„Beziehung!“, 24.11.2008 Beziehungen im Fokus 30 ... - NeuErkerode
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Evangelische Stiftung Neuerkerode – Psychologische Fachtagung <strong>„Beziehung</strong>!<strong>“</strong>, <strong>24.11.2008</strong><br />
<strong>Beziehungen</strong> <strong>im</strong> <strong>Fokus</strong><br />
<strong>30</strong> Jahre Psychologisch-Therapeutischer Fachdienst in Neuerkerode<br />
Henning Michels<br />
Vor einigen Jahren haben wir uns in Neuerkerode gezielt mit bedarfsgerechter Arbeitszeitgestaltung<br />
beschäftigt. Ein neues Planungsmodell wurde eingeführt und einige Wohngruppen<br />
haben zunächst in einer Pilotphase nach diesem Modell ihre Dienstplanung vorgenommen.<br />
Sie haben – orientiert an den Bedürfnissen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner – so<br />
genannte Kernzeiten, Flexzeiten und frei einzusetzende Arbeitszeiten definiert. Sie konnten<br />
auch wirklich in den meisten Fällen ihre Abläufe opt<strong>im</strong>ieren. Freie Zeitressourcen wurden<br />
dadurch nutzbar. Es konnte gezielter und besser geplant und dokumentiert werden, welche<br />
Fördermaßnahmen für welchen behinderten Menschen zu welchem Zeitpunkt durchgeführt<br />
werden sollen.<br />
Als damals die Pilot-Wohngruppen in einem Workshop ihre Planungsergebnisse vorstellten,<br />
ergab sich ein interessantes Gespräch zwischen einem Wohngruppenmitarbeiter und dem<br />
Referenten, der den Schulungsworkshop leitete.<br />
Ich habe das Gespräch ungefähr so in Erinnerung:<br />
Frage des Referenten: „Da ist noch diese eine Stunde an jedem Werktag, bei der Sie nicht<br />
angegeben haben, was Sie dort geplant haben und mit wem; was machen Sie denn eigentlich<br />
von halb fünf bis halb sechs?<strong>“</strong><br />
Verblüffte Ratlosigkeit <strong>im</strong> Gesicht des Mitarbeiters: „Ich bin einfach da.<strong>“</strong><br />
Referent: „Das geht natürlich nicht. Sie müssen für diese Zeit eine Maßnahme vorgesehen<br />
haben.<strong>“</strong><br />
Mitarbeiter: „Da kommen die meisten von der Arbeit und manchmal sind alle ganz beschäftigt<br />
und keiner will was von mir, aber irgendwie wuseln die alle in meiner Nähe rum und oft<br />
ruft auch jemand aus seinem Appartement an, um mir etwas zu erzählen. Oft höre ich dann<br />
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schon an seiner St<strong>im</strong>me, ob irgendwas gewesen ist. Oder ich habe das Gefühl, der will einfach<br />
ein bisschen mit mir plaudern.<strong>“</strong><br />
Referent: „Dafür haben Sie eine ganze Stunde angesetzt. Da können Sie doch gut Ihre<br />
Maßnahmendokumentation erledigen. Schreiben Sie doch: Dokumentation, ggf. Telefonkontakt<strong>“</strong>.<br />
Mitarbeiter: „Nein – ich kann das jetzt nicht so gut erklären, was ich in der Zeit mache, aber<br />
ich werde da schon ziemlich doll gebraucht. Ich kann mir da nichts anderes vornehmen. Ich<br />
merk das irgendwie.<strong>“</strong><br />
Ich hatte damals das Gefühl, die beiden reden aneinander vorbei. Ich spürte, dass gerade<br />
etwas Wichtiges vor unseren Augen und Ohren geschah; es wurde sichtbar, dass etwas dabei<br />
war, sich zu verändern und mir war nicht ganz wohl dabei.<br />
Was machte mich hier nachdenklich? Es ist selbstverständlich nicht falsch, Dienstpläne effizient<br />
und zielorientiert zu kalkulieren, denn bezahlte Mitarbeiter-Arbeitszeit ist wertvoll und<br />
wir müssen in der Lage sein, den Nachweis darüber zu führen, dass wir sie der Aufgabe entsprechend<br />
verwenden.<br />
Aber dennoch wurde ein Problem sichtbar, denn der Kollege drohte in Erklärungsnot zu<br />
kommen an einem Punkt, an dem er – seiner Intuition, seiner langjährigen Erfahrung oder<br />
seiner pädagogisch-fachlichen Beurteilung folgend – meiner Ansicht nach genau das Richtige<br />
tat.<br />
War der Mitarbeiter, der in dem Zeitdiagramm in Form von Blöcken kleiner farbiger Kästchen<br />
auftauchte, die mit dem PC probehalber hierhin und dorthin verschoben werden konnten, der<br />
gleiche, der von seinen Erlebnissen aus seiner Wohngruppe berichtete? Hier Maßnahmen<br />
und opt<strong>im</strong>ierbare Zeitressourcen, dort Menschen aus Fleisch und Blut.<br />
Ich hoffe (und ich glaube), diese Mitarbeiter finden <strong>im</strong>mer noch einen Weg, auch „einfach nur<br />
da<strong>“</strong> zu sein. Denn in Wirklichkeit sind sie gar nicht „einfach nur da<strong>“</strong>! Was sie tun, zählt nach<br />
meiner Ansicht zu ihren Hauptaufgaben, ist aber schwer zu operationalisieren und zu quantifizieren.<br />
