden auf<br />
358 Vgl. Gedenkstätte Karajangasse, erinnern.at, http://www.erinnern.at/bundeslaen<strong>der</strong>/oesterreich/gedaechtnisortegedenkstaetten/katalog/gedenkstaette_karajangasse<br />
(20.01.2012).<br />
359 http://tid.nextroom.at/ (20.01.2012).<br />
109
Planen gedruckt und als Schiebewände in Archivkästen geordnet, so dass sie bei<br />
Bedarf herausgezogen werden können. Dies ermöglicht eine dauerhafte Sammlung<br />
<strong>der</strong> „Geschichte <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> und des Ausstellens“, die wir in <strong>der</strong> Ausstellung<br />
vorgefunden hatten. Alle Tafeln sind je<strong>der</strong>zeit zugänglich. Dennoch gibt es in<br />
<strong>der</strong> Gedenkstätte immer Platz für Aktualisierungen <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> durch<br />
neue Planen und Interventionen.<br />
In unserem Projekt entstanden in den Schuljahren 2009/2010 und 2010/2011<br />
zwölf solcher Interventionen, die <strong>der</strong>zeit alle frei hängen und in Zukunft dem Archivsystem<br />
hinzugefügt werden können, wenn neue Arbeiten entstanden sind.<br />
Die SchülerInnen<br />
Das Brigittenauer Gymnasium legt Wert auf die Betonung <strong>der</strong> Internationalität seiner<br />
SchülerInnen. So wird in <strong>der</strong> Darstellung des Schulprofils betont: „Heute besuchen<br />
ca. 1050 SchülerInnen die Schule. Dem Standort entsprechend sind die SchülerInnen<br />
verschiedener ethnischer Herkunft und gehören verschiedenen Religionen an (dzt. aus<br />
37 Herkunftslän<strong>der</strong>n, mit 42 Muttersprachen und 25 Religionsbekenntnissen.“ 360 Seit<br />
Mai 2009 hat das Gymnasium den Status einer UNESCO-Schule. Gerade die Tatsache,<br />
dass es sich um einen Ort handelt, an dem unterschiedliche Geschichtsbil<strong>der</strong> in<br />
einer geteilten Gegenwart aufeinan<strong>der</strong> treffen, machte die Schule als Handlungs- und<br />
Forschungsfeld für das Projekt interessant. Hier stellten wir uns die Fragen, welche<br />
Perspektiven sich für die <strong>Geschichtsvermittlung</strong> ergeben, wenn die Tatsache <strong>der</strong><br />
Migrationsgesellschaft und <strong>der</strong>en Implikationen für Erinnerungskulturen ernst genommen<br />
werden und wie eine partizipative <strong>Geschichtsvermittlung</strong> in <strong>der</strong> Schule aussehen<br />
kann, die über das im schulischen Geschichtsunterricht immer noch vorherrschende<br />
Nationalstaatsparadigma hinausgeht bzw. dieses durchkreuzt.<br />
Offenheit <strong>der</strong> Projektstruktur<br />
Wie hier bereits mehrmals deutlich wurde, bleibt auch eine Vermittlung, die die dominante<br />
Perspektive herausfor<strong>der</strong>n will, als Pädagogik in Schulen und Gedenkstätten in<br />
<strong>der</strong>en spezifische Logiken verstrickt und bringt zahlreiche Fragen und Probleme mit<br />
360 http://www.borg20.at/ sowie Katrin Wladasch/Barbara Liegl, Positive Maßnahmen. Ein Handbuch zur praxistauglichen<br />
Umsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung von strukturellen Diskriminierungen und zur Herstellung<br />
von mehr Chancengleichheit, Ludwig-Boltzmann-Institut für Menschenrechte,<br />
http://bim.lbg.ac.at/files/sites/bim/Positive%20Massnahmen/kapitel5.html (20.01.2012).<br />
110
sich. Eine beson<strong>der</strong>s herausfor<strong>der</strong>nde Aporie ist dabei – wie wir gesehen haben – die<br />
Frage, wie die Monoperspektivität des Nationalstaatsparadigmas herausgefor<strong>der</strong>t werden<br />
kann, ohne dabei wie<strong>der</strong>um ethnisierende Zuschreibungen und Differenzen zu<br />
produzieren.<br />
In unserem Projekt war es uns wichtig, Rahmenbedingungen zu entwickeln,<br />
die möglichst viele bewusste o<strong>der</strong> unbewusste Homogenisierungen vermeiden und<br />
dennoch nicht über von uns vorgegebene gesellschaftliche Identifizierungen strukturiert<br />
sein sollten. Auch wenn uns während des Projekts immer wie<strong>der</strong> sehr praktisch<br />
(und zuweilen durchaus schmerzlich) bewusst wurde, dass wir dabei in die Fallen<br />
hegemonialer Geschichtsschreibungen und ihrer Ausschlüsse tappten und uns in<br />
Diversitätsphantasien und habituelle Zuschreibungen verstrickten, versuchten wir,<br />
Ziele, Zugänge und Methoden zu entwickeln, die das Dilemma zwischen Homogenisierung<br />
und Differenzierung unterlaufen.<br />
Vor diesem Hintergrund entwickelten wir eine offene Projektstruktur, bei <strong>der</strong> die<br />
Jugendlichen an möglichst vielen Stellen des Projekts wesentlich an dessen Verlauf<br />
beteiligt waren. Diese war im Projekt so angelegt, dass wir anhand von Ausstellungsbesuchen<br />
und Inputs zwar Inhalte anboten, dabei aber einen Ablauf vorschlugen,<br />
in dem die SchülerInnen ihre eigenen Fragen verfolgen konnten. Fest stand bloß, dass<br />
das Projekt innerhalb des Themenkomplexes Nazismus, Holocaust und Zweiter<br />
Weltkrieg angesiedelt sein sollte. Welche konkreten Aspekte und Fragen in diesem<br />
Zusammenhang behandelt werden, sollte sich erst im Zuge des Projektprozesses<br />
herausstellen.<br />
Zwei wesentliche Mittel dafür waren die Entwicklung eigener Recherchefragen<br />
von Seiten <strong>der</strong> SchülerInnen und die Einbeziehung von ExpertInnen zu genau<br />
diesen Fragen. Auf diese Weise sollte eine Formulierung von Schwerpunkten durch<br />
die SchülerInnen selbst möglich werden. Anhand von dieser grundsätzlich ergebnisoffenen<br />
Methode sollte die titelgebende Frage des Projekts, „Und was hat das mit mir<br />
zu tun?“, jeweils spezifisch und unterschiedlich konkretisiert werden können. Ähnlich<br />
wie bei Forschungsfragen und Arbeitsthemen in <strong>der</strong> Wissenschaft stellte sich diese<br />
Frage im Laufe des Projekts immer wie<strong>der</strong> und konnte immer wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s beantwortet<br />
werden. Die konkrete Formulierung <strong>der</strong> Forschungsfragen erfolgte in Zusammenarbeit<br />
zwischen den SchülerInnen, den WissenschafterInnen, den VermittlerInnen<br />
111
und den LehrerInnen.<br />
Mit Hilfe <strong>der</strong> konzeptiven Entscheidung, ExpertInnen zu involvieren, wollten<br />
wir einer gängigen alltagspädagogischen Tendenz entgegen arbeiten, die SchülerInnen<br />
so zu beraten, dass sie bloß Fragen stellen, die die VermittlerInnen selbst beantworten<br />
können bzw. mit <strong>der</strong>en Themenbereich sie vertraut sind. So ging es uns also<br />
darum, ein Setting zu schaffen, in dem wir keine Angst vor unserem eigenen Unwissen<br />
haben. Vielmehr war es ja gerade Ziel des Projekts, dass Aspekte des Themenkomplexes<br />
Nazismus, Holocaust und Zweiter Weltkrieg zur Sprache kommen können,<br />
die gemeinhin marginalisiert werden, die wir also vielleicht nicht kennen und<br />
daher auch nicht erwarten o<strong>der</strong> vorausplanen konnten.<br />
In dem Projekt ging es uns wesentlich darum, Methoden zu entwickeln, um eine<br />
Formulierung von Themen und Zugängen möglich zu machen, die in <strong>der</strong> gängigen<br />
Vermittlung aus unterschiedlichen Gründen wenig Raum erhalten. Die Projektstruktur<br />
sollte Handlungsräume eröffnen. Das hieß für uns mehreres: Erstens ging es darum,<br />
Bedingungen herzustellen, in denen marginalisierte Geschichtsbezüge, Themen,<br />
Interessen und Erinnerungskulturen zur Sprache kommen können. Zweitens war es<br />
uns wichtig, die Barrieren des sozial erwünschten Sprechens ein Stück weit abzubauen<br />
und auf diese Weise Unsicherheiten und Fragen aussprechbar werden zu lassen.<br />
Denn nur so konnte eine Kommunikation über historische Fakten, die Bedingungen<br />
ihrer Vermittlung und ihre aktuellen Deutungen stattfinden.<br />
Doch gerade wenn die Normierungen des sozial erwünschten Sprechens<br />
angegriffen und gelockert werden, gilt es sich auch darüber klar zu werden, was nicht<br />
geschehen soll. Und damit sind wir bei <strong>der</strong> mit je<strong>der</strong> Öffnung einhergehenden Frage<br />
nach Schließungen angekommen. Diese sind ein sehr schwieriger, oft situativer<br />
Aspekt je<strong>der</strong> Vermittlungsarbeit. Deshalb lassen sie sich wohl am besten anhand <strong>der</strong><br />
konkreten Vorstellung <strong>der</strong> Erfahrungen reflektieren. Diese soll hier als Reflexion<br />
unserer Vorgangsweisen, Methoden, Abläufe, Herausfor<strong>der</strong>ungen, Schwierigkeiten<br />
und Erfolge geschehen.<br />
II.1.2 Die Vermittlungsarbeit – Wie sind wir vorgegangen?<br />
Das zweijährige Projekt am Gymnasium Karajangasse glie<strong>der</strong>te sich in zwei Phasen,<br />
112
in denen wir jeweils mit einer Gruppe von SchülerInnen zusammenarbeiteten. Die<br />
Arbeit in <strong>der</strong> Schule dauerte jeweils ca. acht Monate und beinhaltete eine Einführung,<br />
acht Module zu jeweils zwei bis dreieinhalb Stunden sowie eine Phase <strong>der</strong> Produktion<br />
und Präsentation. Die SchülerInnen nahmen im Rahmen des Wahlpflichtfachs<br />
Geschichte und politische Bildung daran teil und waren ziemlich gefor<strong>der</strong>t: Von <strong>der</strong><br />
Themenwahl über die Recherche bis zur Präsentation waren sie Teil eines Reflexionsund<br />
Produktionsprozesses, bei dem es um die Erforschung und Repräsentation von<br />
Geschichte ging.<br />
Eigene Fragen entwickeln<br />
Unsere Vermittlungsmethoden folgten alle dem Prinzip Selbstständigkeit: Es ging<br />
darum, Räume zu schaffen, in denen die SchülerInnen selbstständig arbeiten und<br />
eigene Fragen entwickeln konnten. Schließlich sollte ja das Thema, zu dem die<br />
SchülerInnen arbeiten würden, etwas mit ihnen zu tun haben. Um dies zu ermöglichen,<br />
war es uns einerseits wichtig, so viel Input zu leisten, dass die SchülerInnen<br />
eine Idee von dem entwickeln konnten, was sie interessierte und diese Wissensvermittlung<br />
an<strong>der</strong>erseits wie<strong>der</strong>um so offen zu gestalten, dass es den TeilnehmerInnen<br />
möglich war, ihre eigenen Themen und Fragen zu finden und zu erarbeiten. Wie<br />
gingen wir dafür konkret vor?<br />
Bei einem ersten Treffen fand eine gegenseitige Vorstellung und Präsentation<br />
des Projekts statt. Diese war vor allem im zweiten Jahr gelungen. Denn nach einer<br />
ausführlichen Reflexion <strong>der</strong> Methoden im Jahr I kamen wir von <strong>der</strong> formalen Präsentation<br />
ab und wählten eine Vermittlungsmethode in Stationen, mit <strong>der</strong> wir im Projekt<br />
insgesamt sehr gute Erfahrungen machten:<br />
Die VermittlerInnen, HistorikerInnen, WissenschafterInnen und LehrerInnen<br />
verteilten sich im Klassenzimmer an kleinen Tischen, die jeweils mit ihrem Namen<br />
und ihrer Rolle im Projekt markiert waren. Die SchülerInnen hatten die Möglichkeit<br />
in Kleingruppen von Tisch zu Tisch zu gehen und mehr zu den verschiedenen Teilen<br />
des Projekts sowie zu den Rollen und Themenschwerpunkten <strong>der</strong> AkteurInnen zu<br />
erfahren. Dabei fand auch ein erstes Kennenlernen statt. Die SchülerInnen konnten<br />
gleichzeitig ihre Interessen am Projekt und seinen Themen formulieren. Ihre ersten<br />
Ideen, Statements, Erwartungen und Wünsche wurden gemeinsam auf Karteikarten<br />
notiert und für die weitere Phase <strong>der</strong> Themenfindung festgehalten. Im zweiten Teil<br />
113
des Präsentationsnachmittages ging es bereits um eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />
Geschichte. In Zweiergruppen erkundeten die SchülerInnen die Schule bzw. die<br />
Gedenkstätte o<strong>der</strong> die unmittelbare Umgebung mit Polaroidkameras im Hinblick auf<br />
die Frage, wo und in welcher Form Geschichte sichtbar wird. Ihre Fotos präsentierten<br />
nun sie an den Tischen, an denen sich vorher die VermittlerInnen vorgestellt hatten.<br />
Jetzt waren also wir es, die von Station zu Station gingen und mit den SchülerInnen<br />
über ihre Bil<strong>der</strong> und Erfahrungen sprachen. Bereits bei diesem ersten Termin wurde<br />
die Heterogenität von Bezügen und Interessen <strong>der</strong> SchülerInnen sichtbar: Wenn das<br />
Treffen noch durchaus von Phänomenen „sozial erwünschten Sprechens“ geprägt war,<br />
gab es doch bereits Streitgespräche, in denen manche Beteiligten auch ihr Misstrauen<br />
gegenüber <strong>der</strong> schulischen <strong>Geschichtsvermittlung</strong> zum Ausdruck brachten. Da wir<br />
einiges an <strong>der</strong> Kritik teilten und an<strong>der</strong>es nicht, befanden wir uns alle bereits mitten in<br />
einem Auseinan<strong>der</strong>setzungsprozess um Geschichte und ihre Tradierungen in Schule<br />
und Gesellschaft. Einerseits ging es uns dabei um die Eröffnung eines Raumes für<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungen, an<strong>der</strong>erseits verteidigten wir vehement die Notwendigkeit<br />
historischer Konkretion sowie die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem von uns vorgegebenen<br />
historischen Rahmen von Holocaust, Nazismus und Zweitem Weltkrieg. Ältere<br />
SchülerInnen (7. und 8. Klasse) interessierten sich für spezifische Themen und<br />
unbekanntere Aspekte des Themenkreises, während jüngere (6. Klasse) um eine<br />
Annäherung rangen und sich dem Thema oft moralischer und betroffener näherten.<br />
Der thematische Rahmen beim ersten Termin reichte von Erzählungen über<br />
PartisanInnen in <strong>der</strong> Familie über die Bekundung von Betroffenheit angesichts <strong>der</strong><br />
Massenmorde in den Konzentrationslagern <strong>der</strong> Nazis bis zu Diskussionen um Denkmalkultur<br />
in Österreich. Die Kontaktzone war eröffnet: Die SchülerInnen hatten erste<br />
Ideen gesammelt, traten mit uns und untereinan<strong>der</strong> in mehr o<strong>der</strong> weniger<br />
kontroversielle Diskussion und erhielten einen Eindruck von <strong>der</strong> Projektstruktur und<br />
<strong>der</strong> zukünftigen Zusammenarbeit.<br />
Nach dem Vorstellungstermin bestimmte die Arbeit an <strong>der</strong> Themenentwicklung<br />
die erste Phase <strong>der</strong> Zusammenarbeit. Diese widmete sich einerseits <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit <strong>der</strong> Dauerausstellung im Dokumentationsarchiv des österreichischen<br />
Wi<strong>der</strong>standes und war an<strong>der</strong>erseits von einer Begriffsklärung getragen. Um<br />
eigene Fragen entwickeln zu können, wurden Mind-Maps zu den zentralen Begriffen<br />
des Projekts erstellt: Thematisiert und definiert wurden in diesem Zusammenhang die<br />
114
Begriffe „Shoah“, „Holocaust“, „Nazismus“ und „Zweiter Weltkrieg“ ebenso wie <strong>der</strong><br />
Begriff „transnational“. Die SchülerInnen brachten dabei sowohl ihr Wissen als auch<br />
ihre Interessen in die Diskussion ein. Ausgehend davon sowie von begrifflichen und<br />
historischen Klärungen seitens <strong>der</strong> VermittlerInnen wurden Karteikarten erstellt, die<br />
wesentliche Themen aus <strong>der</strong> Diskussion festhielten. Darüber hinaus ging es bei einem<br />
Besuch <strong>der</strong> Ausstellung im Dokumentationsarchiv um eine thematische Einführung.<br />
Die SchülerInnen suchten sich in Kleingruppen Themen und Orte in <strong>der</strong> Ausstellung,<br />
die sie interessierten o<strong>der</strong> die etwas mit ihnen zu tun hatten. Gemeinsam mit einem<br />
Vermittler aus dem Vermittlungsteam des Dokumentationsarchivs wurden die ausgewählten<br />
Themen <strong>der</strong> Ausstellung besprochen. Wie<strong>der</strong>um wurden Notizen auf Karteikarten<br />
gemacht, die für die anschließende Themenfindung nützlich sein sollten. Auch<br />
Leerstellen <strong>der</strong> Ausstellung und damit verbundene nicht thematisierte Interessen <strong>der</strong><br />
SchülerInnen kamen dabei zur Sprache.<br />
Erst beim darauf folgenden Modul wurden Recherchebereiche <strong>der</strong> SchülerInnen<br />
umrissen und Recherchegruppen gebildet. Als Einstieg wurden die Mind-Maps<br />
des vorigen Termins reflektiert und Themen im Hinblick auf eigene Interessen gebündelt<br />
und erweitert. Darüber hinaus wurden Formen und Möglichkeiten <strong>der</strong> Recherche<br />
vorgestellt. All dies sollte es den Jugendlichen ermöglichen, ihre eigenen Themenbereiche<br />
und Fragen zu definieren, die den weiteren Verlauf und die Ergebnisse des<br />
Projekts wesentlich mitbestimmten. Bevor die daraus resultierenden Recherchefragen<br />
und Interventionen in die Gedenkstätte vorgestellt werden, sei hier noch <strong>der</strong> transdisziplinäre<br />
Ansatz beschrieben, <strong>der</strong> den weiteren sechs Modulen und <strong>der</strong> Produktion<br />
von Präsentationsformen für die Gedenkstätte zugrunde lag.<br />
Transdisziplinärer Zugang<br />
Sowohl bei <strong>der</strong> Erarbeitung <strong>der</strong> Fragen als auch bei <strong>der</strong> Recherche und Umsetzung<br />
<strong>der</strong> Projekte <strong>der</strong> SchülerInnen war es uns wichtig, nicht eine „richtige“ Methode zu<br />
propagieren. Vielmehr stellten wir Quellen, Methoden und Ansätze aus unterschiedlichen<br />
– für das Thema des Projekts und die Fragen <strong>der</strong> Jugendlichen relevanten –<br />
wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen sowie visuellen Praxisfel<strong>der</strong>n vor.<br />
Wir arbeiteten mit Texten, Quellen und Strategien aus Geschichtswissenschaft,<br />
115
Sozialwissenschaft 361 , konzeptueller Kunst 362 , reflexiver Museologie und Vermittlungstheorie<br />
363 . Uns ging es dabei darum, Schnittstellen zu schaffen, Perspektiven zu<br />
eröffnen und manchmal auch unerwartete Möglichkeiten zu entwickeln, um Wissen<br />
zu verknüpfen. Neben dem Kennenlernen verschiedener Disziplinen und AkteurInnen<br />
– einige konnten wir als ExpertInnen gewinnen, sich an dem Projekt zu beteiligen –<br />
ermöglichte diese Vorgangsweise auch ein hohes Maß an Reflexivität, denn die<br />
jeweiligen Wissensarten konnten vor dem Hintergrund an<strong>der</strong>er Zugänge hinterfragt<br />
und erweitert werden. 364<br />
Nachdem die Recherchefragen einmal definiert waren, waren die Projekteinheiten<br />
bezüglich <strong>der</strong> Zeitplanung bewusst offen gehalten. Die SchülerInnen sollten<br />
in mehr o<strong>der</strong> weniger freier Zeiteinteilung im Rahmen <strong>der</strong> Module die Möglichkeit<br />
haben, mit Diktafonen, Schreibblöcken, Fotokameras, Plakaten, Computern und<br />
Druckern zu arbeiten, und eigene Wege finden, sich ihren Themen anzunähern. Auf<br />
einem Büchertisch stellten wir Bücher und Kopien von Quellenmaterialien zur<br />
Verfügung. Uns war es wichtig, auf die Unterschiedlichkeit <strong>der</strong> SchülerInnen<br />
einzugehen, ihnen so viel Raum für ihre Fragen wie möglich zu geben und sie so<br />
wenig wie möglich auf „Identitäten“ zu reduzieren. Eine wichtige und sehr gelungene<br />
Methode war in diesem Zusammenhang die Zusammenarbeit mit ExpertInnen zu den<br />
Fragen <strong>der</strong> SchülerInnen. Die Jugendlichen freuten sich sehr, Leute kennenzulernen,<br />
die SpezialistInnen in den Fragen waren, die sie sich selbst stellten und die sie<br />
interessierten. Die SchülerInnen präsentierten den ExpertInnen ihre Recherchen,<br />
gemeinsam besuchten sie in Kleingruppen Archive und Ausstellungen, erkundeten<br />
den öffentlichen Raum, lernten Quellen zu analysieren und entwickelten Strategien<br />
361 Methodische Vorgangsweisen aus Geschichtswissenschaft und Sozialwissenschaft wurden im Modul 2 vorgestellt<br />
und sollten als Basis für die Recherchefrage und den Rechercheplan dienen. Ein Beispiel methodischer<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung im Bereich <strong>der</strong> Sozialwissenschaft stellte das Leitfadeninterview dar.<br />
362 Hier interessierten uns vor allem Recherche als künstlerische Strategie und Beispiele eines reflexiven künstlerischen<br />
Umgangs mit dem Archiv wie etwa das Video „Schwarz auf Weiß“ <strong>der</strong> Künstlerinnengruppe Klub Zwei<br />
o<strong>der</strong> die Interventionen des Künstlers Gustav Metzger in seiner Arbeit „Historic Photographs“ sowie an<strong>der</strong>e<br />
Projekte des Künstlers im Rahmen <strong>der</strong> Ausstellung „Geschichte Geschichte“, die vom 11. 5. bis 28. 8. 2005 in<br />
<strong>der</strong> Wiener Generali Foundation zu sehen war. Vgl. Sabine Breitwieser (Hg.), Gustav Metzger. Geschichte<br />
Geschichte, Ostfil<strong>der</strong>n 2005. Ein weiterer Schwerpunkt, im Rahmen dessen wir künstlerische Arbeiten<br />
vorstellten, war das Thema Interventionen. Hier stellten wir Ansätze des Wiener Künstlers Martin Krenn sowie<br />
<strong>der</strong> Plattform Geschichtspolitik vor.<br />
363<br />
Wir analysierten Ausstellungen und Schulbücher im Hinblick auf ihren Einsatz von visuellen Mitteln sowie auf<br />
das kommunikative Zusammenspiel von Bild und Text.<br />
364<br />
Fragen in diesem Zusammenhang waren unter an<strong>der</strong>em: Wie geht man mit Archivmaterial um? Was ist die<br />
Rolle von Bil<strong>der</strong>n als Quellen? Welche Funktionen haben Bildunterschriften, Texte – in Ausstellungen, im<br />
Schulbuch? Wer spricht in diesen Informationstexten? Welche Rolle spielt Oral History – aus geschichtswissenschaftlicher<br />
Perspektive, aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, in <strong>der</strong> Kunst, in Ausstellungen, in <strong>der</strong><br />
Schule?<br />
116
<strong>der</strong> Visualisierung.<br />
Darüber hinaus war es uns allerdings auch wichtig, Inputs für die gesamte<br />
Gruppe zu ermöglichen. Eine Reflexion des ersten Jahres hatte nämlich gezeigt, dass<br />
eine zu starke Konzentration auf die Kleingruppenarbeit die Wissensproduktion teilweise<br />
allzu stark fragmentierte. Wir stellten fest, dass durchaus ein Bedürfnis nach<br />
klassischer Wissensvermittlung, allgemeinem Austausch und gemeinsamer Reflexion<br />
gegeben war. Um dies zu ermöglichen, stellten wir unsere eigenen Schwerpunkte vor,<br />
besuchten Ausstellungen, 365 nahmen an einem Vermittlungsprogramm in <strong>der</strong> Gedenkstätte<br />
Mauthausen teil 366 und machten einen Rundgang im öffentlichen Raum anhand<br />
eines Audio-Guides in <strong>der</strong> Brigittenau – dem unmittelbaren Umfeld <strong>der</strong> Schule. 367<br />
Entwicklung von Interventionen<br />
Gemeinsam mit dem Gestaltungsbüro Toledo i Dertschei beschäftigten wir uns im<br />
letzten Teil des Prozesses mit Medien <strong>der</strong> Darstellung. Die Jugendlichen stellten den<br />
GestalterInnen ihre Materialien vor und entwickelten mit ihrer Unterstützung Skizzen<br />
für multiperspektivische Interventionen in die Gedenkstätte, die ihre Recherchen<br />
visualisierten. Diese wurden dann für die Ausstellung in <strong>der</strong> Gedenkstätte produziert.<br />
Darüber hinaus bereiteten wir mit den SchülerInnen die Abschlusspräsentation<br />
vor. Auch hier wählten wir die zu Beginn dieses Abschnitts vorgestellte Methode,<br />
Stationen zu bilden. Nun waren die Jugendlichen selbst die ExpertInnen zu ihren<br />
Themen geworden. Sie stellten bei <strong>der</strong> Eröffnung <strong>der</strong> Interventionen ihre Projekte vor,<br />
führten in ihre Themen ein und berichteten von ihrem Rechercheprozess und den<br />
Ergebnissen.<br />
Und es waren wohl auch gerade diese Themen und Interventionen <strong>der</strong> SchülerInnen,<br />
die nach <strong>der</strong> Präsentation unserer methodischen Vorgangsweise und Beschreibung<br />
des Prozesses interessant erscheinen. Im Folgenden seien sie kurz dargestellt.<br />
365<br />
Etwa das Jüdische Museum Wien, die Gedenkstätte Steinhof und das Dokumentationsarchiv des österreichischen<br />
Wi<strong>der</strong>standes.<br />
366 Auch in diesem Zusammenhang sei Yariv Lapid gedankt, <strong>der</strong> das Projekt „Inside Out“ in Mauthausen vorgestellt<br />
