Macht Arbeit krank? - Klinik Roderbirken
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Rehabilitationswissenschaftliches Symposium:<br />
Perspektivwechsel in der Kardiologie<br />
<strong>Klinik</strong> <strong>Roderbirken</strong>, 8. April 2011<br />
<strong>Macht</strong> <strong>Arbeit</strong> <strong>krank</strong>?<br />
Univ.-Prof. Dr. Johannes Siegrist<br />
Institut für Medizinische Soziologie<br />
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Etablierte psychosoziale Risikofaktoren der<br />
koronaren Herz<strong>krank</strong>heit<br />
• Depressivität, vitale Erschöpfung, manifeste Depression<br />
• Psychische Verhaltensdispositionen (Typ D,<br />
Feindseligkeit, Ärgerneigung, exzessive<br />
Verausgabungsneigung)<br />
• Sozioökonomische Benachteiligung (SES: Einkommen,<br />
Bildung, Wohnlage u.a.)<br />
• Psychosoziale Stressoren in zentralen sozialen Rollen:<br />
– Berufsrolle (Hohe Anforderung/Niedrige Kontrolle; hohe<br />
Verausgabung/geringe Belohnung)<br />
– Familie/soziales Netzwerk (soziale Isolation, mangelnder<br />
Rückhalt; interpersonelle Konflikte)
Einfluss des Erwerbslebens auf erhöhte Risiken<br />
kardiovaskulärer Er<strong>krank</strong>ungen<br />
<strong>Arbeit</strong>slosigkeit<br />
(kurz-/langzeitig)<br />
Prekäre Beschäftigung<br />
(Unsicherheit, geringer<br />
Schutz, niedriger Lohn)<br />
Belastende stabile<br />
Beschäftigung<br />
(Modelle psychosozialer<br />
<strong>Arbeit</strong>sbelastungen)
Quelle: M. Kivimäki et al. (2003), Am J Epidemiol, 158:663-668.<br />
Sterblichkeit von Langzeitarbeitslosen (>1 Jahr)<br />
im Vergleich zu permanent Beschäftigten<br />
in einem 10-Jahres-Zeitraum (1990-2000)<br />
Hazard Ratio<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
Männer<br />
(n=15653/3858)<br />
Frauen<br />
(n=35770/3395)<br />
* *<br />
*<br />
*<br />
*<br />
*<br />
1<br />
0<br />
Gesamtsterblichkeit<br />
(n=1332)<br />
Kardiovaskuläre<br />
Sterblichkeit (n=300)<br />
Externe Gründe<br />
(n=311)
Downsizing und Mortalitätsrisiko<br />
bei finnischen Männern und Frauen<br />
(Hazard<br />
Ratio, N=22.430; Zeitraum: 7,5 Jahre)<br />
2,5<br />
2<br />
Gesamtmortalität<br />
Mortalität KHK<br />
1,5<br />
1<br />
0,5<br />
0<br />
nein gering stark<br />
Personalabbau?<br />
nein gering stark<br />
Personalabbau?<br />
Quelle: J. Vahtera et al. (2004), BMJ, 328: 555.