Es handelt sich um etwas, dem sie sich gar nicht entziehen können. Was sie tun,<br />
strengt sie auch oft ungemein an: Mit ihrer eigenen Person und ihren <strong>„Beziehung</strong>ssinnen<strong>“</strong> zur<br />
Verfügung zu stehen für die Bedürfnisse und die Beziehungsangebote der Menschen, die sie<br />
betreuen, sei es...<br />
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• als Spiegel emotionaler Erlebnisinhalte,<br />
• als „Hilfs-Ich<strong>“</strong>, wenn die Ichfunktionen, also die adaptiven Funktionen nicht ausreichen,<br />
• als „Container<strong>“</strong>, der sich zur Aufnahme schwer erträglicher oder integrierbarer Affekte<br />
und Gefühlsinhalte zur Verfügung stellt,<br />
• als regulierendes oder steuerndes Objekt,<br />
• als Gegenüber, das sich mit seinen antwortenden Gefühlen und Phantasien, seiner eigenen<br />
Introspektion und seiner Empathie anbietet und zur Verfügung stellt.<br />
Die Szene, um die es ging, zeigt eine unspektakuläre, alltägliche, offene Gruppensituation.<br />
Sie ist nicht detailliert vorplanbar. Sie zeigt das Spannungsfeld, in dem die professionelle<br />
Begleitung und Betreuung von Menschen mit Behinderung stattfindet:<br />
Alles ist gleichzeitig Maßnahme und menschliche Begegnung.<br />
* * *<br />
Vor einigen Wochen – unsere Tagung war längst geplant und die Ankündigungen waren verschickt<br />
– bekam ich den Einladungsflyer einer anderen Fachtagung in die Hand.<br />
„Betreutes Wohnen Darmstadt<strong>“</strong> und der „Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale<br />
Arbeit der Hochschule Darmstadt<strong>“</strong> (Professor Dr. Gerspach) luden ein zum Fachtag<br />
„Phänomen geistige Behinderung: Beziehung - Grundlage für Entwicklung<strong>“</strong>. Im Begleittext<br />
lese ich:<br />
„Der Mensch wird erst in seiner Beziehung zu anderen Menschen zum Menschen, denn das<br />
Besondere am Menschsein sind seine Beziehungsfähigkeit und Beziehungsbedürftigkeit.<br />
In der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung wird dies zunehmend ignoriert. Flexibilität ist<br />
gefragt, die Bedeutung stabiler <strong>Beziehungen</strong> gerät <strong>im</strong>mer weiter in den Hintergrund.<br />
Und auch <strong>im</strong> sozialen Bereich rückt <strong>im</strong> Zuge der Ökonomisierung der sozialen Arbeit und in<br />
dem Versuch, soziale Arbeit messbar, quantifizierbar und überprüfbar zu gestalten, Beziehungsarbeit<br />
<strong>im</strong>mer weiter in den Hintergrund.<br />
Doch noch so ausgeklügelte Hilfepläne mit differenzierten Zielen und abgestuften Vorgehensweisen<br />
können die Beziehungsarbeit nicht ersetzen.<strong>“</strong><br />
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Genau so ist es, habe ich gedacht und mich über die Koinzidenz gefreut. Offenbar liegt das<br />
Thema in der Luft und wir sind nicht die einzigen, die davon überzeugt sind, dass (Zitat aus<br />
dem Flyer) „tragfähige Betreuungsbeziehungen<strong>“</strong> die Voraussetzung dafür sind, „die in den<br />
Hilfeplänen erarbeiteten Ziele auch dauerhaft zu erreichen.<strong>“</strong><br />
* * *<br />
Menschen mit geistiger Behinderung leben in einer Welt, die mit anderen Menschen bevölkert<br />
ist und nicht mit Maßnahmen. Sie gehen nicht in eine Beratungsstelle oder eine ärztliche<br />
Sprechstunde, sondern zu konkreten Personen, also zu ihrer Ärztin, Frau Dr. Müller. Es liegt<br />
in ihrer entwicklungspsychologisch aus der geistigen Behinderung heraus verstehbaren Besonderheit<br />
begründet, dass sie noch mehr als andere auf <strong>Beziehungen</strong> zu realen Menschen<br />
angewiesen sind, die Orientierung und Sicherheit geben.<br />
Levitas und Gilson 1 haben den Begriff „mediated self<strong>“</strong> geprägt. Dieser Begriff ist nicht leicht<br />
ins Deutsche übersetzbar; „vermitteltes Selbst<strong>“</strong> gibt ihn meines Erachtens nur unzureichend<br />
wieder. Angesprochen ist damit eine besondere Ausprägung von Autonomie – wenn man<br />
wollte, könnte man sagen Schein-Autonomie.<br />
Viele geistig behinderte Menschen erreichen durch konsequente Förderung einen mehr oder<br />
minder hohen Grad an Kompetenzen und Fertigkeiten und damit auch an potentieller Selbständigkeit.<br />
Die Fähigkeit, diese anzuwenden ist aber oft an die Verfügbarkeit bzw. Anwesenheit<br />
einer Bezugsperson gebunden, an die man sich sozusagen „andocken<strong>“</strong> kann. Die<br />