hat und den Besuch mit uns ausführlich und erkenntnisreich reflektiert hat.<br />
367 Es handelte sich um das Projekt „Hörspuren“ von Maria Ecker und Philipp Haydn,<br />
http://www.hoerspuren.at/brigittenau.php (20.01.2012).<br />
117
Ergebnisse <strong>der</strong> SchülerInnen<br />
Im ersten Jahr entwickelten die Jugendlichen sieben Recherchefragen. Ihre Bandbreite<br />
kann einen sprechenden Einblick in die Bezüge geben, die Jugendliche für sich wählen,<br />
wenn sie das Thema, mit dem sie sich beschäftigen möchten, selbst formulieren:<br />
Welche Rolle spielte die Türkei im Zweiten Weltkrieg? 368 Warum begann <strong>der</strong> Balkankrieg?<br />
Gibt es Verbindungen mit dem Zweiten Weltkrieg? 369 Wer profitierte von den<br />
„Arisierungen“ und <strong>der</strong> Solidarität <strong>der</strong> „Volksgemeinschaft“? 370 Was sind die Organisations-<br />
und Ausdrucksformen von Rechtsextremismus in Österreich? 371 Wie funktioniert<br />
Propaganda (am Beispiel von Wahlplakaten)? 372 Wie geht die Gesellschaft<br />
mit Homosexualität um (vom „Dritten Reich“ bis heute)? 373 Wie ambivalent ist<br />
Assimilation? 374 Auf Basis dieser Fragen entstanden sieben Interventionen 375 in die<br />
Gedenkstätte Karajangasse, die im Juni 2010 präsentiert wurden. Alle Projekte erweiterten<br />
die Ausstellung, insofern sie ihr thematisch und formal etwas hinzufügten. Ziel<br />
war es, in Kooperation mit den GestalterInnen Carlos Toledo und Eva Dertschei<br />
Ergebnisse zu entwickeln, die die Recherchen <strong>der</strong> Jugendlichen sichtbar machten und<br />
weiterführten. Sie sind ebenso von künstlerischen wie von historisch-visuellen Strategien<br />
inspiriert:<br />
Die Frage „Wie geht die Gesellschaft mit Homosexualität um?“ wurde in<br />
Form eines Audiobeitrages bearbeitet, <strong>der</strong> auf einem Interview mit <strong>der</strong> Queer-Theoretikerin<br />
und Aktivistin Marty Huber basiert. Die offene Form des Gespräches machte<br />
es möglich, viele Aspekte anzusprechen, die für die Jugendlichen in <strong>der</strong> Recherche<br />
wichtig waren. Sie betrafen sowohl die Geschichte als auch die Gegenwart, sowohl<br />
die Perspektive von Verfolgung als auch jene von TäterInnenschaft im Nazismus.<br />
Die SchülerInnen, die sich mit Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg beschäftigten,<br />
hatten sehr großes Interesse an ihrem Thema. Es war ihnen sichtlich wichtig und<br />
hatte in <strong>der</strong> Schule ihnen zufolge bisher kaum Platz gefunden. So trugen sie zahlreiche<br />
Materialien zur Geschichte des Konzentrationslagers in Jasenovac und dem Massaker<br />
<strong>der</strong> Wehrmacht in Kragujevac zusammen, die bis dahin im Schulunterricht un-<br />
368 An dieser Frage arbeiteten Ömer Apaydin, Tanju Ersungur und Mustafa Şahan.<br />
369 Von Miloš Stanišić, Mario Talaić, Paul Schutting.<br />
370 Von Ali Asghari, Gentiana Kaba, Marijo Kajušić-Pavić.<br />
371 Von Julia Herko, Maria Li, Daniela Ujhazi, Nicolette Wikgolm, Natascha Wurm.<br />
372 Von Nina Aichinger, Besiana Grdela.<br />
373 Von Judith Frühwirth, Patrick Marksteiner, Shivam Subhash.<br />
374 Von Ahmed El Arby, Nikola Ilić, Baran Şengül.<br />
375 In Kooperation mit den GestalterInnen Toledo i Dertschei, http://tid.nextroom.at/ (20.01.2012).<br />
118
erwähnt geblieben waren. Über die Reklamation dieser marginalisierten Geschichte<br />
hinaus ging es ihnen allerdings auch um eine Aktualisierung. Entsprechend lautete<br />
ihre Forschungsfrage: „Warum begann <strong>der</strong> Balkankrieg? Gibt es Verbindungen zum<br />
Zweiten Weltkrieg?“ Die Ergebnisse ihrer Recherchen zu dieser Frage präsentierten<br />
sie in einem Gespräch mit dem Politikwissenschafter Walter Manoschek, das auf<br />
Video festgehalten und in <strong>der</strong> Gedenkstätte gezeigt wurde.<br />
Ausgehend von <strong>der</strong> Frage „Wer profitierte von den ‚Arisierungen’ und <strong>der</strong><br />
Solidarität <strong>der</strong> ‚Volksgemeinschaft’?“ entstand eine Postkarte, die nach einer historischen<br />
Stadterkundung im Bezirk <strong>der</strong> Schule auf die Topografie <strong>der</strong> Arisierungen<br />
aufmerksam macht.<br />
Die Gruppe, die sich <strong>der</strong> Frage „Welche Rolle spielte die Türkei im Zweiten<br />
Weltkrieg?“ widmete, entschied sich für eine Archivbox als Präsentationsform. Dafür<br />
entwickelte sie ein Ordnungssystem zur Darstellung ihrer Recherchen.<br />
Zur Frage „Wie ambivalent ist Assimilation?“ entstand eine Installation mit<br />
Audio- und Diashow: Die SchülerInnen führten ein Gespräch mit Hannah Landsmann<br />
(Leiterin <strong>der</strong> Vermittlungsabteilung am Jüdischen Museum Wien) und stellten das<br />
Gespräch historischen und aktuellen Definitionen des Begriffs „Assimilation“ gegenüber.<br />
Zur Frage „Was sind die Organisations- und Ausdrucksformen von Rechtsextremismus<br />
in Österreich?“ entstand in Kooperation mit dem Rechtsextremismus-<br />
Experten Heribert Schiedel ein beidseitig bedrucktes Plakat, das sich vor allem mit<br />
den Ambivalenzen von Gewalt und Faszination in rechtsextremen Jugendbewegungen<br />
beschäftigte. Die Entwicklung <strong>der</strong> Plakate entstand in einem Prozess, in dem auch die<br />
Involviertheit und Faszination einiger Jugendlicher <strong>der</strong> Gruppe zur Sprache kam und<br />
diskutiert wurde. Die Arbeit zu diesem Thema stellte vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Bezüge<br />
<strong>der</strong> Jugendlichen eine ziemliche Herausfor<strong>der</strong>ung dar. Die SchülerInnen teilten<br />
insgesamt unseren dezidierten Wi<strong>der</strong>stand gegen rechte und rechtsextreme Logiken<br />
nicht immer – wenn sich auch die meisten Jugendlichen unserem Zugang anschlossen<br />
und das Projekt als kritisches vorantreiben wollten. Hinzu kam die Tatsache, dass <strong>der</strong><br />
Bezug auf rechte Ideologien nicht nur im Kontext des zeitgeschichtlichen Themas<br />
geschah, son<strong>der</strong>n auch als Mittel direkter Diskriminierung gegenüber migrantischen<br />
MitschülerInnen fungierte. Daraus entwickelten sich teils gelungene, teils verfahrene<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungsprozesse, in denen sowohl die SchülerInnen als auch wir damit<br />
119
umzugehen lernten, dass <strong>der</strong> Raum, den wir zur Verfügung stellten, keineswegs für<br />
alles offen war.<br />
Mit <strong>der</strong> Gruppe, die sich mit <strong>der</strong> Frage „Wie funktioniert Propaganda?“<br />
auseinan<strong>der</strong>setzte, führten wir viele Diskussionen zur Problematik <strong>der</strong> Reproduktion<br />
von Propaganda (vor allem in visueller, aber auch in textueller Form) in Ausstellungen<br />
und Schulbüchern. Wir fragten uns, inwieweit die Bil<strong>der</strong> und Worte nicht bloß<br />
reflexiv, son<strong>der</strong>n weiterhin unmittelbar wirksam werden konnten. Darüber hinaus<br />
diskutierten wir in <strong>der</strong> Vorbereitung, inwieweit Vergleiche mit aktuellen Slogans und<br />
Wahlplakaten zulässig sind. Da die Errungenschaften dabei eher im Prozess als in<br />
einem vorzeigbaren Produkt lagen, entschied sich die Gruppe dafür, eine Diashow zu<br />
erstellen, die den Prozess als Mind-Map sichtbar werden ließ.<br />
Im zweiten Jahr waren die Fragen stärker topografisch orientiert und auf konkrete<br />
Orte bezogen.<br />
So fragte etwa eine Gruppe: „Welche Rolle spielt die Gedenktafel für die<br />
Erinnerung an das Gestapo-Gefängnis im Brigittenauer Gymnasium?“. 376 Dazu ist zu<br />
sagen, dass im Eingangsbereich des Brigittenauer Gymnasiums eine Gedenktafel auf<br />
die Geschichte des Gestapo-Gefängnisses in <strong>der</strong> Karajangasse verweist. Gemeinsam<br />
mit dem Künstler Martin Krenn und den GestalterInnen erarbeiteten die Jugendlichen<br />
– sozialwissenschaftlich begleitet – eine konzeptuelle Visualisierung, die auf Interviews<br />
mit SchülerInnen und PassantInnen zur Gedenktafel basiert. Die Befragung<br />
zielte darauf ab, herauszufinden, wie SchülerInnen die Tafel als Informationsquelle<br />
und/o<strong>der</strong> Gedenkzeichen heute wahrnehmen. Die Auswertung macht sichtbar, dass<br />
die unkonkrete Sprache offiziellen Gedenkens zeitlich gebunden und voller Ausblendungen<br />
ist. 377 Kritische Fragen an die Tafel thematisieren ihre Ausschlüsse. Auf diese<br />
Weise weist die Intervention auf Missverständlichkeiten ebenso hin wie auf Leerstellen.<br />
Eine weitere Gruppe stellte die Frage „Was geschah beim ‚Anschluss’<br />
1938?“. 378 Mit Hilfe von historischen Dokumenten wird bei <strong>der</strong> Intervention ein Blick<br />
hinter die Kulissen <strong>der</strong> bekannten Bil<strong>der</strong> von jubelnden Massen am Heldenplatz beim<br />
376 Von Paul Schutting, Ayşegül Şeker, Bernhard Teuschl.<br />
377 Sie ist Ausdruck einer spezifischen Phase österreichischer Geschichtspolitik, die jegliche MittäterInnenschaft<br />
geleugnet hat.<br />
378 Von Fre<strong>der</strong>ick Dabe, Harald Sattler, Miloš Stanišić.<br />
120
sogenannten „Anschluss“ Österreichs an Nazideutschland im März 1938 geworfen. In<br />
Kooperation mit dem Historiker Peter Larndorfer fragten die Jugendlichen in ihrer<br />
Recherche nach <strong>der</strong> Vorgeschichte sowie nach den Mechanismen <strong>der</strong> beginnenden<br />
Verfolgung. Ein spezielles Augenmerk wurde auf den 20. Bezirk gelegt, das unmittelbare<br />
Umfeld <strong>der</strong> Schule. Im Bezug auf die Frage nach transnationalen Bezügen <strong>der</strong><br />
Jugendlichen scheint hier noch interessant zu erwähnen, dass Miloš Stanišić, <strong>der</strong> zum<br />
zweiten Mal mit großem Interesse an dem Projekt teilnahm, diesmal bewusst einen<br />
lokalen Bezug wählte. Während er im vorhergehenden Schuljahr <strong>der</strong> Frage nach dem<br />
Verhältnis zwischen Balkankrieg und Zweitem Weltkrieg nachgegangen war und,<br />
stets um Verständnis und Zusammenführung unterschiedlicher zeitlicher, politischer<br />
und persönlicher Perspektiven <strong>der</strong> AkteurInnen im ehemaligen Jugoslawien im<br />
Zweiten Weltkrieg sowie im Balkankrieg bemüht, seine Positionen immer wie<strong>der</strong> in<br />
Gespräche eingebracht hatte, formulierte er diesmal explizit, dass es ihm wichtig sei,<br />
eine Frage zu bearbeiten, die im konkreten postnazistischen Kontext verortet ist.<br />
Drei Schülerinnen beschäftigten sich mit <strong>der</strong> Frage „Wie funktionierten Organisation<br />
und Alltag im Konzentrationslager Mauthausen?“. 379 Von Anfang an interessierten<br />
sich die Jugendlichen für die Massenverbrechen in den Konzentrationslagern –<br />
sie lasen Bücher und sahen Filme an. Sie entwickelten ein Plakat, das die Recherchen<br />
rund um einen Besuch <strong>der</strong> KZ-Gedenkstätte Mauthausen spiegelt. Anhand eines<br />
Lageplans werden unterschiedliche Aspekte des Alltags und <strong>der</strong> Verbrechen im Lager<br />
thematisiert.<br />
„Worin bestanden die Verbrechen <strong>der</strong> Wehrmacht in <strong>der</strong> Sowjetunion? Wie<br />
werden diese in Schulbüchern dargestellt?“ 380 Mit diesen ebenso kritischen wie<br />
reflexiven Fragen widmeten sich zwei Schüler in Kooperation mit <strong>der</strong> Theoretikerin<br />
Radostina Patulova ihren eigenen Schulbüchern. Ihre Untersuchung macht sichtbar,<br />
dass die Verbrechen <strong>der</strong> Wehrmacht bis heute nur wenig Raum in <strong>der</strong> offiziellen<br />
Geschichtserzählung einnehmen. Eine Beschäftigung mit Daten, Texten und Bil<strong>der</strong>n<br />
analysiert die Perspektive mehrerer Schulbücher und hinterfragt ihre Leerstellen<br />
sowie ihren Umgang mit Texten und Bil<strong>der</strong>n.<br />
Anhand <strong>der</strong> Frage „Wie definierte die NS-Medizin ‚unwertes Leben’?“ 381<br />
widmete sich Marijo Kajušić-Pavić in Kooperation mit dem Geschichtsvermittler<br />
379 Von Lisa Napravnik, Romana Prerad, Asmaa Soliman.<br />
380 Von Emil Proksch, Artur Tsal-Tsalko.<br />
381 Von Marijo Kajušić-Pavić.<br />
121
Adalbert Wagner Materialien von <strong>der</strong> Gedenkstätte Steinhof in Wien. Sie geben<br />
Einblicke in die Bedeutung von Medizin und Wissenschaft für die Nazi-Ideologie<br />
sowie in die Geschichte <strong>der</strong> nazistischen Medizinverbrechen, die in den „Euthanasie“-<br />
Morden gipfelten.<br />
Die Tatsache, dass die SchülerInnen im zweiten Jahr sehr viel stärker topografisch<br />
arbeiteten, kann durchaus mit unserem verstärkten Input und dem Besuch<br />
von Ausstellungen, Gedenkstätten und Projekten im öffentlichen Raum zu tun gehabt<br />
haben. Es scheint so, als hätten sie sich lieber konkreten Fragen zu den Orten gewidmet,<br />
die wir besucht hatten, als marginalisierten Themen. Bei genauerer Betrachtung<br />
ist allerdings zu bemerken, dass durchaus zahlreiche transnationale Bezüge in die<br />
Recherchen einflossen. So basierte die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Schulbüchern<br />
etwa auf einem Vergleich mit russischen Lehrmitteln. Eine Gruppe stellte sich darüber<br />
hinaus die Frage „Welche Rolle spielten die Balkanlän<strong>der</strong> im Zweiten Weltkrieg?“.<br />
Wenn diese auch nicht in eine Intervention mündete, so prägte sie doch den<br />
Prozess und floss in die Diskussionen ein.<br />
II.1.3 Erste Schlüsse aus <strong>der</strong> Zusammenarbeit<br />
In beiden Durchgängen des Projekts waren wir nicht nur mit ernsthaften und gelungenen<br />
Arbeitsprozessen (die aus dem oben Beschriebenen wohl gut ersichtlich sind),<br />
son<strong>der</strong>n auch mit zahlreichen Formen von Abwehr und Desinteresse von Seiten <strong>der</strong><br />
SchülerInnen konfrontiert. Dieses führen wir sowohl auf strukturelle als auch auf<br />
inhaltliche und politische Fragen zurück. Beginnen wir mir <strong>der</strong> strukturellen<br />
Dimension:<br />
Unsere offen angelegte Projektarbeit geriet lei<strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> in Konflikt<br />
mit <strong>der</strong> fragmentierten Zeitstruktur sowie den normierenden Logiken <strong>der</strong> Schule. Ein<br />
Thema in diesem Zusammenhang war etwa die Anwesenheitspflicht, die das schulische<br />
Setting mit sich bringt und die oft im Wi<strong>der</strong>spruch zu unserem Konzepten steht,<br />
insofern diese doch sehr stark von <strong>der</strong> Freiwilligkeit von SchülerInnen ausgehen. Es<br />
ist kein Wun<strong>der</strong>, dass die SchülerInnen teilweise genervt auf unsere Rede von <strong>der</strong><br />
Offenheit reagierten, wenn ihre Fehlstunden dann doch sanktioniert wurden und sie so<br />
de facto durch Zwang und nicht durch Freiwilligkeit an das Projekt gebunden waren.<br />
Wir hatten den Eindruck, dass das System Schule umso rigi<strong>der</strong> wurde, je mehr wir<br />
122
schulische Pläne und didaktische Modelle umwarfen. Je offener wir agierten, desto<br />
mehr pochten die Lehrenden auf Anwesenheit und Notendruck. Möglicherweise hätte<br />
eine gewisse damit verbundene „Good Cop/Bad Cop“-Logik, in die wir dabei mit den<br />
Lehrenden gerieten, verhin<strong>der</strong>t werden können, wenn das Projekt in <strong>der</strong> Konzeptionsund<br />
Einreichungsphase kooperativer und im Hinblick auf eine langfristige Implementierung<br />
in <strong>der</strong> Schule geplant worden wäre. Ein mögliches Folgeprojekt könnte hier<br />
sicher auf den gemachten Erfahrungen aufbauen.<br />
Eine weitere sehr problematische strukturelle Dimension besteht in <strong>der</strong> Zusammensetzung<br />
unseres Projektteams. Da in unserer Teamstruktur zu wenig migrantische<br />
Positionen vertreten waren, standen wir selbst <strong>der</strong> von uns gewünschten Offenheit<br />
teilweise im Wege. Wir versuchten, diesen strukturellen Mangel durch die Einbeziehung<br />
von ExpertInnen ein wenig zu vermin<strong>der</strong>n, würden aber jedenfalls in einem<br />
Folgeprojekt eine an<strong>der</strong>e Teamstruktur wählen, in <strong>der</strong> transnationale Perspektiven und<br />
Expertisen auf allen Ebenen stärker vertreten sind.<br />
Die zweite Dimension von Schwierigkeiten würden wir im Umgang mit dem<br />
Thema verorten. Einerseits ist die Beschäftigung mit den Massenverbrechen <strong>der</strong> Nazis<br />
oft mit sozial erwünschtem Sprechen verbunden, an<strong>der</strong>erseits produziert sie Abwehr<br />
bei SchülerInnen. Astrid Messerschmidt schreibt dazu:<br />
„In jenen Teilen <strong>der</strong> dritten und vierten Generation nach 1945, die in einer Beziehung zur Täter-,<br />
Mittäter- und Zuschauergesellschaft des NS stehen, hat sich <strong>der</strong> Eindruck verfestigt, bei <strong>der</strong><br />
Geschichtsschreibung handele es sich um eine etablierte Veranstaltung, von <strong>der</strong> mehr gesellschaftliche<br />
Selbstbestätigung als Kritik ausgeht. Insbeson<strong>der</strong>e die pädagogische Erinnerungsarbeit im schulischen<br />
Kontext betrachten viele als eine Maßnahme überzeugter PädagogInnen, die ihren SchülerInnen eine<br />
übereinstimmende moralische Verurteilung <strong>der</strong> Geschehnisse abverlangen. Dieser Eindruck<br />
verselbständigt sich zunehmend, löst sich von <strong>der</strong> konkreten Erfahrung ab und wird zu einer geteilten<br />
generationellen Auffassung, die Herkunftshintergründe überbrückt.“ 382<br />
Manchmal hatte <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> SchülerInnen auch expliziter ideologische<br />
Gründe – viele Jugendliche reproduzieren Rechtsextremismen, einige wählen die<br />
FPÖ. Vor dem Hintergrund dieser Tatsachen scheint es uns wichtig, unsere eigenen<br />
Positionen zugleich zu schärfen und zu hinterfragen.<br />
Da uns das „sozial erwünschte Sprechen“ ebenso problematisch scheint wie<br />
die Abwehr bzw. vor dem Hintergrund österreichischer Opfermythen und Geschichtspolitiken<br />
sogar damit zusammenhängen kann, sehen wir es zunächst als Errungenschaft<br />
an, ein Setting hergestellt zu haben, bei dem Abwehr in Bezug auf das Thema<br />
382 Messerschmidt, Erinnerungsbeziehungen in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus, S. 2.<br />
123
überhaupt möglich ist. Jenseits von Betroffenheitspädagogik schufen wir Räume für<br />
eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Geschichte. Nicht selten stellten sich Einwände <strong>der</strong><br />
SchülerInnen im Zuge <strong>der</strong> Recherchen als sehr produktiv heraus; in vielen Fällen hatten<br />
die SchülerInnen auch schlichtweg recht. Manchmal war die Abwehr allerdings<br />
auch leere Provokation und daher eher zermürbend. Womit könnte dies zu tun haben?<br />
Manchmal wehrten sich die Jugendlichen gegen den Gestus unseres Sprechens. Einige<br />
formulierten deutliche Kritik daran, wie das Thema in <strong>der</strong> Schule behandelt wird.<br />
Manche reagierten sehr ablehnend auf jede Form <strong>der</strong> Moralisierung – an<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>um<br />
waren selbst sehr moralisierend und wollten viel mehr Handlungsanweisungen<br />
für die Gegenwart aus <strong>der</strong> Vergangenheit ableiten als wir. Ein weiterer Grund für die<br />
Abwehr schien uns – neben <strong>der</strong> Zurückweisung von Betroffenheitskitsch – in <strong>der</strong><br />
Schwierigkeit zu bestehen, die eine ernsthafte Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Massenverbrechen<br />
<strong>der</strong> Nazis wohl immer mit sich bringt: die Schwierigkeit, eine Sprache zu<br />
finden und die damit verbundene Angst, etwas Falsches zu sagen. Ein dritter, sehr einfacher<br />
Grund für Abwehr war wohl eine allgemeine Rebellion gegen die Schule und<br />
ihre Logiken. Wir versuchten, uns diesen Aspekten so gut wie möglich zu stellen und<br />
sie in den Reflexionsprozess unseres Projekts zu integrieren. Manchmal gelang es<br />
uns, manchmal scheiterten wir – wohl auch an unseren eigenen Grenzen und Verstrickungen.<br />
Darüber hinaus waren wir allerdings auch mit Antisemitismen und Rechtsextremismen<br />
konfrontiert, die sich auf familiäre Tradierungen, postnazistische Diskurse,<br />
aber auch auf Faszinationen und teilweise ausgesprochene Überzeugungen<br />
zurückführen ließen. Diese stellten uns – wie oben angesprochen – vor die Herausfor<strong>der</strong>ung,<br />
über die Schließung von diskursiven Räumen ebenso sehr nachzudenken<br />
wie über <strong>der</strong>en Öffnung. Dabei setzten wir nicht auf Ausschluss – das wäre in <strong>der</strong><br />
Schule mit ihren Anwesenheitspflichten ja auch gar nicht möglich gewesen. Wir<br />
vermieden es auch nicht, rechte Positionen aufkommen zu lassen – wenn wir allerdings<br />
auch darauf achten wollten, ihnen nicht mehr Raum zu geben als an<strong>der</strong>en.<br />
Entgegen solchen Strategien des Ausschlusses und <strong>der</strong> Vermeidung entschieden wir<br />
uns dafür, selbst Position zu beziehen und diese auch offenzulegen. Wir nahmen in<br />
Kauf, dass dabei ein Dissens entstand und versuchten unsere Position durch die<br />
Zusammenarbeit mit ExpertInnen möglichst ernsthaft zu thematisieren. Wir sehen<br />
diesen Dissens nicht als Scheitern – denn ganz im Gegensatz zur scheinbaren Neutra-<br />
124
lität von Vermeidungsstrategien geht es uns darum, den geschichtspolitischen Einsatz<br />
unserer Arbeit nicht aus den Augen zu verlieren.<br />
Um <strong>der</strong> Konfliktualität <strong>der</strong> damit verbundenen Situationen theoretisch gerecht<br />
zu werden, scheint es sinnvoll, Cliffords Konzept <strong>der</strong> Kontaktzone um einen demokratietheoretischen<br />
Ansatz zu erweitern, <strong>der</strong> vom Umgang mit Dissens ausgeht: dem<br />
Konzept des Agonismus bei Chantal Mouffe. 383 In einer Verdichtung von Clifford<br />
und Mouffe lassen sich unsere Prozesse mit <strong>der</strong> Idee einer „agonistischen Kontaktzone“<br />
als zugleich offene und entschiedene Parteilichkeit beschreiben. In <strong>der</strong> agonistischen<br />
Kontaktzone geht es nicht um „sozial erwünschtes Sprechen“, son<strong>der</strong>n um<br />
Raum für Auseinan<strong>der</strong>setzungen und Konflikte und um einen Kontext, in dem alle<br />
beteiligten Positionen verhandelt werden können. Unsere Haltung ist dabei also nicht<br />
ausschließend, aber doch keineswegs neutral, son<strong>der</strong>n vielmehr dissensuell und auf<br />
Überzeugung ausgerichtet. Lei<strong>der</strong> gelang uns das nicht immer. Unsere Erfahrungen<br />
und die damit verbundenen Reflexionen brachten uns dabei aber sicher ein gutes<br />
Stück weiter. Doch widmen wir uns zum Abschluss und im Hinblick auf die Zukunft<br />
noch einmal jenen methodischen Aspekten des Projekts, die uns gelungen erscheinen.<br />
Da diese oben ausführlich beschrieben wurden, seien sie hier nur noch einmal<br />
zusammengefasst: Der offene Zugang unseres Projekts und die Möglichkeit für die<br />
Jugendlichen, ihre eigenen Fragen zu formulieren, waren insgesamt erfolgreich und<br />
stießen auf großes Interesse. Nicht zuletzt sprechen auch die Ergebnisse <strong>der</strong><br />
SchülerInnen deutlich für den Erfolg dieses Ansatzes. Alle realisierten Projekte<br />
zeugen von dem Wunsch, Geschichte zu erfahren und zu aktualisieren. Eine<br />
wesentliche Rolle spielte dabei die Zusammenarbeit mit ExpertInnen, die eine<br />
Offenheit von unserer Seite für die Entwicklung von Fragen ermöglichte (auch wenn<br />
wir sie selbst vielleicht gar nicht beantworten konnten). Eine weitere sehr gelungene<br />
Methode, die wir im Zuge des Projekts immer wie<strong>der</strong> einsetzen konnten, bestand in<br />
<strong>der</strong> Wissensweitergabe in Form von dezentralen Präsentationen:<br />
ExpertInnengespräche in Kleingruppen ermöglichten informellere und weniger<br />
hierarchische Formen des Austauschs. In Stationen fanden Wissenstransfer und<br />
383 Mouffe versteht Agonismus als „‚konfliktualen Konsens’ <strong>der</strong> den Opponenten als ‚legitimen Feinden’ einen<br />
