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3. Wirkungen und Funktionen von Kunst im philosophisch ...

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<strong>3.</strong> <strong>Wirkungen</strong> <strong>und</strong> <strong>Funktionen</strong> <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> <strong>im</strong> <strong>philosophisch</strong>-ästhetischen<br />

Denken<br />

Die vorbürgerliche Gesellschaft<br />

Die ältesten uns bekannten Ausdrucksformen <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong>, die paläolithischen Höhlenmalereien etwa in Trois-Frères, hatten<br />

sowohl kultischrituellen als auch überlebensrelevante <strong>Funktionen</strong> (vgl. Hauser 1972, Kap. 1). Interessant ist der Hinweis aus<br />

psychologischer Sicht <strong>von</strong> K. Holzkamp, der Gründe für die Vermutung findet, daß gerade bei dem Schritt zur bewußten<br />

Lebensgestaltung in der Anthropogenese der Mensch zwar die Möglichkeiten der Gestaltung <strong>und</strong> des Subjektseins auskostet,<br />

zugleich sich jedoch auf ganz neue Weise der Risiken dieser neuen Kontroll-Qualität bewußt wurde, so daß durch ästhetisches<br />

Handeln auch eine Möglichkeit geschaffen wurde, dieser Ängste <strong>und</strong> Aufgeregtheiten Herr zu werden (Holzkamp 1993). Ähnlich<br />

argumentiert W. Oelmüller: "Seit h<strong>und</strong>erttausend Jahren müssen sich die Menschen selbst ihre biologische Mängelkondition<br />

durch Kultur erträglich machen. Sie kompensieren ihre "ungesellige Geselligkeit" durch soziale <strong>und</strong> politische Organisation, ihre<br />

verminderte Sehfähigkeit durch eine Brille. Soziale Institutionen <strong>und</strong> "Weltanschauungen" sind die <strong>von</strong> Völkern <strong>und</strong> Kulturen auf<br />

Dauer gestellte Problemlösungen, <strong>von</strong> denen man ann<strong>im</strong>mt, daß diese die Mängel, Instabilitäten <strong>und</strong> Ängste des Daseins<br />

erträglich machen" (Oelmüller 1982, S. 23).<br />

Wir haben hier eine Kompensationstheorie <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong>, die uns in der Folge noch häufiger begegnen wird. Das berühmte Wort<br />

<strong>von</strong> Horaz des delectare <strong>und</strong> prodesse, des Erfreuens <strong>und</strong> des Nutzens, dürfte also schon sehr früh selbstverständliche<br />

Gr<strong>und</strong>haltung gegenüber ästhetischer Praxis <strong>und</strong> ihren Produkten sein. Auch ist es bekannt, daß die Ausdifferenziertheit<br />

unseres intellektuellen (<strong>und</strong> spirituellen) Systems sehr jungen Datums ist: Üblich war sehr lange Zeit - gerade <strong>im</strong> griechischen<br />

Denken - eine Einheit <strong>von</strong> ethisch-moralischem, ästhetischem <strong>und</strong> kognitivem Bewußtsein: "Kosmos" bedeutet etwa<br />

gleichzeitig "Schmuck" <strong>und</strong> "Ordnung". Ontologie, Erkenntnistheorie, Religion <strong>und</strong> Moral waren noch nicht getrennte<br />

Wissensbereiche, sondern einheitliches Bewußtsein. Die Zahl bei den Pythagoräern, eine gehe<strong>im</strong>nisvolle Lebensgemeinschaft<br />

<strong>im</strong> Süden Italiens, war Gr<strong>und</strong>lage des Seienden, letztes Wissen, Basis der Weltenharmonie <strong>und</strong> Struktur der Erkenntnis. Mit<br />

Pythagoras scheint auch die Philosophie zu beginnen: er selber nennt sich zum ersten Male "Philosoph". Die Einheitlichkeit <strong>von</strong><br />

Ästhetik <strong>und</strong> Moral kommt etwa in dem Ideal des Kalokagathia zum Ausdruck, des Gut-Schönen als Einheit (vgl. etwa Grassi<br />

1962).<br />

Plato<br />

Um die Ausgangssituation <strong>von</strong> Plato (427-347) zu beurteilen, mag man sich daran erinnern, daß er Schüler <strong>von</strong> Sokrates<br />

(470-399) war, daß sich die vorsokratische Philosophie reich <strong>und</strong> differenziert entwickelt hat, daß die Tragödien des Aischylos<br />

bereits über 100 Jahre alt waren, Euripides etwa Zeitgenosse <strong>von</strong> Sokrates war, der Speerträger <strong>von</strong> Polyklet bereits ein halbes<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert existierte <strong>und</strong> die Architektur einen hohen Entwicklungsstand erreicht hat. Politisch gab es in Athen eine<br />

entwickelte (Sklavenhalter-)Gesellschaft. Die griechische" Demokratie" war jedoch häufig inneren <strong>und</strong> äußeren Angriffen<br />

unterworfen (Kriege mit Sparta, Makedonien etc.). Oberstes Ziel des Staatsphilosophen Plato war daher die Einrichtung <strong>und</strong><br />

Erhaltung einer gerechten Ordnung. Und an diesem obersten Ziel maß er dann auch die Möglichkeiten <strong>von</strong> Literatur <strong>und</strong> Musik.<br />

Die hier skizzierten Rahmen- <strong>und</strong> Ausgangsbedingungen (<strong>und</strong> weitere) hebt Oelmüller (1982) als "Erfahrungshorizont" eines<br />

jeweiligen konkreten <strong>philosophisch</strong>-ästhetischen Nachdenkens über <strong>Kunst</strong> hervor, da dieses gerade nicht geschichtsfrei <strong>und</strong><br />

jenseits der Grenzen normierender <strong>und</strong> etablierter <strong>Kunst</strong>verständnisse operiert. Diese historische, gesellschaftliche <strong>und</strong><br />

kulturelle Einbettung als methodisches Prinzip ist gerade dann höchst relevant, wenn über <strong>Wirkungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> verhandelt<br />

wird.<br />

Oelmüller unterscheidet vier zentrale Erfahrungshorizonte für einen "Diskurs <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Schönes":<br />

- den Erfahrungshorizont der Polis,<br />

- den Erfahrungshorizont des Kosmos,<br />

- den Erfahrungshorizont des jüdisch-christlichen Schöpfer- <strong>und</strong> Erlösergottes,<br />

- den Erfahrungshorizont der bürgerlichen Gesellschaft.<br />

Wir werden uns diese Perspektiven zu eigen machen <strong>und</strong> können daher bei der Erläuterung der <strong>Kunst</strong>wirkungen bei Plato an<br />

dieser Stelle fortfahren. Plato als Staatsphilosoph in einer übernommenen Verantwortung für das Gemeinwesen ist also unter<br />

dem "Erfahrungshorizont der Polis" zu betrachten:<br />

„Rettung der Polis bedeutet für Plato Rettung der auf Einsicht, Wissenschaft, Arbeitsteilung <strong>und</strong> vernunftgeleitetem Handeln <strong>und</strong><br />

Herstellen ge gründeten Polis sowie Verbannung alles dessen, was den <strong>von</strong> der Vernunft geleiteten Lebens- <strong>und</strong><br />

Handlungszusammenhang bedroht". (ebd. S. 31). Daher wird "der traditionelle Anspruch der Dichter <strong>und</strong> Maler, gottbegeistert<br />

Übermenschliches zu vermitteln, ... <strong>im</strong> „Staat" als Täuschung <strong>und</strong> Gaukelei abgewiesen..“ Denn: „Künstler <strong>und</strong> Dichter können<br />

nur täuschenden Schein erzeugen.“ (ebd.)<br />

Die später - <strong>und</strong> auch heute - hervorgehobene Möglichkeit, ästhetisch mit möglichen Lebensformen zu spielen, wird <strong>von</strong> Plato<br />

als identitätszerstörende Subjektivität strikt abgelehnt. Da zudem Maler <strong>und</strong> Dichter bloß Wirklichkeit nachahmen (<strong>im</strong> besten<br />

Falle, sofern sie nicht lügen), hat ihr Handwerk auch nicht größere Integrität <strong>und</strong> Dignität als das der anderen Handwerker.<br />

Sehr viel milder ist übrigens Aristoteles gest<strong>im</strong>mt. Er schreibt nicht bloß Anleitungen <strong>und</strong> Regelwerke für die künstlerischen<br />

Techniken der Dichter (Poetik), er zählt <strong>Kunst</strong>erfahrungen auch zu den sinnvollen Tätigkeiten der Muße eines Polis-Bürgers.<br />

Im Hinblick auf die Frage nach <strong>Wirkungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> dürfte Plato zusammen mit den früheren Kirchenvätern unter den<br />

prominenten Philosophen der exponierteste Gegner <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> sein. Es wurde häufiger darauf hingewiesen, daß diese<br />

Gegnerschaft trotz einer großen persönlichen Affinität zu Ästhetik besteht - dies belegen nicht zuletzt seine durchkomponierten<br />

Dialoge. Sie begründet sich vielmehr mit einem großen Vertrauen in die Wirkungsmöglichkeit <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong>, nur daß es seines


Erachtens nach die falschen Ziele sind, die <strong>Kunst</strong> erreicht. Da oberstes Ziel die vernunftgeleitete Polis ist, ist sein <strong>Kunst</strong>verbot<br />

nur konsequent.<br />

Wir halten fest: Gerade weil Plato <strong>von</strong> den <strong>Wirkungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> auf den Menschen überzeugt ist, will er diese verbieten. Die<br />

<strong>Wirkungen</strong>, die er vermutet, sind personenbezogene Identitätsstiftung; Vernunftzerstörung; Subjektivitätsförderung) <strong>und</strong> soziale<br />

(Zerstörung des sozialen Zusammenhangs).<br />

Anders ist übrigens Platons Beurteilung der Musik: Diese ist neben Gymnastik das erste Mittel zur Erziehung (!), weil sie das<br />

Zeitmaß des sittlichen Lebens vermittelt.<br />

Wie bei Aristoteles können Melodien, wenn sie Nachahmungen best<strong>im</strong>mter Charakter- Eigenschaften sind, diese befördern<br />

oder hemmen. Da er Musik nur als Mittel für politische Zwecke versteht, ist Aristoteles jedoch gegen jede "Verselbständigung"<br />

dieses Mittels in Form <strong>von</strong> Wettbewerben oder der Entwicklung technischer Virtuosität. In dieser Weise wird auch der<br />

Katharsis-Begriff bei Aristoteles gedeutet: Als Umwandlung <strong>von</strong> Leidenschaften in tugendhafte, also für die Polis nützliche<br />

Eigenschaften (vgl. etwa Stichwort "Erziehung, ästhetische <strong>und</strong> künstlerische" in Henckmann/Lotter 1992 <strong>und</strong> die dort<br />

angegebene Literatur).<br />

Fazit dieser knappen Darstellung ist die Feststellung vollständiger Funktionalisierung <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> für politische oder - wie <strong>im</strong><br />

Mittelalter - religiöse Zwecke, wobei gleichzeitig kein Zweifel bestand, daß <strong>Kunst</strong> die beabsichtigten <strong>Funktionen</strong> auch erfüllt, also<br />

die gewünschten <strong>Wirkungen</strong> zeigt. Es gibt sogar eine Reihe <strong>von</strong> Überlegungen, für welche Zwecke Bildende <strong>Kunst</strong>, die den<br />

Augensinn affiziert, beziehungsweise Musik das geeignetere Manipulationsinstrument ist. So überlegt etwa Heinrich VIII, daß<br />

der Augensinn das Volk besser zu überzeugen gestattet als der Ohrsinn: <strong>und</strong> gestaltet seine öffentlichen Aufzüge entsprechend<br />

prächtig.<br />

Die bürgerliche Gesellschaft<br />

Mit einiger Berechtigung läßt sich der Beginn einer neuen Etappe <strong>im</strong> ästhetischen Denken präzise festlegen: Der 26.04.1335,<br />

als Petrarca den Mont Ventoux bestieg <strong>und</strong> die Natur als würdigen Gegenstand ästhetischer Betrachtung entdeckte. Der<br />

Kommentar <strong>von</strong> J. Ritter macht deutlich, wieso diese begrenzt bergsteigerische Leistung die oben behauptete Bedeutung hat:<br />

„Mit der Ausbildung der modernen Naturwissenschaften <strong>und</strong> der wissenschaftlich-technischen Weit sowie mit dem damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Prozeß der Verdinglichung <strong>und</strong> Entfremdung wird das ästhetische Verhalten des Menschen zur ganzen Natur<br />

nicht nur möglich, sondern als Kompensation vergessener <strong>und</strong> verdrängter Daseinsbewältigung notwendig.“ (Oelmüller 1982, S.<br />

52.)<br />

Nun ist das Jahr 1335 noch recht früh gegriffen, um die Auswüchse der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft schon<br />

kompensieren zu wollen. Es mußten vielmehr noch einige Jahrh<strong>und</strong>erte ins Land gehen, bis schließlich in England als erstem<br />

großen Land die bürgerliche Revolution zwar nicht das Königtum beseitigte, aber <strong>im</strong>merhin eine (bis heute nicht<br />

aufgeschriebene) Konstitution wirksam werden ließ, die eine angemessene Beteiligung des Bürgertums an der politischen<br />

Macht - <strong>von</strong> Hegemonie war jedoch noch lange nicht die Rede - sicherte. Auch die Naturwissenschaften <strong>und</strong> - damit verb<strong>und</strong>en<br />

- die wissenschaftlich-technische Welt brauchte noch einige Zeit. Man erinnere sich an einige Daten: (Nach-)Erfindung des<br />

Buchdruckes 1440; allmähliches Abschütteln mittelalterlicher Hemmnisse in der Wissenschaft, etwa durch Roger Bacon zu<br />

Beginn des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts; Handelskapitalismus durch die Fugger <strong>und</strong> Welser; Entstehen <strong>von</strong> Manufakturen; Neuentdeckung<br />