Grenzen zwischen der eigenen Person und dem Anderen sind also in einer nichtpsychotischen,<br />
sondern sozusagen benignen Weise durchlässig. Ich-Funktionen werden<br />
quasi „ausgeliehen<strong>“</strong>.<br />
Ohne diese Möglichkeit, sich beziehungsmäßig zu verankern, kann die scheinbare Selbständigkeit<br />
leicht zusammenbrechen. Nicht selten kommt es gerade dann zur psychischen Dekompensation,<br />
wenn in best<strong>im</strong>mten Lebenssituationen, in Übergangssituationen ein mehr an<br />
Selbständigkeit verlangt wird. Darum ist die Ablösung vom Elternhaus ein oft so langwieriger<br />
und für beide Seiten schwieriger Prozess. Und darum besteht bei Menschen mit geistiger<br />
Behinderung eine hohe Vulnerabilität durch Verluste und Trennungen.<br />
1 Levitas, Andrew und Gilson, Stephen French: Toward the developmental understanding of the <strong>im</strong>pact of mental<br />
retardation on the assessment of psychopathology. In: National Institute of Mental Health, U.S. Department of<br />
Health and Human Services: Assessment of behaviour problems in persons with mental retardation living in the<br />
community. Rockville. 1988. S. 71ff<br />
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Autonomie ist hier also untrennbar mit Beziehung verknüpft. Darum bleibt die Frage, was ein<br />
geistig behinderter Mensch „eigentlich selber will<strong>“</strong>, was seine eigenen Ziele, Wünsche und<br />
Absichten sind, die die zentrale Rolle in den modernen Bedarfsplanungs- und Hilfekonzepten<br />
spielt, so schwer zu beantworten. Was er will, steht in einer dialektischen Wechselwirkung<br />
mit seinem sozialen Kontext, oder genauer mit den realen Personen, die ihm als Bezugspersonen<br />
zur Verfügung stehen.<br />
Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen seelischen Problemen oder psychischen<br />
Störungen scheitern an den Anpassungs- und Regulierungsanforderungen ihrer kognitiven,<br />
sensorischen und emotionalen Innenwelt oder an denen der sozialen Außenwelt.<br />
Dabei spielen die Auswirkungen organischer Schädigungen und Funktionsstörungen<br />
manchmal eine ursächliche, <strong>im</strong>mer aber eine erschwerende Rolle. Das gilt auch, wenn eine<br />
psychische Symptomatik das Ergebnis einer Bewältigungsleistung sein kann, z. B. des Versuchs,<br />
einen Konflikt zu lösen, sich vor Überforderung zu schützen oder ein Entwicklungsdefizit<br />
zu kompensieren.<br />
Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Störungen sind außerdem<br />
fast <strong>im</strong>mer „beziehungsverstrickt<strong>“</strong> <strong>im</strong> Ringen um Gesehenwerden, Beachtet- und Verstandenwerden,<br />
um Angenommensein, um Sattwerden, um die Erfüllung von Sehnsüchten,<br />
Bedürfnissen und Hoffnungen, um Liebe, um Spiegelung, um Resonanz und Antwort, um<br />
Hoffnung auf einen tröstlicheren Ausgang an Stelle von Retraumatisierungen.<br />
Alle psychischen Störungen sind zumindest auch Beziehungsstörungen.<br />
* * *<br />
Jan Glasenapp 2 bezeichnet die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als „das Kapital sozialer<br />
Einrichtungen<strong>“</strong>. Ich würde hinzufügen: Außerdem braucht es natürlich auch noch Geld, Häuser,<br />
Werkstätten, Fahrzeuge, Computer, Lifter und Akten – aber <strong>im</strong> Kern hat er Recht, das<br />
sind alles nur Hilfsmittel.<br />
Das Wesentliche spielt sich jedoch <strong>im</strong>mer zwischen zwei oder mehreren Personen ab.<br />
Und dabei sind wir Helfer unsere eigenen und einzigen Werkzeuge: Wir hören zu und<br />
schauen hin. Wir fragen und antworten. Wir regen an und verhindern. Wir lassen uns berühren<br />
und wir fassen an. Wir zeigen Wege und setzen Grenzen. Wir halten fest und wir lassen<br />
los. Wir schützen und begleiten. Wir fördern und fordern.<br />
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Noch einmal: Das alles spielt sich <strong>im</strong> Feld von Wahrnehmung, Kontakt, Interaktion und Beziehung<br />
ab. Unser Werkzeug sind wir selber.<br />
Das scheint selbstverständlich, lässt aber Raum für Missverständnisse. Wann „gelingt<strong>“</strong> eine<br />
Beziehung? Wann ist sie „hinreichend gut<strong>“</strong>?<br />
Es geht ja nicht um den hingebungsvollen, altruistischen Helfer. Es geht nicht einmal <strong>im</strong>mer<br />
um besonders einzigartige und tiefe <strong>Beziehungen</strong>. Jeden anderen Menschen a priori zu mögen,<br />
ist unmöglich. Mit jedem „gut Freund<strong>“</strong> zu sein, dient vielleicht mehr eigenen unbewussten<br />