Pathogenetisch bedeutsamer Dauerstress<br />
Spektrum von Reaktionen auf chronische<br />
Herausforderungen, die als bedrohlich und<br />
unausweichlich wahrgenommen werden (Stressoren)<br />
1. auf der kognitiven Ebene:<br />
Bedeutung von Kontrollierbarkeit und Bewältigbarkeit<br />
des Stressors<br />
2. auf der affektiven Ebene:<br />
chronifizierte negative Emotionen (nur teilweise bewusst<br />
prozessiert)<br />
3. auf der physiologischen Ebene:<br />
Rekurrente Aktivierung von Stressachsen (SAM-/HPA-<br />
Achsen); Entwicklung von ‚allostatic load‘
„Bedrohte Kontrolle“ und „bedrohte Belohnung“<br />
durch Manipulation der sozialen Rangordnung<br />
bei männlichen Makaken-Affen:<br />
Auswirkungen auf Koronarläsionen<br />
Mittlere Größe atherosklerotischer<br />
Plaques (mm 2 )<br />
0,9<br />
0,8<br />
0,7<br />
0,6<br />
0,5<br />
0,4<br />
0,3<br />
0,2<br />
0,1<br />
0<br />
stabile instabile<br />
mit ohne<br />
soziale Gruppe<br />
Betablocker<br />
(nur instabile soziale<br />
dominant rangniedrig<br />
Gruppe)<br />
Quelle: J.R. Kaplan et al. (1994), Am Heart J, 128: 1316.<br />
0,9<br />
0,8<br />
0,7<br />
0,6<br />
0,5<br />
0,4<br />
0,3<br />
0,2<br />
0,1<br />
0
Anforderungs-Kontroll<br />
Kontroll-Modell<br />
(R. Karasek & T. Theorell, 1990)<br />
hoch<br />
Niedriger<br />
Distress<br />
aktiv<br />
Entscheidungsspielraum/<br />
Kontrolle<br />
gering<br />
passiv<br />
Hoher<br />
Distress<br />
gering<br />
hoch<br />
quantitative Anforderungen
Modell beruflicher Gratifikationskrisen<br />
(J. Siegrist, 1996)<br />
Extrinsische Komponente<br />
- Anforderungen<br />
- Verpflichtungen<br />
Verausgabung<br />
Erwartung<br />
(‘übersteigerte<br />
Verausgabungsneigung‘)<br />
- Lohn, Gehalt<br />
- Aufstiegsmöglichkeiten<br />
<strong>Arbeit</strong>splatzsicherheit<br />
- Wertschätzung<br />
Belohnung<br />
Erwartung<br />
(‘übersteigerte<br />
Verausgabungsneigung‘)<br />
Intrinsische Komponente
Warum werden berufliche Gratifikationskrisen über einen<br />
längeren Zeitraum erfahren?<br />
• Abhängigkeit<br />
Der Beschäftigte findet auf dem <strong>Arbeit</strong>smarkt keine<br />
Alternative und zieht ein unfaires Beschäftigungsverhältnis<br />
dem <strong>Arbeit</strong>splatzverlust vor.<br />
• Strategische Entscheidung<br />
Der Beschäftigte akzeptiert ein Ungleichgewicht<br />
aus Verausgabung und Belohnung, um seine zukünftigen<br />
Karrierechancen zu verbessern (‚antizipatorisches<br />
Investment‘).<br />
• Übersteigerte Verausgabungsneigung<br />
bersteigerte Verausgabungsneigung<br />
Der Beschäftigte weist ein motivationales Muster exzessiver<br />
Leistungsbereitschaft auf, wodurch die investierte<br />
Verausgabung die erhaltene Belohnung häufig übersteigt.
Workplace demands, economic reward,<br />
and 4-year 4<br />
progression of carotid atherosclerosis<br />
(plaque<br />
height) ) in 940 Finnish men<br />
4-year increase<br />
In plaque height (mm)<br />
0,35<br />
0,3<br />
0,25<br />
0,2<br />
low<br />
0,33<br />
0,26 0,27<br />
high<br />
Economic rewards<br />
Source: J. Lynch et al. (1997), Circulation, 96: 302<br />
0,27<br />
low<br />
high<br />
Work demands<br />
p = .04 (adj.)