gemeinsamen symbolischen Raum erschließt.“ Sie schreibt: „An<strong>der</strong>s als den dialogischen Ansatz betrachte ich<br />
die demokratische Diskussion als reale Konfrontation. […] Der fundamentale Unterschied zwischen <strong>der</strong><br />
‚dialogischen’ und <strong>der</strong> ‚agonistischen’ Perspektive liegt darin, daß letztere sich eine tiefgreifende Verän<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> bestehenden Machtverhältnisse und die Schaffung einer neuen Hegemonie zum Ziel setzt.“ Vgl. Mouffe,<br />
Über das Politische, S. 69–70.<br />
125
Wissensproduktion jenseits von Belehrung, Vortrag, Prüfung etc. statt. Auch die<br />
Jugendlichen wurden dabei zu ExpertInnen, ohne sich frontal exponieren zu müssen.<br />
Wir schätzten immer wie<strong>der</strong> das konzentrierte Gemurmel, wenn diese<br />
Kleingruppengespräche bei internen o<strong>der</strong> offiziellen Präsentationen stattfanden. Ein<br />
weiterer und wohl <strong>der</strong> wesentlichste Erfolg des Projekts ist, dass alle Beteiligten<br />
Fragen entwickelten, die etwas mit ihnen zu tun haben und dabei Methoden <strong>der</strong> Recherche<br />
mit aktuellen Themen verknüpften. So gelang es im Projekt, uns anhand <strong>der</strong><br />
Fragen <strong>der</strong> SchülerInnen dem, was geschehen ist, anzunähern, um gemeinsam darüber<br />
zu verhandeln, was dies für die Gegenwart bedeutet.<br />
126
II.2<br />
Räume öffnen/Räume schließen<br />
Die oben beschriebenen Erfahrungen geben einen Einblick in die Schwierigkeiten und<br />
unmöglichen Aufgaben, die mit <strong>der</strong> Geschichtsarbeit in <strong>der</strong> Kontaktzone verbunden<br />
sind. Denken wir an Mary Louise Pratts Feststellungen über die Freuden <strong>der</strong> Contact<br />
Zone:<br />
„Along with rage, incomprehension, and pain there were exhilarating moments of won<strong>der</strong> and revelation,<br />
mutual un<strong>der</strong>standing, and new wisdom – the joys of the contact zone. The sufferings and revelations<br />
were, at different moments to be sure, experienced by every student. No one was excluded, and no<br />
one was safe.“ 384<br />
Die Konfliktlinien im schulischen Zusammenhang sind vielfältig: Unterschiedliche<br />
Geschichtsbezüge, unterschiedliche Kontexte, unterschiedliche Interessen, Geschlechterverhältnisse,<br />
Gruppendynamiken, unterschiedliche Machtverhältnisse und Verhandlungen<br />
zwischen LehrerInnen und SchülerInnen. Vor diesem Hintergrund ist<br />
auch nicht immer gleich auszumachen, was alles gesagt wird, wenn in <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
kommuniziert wird. Oft scheint es gerade die Angst vor dieser Unplanbarkeit zu<br />
sein, die es so schwer macht, <strong>Kontaktzonen</strong> zuzulassen und mit ihnen umzugehen.<br />
Dennoch scheint kein Weg daran vorbei zu führen, wenn wir die Tatsache <strong>der</strong> postnazistischen<br />
Migrationsgesellschaft ernst nehmen.<br />
Und so gilt es sich jeweils neu auf die Kontaktzone einzulassen. Dies erfor<strong>der</strong>t<br />
allerdings einige Klärungen und Fähigkeiten – denn es handelt sich noch nicht um<br />
eine selbstverständliche Praxis in <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong>. Und da es dafür bislang<br />
auch kaum Ausbildungen gibt, fühlen sich viele Lehrende und VermittlerInnen von<br />
den Fallstricken und Spannungsfel<strong>der</strong>n, die mit einer Anerkennung <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
verbunden sind – von ungeteiltem Wissen bis zu Rassismus und Antisemitismus –,<br />
überfor<strong>der</strong>t.<br />
Um für die Herausfor<strong>der</strong>ungen, die jede Kontaktzone allen Beteiligten abverlangt,<br />
besser gewappnet zu sein, schlage ich eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Öffnung<br />
und Schließung von Räumen vor. Eine Öffnung ist notwendig, um die Monoperspektivität<br />
des Frontalunterrichts zu überwinden und mehr Wissen in <strong>der</strong> Vermittlung<br />
zuzulassen. Dies kann allerdings – so die These dieser Arbeit – nur gelingen,<br />
wenn zugleich Grenzen gezogen werden und nicht alles möglich ist. So müssen<br />
384 Pratt, Arts of the Contact Zone, S. 39.<br />
127
Schließungen, die klar und transparent gemacht werden, als eine Möglichkeitsbedingung<br />
für Öffnung gesehen werden. Erstens weil es immer Schließungen gibt und<br />
diese oft einfach unausgesprochen bleiben und zweitens, weil Konflikte selbst nicht<br />
selten sehr schmerzhafte Schließungen produzieren.<br />
Um die Bedeutung einer demokratischen Praxis von Schließungen etwas<br />
anschaulicher zu machen, können etwa die Freien Radios als Beispiel dienen: Hier<br />
wurden in den letzten Jahren gemeinsame Richtlinien gegen Rassismus, Sexismus<br />
und Antisemitismus entwickelt. Diese definieren den Raum, in dem „frei“ gesprochen<br />
werden kann. Sie sind eine Voraussetzung für alle RadiomacherInnen, sind aber nicht<br />
unverhandelbar. Der Wiener Freie Radiosen<strong>der</strong> Orange formuliert dies etwa so:<br />
„ORANGE 94.0 – das Freie Radio in Wien versucht Räume zu schaffen, in denen<br />
eine große Vielfalt an Meinungen, Sprachen und Perspektiven Platz hat. Damit sich in<br />
diesen Räumen möglichst viele möglichst sicher und frei fühlen können, ist es nötig,<br />
dass sich alle daran beteiligen, Sexismus und Rassismus aufzuspüren, die eigene<br />
Herangehensweise zu reflektieren und kritisch damit umzugehen.“ 385<br />
Wie kann diese Herangehensweise <strong>der</strong> Freien Radios auf den Vermittlungszusammenhang<br />
übertragen werden? Im Folgenden werden Bedingungen und Strategien<br />
solcher Öffnungen und Schließungen in <strong>Kontaktzonen</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
genauer betrachtet.<br />
II.2.1 Öffnungen: Handlungsräume in <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
Widmen wir uns zunächst den Öffnungen – denn auch diese sind nicht unkompliziert<br />
und gehen mit Schwierigkeiten einher: Erst nach 2000 kommt die Realität <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
endlich zumindest teilweise auch in den Diskursen <strong>der</strong> pädagogischen<br />
Erinnerungsarbeit zum Nazismus an. 386 Der Diskurs <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
385 http://www.google.at/url?sa=t&rct=j&q=radio%20orange%20rassismus%20sexismus&source=web&cd=2&-<br />
ved=0CCMQFjAB&url=http%3A%2F%2Fo94.at%2Ffilestorage%2Fview%2Fprojekte%2Fimmediate%2F%2FPlakat_Final_DZ_ohneMarken.pdf&ei=0mQAT7GUCY<br />
2VOpem-bAN&usg=AFQjCNEMjAkpt6BqOo2TMHvw_TwhphZbmg&sig2=GcE7wBkPmqIsEast0YWQ_A<br />
(20.01.2012).<br />
386 Paul Mecheril sieht den Hintergrund dafür, dass dies erst so spät thematisierbar wird, in einem „Identitätsproblem“<br />
Deutschlands und Österreichs: „Überraschend und beson<strong>der</strong>s ist wohl aber, dass <strong>der</strong> Umstand, dass auch<br />
<strong>der</strong> Holocaust vor dem Hintergrund unterschiedlicher biographischer Bezüge kontextualisiert und artikuliert<br />
wird, nicht nur erst spät, seit einigen wenigen Jahren, und zudem in einer Geste <strong>der</strong> Überraschung diskutiert<br />
wird. Dies ist beson<strong>der</strong>s beson<strong>der</strong>s; es zeigt, dass es sich bei Österreich und Deutschland um Län<strong>der</strong> ‚mit<br />
Migrationshintergrund’ handelt, die ein Identitätsproblem haben.“ Mecheril, Nicht beson<strong>der</strong>s beson<strong>der</strong>s. Zur<br />
128
verständigt sich endlich selbst darüber, dass er sich öffnen muss. Allerdings ist auch<br />
eine Pädagogik, die auf Heterogenität reagiert, lei<strong>der</strong> stets mit <strong>der</strong> Gefahr verbunden,<br />
„die Unterschiede, auf die sie eingehen will, erst durch andauernde Unterscheidungen<br />
hervorzubringen und festzuschreiben.“ 387<br />
Das Dilemma zwischen <strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong> Homogenisierung einerseits und jener<br />
<strong>der</strong> Zuschreibung von An<strong>der</strong>sheit an<strong>der</strong>erseits ist uns in dieser Arbeit bereits an zahlreichen<br />
Stellen begegnet. Astrid Messerschmidt schreibt in diesem Zusammenhang:<br />
„We<strong>der</strong> eine Ignoranz gegenüber dem Migrationsaspekt, noch dessen identitäre Aufladung entsprechen<br />
den gesellschaftlich-kulturellen Gegebenheiten. Anzustreben ist eher eine Kontextualisierung von Migration<br />
im Zusammenhang vielfältiger Differenzen und Zugehörigkeiten in einem geteilten gesellschaftlichen<br />
Raum, in dem Geschichte repräsentiert wird.“ 388<br />
Das Konzept <strong>der</strong> Kontaktzone beschreibt einen geteilten Raum, einen gemeinsamen<br />
gesellschaftlichen Kontext, in dem dennoch Unterschiede nicht nivelliert werden.<br />
Dies entspricht einer Idee von historisch-politischer Bildung, wie sie Astrid<br />
Messerschmidt skizziert:<br />
„Historisch-politische Bildung, die das gemeinsame und zugleich unterschiedlich motivierte Interesse<br />
von Teilnehmenden an einem Gegenstand zum Ausgangspunkt nimmt, ermöglicht unterschiedliche<br />
Zugänge, ohne diese an eine nationale o<strong>der</strong> kulturelle Identität binden zu müssen. Es geht als nicht<br />
darum, wo jemand herkommt, son<strong>der</strong>n wie die gegenwärtige Beziehung zur Geschichte aussieht.“ 389<br />
Es geht also nicht darum, wo jemand herkommt. Und es geht zugleich auch nicht gar<br />
nicht darum. Denn die gegenwärtigen Bezüge zur Geschichte sind von zahlreichen<br />
Faktoren geprägt. Und viele davon können gar nicht wahrgenommen werden, wenn<br />
die Vielfältigkeit <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft außer Acht gelassen wird. Welche<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> braucht also eine pluralistische, geteilte Gegenwart 390 in <strong>der</strong><br />
Migrationsgesellschaft?<br />
Für die Öffnung von Räumen scheinen zwei Voraussetzungen wesentlich, die<br />
im Folgenden kurz skizziert werden. Erstens geht es um eine kritische Analyse von<br />
Strukturen im Hinblick auf die Herstellung verän<strong>der</strong>ter Bedingungen, die Multiperspektivität<br />
durch eine Pluralisierung von SprecherInnenpositionen möglich machen.<br />
Aneignung <strong>der</strong> historischen Tatsache des Holocaust in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft, Vortragsmanuskript,<br />
Keynote zur Tagung „Und was hat das mit mir zu tun? Perspektiven <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> zu Nazismus<br />
und Holocaust in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft, 17.–20. November 2011, Unveröffentlichtes Manuskript.<br />
387 Messerschmidt, Erinnerungsbeziehungen in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus, S. 1.<br />
388 Ebda., S. 2.<br />
389 Messerschmidt, Involviertes Erinnern, hier S. 279 (Kursivsetzungen im Original).<br />
390 Mit dem Konzept <strong>der</strong> „geteilten Gegenwart“ beziehe ich mich auf jenes <strong>der</strong> „geteilten Geschichten“ in <strong>der</strong> postkolonialen<br />
Theorie. Vgl. Sebastian Conrad, Shalini Ran<strong>der</strong>ia, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in<br />
einer postkolonialen Welt, in: dies., Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichtsund<br />
Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 9–49.<br />
129
Zweitens können Vermittlungsformate, die auf die Öffnung von Sprech-, Denk- und<br />
Handlungsräumen abzielen, <strong>der</strong> agonistischen Kontaktzone einen Rahmen geben.<br />
Wer spricht?<br />
Beginnen wir mit den Strukturen: <strong>Kontaktzonen</strong> können nur dann hergestellt werden,<br />
wenn dabei niemand zum „Objekt“ eines mächtigeren Wissens „über An<strong>der</strong>e“ 391<br />
gemacht wird und Heterogenität als Normalfall auch gelebt werden kann. Dafür<br />
müssten sich Diskurse und Strukturen des Feldes dahingehend verän<strong>der</strong>n, dass dieses<br />
nicht mehr nur von mehrheitsgesellschaftlichen VermittlerInnen bestimmt wird. Denn<br />
auch eine <strong>Geschichtsvermittlung</strong> über den Holocaust muss sich mit <strong>der</strong> Frage „Wer<br />
spricht?“ konfrontieren, wie sie in <strong>der</strong> Institutionskritik und <strong>der</strong> Migrationsforschung<br />
seit den 1990er Jahren immer wie<strong>der</strong> formuliert wurde: Wenn wir also die Vermittlung<br />
verän<strong>der</strong>n wollen, dann müssen wir auch nach den VermittlerInnen und ihren<br />
SprecherInnenpositionen fragen. Und lei<strong>der</strong> wird erinnerungskulturelle Bildungsarbeit<br />
<strong>der</strong>zeit noch weitgehend von mehrheitsgesellschaftlichen AkteurInnen – fast unter<br />
Ausschluss migrantischer SprecherInnenpositionen und marginalisierter Opfergruppen<br />
– getragen. Vor diesem Hintergrund scheint eine kritische Reflexion <strong>der</strong> Bedingungen<br />
von Wissensproduktion (an Schulen, Unis, Gedenkstätten etc.) auch für eine<br />
Herstellung von <strong>Kontaktzonen</strong> und die Öffnung von Räumen wichtig. Paul Mecheril<br />
stellt in diesem Zusammenhang einige einleuchtende Fragen: „Wie viele Wi<strong>der</strong>sprüche<br />
in Bezug auf den Themenkomplex Holocaust, die für ihn vielleicht relevant sind,<br />
kann ein muslimisch gelabelter Schüler gegenüber einem moralisierenden nichtmuslimischen,<br />
sich als ‚deutsch’ o<strong>der</strong> ‚österreichisch’ verstehenden Lehrer formulieren?<br />
Was passiert, wenn die relevanten Wi<strong>der</strong>sprüche nicht gesagt und Fragen nicht<br />
gefragt werden können/dürfen?“ 392<br />
Vor dem Hintergrund dieses weitgehenden Ausschlusses von MigrantInnen als<br />
VermittlerInnen und SprecherInnen aus <strong>der</strong> Erinnerungskultur über den Holocaust<br />
391 Vgl. Bernd Fechler, Gottfried Kößler, Astrid Messerschmidt, Barbara Schäuble, Einleitung, in: dies (Hg.), Neue<br />
Judenfeindschaft?, S. 11–29, hier S. 13: „An die Stelle <strong>der</strong> über lange Jahre auch in erziehungswissenschaftlichen<br />
Diskursen vorherrschenden Normalisierungsperspektive ist in den vergangenen Jahren eine kritische<br />
Reflexion <strong>der</strong> Ausgrenzungsprozesse innerhalb einer auf Integration zielenden Pädagogik getreten. Statt<br />
Alterität unter dem Gesichtspunkt <strong>der</strong> Abweichung und des problematischen An<strong>der</strong>sseins zu betrachten und<br />
‚Wissen über An<strong>der</strong>e’ als ein Wissen herauszubilden, das von sich selbst absieht und zugleich eigene Vorstellungen<br />
auf An<strong>der</strong>e projiziert, werden nun die Wirkungen machtvoller Prozesse <strong>der</strong> Identifizierung und kulturalistischer<br />
Zuschreibungen analysiert.“<br />
392 Mecheril, Nicht beson<strong>der</strong>s beson<strong>der</strong>s.<br />
130
verkompliziert sich das Sprechen. Einerseits heißt das, dass eine gemeinsame Anstrengung<br />
für eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Strukturen nötig ist. Bis dahin und darüber hinaus<br />
besteht vielleicht auch eine Möglichkeit darin, die Ausgangsfrage „Und was hat das<br />
mit mir zu tun?“ immer wie<strong>der</strong> neu zu stellen: Gemeinsam mit <strong>der</strong> Frage „Wer<br />
spricht?“ wird sie zu einem Resonanzraum für eine Thematisierung <strong>der</strong> eigenen<br />
„Privilegiertheit“ 393 , <strong>der</strong> „gestatteten Ignoranz“ 394 ebenso wie <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit den eigenen Verstrickungen im postnazistischen Kontext.<br />
Aber nicht nur die SprecherInnenposition, son<strong>der</strong>n auch das Verhältnis<br />
zwischen jenen, die vermitteln und jenen, denen etwas vermittelt werden soll, kann<br />
anhand <strong>der</strong> Frage „Wer spricht?“ kritisch reflektiert werden: Denn oft sind es weniger<br />
Herkunftsbezüge als pädagogische Verhältnisse – o<strong>der</strong> beides zugleich –, die den<br />
Kontext für das bilden, was in einem Klassenzimmer gesagt und diskutiert wird bzw.<br />
gesagt und diskutiert werden kann. In diesem Sinne geht es auch darum, neue Formen<br />
<strong>der</strong> Vermittlung zu entwerfen: Denn wenn wir Räume öffnen wollen, dann müssen<br />
Ansätze einer gegenseitigen Vermittlung entwickelt werden, die eine Vervielfältigung<br />
von Geschichte(n) und ihren Bezügen möglich machen.<br />
Formate, die Sprechräume schaffen<br />
„Nicht beson<strong>der</strong>s beson<strong>der</strong>s“ 395 – mit diesen Worten bezeichnet Paul Mecheril das<br />
Sprechen von migrantischen Jugendlichen über den Zweiten Weltkrieg und die<br />
nazistischen Massenverbrechen. Aber wie kann das Beson<strong>der</strong>e zugelassen und die<br />
Konstruktion des beson<strong>der</strong>s Beson<strong>der</strong>en zugleich verlernt werden? Welche Formate<br />
müssen entwickelt werden, um <strong>der</strong> Heterogenität aktueller Lernsituationen gerecht zu<br />
werden? Und wie kann mehr sagbar und denkbar werden, ohne dabei Zuschreibungen<br />
zu machen? Paul Mecheril sagt dazu: „Wir ‚brauchen’ ethnographisch geschulte<br />
Lehrer/innen, die <strong>der</strong> Brechtschen Verfremdungstechnik mächtig sind, weil sie eine<br />
Schule des Sehens und an<strong>der</strong>en Interpretierens durchlaufen haben. Wir ‚brauchen’<br />
Sprechräume, die das Uneindeutige und Mehrwertige zulassen – auch im Hinblick auf<br />
den Holocaust.“ 396<br />
393 María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan sprechen in Referenz auf Gayatri Spivak davon, „Privilegien<br />
zu verlernen“. María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie, S. 58–61.<br />
394 „Der Prozess des Verlernens impliziert die Problematisierung <strong>der</strong> eigenen ‚gestatteten Ignoranz’“. Ebda., S. 61.<br />
395 Mecheril, Nicht beson<strong>der</strong>s beson<strong>der</strong>s.<br />
396 Ebda.<br />
131
Um die Entwicklung solcher Sprechräume soll es bei dem Vorschlag einer<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> als agonistischer Kontaktzone gehen. Sehen wir uns dafür das<br />
Dreieck aus dem Kapitel I.2.3 noch einmal an und versuchen wir es mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung<br />
von Paul Mecheril zu verbinden.<br />
Die Kontaktzone braucht zunächst einmal eine Offenheit für unerwartete Bezüge und<br />
Sprechpositionen. Dies ist wohl in <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> nur in Form <strong>der</strong><br />
Projektarbeit 397 möglich. In unserem Projekt haben wir diese Offenheit anhand <strong>der</strong><br />
Entwicklung eigenständiger Recherchefragen umzusetzen versucht. Indem die<br />
Jugendlichen zu Fragen gearbeitet haben, die sie sich selbst gestellt haben, 398 ist es<br />
gelungen, ihre Interessen und Bezüge zum Thema einzubeziehen. Mit Methoden des<br />
„historischen <strong>Lernen</strong>s“ – wie es in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik entwickelt wurde – war die<br />
Vermittlung handlungsorientiert und ergebnisoffen angelegt: Bei <strong>der</strong> Bearbeitung <strong>der</strong><br />
397 Der Trend <strong>der</strong> inner- wie außerschulischen Bildungsarbeit zu Nazismus und Holocaust besteht <strong>der</strong>zeit in unterschiedlichen<br />
Formen <strong>der</strong> Projektarbeit. Die dominantesten Projektkategorien sind dabei Peter Landorfer und<br />
Florian Wenninger zufolge: „Gedenkstättenbesuche, Zeitzeugenbegegnungen, Rechercheprojekte“. Am produktivsten<br />
erscheinen den Autoren letztere, da diese die intensivste und reflexivste Form <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
ermöglichen. Florian Wenninger, Peter Larndorfer, Historisch-politische Bildungsarbeit mit Jugendlichen,<br />
in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Wi<strong>der</strong>standes (Hg.), Jahrbuch 2010, Vermittlungsarbeit<br />
mit Jugendlichen und Erwachsenen, Wien 2010, S. 66–88, hier S. 71.<br />
398 Auch Florian Wenninger und Peter Larndorfer betonen die Produktivität <strong>der</strong> Entwicklung von Fragen bei ihren<br />
Vermittlungserfahrungen bei Studienfahrten zu Gedenkstätten im Rahmen des Vereins Gedenkdienst: „Der<br />
Schwerpunkt unserer Studienfahrten hat sich im Laufe <strong>der</strong> Jahre neben <strong>der</strong> Wissensvermittlung beson<strong>der</strong>s auf<br />
das Erlernen <strong>der</strong> ‚Fähigkeit zu fragen’ verlagert. Im Optimalfall kehren Jugendliche also von einer Studienfahrt<br />
nicht nur mit Wissen um die historischen Vorgänge am besuchten Ort und davon abgeleitet mit mehr Kontextwissen<br />
zurück, son<strong>der</strong>n sie haben sich neue Fragen nach <strong>der</strong> eigenen Identität, <strong>der</strong> Wahrnehmung gesellschaftlicher<br />
historischer Prozesse und nach Praktiken des Gedenkens gestellt.“ Wenninger/Larndorfer, Historischpolitische<br />
Bildungsarbeit, S. 78.<br />
132
Forschungsfragen von Seiten <strong>der</strong> SchülerInnen fand eine Verknüpfung zwischen<br />
historischen Quellen und Medien, fachspezifischen Methoden und ihren eigen<br />
Ansätzen und Interessen statt, ebenso wie eine Reflexion <strong>der</strong> eigenen<br />
Geschichtsbil<strong>der</strong>. 399 <strong>Lernen</strong> konnte auf diese Weise als aktiver Prozess von Suchen<br />
und Forschen stattfinden. 400 Darüber hinaus müsste Offenheit in <strong>der</strong> Kontaktzone –<br />
sofern sie Paul Mecherils For<strong>der</strong>ung nach Wi<strong>der</strong>spruch und Uneindeutigkeit<br />
ermöglichenden Sprechräumen gerecht werden will – damit umgehen, dass das<br />
Thema von den Jugendlichen angeeignet werden kann. Geschichtsaneignung ist hier<br />
im doppelten Sinne des Wortes zu verstehen: als <strong>Lernen</strong> und als For<strong>der</strong>ung einer<br />
Teilhabe an Geschichtsschreibung. Das bedeutet auch, dass das, was geschehen ist,<br />
auf unterschiedliche Weise aktualisiert und mit <strong>der</strong> Erfahrungswelt <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
in Verbindung gebracht werden kann. Mit Offenheit ist weiters ein ernsthaftes<br />
Interesse am Wissen, an den Bezügen und Fragen <strong>der</strong> SchülerInnen gemeint. Hier<br />
kann etwa auf die Tradition <strong>der</strong> „Neuen Geschichtsbewegung“ <strong>der</strong> 1980er Jahre und<br />
<strong>der</strong> damit einhergehenden Praxis eines „gegenseitigen <strong>Lernen</strong>s“ verwiesen werden:<br />
„ (…) <strong>der</strong> bisher übliche Begriff von Kompetenz wird fraglich. Es zeigte sich nämlich, daß die kleinen<br />
Leute auch Experten sind (…). Durch diese Erfahrung ist das Monopol des sogenannten Fachhistorikers<br />
in Frage gestellt. Es gibt zwar unterschiedliche Grade, aber offensichtlich auch unterschiedliche Arten<br />
von Kompetenz. Dies Potential sich zunutze zu machen, heißt aber auch, Abschied von einem an<strong>der</strong>n<br />
Axiom wissenschaftlicher Praxis zu nehmen – <strong>der</strong> einseitigen Aneignung des historischen Materials<br />
durch den Forscher – und Geschichtsarbeit als einen gemeinsamen Arbeitsvorgang und gegenseitigen<br />
Lernprozess zu erfahren.“ 401<br />
In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, sich immer wie<strong>der</strong> selbst die Frage zu stellen,<br />
was wir als VermittlerInnen über das Wissen in <strong>der</strong> Kontaktzone wissen – o<strong>der</strong><br />
ob wir nur auf unser eigenes Wissen fixiert sind. Wie können wir mehr über das Wissen<br />
<strong>der</strong> Jugendlichen erfahren? Und wie können wir sie dabei unterstützen, ihr Wissen<br />
vor dem Hintergrund ihrer eigenen Fragen zu erweitern und zu vertiefen?<br />
Das ist vor allem dann möglich, wenn wir selbst keine Angst vor unseren eigenen<br />
Wissenslücken haben. Denn dies kann durchaus zum gegenseitigen, „entdeckenden“<br />
<strong>Lernen</strong> beitragen. So schreibt Astrid Messerschmidt: „Zeitgeschichtliche Bil-<br />