Wünschen. Eine „gute<strong>“</strong> Beziehung findet vielleicht gerade ihren Ausdruck in dem Respekt<br />
vor dem Abgrenzungsbedürfnis des Anderen oder in einer Haltung des distanzierten<br />
aber interessierten, beobachtenden Anteilnehmens. Auch <strong>im</strong> eigenen Interesse müssen wir<br />
uns auch <strong>im</strong>mer wieder innerlich entfernen, um uns selber zu schützen und das Erlebte zu<br />
reflektieren. Besonders in der Arbeit mit schwer psychisch gestörten Menschen werden Mitarbeiter<br />
mit den Grenzen des von ihnen Ertragbaren, mit ihrer eigenen Angst, Hilflosigkeit<br />
oder Wut konfrontiert. Das kann abschrecken, muss es aber nicht zwangsläufig, denn:<br />
Zur institutionellen Kultur der Anleitung, Beratung und Begleitung von Mitarbeitern durch Vorgesetzte<br />
und Fachdienst gehört es auch, den dafür nötigen Verarbeitungsprozessen Raum,<br />
Zeit und einen Rahmen zu geben.<br />
* * *<br />
Unser Auftrag ist es, Teilhabe zu ermöglichen. Das bedeutet, wir sollen die Lebenswelt behinderter<br />
Menschen so mitgestalten, dass ihnen <strong>Beziehungen</strong> unterschiedlicher Qualität<br />
möglich werden. Denn <strong>Beziehungen</strong> prägen und steuern das Selbstbild und tragen zur Regulierung<br />
und Aufrechterhaltung des Selbstwertgefühls bei, sie ermöglichen Bedürfnisbefriedigung<br />
und setzen Entwicklungsanreize, sie machen Biographien aus und sie gliedern Lebensphasen.<br />
Darum der Titel unserer Tagung: Beziehung – Ausrufungszeichen. Und darum der Appell,<br />
der <strong>im</strong> Untertitel anklingt: Sich mit <strong>Beziehungen</strong> zu befassen, ist alles andere als altmodisch.<br />
* * *<br />
2 Glasenapp, Jan: „Grenzenlossetzenunderfahrenserweiterer.<strong>“</strong> Tagung „Grenzgänger<strong>“</strong>, Neuerkerode, 2006.<br />
Download : www.netzwerk-intensivbetreuung.de<br />
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Nicht nur die Evangelische Stiftung Neuerkerode hat <strong>im</strong> Jahr 2008 ein rundes Jubiläum, 140<br />
Jahre. Der Psychologische Dienst als klinisch-psychologischer Gesundheitsdienst in seiner<br />
gegenwärtigen Form wird in diesem Jahr <strong>30</strong> Jahre alt. Das ist eine lange Zeit. Ich finde, es<br />
lohnt sich, darauf einmal zurück zu schauen. Als Stichtag für das <strong>30</strong>jährige Jubiläum habe<br />
ich den allerersten Einzeleintrag herausgesucht, den es in einer Akte auf einem der „Grünen<br />
Bögen<strong>“</strong> gibt, und der datiert vom 7. März 1978.<br />
Es war damals ein wichtiger Schritt in der Modernisierung Neuerkerodes, der institutionellen<br />
Entwicklung der Stiftung und der inneren, organisatorischen Differenzierung, als Dr. Christian<br />
Gaedt Ende der 70er Jahre dafür sorgte, dass aus den Psychologen, die bis dahin in den<br />
He<strong>im</strong>bereichen als Hauspsychologen gearbeitet hatten, ein Fachdienst gebildet wurde. Er<br />
musste das gegen Widerstände auch der Psychologen selbst durchsetzen, die damals ihre<br />
kollegialen Bezüge, ihre Verwurzelung in ihren jeweiligen Wohnbereichen hatten. Dort hatten<br />
sie – gemeinsam mit pädagogischen Kolleginnen und Kollegen – wichtige und notwendige<br />
Arbeit geleistet.<br />
Wir haben unsere Aufgaben schon oft dargestellt; ich fasse mich hier deshalb kurz:<br />
Der Psychologische Dienst gehört zu den Gesundheitsdiensten. Er steht den Bürgerinnen<br />
und Bürgern und den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zur Verfügung. In allen Fragen, die<br />
mit psychischen Problemen zu tun haben – oft wird der nicht unproblematische Begriff der<br />
Doppeldiagnose verwendet -, ist es seine Aufgabe, Mitarbeitende zu beraten, anzuleiten und<br />
fortzubilden und genauso den behinderten Bürgern Neuerkerodes mit Beratung und Therapie<br />
zur Verfügung zu stehen.<br />
Daneben hatten bzw. haben wir Schwerpunktwohngruppen, mit denen projektartig gearbeitet<br />
wird. Psychologen arbeiten in Planungsgruppen und Arbeitskreisen mit. Im Rahmen der Mitarbeiterfortbildung<br />
werden Seminare angeboten, zentral und auf Wunsch als In-House-<br />
Seminar. Bis vor kurzem wurden alle Entwicklungsberichte vom Psychologischen Dienst verfasst.<br />
Es gab bzw. gibt Arbeitsschwerpunkte und besondere Aufgaben wie ein Autismusprojekt,<br />
die Begleitung der Tag-Nacht-Klinik, die verantwortliche Leitung bzw. die Fachberatung<br />
und psychologisch-therapeutische Anleitung therapeutischer Wohngruppen, und die Zusammenarbeit<br />