<strong>von</strong> Plato in der Florentinischen Akademie des Marsilio Ficino (1493-1499) <strong>und</strong> schließlich - an der Schwelle zur neuzeitlichen<br />

Naturwissenschaft - Leonardo da Vinci. Und erst jetzt, vielleicht noch mit Kopernikus (1473-1543) ist in diesem Bereich die<br />

Renaissance zu Ende <strong>und</strong> Galilei (1564-1642), Kepler (1572-1630) <strong>und</strong> Newton (1643-1727) veranstalteten die<br />

Wissenschaftliche Revolution, in deren Folge etwa der Erfolg des mechanischen (<strong>und</strong> mechanistischen) Denkens das religiöse<br />

beziehungsweise geometrisch-mathematische Forschungsparadigma zwar nicht überholte, aber <strong>im</strong>merhin als Konkurrenz stark<br />

bedrängte (vgl. Fuchs 1984).<br />

Baumgarten<br />

Nachdem Empirie durch die neue Naturwissenschaft geadelt wurde, war der Boden bereitet, die Sinnlichkeit als angesehene<br />

<strong>und</strong> akzeptierte Erkenntnisquelle zu ihrem Recht kommen zu lassen. Und dies ist schließlich die St<strong>und</strong>e <strong>von</strong> A.G. Baumgarten<br />

(1714-1762) <strong>und</strong> seinem Lebenswerk über die Ästhetik. Aber <strong>im</strong>merhin sind wir inzwischen <strong>im</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert, England hatte<br />

seine Revolutionen, in Frankreich brodelt es, die englischen Empiriker <strong>und</strong> die französischen Aufklärer denken darüber nach,<br />

wie dem Bürgertum nach seinem großen ökonomischen Erfolg auch auf <strong>philosophisch</strong>-theoretische Weise zu seiner Hegemonie<br />

verholfen <strong>und</strong> es damit ideologisch abgesichert werden kann. Zur Erinnerung: Diderot ist Jahrgang 1713, Condillac 1715, Adam<br />

Smith 1723 <strong>und</strong> der Streit zwischen den anciens <strong>und</strong> den modernes aus dem Jahre 1687 liegt nun auch schon ein halbes<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert zurück.<br />

Ideologisch, so darf man respektlos feststellen, ist die <strong>philosophisch</strong>e Begleitung des Bürgertums nicht über den Streit zwischen<br />

Leibniz <strong>und</strong> Clarke (hinter dem Newton steckte) hinausgekommen. Das zentrale ideologische Anliegen bestand nämlich darin,<br />

gegen den religiös gestützten Feudalismus die Verzichtbarkeit eines sich ständig einmischenden Fürsten nachzuweisen: die<br />

Welt als <strong>im</strong>manenter regelgeleiteter Zusammenhang, der ohne Fürst <strong>und</strong> ohne Gott funktioniert.<br />

Newton schafft es nicht, da seine, als Axiome fungierenden Prinzipien mit der Schwerkraft neue "okkulte Kräfte" einführen<br />

müssen, wie Leibniz bissig bemerkt; <strong>und</strong> Leibniz schafft es nicht, weil irgendeiner seiner prästabilisierten Harmonie den ersten<br />

Schubs hat geben müssen.<br />

Das System mußte vollständig deterministisch <strong>und</strong> binnengeleitet sein, um kein Lücke für jemanden <strong>von</strong> außen zu lassen. Es<br />

mußte jedoch zugleich individuelle Freiheit für die Systempartikel, die Menschen eben, gewähren. Hier Determinismus, dort<br />

Freiheit, <strong>und</strong> dies <strong>im</strong> gleichen System widerspruchsfrei denkbar zu machen: Dies ist ein Gr<strong>und</strong>widerspruch, der bis heute aktuell<br />

ist. Dominiert der deterministische Systemaspekt zu Lasten der Freiheit, entsteht die bis heute unerledigte <strong>und</strong> <strong>von</strong> J. Ritter<br />

thematisierte Entfremdungserfahrung. Dominiert die Freiheit zu Lasten des System-Zusammenhangs, werden die Philosophen<br />

nicht fertig <strong>im</strong> Ausdenken <strong>im</strong>mer neuer Vertrags- <strong>und</strong> Konsensmodelle, in denen die Einzelnen das freiwillig tun, was sie <strong>im</strong><br />

Interesse des Erhalts des Gesamtsystems auch tun müssen. Offensichtlich ist dies heute wieder beziehungsweise <strong>im</strong>mer noch<br />

ein Thema <strong>im</strong> Streit zwischen Liberalismus <strong>und</strong> Kommunitarismus: ob nämlich Freiheit <strong>und</strong> Autonomie oder Solidarität <strong>und</strong> die<br />

Gemeinschaft die Leitwerte der bürgerlichen Demokratie sind <strong>und</strong> es ist fraglich, ob die Diskussion dieser beiden<br />

bürgerlich-demokratischen Positionen über die (heute sogenannte) M (wie Montesquieu) beziehungsweise L (wie Locke) Linie<br />

hinausgekommen ist. (vgl. Brumlik / Brunkhorst 1993).


In diese interessengeb<strong>und</strong>ene (<strong>und</strong> daher ideologische) Auseinandersetzung mischt sich seit Baumgartens berühmter Schriften<br />

nun auch die Ästhetik, <strong>und</strong> sie tut es bis heute, wie aktuelle postmoderne Überlegungen zur bürgerlichen Demokratie es zeigen<br />

(vgl. etwa Rorty 1992). Zunächst ist dies ein Emanzipationskampf zugunsten der Sinne. Hierbei ist Baumgarten nicht sehr<br />

anspruchsvoll: es geht ihm lediglich um eine minderwertigere Stufe <strong>von</strong> Erkenntnis - aber <strong>im</strong>merhin. Und vielleicht liegt auch<br />

weniger in dieser Rehabilitation der Sinne das große Verdienst Baumgartens. Dies lag quasi in der Luft. Sensualismus war die<br />

große Linie des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts. Es gab ja nun auch genügend "Realität" sinnlich zu bewältigen. Und es gab die neuen<br />

Naturwissenschaften, <strong>von</strong> Newton bereits in gezielter Absetzung <strong>von</strong> Descartes in ihrem empirischen Anteil über- <strong>und</strong> in ihrem<br />

theoretisch-spekulativen Anteil unterbewertet, <strong>von</strong> J. Locke zu einer Erkenntnisphilosophie ausgebaut, schließlich <strong>von</strong> Voltaire<br />

<strong>und</strong> seiner Lebensgefährtin, Mme de Chatelet, auf den Kontinent gebracht <strong>und</strong> - ebenfalls aus ideologischen Gründen - zu<br />

einem metaphysischen Standpunkt, eben dem mechanistischen Denken, in einem bewußten Mißverständnis des ursprünglich<br />

bescheideneren Anliegens ausgebaut.<br />

In Deutschland - <strong>und</strong> nicht nur dort - war der Stammvater der Philanthropen, Basedow, mit unvorstellbarer Publicity <strong>und</strong> großem<br />

ökonomischen Erfolg mit seinem philanthropischen, vollständig auf sensualistischer Gr<strong>und</strong>lage aufbauenden<br />

Erziehungskonzept unterwegs. Von den Rationalisten Descartes oder Leibniz wollte man dagegen - trotz des braven Adepten<br />

Christian Wolff - nicht mehr viel wissen. Nein, die Sinnlichkeit in ihr Recht zu setzen war sicherlich nicht die entscheidende<br />

Leistung. Mehr schon, daß Baumgarten ein neues Verständnis <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> als einheitlichem Begriff formulierte <strong>und</strong> nicht mehr<br />

nur <strong>von</strong> additiv nebeneinanderliegenden Künsten sprach. Und diese neue "<strong>Kunst</strong>" bekam <strong>philosophisch</strong>en Rang <strong>im</strong> Rahmen<br />

dieser neuen Disziplin Ästhetik. Dies wird man dann angemessen würdigen können, wenn man bedenkt, daß bis ins 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert hinein eine jahrh<strong>und</strong>ertlange Begriffsbest<strong>im</strong>mung <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> als ars (ars auch als mechanische <strong>und</strong> handwerkliche<br />

<strong>Kunst</strong>) neben dem Verdikt <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> des (erst <strong>im</strong> Spätmittelalter zu neuen Ehren gekommenen) heidnischen Philosophen Plato<br />

noch sehr präsent war. Anknüpfen konnte Baumgarten bei der Formulierung eines einheitlichen <strong>Kunst</strong>begriffs an wichtige<br />

Vorarbeiten etwa <strong>von</strong> L. Alberti, der neben der bereits <strong>von</strong> Aristoteles geadelten Poesie nun auch eine ars pictoria formulierte.<br />

Ebenso war die totale Unterordnung der <strong>Kunst</strong> unter die Vernunft, die als einziges deren Beitrag zur Wahrheit gelten lassen<br />

wollte, einer allmählichen Einsicht <strong>und</strong> Akzeptanz ihrer nicht-rationalen Momente gewichen.<br />

Lange konnte sich Baumgarten jedoch seiner Leistung, Ästhetik als Logik der nicht-rationalen sinnlichen Erkenntnis begründet<br />

zu haben, nicht erfreuen: denn schon waren die Meisterdenker des deutschen Idealismus bei der Arbeit, um - auf recht<br />

unterschiedliche Weise - "Schönes" begreifbar zu machen <strong>und</strong> ganz neue, kompliziert-hintergründige Mechaniken zur<br />

Funktionsweise des Erkenntnisapparates zu entwickeln, in denen sinnliche Erkenntnis ihren festen Platz - mehr oder weniger<br />

hoch geschätzt - haben sollte. (Baumgarten lebt <strong>von</strong> 1714 bis 1762, Kant <strong>von</strong> 1724 bis 1804, Goethe <strong>von</strong> 1749 bis 1832 <strong>und</strong><br />

Schiller <strong>von</strong> 1759 bis 1805; es bleibt ihm also vor allem das "kritische Geschäft" <strong>von</strong> Kant erspart.)<br />

Als Theorie sinnlicher Erkenntnis ist Ästhetik zunächst einmal Erkenntnistheorie. Dort wird sie auch bei Kant ihren<br />

systematischen Platz finden: als Teil der transzendentalen Elementarlehre in der Kritik der reinen Vernunft, die sich mit den<br />

"reinen Anschauungsformen" Raum <strong>und</strong> Zeit befaßt. Der Erkenntnislehre stellt sich als erstes gewichtiges Vermittlungsproblem<br />

die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen der endlichen, auf das konkrete Einzelne verwiesenen sinnlichen<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> der prinzipiell unendlichen, auf Allgemeinheit zielenden Vernunft. Das Beziehungsverhältnis beider <strong>und</strong> die<br />

Zuweisung <strong>von</strong> Priorität entscheidet darüber, ob man Empiriker oder gar Sensualist oder vielmehr Rationalist ist. Für<br />

Baumgarten waren jedenfalls die sinnlichen Wahrnehmungen nicht aus Vernunft herleitbar - umgekehrt jedoch auch nicht, so<br />

daß die ästhetische Erkenntnis als Vermittlungsinstanz zwischen beiden eingeführt wurde, wobei das Ästhetische als<br />

Wissenschaft vom Konkreten sich mit dieser (niedrigeren) Logik der Wahrnehmungen befaßt. Schönheit <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong> finden hier<br />

ihren Platz.<br />

"Erfahrungshorizont bürgerlicher Gesellschaft" - so benennt Oelmüller die Rahmenbedingungen des nun vorzustellenden<br />

Ästhetik-Denkens. Nun: "bürgerliche Gesellschaft" bei den vor allem deutschen Ästhetikern? Politisch wurde man in<br />

Deutschland den Adel nach allerlei fehlgeschlagenen Revolutionen erst nach dem ersten Weltkrieg los. Die untertänigsten<br />

Widmungen der Schriften unserer größten Freidenker an ihre Könige illustrieren dies. So richtig offen religionsfeindlich zu sein<br />

war auch nicht leicht. Ethik <strong>und</strong> politisches Denken waren sich daher der Aufmerksamkeit der Obrigkeit stets sicher, zumal fast<br />

alle vorzustellenden Geistesgrößen in irgendeiner Form <strong>im</strong> Staatsdienst oder zumindest <strong>im</strong> Dienst <strong>von</strong> staatstragendem Adel<br />

waren. Ästhetik <strong>und</strong> Erkenntnistheorie boten sich daher geradezu an, das Reich der Freiheit wenn schon nicht politisch<br />

herzustellen, so doch zumindest widerspruchsfrei zu denken.<br />

Während in Frankreich die Denker ihre Studienz<strong>im</strong>mer verließen <strong>und</strong> in großer Zahl ihre Köpfe verloren - <strong>und</strong> dies nicht bloß<br />

sinnbildlich, rümpfte Schiller die Nase über das in Deutschland zum Pöbel mutierte peuble, <strong>und</strong> bedankte sich bei dem <strong>von</strong><br />

Augustenberg mit seinen (reformistisch <strong>und</strong> nicht revolutionär angelegten) Briefen zur ästhetischen Erziehung brav <strong>und</strong><br />

untertänigst für ein Stipendium. Es gingen auch, die drei vom Tübinger Stift (Hegel, Schelling <strong>und</strong> Hölderlin) vorsichtig auf<br />

Distanz zu den französischen Entwicklungen. Freiheit - sie war bequemer zu denken als zu erkämpfen.<br />

Interessant der Gedanke: zumindest am Schreibpult konnte sich der Geist austoben. "Kontrafaktisch", wie man heute sagen<br />

könnte, konnte er in der Konstruktion komplizierter Systeme frei schalten <strong>und</strong> walten, konnte also das tun, was zur Aufgabe <strong>von</strong><br />

<strong>Kunst</strong> wurde - <strong>und</strong> auch heute noch oft als solche gesehen wird: In einem Teilbereich ohne zu starken Realitätsbezug die Flucht<br />

aus der (heute: zweckrational organisierten <strong>und</strong> dadurch politisch eingeengten) Wirklichkeit ergreifen - zur Entlastung, zur<br />

Kompensation oder auch zum Auftanken <strong>von</strong> Kraft <strong>und</strong> Energie, um vielleicht ein wenig <strong>von</strong> der Denkfreiheit doch noch<br />

"materielle Gewalt“ werden zu lassen. Man wird sehen mit welchem Erfolg. So viel jedoch bereits jetzt: Das Reich der Freiheit,<br />

wie man es sich vorstellte, kam nicht. Was kam, war zwar ein unvorstellbarer Produktivitätszuwachs, aber auch ein Riesenmaß<br />

an Elend. Es kam nach langen Mühen die formale Demokratie, <strong>und</strong> es kam ihre ständige politische Bedrohung.<br />

Die Entfremdungserscheinungen der Industriegesellschaft: sie waren schon zu spüren, als sich diese noch gar nicht richtig<br />

durchgesetzt hatte. Und beide: Künstler <strong>und</strong> Ästhetiker reflektierten sie. Teils mutig <strong>und</strong> opt<strong>im</strong>istisch, etwas an der Gestaltung<br />

der Gesellschaft verändern zu können. Teils resignativ. Und diese Haltung ist spürbar: darin, welche Funktion <strong>und</strong> Wirkung man<br />

der <strong>Kunst</strong> zuschreibt, aber - gerade bei den Künstlern - auch daran, wie man sich selber <strong>im</strong> eigenen Leben dazu verhielt. Alle<br />

verhielten sich dabei jedoch nicht nur zur Gesellschaft, sondern zugleich zur "Vernunft“, die man verantwortlich machte für<br />

deren Zustand. Vernunftkritik, explizit oder <strong>im</strong>plizit, ist daher stets Gesellschaftskritik. Allerdings: erstere zu betreiben war<br />

risikofreier.