399 „[I]n handlungsorientierten Zugängen [liegt] eine Möglichkeit, durch die Entwicklung methodischer Kompetenzen<br />
und unter Einhaltung fachwissenschaftlicher Standards bestehende Geschichtsbil<strong>der</strong> zu hinterfragen und<br />
gleichzeitig eine Brücke zu schlagen zwischen den individuellen Erfahrungen <strong>der</strong> Schüler und Schülerinnen<br />
und <strong>der</strong> Geschichte, um so einen Beitrag zur Anbahnung von Geschichtsbewusstsein im Sinne des Fachbegriffes<br />
zu leisten.“ Tagungsbericht HT 2006: Geschichtsbild und Handlungsorientierung, 19.09.2006–22.09.2006,<br />
Konstanz, in: H-Soz-u-Kult, 18.10.2006, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1236<br />
(20.01.2012).<br />
400 Vgl. Mayer, Handlungsorientierter Geschichtsunterricht, S. 33.<br />
401 Heer/Ulrich, Die „neue Geschichtsbewegung“, S. 27.<br />
133
dungsprozesse können erst angestoßen werden, wenn Fragen offen sind und deutlich<br />
wird, dass auch diejenigen, die als pädagogisch Handelnde Zeitgeschichte zum Thema<br />
machen, selbst Fragen haben. Erst dann finden auch die Fragen <strong>der</strong> Teilnehmenden<br />
Resonanz, und ihr eigener Geschichtsbezug kann artikuliert werden.“ 402<br />
Neben <strong>der</strong> Offenheit ist zweitens die Möglichkeit einer reflexiven Bezugnahme auf<br />
die eigenen Fragen und Themen für die Herausbildung eines kritischen Geschichtsbewusstseins<br />
wichtig. Florian Wenninger und Peter Larndorfer berichten aus den<br />
Erfahrungen <strong>der</strong> Studienfahrten zu Gedenkstätten mit SchülerInnen im Rahmen des<br />
Gedenkdiensts:<br />
„Auch in <strong>der</strong> Vermittlung konkreter Inhalte ist es uns wichtig, eine Anleitung zur eigenständigen<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Nationalsozialismus und damit verbundenen Themen zu geben. Dabei<br />
erscheint es uns essenziell, die TeilnehmerInnen und ihre Meinungen ernst zu nehmen, auf Impulse<br />
seitens <strong>der</strong> Gruppe einzugehen und jede Meinung zur Diskussion zu stellen, solange es sich dabei nicht<br />
um gezielte revisionistische Meinungsmache handelt. So treten im Rahmen von Studienfahrten immer<br />
wie<strong>der</strong> antisemitische Vorstellungen latent zu Tage. Diesen wird inhaltlich, in Diskussionen und Workshops<br />
begegnet, die auf Kontextualisierung und Bewusstmachung von Vorurteilen und Klischees zielen.<br />
Wenn Jugendliche etwaige Stereotype, die ihre Vorstellungen prägen, selbst problematisieren und aus<br />
eigenem Antrieb einen adäquaten Umgang damit diskutieren, ist das ein viel wirkungsvolleres Mittel<br />
gegen latenten Rassismus o<strong>der</strong> Antisemitismus als eine Standpauke, die die Autorität des Themas und<br />
des Ortes einsetzt, um zu verhin<strong>der</strong>n, dass die TeilnehmerInnen ihre tief sitzenden Vorurteile offen<br />
thematisieren.<br />
Selbstverständlich muss es auch erlaubt sein, Erinnerungsarbeit, auch jene <strong>der</strong> GruppenleiterInnen zu<br />
kritisieren o<strong>der</strong> die Sinnhaftigkeit einer Gedenkstättenfahrt an sich in Frage zu stellen.<br />
Erinnerungspraxen dürfen hinterfragt und kritisiert werden, sie sollen nicht wie unangreifbare Dogmen<br />
erscheinen.“ 403<br />
Reflexivität war in unserem Projekt <strong>der</strong> Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit<br />
mit ExpertInnen. Mit ihnen konnte die eigene Fragestellung vor dem Hintergrund<br />
des aktuellen Forschungsstandes diskutiert werden. Die Jugendlichen haben die Erfahrung<br />
gemacht, dass sich Geschichte oft viel komplizierter darstellt, als es in den<br />
Schulbüchern erscheint, dass es wi<strong>der</strong>sprüchliche Quellen und vor allem auch Wi<strong>der</strong>sprüche<br />
zwischen historischen AkteurInnen gibt. So wurde es möglich, dass nicht<br />
bloß stereotype Vorstellungen o<strong>der</strong> homogenisierte nationale Erzählungen diskutiert<br />
402 Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 196.<br />
403 Florian Wenninger, Peter Larndorfer, Projektarbeit und externe Kooperationen in <strong>der</strong> historisch-politischen<br />
Bildungsarbeit mit Jugendlichen. Ein Werkstattbericht des Vereins Gedenkdienst, in: DÖW Jahrbuch 2010,<br />
Vermittlungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen, Wien 2010, S. 66–88, hier S. 86.<br />
134
wurden, son<strong>der</strong>n durchaus klar wurde, dass es auch dort Wi<strong>der</strong>stand gab, wo die<br />
meisten kollaborierten etc.<br />
Dies wie<strong>der</strong>um führt uns zum dritten Punkt des Dreiecks: dem Dissens.<br />
Gerade weil es in unserem Projekt auch um Wi<strong>der</strong>sprüche gehen konnte, war es<br />
möglich, über Handlungsmacht nachzudenken. Die Entwicklung von Interventionen<br />
in eine bestehende Gedenkstätte ermöglichte eine Partizipation <strong>der</strong> Jugendlichen.<br />
Dadurch und durch öffentliche ExpertInnengespräche, in denen sie von ihren<br />
Recherchen und Ergebnissen erzählten, beteiligten sie sich am Geschichtsdiskurs.<br />
Soweit also zur Öffnung von Räumen. Wichtig scheint bei all dem auch eine<br />
affirmative Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Scheitern: In <strong>der</strong> Kontaktzone geht es<br />
also darum, auch manchmal „auszuhalten, dass wir anstehen“.<br />
Und genau für die Gefahren und Ängste, die mit dem Scheitern verbunden sind, soll<br />
hier jetzt auch noch einmal ein wenig Platz sein. Denn so gut das alles klingt, scheint<br />
es doch manchmal nicht ganz so einfach möglich zu sein, Räume zu öffnen. Einerseits<br />
weil VermittlerInnen nicht darauf vorbereitet sind o<strong>der</strong> es aus unterschiedlichen mehr<br />
o<strong>der</strong> weniger berechtigten Gründen nicht wollen o<strong>der</strong> können. An<strong>der</strong>erseits weil auch<br />
SchülerInnen nicht immer offen auf Vermittlung und Öffnungen reagieren. Im Hintergrund<br />
steht hier auch eine kritische Frage an das hier vorgestellte Modell: Welcher<br />
Dissens ist in <strong>der</strong> Vermittlung erwünscht und welcher wird mit welchen Mitteln sanktioniert<br />
und warum?<br />
Bevor wir uns also im Weiteren dem Thema <strong>der</strong> – mit dem Ziel <strong>der</strong> Öffnung<br />
einhergehenden – Notwendigkeit von Schließungen widmen, soll hier noch eine Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Abwehrmechanismen stattfinden, die die Vermittlungsarbeit über<br />
den Holocaust begleiten. Damit einhergehend werden einige Gefahren skizziert, die<br />
mit moralisierenden o<strong>der</strong> voreiligen diskursiven Schließungen verbunden sind.<br />
Abwehr und die Moral <strong>der</strong> Betroffenheitspädagogik<br />
Es ist gar nicht so leicht, bei einem aufgeladenen Thema wie dem Holocaust und dem<br />
Nazismus von offenen Handlungsräumen auszugehen. Oft haben wir als VermittlerInnen<br />
selbst sehr persönliche Bezüge und Ängste im Zusammenhang mit dem Thema –<br />
dies führt nicht selten zu sehr hohen Ansprüchen an den pädagogischen Prozess. Das<br />
sieht Matthias Heyl mit Recht eher skeptisch:<br />
135
„Manche Lehrer erwarten bei Reisen zu den ehemaligen Vernichtungslagern von ihren Schülern ein<br />
angemessenes Verhalten, wozu Betroffenheit, Schock und Tränen gehören. Ein Überleben<strong>der</strong> fragte in<br />
Bergen-Belsen: ‚Angemessenes Verhalten an diesem Ort – was ist das? Als ich hier war, wurde hier<br />
gemordet und gestorben. Das war das angemessene Verhalten in Bergen-Belsen …’ Damit versuchte er<br />
zu verdeutlichen, daß es kein angemessenes Verhalten für diese Orte gebe, daß er jedenfalls selber nicht<br />
wisse, wie man sich dort heute verhalten solle.<br />
Wir sollten nach Wegen suchen, die es Jugendlichen ermöglichen, selber Bezüge herzustellen, ihre<br />
Fragen zu entwickeln und Zugänge zu erarbeiten. Und wir sollten vor allem nicht so tun, als wüssten<br />
wir, wie man mit dieser Geschichte angemessen umgeht.“ 404<br />
Gemeinsam mit einer allgemeinen Moralisierung <strong>der</strong> Geschichtskultur über den Holocaust<br />
kann die moralische Aufladung in <strong>der</strong> Vermittlung zu Abwehrreaktionen führen.<br />
Auch Astrid Messerschmidt warnt daher vor einem belehrenden Duktus in <strong>der</strong> Vermittlung:<br />
„In pädagogischen Kontexten zeigen sich Achtundsechziger-Identitäten häufig in <strong>der</strong> Form, dass <strong>der</strong> NS<br />
in Bildungszusammenhängen moralisierend vermittelt wird, so als müssten hier noch immer die Fronten<br />
geklärt werden und als seien die Schüler/innen unter Verdacht zu stellen, sie könnten moralisch indifferent<br />
sein, während sich die Lehrenden auf <strong>der</strong> sicheren Seite wähnen […] Die problematischen Selbstbil<strong>der</strong><br />
eigener moralischer Überlegenheit wirken bis heute nach und wirken sich pädagogisch fatal aus<br />
im Verhältnis zwischen zweiter und dritter Generation, wenn diese Bil<strong>der</strong> dazu führen, dass die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Geschichte in Form einer moralischen Belehrung von oben herab erfolgt und bei den<br />
Zielgruppen zu einem Überdruss und zu Desinteresse führen.“ 405<br />
Dies macht die Auseinan<strong>der</strong>setzung schwerer, ist aber vor dem Hintergrund <strong>der</strong> weiter<br />
oben skizzierten gouvernementalen Erinnerungsfor<strong>der</strong>ung in einer „opferidentifizierten<br />
Gedenkkultur“ 406 – Dan Diner spricht von einem universell drapierten<br />
moralisierenden Diskurs über unterschiedslose Opferschaft 407 – nicht ganz unverständlich.<br />
Aber nicht nur die Vermittlung, auch das Thema selbst produziert Abwehr.<br />
So schreibt Matthias Heyl:<br />
„Die Geschichte des Holocaust weckt fast zwangsläufig Abwehr. Es ist ein ganz normaler psychischer<br />
Schutzmechanismus, daß etwas in uns versucht, den ganzen Schrecken nicht an uns herankommen zu<br />
lassen. Es ist kein leichtes Thema, und es ist eben kein Thema wie jedes an<strong>der</strong>e. Umso wichtiger<br />
erscheint es, nach Wegen zu suchen, auch die Neugier und das Interesse zu wecken, Zugänge nicht<br />
gleich durch einen hohen moralischen Anspruch und durch emotionale For<strong>der</strong>ungen zu verschließen.“ 408<br />
404 Heyl, „Holocaust Education“, S. 9.<br />
405 Messerschmidt, Weltbil<strong>der</strong> und Selbstbil<strong>der</strong>, S. 195.<br />
406 Vgl. Ulrike Jureit, Christian Schnei<strong>der</strong>, Gefühlte Opfer. Illusionen <strong>der</strong> Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart<br />
2010.<br />
407 Vgl. Diner, Gegenläufige Gedächtnisse, S. 9.<br />
408 Heyl, „Holocaust Education“, S. 8.<br />
136
Sozial erwünschtes Sprechen<br />
Eine Form <strong>der</strong> Abwehr ist neben Provokation auch <strong>der</strong> passive Wi<strong>der</strong>stand des „sozial<br />
erwünschten Sprechens“. Da das Thema Holocaust in <strong>der</strong> Vermittlung sehr oft hochgradig<br />
normativ behandelt wird, haben viele SchülerInnen eine Form gefunden, es<br />
nicht an sich herankommen zu lassen, ohne dabei aufzufallen: Sie wie<strong>der</strong>holen die<br />
moralischen, normativen Stehsätze, ohne sie zu reflektieren, zu teilen o<strong>der</strong> mit ihren<br />
Überzeugungen in Einklang zu bringen. Meik Zülsdorf-Kersting macht auf die hochgradig<br />
normative Dimension in <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> über den Holocaust aufmerksam<br />
und analysiert eine Unterrichtssituation:<br />
„Jugendliche kennen diese normativen Setzungen, und sie besitzen eine große Sensibilität, um abschätzen<br />
zu können, was sie sagen ‚dürfen’ und was nicht. Ich erinnere mich an einen Schüler <strong>der</strong> 10. Jahrgangsstufe,<br />
<strong>der</strong> die Deportation ungarischer Juden nach Auschwitz versehentlich als ‚Reise’ bezeichnete<br />
und umgehend Sanktionen <strong>der</strong> gesamten Klassengemeinschaft zu spüren bekam. Seine Mitschülerinnen<br />
und Mitschüler wendeten sich um und schauten den Jungen empört an, die Lehrerin wie<strong>der</strong>holte die<br />
Schüleräußerung ironisierend. Ein meinungsstarker Schüler nannte den Schüler beim Nachnamen und<br />
fragte, ob er eigentlich bei Trost sei. Analytisch geklärt wurde nichts, und trotzdem wird <strong>der</strong> Schüler<br />
seine ‚Lektion’ in Sachen sprachlicher Normierung gelernt haben.“ 409<br />
Zülsdorf-Kersting macht deutlich, dass hier nicht gelernt wird, selbstständig zu<br />
urteilen, son<strong>der</strong>n dass stattdessen eine „Einübung sozial erwünschten Redens“ stattfindet.<br />
Diese spiegelt hegemonietheoretisch gesprochen einen gewissen gesellschaftlichen<br />
Konsens über die Wichtigkeit <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Holocaust –<br />
und eine damit verbundene sprachliche Sensibilisierung und moralische Aufladung –<br />
<strong>der</strong> sicherlich durchaus als Errungenschaft zu verstehen ist und in Deutschland viel<br />
stärker ausgeprägt ist als in Österreich. Zugleich handelt es sich dabei aber auch um<br />
eine normative und normierende Form <strong>der</strong> Oberflächenkommunikation, die oft nicht<br />
den Überzeugungen <strong>der</strong> Jugendlichen entspricht. Denn, so Zülsdorf-Kersting, im<br />
„Vorfeld des Geschichtsunterrichts haben sich die Jugendlichen politisch z. T. höchst<br />
inkorrekte und trotzdem identitätsrelevante Sichtweisen auf den Nationalsozialismus<br />
angeeignet, sie haben aber auch ‚gelernt’, wie sie sich über das Thema ‚Nationalsozialismus’<br />
äußern müssen, um den Erwartungen ihres sozialen Umfelds gerecht zu<br />
werden.“ 410 So haben Jugendliche also als Antwort auf gouvernementale normative<br />
Diskurse eine Form des Sprechens entwickelt, an das sie nicht glauben und das ihnen<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungen erspart. Die Frage ist nun, wie die Vermittlung darauf<br />
409 Zülsdorf-Kersting, Die Ambivalenz <strong>der</strong> sozialen Erwünschtheit.<br />
410 Ebda.<br />
137
eagieren kann und soll. Meik Zülsdorf-Kersting plädiert für einen Ansatz, <strong>der</strong><br />
individuelle Voreinstellungen nicht unterdrückt, son<strong>der</strong>n reflektierbar macht und<br />
mehr Spielraum für Auseinan<strong>der</strong>setzung und Deutung erlaubt: „Schülerinnen und<br />
Schüler müssen beim Thema Holocaust wie bei allen an<strong>der</strong>en Themen auch<br />
uneindeutige Zusammenhänge kennenlernen, die kontroverse Urteile erlauben. Der<br />
Holocaust und seine Vorgeschichte würden keinen Deut weniger schlimm, wenn die<br />
Schülerinnen und Schüler diese Uneindeutigkeiten kontrovers diskutierten.“ 411 Das<br />
klingt plausibel, hilft aber vielleicht nicht immer, wenn es gilt, im konkreten Fall zu<br />
entscheiden, welche Grenzen überschritten und welche gesetzt werden sollen. Die<br />
Ambivalenz <strong>der</strong> Öffnung und Schließung von Räumen stellt sich daher immer wie<strong>der</strong><br />
neu, spezifisch und konkret in <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> und Gedenkstättenarbeit. Es<br />
handelt sich dabei also auch in diesem Zusammenhang um eine wi<strong>der</strong>sprüchliche,<br />
gleichzeitig unmögliche und notwendige Aufgabe, um eine „Mission Impossible“,<br />
wie Susanne Ulrich sie nennt. Im Moment <strong>der</strong> Entwicklung von Strategien <strong>der</strong><br />
Öffnung in <strong>der</strong> Gedenkstättenpädagogik fragt sie ein weiteres Mal: „Doch wie viele<br />
Sichtweisen sind in einem ehemaligen Konzentrationslager vertretbar? Was wiegt die<br />
Meinungsfreiheit, wenn die geäußerte Meinung das Leiden <strong>der</strong> Opfer<br />
bagatellisiert?“ 412<br />
II.2.2 Schließungen: Wie umgehen mit Antisemitismus und<br />
Rechtsextremismus?<br />
So kommen wir nun also zu <strong>der</strong> Frage nach notwendigen Grenzziehungen von Seiten<br />
<strong>der</strong> VermittlerInnen. Diese geht, wie wir gesehen haben, mit einer Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Möglichkeitsräumen und Grenzerfahrungen 413 einher. Um Grenzen ziehen<br />
zu können, scheint es zunächst einmal wichtig, eine differenziertere Perspektive auf<br />
jene Diskurse und Spannungsfel<strong>der</strong> zu werfen, die diese notwendig machen. Konkret<br />
scheint dies vor allem im Zusammenhang mit Antisemitismus und Rechtsextremis-<br />
411 Ebda.<br />
412 Susanne Ulrich, Mission Impossible? Demokratielernen an NS-Gedenkstätten, in: Barbara Thimm, Gottfried<br />
Kößler, Susanne Ulrich (Hg.), Verunsichernde Orte. Selbstverständigung und Weiterbildung in <strong>der</strong> Gedenkstättenpädagogik,<br />
Frankfurt am Main 2010, S. 53–58, hier S. 53.<br />
413 Ich danke Peter Larndorfer für diese Formulierung im Workshop im Rahmen <strong>der</strong> Tagung „Und was hat das mit<br />
mir zu tun? Perspektiven <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> zu Nazismus und Holocaust in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft“,<br />
17.–20. November 2011, Wien.<br />
138
mus von Nöten zu sein und soll daher im Folgenden geschehen:<br />
Antisemitismus<br />
Beson<strong>der</strong>s wichtig und zugleich sensibel scheinen Grenzziehungen, wenn es um Antisemitismus<br />
geht. Dafür gilt es, diesen erst einmal zu erkennen und einzuschätzen. Die<br />
bestehende Forschungslage scheint dieser Tatsache lei<strong>der</strong> nur sehr wenig gewachsen:<br />
Denn im Diskurs <strong>der</strong> deutschsprachigen Erinnerungskultur findet eine problematische<br />
Exotisierung und Marginalisierung migrantischer SprecherInnenpositionen statt.<br />
Gleichzeitig gibt es in <strong>der</strong> Migrationsforschung und <strong>der</strong> Postkolonialen Theorie – und<br />
auch das ist lei<strong>der</strong> sehr problematisch – eine weitgehende Verleugnung von Antisemitismus<br />
sowie einen Mangel an Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dessen spezifischen Logiken<br />
und Funktionsweisen. Einerseits besteht bei einem Sprechen über Antisemitismus in<br />
<strong>der</strong> Migrationsgesellschaft also die Gefahr einer Externalisierung des Antisemitismus<br />
auf MigrantInnen – wie dies vor allem in medialen, aber auch in pädagogischen Kontexten<br />
lei<strong>der</strong> allzu häufig vorkommt. 414 An<strong>der</strong>erseits erschwert gerade diese Tatsache<br />
eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Antisemitismus, die we<strong>der</strong> rassistische Zuschreibungen<br />
reproduziert noch eine spezifische antisemitische Rhetorik bzw. neue diskursive antisemitische<br />
Angebote (die durch die Amalgamierung unterschiedlicher Stereotype<br />
entstehen) unter den Teppich kehrt. Demgegenüber scheint es für unsere Frage nach<br />
<strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> über den Holocaust in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft wichtig,<br />
zu einem differenzierteren Bild zu gelangen, das den Antisemitismus we<strong>der</strong> den<br />
„An<strong>der</strong>en“ zuschreibt noch verharmlost bzw. verleugnet.<br />
Insgesamt scheint die Schule in ihren Strukturen und Lehrplänen nicht genügend<br />
für die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Antisemitismus ausgestattet zu sein: Andreas<br />
Peham und Elke Rajal stellen fest, dass „Lehrende nur unzureichend auf die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem Antisemitismus und <strong>der</strong> Shoah im Unterricht vorbereitet“ 415<br />
seien. „Zudem legen unsere Erfahrungen im pädagogischen Feld den Verdacht nahe,<br />
dass antisemitische Stereotype manchmal auch von Seiten <strong>der</strong> Lehrenden (oft unbe-<br />
414 Vgl. Fechler/Kößler/Messerschmidt/Schäuble, Einleitung, S. 11: „Während bis zur Jahrtausendwende die<br />
pädagogische – genau wie die öffentliche – Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus<br />
im vereinten Deutschland unter einer dominanten herkunftsdeutschen Perspektive stattfand und Funktionen<br />
des ‚Nation Building’ erfüllte – wobei Migranten und ihre Geschichts- und Gegenwartsbezüge kaum<br />
eine Rolle spielten –, tendierte die jüngste Debatte eher dazu, auf Migranten als ‚Troublemaker’ zu fokussieren<br />
und in <strong>der</strong> deutschen Gesellschaft vorhandene erinnerungspolitische Kontinuitäten und familiäre Bindungen an<br />
die NS-Volksgemeinschaft auszublenden.“<br />
415 Peham/Rajal, Antisemitismus in Österreichs Klassenzimmern.<br />
139
wusst) weitergegeben werden.“ 416<br />
Dem pflichtet auch Werner Dreier, <strong>der</strong> Geschäftsführer von erinnern.at – ein<br />
Vermittlungsprojekt des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur für<br />
Lehrende an österreichischen Schulen – bei und macht deutlich, dass es in puncto<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Antisemitismus ein Desi<strong>der</strong>at an Österreichs Schulen gibt:<br />
„Damit in <strong>der</strong> Schule antisemitische Haltungen, Artikulationsweisen, Welterklärungen besprechbar<br />
werden, ist die erste und unabdingbare Voraussetzung, dass Lehrer/innen Antisemitismus überhaupt<br />
wahrnehmen und nicht beiseite schieben. Dazu – und um angemessen mit den <strong>Lernen</strong>den darüber zu<br />
sprechen – benötigen sie Wissen über Antisemitismus – über sein Auftreten in Geschichte und Gegenwart,<br />
über seine Artikulatoren und die von ihnen verfolgten Ziele, über Wirkungsmechanismen von<br />
Antisemitismus und an<strong>der</strong>en Verschwörungstheorien (z. B. Reduktion von komplexer Wirklichkeit,<br />
Ableitung von sozialem Protest).“ 417<br />
Antisemitismus als diskursive Ressource<br />
Paul Mecheril bezeichnet Antisemitismus als „diskursive Ressource“, die allen in <strong>der</strong><br />
postnazistischen Gesellschaft zur Verfügung steht. Er spricht von „antisemitischen<br />
Figuren als kontextspezifische, mikrokommunikative Handlungsmöglichkeit“ und<br />
von „Antisemitismus als diskursiv zur Verfügung stehende fragmentierte, flexibel<br />
einsetzbare Deutungs- und Sprechoption“. 418 Diese kann in <strong>der</strong> Kontaktzone verschiedene<br />
Funktionen haben:<br />
„Für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus in heterogenen Lerngruppen bedarf es einer<br />
Aufmerksamkeit dafür, dass mit antisemitischen Topoi Zugehörigkeit und Erfahrungen <strong>der</strong> Nichtzugehörigkeit<br />
verhandelt werden. Die Äußerung von Antisemitismus eignet sich dabei sowohl zur Provokation<br />
und zur Differenzmarkierung als auch zum Erzeugen von Zustimmung. Antisemitische Projektionen<br />
werden auf einem Terrain artikuliert, auf dem die Zugehörigkeiten umkämpft sind und auf dem an<br />
verschiedene Geschichtspolitiken und Erinnerungsdiskurse angeknüpft wird.“ 419<br />
Auch wenn o<strong>der</strong> gerade weil expliziter und offener Antisemitismus gesellschaftlich<br />
diskreditiert ist, heißt dies nicht, dass er nicht mehr existiert. Als Tabu und mächtiges<br />
Scheinwissen schreibt er sich weiterhin in Diskurse und Handlungen ein. Dan Diner<br />
schreibt in diesem Zusammenhang:<br />
„Mit dem Holocaust ist <strong>der</strong> klassische, vom Bekenntnis wi<strong>der</strong> die Juden getragene Antisemitismus<br />
zerstoben. Moralisch zerborsten, vermag er sich nicht begriffsnah zu verdichten. Ohne angemessene<br />
Begriffsdichte lassen sich Juden als Juden entgegengebrachte abträgliche Regungen freilich nur wenig<br />
416 Ebda.<br />
417 Werner Dreier, „Die Tirolerin, die ich bin, und die Antizionistin, die ich wurde..." Antisemitismus, Schule und<br />
Öffentlichkeit, auf http://www.erinnern.at/bundeslaen<strong>der</strong>/oesterreich/e_bibliothek/antisemitismus-<br />
1/649_Dreier,%20Antisemitismus-Schule-Offentlichkeit.pdf/view<br />
418 Mecheril, Nicht beson<strong>der</strong>s beson<strong>der</strong>s.<br />
419 Fechler/Kößler/Messerschmidt/Schäuble, Einleitung, S. 13.<br />
140
fassen. Was bleibt, sind gleichsam aus <strong>der</strong> Zerfallsmasse von einer begrifflich gedeckten Vorstellung<br />