mit dem Therapiehaus, die Arbeits- und Beschäftigungstherapie, Reittherapie,<br />
Sprachtherapie, Musiktherapie usw.; ich kann hier alles nur in aller Kürze aufzählen.<br />
Das Konzept, die Verantwortung und die Initiative bei denen zu belassen, die den Alltag der<br />
behinderten Menschen begleiten und organisieren – nach Möglichkeit bei den behinderten<br />
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Menschen selber -, und nur auf deren Anforderung von einer außen stehenden Warte aus<br />
tätig zu werden, ist in der aktuellen Fachdiskussion <strong>im</strong>mer noch oder wieder ganz modern<br />
und findet sich beispielsweise in dem Modell der so genannten Konsulentenarbeit wieder.<br />
Dahinter steckten schon damals die Idee der Ressourcenorientierung und ein Nein zur Klinifizierung<br />
des Alltags.<br />
Zu den strukturellen Entscheidungen der Anfangsjahre gehörte dann auch, dass die Psychologen<br />
weitgehend aus der Hierarchie der Wohnbereiche herausgenommen wurden und auf<br />
ein Weisungsrecht verzichteten. Dies ermöglichte es ihnen, eine andere Rolle einzunehmen.<br />
Sie wandten sich unter einer personenzentrierten Sichtweise den Individuen und deren Erleben<br />
zu und hier insbesondere den vielfältigen Formen seelischer Störungen und psychischer<br />
Behinderungen. Diese Probleme wurden damals als entwicklungshemmende Faktoren<br />
wahrgenommen, ja sie gewannen unter den verbesserten Lebensbedingungen überhaupt<br />
erst an Bedeutung.<br />
Der Aufbau des psychologisch-therapeutischen Teams ermöglichte es, neben der Praxis<br />
auch Theorie zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Es hat Spaß gemacht, wenn wir uns<br />
gemeinsam Themen erarbeitet und Aspekte unserer Arbeit <strong>im</strong> Rahmen von Fachtagungen<br />
der Öffentlichkeit präsentiert haben Die Tagungsbände der „Neuerkeröder Foren<strong>“</strong> werden<br />
bis heute nachbestellt.<br />
Dass psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung genauso vorkommen<br />
wie bei Menschen ohne Behinderungen, dass sie diagnostizierbar, verstehbar und therapierbar<br />
sind, wurde und wird von Vielen in der deutschen Fachöffentlichkeit auch mit dem Namen<br />
Gaedt verbunden. Neuerkerode hat seit damals den Ruf, sich erfolgreich und kompetent<br />
auch der Betreuung und Begleitung von Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen<br />
psychischen Störungen zu widmen. Das merken wir <strong>im</strong>mer noch an Anfragen und<br />
Aufnahmeanträgen, mit denen uns diese Fachkompetenz zugetraut wird. Wir betrachten dies<br />
als Ausdruck von Anerkennung für unsere gemeinsame Arbeit in der Stiftung Neuerkerode,<br />
sehen es aber gleichzeitig mit gemischten Gefühlen, denn wir sind uns, glaube ich, alle einig,<br />
dass Neuerkerode genauso wenig eine klinische Sondereinrichtung sein sollte, wie ein<br />
Schwerbehindertenzentrum.<br />
Ich habe Christian Gaedt erwähnt, der er uns auf unseren Weg gebracht hat. Ich möchte an<br />
dieser Stelle aber auch allen psychologischen Kolleginnen und Kollegen für ihr Engagement<br />
danken, die in den <strong>30</strong> Jahren hier <strong>im</strong> Team unter den Bedingungen des Fachdienstmodells<br />
gearbeitet haben.<br />
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* * *<br />
Wichtig war uns von Beginn an, dass wir von den Bürgerinnen und Bürgern Neuerkerodes<br />
auch selber, ohne Einbeziehung der Betreuer, in Anspruch genommen werden können.<br />
Schon <strong>im</strong>mer gab es Viele, die eine bedeutsame, <strong>im</strong> Verlauf einer Therapie entstandene<br />
Beziehung zu „ihrer Psychologin<strong>“</strong> oder „ihrem Psychologen<strong>“</strong> hatten, eine gefühlte Bedeutung,<br />
die in engem Bezug zum eigenen Lebensweg steht. Und schon <strong>im</strong>mer wurden wir von Bürgerinnen<br />
oder Bürgern Neuerkerodes mit persönlichen Anliegen aufgesucht: „Ich hab da ein<br />
Problem, hast Du mal Zeit? Ich will mal reden!<strong>“</strong> Irgendwann haben wir deshalb konsequenterweise<br />
eine „Offene Sprechstunde<strong>“</strong> eingerichtet: Feste Zeit, fester Ort, keine Vorbedingungen,<br />
keine Anmeldeprozedur, Vertraulichkeit garantiert, Werbespot <strong>im</strong> Neuerkeröder Fernsehen,<br />
Visitenkarten zum Mitnehmen.<br />
Wir haben dieses von uns gut gemeinte, institutionalisierte Angebot nach ein paar Monaten<br />
in dieser Form wieder eingestellt; „Offene Sprechstunde<strong>“</strong> ist jetzt wieder jederzeit. Warum<br />