Ästhetische Reflexion ist nicht <strong>Kunst</strong>, selbst wenn sie manchmal so daher kommt, wenn sich die Philosophie nicht mehr genug<br />

ist <strong>und</strong> zugleich Poesie sein will. Bei beiden lohnt eine soziologische Betrachtungsweise, die bescheidene Frage nach den<br />

Interessen, also danach, welcher Gruppe denn das vorgeschlagene Konzept dient, die Frage nach der Lebenswirklichkeit der<br />

Menschen, auf die sich die Reflexionen letztlich beziehen. Soziologie der <strong>Kunst</strong>: dies ist inzwischen klassische Disziplin.<br />

Soziologie des ästhetischen Denkens dagegen ist seltsam unterentwickelt, so daß der Unter-Titel einer aktuellen<br />

Ästhetikgeschichte eigentümlich anmutet: "Geschichte ihrer ldeologie" (<strong>von</strong>Terry Eagleton, 1994). Soziale Ungleichheit war der<br />

Entstehungsanlaß für die Wissenschaftliche Soziologie <strong>im</strong> frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Ungleichheit war sicher keine bürgerliche<br />

Erfindung. Allerdings: aus der "standesgemäß" verordneten Ungleichheit herauszukommen: dies war <strong>von</strong> Anbeginn das<br />

Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft. Freiheit <strong>und</strong> Gleichheit waren die anerkannten Ziele. Was W<strong>und</strong>er, wenn diese<br />

<strong>im</strong>mer wieder eingefordert wurden oder man die Wirklichkeit - resigniert oder ermutigt - daran maß <strong>und</strong> mißt?<br />

Doch zurück zu den Ästhetik-Konzepten. „Idealistische <strong>und</strong> romantische Theoretiker <strong>und</strong> ihre Nachfolger bis heute“ , so<br />

Oelmüller 1982, S. 56, „erwarten vom Schönen <strong>und</strong> Ästhetischen eine Aufhebung der Entfremdungsprobleme der modernen<br />

bürgerlichen Gesellschaft, eine Veränderung der Weit: einen "ästhetischen Staat“ (Schiller), eine „neue Religion“<br />

(Systemfragment), eine „neue <strong>Kunst</strong>religion“ (früher Hegel), eine „neue Mythologie“ (Schelliing), eine Poetisierung des Lebens<br />

<strong>und</strong> der Gesellschaft.- Die romantische Poesie ... (will) die Poesie lebendig <strong>und</strong> gesellig, <strong>und</strong> das Leben <strong>und</strong> die Gesellschaft<br />

poetisch machen. (Schlegel). Auf solche Überforderungen des Schönen <strong>und</strong> Ästhetischen folgt bis heute Enttäuschung <strong>und</strong><br />

Ernüchterung. Die Phantasie ist in der bürgerlichen Gesellschaft nicht an die Macht zu bringen.“<br />

Kant<br />

In erkenntnistheoretischer Hinsicht war für Kant das Problem der sinnlichen Erkenntnis mit der Kritik der reinen Vernunft gelöst:<br />

er hat die Bedingungen der Möglichkeit <strong>von</strong> Erkenntnis, insbesondere <strong>von</strong> synthetischen Urteilen a priori untersucht mit der<br />

bekannten Lösung, daß das "Ding an sich" ohnehin nicht erkannt werden kann. Signale der Außenwelt, Empfindungen, werden<br />

durch die "reinen" (d.h. nicht-empirischen) Anschauungsformen Raum <strong>und</strong> Zeit geordnet. Endgültige Ordnung in die zwar<br />

vorsortierten, aber <strong>im</strong>mer noch recht chaotischen Wahrnehmungen bringt der Verstand mit seinen "reinen Verstandsbegriffen",<br />

den Kategorien. Bloß regulierend hat die Vernunft die Oberaufsicht. Kants "Kopernikanische Wende" der Erkenntnistheorie<br />

besteht in seiner Lösung des Problems, wie die reinen, also nicht empirischen Verstandesbegriffe auf die Außenwelt passen.<br />

Die Lösung: Die zwar unabhängig vom Menschen existierende Außenwelt affiziert als (letztlich nicht erkennbares) Ding an sich<br />

die Sinne. Der Begriffsapparat hat es jedoch nicht mit der Außenwelt als solcher zu tun, sondern mit einer transzendental<br />

vorgeformten Informationsmenge: die "Außenwelt" des Erkenntnissubjekts wird durch dessen Erkenntnisvermögen konstituiert.<br />

Es sei hier nur angemerkt, daß in der Folgezeit zahlreiche Forscher <strong>und</strong> Philosophen versucht haben, die bei Kant<br />

transzendental vorgegebenen Begriffe in ihrer Genese zu rekonstruieren: bei Piaget konstituieren sie sich durch tätiges,<br />

gegenständliches Handeln, bei Apel <strong>und</strong> in dessen Folge bei Paetzold (1990) werden sie durch Sprech-Handeln <strong>im</strong> Rahmen<br />

der daher sogenannten Transzendental-Pragmatik begründet. Holzkamp (1983) zeichnet schließlich ihren Entstehungsprozeß<br />

anthropogenetisch nach, was dann jeweils ontogenetisch wiederholt wird.<br />

Diese Gedanken sind entscheidend für ein zentrales Problem heutiger Ästhetik: dem Problem des Stellenwertes ästhetischer<br />

Erfahrung. Wie kommt sie zustande? Wie verhält sie sich zu anderen Erfahrungsformen? An welchen Gegenständen kann man<br />

ästhetische Erfahrungen machen? Für Paetzold <strong>und</strong> andere in der Tradition <strong>von</strong> Kant stehende Autoren ist ästhetische<br />

Erfahrung eine Einheit <strong>von</strong> Sinnlichkeit <strong>und</strong> Reflexion. Bei Schiller ist sie bloß rasch zu verlassender Ausgangspunkt, um auf<br />

dem Wege der ständigen Verfeinerung endlich bei der erhabenen Rationalität zu landen. Für andere wird ästhetische Erfahrung<br />

zum Organon einer völlig neuen Erkenntnis- <strong>und</strong> Orientierungsmethode <strong>und</strong> in bewußtem Gegensatz zu Vernunft gesehen, die<br />

schon alleine dadurch jeden Anspruch auf Gnade verwirkt hat, weil in ihr die Ursache für den bedauernswerten Zustand der<br />

Gesellschaft gesehen wird.<br />

Diese letztere vernunftfeindliche Tradition ist alt: Nietzsche ist sicher ein entscheidender Autor, der gegen jede Form <strong>von</strong><br />

Fortschrittsorientierung <strong>und</strong> Allgemeinheit, sei es <strong>im</strong> Erkennen, in der Moral, in der Religion zu Felde zieht. Husserl will die<br />

Phänomene retten, gegen die die vernunftgeleitete Wissenschaft blind geworden ist, freilich mit dem Ziel, die Lebenswelt erneut<br />

begrifflich zu rekonstruieren. Und ganz aktuell schreiben Welsch/Pries (1991): „Der gegenwärtige Vorrang ästhetischer<br />

Denkweisen dürfte darin begründet liegen, daß sie in besonderer Weise geeignet sind, heutige Wirklichkeit zu begreifen“.<br />

Wir sehen, daß alle Wege zu Kant führen, sei es in kritischer Weiterentwicklung, sei es in der totalen Negierung, wie es sie auch<br />

bei Hegel gibt. Auch wenn dieser spottet, daß Kant in seinem transzendentalen Geschäft ständig die Messer schärft, ohne zu<br />

schneiden, wenn er ihn mit einem Schw<strong>im</strong>mer vergleicht, der ins Wasser springt, ohne zu schw<strong>im</strong>men: auch <strong>im</strong> Hinblick auf ein<br />

zweites Problem neben der Rangzuweisung der ästhetischen Erfahrung hat Kant Geschichte gemacht. Und dieses zweite<br />

Problem lautet in Kants Denkweise: Wie sind a priori Geschmacksurteile möglich? Wie sind allgemeingültig Urteile zu fällen, die<br />

letztlich <strong>von</strong> jedem einzelnen gefällt werden? Es steht also an der Abschluß seines "kritischen Geschäftes", die "Kritik der<br />

Urteilskraft" (1790), die nach dem erfolgreichen Einordnen <strong>von</strong> Erkennen, Wollen <strong>und</strong> Handeln nun für das Gefühl <strong>und</strong> die<br />

Phantasie einen systematischen Platz in der Architektur der menschlichen Vermögen sucht. Der systematische Ausgangspunkt<br />

in der Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit <strong>von</strong> Geschmacksurteilen verlagert das Geschehen sofort ins<br />

Subjekt. Kant fragt danach, was in den Subjekten geschieht, wenn diese urteilen. Und die Begriffe, mit denen er dies erläutert,<br />

sind subjektbezogene Begriffe: das Gefühl der Lust <strong>und</strong> Unlust etwa ist entscheidend. Diese haben zu tun mit<br />

Bedürfnisbefriedigung, <strong>und</strong> Bedürfnisse sind Zweck unseres Handelns, so daß dieses "zweckmäßig" ist oder nicht. Das Schöne<br />

ruft uns ein Gefühl der Lust hervor, weil das Wahrgenommene unserem Gefühl <strong>von</strong> Harmonie entspricht. Die Welt, so wie wir<br />

sie erleben, entspricht unseren Fähigkeiten. Schönheit ist also erlebte Zweckmäßigkeit, ohne daß die Zwecksetzung gezielt <strong>von</strong><br />

uns ausgegangen ist. Ebenso wie Habermas also <strong>von</strong> einer (idealen) Kommunikationsgemeinschaft spricht, findet sich bei Kant<br />

die ideale Geschmacksgemeinschaft: Wir haben es mit einer ästhetischen Vergemeinschaftung der bürgerlichen Welt über den<br />

Geschmack zu tun (vgl. Eagleton 1994, S. 79 ff.). Es ist die Herstellung einer Ganzheit - wie gesehen ist es ein zentrales<br />

ideologisches Ziel der bürgerlichen Gesellschaft, ohne Vergewaltigung des Einzelnen Allgemeines denkbar zu machen -, <strong>und</strong><br />

dies anders als <strong>im</strong> Erkennen (Subsumieren des Einzelnen unter ein allgemeines Gesetz) oder Handeln (Subsumieren des<br />

Einzelnen unter eine allgemeine Max<strong>im</strong>e).<br />

Die Zweckfreiheit <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> erhielt <strong>im</strong> Topos ihrer Autonomie zentrales Gewicht <strong>im</strong> gesamten ästhetischen Denken der<br />

Folgezeit. Mit diesem Autonomiegedanken wiederum ist die seither ständig diskutierte Sonder-Rolle des Künstlers in der<br />

Gesellschaft verb<strong>und</strong>en (etwa der Genie-Kult der Romantik). Interessant der Hinweis <strong>von</strong> Eagleton (1994, S. 71), daß dieser<br />

Autonomiegedanke zu einer Zeit erstmals energisch formuliert wurde, in der faktisch der <strong>Kunst</strong>betrieb in den Warentausch<br />

einbezogen wurde. <strong>Kunst</strong>, so heißt es in einer <strong>Kunst</strong>geschichte, wurde zwar aus der aristokratischen Abhängigkeit befreit. Sie


wurde jedoch nicht dem Volke gegeben - ein Problem, dem sich insbesondere die Avantgardebewegungen <strong>im</strong>mer wieder<br />

stellten. Eine autonome <strong>Kunst</strong> muß sich nun nicht mehr gesellschaftlich legit<strong>im</strong>ieren, sie kann ungeniert selbstreferentiell bis hin<br />

zur völligen Abkapselung werden - <strong>und</strong> dies <strong>philosophisch</strong>-ästhetisch begründen. Diese Ambivalenz, aus emanzipatorischen<br />

Gründen einen Autonomiestatus gewonnen zu haben, aber gleichzeitig in der ständigen Gefahr, nicht konkrete Utopie als<br />

best<strong>im</strong>mte Negation des Seienden, sondern bloß irgendeine Negation zu sein <strong>und</strong> sich damit ihrem gesellschaftlich motivierten<br />