von Antisemitismus hervorgegangene Partikel des Ressentiments. Sie legen sich wie Mehltau unterschiedlicher<br />
Konsistenz über die jeweils inkriminierten, mit den Juden in Verbindung gebrachten<br />
Phänomene. Diesen Partikeln des Ressentiments sollte, in Unterscheidung zur vormaligen, historischen<br />
Dichte, vielleicht kein antisemitischer, son<strong>der</strong>n eher ein antisemitisieren<strong>der</strong> Charakter zugeschrieben<br />
werden. Dieser freilich scheint allgegenwärtig.“ 420<br />
Wenn wir uns dies vor Augen führen, ist es wichtig, sich auch über die eigenen Verstrickungen<br />
bewusst zu werden. So machen Andreas Peham und Elke Rajal deutlich:<br />
„Gerade für die Arbeit mit Jugendlichen gilt, den Antisemitismus nicht nur bei den<br />
an<strong>der</strong>en festzustellen, son<strong>der</strong>n als Diskurs zu begreifen, in welchen alle – also auch<br />
die Lehrenden – mehr o<strong>der</strong> weniger stark verstrickt sind.“ 421<br />
Denn nur wenn Antisemitismus nicht als Vorwurf und nie wie<strong>der</strong> gut zu machen<strong>der</strong><br />
Fehler behandelt wird, son<strong>der</strong>n als diskriminieren<strong>der</strong> Diskurs, <strong>der</strong> hinterfragt<br />
werden kann und muss, 422 wird dieser auch bekämpf- und verlernbar:<br />
„Eine Pädagogik, die auf prinzipieller Anerkennung und Akzeptanz des Gegenübers basiert, verbirgt die<br />
eigene Ablehnung des Antisemitismus nicht, vermeidet es aber, in ihren Versuchen die von den SchülerInnen<br />
vorgebrachten Stereotype aufzulösen, eine belehrende Position einzunehmen. Sie bezieht den<br />
Alltag <strong>der</strong> SchülerInnen mit ein und analysiert vor seinem Hintergrund die Ursachen und Funktionen des<br />
jeweiligen antisemitischen Ressentiments.“ 423<br />
Das klingt gut, ist aber nicht so einfach. Denn hier ergibt sich ein Wi<strong>der</strong>spruch zwischen<br />
einer grundsätzlichen Offenheit für die Positionen <strong>der</strong> SchülerInnen und einer<br />
gleichzeitigen grundsätzlichen Ablehnung von Antisemitismus. Die HerausgeberInnen<br />
eines Sammelbandes zum pädagogischen Umgang mit Antisemitismus formulieren<br />
dies so:<br />
„Der Spagat für die pädagogisch Handelnden besteht dabei darin, dass einerseits – um mit den<br />
<strong>Lernen</strong>den im Gespräch zu bleiben – <strong>der</strong> Antisemitismus nicht in Form einer Beschuldigung<br />
angesprochen werden darf, an<strong>der</strong>erseits antisemitische Argumente als antisemitisch und deshalb<br />
inakzeptabel benannt werden müssen. Diese Haltung markiert den doppelten Anspruch an die<br />
Bildungsarbeit, Position gegen Antisemitismus zu beziehen und dabei die <strong>Lernen</strong>den nicht aus dem<br />
Lernprozess auszuschließen.“ 424<br />
Um dies jeweils konkret bewerkstelligen zu können, ist eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />
Antisemitismus eine wesentliche Voraussetzung: „Insofern stellt die Fähigkeit, Anti-<br />
420 Dan Diner, Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines „neuen Antisemitismus“, in:<br />
Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznai<strong>der</strong> (Hg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt<br />
am Main 2004, S. 310–329, hier S. 310.<br />
421 Peham/Rajal, Antisemitismus in Österreichs Klassenzimmern.<br />
422 „Die Verwendung antisemitischer Stereotype seitens Jugendlicher ist zumeist – ohne frühe Ideologisierung o<strong>der</strong><br />
Fanatisierung in nationalistischer, rechtsextremer o<strong>der</strong> islamistischer Umgebung – kein Ausdruck eines geschlossenen<br />
Weltbildes, son<strong>der</strong>n die Folge unreflektierter Übernahme des herrschenden Sprechens über die<br />
Juden.“ Ebda.<br />
423 Ebda.<br />
424 Fechler/Kößler/Messerschmidt/Schäuble, Einleitung, S. 13.<br />
141
semitismus und dessen Funktionsweisen zu erkennen, eines <strong>der</strong> vorrangigen Ziele<br />
je<strong>der</strong> (Weiter-)Bildungsarbeit dar.“ 425 Daher soll nun noch jenen aktuellen Ausdrucksformen<br />
von Antisemitismus nachgegangen werden, die im pädagogischen Alltag<br />
auftreten.<br />
Postnazistischer Antisemitismus in <strong>der</strong> Dominanzkultur<br />
Unter Angehörigen <strong>der</strong> Dominanzkultur ist <strong>der</strong> Antisemitismus durch soziale und<br />
familiäre Kontinuitäten im Postnazismus geprägt. Nach wie vor lässt sich Klaus Holz<br />
zufolge also „ohne Vorbehalt behaupten, daß <strong>der</strong> Kern des demokratischen Antisemitismus<br />
die ‚Vergangenheitsbewältigung’ durch eine Umkehr des Täter-Opferverhältnisses<br />
ist.“ 426 Hier wird von einem Antisemitismus „nicht trotz, son<strong>der</strong>n wegen<br />
Auschwitz“ 427 gesprochen. Dieser zeichnet sich vor allem durch Folgendes aus:<br />
*** Erinnerungsabwehr und Schuldumkehr<br />
Adorno sprach bereits in den 1950er Jahren von einem „sekundären Antisemitismus“<br />
bzw. von einem „Schuld- und Erinnerungsabwehr-Antisemitismus“ 428 Damit meinte<br />
er Argumentationsmuster, die JüdInnen 429 als Kollektiv, das an die Verbrechen erinnern<br />
will, diskreditieren. Dies geschieht zum Beispiel in dem Stereotyp, JüdInnen<br />
würden den Holocaust für eigene Zwecke instrumentalisieren o<strong>der</strong> indem sie als<br />
„TäterInnenvolk“ hingestellt werden. So amalgamiert sich die Kritik an Israel und den<br />
USA 430 im Postnazismus mit Motiven <strong>der</strong> Entlastung <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> NS-Nachfolgestaaten.<br />
Andreas Peham und Elke Rajal machen etwa im Rahmen von Fortbildungen<br />
immer wie<strong>der</strong> die Beobachtung,<br />
„dass umgehend die israelische Politik auf das Tapet gebracht wird, wenn Antisemitismus und Shoah,<br />
Schuld und Verantwortung thematisiert werden. Gerade dort, wo letztere nicht mehr abgewehrt werden,<br />
sind <strong>der</strong>artige Entlastungsversuche zu bemerken. Wenn nun auch die mittlerweile dritte Generation<br />
begonnen hat, die Schuld <strong>der</strong> ersten anzuerkennen, so bedeutet das kein Ende des Antisemitismus, wie<br />
dies mancherorts behauptet wird.“ 431<br />
425 Ebda.<br />
426 Klaus Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft,<br />
Hamburg 2005, S. 57.<br />
427 Henryk M. Bro<strong>der</strong>, Der ewige Antisemit, Frankfurt am Main 1986, S. 11.<br />
428 Vgl. Theodor W. Adorno, Schuld und Abwehr, , in: <strong>der</strong>s., Soziologische Schriften II, Gesammelte Schriften Bd.<br />
9.2., Frankfurt am Main 1977, S. 121–324.<br />
429 Für die Kollektivbezeichnung verwende ich die generische Form JüdInnen – auch wenn sie grammatikalisch<br />
durch den Umlaut Probleme aufwirft, meine ich selbstverständlich die männliche Form mit.<br />
http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/das_grosse_i_<strong>der</strong>_idiotie/<br />
430 Vgl. Dan Diner, Feinbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, München 2002.<br />
431 Peham/Rajal, Antisemitismus in Österreichs Klassenzimmern.<br />
142
*** „Demokratischer Antisemitismus“<br />
Klaus Holz definiert „demokratischen Antisemitismus“ als „Judenfeindschaft, die in<br />
<strong>der</strong> demokratischen Öffentlichkeit geäußert wird“ bzw. als „judenfeindliche Äußerungen,<br />
die als scheinbar legitime Meinungen ‚in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Gesellschaft’ veröffentlicht<br />
werden.“ 432<br />
Die Situation in Österreich stellt sich, was diesen „demokratischen Antisemitismus“<br />
betrifft, tatsächlich ganz an<strong>der</strong>s dar als in Deutschland. Ruth Beckermann<br />
schreibt im Jahr 2005 anlässlich <strong>der</strong> Neuauflage ihres 1989 erstmals erschienenen<br />
Buches „Unzugehörig“: „Erstaunt war ich beim Durchlesen meines Essays wohl<br />
darüber, daß das Lebensgefühl <strong>der</strong> Unzugehörigkeit, in welcher ich ihn geschrieben<br />
hatte – durch die Ereignisse mal abgeschwächt, dann wie<strong>der</strong> bestärkt – Bestandteil<br />
jüdischen Lebens in diesem Land bleibt.“ 433 Antisemitismus ist hier sowohl in pädagogischen,<br />
als auch in medialen 434 , politischen und sozialen 435 Zusammenhängen<br />
weniger diskreditiert. 436 Viele Jugendliche, die in Österreich ja ab 16 wahlberechtigt<br />
sind, wählen die FPÖ. 437 Sie vertreten Rassismus und Antisemitismus teilweise selbst<br />
als ihnen zufolge „legitime“ Positionen.<br />
432 Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus, S. 56.<br />
433<br />
Ruth Beckermann, Unzugehörig, 2. Auflage, Wien 2005, S. 7.<br />
434<br />
„Antisemitische Haltungen und Diskursmuster ziehen sich wie <strong>der</strong> sprichwörtliche rote Faden durch das öffentliche<br />
Leben <strong>der</strong> Zweiten Republik, sei es in politischen Debatten, sei es in den Medien. (…) Der antisemitische<br />
Diskurs in <strong>der</strong> österreichischen Öffentlichkeit kommt mit Andeutungen aus, weil er sich auf Bil<strong>der</strong> vom ‚Juden’<br />
bezieht, die zur kulturellen Grundausstattung gehören.“, schreibt Werner Dreier und berichtet von den antisemitischen<br />
Beschimpfungen, die dem Dornbirner Gymnasiallehrer Werner Bundschuh entgegenschlugen, als er<br />
2004 den Vorstoß machte, „seine Schule in ‚Hans-Elkan-Gymnasium’ – nach dem von den Nazis ermordeten<br />
Hohenemser Historiker und Gymnasiallehrer – zu benennen“. Dreier, „Die Tirolerin, die ich bin, und die<br />
Antizionistin, die ich wurde ...".<br />
435 Ebda.: „Ganz selbstverständlich und praktisch nie kritisiert sprechen Vorarlberger Kin<strong>der</strong> und Jugendliche von<br />
‚Judenfürzen’ und meinen damit kleine Knallkörper.“<br />
436 Ebda.: „Das antisemitische Sprechen geschieht in Österreich auf zwei Ebenen: Während im vertrauten Milieu<br />
<strong>der</strong> bekannten und einschätzbaren Adressaten antisemitisches Reden den Systembruch von 1945 unbeeinträchtigt<br />
überdauerte, etablierte sich auf <strong>der</strong> Ebene des ‚öffentlichen’ das heißt: eben nicht an ausgewählte Adressaten<br />
gerichteten – Diskurses ein vorsichtigeres, überwiegend mit Andeutungen operierendes Sprechen. (…) Die<br />
generationsübergreifende Weitergabe von antijüdischen Vorurteilen läuft auf mehreren, teilweise sich überlappenden<br />
Ebenen ab: in den Medien (…), beson<strong>der</strong>s aber in <strong>der</strong> ‚kleinen’ Öffentlichkeit <strong>der</strong> Familie und des engeren<br />
Kreises von Freunden und Verwandten; nicht zu vergessen aber auch: in <strong>der</strong> (katholischen) Kirche (…)<br />
Österreicherinnen und Österreicher zogen aus dem Holocaust nicht so sehr die Lehre, dass es wichtig ist, sich<br />
vom Antisemitismus frei zu machen, son<strong>der</strong>n sie lernten vielmehr, ihre Artikulationsweise so anzupassen, dass<br />
sie nicht als Antisemiten gebrandmarkt werden können. Wir haben es also mehr mit einer gewandelten Artikulationsweise<br />
als mit einer gewandelten Einstellung zu tun.“<br />
437 Bei den Nationalratswahlen 2008 war die FPÖ bei den Unter-30-Jährigen mit 44 % die stärkste Partei. Vgl.<br />
profil, Nr. 41, 39. Jahrgang vom 6. Oktober 2008. Und auch bei den Wiener Gemein<strong>der</strong>atswahlen 2010 schnitt<br />
die FPÖ bei SchülerInnen mit 20 % überdurchschnittlich stark ab:<br />
http://www.sora.at/themen/wahlverhalten/wahlanalysen/grw-wien10.html (20.01.2012).<br />
143
*** Relativierung und Leugnung des Holocaust<br />
Immer wie<strong>der</strong> kommt es auch vor, dass SchülerInnen den Holocaust mehr o<strong>der</strong><br />
weniger offen in Frage stellen und sich rechtsextrem äußern. Werner Dreier berichtet<br />
vom Antisemitismus dreier SchülerInnen in Vorarlberg, die eine kleine Neo-Nazi-<br />
Gruppe gebildet hatten und im Unterricht Zettel mit „abscheulichsten antisemitischen<br />
Sprüchen“ verfassten. 438 Dieser spezifischen antisemitischen und rassistischen Realität,<br />
<strong>der</strong> wir uns in <strong>der</strong> Vermittlung ebenfalls stellen müssen, wird unter „Rechtsextremismus“<br />
noch ein eigenes Subkapitel gewidmet sein.<br />
Antisemitische Diskurse in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft 439<br />
Antisemitische Diskurse in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft sind we<strong>der</strong> ganz an<strong>der</strong>s noch<br />
völlig gleich wie jene, die anhand von Sprachspielen <strong>der</strong> Dominanzkultur analysiert<br />
wurden. Sie sind einerseits selbst Teil dessen, was in einer postnazistischen Gesellschaft<br />
gesagt wird und stehen an<strong>der</strong>erseits zuweilen auch in an<strong>der</strong>en Bezugszusammenhängen.<br />
So wie alle an<strong>der</strong>en gesellschaftlichen Diskurse und Praktiken verän<strong>der</strong>t<br />
sich also auch <strong>der</strong> Antisemitismus in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft: Verschiedene Topoi<br />
und Argumentationsmuster gehen neue Verbindungen ein. Ein solcher Diskurs ist <strong>der</strong><br />
muslimische Antisemitismus.<br />
*** Islamischer Antisemitismus<br />
Dieser steht einerseits mit einem in <strong>der</strong> arabisch-muslimischen Welt verbreiteten<br />
Antisemitismus in Verbindung.<br />
„In <strong>der</strong> arabisch-muslimischen Welt findet die Holocaust-Leugnung heute große Resonanz, scheint<br />
damit doch eine Delegitimierung des Existenzrechts Israels gegeben zu sein. Neben <strong>der</strong> völligen Leugnung<br />
finden sich abgeschwächte Formen, indem die Anzahl <strong>der</strong> Opfer heruntergerechnet o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Holocaust<br />
mit Hinweis auf die Opferzahlen an<strong>der</strong>er Völkermorde relativiert wird.“ 440<br />
An<strong>der</strong>erseits und vor allem findet <strong>der</strong> islamische Antisemitismus allerdings im<br />
postnazistischen Kontext Ausdrucksformen, die sich direkt an<br />
mehrheitsgesellschaftliche Diskurse anschließen lassen und auch nicht völlig<br />
unabhängig von den strukturellen Rassismen <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft lesbar sind.<br />
438 Dreier, „Die Tirolerin, die ich bin, und die Antizionistin, die ich wurde ...“.<br />
439 Gemeint ist hier weiterhin nicht die Zuschreibung „MigrantInnen“, son<strong>der</strong>n eine Gesellschaft, die die Geschichte<br />
und Realität von Migration als ihren Teil anerkennt und die damit verbundenen Wissensformen, aber auch<br />
problematischen Diskurse nicht ausschließt, verdrängt o<strong>der</strong> verleugnet.<br />
440 Werner Bergmann, Erscheinungsformen des Antisemitismus in Deutschland heute, in: Fechler/Kößler/Messerschmidt/Schäuble<br />
(Hg.), Neue Judenfeindschaft?, S. 44.<br />
144
„Zweifellos zählt zu den <strong>der</strong>zeit aktualisierten Traditionsbezügen auch <strong>der</strong> Rückgriff<br />
auf die Idee, als Moslem müsse man Juden ablehnen. Diese Vorstellung hat ihre<br />
Wurzeln nicht direkt in den in <strong>der</strong> arabisch-muslimischen Welt ausgeprägten Formen<br />
des Antisemitismus, son<strong>der</strong>n vielmehr in einer gesellschaftlichen Situation, die<br />
alltagspraktische Adaptionen eines arabisch-nationalistischen o<strong>der</strong> islamistisch<br />
grundierten antisemitischen Diskurses mit sich bringt. Der Umgang mit Min<strong>der</strong>heiten<br />
in einer Einwan<strong>der</strong>ungsgesellschaft, die lange Zeit keine sein wollte und die Frage <strong>der</strong><br />
verweigerten Zugehörigkeiten lange verdrängt hat, trägt zum Anknüpfen an<br />
Denkmuster bei, mit denen projektive Verursacher für die eigene Misere angeboten<br />
werden. Aufgegriffen werden dabei sowohl Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> europäisch-christlichen<br />
Traditionen als auch aktuell populäre Auffassungen in islamisch geprägten<br />
Gesellschaften. Gerade weil <strong>der</strong> islamistische Antisemitismus auf den Fundus des<br />
christlichen Antijudaismus sowie des Antisemitismus europäischer Prägung<br />
zurückgreift, ist er so leicht anschlussfähig.“ 441<br />
Im islamischen Antisemitismus werden also alte antisemitische Ressentiments und<br />
Topoi genutzt, geschürt und mit einer Kritik an Israel bzw. einer Infragestellung von<br />
dessen Existenzrecht in Verbindung gebracht. Und in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft mit<br />
all ihren strukturellen Rassismen und Inegalitäten kommt es zu migrantischen Subjektivierungen,<br />
die sich mit dem Kampf <strong>der</strong> PalästinenserInnen identifizieren – und vor<br />
diesem Hintergrund lei<strong>der</strong> auch muslimische Antisemitismen reproduzieren. Nun ist<br />
nicht jede Bezugnahme auf Israel antisemitisch. Dennoch gibt es eben antisemitische<br />
Bezugnahmen auf Israel. Und wenn die Kritik an Israel in den Zusammenhang mit<br />
einer Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Holocaust gestellt wird, so ist sie doch in jedem<br />
Fall problematisch. Um dieser komplexen Frage etwas mehr Raum zu geben, wird in<br />
Kapitel II.2.3 <strong>der</strong> Israel/Palästina-Konflikt als Projektionsfläche thematisiert.<br />
*** „Sozial erwünschtes Sprechen“<br />
Auch sozial erwünschtes Sprechen spielt bei MigrantInnen eine spezifische Rolle. Die<br />
reale strukturelle und materielle Benachteiligung von MigrantInnen in <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
(u. a. durch gesetzliche Ungleichstellungen und die Ethnisierung des Sozialen)<br />
führt dazu, dass Provokation manchmal weniger sozialen Gewinn zu bringen scheint:<br />
So wurden offener und expliziter Antisemitismus in unserem Projekt eher von domi-<br />
441 Fechler/Kößler/Messerschmidt/Schäuble, Einleitung, S. 14.<br />
145
nanzkulturellen Jugendlichen geäußert. Dies kann damit zu tun haben, dass viele<br />
jugendliche MigrantInnen verständlicherweise nicht negativ auffallen bzw. stereotypisiert<br />
werden wollen. Astrid Messerschmidt stellt die Frage: Wie werden pädagogische<br />
Machtverhältnisse von denen erlebt, die immer wie<strong>der</strong> ihre Zugehörigkeit<br />
legitimieren müssen und denen häufig Integrationsdefizite unterstellt werden? Sie<br />
behalten ihre Vorurteile dann eher für sich und lassen die Auseinan<strong>der</strong>setzung möglichst<br />
nicht an sich herankommen. Gerade weil es die rassistische Zuschreibung gibt,<br />
dass MuslimInnen antisemitisch sind, wird es also manchmal unmöglich, über <strong>der</strong>en<br />
Antisemitismus zu sprechen. Warum sollten sie sich einer Diskussion aussetzen, in<br />
<strong>der</strong> sie erstens bereits abgestempelt sind – und dies zweitens für etwas sind, das sie<br />
vielleicht tatsächlich glauben?<br />
Diese Perspektivierungen scheinen wichtig, um die spezifischen Ausdrucksformen<br />
des Antisemitismus bei muslimischen Jugendlichen besser zu verstehen. Dennoch<br />
muss hier betont werden, dass Antisemitismus keineswegs bei MigrantInnen weiter<br />
verbreitet ist als unter Angehörigen <strong>der</strong> Dominanzkultur – im Gegenteil. Ein weiteres<br />
Mal möchte ich daher auch hier vor <strong>der</strong> Gefahr warnen, den Antisemitismus zu<br />
„exterritorialisieren“. 442 So schlussfolgern Barbara Schäuble und Albert Scherr aus<br />
ihrer Studie zu „Antisemitismus in heterogenen Jugendszenen“: „Die Annahmen, dass<br />
Antisemitismus vor allem als eine in sich geschlossene und geradlinig an den historischen<br />
Antisemitismus anknüpfende Ideologie bedeutsam und insbeson<strong>der</strong>e unter so<br />
genannten bildungsfernen Jugendlichen sowie unter ‚muslimischen’ Jugendlichen<br />
verbreitet sei, erweisen sich bei näherer Betrachtung als empirisch unhaltbar.“ 443<br />
Die Motivationen und Ziele, mit denen sich Jugendliche bzw. mit denen wir uns auch<br />
manchmal selbst antisemitischer Diskurse bedienen, sind unterschiedlich, ebenso sind<br />
es die Sprachspiele, in denen sie Jugendlichen und uns selbst unbewusst unterlaufen.<br />
Schäuble und Scherr unterscheiden zwischen vier verschiedenen Formen von<br />
442 Vgl. Messerschmidt, Verstrickungen, S. 164: „ (…) so als würden diese Haltungen von außen hereingetragen.<br />
Darin kommt eine Verkennung <strong>der</strong> europäischen Wurzeln antisemitischen Denkens zum Ausdruck und eine<br />
Verdrängung <strong>der</strong> Tatsache, dass diese Haltungen in <strong>der</strong> eigenen Gesellschaft entstehen o<strong>der</strong> aktualisiert werden<br />
und hier Anknüpfungspunkte finden. In dieser ausgrenzenden Form <strong>der</strong> Problematisierung zeigt sich ein koloniales<br />
Muster. Es wird ein Wissen über an<strong>der</strong>e produziert, über <strong>der</strong>en Defizite und ihren Mangel an Aufklärung,<br />
gegenüber dem man sich selbst als fortschrittlich betrachten kann.“<br />
443 Barbara Schäuble, Albert Scherr, Antisemitismus in heterogenen Jugendszenen, in: Fechler/Kößler/Messerschmidt/Schäuble<br />
(Hg.), Neue Judenfeindschaft?, S. 75.<br />
146
antisemitischen Erzählungen und Argumentationen:<br />
Erstens die<br />
Zweitens die<br />
„Verwendung tradierter antisemitischer Stereotype und komplexer antisemitischer Argumentationen im<br />
Kontext politischer Ideologien, das heißt im Zusammenhang mit einem expliziten, den Anspruch auf<br />
innere Konsistenz beanspruchenden Gedankengebäude, mit dem Feindseligkeit gegenüber Juden begründet<br />
und gerechtfertigt wird.“ 444<br />
„Verwendung einzelner antisemitischer Fragmente (Topoi und Stereotype) im Kontext von potenziell in<br />
sich wi<strong>der</strong>sprüchlichen, auch anti-antisemitische Überzeugungen einschließenden Argumentationen“ 445 .<br />
Drittens antisemitische Äußerungen<br />
„als – in <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Jugendlichen selbst keineswegs notwendig gegen Juden gerichtete – Ausdrucksformen<br />
jugendspezifischer Markierungen bzw. Inszenierungen von Abgrenzungen und Zugehörigkeiten;<br />
dies gilt insbeson<strong>der</strong>e für das einer Vielzahl von Jugendlichen bekannte, jedoch keineswegs von<br />
vielen verwendete Schimpfwort „du Jude“. 446<br />
Viertens gilt es zu berücksichtigen,<br />
„dass Jugendliche über ein ‚antisemitisches Wissen’ im Sinne einer Kenntnis überlieferter Stereotype<br />
und Vorurteile verfügen, das durch familiale Tradierungen, schulischen Unterricht über Judentum und<br />
Antisemitismus sowie mediale Darstellungen erworben wird. Ein solches Wissen kann kommunikativ in<br />
unterschiedlicher Weise verwendet werden, etwa als Grundlage von Provokationen o<strong>der</strong> als Verstehensangebot<br />
für angenommene Beson<strong>der</strong>heiten von Juden, ohne dass damit notwendig feststehende<br />
persönliche Überzeugungen zum Ausdruck gebracht werden.“ 447<br />
Diese Unterscheidung ist deshalb sinnvoll, weil die einzelnen herausgearbeiteten<br />
Kategorien tatsächlich sehr unterschiedliche Hintergründe haben und Reaktionen erfor<strong>der</strong>n<br />
(auch wenn sie selbstverständlich zuweilen gemeinsam bzw. überlappend<br />
auftreten). So bleibt uns VermittlerInnen nichts an<strong>der</strong>es übrig, als jeweils situativ zu<br />
regieren – ein besseres Verständnis von antisemitischen Diskursen und Ausdrucksformen<br />
kann dabei aber vielleicht helfen.<br />
Rechtsextremismus<br />
Nachdem das Wahlalter 2007 in Österreich auf 16 Jahre herabgesetzt wurde, stand die<br />
FPÖ bei den Nationalratswahlen 2008 an erster Stelle bei den WählerInnen unter 30.<br />
Im Frühjahr 2009 kam es zu mehreren rechtsextremen Vorfällen in Gedenkstätten,<br />
die von ÖsterreicherInnen ausgelöst wurden: Auf die Außenmauer <strong>der</strong> KZ-<br />
Gedenkstätte Mauthausen wurden im Februar 2009 antisemitische und antimuslimi-<br />
444 Ebda., S. 55.<br />
445 Ebda.<br />
446 Ebda., S. 28.<br />
447 Ebda.<br />
147
sche Parolen geschmiert. Im April desselben Jahres fielen SchülerInnen aus zwei<br />
Klassen des Wiener Albert-Gymnasiums durch antisemitische Äußerungen und Störaktionen<br />