eingestellt? Es hat nicht funktioniert. Menschen mit geistiger Behinderung suchen eben keine<br />
Stelle auf, sondern reale Menschen. Und das tun sie auch <strong>im</strong>mer noch sehr häufig und mit<br />
<strong>im</strong>mer klarer formulierten Anliegen.<br />
Die modernen und zukünftigen Konzepte - Assistenzprinzip, Ambulantisierung, persönliches<br />
Budget behinderte Mensch als Dienstleistungskunde oder sogar als Unternehmer in eigener<br />
Sache - können sich nur dann bewähren, wenn es ihnen gelingt, die zentralen Bedürfnisse,<br />
nämlich die Beziehungsbedürfnisse zu sichern. Und wir haben die Aufgabe, ernsthaft zu<br />
analysieren, wie sich Beziehungsqualitäten mit veränderten Betreuungskonzepten verändern<br />
und ob dies tatsächlich bedürfnisorientiert geschieht oder dem zuwiderläuft, was geistig behinderte<br />
Menschen benötigen.<br />
* * *<br />
Noch einmal zurück zum Psychologischen Dienst. Wenn es einen roten Faden, ein Leitmotiv,<br />
ein organisierendes Prinzip gibt, das ich rückblickend in unserer Arbeit erkenne, dann sind<br />
es die vielfältigen Bedeutungen und Aspekte von <strong>Beziehungen</strong>.<br />
In unseren Beratungsgesprächen werden nicht nur Fakten geklärt, Informationen gesammelt,<br />
Diagnosen und Handlungsvorschläge mitgeteilt, sondern die Mitarbeiter werden auch ermutigt,<br />
sich mit Ihrer eigenen Subjektivität und ihrem Erleben einzubringen. Es führt zu diagnostischem<br />
Gewinn und oft zu emotionaler Entlastung, wenn wir erkennen, dass alle Kontakte<br />
und Begegnungen, alle Beziehungsangebote nicht nur eine Bedeutung <strong>im</strong> Hier und Jetzt<br />
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haben. Sie sind auch geprägt durch die Beziehungserfahrungen, die aus der individuellen<br />
Lebensgeschichte stammen. Niemand ist totaler Sklave seiner Biographie, aber man hat<br />
auch keine eine Chance, sich ihr ganz zu entziehen.<br />
Als pädagogische Mitarbeiter und als Therapeuten kann es uns z. B. passieren, dass wir von<br />
einem Klienten behandelt werden wie ein autoritärer oder nachgiebiger Vater, wie eine ü-<br />
bermächtige oder ablehnend erlebte Mutter oder wie jemand, der sich nicht für die Gefühle<br />
des anderen interessiert. Nicht selten sind wir dann unbewusst dazu bereit, diese Rollenangebote<br />
auch anzunehmen und uns der Erwartung entsprechend zu verhalten – mal mehr,<br />
mal weniger. Und wir handeln auch von uns aus nicht gefühlsneutral und rational, sondern<br />
wir erleben Angst und Ärger, Antipathie und Sympathie, Mitgefühl und innere Distanz,<br />
Scham und Entrüstung. Einen Teil dieser Affekte und Phantasien bringen wir aus unserer<br />
eigenen Lebensgeschichte mit, der andere entsteht in der Interaktion mit dem anderen wir<br />
sprechen von „antwortenden Gefühlen und Phantasien<strong>“</strong>. Die Effekte von Übertragung und<br />
Gegenübertragung sind nicht nur <strong>im</strong> psychotherapeutischen Kontext bedeutsam, aus dem<br />
sie begrifflich stammen. Komplexe Phänomene in diesem Zusammenhang stellen die unbewussten<br />
so genannten „Reinszenierungen<strong>“</strong> dar. Als den Zugang zu Ihnen bemühen wir uns<br />
um „szenisches Verstehen<strong>“</strong>.<br />
Was ist gemeint? Wir erleben es oft, dass sich in einer aktuellen Problemsituation prägende<br />
frühe Beziehungserfahrungen der Protagonisten widerspiegeln und wiederholen, also unbewusst<br />
reinszeniert werden. Wer abgelehnt wurde, tendiert unbewusst dazu, diese Ablehnung<br />
<strong>im</strong>mer wieder zu bestätigen. Wer Sorgenkind war, dem gelingt es, wieder <strong>im</strong> Mittelpunkt zu<br />
stehen und Besorgnis zu erzeugen. Wer gespürt hat, dass man sich seinetwegen schämt,<br />
findet Wege, seine Bezugspersonen zu blamieren. Wer sich für wertlos und ungeliebt hält,<br />
neigt vielleicht dazu, in selbstentwertender Weise schöne Erlebnisse zu zerstören. Diese<br />
beziehungsdynamischen Prozesse tendieren zur Wiederholung, sie lasen sich als wiederkehrende<br />
Handlungsmuster identifizieren.<br />
Was hilft? Das diagnostisch Bemühen darum, die Szene mit ihren unausgesprochenen Anteilen<br />
als bedeutsam zu verstehen, die Analyse der antwortenden Gefühle und Phantasien,<br />
also der Gegenübertragung, und die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte.<br />
Ich erwähnte den diagnostischen Nutzen und die mögliche Entlastung, die möglich werden,<br />
wenn wir diese Prozesse aktiv in Beratungssituationen berücksichtigen. Der Gewinn besteht<br />