Entstehungs<strong>im</strong>puls zu entziehen, best<strong>im</strong>mt die kunsttheoretische Diskussion bis heute.<br />

Dies läßt sich insbesondere in der Aktualität des Erhabenen zeigen, das bei Kant als Pendant zum Gefühl <strong>von</strong> Schönheit, das<br />

<strong>Kunst</strong>werken vorbehalten blieb, sich bei der Betrachtung der Natur einstellte <strong>und</strong> das heute seinen Zuständigkeitsbereich auch<br />

auf <strong>Kunst</strong> erstreckt.<br />

Eine Parallelität zwischen (autonomem) künstlerischem Wert, der quasi aus sich selbst entspringt, <strong>und</strong> dem Warenwert, dessen<br />

Ursprünge auch möglichst unklar bleiben sollen, zieht Eagleton (womit wir zugleich wieder bei "<strong>Wirkungen</strong> <strong>und</strong> <strong>Funktionen</strong>" <strong>von</strong><br />

<strong>Kunst</strong> sind): "Die <strong>Kunst</strong> kann jetzt in der ideologischen Lesart des Ästhetischen allgemeinere gesellschaftliche Bedeutung<br />

insofern gewinnen, als sie paradigmatisch das Bild einer Selbstreferentialität abgibt, das sich in einer kühnen<br />

Gedankenbewegung gerade auf die Funktionslosigkeit künstlerischer Praxis beruft <strong>und</strong> aus ihr die Vision eines höchsten Gutes<br />

gewinnt. Als Form eines Wertes, der ganz in sich selbst gegründet ist, keinerlei praktischen Sinn oder Zweck hat, ist das<br />

Ästhetische ein beredter Zeuge für die obskuren Ursprünge <strong>und</strong> das rätselhafte Wesen eines Wertes in einer Gesellschaft, die<br />

solche Werte überall zu verleugnen scheint. Zugleich ist es der utopische Vorschein einer Alternative zu diesem<br />

beklagenswerten Zustand. Denn was das <strong>Kunst</strong>werk gerade mit seiner Zweckfreiheit <strong>und</strong> in der fortdauernden Bewegung,<br />

durch die es sich aus seinen eigenen unergründlichen Tiefen erhebt, nachahmt, ist nichts weniger als die menschliche Existenz<br />

selbst, die ... jenseits ihres Selbstgenusses keiner logischen Gr<strong>und</strong>lage oder vernunftgemäßen Erklärung bedarf. Dieser<br />

romantischen Doktrin zufolge ist ein <strong>Kunst</strong>werk dann besonders reich an politischen Implikationen, wenn es <strong>von</strong> herrlichster<br />

Zwecklosigkeit ist“. (Ebd., S. 71.) Als weiteren Ertrag aus dieser Überlegung ziehen wir die Aussage: <strong>Kunst</strong> kann nicht nicht<br />

politisch wirken - mag man dies "Funktionalisierung" nennen oder nicht. Und auch dies leistet der Autonomie-Gedanke: „In einer<br />

ästhetischen Darstellung erblicken wir sozusagen einen weiteren Augenblick lang die Möglichkeit nicht-entfremdeter Objekte,<br />

die das genaue Gegenteil <strong>von</strong> Waren sind'. Aber: "in einer anderen Hinsicht kann dieses formale, entsinnlichte ästhetische<br />

Objekt, das einen Austausch zwischen den Objekten herstellt, als vergeistigte Version gerade jener Waren aufgefaßt werden,<br />

denen es sich widersetzt“. (Ebd., S. 82.)<br />

Auch dies ein Ertrag: Es wird offenbar keine einfache <strong>und</strong> geradlinige Lösung <strong>im</strong> Hinblick auf die Wirkungsmächtigkeit <strong>von</strong><br />

<strong>Kunst</strong> geben.<br />

Noch nachzutragen ist eine interessante Deutung des Erhabenen bei Kant: die Begegnung mit Naturgewalten (so Pries in ihrer<br />

Einleitung zu Pries 1989, S. 9) erzeugt Verlust, da sich diese der Einbildungskraft entziehen. Doch schließlich wird - gemessen<br />

an dem unendlichen Ideenvermögen der Vernunft, also <strong>im</strong> Rückgriff auf die oberen Etagen unseres Erkenntnisvermögens<br />

-diese Naturgewalt als endliche doch wieder klein, so daß ein Lustgefühl des Menschen aus dem Überlegenheitsgefühl des<br />

Menschen selbst über Naturgewalten entsteht. Schön daher zu sehen, daß letztlich der Herrschaftswillen des Subjekts<br />

triumphiert - <strong>und</strong> sich der Mensch hierbei wohlfühlt.<br />

Hegel<br />

Vielleicht <strong>im</strong> Vorgriff auf spätere <strong>Kunst</strong>entwicklungen: Sehen lehren war sicherlich bei vielen bildenden Künstlern wichtiges Ziel.<br />

Die Wege, die sie einschlagen - etwa den, daß zu diesem Zweck Gegenständlichkeit erst einmal zerschlagen werden mußte -<br />

waren durchaus unterschiedlich. Aber auch das Vertrauen in die Kraft der Sinne generell - <strong>und</strong> nicht bloß in deren jeweils<br />

vorfindliche gesellschaftliche Deformation - war mitunter überraschend gering, wenn etwa G. Braque, freilich 150 Jahre später<br />

als die <strong>im</strong> Moment verhandelte Zeit, feststellte: "Die Sinne deformieren, der Geist formt." Immerhin teilt diese Skepsis<br />

gegenüber Sinnlichkeit auch Hegel, was sofort plausibel ist, wenn man sich an die Rolle des Geistes in seiner<br />

objektividealistischen Konzeption erinnert: Die Welt als Manifestation des Weltgeistes mag sich in den geistigen Fähigkeiten des<br />

Menschen spiegeln. Allerdings sind nur reines Denken <strong>und</strong> bestenfalls religiöse Vorstellungen auf den Geist unmittelbar<br />

gerichtet: <strong>Kunst</strong> vermag dagegen bloß das sinnliche Scheinen der Idee wahrzunehmen. Sie spielt möglicherweise die Rolle<br />

einer Leiter bei dem Erkl<strong>im</strong>men höherer Stufen des Geistes, hat aber diese Aufgabe recht rasch erfüllt <strong>und</strong> wird dann in dieser<br />

Hinsicht funktionslos. Der autonome, selbstreferentielle Aspekt wird bei Hegel zu einem wichtigen Gr<strong>und</strong> für die<br />

Bedeutungseinschränkung <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong>: gerade weil sie in sich ruht, nur auf sich selbst - <strong>und</strong> eben nichts anderes - verweist,<br />

verweist sie gerade nicht über sich hinaus, ist also geradezu entwicklungshemmend. Die Ansichten über <strong>Kunst</strong>werke bezieht<br />

Hegel, prof<strong>und</strong>er Kenner auch seiner zeitgenössischen <strong>Kunst</strong>, aus der Antike: Das <strong>Kunst</strong>werk ist eine Totalität, wie aus einem<br />

Guß. Es zeichnet sich - als Einheit <strong>von</strong> Inhalt <strong>und</strong> Form - durch große innere Kohärenz aus. Wie bei Kant ist <strong>Kunst</strong> daher<br />

Zweckmäßigkeit, allerdings ohne den Zweck, daß der Weltgeist in seiner Entwicklung in ihr sinnliche Erfüllung finden könnte.<br />

Das <strong>Kunst</strong>schöne - eben als geistiges Produkt - steht entsprechend dem Entwicklungsgedanken des Geistes höher als das<br />

Naturschöne. Und schön ist - ebenfalls konsequent - das, was einen geistigen Gehalt, eine „Idee" anschaulich darstellt (weshalb<br />

das Schöne zugleich wahr sein muß).<br />

Der <strong>im</strong> ersten Abschnitt zitierte v. Kutschera findet daher in seiner Ausdruckstheorie in Hegel - für einen eher logisch-analytisch<br />

orientierten Philosophen <strong>im</strong>merhin überraschend - einen Gleichgesinnten, wenn er ihn zust<strong>im</strong>mend zitiert: "Der Künstler hat aus<br />

der Überfülle des Lebens <strong>und</strong> nicht aus der Überfülle abstrakter Allgemeinheit zu schöpfen, indem in der <strong>Kunst</strong> nicht wie in der<br />

Philosophie der Gedanke, sondern die wirkliche äußere Gestaltung das Element der Produktion abgibt. Denn die Aufgabe der<br />

Phantasie besteht allein darin, sich <strong>von</strong> jener inneren Vernünftigkeit nicht in Form allgemeiner Sätze <strong>und</strong> Vorstellungen,<br />

sondern in konkreter Gestalt <strong>und</strong> individueller Wirklichkeit ein Bewußtsein zu geben“ (Hegel Werke 13, S. 364). Im weiteren<br />

Fortgang des Textes beschreibt Hegel dann sehr penibel die Arbeitsweise des Künstlers.<br />

Von Interesse für unser Thema sind Hegels Ausführungen über den Zweck <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> (ebd., Kapitel III. 3 der Einleitung, S. 64<br />

ff.).<br />

Nachahmung natürlicher Gegebenheiten ist auf alle Fälle nicht der zentrale Zweck, denn dieser führe nur zu <strong>Kunst</strong>stücken, <strong>und</strong><br />

nicht zu <strong>Kunst</strong>werken (S. 69). Auch die Tatsache, daß <strong>Kunst</strong> alle möglichen Stoffe vor Anschauung <strong>und</strong> Empfindung bringe,<br />

reiche nicht hin, denn das tue der "räsonierende Gedanke" auch (S. 32). Eher schon ist es der Zweck, Wildheit der Begierden<br />

zu mildern (S. 73). Und dies erreicht sie durch die Schaffung <strong>von</strong> Distanz, durch Aufhebung der unmittelbaren Befangenheit.<br />

Zwar unterstützt Hegel auch Horazens Spruch des prodesse <strong>und</strong> delectare, doch warnt er vor einer zu starken Betrachtung des<br />

Zwecks der Belehrung, wenn damit das Ästhetische bloßes Beiwerk wird (S. 76 f.). Analog verhandelt er den Zweck der


moralischen Besserung. Aber gerade hier wird die Grenze <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> sichtbar: sofern sie bloß als Werkzeug für etwas benutzt<br />

wird, was außerhalb <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> liegt: "Hingegen steht zu behaupten, daß die <strong>Kunst</strong> die Wahrheit in Form der sinnlichen<br />

<strong>Kunst</strong>gestaltung zu enthüllen, jenen versöhnten Gegensatz (nämlich den Gegensatz zwischen dem moralischen Gesetz als<br />

abstrakt Allgemeinen des Willens, das zugleich mit den sinnlichen Trieben, den eigensüchtigen Interessen, den Leidenschaften<br />

dem Individuum innewohnt; ebd., S. 79) darzustellen berufen sei <strong>und</strong> somit ihren Endzweck in sich, in dieser Darstellung <strong>und</strong><br />

Enthüllung selber habe. Denn andere Zwecke wie Belehrung, Reinigung, Besserung, Gelderwerb, Streben nach Ruhm <strong>und</strong><br />

Ehre, gehen das <strong>Kunst</strong>werk als solches nichts an <strong>und</strong> best<strong>im</strong>men nicht den Begriff desselben". (Ebd., S. 82.)<br />

Wir werden sehen, daß Hegel sich in diesem Punkt überraschend mit (post-)modernen <strong>Kunst</strong>theorien deckt.<br />

Nietzsche<br />

Dieser Hinweis auf die Postmoderne erzwingt geradezu eine Thematisierung einer ihrer wichtigsten Bezugspersonen: Friedrich<br />

Nietzsche. Und dies in durchaus systematischer <strong>und</strong> zweckbezogener Weise.<br />

Friedrich Nietzsche (1844-1900) ist der größte Kritiker der Vernunft <strong>und</strong> ihrer Leistungen. Verw<strong>und</strong>erlich ist diese Absage an<br />

Vernunft, an den Glauben an den Fortschritt nicht, bedenkt man, welche Realität sich darbietet: In Deutschland wurde jeder<br />

Ke<strong>im</strong> <strong>von</strong> bürgerlicher Revolution niedergeschlagen. Während in anderen Gegenden Europas Nationalstaaten entstehen, in<br />

Nordamerika in einem grandiosen Freiheitskampf eine erste bürgerliche Demokratie entwickelt wird, gibt es in Deutschland nur<br />

eine kleinkarierte Klein- <strong>und</strong> Kleinststaaterei, gibt es eine kleinliche Engstirnigkeit, regiert das Biedermeier. Von der bürgerlichen<br />

Gesellschaft hat Deutschland in dieser Zeit nur die negativen Seiten mitbekommen: die "ursprüngliche Akkumulation" des<br />

Kapitals verursacht maßloses Elend, politisch ist auch nicht der Anschein <strong>von</strong> Demokratie spürbar, die hegemoniale Macht in<br />

Deutschland ist Preußen, in dem nach den 48er Revolutionen schl<strong>im</strong>mste Reaktion herrscht. Nietzsche mit Friedrich Engels zu<br />

begründen, ist sicherlich ungewöhnlich. Doch zeigt das folgende Zitat den "Erfahrungshorizont", in dem Nietzsche seine<br />

Ansichten formulierte:<br />

"Wir sahen, wie die französischen Philosophen des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts, die Vorbereiter der Revolution, an die Vernunft<br />

appellierten als einzige Richterin über alle, was bestand. Ein vernünftiger Staat, eine vernünftige Gesellschaft sollte hergestellt,<br />

alles, was der ewigen Vernunft widersprach, sollte ohne Barmherzigkeit beseitigt werden. Wir sahen ebenfalls, daß diese ewige<br />

Vernunft in Wirklichkeit nichts anderes war als der idealisierte Verstand des eben damals zum Bourgeois sich fortentwickelnden<br />