bei einer Gedenkreise nach Auschwitz so sehr auf, dass <strong>der</strong> Verein Morah<br />
(March of Remembrance and Hope) 448 , <strong>der</strong> die Reise organisierte, sich gezwungen<br />
sah, die Schulklassen nach Hause zu schicken. 449 Im Mai 2009 wurden Überlebende<br />
bei einer Gedenkveranstaltung im ehemaligen KZ Ebensee – nach „Sieg-Heil“-Rufen<br />
mehrerer jugendlicher Neonazis – tätlich angegriffen. 450<br />
Durch die Häufung und mediale Wirksamkeit <strong>der</strong> Vorfälle wurde öffentlich<br />
verhandelt, was in <strong>der</strong> Wissenschaft und vor allem in <strong>der</strong> pädagogischen Praxis<br />
mittlerweile als zunehmendes gesellschaftliches Phänomen beschrieben bzw. erlebt<br />
wird: 451 Rechtsextremismus bei österreichischen Jugendlichen.<br />
Die Vorfälle und ihre öffentliche Diskussion hatten die Konsequenz, dass<br />
Bundeskanzler Werner Faymann, Bundesministerin Claudia Schmied ebenso wie das<br />
Mauthausen Komitee Österreich Maßnahmenkataloge formulierten. 452<br />
In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, inwieweit die Beschäftigung<br />
mit dem Holocaust die geeignete Form ist, um Rechtsextremismus zu<br />
entgegnen. Der Rechtsextremismusexperte Heribert Schiedel formuliert in einem<br />
Interview mit <strong>der</strong> Tageszeitung Standard seine diesbezügliche Skepsis:<br />
„Ich hab erlebt, dass rechts orientierte Jugendliche sehr gut über den Nationalsozialismus Bescheid<br />
wissen und schnell bei <strong>der</strong> Verurteilung seiner Verbrechen sind. Aber dieses Wissen ist abgesperrt – es<br />
bleibt völlig isoliert vom Jugendlichen selbst. Faktenwissen mit emotionaler Nähe zu verbinden ist nicht<br />
so sehr Aufgabe <strong>der</strong> Lehrbücher, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Lehrer.“ 453<br />
Doch unabhängig von <strong>der</strong> berechtigten Frage, inwieweit sich Holocaust Education<br />
nicht unzulässig überschätzt, wenn sie davon ausgeht, anhand einer Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem industrialisierten Morden bessere Menschen zu generieren, bringt die<br />
zunehmende Faszination von Rechtsextremismus bei Jugendlichen dennoch einen<br />
448 http://www.morah.at (20.01.2012).<br />
449 Vgl. Schülerfahrt nach Auschwitz endet mit Eklat (14.05.2009), ORF online, u.a.<br />
http://wien.orf.at/stories/361921/ (20.01.2012).<br />
450 Zur Geschichte <strong>der</strong> Vorfälle siehe: Betrifft Wi<strong>der</strong>stand, Nr. 94/2009, S. 3.<br />
451 Vgl. etwa Christa Bauer, Willi Mernyi, Rechtsextrem, Wien, 2. Auflage 2010 sowie Heribert Schiedel, Der<br />
rechte Rand, Wien 2007. Sowohl Bauer und Mernyi als auch Schiedel warnen allerdings davor, Rechtsextremismus<br />
bloß als Jugendphänomen zu beschreiben und seine Bekämpfung auf die Jugendarbeit abzuschieben:<br />
„Der weit verbreiteten Wahrnehmung von (gewalttätigem) Neonazismus als ausschließliches Jugendphänomen<br />
entspricht auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Gegenstrategien eine Fixierung auf die Jugend- und Sozialarbeit. Da diese in <strong>der</strong><br />
Regel erst dort Anwendung findet, wo eine größere Anzahl von rechtsorientierten Jugendlichen als Problemgruppe<br />
erscheint, kommt ihr Feuerwehrcharakter zu.“ Ebda., S. 162.<br />
452 Vgl. Bundeskanzleramt, http://www.bka.gv.at/site/cob_35107/currentpage_7/6589/default.aspx (20.01.2012)<br />
sowie http://<strong>der</strong>standard.at/1242317028659/Faymann-Muessen-Schuelern-Werte-vermitteln (20.01.2012).<br />
453 http://<strong>der</strong>standard.at/3051607 (20.01.2012).<br />
148
Handlungsbedarf mit sich: Denn auch wenn VermittlerInnen keinen moralischen<br />
Zusammenhang zwischen dem „Gedenken an Auschwitz“ und „freiheitlich demokratischem<br />
Handeln“ 454 herstellen, tritt die Frage danach durch rechtsextreme Aktualisierungen<br />
des Nazismus in den Vermittlungsprozess – dann wird es notwendig, zu<br />
reagieren bzw. damit umzugehen. Gerade die Perspektive <strong>der</strong> Kontaktzone läuft im<br />
Zusammenhang mit Rechtsextremismus Gefahr, zu einer Büchse <strong>der</strong> Pandora zu<br />
werden. Denn je offener die Unterrichtsformen sind und je mehr positionierte Eigenaktivität<br />
erwünscht ist, desto eher wird es möglich, dass auch rechtsextreme Jugendliche<br />
ihre Positionen offen, mehr o<strong>der</strong> weniger explizit äußern und diese in die<br />
Projektarbeit einbringen. So for<strong>der</strong>te etwa eine vom Rechtsextremismus faszinierte<br />
Jugendliche im Zuge unseres Projekts immer wie<strong>der</strong>, dass wir – wenn wir ständig von<br />
Offenheit sprechen würden – auch rechte Ideologien gleich behandeln müssten wie<br />
alle an<strong>der</strong>en. Und irgendwie ließe sich diese Position ja auch nicht ganz von <strong>der</strong> Hand<br />
weisen, wenn es uns nur um die Öffnung von Räumen ginge.<br />
Spätestens im Zusammenhang mit dem Thema Rechtsextremismus wird also die<br />
Frage nach Grenzziehungen unzweifelhaft virulent. Aber worum kann es bei diesen<br />
Grenzziehungen gehen? Einerseits wohl um eine Festsetzung <strong>der</strong> Grenzen des demokratischen<br />
Raumes selbst. So gibt es also etwas, das in <strong>der</strong> Kontaktzone nicht zur<br />
Verhandlung steht. Denn um den dissensualen Raum <strong>der</strong> agonistischen Kontaktzone<br />
zu ermöglichen, ist eine Einigung auf einen demokratischen Rahmen nötig – eine<br />
Einigung, die die Gefährdung <strong>der</strong> Demokratie verbannt. 455<br />
Sehen wir uns einmal an, wie Rechtsextremismus definiert wird, dann wird<br />
sogleich deutlich, dass die Demokratie dabei tatsächlich auf dem Spiel steht:<br />
„Der Begriff ‚Rechtsextremismus’ wird als Sammelbegriff für politische Parteien, Organisationen,<br />
Gruppen, Bewegungen, Strömungen und Bestrebungen verwendet, die versuchen – häufig unter<br />
Androhung und/o<strong>der</strong> Anwendung von Gewalt – demokratische Grundrechte einzuschränken bzw. ganz<br />
454 Vgl. Phil C. Langer, Daphne Cisneros, Angela Kühner, Aktuelle Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> schulischen Thematisierung<br />
von Nationalsozialismus und Holocaust. Zu Hintergrund, Methodik und Durchführung <strong>der</strong> Interviewstudie,<br />
in: Bayrische Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit (Hg.), Einsichten und Perspektiven,<br />
Bayrische Zeitschrift für Politik und Geschichte, Themenheft 1/2008, Holocaust Education. Wie Schüler und<br />
Lehrer den Unterricht zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust erleben, S. 10–27.<br />
455 So schreibt Chantal Mouffe: „Ungeachtet heutiger Schlüsselbegriffe wie ‚good governance’ o<strong>der</strong> ‚unparteiische<br />
Demokratie’ ist keine Politik möglich ohne die Setzung von Grenzen. Der demokratische Konsens, verkündigt<br />
von all jenen, die die ‚Mitte’ feiern, kann nicht ohne Definition eines Außen entstehen, das gerade durch seinen<br />
Ausschluß die Identität und Kohärenz innen sichert. Daher die Notwendigkeit <strong>der</strong> Definition eines ‚sie’, dessen<br />
Existenz die Einheit des demokratischen ‚wir’ ermöglicht.“, http://eipcp.net/transversal/0401/mouffe/de. Allerdings<br />
bleibt auch bei Chantal Mouffe offen, wie es zu dieser Einigung kommt. Ist die Festsetzung <strong>der</strong> Grenzen<br />
des agonistischen Raumes selbst agonistisch verhandelbar o<strong>der</strong> nicht? Mouffe selbst bleibt lei<strong>der</strong> eine Antwort<br />
auf diese wesentliche Frage nach den Grenzen des Agonismus schuldig.<br />
149
abzuschaffen.“ 456<br />
Carl Chung und Ann-Sofie Susen betonen ebenfalls, dass strukturelle Ausgrenzung<br />
und Ungleichheit Rechtsextremismus wesentlich ausmachen:<br />
„Beim Rechtsextremismus geht es im Kern um Ideologien, die eine Ungleichheit und Ungleichwertigkeit<br />
von Menschengruppen behaupten und sich (mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> deutlich) mit autoritären und<br />
antipluralistischen Haltungen verbinden. Gemeinsam ist den verschiedenen Varianten, dass sie Menschen<br />
nach einzelnen – oft willkürlich konstruierten – Kollektivmerkmalen Gruppen zuordnen und diese<br />
Gruppenzugehörigkeit zur bestimmenden Identität erklären. Mit dieser Aufteilung geht wenigstens<br />
implizit eine Bewertung einher, die Muster zur Ungleichbehandlung und Ausgrenzung vorzeichnet.“ 457<br />
Insofern <strong>der</strong> Rechtsextremismus also darauf abzielt, den Gleichheitsgrundsatz in<br />
Frage zu stellen, <strong>der</strong> die Basis <strong>der</strong> Kontaktzone bildet, gilt es, ihm klar und deutlich zu<br />
wi<strong>der</strong>sprechen.<br />
Doch wie können diese Grenzen nun in <strong>der</strong> Kontaktzone aussehen? Nach<br />
welchen Kriterien und mit welchen Mitteln werden sie gesetzt o<strong>der</strong> verhandelt?<br />
Handelt es sich um Sprechverbote o<strong>der</strong> um Aufklärung, um politische Positionierung,<br />
korrekte Geschichtsschreibung o<strong>der</strong> um Überzeugungsarbeit?<br />
Für Heribert Schiedel, <strong>der</strong> zahlreiche pädagogische Projekte und Workshops<br />
gegen Rechtsextremismus leitet, geht es in erster Linie um ein Beziehen von Position,<br />
bei dem die Jugendlichen ernst genommen und Wi<strong>der</strong>sprüche aufgezeigt werden.<br />
Dies geschieht ihm zufolge we<strong>der</strong> durch moralische Belehrung noch durch paternalistische<br />
KomplizInnenschaft. 458 „Es ist ein hartnäckiger und folgenschwerer Irrtum,<br />
das Ziehen von Grenzen für autoritär zu halten.“, schreibt er und fährt folgen<strong>der</strong>maßen<br />
fort:<br />
„Tatsächlich bildet das konturlose Erleben des Selbst und <strong>der</strong> Welt ja den Kern jener psychischen<br />
Pathologie, welcher auf politischer und sozialer Ebene <strong>der</strong> Rechtsextremismus entspricht. Und so wird<br />
den Jugendlichen kein guter Dienst erwiesen, wenn man ihnen jede neonazistische Provokation durchgehen<br />
lässt. Vielmehr brauchen gerade sie jemanden, an dem sie sich abarbeiten können, einen geschützten<br />
Raum, in welchem das Nachholen von Beziehungserfahrung möglich ist. Dabei muss man sich nicht<br />
verstecken, son<strong>der</strong>n sollte vielmehr zu seinen Meinungen und Idealen stehen. Sie sind es, die mich in<br />
Gegnerschaft zum Rechtsextremismus bringen und eben nicht eine allgemeine, abstrakte Moral, <strong>der</strong>en<br />
Doppelbödigkeit und Verlogenheit gerade von Jugendlichen schnell durchschaut wird.“ 459<br />
Micha Brumlik folgt <strong>der</strong>selben Argumentation, wenn er schreibt:<br />
456 Vgl. Bauer/Mernyi, Rechtsextrem sowie Schiedel, Der rechte Rand, S. 8.<br />
457 Carl Chung, Ann-Sofie Susen, Argumentative Handlungsfähigkeit trainieren, in: Stephan Braun, Alexan<strong>der</strong><br />
Geisler, Martin Gerster (Hg.), Strategien <strong>der</strong> extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden<br />
2009, S. 618–630, hier S. 620.<br />
458 Schiedel, Der rechte Rand, S. 163: „Streetworker, denen es schwer fällt, zwischen Akzeptanz <strong>der</strong> Person und<br />
<strong>der</strong>en Einstellungen zu unterscheiden, pendeln zwischen Resignation und offener Komplizenschaft, was ihnen<br />
schon mal die Berufsbezeichnung ‚Nationalsozialarbeiter’ einbrachte.“<br />
459 Ebda., S. 163 f.<br />
150
„Antisemitischen Schülermeinungen ist in <strong>der</strong> Sache stets deutlich zu wi<strong>der</strong>sprechen – bei voller Anerkennung<br />
ihrer Person. Dass diese Einstellung gelegentlich eine hohe Selbstdisziplin erfor<strong>der</strong>t, liegt auf<br />
<strong>der</strong> Hand. Freilich hängt <strong>der</strong> gewünschte Lernerfolg entscheidend von dieser Haltung ab: Emotionale,<br />
moralisierende Überreaktionen werden in den meisten Fällen jenen paranoiden Effekt zeitigen, durch<br />
den sich das antisemitische Ressentiment bestätigt sieht.“ 460<br />
Die Momente <strong>der</strong> Schließung von Raum in <strong>der</strong> pädagogischen Situation <strong>der</strong> agonistischen<br />
Kontaktzone erfolgen also durch Wi<strong>der</strong>spruch und nicht durch Ausschluss. Im<br />
Sinne des Agonismus bei Chantal Mouffe werden rechtsextreme, antisemitische und<br />
rassistische Äußerungen so we<strong>der</strong> hilflos-liberal als mögliche Sichtweisen unter<br />
an<strong>der</strong>en anerkannt, noch werden diejenigen, die sie äußern, zum moralischen Feind<br />
erklärt. Gerade die Zurückweisung bei<strong>der</strong> Alternativen macht Mouffe zufolge eine<br />
agonistische Auseinan<strong>der</strong>setzung möglich. 461 Dafür ist freilich Wissen über die Logiken<br />
des Rechtsextremismus und eine gewisse Sicherheit bei den Lehrenden 462 wichtig.<br />
Wenn dies geschieht, dann ist die Grenzziehung nicht nur Möglichkeitsbedingung für<br />
die Offenheit <strong>der</strong> Kontaktzone, son<strong>der</strong>n sie geschieht selbst als Prozess mit einem<br />
zugleich dezidierten und offenen Charakter. Diesen beschreibt Heribert Schiedel<br />
folgen<strong>der</strong>maßen:<br />
„Dieser notwendig offene Prozess zielt auf die Aufhebung <strong>der</strong> Passivität und <strong>der</strong> Ohnmacht ab. Kritische<br />
Intelligenz erschöpft sich hier nicht länger im Appell ans richtige Bewusstsein, son<strong>der</strong>n stellt Mittel und<br />
Wege bereit, die es ermöglichen, den Blick frei zu bekommen auf die Wirkungszusammenhänge mo<strong>der</strong>ner<br />
Gesellschaften. Aufklärung im wörtlichen Sinne – verstanden als permanente Reflexion über das<br />
Selbst und die Herrschaft – stellt also die beste Prävention dar.“ 463<br />
„Das heißt“, so Werner Dreier, „dass Lehrende und <strong>Lernen</strong>de gemeinsam einen<br />
demokratischen Diskurs etablieren und einüben, wie über Antisemitismus und<br />
ähnliche Themen in einer demokratischen Gesellschaft gesprochen werden kann.<br />
Damit wird auch eine konfliktorientierte Demokratie erlebbar.“ 464 Und auch Gabi<br />
Elverich betont, dass die Entwicklung eines politischen Standpunkts sowie von<br />
(Selbst-)Reflexion als Kompetenz pädagogische Ziele sind, die viel wesentlicher<br />
460 Micha Brumlik, Pädagogische Reaktionen auf Antisemitismus, in Stephan Braun, Alexan<strong>der</strong> Geisler, Martin<br />
Gerster (Hg.), Strategien <strong>der</strong> extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2009,<br />
S. 579–587, hier S. 586.<br />
461<br />
Vgl. Chantal Mouffe, Warum die Linke einen politischen Gegner braucht und keinen moralischen Feind, in:<br />
transversal webjournal 1/2001, http://eipcp.net/transversal/0401/mouffe/de (20.01.2012).<br />
462 „Wenn Lehrer/innen, Sozialpädagog/innen etc. in <strong>der</strong> Praxis mit rechtsextremen Einstellungen – häufig in<br />
provozieren<strong>der</strong> Art und Weise – konfrontiert werden, sind gefestigte politische Überzeugungen und Positionen<br />
unverzichtbar.“ Gabi Elverich, Hinweise für den pädagogischen Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus,<br />
in: Dietmar Molthagen, Andreas Klärner, Lorenz Korgel, Bettina Pauli, Martin Ziegenhagen (Hg.), Gegen<br />
Rechtsextremismus. Handeln für Demokratie, 2. Auflage, Bonn 2008, S. 14–23, hier S. 15.<br />
463 Schiedel, Der rechte Rand, S. 167.<br />
464 Dreier, „Die Tirolerin, die ich bin, und die Antizionistin, die ich wurde ..."<br />
151
gegen Rechtsextremismus wirksam werden können als moralische Sprechverbote. 465<br />
Denn oft genug führen diese lei<strong>der</strong> zu einem weiter oben bereits angesprochenen<br />
sozial erwünschten Parallelsprechen bei den SchülerInnen.<br />
Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, wie viel und welche Art <strong>der</strong> Aufmerksamkeit<br />
rechtsextremen Äußerungen in Vermittlungssituationen gewidmet<br />
werden soll. Dazu schreibt Heribert Schiedel:<br />
„Auch rechtsorientierten Jugendlichen dient das Klassenzimmer als Bühne ihrer inszenierten Auflehnung.<br />
Ob und in wie weit diese Inszenierung aufgeht, ist maßgeblich vom erwachsenen Gegenüber abhängig.<br />
Wichtig ist das richtige Maß an Aufmerksamkeit: Nicht je<strong>der</strong> braune Rülpser verdient diese im<br />
vollen Umfang. Oft ist es besser, eine antisemitische o<strong>der</strong> rassistische Provokation einfach ins Leere<br />
laufen zu lassen und erst später im unmittelbaren Gespräch mit <strong>der</strong>/dem Betroffenen darauf zu reagieren.<br />
Zudem verringert sich so die Gefahr, dass Jugendliche weiter auf diese Art und Weise um Aufmerksamkeit<br />
buhlen. Wenn auch so lange wie möglich versucht werden soll, den Gesprächskontakt nicht abreißen<br />
zu lassen, ist es dennoch wichtig, sich nicht die Themen vorgeben zu lassen. Nicht zuletzt dazu müssten<br />
PädagogInnen verstärkt in die Lage versetzt werden, den latenten Bedeutungsgehalt antisemitischer und<br />
rassistischer Diskurse zu erkennen.“ 466<br />
Zu guter Letzt möchte ich hier noch einmal deutlich machen, dass es keinen Grund<br />
gibt, warum die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Nazismus und Holocaust <strong>der</strong> einzige o<strong>der</strong><br />
auch nur <strong>der</strong> bevorzugte Zusammenhang sein sollte, um sich mit Antisemitismus und<br />
Rechtsextremismus zu beschäftigen. In diesem Sinne kann die pädagogische Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
damit im Kontext des Themas dieser Arbeit auch lei<strong>der</strong> nicht erschöpfend<br />
behandelt werden. Wichtig scheint, dass es im Schulzusammenhang insgesamt<br />
mehr Raum für eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Antisemitismus, seinen Logiken, Funktions-<br />
und Wirkungsweisen gibt und die Lehrenden besser dafür ausgebildet werden.<br />
Weiters kann <strong>der</strong> Faszination, die Rechtsextremismus und seine trügerischen Versprechungen<br />
von Zugehörigkeit, Freundschaft, Gemeinschaft, Freizeitgestaltung, Sicherheit<br />
und Stärke 467 ausüben, wohl nur mit Zeit und vielfältigen unterschiedlichen Strategien<br />
entgegengewirkt werden. Wie diese Strategien in <strong>der</strong> agonistischen Kontaktzone<br />
zu beschreiben und zu entwickeln wären, müsste Gegenstand eines weiterführenden<br />
Projekts sein. 468<br />
465 Vgl. Elverich, Hinweise für den pädagogischen Umgang mit dem Thema Rechtsextremismus, S. 17–22.<br />
466 Schiedel, Der rechte Rand, S. 166.<br />
467 Vgl. Bauer/Mernyi, Rechtsextrem, S. 70.<br />
468 Micha Brumlik zufolge „beruhen sinnvolle Strategien gegen Antisemitismus auf einem methodischen Dreieck,<br />
das erstens den Abbau von Informationsdefiziten und die Präsentation realer historischer und sozialer Lagen,<br />
zweitens die Konfrontation mit eigenen Vorurteilsstrukturen sowie drittens die För<strong>der</strong>ung von Empathie bezüglich<br />
<strong>der</strong> Opfer von antisemitischer, rassistischer und sexistischer Diskriminierung und Verfolgung umschreibt.“<br />
Brumlik, Pädagogische Reaktionen auf Antisemitismus, S. 585.<br />
152
II.2.3 Wi<strong>der</strong>sprüche zwischen Öffnung und Schließung<br />
Neben <strong>der</strong> klaren Notwendigkeit zum dezidierten Wi<strong>der</strong>spruch sind wir in <strong>der</strong><br />
Kontaktzone auch mit komplizierteren Momenten mannigfaltiger Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit<br />
konfrontiert, die sehr oft nicht einfach auf den Nenner eindeutig abzulehnen<strong>der</strong> Haltungen<br />
gebracht werden können. Immerhin sind Vermittlungssituationen – wenn wir<br />
sie als <strong>Kontaktzonen</strong> verstehen – von vielen unterschiedlichen sozialen Konfliktlinien,<br />
Machtverhältnissen und diskursiven Spannungsfel<strong>der</strong>n durchzogen, die sehr oft in<br />
ihren Vermischungen verhandelt und ausgetragen werden. Diese reichen von sozialen<br />
Fragen (in Sprache und Habitus) über Geschlechterverhältnisse bis zu familiären Verstrickungen,<br />
persönlichen traumatischen Erfahrungen, Migrationsgeschichten und<br />
politischen Positionen. Wenn wir all dies in Betracht ziehen, wird deutlich, dass<br />
we<strong>der</strong> Allianzen noch Konfliktlinien voraussagbar sind. Und nicht selten erweisen<br />
sich Situationen bei längerer Diskussion als völlig an<strong>der</strong>s, als VermittlerInnen sie –<br />
auf den ersten Blick bzw. auf Basis <strong>der</strong> ersten vorgebrachten Argumente – eingeschätzt<br />
hatten. So haben wir es mit einer „<strong>Geschichtsvermittlung</strong> in wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />
Verhältnissen“ 469 zu tun. Und jede Vermittlungssituation in <strong>der</strong> Kontaktzone verlangt<br />
wohl die Fähigkeit, mit Wi<strong>der</strong>streit 470 umzugehen:<br />
„Wer was in welcher Situation ausdrücken will, wenn er antisemitische Äußerungen trifft, muss nicht<br />
nur wegen des hohen Skandalisierungspotentials <strong>der</strong> Etikettierung geduldig untersucht werden, son<strong>der</strong>n<br />
auch, um Ansatzpunkte für eine Motivations- und Ursachenklärung und damit für mögliche Gegenmaßnahmen<br />
zu finden. Bei <strong>der</strong> Komplexität <strong>der</strong> Themen, <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Akteure, Handlungsfel<strong>der</strong> und<br />
Bezugnahmen ist es wenig verwun<strong>der</strong>lich, dass es zu einer Überlagerung, Vermischung und Überdeterminierung<br />
verschiedenster Diskurse kommt. Mit antisemitisch konnotierten Redeweisen und Weltsichten<br />
werden vielfältige Probleme abgehandelt. Wer pädagogisch wirksam werden will, sollte zunächst fragen,<br />
welche Funktionen ein antisemitisches Klischee in einer bestimmten Situation erfüllt. Dem doppelten<br />
Anspruch, das Klischee zurückzuweisen und die dahinterliegenden Themen anzusprechen, kann erst<br />
entsprochen werden, wenn Funktionen und Kontexte von Antisemitismus erkennbar geworden sind.“ 471<br />
Manchmal scheint es wichtig, den Wi<strong>der</strong>streit in seiner Unauflösbarkeit aufrecht zu<br />
erhalten, manchmal wie<strong>der</strong>um gilt es, Position zu beziehen. Die Einschätzung und<br />
Entscheidung, was in welcher Situation zu tun ist, kann lei<strong>der</strong> nicht vorweggenommen<br />
werden. Sicher ist aber, dass eine fundierte Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Antisemi-<br />
469 Messerschmidt, Verstrickungen, S. 166.<br />
470 Ich beziehe mich hier auf den Begriff Wi<strong>der</strong>streit (Le Différend) von Jean-François Lyotard. Er definiert ihn<br />
folgen<strong>der</strong>maßen: „Im Unterschied zu einem Rechtsstreit wäre ein Wi<strong>der</strong>streit ein Konfliktfall zwischen<br />
(wenigstens) zwei Parteien, <strong>der</strong> nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen<br />
anwendbare Urteilsregel fehlt.“ Jean-François Lyotard, Der Wi<strong>der</strong>streit, 2. Auflage, München 1989, S. 9.<br />
471 Fechler/Kößler/Messerschmidt/Schäuble, Einleitung, S. 27.<br />
153
tismus, strukturellen Rassismen sowie eine ernsthafte Beschäftigung mit jenen Fragen<br />
und Themen, die durch alle beteiligten AkteurInnen in die Kontaktzone herein getragen<br />
werden, dabei helfen.<br />
Astrid Messerschmidt geht vor dem Hintergrund kritischer Bildungstheorie<br />
von einem wi<strong>der</strong>sprüchlichen Bildungsbegriff aus: „Bildungsprozesse enthalten in<br />
sich immer den Aspekt <strong>der</strong> Herrschaft und <strong>der</strong> Befreiung“ 472 , schreibt sie in Referenz<br />
auf Heinz-Joachim Heydorn. 473 Dies bringt sie nun mit Antisemitismus in Verbindung<br />
und fragt: „Was heißt hier Unterwerfung, was Emanzipation und wovon?“ 474 Somit<br />
richtet sie den Blick auf die Machtverhältnisse, die in je<strong>der</strong> auch noch so aufklärerisch<br />
angelegten Vermittlung am Werk sind. Und warnt vor diesem Hintergrund ebenfalls<br />
vor moralischer Disziplinierung und davor, Grenzen zu ziehen, bevor diese überhaupt<br />