in der Chance, uns und den Anderen durch diese Einsicht besser zu verstehen und dadurch<br />
handlungsfähiger zu werden. Die Entlastung für die Mitarbeiter, die sich oft in problematische<br />
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Beziehungskonstellationen verwickelt sehen, besteht in der Erkenntnis, dass sie möglicherweise<br />
gar nicht als eigene Person gemeint sind, sondern als Repräsentanten zurückliegender,<br />
bedeutsamer Erfahrungen des behinderten Menschen mit seinen wichtigen Bezugspersonen.<br />
Therapeutisch geht es dann oft darum, korrigierende Beziehungserfahrungen zu ermöglichen.<br />
Das „Prinzip Antwort<strong>“</strong> der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie strukturell gestörter<br />
Patienten hat unsere psychotherapeutische Arbeit geprägt und bereichert. Es geht dabei<br />
in der Regel nicht wie in der Psychoanalyse auf der Couch um die Deutung und Durcharbeitung<br />
von Unbewusstem, von Phantasien oder Träumen, sondern meistens um relativ handfeste<br />
Interaktionen, eben um eine besondere Form theoriegeleiteter, reflektierter wirklicher<br />
Erfahrungen zwischen realen Menschen. Es wird nicht nur gesprochen sondern auch gekämpft,<br />
gespielt, gekocht, vorgelesen, geschaukelt, weggelaufen und hinterhergelaufen, gesucht<br />
und gefunden , geschwiegen, gemalt, gemailt und spazierengegangen. Verhaltenstherapeutische<br />
Methoden werden eingesetzt, um neues Verhalten aufzubauen, einzuüben und<br />
zu festigen. Das Bemühen um Empathie und Authentizität und das wertschätzende Akzeptieren<br />
der Person und auch deren dunkler Seiten gehört zur Grundlage therapeutischer Haltung.<br />
Es ist leicht zu verstehen und auch theoretisch ableitbar, dass korrigierende, entwicklungsorientierte<br />
Beziehungserfahrungen <strong>im</strong> schützenden Rahmen einer therapeutischen Beziehung<br />
ihren Anfang nehmen können, dass dies aber keinesfalls ausreicht. Sie müssen, um<br />
wirksam zu werden, auch <strong>im</strong> Alltag stattfinden. Das ist einer der Gründe dafür, dass in der<br />
therapeutischen Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung Diagnostik, Therapie und<br />
Beratung untrennbar miteinander verschränkt sein müssen. Und hier kommt auch wieder die<br />
große Bedeutung ins Spiel, die den zuverlässigen, konstanten, tragfähigen und belastbaren,<br />
aber auch qualitativ ganz unterschiedlichen <strong>Beziehungen</strong> zu den Mitarbeitern <strong>im</strong> Wohnbereich,<br />
in der Werkstatt, in der Fördergruppe, <strong>im</strong> Dorf und <strong>im</strong> gesamten sozialen Umfeld zukommt.<br />
Wohin ich auch sehe, <strong>„Beziehung</strong><strong>“</strong> durchzieht thematisch unser Denken und unsere Arbeit:<br />
• In der elementaren entwicklungspsychologischen Bedeutung des frühen Dialogs zwischen<br />
Kind und pr<strong>im</strong>ären Bezugspersonen, die wichtig ist für den Aufbau der adaptiven<br />
Ichfunktionen und vielem mehr;<br />
- 11 -
• in der Bindungstheorie;<br />
• sogar in der Neuropsychologie; wir lernen, dass das Gehirn ein auch Beziehungsorgan<br />
ist;<br />
• bei den Quellen eines stabilen Selbstwertgefühls und der narzisstischen Regulation;<br />
• be<strong>im</strong> Verstehen von Traumatisierungen; die Traumata, mit deren Folgen unsere Klienten<br />
zu tun haben, sind <strong>im</strong>mer Beziehungstraumata;<br />
• wenn es um Ablösung und Trennung vom Elternhaus geht und das Ausbalancieren von<br />
eigenständigem Leben und Erhalt guter familiärer <strong>Beziehungen</strong>;<br />
• Auch am anderen Ende, dem der scheinbaren (!) autistischen oder dissozialen Beziehungslosigkeit,<br />
kommen wir von dem Thema nicht los;<br />
• und schon gar nicht, wenn es darum geht, jemanden am Ende seines Lebens – unheilbar<br />
krank, demenzerkrankt oder nicht – zu begleiten.<br />
* * *<br />
Psychologische Arbeit, wie wir sie verstehen, ist nicht losgelöst von konzeptioneller, politischer<br />
und sozialer Orientierung zu sehen. Der Psychologische Dienst hat sich <strong>im</strong>mer als Teil<br />
des Konzepts „Ort zum Leben<strong>“</strong> verstanden – mit dessen schützenden und dessen emanzipatorischen<br />
Bedeutungsanteilen. Im weiteren Sinne gehört auch der Psychologische Dienst zu<br />
den Angeboten der „strukturellen Betreuung<strong>“</strong>, die den behinderten Hilfeempfängern zur Verfügung<br />
stehen. „Strukturelle Betreuung<strong>“</strong> heißt, dass neben den Angeboten der „personellen<br />