Berufliche Gratifikationskrisen / Kontrolle über<br />
<strong>Arbeit</strong>saufgabe und Neuer<strong>krank</strong>ung an KHK<br />
Whitehall II-Studie (N=9.095 Männer und Frauen)<br />
OR<br />
3<br />
2,5<br />
2<br />
*<br />
*<br />
OR<br />
3<br />
2,5<br />
2<br />
*<br />
*<br />
1,5<br />
1,5<br />
1<br />
1<br />
0,5<br />
keine<br />
Belastung<br />
hohe<br />
Verausg.<br />
oder geringe<br />
Belohn.<br />
hohe<br />
Verausg. +<br />
geringe<br />
Belohn.<br />
+ Berufsstatus, koronare Risikofaktoren, negative Affektivität<br />
Quelle: J. Bosma et al. (1998), Am J Publ Health, 88: 68–74.<br />
0,5<br />
keine<br />
Belastung<br />
mittlere<br />
Kontrolle<br />
geringe<br />
Kontrolle<br />
adjustiert für Alter, Geschlecht, Zeitraum bis Nachuntersuchung<br />
+ jeweils alternatives <strong>Arbeit</strong>sstressmodell
Quelle: M. Kivimäki et al. (2002), BMJ, 325: 857.<br />
Mortalitätsrisiko (Herz-Kreislauf<br />
Kreislauf-Krankheiten)<br />
Krankheiten)<br />
in Abhängigkeit von psychosozialen <strong>Arbeit</strong>sbelastungen<br />
max =812 (73 Todesfälle); Zeitraum: 25,6 Jahre<br />
N max<br />
Hazard ratio #<br />
2,5<br />
2<br />
1,5<br />
1<br />
0,5<br />
*<br />
1 2 3 1 2 3<br />
Anforderungs-Kontroll-<br />
Modell<br />
*<br />
Modell beruflicher<br />
Gratifikationskrisen<br />
Terzile (Belastung):<br />
1 = keine;<br />
2 = mittlere;<br />
3 = hohe<br />
#<br />
adj. für Alter,<br />
Geschlecht,<br />
Berufsgruppe,<br />
Rauchen,<br />
körperliche Aktivität,<br />
systol. Blutdruck,<br />
Cholesterin, BMI
Erhöhtes Herzinfarktrisiko bei täglich 3 – 4 Stunden<br />
Mehrarbeit bei Beamten: Whitehall II Studie<br />
1,8<br />
1,6<br />
1,4<br />
1,2<br />
1<br />
0,8<br />
0,6<br />
0,4<br />
0,2<br />
0<br />
* Hazard ratios adjusted for 21 risk factors<br />
Mean daily overtime<br />
in hours (h) at baseline<br />
No overtime<br />
1h<br />
2h<br />
3-4h<br />
Source: Virtanen M et al. (2010) Eur Heart J: doi10.1093/eurheartj/ehq124
<strong>Arbeit</strong>sstress (Gratifikationskrisen) bei Männern in China mit<br />
Koronarbeschwerden (KHK-positive vs. KHK-negative Gruppe<br />
(N=388))<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
niedrig<br />
mittel<br />
hoch<br />
1<br />
0<br />
OR Gratifikationskrise<br />
Adjusted for age, and sex; Additionally adjusted for hypertension, diabetes mellitus,<br />
smoking, BMI, CHD family history, educational level, and marital status; *p
Abhängigkeit des Restenosierungsrisikos nach PTCA von<br />
Overcommitment und medizinischen Risikofaktoren<br />
(n = 106 Männer, 6 Monate follow up)*<br />
*erwartete Wahrscheinlichkeiten basierend auf logistischem Regressionsmodell<br />
Quelle: L. Joksimovic et al. (1999) Int J Behav Med 6: 356 - 69
Kumulative Reinfarktinzidenz in Abhängigkeit von Job strain<br />
(N=971 Männer und Frauen (35-59 Jahre) nach Erstinfarkt)<br />
Quelle: Aboa-Éboulé C et al. (2007) JAMA 298: 1652-1660
Mittlerer ambulant<br />
registrierter Blutdruck<br />
in Abhängigkeit von<br />
niedriger ( ) bzw.<br />
hoher Kontrolle ( )<br />
am <strong>Arbeit</strong>platz.<br />
N=227 Männer und<br />
Frauen (47-59 Jahre);<br />
Whitehall-Kohorte<br />
SBP<br />
DBP<br />
Quelle: Steptoe et al. (2004), Journal of Hypertension, 22: 915.