überschritten worden sind: „Wird <strong>der</strong> Raum <strong>der</strong> Diskussion erweitert und die Art <strong>der</strong><br />
Thematisierung offener, kann es zwar zu problematischen Äußerungen, auch zu Verletzungen<br />
kommen, aber es eröffnet sich auch die Möglichkeit, zu dem vorzudringen,<br />
was einen selbst an <strong>der</strong> Thematik beunruhigt.“ 475<br />
Wenn wir uns also auf die Komplexität <strong>der</strong> Vermittlung über Nazismus und<br />
Holocaust in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft anhand des Ansatzes <strong>der</strong> agonistischen<br />
Kontaktzone einlassen wollen und um das Ziehen von Grenzen formulieren und<br />
einschätzen zu können, gilt es eine Fähigkeit zu entwickeln, zuzuhören. Um dies im<br />
Kontext unseres Themas ein wenig konkreter zu machen, sollen hier noch beispielhaft<br />
zwei problematische Spannungsfel<strong>der</strong> behandelt werden: Opferkonkurrenzen und <strong>der</strong><br />
Israel/Palästina-Konflikt als Projektionsfläche. Diese firmieren bewusst nicht direkt<br />
unter dem Hea<strong>der</strong> Antisemitismus, auch wenn sie doch immer wie<strong>der</strong> damit in Verbindung<br />
stehen.<br />
Opferkonkurrenzen<br />
Beginnen wir mit dem beson<strong>der</strong>s schwierigen Thema <strong>der</strong> Opferkonkurrenzen.<br />
Einerseits spiegelt sich in <strong>der</strong> Phantasie, dass JüdInnen mehr Recht auf Erinnerung<br />
hätten, ein Ressentiment gegenüber einer Opfergruppe (und teilweise die durchaus<br />
472 Messerschmidt, Verstrickungen, S. 166.<br />
473 Vgl. Heinz-Joachim Heydorn, Zum Wi<strong>der</strong>spruch im Bildungsprozess, in: <strong>der</strong>s., Bildungstheoretische und pädagogische<br />
Schriften, Werke, Bd. 4, Vaduz 1995, S. 165–178.<br />
474 Ebda.<br />
475 Messerschmidt, Verstrickungen, S. 171.<br />
154
explizite Vorstellung einer jüdischen Macht). An<strong>der</strong>erseits ist die Tatsache nicht ganz<br />
von <strong>der</strong> Hand zu weisen, dass <strong>der</strong> gouvernementale opferzentrierte, moralisierende<br />
Erinnerungsdiskurs auch Ausschlüsse produziert. Was wissen wir etwa über die<br />
Geschichte <strong>der</strong> Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Roma und Sinti?<br />
Wieviel Raum nimmt diese im Schulunterricht ein? Werden die nazistischen Verbrechen<br />
am Balkan jemals Thema in <strong>der</strong> Schule? Wir die rassistische Diskriminierung<br />
von Schwarzen Menschen und People of Colour angesprochen? Inwieweit werden<br />
koloniale und postkoloniale Geschichten des Nazismus einbezogen? Diese Fragen 476<br />
zielen darauf ab, darauf aufmerksam zu machen, dass Nazismus und Holocaust in <strong>der</strong><br />
Schule und in Gedenkstätten offensichtlich sehr monoperspektivisch, viel zu wenig<br />
transnational und auf sehr reduzierte thematische Fragen hin behandelt werden –<br />
Bernd Fechler spricht von einer „Fixierung auf die spezifisch deutsche Thematik“. 477<br />
Darüber hinaus lässt sich auch noch fragen, warum es in <strong>der</strong> Schule kaum<br />
Platz für Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit aktuellen Konflikten und Diskriminierungen gibt,<br />
die es den SchülerInnen ermöglichen würden, Position zu beziehen. Auch wenn in<br />
diesem Fall die Vermittlung über den Holocaust nicht unbedingt geeignet erscheint,<br />
alle möglichen Themen an seiner Stelle zu behandeln, ist es dennoch wichtig, sich vor<br />
Augen zu führen, dass vor dem Hintergrund <strong>der</strong> „Globalisierung des Holocaust“ sehr<br />
viele Themen im Raum stehen, wenn er behandelt wird. So werden über Opferkonkurrenzen<br />
Anerkennungskonflikte ausgetragen. Bernd Fechler plädiert in diesem Zusammenhang<br />
für eine Aufmerksamkeit für das, was Jugendliche meinen und sagen,<br />
im Hinblick auf die Ermöglichung einer auf Glaubwürdigkeit basierenden Form von<br />
Autorität.<br />
„Vielmehr klingen in den Stellungnahmen <strong>der</strong> Jugendlichen durchaus ernst zu nehmende Motive und<br />
Anliegen an, die nicht einfach autoritär gedeckelt werden können. Neben einem generellen Interesse an<br />
<strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung über politische und moralische Themen geht es den Jugendlichen vor allem um<br />
Fragen <strong>der</strong> Gerechtigkeit und eines fairen Umgangs mit Diskriminierung. Die Jugendlichen for<strong>der</strong>n die<br />
Anerkennung eigener Opfererfahrungen.“ 478<br />
Grundsätzlich ist die Reklamation von Anerkennung nicht notwendig ein Grund für<br />
Konkurrenz, son<strong>der</strong>n könnte auch einer für Solidarität sein. Doch eine solche Solidarität<br />
ist nicht selbstverständlich und kann vielleicht – dekonstruktiv gefasst – als ein<br />
476 Mangels empirischer Untersuchungen sind sie in Frageform formuliert. Eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit mehreren<br />
Schulbüchern in dem Projekt zeigte jedenfalls, dass all diese Fragen auf tote Winkel <strong>der</strong> gängigen Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
hinweisen.<br />
477 Bernd Fechler, Antisemitismus im globalisierten Klassenzimmer, in: Fechler/Kößler/Messerschmidt/Schäuble<br />
(Hg.), Neue Judenfeindschaft?, S. 198.<br />
478 Ebda., S. 189.<br />
155
mögliches Bildungsziel definiert werden. Dafür ist es aber zunächst einmal notwendig,<br />
Ressentiments radikal in Frage zu stellen und Fremdzuschreibungen genauso zu<br />
verlernen wie Überidentifizierungen. Dies gilt wie immer für alle am pädagogischen<br />
Prozess Beteiligten und ist dennoch eine beson<strong>der</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung für VermittlerInnen.<br />
Der Israel/Palästina-Konflikt als Projektionsfläche<br />
Wie bereits oben festgestellt, ist nicht jede Kritik an Israel antisemitisch. Es gibt aber<br />
eben auch sehr viele israelbezogene Diskurse, die offensichtlich antisemitisch sind.<br />
Im Zuge des Modellprojekts amira – Antisemitismus im Kontext von Migration und<br />
Rassismus 479 wird genau das Erkennen dieses Unterschieds zu einem Ziel <strong>der</strong> Pädagogik<br />
erklärt. Demzufolge soll es darum gehen, „sich zu einer selbstständigen Urteilsfähigkeit<br />
zu befähigen. Dabei gibt es eine rote Linie, die die Jugendlichen kennenlernen<br />
sollen: Kritik an Israel und gegebenenfalls auch eine pro-palästinensische Parteilichkeit<br />
sind okay – Israelbezogener Antisemitismus aber nicht.“ 480 Das erscheint<br />
einerseits sinnvoll und an<strong>der</strong>erseits auch sehr schwierig. Denn eigentlich ist jede<br />
kritische Bezugnahme auf Israel im Grunde zumindest eine Themenverfehlung, wenn<br />
es um den Nazismus und seine Massenmorde geht. Und sowohl die überproportionale<br />
Präsenz von Israel und Israelkritik als auch die Motive (die Sprachen und Bil<strong>der</strong>), mit<br />
denen diese formuliert bzw. illustriert werden, sind sehr oft dem Gegenstand nicht<br />
angemessen. Um die Grenze diskutierbar zu machen, ist vielleicht eine Beschäftigung<br />
mit jenen Phänomenen sinnvoll, die in den letzten Jahren unter dem Schlagwort<br />
„neuer Antisemitismus“ zusammengefasst (und immer wie<strong>der</strong> als gar nicht so neu<br />
herausgestellt) wurden. Damit wurden Positionen bezeichnet, bei denen „die Kritik an<br />
Israel (…) weit über eine sachlich gerechtfertigte Kritik hinausgehe“ 481 . Ein solcher<br />
antisemitischer Antizionismus ist vor allem in Teilen <strong>der</strong> weltweiten Linken (z. B. in<br />
<strong>der</strong> Antiglobalisierungsbewegung 482 und <strong>der</strong> Occupy-Bewegung 483 ) anzutreffen. Der<br />
französische Philosoph Pierre-André Taguieff spricht vom neuen Phänomen eines<br />
479 http://www.amira-berlin.de/<br />
480 amira – Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus (Hg.), Pädagogische Ansätze zur<br />
Bearbeitung von Antisemitismus in <strong>der</strong> Jugendarbeit, Berlin 2010, S. 25.<br />
481 Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznai<strong>der</strong>, Einleitung, in: dies. (Hg.), Neuer Antisemitismus? Eine<br />
globale Debatte, Frankfurt am Main 2004, S. 7–18, hier S. 8.<br />
482 Vgl. Nora Sternfeld, Wie steht die Bewegung zum Antisemitismus?, in: Oliver Marchart, Rupert Weinzierl<br />
(Hg.), Stand <strong>der</strong> Bewegung? Protest, Globalisierung, Demokratien – eine Bestandsaufnahme, Münster 2006,<br />
S. 61–86.<br />
483 Vgl. http://jungle-world.com/artikel/2011/48/44440.html<br />
156
„pseudo-antirassistischen Antisemitismus“ 484 : In diesem würden die Juden beschuldigt,<br />
selbst rassistisch zu sein. „War bisher Antisemitismus als eine Form des Rassismus<br />
bekämpft worden, grenzten ihn die Antirassisten nun aus und begründeten ihre<br />
Feindseligkeit gegen Israel mit den Geboten des Antirassismus.“ 485<br />
Die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Öffnungen und Schließungen führt uns also vor viele<br />
Folgefragen. Dies scheint dem Thema angemessen, schreibt doch Matthias Heyl:<br />
„Hier gibt es keine einfachen Antworten, son<strong>der</strong>n vor allem Dilemmata und Fragen,<br />
denen wir uns stellen müssen; auch in <strong>der</strong> Pädagogik“. 486<br />
So wurde deutlich, dass das Öffnen und Schließen von Räumen immer wie<strong>der</strong><br />
in wi<strong>der</strong>sprüchliche Verbindungen gebracht werden muss: Wollen wir Handlungsund<br />
Denkräume eröffnen und mehr sagbar machen, sind Rahmenbedingungen und<br />
Richtlinien notwendig. An<strong>der</strong>erseits erfor<strong>der</strong>t die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Kriterien<br />
und Bedingungen von Grenzziehungen und Schließungen wie<strong>der</strong>um eine<br />
Offenheit und macht ein Zuhören notwendig. Wollen wir agonistische <strong>Kontaktzonen</strong><br />
möglich machen, müssen wir uns wohl beiden Aufgaben stellen – <strong>der</strong> Prozessualität<br />
und <strong>der</strong> Positioniertheit, <strong>der</strong> Ergebnisoffenheit und <strong>der</strong> Entschiedenheit, <strong>der</strong> Reflexivität<br />
und <strong>der</strong> Dissensualität, dem Unerwarteten und dem Inakzeptablen.<br />
484 Pierre-André Taguieff, La nouvelle judéophobie, Paris 2002.<br />
485 Bergmann, Erscheinungsformen des Antisemitismus in Deutschland heute, S. 34.<br />
486 Heyl, „Holocaust Education“, S. 3.<br />
157
II.3<br />
Was geschehen ist und was es für die Gegenwart bedeutet<br />
Wir haben gesehen, dass die <strong>Geschichtsvermittlung</strong> im deutschsprachigen Raum sehr<br />
lange nicht imstande war, adäquat mit <strong>der</strong> Heterogenität ihrer AdressatInnen umzugehen.<br />
Viele ihrer kleinen und größeren Debatten und Differenzen gehen schlichtweg<br />
an <strong>der</strong> Tatsache <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft vorbei. Bis heute reproduziert also auch<br />
progressive <strong>Geschichtsvermittlung</strong> noch allzu oft Nationalgeschichte und Eurozentrismus.<br />
Und selbst wenn Migration adressiert wird, geschieht dies lei<strong>der</strong> nicht selten<br />
in problematischer, kulturalisieren<strong>der</strong> und zuschreiben<strong>der</strong> Weise. Stellen wir uns die<br />
Frage, wer die AkteurInnen in <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> sind, tritt ein massiver Ausschluss<br />
von migrantischen und an<strong>der</strong>en gesellschaftlich marginalisierten SprecherInnenpositionen<br />
in den Blick. Die meisten AutorInnen und VermittlerInnen in diesem<br />
Bereich sind weiße Angehörige <strong>der</strong> Dominanzkultur, nur sehr wenige sind MigrantInnen,<br />
Roma o<strong>der</strong> Schwarze Menschen. Dies macht es vielleicht auch so schwierig,<br />
die Frage zu beantworten, wie sich Geschichtsbezüge pluralisieren lassen, ohne dabei<br />
wie<strong>der</strong>um Differenz zu reproduzieren.<br />
Mit dem Vorschlag, <strong>Geschichtsvermittlung</strong> als agonistische Kontaktzone zu<br />
begreifen, wurde hier ein Versuch gemacht, mit diesem Dilemma umzugehen. Denn<br />
in <strong>der</strong> Kontaktzone finden Auseinan<strong>der</strong>setzungen statt, die we<strong>der</strong> Homogenisierung<br />
noch Identifizierung voraussetzen bzw. erfor<strong>der</strong>n. Nun wurde hier ja das Konzept <strong>der</strong><br />
Kontaktzone nicht auf <strong>Geschichtsvermittlung</strong> im Allgemeinen angewandt, son<strong>der</strong>n in<br />
Bezug auf den Holocaust – einen spezifischen geschichtspolitisch relevanten und<br />
emotional aufgeladenen Gegenstand. Zusammenfassend soll hier noch einmal dargestellt<br />
werden, was aus allen besprochenen Bereichen <strong>der</strong> Literatur für <strong>Kontaktzonen</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> über den Holocaust zu lernen ist.<br />
Beginnen wir mit <strong>der</strong> Frage nach ihrem Gegenstand und ihrer Aufgabe.<br />
Aufgespannt zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft lassen sich diese als eine<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit zwei Aspekten beschreiben: einerseits damit, was geschehen<br />
ist und an<strong>der</strong>erseits damit, was das für die Gegenwart bedeutet. Wir haben gesehen,<br />
dass diese beiden Seiten <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> gleichermaßen wichtig sind und<br />
sich dabei kategorial von einan<strong>der</strong> unterscheiden. Der eine Bereich widmet sich <strong>der</strong><br />
historischen Realität <strong>der</strong> Massenverbrechen – seinen Rahmen bilden somit die<br />
Geschichtswissenschaften. Der an<strong>der</strong>e fragt nach Möglichkeiten, daraus eine Lehre<br />
158
zw. aktuelle Schlüsse zu ziehen – hier bilden Vermittlung, Bildungstheorie und<br />
Geschichtspolitik den Referenzrahmen. Es scheint sehr wichtig, diese beiden Seiten<br />
<strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> unterschiedlich zu diskutieren und zu behandeln. Denn<br />
obwohl es – poststrukturalistisch gesprochen – auf beide Aspekte keine eindeutige<br />
Antwort gibt, ist <strong>der</strong> Rahmen, in dem ihre Ergebnisse verhandelt werden können,<br />
jeweils ein an<strong>der</strong>er. Darüber, was geschehen ist, kann also nicht frei nach Wunsch<br />
o<strong>der</strong> Meinung, son<strong>der</strong>n nur mit Mitteln <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft, vor dem Hintergrund<br />
des aktuellen Forschungsstandes und anhand von historischen Quellen und<br />
Materialien verhandelt werden. Und auch wenn jede historische Bezugnahme von<br />
einem „Bild von <strong>der</strong> Geschichte und unseres nachträglichen Anteils an ihr“ 487 geprägt<br />
ist, so kann diese in <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> dennoch nur anhand bestimmter<br />
Regeln geschehen. Und genau dafür wurden in <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik wesentliche<br />
Strategien entwickelt – geht es doch unter dem Stichwort „historisches <strong>Lernen</strong>“ um<br />
die Vermittlung von Methoden für eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Geschichte. Mit dem<br />
Begriff des Geschichtsbewusstseins gibt die Geschichtsdidaktik eine zweite Richtung<br />
vor, die ihrerseits nun eher für die Frage aufschlussreich ist, was die Geschichte für<br />
die Gegenwart bedeutet: Somit kann mit Hilfe <strong>der</strong> Geschichtsdidaktik danach gefragt<br />
werden, wie Geschichte heute „gemacht“ wird und welche (transnationalen)<br />
Geschichtsbil<strong>der</strong> in einer heterogenen Gesellschaft existieren. Dies hilft bei einer<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Möglichkeit von <strong>Kontaktzonen</strong> – vor allem, da dabei<br />
deutlich wird, dass Geschichtsbil<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft von vielen Faktoren<br />
(schulische Verhältnisse, Gruppendynamiken, gesellschaftliche Debatten, familiäre<br />
Verstrickungen, Medienrezeption, geschichtspolitische Positionierungen etc.) bestimmt<br />
sind und keinesfalls auf so etwas wie „Migrationshintergrund“ verengt werden<br />
können. 488 „Für Vermittelnde und Teilnehmende geht es also nicht darum, wo jemand<br />
herkommt, son<strong>der</strong>n wie gegenwärtige Beziehungen zu den historischen Gegenständen<br />
aussehen.“ 489<br />
Es scheint sehr wichtig, sich die kategoriale Trennung zwischen <strong>der</strong> Frage danach,<br />
was geschehen ist und jener, was es für die Gegenwart bedeutet, immer wie<strong>der</strong> vor<br />
487 Christian Schnei<strong>der</strong>, Besichtigung eines ideologisierten Affekts: Trauer als zentrale Metapher deutscher Erinnerungspolitik,<br />
in: Ulrike Jureit, Christian Schnei<strong>der</strong> (Hg.), Gefühlte Opfer. Illusionen <strong>der</strong> Vergangenheitsbewältigung,<br />
Stuttgart 2010, S. 105–212, hier S. 209.<br />
488 Vgl. dazu die gleichzeitig mit dieser Arbeit entstehende Dissertation von Ines Garnitschnig.<br />
489 Messerschmidt, Erinnerungsbeziehungen in den Nachwirkungen des Nationalsozialismus, S. 1.<br />
159
Augen zu führen. Unter an<strong>der</strong>em auch, weil keine <strong>der</strong> beiden Seiten in <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
vergessen werden darf und weil ihre Verwechslung zu zahlreichen Problemen<br />
führt. In <strong>der</strong> Gedenkstättenpädagogik wurden in den letzten Jahren zahlreiche Methoden<br />
entwickelt, die die Konkretion des Ortes in den Vor<strong>der</strong>grund stellen. Einer für die<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Geschehenen kaum hilfreichen Sakralisierung <strong>der</strong> Erinnerung<br />
stellen sie die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Materialität <strong>der</strong> Reste und Zeugnisse,<br />
also eine reflexive Perspektivierung auf historische Spuren entgegen sowie eine<br />
„negative Erinnerung“, die sich eindeutigen Sinngebungsansprüchen wi<strong>der</strong>setzt. Wir<br />
begegnen in <strong>der</strong> Gedenkstättenpädagogik also dem, was geschehen ist, als Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Orten, Quellen, Materialien und Fragmenten und müssen uns dem,<br />
was es für die Gegenwart bedeutet, als offene, unauflösbare Frage stellen. Micha<br />
Brumlik spricht von einem „Aktualisierungsparadox“ 490 .<br />
Die Aktualisierung stellt wie<strong>der</strong>um den wesentlichen Motor <strong>der</strong> Holocaust<br />
Education dar. Und auch wenn in <strong>der</strong> mit ihr verbundenen Literatur durchaus darüber<br />
diskutiert wurde, ob und welche Schlüsse aus dem Holocaust gezogen werden können,<br />
geht es bei ihr mehr als in allen an<strong>der</strong>en Vermittlungsansätzen um die Gegenwart.<br />
Das führte in den letzten Jahren zu zahlreichen Debatten, die kontrovers zwischen<br />
Singularitätsanspruch einerseits und <strong>der</strong> Globalisierung des Holocaust an<strong>der</strong>erseits<br />
geführt wurden. Auch dabei scheint es wichtig, die beiden Ebenen <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
voneinan<strong>der</strong> zu trennen. Solange wir darüber sprechen, was geschehen<br />
ist, hat auch die Globalisierung des Holocaust eine sehr konkrete Bedeutung. Eine<br />
Transnationalisierung <strong>der</strong> Geschichtsschreibung macht eine Erweiterung des historischen<br />
Interesses auf bisher marginalisierte historische Perspektiven notwendig: Hier<br />
müssten etwa die Verbrechen <strong>der</strong> Wehrmacht am Balkan, die Bedeutung des Zweiten<br />
Weltkriegs in <strong>der</strong> Türkei, die Geschichte des Zweiten Weltkrieges außerhalb Europas<br />
aus (post-)kolonialer Perspektive und vieles an<strong>der</strong>e mehr Raum im Schulunterricht<br />
erhalten. Dabei kann die scheinbare Multiperspektivität <strong>der</strong> Dreiteilung in „Opfer,<br />
TäterInnen und ZuschauerInnen“ nicht genügen – so wird eine massive<br />
Vervielfältigung <strong>der</strong> Beschäftigung mit historischen Positionen und AkteurInnen<br />
490 Micha Brumlik, Aus Katastrophen lernen? Grundlagen zeitgeschichtlicher Bildung in menschenrechtlicher<br />
Absicht, Berlin – Wien 2004, S. 182<br />
160
erfor<strong>der</strong>lich.<br />
Betrachten wir die zweite Seite <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> – die Gegenwartsrelevanz<br />
– vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Debatte zwischen Singularitätsthese und Globalisierung,<br />
dann berühren wir die viel diskutierte Frage nach <strong>der</strong> Möglichkeit von Analogien<br />
zwischen dem Holocaust und an<strong>der</strong>en Ereignissen in Geschichte und Gegenwart.<br />
Die Holocaust Education scheint hiermit weniger Probleme zu haben als alle an<strong>der</strong>en<br />
besprochenen Fel<strong>der</strong> – dies mag mit ihrer Entstehung im spezifischen Kontext <strong>der</strong><br />
USA zu tun haben und damit, dass sie von Anfang an durchaus von dem Ziel begleitet<br />
war, die aktuelle Gegenwart US-amerikanischer Jugendlicher zu betreffen. Heute<br />
wird die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Aktualisierung und Übertragbarkeit des Holocaust<br />
auf an<strong>der</strong>e Bereiche vor allem auch in den Bereichen <strong>der</strong> Genocide Prevention<br />
und Human Rights Education vorangetrieben. In den NS-Nachfolgestaaten wird dies<br />
vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Gefahr von Externalisierungen und Täter-Opfer-Umkehr-<br />
Diskursen mit einiger Skepsis diskutiert. Und so kommt es eben zu den angesprochenen<br />
– wohl aufgrund <strong>der</strong> kontextuellen Differenz nicht leicht auflösbaren – Kontroversen<br />
zwischen Singularitätsthese und Pluralisierung des Holocaust.<br />
Im Zuge dieser Arbeit hat sich die Frage gestellt, warum in den meisten Konzepten,<br />
die von Aktualisierung und Pluralisierung ausgehen, die Ergebnisse des<br />
Gegenwartsbezugs bereits festgelegt sind. Vor dem Hintergrund <strong>der</strong> agonistischen<br />
Kontaktzone wurde demgegenüber <strong>der</strong> Vorschlag gemacht, die Frage danach, was <strong>der</strong><br />
Holocaust für die Gegenwart bedeutet, zum Teil des Vermittlungsprozesses werden<br />
zu lassen. Denn das, was <strong>der</strong> Gegenstand für jene bedeutet, die über ihn erfahren und<br />
verhandeln, kann wohl nur in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess herausgearbeitet<br />
werden. Allerdings scheint die Rezeption <strong>der</strong> Holocaust Education im deutschsprachigen<br />
Raum – und auf diese habe ich mich in dieser Arbeit vor allem konzentriert<br />
– auch etwas verkürzt. Die Konzepte <strong>der</strong> Holocaust Education sind nämlich<br />
nicht immer ganz so banal und mit eindeutigen Inhalten und Handlungsoptionen<br />
gefüllt, wie dies in ihrer deutschsprachigen Kritik erscheint. Möglicherweise ist es<br />
sinnvoller, die Holocaust Education nicht nur so zu verstehen, dass sie im Postnazismus<br />
stets problematisch erscheinende Analogien zwischen Verbrechen und<br />
Gewalt herstellen würde, son<strong>der</strong>n von einer an<strong>der</strong>en Form von Analogien auszugehen:<br />
nämlich Aktualisierungen, die die Verbindung weniger auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong><br />
Verbrechen als vielmehr im Zusammenhang mit Eigensinn und Wi<strong>der</strong>ständigkeit<br />
161
suchen. Gerade ZeitzeugInnen betonen oft, dass sie ihre Arbeit machen, um dazu<br />
aufzurufen, nicht mitzumachen und sich zu wehren. Wenn wir also nicht nur konkrete<br />
Aktualisierungsvorschläge als Ziel <strong>der</strong> Holocaust Education verstehen und <strong>der</strong>en<br />
Ethik nicht bloß als Moralisierung abtun, son<strong>der</strong>n auch als ein <strong>Lernen</strong> über die<br />
Möglichkeit, nicht mitzumachen, verstehen, dann scheint dies sowohl <strong>der</strong> Kontaktzone<br />
als auch <strong>der</strong> „negativen Erinnerung“ standhalten zu können. 491 Denn „nicht<br />