Betreuung<strong>“</strong> gemeinwesenbezogene Strukturen aufgebaut wurden und aufgebaut werden, die<br />
den behinderten Bürgern ein möglichst hohes Maß an Normalität, an Selbstbest<strong>im</strong>mung, an<br />
Mitgestaltung ihres Umfelds ermöglichen (als der Begriff „Empowerment<strong>“</strong> in den späten 80er<br />
Jahren in die Fachdiskussion eingeführt wurde, war uns die diese Idee sehr vertraut). Wir<br />
gestalten damit Lebensräume, die Menschen mit Behinderungen Entwicklungsangebote und<br />
-möglichkeiten für wertgebende, Rollen machen. Das Feld der sozialen <strong>Beziehungen</strong> verlassen<br />
wir mit der strukturellen Betreuung nicht, denn Selbständigkeit kann nicht in isolierte Autarkie<br />
führen, Partizipation ist Partizipation am sozialen Gemeinwesen, Selbständigkeit ohne<br />
ein mitgedachtes Gegenüber wäre inhaltsleer.<br />
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Von außen betrachtet erscheint Neuerkerode mit seinen verschiedenen Standorten und vielfältigen<br />
Leistungsangeboten als große Komplexeinrichtung. Aus der Innenschau sehen wir<br />
die Möglichkeit einer lebendigen, vielgestaltigen, facettenreichen Gemeinde. Der Psychologische<br />
Dienst versteht sich dabei als Teil der gemeindenahen, gemeindeintegrierten, personenzentrierten,<br />
niederschwellig zugänglichen Gesundheitsinfrastruktur.<br />
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Ich hoffe, Sie haben eine Idee davon bekommen, wie wir zur Konzipierung unseres Tagungsthemas<br />
und zur Auswahl der Vorträge gekommen sind. In den Vorträgen der heutigen<br />
Fachtagung wird es darum gehen, welche Fähigkeiten und welche Bereitschaften Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter mitbringen oder entwickeln sollten und welche Hilfen und Unterstützungen<br />
sie von Seiten der Institution benötigen, um über eine lange Zeit Menschen mit geistiger<br />
Behinderung, zumal mit zusätzlichen psychischen Störungen, entwicklungsfördernd zu<br />
begleiten (Dr. Barbara Senckel: Beziehung heißt das Zauberwort). Wir werden mehr über die<br />
Beschaffenheiten von <strong>Beziehungen</strong> hören, die wir vorfinden und auf die wir gestaltenden<br />
Einfluss haben (Birgit Riediger: Eltern – Helfer - Therapeuten). Und wir haben zwei Themen<br />
herausgegriffen, Traumatisierungen (Renate Laskowski: <strong>Beziehungen</strong> mit Wunden) und dissoziales,<br />
grenzverletzendes Verhalten (Ach<strong>im</strong> Perner: Kinder in Rüstungen), die einen engen<br />
inneren Zusammenhang haben (es geht um Opfer und Täter, sogar um Opfer, die zu Tätern<br />
werden) und von denen wir wissen, dass sie heute, 2008, für unsere gemeinsame Arbeit in<br />
Neuerkerode eine besonders herausfordernde Bedeutung haben.<br />
Wir haben bewusst auch Referenten angesprochen, die nicht jeden Tag mit Menschen mit<br />
geistiger Behinderung arbeiten, denn es ist wichtig, über den Tellerrand hinaus zu schauen.<br />
Die Transferleistung, die Umsetzung auf unser Arbeitsfeld, müssen wir dann selber leisten.<br />
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Ich fasse zusammen:<br />
• Wir müssen uns ernsthafte Gedanken darüber machen, welchen Einfluss der Wandel<br />
ökonomischer, sozialpolitischer und konzeptioneller Rahmenbedingungen auf <strong>Beziehungen</strong><br />
als dem Kern unserer Aufgaben hat.<br />
• Wir müssen absichern, dass die Menschen mit geistiger Behinderung, für deren Begleitung,<br />
Betreuung und Behandlung wir die Mitverantwortung tragen, sich auch zukünftig<br />
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auf stabile und konstante <strong>Beziehungen</strong> verlassen können.<br />
• Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sich Mitarbeiter nicht als einsetzbare und verschiebbare<br />
Arbeitszeitressource verstehen sondern dass sie sich dass sie sich als Person<br />
geschätzt fühlen und dass sie ihre Motivation und ihr Engagement aufrecht halten<br />
können.<br />
• Wir müssen unsere Beziehungsangebote und Beziehungsantworten, also unser pädagogisches<br />
und psychologisch-therapeutisches Programm sich verändernden Bedürfnissen<br />
und neu auftauchenden Problemen unserer behinderten Betreuten, Bewohner, Klienten,<br />
Patienten, Bürger anpassen.<br />
Henning Michels<br />
Dipl.-Psych., PPT<br />
Evangelische Stiftung Neuerkerode<br />
henning.michels@neuerkerode.de<br />
www.neuerkerode.de<br />
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