Mittelbürgers. Als nun die französische Revolution diese Vernunftgesellschaft <strong>und</strong> diesen Vernunftstaat verwirklicht hatte,<br />

stellten sich daher die neuen Einrichtungen, so rationell sie auch waren gegenüber den früheren Zuständen, keineswegs als<br />

absolut vernünftige heraus. Der Vernunftstaat war vollständig in die Brüche gegangen. Der Rousseausche Gesellschaftsvertrag<br />

hatte seine Verwirklichung gef<strong>und</strong>en in der Schreckenszeit, aus der das an seiner eigenen politischen Befähigung irre<br />

gewordene Bürgertum sich geflüchtet hatte, zuerst in die Korruption des Direktoriums <strong>und</strong> schließlich unter den Schutz des<br />

napoleonischen Despotismus. Der verhaltene ewige Friede war umgeschlagen in einen endlosen Eroberungskrieg. Die<br />

Vernunftgesellschaft war nicht besser gefahren“ (MEW 19, S. 192).<br />

Nachdem Engels gezeigt hat, welch unermeßliches soziales Elend mit der Realisierung des "Reiches der Vernunft" verb<strong>und</strong>en<br />

ist (Prostitution, Verbrechen, Verarmung des Kleinbürgertums), kommt er zu dem Schluß:<br />

"Kurzum, verglichen mit den prunkhaften Verheißungen der Aufklärer, erwiesen sich die durch den „Sieg der Vernunft“<br />

hergestellten gesellschaftlichen <strong>und</strong> politischen Einrichtungen als bitter enttäuschende Zerrgebilde“ (ebd.).<br />

Zumindest zwei Reaktionen waren denkbar. Wenn die Vernunft bislang eine solche schlechte Empirie geschaffen hat, so könnte<br />

man dem Individuum diese vernichtenden Empfindungen dadurch ersparen, daß man die Empirie verändert: „Wenn der Mensch<br />

aus der Sinnenwelt <strong>und</strong> der Erfahrung in der Sinnenwelt alle Kenntnis, Empfindung etc. sich bildet, so kommt es also darauf an,<br />

die empirische Weit so einzurichten, daß er das wahrhaft Menschliche in ihr erfährt, sich angewöhnt, daß er sich als Mensch<br />

erfährt“. (Marx-Engels-Werke 2, S. 138.)<br />

Dies war jedoch nicht der Weg Nietzsches. Er destruierte die Vernunft, denunzierte sie als die irreführendste der Fähigkeiten<br />

des Menschen, bedauerte daher den Zusammenbruch der instinkthaften Natur des Menschen, weil dies ihn erst an die Vernunft<br />

ausgeliefert habe. Weil alles andere: Moral/Ethik, Kultur, Pflicht, weil all dies versagt, bleibt nur der bedingungslose Wille zur<br />

Macht. In der 1871 erscheinenden Schrift "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (in Bd. 1 der dreibändigen<br />

Werksausgabe bei Hanser) entdeckt er das Dionysische (als das Rauschhafte) <strong>und</strong> das Apollinische (als das Maßvolle <strong>und</strong><br />

Harmonische) als die Kulturmächte der Antike. Er schreibt gegen Bildungsphilister, gegen das Überhandnehmen historischen<br />

Wissens <strong>im</strong> Bildungssystem, jubelt zunächst Wagner zu, um sich später abrupt <strong>von</strong> ihm zu trennen, weil er sich <strong>im</strong> Parsival den<br />

christlichen Idealen gebeugt hat. Seine <strong>philosophisch</strong>e Arbeit wird zunehmend dichterischer, das geplante Hauptwerk<br />

("Umwertung aller Werte") wird nicht mehr fertiggestellt <strong>und</strong> erscheint in einer äußerst entstellten Form nach seinem Tode, <strong>von</strong><br />

seiner Schwester herausgegeben.<br />

Die universelle Verfalldiagnose Nietzsches - die sicherlich in Teilen zutrifft, sowie die eher lustvolle Bewertung dieses Verfalls,<br />

geht einher mit einer Verdrängung aller Topoi der Aufklärung. Es gibt hierbei insofern eine Wiederholung der Geschichte, als<br />

analog zur Verdrängung <strong>von</strong> Religion durch Vernunft in der Aufklärung nunmehr Vernunft durch <strong>Kunst</strong> verdrängt wird.<br />

Habermas skizziert die Ausgangslage wie folgt: „Das moderne Zeitalter steht vor allem <strong>im</strong> Zeichen subjektiver Freiheit. Diese<br />

verwirklicht sich in der Gesellschaft als privatrechtlich gesicherter Spielraum für die rationale Verfolgung eigener Interessen, <strong>im</strong><br />

Staat als prinzipiell gleichberechtigte Teilnahme an der politischen Willensbildung, <strong>im</strong> Privaten als sittliche Autonomie <strong>und</strong><br />

Selbstverwirklichung, in der auf diese Privatsphäre bezogenen Öffentlichkeit schließlich als Bildungsprozeß, der sich über die<br />

Aneignung der reflexiv gewordenen Kultur vollzieht“.<br />

Und weiter:<br />

„Die religiösen Kräfte der sozialen Integration sind infolge eines Aufklärungsprozesses erlahmt, der so wenig rückgängig<br />

gemacht werden kann, wie er willkürlich produziert worden ist. Der Aufklärung ist die Irreversibilität <strong>von</strong> Lernprozessen eigen,<br />

die darin begründet ist, daß Einsichten nicht nach Belieben vergessen, sondern nur verdrängt oder durch bessere Einsichten<br />

korrigiert werden können. Deshalb kann die Aufklärung ihre Defizite durch radikalisierte Aufklärung wettmachen; deshalb<br />

müssen Hegel <strong>und</strong> seine Schüler ihre Hoffnung auf eine Dialektik der Aufklärung setzen, in der sich die Vernunft als Äquivalent<br />

für die vereinigende Macht der Religion zur Geltung bringt. Sie haben Vernunftkonzepte entwickelt, die ein solches Programm<br />

erfüllen sollten. Wir haben gesehen, wie <strong>und</strong> warum diese Versuche gescheitert sind.<br />

Hegel konzipiert die Vernunft als versöhnende Selbsterkenntnis eines absoluten Geistes, die Hegelsche Linke als befreiende<br />

Aneignung produktiv entäußerter, aber vorenthaltener Wesenskräfte, die Hegelsche Rechte als erinnernde Kompensation des


Schmerzes unvermeidlicher Entzweiungen“. (Habermas 1985, S. 104 f.) Nietzsche geht einen anderen Weg, bei dem <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong><br />

Ästhetik eine besondere Rolle spielt: „Was Nietzsche das „ästhetische Phänomen“ nennt, enthüllt sich <strong>im</strong> konzentrierten<br />

Umgang einer dezentrierten, <strong>von</strong> den Alltagskonventionen der Wahrnehmung <strong>und</strong> des Handelns freigesetzten Subjektivität mit<br />

sich selbst. Erst wenn das Subjekt sich verliert, wenn es aus den pragmatischen Raum-Zeit-Erfahrungen ausschert, vom<br />

Schock des Plötzlichen berührt wird, „die Sehnsucht nach der wahren Präsenz“ (Octavio Paz) erfüllt sieht <strong>und</strong> selbstverloren <strong>im</strong><br />

Augenblick aufgeht; erst wenn die Kategorien des verständigen Tuns <strong>und</strong> Denkens eingestürzt, die Normen des täglichen<br />

Lebens zerbrochen, die Illusionen der eingeübten Normalität zerfallen sind - erst dann öffnet sich die Weit des<br />

Unvorhergesehenen <strong>und</strong> schlechthin Überraschenden, der Bereich des ästhetischen Scheins, der weder verhüllt noch<br />

offenbart, weder Erscheinung noch Wesen ist, sondern nichts als Oberfläche. Nietzsche setzt die romantische Reinigung des<br />

ästhetischen Phänomens <strong>von</strong> allen theoretischen <strong>und</strong> moralischen Be<strong>im</strong>engungen fort. In der ästhetischen Erfahrung wird die<br />

dionysische Wirklichkeit durch eine „Kluft des Vergessens“ gegen die Weit der theoretischen Erkenntnis <strong>und</strong> des moralischen<br />

Handelns, gegen den Alltag abgeschottet. Die <strong>Kunst</strong> öffnet den Zutritt zum Dionysischen nur um den Preis der Ekstase - um<br />

den Preis der schmerzhaften Entdifferenzierung, der Entgrenzung des Individuums, der Verschmelzung mit der amorphen Natur<br />

innen wie außen.<br />

„Mit Nietzsche verzichtet die Kritik der Moderne zum ersten Mal auf die Einbehaltung ihres emanzipatorischen Gehaltes. Die<br />

subjektzentrierte Vernunft wird mit dem schlechthin Anderen der Vernunft konfrontiert. Und als Gegeninstanz zur Vernunft<br />

beschwört Nietzsche die ins Archaische zurückverlegten Erfahrungen der Selbstenthüllung einer dezentrierten, <strong>von</strong> allen<br />

Beschränkungen der Kognition <strong>und</strong> der Zwecktätigkeit, allen Imperativen der Nützlichkeit <strong>und</strong> der Moral befreiten Subjektivität“.<br />

(Ebd. S. 116 f.)<br />

Besondere Konjunktur erfährt Nietzsche, seit die französische Philosophie ihn zusammen mit Heidegger (der ein zweibändiges<br />

Werk über ihn verfaßt) als Apostel einer neuen Weltsicht entdeckt hat. In dieser Rezeptionssituation mag ein Hinweis auf das<br />

weitgehend vergessene Werk <strong>von</strong> G. Lukcas: Die Zerstörung der Vernunft (zuerst 1954) relevant sein, in dem der Autor die<br />

Philosophiegeschichte seit der französischen Revolution als Niedergangsgeschichte, als Geschichte der Dekadenz beschreibt,<br />

in der nach Schelling, Schopenhauer <strong>und</strong> Kierkegaard, die sich noch unmittelbar mit den "Klassikern" Kant <strong>und</strong> Hegel<br />

auseinandersetzen, Nietzsche eine wichtige Etappe darstellt, auch in seinem Einfluß auf die dann bis in unsere Zeit wirkende<br />

Etappe der Lebensphilosophie, die <strong>von</strong> W. Dilthey ihren Ausgang nahm. Diese Dekadenz endet für Lukcas mit dem<br />

Faschismus, so daß in seiner Darstellung all die genannten Philosophen zur Vorgeschichte des Faschismus, ja geradezu zu<br />

seiner ideologischen Vorbereitung gezählt werden müßten. Es würde jedoch den Rahmen dieser Studie sprengen, wollte man<br />

diese komplizierte Frage - zumal in dem schillernden Werk Nietzsches - näher zu ergründen suchen.<br />

Immerhin: Im Hinblick auf die Frage, wie Ästhetiker die Rolle <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> bewerten, wie sie ihre Wirkung beurteilen, kommt<br />

Nietzsche sofort ins Blickfeld als jemand, der vielfach die Kritik der Romantik an der Industriegesellschaft, ihrer kognitiven<br />

Gr<strong>und</strong>lage, der Arbeitsteilung <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Zerstörung <strong>von</strong> Lebenszusammenhängen <strong>und</strong> Ganzheitlichkeit,<br />

aufgegriffen, gebündelt <strong>und</strong> radikalisiert hat. Die Konsequenz freilich, die aus dieser oft zutreffenden <strong>und</strong> <strong>von</strong> vielen auch so<br />

empf<strong>und</strong>enen Kritik gezogen wird, ist ebenfalls radikal, wobei diese sich für die radikale Vernunftkritik der Postmoderne gerade<br />

dadurch anbietet, daß <strong>Kunst</strong> die Führungsrolle als Orientierungsmedium in der Welt übern<strong>im</strong>mt:<br />

„Die <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> nichts als die <strong>Kunst</strong>! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große<br />

St<strong>im</strong>ulans des Lebens. (..) Man sieht, daß in diesem Buche (gemeint ist die Geburt der Tragödie - W.R.) der Pess<strong>im</strong>ismus,<br />

sagen wir deutlicher der Nihilismus, als die „Wahrheit“ gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Wertmaß, noch weniger als<br />

oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden <strong>und</strong> Wechseln (zur objektivierten Täuschung)<br />

gilt hier als tiefer, ursprünglicher, „metaphysischer“ als der Wille zur Wahrheit. (...) Dies Buch ist dergestalt sogar<br />

antipess<strong>im</strong>istisch: nämlich in dem Sinne, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pess<strong>im</strong>ismus, das „göttlicher" ist als die<br />

Wahrheit (...) -, daß <strong>Kunst</strong> mehr wert ist, als die Wahrheit“ (XIII, 521 f.). (F. Nietzsche, aus dem Nachlaß der achtziger Jahre,<br />

etwa in der Ausgabe Nietzsche 1960, Bd. III, S. 692 ff.; hier zitiert auch Ries 1990, S. 121).<br />

Attraktiv für die Postmoderne wird diese Position dabei nicht nur wegen der Rolle der Ästhetik, sondern auch dadurch, daß<br />

exper<strong>im</strong>entelle ästhetische Selbsterfindung des Menschen in dieser Position die philosophie-systematische Lücke füllt, die<br />

durch den Wegfall des Topos der "Selbstverwirklichung" entstanden ist (vgl. Honneth 1994, S. 11 ff.).<br />

Radikale Kritik an einer Gesellschaft, deren Ordnung <strong>und</strong> <strong>im</strong>manente Logik einen ersten großen Weltkrieg inzwischen<br />

verursacht hat, deren demokratischer Pathos es nicht hat verhindern können, daß in Italien <strong>und</strong> Deutschland Faschisten die<br />

Macht ergriffen haben, teilen auch die Autoren <strong>im</strong> Umkreis des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, die sich zusammen mit<br />

anderen kritischen <strong>und</strong>/oder jüdischen Intellektuellen <strong>und</strong> Künstlern <strong>im</strong> US-amerikanischen Exil befanden - sofern ihnen<br />

rechtzeitig die Flucht gelungen ist. Dies war die entscheidende Generationserfahrung dieser kritischen Intelligenz: die<br />