Entzündungsparameter (CRP) während experimentell<br />
induziertem mentalen Stress bei Beschäftigten mit<br />
unterschiedlichem Ausmaß an chronischem <strong>Arbeit</strong>sstress (berufliche<br />
Gratifikationskrise) (N=92)<br />
Veränderung CRP #<br />
(μg/ml) als Funktion<br />
beruflicher<br />
Gratifikationskrise<br />
# adjustiert für Alter,<br />
BMI, baseline<br />
0.12<br />
0.10<br />
0.08<br />
0.06<br />
0.04<br />
0.02<br />
0.00<br />
p < .05<br />
keine mittel stark<br />
berufliche Gratifikationskrise<br />
Quelle: M. Hamer et al. (2006), Psychosom Med, 68: 408-413.
Warum sind psychosoziale Risikofaktoren für<br />
ärztliches Handeln in der Kardiologie wichtig?<br />
Psychosozialer Stress…<br />
• erhöht das Risiko manifester kardiovaskulärer<br />
Ereignisse in signifikanter Weise<br />
(‚Risikoverdoppelung‘)<br />
• kommt bei Patienten in der Kardiologie häufig vor (z.<br />
B. theoriebasierter <strong>Arbeit</strong>sstress: Prävalenz 10-30%)<br />
• interagiert mit etablierten somatischen und<br />
verhaltensgebundenen Risikofaktoren<br />
• kann durch verhaltens- und verhältnisbezogene<br />
Maßnahmen in Prävention, Therapie und Rehabilitation<br />
verringert werden
Folgerungen für den Arzt<br />
• Erfassung und Bewertung der psychosozialen<br />
<strong>Arbeit</strong>sbelastungen sowie der psychosozialen<br />
Ressourcen (Screening, anamnestische Fragen)<br />
• Mithilfe und Motivierung zu kardioprotektiver<br />
Balance: Multimodale Intervention<br />
• Therapieangebote mit Kombination aus<br />
Wissensvermittlung, Sport- und Bewegungstherapie,<br />
Entspannung sowie Einzel- oder Gruppengesprächen<br />
zur Stressbewältigung<br />
• Einbeziehung von Sozialarbeitern und ggf.<br />
<strong>Arbeit</strong>gebern (v.a. bei Komorbidität Depression <br />
BEM, z.B. Hamburger Modell)
Literaturhinweise<br />
• Albus C, Siegrist J: Primärprävention – Psychosoziale Aspekte.<br />
Zeitschrift für Kardiologie 94 (Suppl 3), 2005: 105-112.<br />
• de Backer G et al: European guidelines on cardiovascular disease<br />
prevention in clinical practice. European Journal of Cardiovascular<br />
Prevention and Rehabilitation (Suppl 1), 10, 2003: 1-78.<br />
• Clark AM et al.: Socioeconomic status and cardiovascular disease:<br />
risk and implications for care. Nature Reviews Cardiology 2009. DOI:<br />
10.1038/nrcardio.2009.163<br />
• Rozanski A. et al.: The epidemiology, pathopsysiology, and<br />
management of psychosocial risk factors in cardiac practice. Journal of<br />
the American College of Cardiology Foundation 45 (5), 2005: 637-51.<br />
• Siegrist J: Psychosoziale Balance. In: U. Nixdorff (Hrsg.) Check-Up-<br />
Medizin. Stuttgart: Thieme. 2009. S. 323-332.<br />
• Siegrist K, Siegrist J. Berufliche Wiedereingliederung von an<br />
Depression er<strong>krank</strong>ten Beschäftigten. Expertise BGF Köln, 2010
Vielen Dank!