mitmachen“ 492 ist eine Lehre, die sich je<strong>der</strong>zeit und in vielen unterschiedlichen Kontexten<br />
wi<strong>der</strong>ständig selbstständig machen kann.<br />
Aus dem Kontext <strong>der</strong> historisch-politischen Bildung und <strong>der</strong> Bildungstheorie<br />
konnte eine reflexive <strong>Geschichtsvermittlung</strong>, die vor allem in den Arbeiten Astrid<br />
Messerschmidts erarbeitet wurde, für die Kontaktzone produktiv gemacht werden.<br />
Die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Verstrickungen, die <strong>Lernen</strong>de ebenso wie Lehrende<br />
betreffen, ermöglicht einen Paradigmenwechsel: <strong>Geschichtsvermittlung</strong> tritt in ihrer<br />
Wi<strong>der</strong>sprüchlichkeit in den Blick – und gerade weil es keinen unschuldigen Kontext<br />
für sie gibt, eröffnet sie für alle Beteiligten Handlungsräume, um sich zu<br />
positionieren. Der Migrationspädagogik und vor allem Paul Mecheril verdankt diese<br />
Arbeit die Perspektivierung auf die Machtverhältnisse, innerhalb <strong>der</strong>er jede<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong> in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft angesiedelt ist. Von <strong>der</strong><br />
Kulturvermittlung wie<strong>der</strong>um können wesentliche Impulse für die agonistische<br />
Kontaktzone in <strong>der</strong> Etablierung von offenen Prozessen und Formen kollektiver<br />
Wissensproduktion ausgehen.<br />
Nehmen wir dies alles ernst, dann haben wir mit dieser Arbeit zahlreiche transdisziplinäre<br />
Einsichten in den Gegenstand und Instrumentarien für die Aufgaben von<br />
<strong>Kontaktzonen</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> über den Holocaust gewinnen können. Zum<br />
Abschluss möchte ich diese noch mit einer für unser Thema relevanten aktuellen<br />
Debatte in <strong>der</strong> kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung abgleichen – mit <strong>der</strong><br />
Frage nach <strong>der</strong> Rolle von Nazismus und Holocaust für eine transnationale Erinnerung<br />
im Zeitalter <strong>der</strong> Dekolonisation.<br />
In den letzten drei Jahren haben vor allem zwei wichtige Autoren dieses<br />
Thema bearbeitet: Dan Diner und Michael Rothberg. Die beiden können paradigma-<br />
491 Ich danke Lisa Bolyos für viele Gespräche und diesen Gedanken.<br />
492 Vgl. Oliver Marchart, Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Wien 2005,<br />
S. 118.<br />
162
tisch für die hier beschriebenen beiden Seiten <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> stehen:<br />
Diner widmet sich in seinem Aufsatz „Gegenläufige Gedächtnisse“ 493 dem, was<br />
geschehen ist, aus einer transnationalen Perspektive, während Rothberg in seinem<br />
Buch „Multidirectional Memory“ 494 eher die Frage stellt, was die Erinnerung im<br />
Zeitalter <strong>der</strong> Dekolonisation für die Gegenwart bedeuten kann. Beide Titel alliterieren<br />
495 , benennen eine ähnliche Tatsache und doch argumentieren die Autoren ganz<br />
unterschiedlich. Dan Diner schlägt eine Neuperspektivierung in Geschichtsschreibung<br />
und öffentlichem Diskurs vor. Gegen die zunehmendene Moralisierung um eine<br />
„unterschiedslose Opferschaft“ 496 setzt er eine historisch konkrete Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Dabei sieht sich Diner auch die<br />
Geschichte des 8. Mai 1945 an und beschreibt hier unter an<strong>der</strong>em ein Massaker, das<br />
französische Sicherheitskräfte an AlgerierInnen bei den Befreiungsfeiern in Sétif<br />
verübten. 497 Bei aller erweiterten Auseinan<strong>der</strong>setzung geht es Diner dabei doch darum,<br />
die These von <strong>der</strong> Singularität des Holocaust aufrechtzuerhalten und zu untermauern.<br />
Dem diametral gegenüber geht es Rothberg darum, dass Erinnerung sich stets in ein<br />
Verhältnis zu an<strong>der</strong>en Erinnerungen setzt. Mit seinem Buch will er den Nullsummen-<br />
Konflikten 498 einer Erinnerungskonkurrenz den Ansatz <strong>der</strong> Multidirektionalität entgegensetzen.<br />
Das scheint insofern sinnvoll, als er Kämpfe um Erinnerung – wie<br />
antagonistisch sie sich auch immer äußern – als miteinan<strong>der</strong> verstrickt und sich auf<br />
einan<strong>der</strong> beziehend beschreibt. Somit kann Rothberg zeigen, dass Erinnerung nicht<br />
nur Identität produziert und stets umkämpft ist, son<strong>der</strong>n dabei immer auch Lücken,<br />
Verstrickungen, Brüche, unerwartete Ergebnisse und Beziehungen erzeugt. Und er<br />
schlägt vor, das Augenmerk auf gerade diese Multidirektionalität zu legen, die mit<br />
je<strong>der</strong> Geschichtspolitik und Geschichtsarbeit verbunden ist. So endet sein Buch mit<br />
folgenden den Handlungsraum agonistischer <strong>Kontaktzonen</strong> auf den Punkt bringenden<br />
Sätzen: „Thus, finally, un<strong>der</strong>standing political conflict entails un<strong>der</strong>standing the<br />
493 Diner, Gegenläufige Gedächtnisse.<br />
494 Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization,<br />
Stanford 2009.<br />
495 Dies legt die Vermutung nahe, dass Diner sich auf Rothberg bezieht, auch wenn er ihn nicht zitiert. Darauf<br />
macht auch Dirk Moses in einer Fußnote aufmerksam. Vgl. Moses, Hannah Arendt, Imperialisms and the<br />
Holocaust, S. 88.<br />
496 Diner, Gegenläufige Gedächtnisse, S. 9.<br />
497 Ebda., S. 64–71.<br />
498 Vgl. Rothberg, Multidirectional Memories, S. 309.<br />
163
interlacing of memories in the force field of public space. The only way forward is<br />
through their entanglement.“ 499 Wenn es also darum geht, was Geschichte für die<br />
Gegenwart bedeutet, dann müssen wir von Verstrickungen und Beziehungen ausgehen.<br />
Daran führt in <strong>Kontaktzonen</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> wohl kein Weg<br />
vorbei. So arbeiten etwa auch Doğan Akhanlı und Ulla Kux in Deutschland an einer<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong>, die die NS-Zeit nicht als deutsche nationale son<strong>der</strong>n als<br />
Beziehungsgeschichte erzählt. Doğan Akhanlı schreibt hierzu:<br />
„Im Laufe <strong>der</strong> Zeit habe ich immer mehr versucht, die NS-Geschichte nicht als Deutsche Geschichte,<br />
son<strong>der</strong>n als Beziehungsgeschichte zu erzählen, um einen Raum zu schaffen für folgende Fragen:<br />
Hat die NS-Geschichte ‚nur’ mit Deutschen zu tun? Was kann die deutsche Geschichte türkischsprachigen<br />
Bürgern sagen? Und umgekehrt: Was hat ‚unsere’ armenisch-türkisch-kurdische Geschichte mit<br />
‚uns’ Deutschen zu tun? Kann man internationale Vergleiche ziehen? Ist Antisemitismus nur ein<br />
Problem für die Mehrheitsgesellschaft?<br />
Wie werden aus ‚normalen Menschen’ Täter (gemacht)? Ist es, weil ‚wir’ als Türken öfter Opfer von<br />
Rechtsextremismus- und Neonazi-Anschlägen sind, ausgeschlossen, dass ‚wir’ auch Täter o<strong>der</strong> potenzielle<br />
Täter gegenüber an<strong>der</strong>en Min<strong>der</strong>heiten, zum Beispiel Armeniern o<strong>der</strong> Kurden, sein können?<br />
Welche Hinweise gibt es für die Entstehung von Rassismus und wohin führt er?<br />
Wie lässt sich <strong>der</strong> Umgang <strong>der</strong> deutschen Gesellschaft mit <strong>der</strong> eigenen Geschichte beschreiben? Welche<br />
Gefahren birgt das Verdrängen von Geschichte? Und: Warum existieren in <strong>der</strong> türkischen Sprache keine<br />
Begriffe wie ‚Aufarbeitung’ o<strong>der</strong> ‚Erinnerungsarbeit’?“ 500<br />
Und dennoch scheint an <strong>der</strong> Konzentration auf die Multidirektionalität etwas problematisch.<br />
Rothberg präsentiert sie von Anfang an als die richtige Antwort auf bestehende<br />
Erinnerungskonkurrenzen. Doch liegt die Antwort wirklich nur in den frei zur<br />
Verfügung stehenden Bezugnahmen auf Geschichte? Oft besteht erfahrungsgemäß die<br />
Möglichkeit unerwarteter Solidaritäten nicht nur darin, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> konkreten<br />
Arbeit mit Geschichte: In <strong>der</strong> Erfahrung damit, dass sich AkteurInnen wi<strong>der</strong>sprüchlich<br />
verhalten und dass es keine ungebrochenen Identitäten gibt (was sich etwa an <strong>der</strong><br />
Frage <strong>der</strong> Positionierung zwischen Wi<strong>der</strong>stand o<strong>der</strong> Kollaboration innerhalb unterschiedlicher<br />
Positionen am Balkan o<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Rolle <strong>der</strong> Türkei im Zweiten<br />
Weltkrieg, aber auch an vielen an<strong>der</strong>en Beispielen in unserem Projekt gezeigt hat).<br />
Denn wenn wir uns bloß auf die Überwindung identitärer Gruppenerzählungen konzentrieren,<br />
besteht auch die Gefahr, jene Konkurrenzen und Identitäten teilweise erst<br />
499 Vgl. Ebda., S. 312.<br />
500 Doğan Akhanlı, Meine Geschichte – „Unsere Geschichte“. Türkischsprachige Führungen im NS-Dokumentationszentrum<br />
Köln (EL-DE Haus), in: Fechler/Kößler/Messerschmidt/Schäuble (Hg.), Neue Judenfeindschaft?,<br />
S. 312 f.<br />
164
zu produzieren, von denen dann behauptet wird, sie zu überwinden.<br />
Mit dem hier vorgeschlagenen Konzept geht es um eine Alternative zu dieser<br />
Alternative: Indem die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem, was geschehen ist und dem, was<br />
es für die Gegenwart bedeutet, einerseits strikt unterschieden und diese Fragen<br />
an<strong>der</strong>erseits als gleich wichtige Aufgaben <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> verstanden<br />
werden, eröffnet sich eine Möglichkeit für unerwartete Bezugnahmen.<br />
So geht es also erstens um eine Transnationalisierung <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem, was geschehen ist, die historisch und konkret ist. Um diese zu bewerkstelligen,<br />
sind Vergleiche weniger hilfreich als die kritische und genaue Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Quellen und Ereignissen – da kann Dan Diner nur Recht gegeben werden.<br />
Die Arbeit am konkreten Material bildet in <strong>der</strong> Folge die Basis für einen demokratischen<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzungsprozess. Dieser ist – wenn wir uns nun das vorige Kapitel<br />
vor Augen führen – zugleich als offener Raum zu etablieren wie auch damit<br />
verbunden als Raum, in dem Grenzen definiert und Positionen bezogen werden<br />
können. So kann also konfliktuell und demokratisch – und mit Rothberg auch<br />
multidirektional – darüber verhandelt werden, was das für die Gegenwart bedeutet.<br />
Insofern die agonistische Kontaktzone Parteilichkeit verlangt, kann niemand<br />
dabei für sich die Position einfor<strong>der</strong>n, objektiv und neutral zu sein. In diesem Sinn<br />
soll hier zum Schluss auch noch einmal für eine Positionierung <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
plädiert werden. Jede Arbeit mit Geschichte findet in <strong>der</strong> Gegenwart statt<br />
und hat hier und jetzt eine Bedeutung. Und vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Aktualität<br />
antiziganistischer Gewalt in Europa 501 sowie von Ausschreitungen gegen LGBT-<br />
Personen und von zunehmendem Antisemitismus ist <strong>der</strong> Horizont, vor dem ich diese<br />
Arbeit über <strong>Geschichtsvermittlung</strong> schreibe, ein antifaschistischer. Ich plädiere also<br />
für eine dissensuale Geschichtsaneignung, die vor allem im Konflikt mit einem<br />
Wissen steht, das Kontinuitäten verharmlost und verleugnet. Der Wunsch, <strong>der</strong> damit<br />
verbunden ist, ist weniger eine Anerkennung multidirektionaler Verschiedenheit, als<br />
die Arbeit an einer „Solidarität <strong>der</strong> Unverschwisterten“ 502 , wie Paul Mecheril es nennt.<br />
501 Antiziganismus Watchblog, „600 Jahre Vogelfrei, http://antizig.blogsport.de/2012/01/03/600-jahre-vogelfrei/.<br />
502 Vgl. Mecheril, Nicht beson<strong>der</strong>s beson<strong>der</strong>s.<br />
165
Nachwort<br />
Im November 2011 organisierten wir als Abschluss unseres Projekts eine transnational<br />
besetzte Tagung mit dem Titel „’Und was hat das mit mir zu tun?’ Perspektiven<br />
<strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong> zu Nazismus und Holocaust in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft“.<br />
503 In Workshops und Panels widmete diese sich drei Themen, die auch für<br />
diese Arbeit wichtig waren: 1) Marginalisierte Erinnerungen zu Nazismus, Zweitem<br />
Weltkrieg und Holocaust; 2) <strong>Geschichtsvermittlung</strong> in postnazistischen Migrationsgesellschaften;<br />
3) Gedenkstätten als <strong>Kontaktzonen</strong>. Die Tagung hat mir sehr dabei<br />
geholfen, das Projekt aufzuarbeiten und Schlüsse daraus zu ziehen. 504 Dennoch muss<br />
lei<strong>der</strong> gesagt werden, dass sie sehr konfliktuell und wohl für alle Beteiligten anstrengend<br />
war. Insgesamt kann sie also selbst als „Kontaktzone“ angesehen werden, bei<br />
<strong>der</strong> sehr unterschiedliche Diskurse und Erfahrungskontexte aufeinan<strong>der</strong>trafen, die<br />
nicht immer konfliktfrei miteinan<strong>der</strong> kommunizierten. Die wesentlichen Spannungsfel<strong>der</strong><br />
scheinen sich an zwei (im Kapitel II.2 ausführlich behandelten) realen Problemen<br />
aufzuhängen: Erstens gibt es einen weitgehenden sozialen Ausschluss von<br />
MigrantInnen und Angehörigen marginalisierter Min<strong>der</strong>heiten als SprecherInnen und<br />
AkteurInnen im Feld <strong>der</strong> deutschsprachigen Erinnerungskultur. Zweitens fehlt weitgehend<br />
eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Antisemitismus und dessen spezifischen Logiken<br />
und Wirkungsweisen in <strong>der</strong> Migrationsforschung und Migrationspädagogik.<br />
Das führte zu Konflikten, die vor allem als Opferkonkurrenzen ausgetragen<br />
wurden. Wenn mit dieser Arbeit also für eine Kontaktzone als Konfliktzone plädiert<br />
wurde, dann konnte ich dies selbst erfahren. Nicht alles daran war produktiv. Auch<br />
wenn hier also viele Diskurse zusammengeführt, Verhältnisse analysiert, Erfahrungen<br />
reflektiert und Klärungen vorgenommen werden konnten, bleibt auch meine Position<br />
in die bestehenden Diskurse und Wi<strong>der</strong>sprüche verstrickt.<br />
Nachdem uns <strong>der</strong> Weg entlang von vielen Lektüren und Erfahrungen mit <strong>Geschichtsvermittlung</strong><br />
über den Holocaust in <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft zu vielen Debatten und<br />
Fragen geführt hat, kann also kein Happy End uns aus den Fallstricken, Spannungs-<br />
503 Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien VWI, Büro trafo.K & Dirk Rupnow in Kooperation mit<br />
Mauthausen Memorial, 17.–20. November 2011 im Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog.<br />
504 Dies wurde im Kapitel II.2 und seinen zahlreichen Referenzen auf die Tagung deutlich.<br />
166
fel<strong>der</strong>n und Schwierigkeiten des Themas befreien. Es ist noch viel zu tun … Deshalb<br />
schließt diese Dissertation mit dem Satz, mit dem sie begonnen hat: „Du brauchst die<br />
Arbeit nicht zu vollenden, aber du bist auch nicht frei, dich daraus zu entziehen.“ 505<br />
505 Zitiert nach: Mannheimer, Wie viel Erinnerung braucht <strong>der</strong> Mensch? – Wie viel Gedenken braucht ein Volk?,<br />
S. 22.<br />
167
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Michael SAUER, Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, 4. Auflage,<br />
Seelze-Velber 2005<br />
Barbara SCHÄUBLE, Albert SCHERR, „Ich habe nichts gegen Juden, aber ...“ Wi<strong>der</strong>sprüchliche und<br />
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Andreas SCHMOLLER, Vermittlung am historischen Ort. Perspektiven <strong>der</strong> BesucherInnenbetreuung<br />
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Christian SCHNEIDER, Besichtigung eines ideologisierten Affekts: Trauer als zentrale Metapher<br />
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179
Abstracts<br />
<strong>Kontaktzonen</strong> <strong>der</strong> <strong>Geschichtsvermittlung</strong>. <strong>Transnationales</strong> <strong>Lernen</strong> über den<br />
Holocaust in <strong>der</strong> postnazistischen Migrationsgesellschaft<br />
Wie können die nazistischen Massenverbrechen und <strong>der</strong> Zweite Weltkrieg in <strong>der</strong><br />
heutigen Migrationsgesellschaft vermittelt werden? Welche Rolle können Jugendliche<br />
und SchülerInnen dabei spielen? Wie können nationale Traditionen <strong>der</strong> Geschichtsschreibung<br />
durch transnationale Perspektiven erweitert, aufgebrochen, ergänzt und<br />
hinterfragt werden? Und was bedeutet das für die Gegenwart? Die Dissertation von<br />
Nora Sternfeld entwickelt ein theoretisches Instrumentarium für eine aktuelle<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong>spraxis zum Holocaust. Zentral sind dabei die Perspektiven, die<br />
sich für die <strong>Geschichtsvermittlung</strong> ergeben, wenn die Tatsache <strong>der</strong> Migrationsgesellschaft<br />
und <strong>der</strong>en Implikationen für Erinnerungskulturen in einer geteilten Gegenwart<br />
ernst genommen werden.<br />
Die Arbeit ist zwischen Theorie und Praxis angesiedelt: Sie ist aus dem<br />
Forschungs- und Bildungsprojekt „‚Und was hat das mit mir zu tun?’ Transnationale<br />
Geschichtsbil<strong>der</strong> zur NS-Vergangenheit“ hervorgegangen, das von September 2009<br />
bis August 2011 im Rahmen des För<strong>der</strong>programms Sparkling Science (BMWF)<br />
geför<strong>der</strong>t und vom Wiener Büro trafo.K umgesetzt wurde. Vor dem Hintergrund <strong>der</strong><br />
Erfahrungen in <strong>der</strong> Praxis werden Entwicklungen und Ansätze <strong>der</strong><br />
Geschichtsdidaktik, <strong>der</strong> Holocaust Education, <strong>der</strong> Gedenkstättenpädagogik, <strong>der</strong><br />
historisch-politischen Bildung, <strong>der</strong> Migrationspädagogik sowie <strong>der</strong> Kulturvermittlung<br />
aufgearbeitet und kritisch reflektiert. Methodisch kommt dafür das Konzept <strong>der</strong><br />
„Contact Zone“ zum Einsatz – ein Begriff, den Mary Louise Pratt und James Clifford<br />
geprägt haben und anhand dessen in den letzten Jahren Museen und Bildungsprozesse<br />
als Kontexte <strong>der</strong> Aushandlung geteilter Geschichte(n) gedacht wurden. In <strong>der</strong> Arbeit<br />
wird diese postkoloniale Reklamation für Gedenkstätten und Bildungssituationen neu<br />
gedacht. Dabei entstehen Handlungsräume, in denen eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit<br />
dem, was geschehen ist, stattfinden kann, um darüber zu verhandeln, was das für die<br />
Gegenwart bedeutet.<br />
180
Contact zones of mediating history. Transnational learning about the Holocaust<br />
in the post-Nazi migration society<br />
How can the mass crimes by the Nazis and the Second World War be mediated in<br />
today’s migration society? What is the role of young people and pupils in this<br />
process? In what kind of ways can the national traditions of historiography be extended<br />
and questioned by transnational perspectives? What is their meaning for the present?<br />
In her PhD thesis Nora Sternfeld develops a theoretical framework for a new<br />
approach to the current practice of mediating the history of the Holocaust. Her analysis<br />
focuses on perspectives that <strong>der</strong>ive from the recognition of the migration society<br />
and its implications for the cultures of remembrance in a shared present.<br />
The thesis is located between theory and practice and based on the research<br />
and education project “’And what does this have to do with me?’ Transnational<br />
images of NS–history”, which was conducted between September 2009 and August<br />
2011 by trafo.K – a Viennese office for education and critical knowledge production –<br />
and financially supported by the funding programme Sparkling Science of the Fe<strong>der</strong>al<br />
Ministry for Science and Research.<br />
Against the background of experiences in the practice of mediating history,<br />
developments and approaches of teaching history, Holocaust Education, pedagogy of<br />
memorials, historical-political education, migration pedagogy and cultural mediation<br />
are meticulously examined and critically reflected.<br />
To do this, Nora Sternfeld uses the concept of “contact zones”, developed by<br />
Mary Louise Pratt and James Clifford, which serves as a tool that is used in recent<br />
years to think of museums and the learning process as sites of negotiating shared<br />
histories. These postcolonial claims are consi<strong>der</strong>ed and rethought for memorials and<br />
educational situations.<br />
This process creates spaces in which it is possible to debate what has happened<br />
and to negotiate about the meaning of the past for the present.<br />
181
Kurzbiografie<br />
Nora Sternfeld ist Kunstvermittlerin und Kuratorin. Sie ist Mitbegrün<strong>der</strong>in und Teilhaberin<br />
von Büro trafo.K, das seit 1999 an Forschungs- und Vermittlungsprojekten an<br />
<strong>der</strong> Schnittstelle von Bildung und Wissensproduktion arbeitet (mit Renate Höllwart<br />
und Elke Smodics-Kuscher). Sie hatte Lehraufträge an <strong>der</strong> Wiener Kunstschule, <strong>der</strong><br />
Kunstuniversität Kassel und <strong>der</strong> Pädagogischen Hochschule Wien. Seit dem SoSe<br />
2004 lehrt sie an <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> bildenden Künste Wien und seit 2006 ist sie im<br />
Leitungsteam des ecm – educating/curating/managing. masterlehrgang für ausstellungstheorie<br />
und praxis an <strong>der</strong> universität für angewandte kunst wien.<br />
Sie war Teil des KuratorInnenteams von Verborgene Geschichte/n – remapping<br />
mozart, ein Projekt von Wiener Mozartjahr 2006 (mit Ljubomir Bratic, Araba<br />
Evelyn Johnston-Arthur, Lisl Ponger, Luisa Ziaja) sowie von Summit Non-Aligned<br />
Initiatives in Education Culture, Berlin 2007 (mit Kodwo Eshun, Susanne Lang,<br />
Nicolas Siepen, Irit Rogoff, Florian Schnei<strong>der</strong>). Weitere kuratorische Projekte waren<br />
u. a.: Wi<strong>der</strong>sprüche! Critical Agency and the Difference within, Open Space 2011<br />
sowie Nichts für uns, alles für alle. Strategischer Universalismus und politische<br />
Zeichnung, IG Bildende Kunst 2007 (mit Toledo i Dertschei) und Let it be known!<br />
Gegengeschichte/n <strong>der</strong> afrikanischen Diaspora in Österreich, Hauptbücherei am<br />
Gürtel 2007 (mit Araba Evelyn Johnston-Arthur).<br />
Darüber hinaus ist sie im Kernteam des Netzwerks schnittpunkt. ausstellungstheorie<br />
& praxis, im Vorstand <strong>der</strong> IG Bildende Kunst und ist Redakteurin des<br />
Bildpunkt – Zeitschrift <strong>der</strong> IG Bildende Kunst. Sie publiziert zu zeitgenössischer<br />
Kunst, Vermittlung, Ausstellungstheorie, Geschichtspolitik und Antirassismus.<br />
Nora Sternfeld ist Autorin von „Das Pädagogische Unverhältnis. Lehren und<br />
lernen bei Rancière, Gramsci und Foucault“, Wien 2009, und Mitherausgeberin von<br />
folgenden Sammelbänden: In einer Wehrmachtsausstellung – Erfahrungen mit<br />
<strong>Geschichtsvermittlung</strong>, Wien 2003 (mit trafo.K, Renate Höllwart, Charlotte Martinz-<br />
Turek, Alexan<strong>der</strong> Pollak); Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen,<br />
Reihe: ausstellungstheorie & praxis, Bd. 1, Wien 2005 (mit schnittpunkt – Beatrice<br />
Jaschke, Charlotte Martinz-Turek); Das Unbehagen im Museum. Postkoloniale<br />
Museologien, Reihe: ausstellungstheorie & praxis, Bd. 3, Wien 2009 (mit schnittpunkt<br />
– Belinda Kazeem, Charlotte Martinz-Turek); Fotografie und Wahrheit.<br />
Bilddokumente in Ausstellungen, Wien 2010 (mit Luisa Ziaja).<br />
182