Ambivalenz der We<strong>im</strong>arer Republik, Faschismus <strong>und</strong> Krieg <strong>und</strong> dann natürlich Auschwitz.<br />

Eine weitere Ambivalenz betrifft die USA. Das Gefühl, zwar nicht in der He<strong>im</strong>at zu sein, aber Zuflucht <strong>und</strong> notdürftiges<br />

Auskommen gef<strong>und</strong>en zu haben; zugleich aber ein entwickelter Kapitalismus, der ungeniert, vielleicht brutal, aber auch offener<br />

als der he<strong>im</strong>ische agiert. Und dieses gesellschaftliche Kl<strong>im</strong>a, die <strong>von</strong> außen so schwer verständliche Mischung <strong>von</strong> tatsächlich<br />

vorhandener Freiheit <strong>und</strong> politischer Borniertheit, <strong>von</strong> Toleranz <strong>und</strong> kleingeistiger Bigotterie prägt gerade <strong>und</strong> vor allem die<br />

<strong>Kunst</strong>: "Anders als die europäische <strong>Kunst</strong> ist die amerikanische unter keinerlei Schuldkomplexen. Das junge Amerika hatte sich<br />

mit keiner humanistischen Kulturtradition auseinanderzusetzen, ihm fehlten weit zurückreichende technische Erfahrungen <strong>und</strong><br />

auf hohe Qualität bedachtes Handwerkertum. Seine <strong>im</strong>mensen schöpferischen Energien <strong>und</strong> seinen Zukunftsglauben hatte es<br />

<strong>im</strong> stürmischen industriellen Wachstum zum Ausdruck gebracht'. (Argon in Lucie-Smith 1985. S. 14.)<br />

Zu dem <strong>von</strong> Oelmüller (1982) als notwendig zu berücksichtigenden "Erfahrungshorizont" der bürgerlichen Gesellschaft gehören<br />

also nicht nur Krieg <strong>und</strong> Faschismus als Extreme, sondern auch die Normalität des alltäglichen Kapitalismus, wie man ihn kaum<br />

besser studieren konnte als in den USA: "Auf breiter, noch engagierterer Front sah sich die junge <strong>Kunst</strong> Amerikas dem<br />

gegenüber, was man gemeinhin „Konsumgesellschaft" nennt. Der industrielle Apparat wächst an sich selbst; um sein<br />

Wachstum zu beschleunigen <strong>und</strong> seine Hegemonie zu sichern, muß die Menge der Konsumgüter über alle Bedürfnisse hinaus<br />

zunehmen". (Ebd. S. 15.) Es verw<strong>und</strong>ert also nicht, wenn die USA nicht nur in ökonomischer, sondern zunehmend in kultureller<br />

Hinsicht die Hegenomie erwarben: "Seit den Anfängen der Moderne haben europäische Künstler den Atlantik überquert, um<br />

sich an Ort <strong>und</strong> Stelle umzusehen ..., nach dem zweiten Weltkrieg aber erlebte Amerika eine wahre Flut <strong>von</strong> Besuchern. Der


New-York-Aufenthalt schien für den ehrgeizigen jungen Künstler nahezu ebenso wichtig wie einst der Rom-Besuch für die Maler<br />

<strong>und</strong> Bildhauer des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts." (Lucie-Smith in Lucie-Smith 1985, S. 15.)<br />

Oelmüller formuliert daher - auch aufgr<strong>und</strong> dieser skizzierten Situation - für einen Diskurs <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Schönes als<br />

"Erfahrungshorizont der Gegenwart" die folgenden Rahmenbedingungen:<br />

o<br />

Anknüpfen an Erfahrungen gegenwärtiger <strong>Kunst</strong>, die also unter den Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen<br />

Welt entstanden ist. Interessant für uns seine Sichtweise dieser gegenwärtigen Weit als differenzierte soziale Systeme, zum<br />

Beispiel solche der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Technik, der Politik, der militärischen Rüstung, als Ergebnis <strong>von</strong><br />

Modernisierungsprozessen ökonomischer, sozialer, politischer, wissenschaftlicher, religiöser <strong>und</strong> kultureller Art, als letzte<br />

Voraussetzung unserer personalen <strong>und</strong> sozialen Identität sowie unserer Wirklichkeitserklärungen, Handlungsorientierungen<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten zur Kontingenzbewältigung.<br />

Weitere Stichworte: räumliche <strong>und</strong> zeitliche Entgrenzung, gerade <strong>im</strong> Blick auf <strong>Kunst</strong> (z.B. Internationalität unserer<br />

<strong>Kunst</strong>rezeption). Und opt<strong>im</strong>istisch: „Er (der Diskursteilnehmer; M.F.) wird auch feststellen, daß es durchaus Kriterien <strong>und</strong><br />

Gründe dafür gibt, ob jemand ein Künstler oder ein Scharlatan ist, ob etwas <strong>Kunst</strong> ist oder eine Ware der Kulturindustrie, die<br />

nur des Profit willens gemacht <strong>und</strong> verkauft wird, ob etwas <strong>Kunst</strong> ist oder Kitsch, der nichts zu denken gibt, sondern<br />

herrschende Klischees <strong>und</strong> Vorurteile bestätigt <strong>und</strong> verfestigt“. (Oelmüller 1982, S. 60.)<br />

o<br />

o<br />

Ein zweites Element des Erfahrungshorizontes betrifft eine Einsicht in die Grenzen der Wirkungsmöglichkeiten <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong><br />

<strong>und</strong> - damit verb<strong>und</strong>en - eine Warnung vor einer Überforderung der Künste. Hier sieht er so unterschiedliche Autoren wie<br />

Schelling, Heidegger <strong>und</strong> Adorno, die gemeinsam den hohen Stellenwert des <strong>Kunst</strong>werkes als "Platzhalter der verlorenen<br />

Wahrheit in dürftiger Zei“ sehen. Er stellt jedoch auch bei Vertretern einer "mäßigen Überforderung" (Gehlen: Entlastung;<br />

Ritter <strong>und</strong> Marquard: Kompensation) die uns auch noch zu interessierenden Fragen nach Belegen für diese<br />

Zuschreibungen <strong>und</strong> befragt die Positionen nach ihren - ebenfalls zu belegenden - anthropologischen Implikationen.<br />

Ein letzter Hinweis betrifft die Berücksichtigung neuer <strong>philosophisch</strong>-wissenschaftlicher Methoden (Phänomenologie,<br />

Psychoanalyse, Sozialgeschichte, Strukturalismus, Semiotik u.a.). Allerdings verweist er darauf, daß entsprechende<br />

Arbeiten oft da enden, wo die eigentlichen Fragen erst beginnen.<br />

Die Lebensdaten wichtiger Akteure (ohne Vollständigkeit) <strong>im</strong> ästhetischen Diskurs sind gerade <strong>im</strong> Hinblick auf den<br />

beschriebenen "Erfahrungshorizont" nicht ohne Interesse: Th. W. Adorno (1903-1969), W. Benjamin (geh. 1892, Selbstmord<br />

1940 auf der Flucht vor der Gestapo), G. Lukacs (1885-1971), J.P. Sartre (1905-1980), E. Bloch (1885-1977), J. Dewey<br />

(1859-1952), R. Ingarten (1893-1970), A. Gehlen (1904-1976), M. Heidegger (1889-1976), H. Marcuse (1892-1980).<br />

Zeitgenossen waren sie alle, <strong>von</strong> ihrem Denken vielfach, zum Teil allerdings sehr verschlungen aufeinander bezogen. Den<br />

ersten Weltkrieg haben bereits alle bewußt erlebt, ebenso wie die Revolutionen in Rußland <strong>und</strong> Deutschland. Die We<strong>im</strong>arer Zeit<br />

ist die Zeit des Studiums - <strong>und</strong> dann trennen sich die Wege. Die einen müssen emigrieren, andere (Heidegger, Gehlen) setzen<br />

ihre akademische Karriere <strong>im</strong> Nazi-Deutschland fort.<br />

Benjamin<br />

Auf W. Benjamin bin ich bereits <strong>im</strong> zweiten Abschnitt zu sprechen gekommen. Spätestens jetzt ist die warenmäßig organisierte<br />

Industriegesellschaft in ihrem Verhältnis zu <strong>Kunst</strong>, speziell in den Kategorien bürgerlich-idealistischer <strong>Kunst</strong>theorie wie<br />

"<strong>Kunst</strong>werk" <strong>und</strong> "Autonomie" explizit <strong>im</strong> Mittelpunkt des Denkens. Mit den neuen technischen Möglichkeiten wird die<br />

Reproduzierbarkeit <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong>werken nicht erst erf<strong>und</strong>en, diese gab es <strong>im</strong>mer schon (so Benjamin 1963, S. 11). Doch mit der<br />

massenhaften technischen Reproduzierbarkeit entsteht eine neue Qualität; Verlust <strong>und</strong> Echtheit (ebd., S. 14 ff.), eine<br />

Entwertung des Hier <strong>und</strong> Jetzt, kurz: der Verlust seiner Aura, die zugleich die Zerstörung <strong>von</strong> Tradition bedeutet. Entscheidend -<br />

auch <strong>im</strong> Hinblick auf die Wirkung, die nun eben nicht mehr die der Kontemplativität des Einzelnen ist -, ist das entstehende neue<br />

Verhältnis der Masse zur <strong>Kunst</strong>, das sich (u.a.) in der nun möglichen sichtbaren kollektiven Rezeption etwa des Films zeigt: an<br />

dieser Stelle entsteht als neue Rezeptionsforrn die "zerstreute Rezeption" (ebd. S. 47 ff.). Quasi ein Nebenprodukt dieses<br />

kleinen Textes <strong>von</strong> W. Benjamin ist das <strong>im</strong> Nachwort aus der Logik der Masse <strong>und</strong> der Notwendigkeit ihrer Formierung<br />

entwickelte Konzept einer "Ästhetisierung <strong>von</strong> Politik", wodurch der Faschismus eine neue Form <strong>von</strong> Vergemeinschaftung<br />

entwickelt hat, an die Kant bei seinem Konzept der transzendentalen Geschmacksgemeinschaft wohl noch nicht hat denken<br />

können.<br />

Technik wirkt also bei Benjamin durchaus emanzipatorisch, insofern sie die Hermetik <strong>und</strong> das Elitäre der Aura zerstört. Und das<br />

nicht nur bezogen auf den einzelnen. Vielmehr gewinnt dieser theoretische Ansatz - auch für eine <strong>Kunst</strong>soziologie - ihre<br />

Bedeutung darin, daß sie "die Rezeptionsproblematik nicht an der Unmittelbarkeit subjektiven <strong>Kunst</strong>erlebnisses festmacht,<br />

sondern einen theoretischen Rahmen epochaler Veränderungen der Rezeptionshaltungen entwirft" (Bürger in Bürger 1978, S.<br />

16).<br />

Ohne Frage hat dieser Perspektivwechsel großen Einfluß darauf, wie <strong>Wirkungen</strong> <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> ermittelt werden können: "Nur so<br />

kann der Gefahr einer Auflösung der Rezeptionsforschung in positivistische Einzeluntersuchungen begegnet werden" (ebd.).<br />

Allerdings gerät Benjamin mit dieser Bewertung der Zerstörung des auratischen <strong>Kunst</strong>werkbegriffs in Kollision zu Adorno.<br />

Dieser sieht die Chancen eines warenmäßig organisierten <strong>Kunst</strong>betriebs pess<strong>im</strong>istisch. Zwar bemerkt er auch "zerstreute<br />

Rezeption", etwa bei der Unterhaltungsmusik, sieht darin jedoch - ebenso wie in der pädagogischen Musik der Musikanten r<strong>und</strong><br />

um die musische Bewegung - nur Regression, Substanzverlust, Niedergang <strong>von</strong> Subjektivität.<br />

Dewey<br />

Adorno dürfte - auch aufgr<strong>und</strong> seines posthum veröffentlichten Hauptwerks "Ästhetische Theorie" (1970) - heute einer der<br />

einflußreichsten <strong>und</strong> anregendsten Denker sein. Kein aktueller Diskurs - sei es der über Erhabenheit oder über <strong>Kunst</strong>waren, sei<br />

es über ästhetische Erfahrung oder über das <strong>Kunst</strong>werk - kann es sich leisten, auf Adorno zu verzichten. Doch bevor diese Linie<br />

verfolgt wird, scheint mir ein kurzer Blick auf J. Dewey interessant, dessen Leben (<strong>und</strong> Lebenswerk) nicht nur real das<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert nach der klassischen deutschen Philosophie bis zur Hoch-Zeit des Kalten Krieges zwischen den Großmächten<br />

erfaßt, sondern der auch geistig in die intellektuellen <strong>und</strong> politischen Auseinandersetzungen dieser Zeit eingespannt ist. Mit Ch.<br />

S. Peirce zählt er zu den Begründern des "Pragmatismus", der ersten eigenständigen US-amerikanischen


Philosophie-Produktion, die insbesondere in der Person <strong>von</strong> Peirce unmittelbar an Kant anknüpft. Sein Erfahrungsfeld ist der<br />

oben beschriebene entwickelte Kapitalismus. Seine pädagogischen <strong>und</strong> politischen Reformvorstellungen lassen ihn in der Zeit<br />

nach der Oktoberrevolution zu einem Sympathisanten des jungen Sowjetstaats (für kurze Zeit) werden. Lenins Frau Krupskaja,<br />

zuständig für das Erziehungswesen, übern<strong>im</strong>mt etwa seine Überlegungen zur Projektmethode (die später in den USA der<br />

fünfziger Jahre wegen Sozialismus-Verdacht <strong>und</strong> angeblicher Ineffektivität ebenso abgelehnt wird wie bereits in den dreißiger<br />

Jahren in der Sowjetunion wegen des Verdachtes, trojanisches Pferd der bürgerlichen Ideologie zu sein).<br />

Ebenso wie die Avantgarde auf künstlerischer Ebene will J. Dewey (1980) kunsthistorisch die Kluft zwischen Alltag <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong> -<br />

ein Ergebnis des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, dessen sinnfälligster Ausdruck das Verschwinden der <strong>Kunst</strong>werke in Museen war -<br />

überbrücken auf der Basis seines pragmatischen Konzeptes <strong>von</strong> Erfahrung <strong>und</strong> handelnder Lebensbewältigung. Konsequent<br />

(<strong>im</strong> Rahmen des Pragmatismus) werden <strong>Kunst</strong> <strong>und</strong> Erfahrung mit <strong>Kunst</strong> für diesen Zweck "instrumentalisiert": <strong>Kunst</strong> - ebenso<br />

wie Wissenschaft <strong>und</strong> andere Formen menschlicher Weltbeziehung - wird handelnd erworben <strong>und</strong> hat welterschließende <strong>und</strong><br />

weltaufschließende Funktion. Dem entspricht die Vorstellung Deweys der gr<strong>und</strong>sätzlichen Nichtabgeschlossenheit ästhetischer<br />

Erfahrung <strong>und</strong> - als Pendant hierzu auf der Seite der <strong>Kunst</strong>werke - ihrer eigentümlichen Wirkung <strong>von</strong> Explizitheit <strong>und</strong> Implizitheit:<br />

Dinge - exemplifiziert am <strong>Kunst</strong>werk - sind nicht so, wie sie einmal wahrgenommen wurden, sondern entfalten - auch abhängig<br />

<strong>von</strong> unterschiedlichen Gebrauchs- (<strong>und</strong> Verwertungs)situationen - neue D<strong>im</strong>ensionen der Erkenntnis. Diese Wirkung entfaltet<br />

sich jedoch nicht nur durch handelnden Umgang mit <strong>Kunst</strong>. Sondern Aufgabe <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> wiederum ist es, neues Handeln zu<br />

provozieren. Es finden sich also in dem Deweyschen Konzept <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> alle wesentlichen Elemente des Pragmatismus:<br />

Instrumentalisierung in Bezug auf die kognitive Ausstattung des Menschen <strong>und</strong> deren Produkte, der Entwicklungsgedanke,<br />

Handeln <strong>und</strong> die opt<strong>im</strong>istische Hoffnung <strong>und</strong> Überzeugung, daß der Mensch nicht nur entwicklungsbedürftig, sondern auch<br />

entwicklungsfähig ist. <strong>Kunst</strong> mag sich oft zu hermetisch vom Alltag entfernt haben, eine entscheidende Best<strong>im</strong>mung, nämlich<br />

letztlich auf das Leben des Menschen bezogen zu sein, wird durch die Verabsolutierung dieser Entwicklung verfehlt: „<strong>Kunst</strong> ist<br />

eine Art der Voraussage, wie sie nicht in Tabellen <strong>und</strong> Statistiken anzutreffen ist, <strong>und</strong> sie gibt Möglichkeiten, menschliche<br />

Beziehungen zu verstehen, die nicht in Regel <strong>und</strong> Vorschrift, Ermahnung <strong>und</strong> Verwaltung anzutreffen sind“. (Dewey 1980, S.<br />

402.)<br />

Unverhoffte Aktualität erhält in jüngster Zeit die pragmatische Ästhetik <strong>von</strong> J. Dewey durch eine Taschenbuchausgabe des<br />

Titels "Pragmatist Aesthetics. Living Beauty, Rethinking Arts." (dt.: <strong>Kunst</strong> leben. Die Ästhetik des Pragmatismus) <strong>von</strong> Richard<br />

Shusterman (1994), der auch biographisch eine spannende Synthese vorstellt: aufgewachsen in der US-amerikanischen<br />

Tradition der analytischen Philosophie, ein enger Kollege <strong>von</strong> Richard Rorty, mit der europäischen, vor allem deutschen<br />

Ästhetik-Tradition vertraut, zunächst ein Anhänger <strong>von</strong> Adorno, der sich zunehmend der Praxis-Philosophie J. Deweys annähert<br />

<strong>und</strong> der <strong>von</strong> P. Bourdieu eingeladen wird, sein jetzt in deutscher Fassung vorliegendes Manuskript in der Ecole des Hautes<br />

Études en Sciences Sociales vorzustellen. Auf der Basis der Gr<strong>und</strong>annahmen des Pragmatisums verfolgt er in diesem Buch<br />

nicht nur das Anliegen, "<strong>Kunst</strong> als Erfahrung" (J. Dewey) als gegenüber anderen essentialistischen, historischen,<br />

institutionsbezogenen etc. Definitionen <strong>von</strong> (hoher!) <strong>Kunst</strong> zu rehabilitieren, sondern zugleich die Ästhetik für die populäre Kultur<br />

(er diskutiert diese vor allem am Beispiel des Rap) zu öffnen. Und er tut dies gerade in der Verfolgung der emanzipatorischen<br />

Ziele Adornos in bewußtem Gegensatz sowohl zu diesem als auch zu dem mit der Postmoderne stark liebäugelnden R. Rorty,<br />

indem er systematisch die Borniertheit <strong>und</strong> Haltlosigkeit eines Begriffes <strong>von</strong> "hoher <strong>Kunst</strong>" durch Ernstnehmen (<strong>und</strong> ad<br />

absurdum Führen) vorgeschlagener Begriffsbest<strong>im</strong>mungen aufzeigt.<br />

Eine zentrale Rolle spielen hierbei Wirkungsbehauptungen <strong>von</strong> hoher <strong>Kunst</strong>, die er als entweder nicht belegbar<br />

beziehungsweise nicht auf diese sinnvoll <strong>und</strong> begrifflich sauber eingrenzbar nachweist, Shusterman zeigt, wie gerade auch der<br />

(stark kommerzialisierte) Rap trotz seiner Einbettung in die Kulturindustrie leicht strengste Kriterien erfüllt, die <strong>im</strong> traditionellen<br />

Ästhetikdiskurs nur der "<strong>Kunst</strong>" vorbehalten sind (z.B. Autonomie <strong>und</strong> Distanz, ebd., S. 173 ff.), er zeigt die enge Verbindung<br />

<strong>von</strong> sozialer (-soziologischer) Betrachtung <strong>und</strong> ästhetischem Ausdruck, zeigt die Verbindung <strong>von</strong> Kognition <strong>und</strong> Ästhetischem<br />

(etwa in knowledge rap), <strong>und</strong> er zeigt dies in minutiösen Detailanalysen, etwa in Textvergleichen zwischen T.S. Eliot <strong>und</strong> dem<br />

Titel "Talkin' All that Jazz" der Gruppe 'Stetsasonic' aus dem Jahre 1988. In all diesen sorgfältigen Analysen verrät Shusterman<br />

seine Herkunft in der Analytischen Philosophie mit ihrer begrifflichen Pedanterie.<br />

So interessant nun dies auch sein mag, man wird diese "Rehabilitation" <strong>von</strong> Popularkultur nur dann als nötig <strong>und</strong> provozierend<br />

empfinden, wenn man äußerst selbstgewiß ein hinreichend enges <strong>und</strong> konservatives <strong>Kunst</strong>konzept hat, das ohnehin bei jeder<br />

neuen <strong>Kunst</strong>welle zur Disposition steht (hier steckt - wie gesehen - das Problem etwa bei Adornos jeweils "fortschrittlichstem<br />

Material", da ein Motor in der Entwicklung der Künste der ständige Versuch ist, jeweils aktuelle Auffassungen <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> zu<br />

sprengen). Vieles an Brisanz, mit der Shusterman seine Überlegungen präsentiert, verliert sich, wenn man der heute<br />

praktizierten (<strong>und</strong> etwa <strong>von</strong> Paetzold 1990 systematisch begründeten) Zweiteilung des Ästhetik-Geschäfts folgt, nämlich neben<br />

einer Konzeption des <strong>Kunst</strong>werks eine Theorie der ästhetischen Erfahrung begründen zu müssen, so daß auf alle Fälle ein<br />

Ignorieren der Popular-Kultur - sollte eine zu enge <strong>Kunst</strong>theorie dies nahelegen - spätestens unter der Perspektive der<br />

"ästhetischen Erfahrung" wieder rückgängig gemacht werden müßte, also geradezu eine theoretische Rückkopplungsschleife<br />

eingebaut ist.<br />

Diese Überlegung sollte jedoch nicht dazu führen, sich nicht auf die Diskussion der präzisen Analysen <strong>von</strong> Shusterman<br />

einzulassen. Dies gilt vor allem für seine Auseinandersetzung mit der Postmoderne, insbesondere mit einem <strong>von</strong> ihm<br />

identifizierten Hauptzug, einer "Ästhetisierung der Ethik“, die er an dem auch <strong>im</strong> deutschen Diskurs zunehmend einflußreicher<br />

werdenden Richard Rorty (ideal des ästhetischen Lebens des Ironikers, vgl. Rorty 1992) diskutiert <strong>und</strong> damit die typisch<br />

anglo-amerikanische (<strong>und</strong> französische) Mischung <strong>von</strong> Wittgenstein, Nietzsche <strong>und</strong> Heidegger aufs Korn n<strong>im</strong>mt, die zum Kern<br />

der postmodernen Philosophie gehört. Dies ausführlich zu diskutieren gehört jedoch in einen anderen Kontext, auch wenn diese<br />

Ästhetisierungsdiskussion kultur- <strong>und</strong> gesellschaftspolitisch aufmerksam beobachtet werden muß (vgl. die Texte <strong>von</strong> A.<br />

Göschel; siehe auch die Beiträge <strong>von</strong> Häußermann/Siebel <strong>und</strong> Ipsen in Häußermann/Siebel 1993). Denn der Verdacht liegt<br />

meines Erachtens nahe, daß sich G. Fülberths damalige Kritik am Konzept der Zivilgesellschaft auch auf den sorgsam seine<br />

Privatethik vor der Öffentlichkeit abschottenden Rorty anwenden läßt: “Hier äußert sich der metropolitane Citoyen, welcher sich<br />

be<strong>im</strong> Genuß der Wonnen, welche ihm der Imperialismus bietet, nicht gern durch zu viel Staat stören läßt <strong>und</strong> schnell rebellisch<br />

wird <strong>und</strong> wehklagt, wenn es ihm nicht zivil genug zugeht.“ (Fülberth 1991, S. 48).<br />

Marcuse<br />

Neben der wirkungsmächtigen Diskussion der Kulturindustrie, die - wie oben erwähnt - etwa in dem "soziologischen Lehrstück"<br />

des Dreigroschenprozesses Jahre vor ihrer Veröffentlichung durch Adorno <strong>und</strong> Horkhe<strong>im</strong>er <strong>im</strong> Jahre 1945 exemplarisch <strong>von</strong><br />

Brecht Anfang der dreißiger Jahre durchexerziert wurde, hat Marcuse vor allem 1937 in dem in der Zeitschrift für<br />

Sozialforschung - damals noch aus dem Pariser Exil herausgegeben - erschienenen Aufsatz "Über den affirmativen Charakter


der Kultur" mit der idealistischen Ästhetik des Wahren, Guten <strong>und</strong> Schönen abgerechnet. Die ideologische Funktion der Kultur<br />

in der bürgerlichen Gesellschaft wird nur staatserhaltend - eben affirmativ - gesehen: „Auf die anklagenden Fragen gab das<br />

Bürgertum eine entscheidende Antwort: die affirmative Kultur. Sie ist in ihren Gr<strong>und</strong>zügen idealistisch. Auf die Not des isolierten<br />

Individuums antwortet sie mit der allgemeinen Menschlichkeit, auf das leibliche Elend mit der Schönheit der Seele, auf die<br />

äußere Knechtschaft mit der inneren Freiheit, auf den brutalen Egoismus mit dem Tugendreich der Pflicht. Hatten zur Zeit des<br />

kämpferischen Aufstiegs der neuen Gesellschaft all diese Ideen einen fortschrittlichen, über ihre erreichte Organisation des<br />

Daseins hinausweisenden Charakter, so treten sie in steigendem Maße mit der sich stabilisierenden Herrschaft des Bürgertums<br />

in den Dienst der Niederhaltung unzufriedener Massen <strong>und</strong> der bloß rechtfertigenden Selbsterbebung. Sie verdecken die<br />

leibliche <strong>und</strong> psychische Verkümmerung des Individuums“ (Marcuse 1965, S. 11).<br />

Marcuse ist auch skeptisch <strong>im</strong> Hinblick auf die These, die Bloch als "Vorschein einer Utopie" der <strong>Kunst</strong> zuschreibt: "Die Kultur<br />

soll die Frage für den Glücksanspruch der Individuen übernehmen. Aber die gesellschaftlichen Antagonismen, die ihr zugr<strong>und</strong>e<br />

liegen, lassen den Anspruch nur als verinnerlichten <strong>und</strong> rationalisierten in die Kultur eingehen" (ebd., S. 67 f.). "Kulturelle<br />

Bildung“, so Marcuse, „hat dabei Sorge dafür zu tragen, daß die Realisierung <strong>von</strong> Glücksansprüchen nicht durch Veränderung<br />

der materiellen Lebensordnung, sondern durch "ein Geschehen in der Seele des Individuums" herbeigeführt wird: Humanität als<br />

(bloß) innerer Zustand (ebd., S. 71).<br />

Die nicht mehr vorhandene Einheit <strong>von</strong> Schönheit <strong>und</strong> Wahrheit wird auch an ihren unterschiedlichen <strong>Wirkungen</strong> deutlich: "Die<br />

Schönheit der <strong>Kunst</strong> ist - anders als die Wahrheit der Theorie - verträglich mit der schlechten Gegenwart, in ihr kann sie Glück<br />

gewähren. Die wahre Theorie erkennt das Elend <strong>und</strong> die Glücklosigkeit des Bestehenden. Auch wo sie den Weg zur<br />

Veränderung zeigt, spendet sie keinen Trost." (Ebd. S. 86.). Ausdruck dafür, daß diese Trennung <strong>von</strong> (schlechter) Lebenswelt<br />

<strong>und</strong> (idealer) Schönheit hat stattfinden können, war die in Deutschland praktizierte Unterscheidung der Begriffe "Kultur" <strong>und</strong><br />

"Zivilisation". Zur Möglichkeit einer nicht-affirmativen <strong>Kunst</strong> in der bürgerlichen Gesellschaft findet sich bei Marcuse wenig<br />

Konkretes, eher der Hinweis auf die stets vorhandene Ambivalenz zwischen der Versöhnung mit der (schlechten) Welt <strong>und</strong> dem<br />

Wachhalten des Bewußtseins einer möglichen besseren Wirklichkeit.<br />

Dabei steht nicht das einzelne <strong>Kunst</strong>werk <strong>im</strong> Mittelpunkt seines Interesses, sondern eher das ,Ästhetische" insgesamt <strong>im</strong><br />

Rahmen einer materialistischen Kultur-(<strong>und</strong> nicht <strong>Kunst</strong>-)theorie. Die zentrale Wirkungstheorie bei Marcuse (vgl. Paetzold 1974,<br />

S. 105 ff.), die Katharsis - man erinnere sich an die Affinität Marcuses zu Freud - enthält diese Ambivalenz zwischen<br />

Versöhnung mit der Welt <strong>und</strong> kritischer, schreckhafter Entzweiung.<br />

Bei Gehlen (vgl. Gehlen 1986) siegt später entschieden der resignative Anteil: die die Gesellschaft stabilisierenden Institutionen<br />

siegen gegenüber dem ohnmächtig rebellierenden Subjekt, so daß diesem nur noch entlastender Reflexionsgenuß ohne eine<br />

Erschütterung der Gesellschaft verbleibt.<br />

Falsch, weil hoffnungslos ist diese Position, weil damit letztlich die auch kritische Potentiale freisetzende Trennung <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong><br />

<strong>und</strong> Leben kultur-industriell eingeebnet werden würde. Interessant daher die Überlegungen Paetzolds zu einer<br />

nicht-affirmativen, aber auch nicht werkorientierten Ästhetik: "Die Theorie nicht werkorientierter <strong>und</strong> ästhetischer Erfahrungen<br />

müßte in enger Beziehung zu der <strong>von</strong> der Tradition her vertrauten Werkästhetik konstruiert werden: denn einmal kann dies<br />

schon darüber belehren, daß die Kritik am ästhetischen Schein als einem fetischhaften Sein höherer Ordnung <strong>von</strong> der<br />

modernen <strong>Kunst</strong> selbst in Gang gesetzt wurde. Diese reduziert die dem Ästhetischen als solchem anhaftenden affirmativen<br />

Züge <strong>und</strong> vor allem das Ch<strong>im</strong>ärische einer solch erreichten Versöhnung. Dieser Vorgang der Kritik ... fördert die nicht am Werk<br />

orientierte Ästhetik. Ästhetik-Theorie hat über die moderne <strong>Kunst</strong> hinaus als Fluchtpunkt Ästhetisches ins Auge zu fassen, das<br />

dem gesellschaftlichen Leben ohne Verlust konstitutiv inhärent geworden wäre <strong>und</strong> das nicht nur dessen kritisches Gegenbild<br />

<strong>im</strong> „unpraktischen Werk“ verkörpert“. (Paetzold 1974, S. 136).<br />

Adorno<br />

Adorno - <strong>im</strong> Hinblick auf die Rolle der Kulturindustrie eher noch skeptischer als Marcuse (vgl. etwa das entsprechende Kapitel in<br />

Horkhe<strong>im</strong>er/Adorno 1971, S. 108 ff.) will <strong>im</strong> Gegensatz zu dessen Position nicht auf den <strong>Kunst</strong>werkbegriff verzichten - <strong>und</strong> dies<br />

wiederum in - <strong>von</strong> Marcuse geteilter - gesellschaftskritischer <strong>und</strong> emanzipatorischer Absicht. <strong>Kunst</strong> als Erkenntnis - dies ist auch<br />

eine entscheidende Aufgabenbest<strong>im</strong>mung bei Adorno. Allerdings ist für den gelernten Musiker <strong>und</strong> Komponisten (Adorno ist<br />

Schüler <strong>von</strong> A. Berg) klar, daß es sich um eine andere Form als um diskursive begriffliche Erkenntnis handelt.<br />

Adorno will - wie erwähnt - den <strong>Kunst</strong>werkbegriff retten. "<strong>Kunst</strong>werke sind Nachbilder des empirisch Lebendigen, soweit sie<br />

diesem zukommen lassen, was ihnen draußen verweigert wird, <strong>und</strong> dadurch <strong>von</strong> dem befreien, wozu sie ihre<br />

dinghaft-auswendige Erfahrung zurichtet.“ (Adorno 1973, S. 14). Sie beziehen sich also (m<strong>im</strong>etisch) auf eine Wirklichkeit,<br />

transzendieren sie jedoch (<strong>im</strong> Glücksfall), sie sind autonom <strong>und</strong> zugleich fait social (ebd., S. 16), haben auf alle Fälle - einmal<br />

entstanden - ein "Leben sui generis", auch unabhängig <strong>von</strong> den Entstehungsbedingungen <strong>und</strong> Absichten des Künstlers (ebd.,<br />

S. 15): "<strong>Kunst</strong>werke gehen nicht in ihrer Genese auf." (S. 400). <strong>Kunst</strong>werke sind Träger <strong>von</strong> Wahrheit <strong>und</strong> fordern daher vom<br />

Betrachter Erkenntnis (ebd., S. 30): "Dem Hegelschen Satz, den Brecht als Devise sich erkor: die Wahrheit sei konkret, genügt<br />

vielleicht <strong>im</strong> Zeitalter des Grauens nur noch die <strong>Kunst</strong>. Das Hegelsche Motiv <strong>von</strong> der <strong>Kunst</strong> als Bewußtsein <strong>von</strong> Nöten hat über<br />

alles <strong>von</strong> ihm Absehbare hinaus sich bestätigt.“ (Ebd., S. 35). Doch stets wirkt - eben auch auf diese Weise - der Aspekt, fait<br />

social zu sein, was hier heißt: Teil <strong>von</strong> Kulturindustrie zu werden. Und diese läßt - anders als bei Benjamin - nicht die geringste<br />

Chance emanzipatorischen Wirkens: "Entkunstung <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong>" betreibt sie (S. 32), sie wird schließlich - da <strong>Kunst</strong> als Ware zum<br />

Ding unter Dingen wird - Gr<strong>und</strong> für die unzulängliche rein psychologische Betrachtungsweise <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong>, bei der ohne<br />

Anstrengung des Begriffs man sie bloß als Projektionsfläche <strong>und</strong> Vehikel für die Psychologie des Betrachters mißbraucht. Hier<br />

ist bei Adorno der systematische Platz ästhetischer Bildung, insofern diese den Widerstand dagegen schult, daß <strong>Kunst</strong> bloßes<br />

Konsumgut wird, sondern vielmehr dem Rezipienten substantiell werden lassen soll, was ein <strong>Kunst</strong>werk ist. Allerdings: "Von<br />

solcher Bildung ist <strong>Kunst</strong> heute, bereits bei den Produzierenden, weithin abgeschnitten." (S. 500).<br />

Zeitgenössische <strong>Kunst</strong> muß notwendig abstrakt sein - man erinnere sich an Oelmüllers Forderung, daß sich Ästhetik auf<br />

diejenige <strong>Kunst</strong> beziehen möge, die in dieser unserer wissenschaftlich-technischen Welt entstanden ist <strong>und</strong> sich auf diese<br />

bezieht -, denn diese Welt ist selber abstrakt, da sie durch den inhaltsnegierenden Tauschwert vexiert wird. <strong>Kunst</strong> ist daher als<br />

abstrakte <strong>Kunst</strong> "M<strong>im</strong>esis des Verhärteten", des verdinglichten Bewußtseins in der verwalteten Welt.<br />

Adorno ist sich mit Hegel einig in der höheren Bewertung des <strong>Kunst</strong>schönen gegenüber dem Naturschönen: denn dessen<br />

Schönheit ist bloß die abstrakter Verständigkeit (S. 118). Dagegen zielt künstlerische Erfahrung <strong>und</strong> deren Reflexion, die<br />

"Ästhetik", auf konkrete Allgemeinheit, auf Nachvollzug der den <strong>Kunst</strong>werken <strong>im</strong>manenten Logizität (S. 371 f.).


<strong>Kunst</strong> ist kritisch, wenn sie das Bewußtsein des Leidens wachhält <strong>und</strong> <strong>von</strong> der Idee des "richtigen Lebens" zehrt. Sie ist<br />

Statthalter einer besseren Praxis. Dem Warenfetisch kann sie nur als autonome <strong>Kunst</strong> entgehen: Das <strong>Kunst</strong>werk ist autonomer<br />

Sinnzusammenhang - dies ist der "ästhetische Schein", der erst dann sich auflöst als bloßer Schein, wenn die Gesellschaft sich<br />

ändere, so daß Schein als <strong>von</strong> ihr abgespaltene Sphäre <strong>von</strong> Sinn nicht mehr notwendig ist. Ästhetischer Schein ist also<br />

"hypothetisch-kontingentes Versprechen einer sinnvollen Einrichtung der Gesellschaft" (Paetzold 1974, S. 90). Und dies leistet<br />

nur avancierte <strong>Kunst</strong>, nämlich daß sie "(neben der Theorie) in der industriellen Herrschaftsgesellschaft, nach dem<br />

geschichtlichen Ende der vom Proletariat wesentlich getragenen Emanzipationsbewegung, einen Modus gesellschaftlicher Kritik<br />

verkörpert, <strong>und</strong> zwar sowohl hinsichtlich der Zwecke der Gesellschaft als auch hinsichtlich dessen, was die Gesellschaftsich<br />

sich selber dünkt“. (Ebd., S. 73).<br />

<strong>Kunst</strong> spricht also - kraft ihrer Formen - für das Kontingente, Sinnliche, Nichtidentische, ist in dieser Weise nicht-rationale<br />

Vernunft, die sich gegen die alltägliche irrationale Rationalität richtet (Eagleton 1994, S. 361). Und dies leistet gerade<br />

nichtgegenständliche <strong>Kunst</strong>, denn je mehr sich <strong>Kunst</strong> - auch <strong>im</strong> Protest - auf etwas bezieht, desto mehr zeigt sie gemeinsames<br />

Einverständnis damit. (Ebd., S. 359).<br />

Avancierte <strong>Kunst</strong> dagegen, das "fortschrittlichste Material", läßt für einen kurzen Augenblick erkennen, was es bedeuten könnte,<br />

frei zu sein: "<strong>Kunst</strong> ist vielleicht die einzig verbliebene nichtverdinglichte, nicht-instrumentalisierbare Tätigkeit." (Ebd., S. 380).<br />

Eagleton faßt diese Position wie folgt zusammen: „Zunächst glaubt man einen Moment lang ein wenig naiv, die herrschende<br />

Ordnung durch best<strong>im</strong>mte ästhetische Inhalte untergraben zu können. Doch gerade weil diese Inhalte erkennbar <strong>und</strong> einsichtig<br />

sind sowie den Gesetzen der Grammatik gehorchen, fallen sie der gesellschaftlichen Logik zum Opfer, gegen die sie sich<br />

wenden. Sie mögen radikal sein, <strong>im</strong>merhin aber handelt es sich bei ihnen um <strong>Kunst</strong>. Sie mögen etwas Unappetitliches<br />

darstellen, aber sie tun es zumindest mit jener skrupellosen Treue gegenüber dem Original, die den pornographischen Hunger<br />

der bürgerlichen Klasse nach Wirklichkeit zufriedenstellt. Also muß man wohl die Inhalte ablegen <strong>und</strong> nur die Formen<br />

zurückbehalten, die in ihren positiveren Momenten ein Glücksversprechen oder eine organische Versöhnung verbinden <strong>und</strong> die<br />

in ihren negativen Momenten eine schroffe <strong>und</strong> nicht artikulierbare Opposition zum Gegebenen aufweisen. Doch auch jede<br />

dieser Formen unterliegt dem Verdikt, das Herbert Marcuse über "affirmative Kultur“ gefällt hat. Gerade die künstlerische<br />

Vollendung der <strong>Kunst</strong> bewirkt, auch wenn sie jetzt nur das Problem der reinen Form ist, eine falsche Subl<strong>im</strong>ierung, die eben<br />

jene Energien bindet <strong>und</strong> verschwinden läßt, die sie für die Zwecke einer politischen Veränderung freizusetzen hoffte. Wir<br />

stolpern hier über den Widerspruch aller Utopien, daß schon die Bilder der <strong>von</strong> ihnen entworfenen Harmonie die radikalen<br />

Antriebe zu zerstören drohen, die sie zu fördern hoffen. Also muß auch auf die Form, wie rein <strong>und</strong> leer sie auch <strong>im</strong>mer sein<br />

mag, verzichtet werden. Übrig bleibt dann nur die Anti-<strong>Kunst</strong>, eine <strong>Kunst</strong> also, die <strong>von</strong> der herrschenden Ordnung nicht<br />

anzueignen ist, weil sie - <strong>und</strong> das ist ihre letzte Verschlagenheit - überhaupt keine <strong>Kunst</strong> ist. Wenn sich Anti-<strong>Kunst</strong> jedoch nicht<br />

aneignen <strong>und</strong> institutionalisieren läßt, weil sie sich vorab schon weigert, sich <strong>von</strong> der gesellschaftlichen Praxis zu distanzieren,<br />

dann wirft das die Frage auf, wie sie sich dadurch um jede Kritikmöglichkeit gegenüber dem gesellschaftlichen Leben bringt“.<br />

(Ebd., S 381 f.).<br />

Paetzold faßt seine Darstellung neomarxistischer Ästhetiken (Bloch, Marcuse, Adorno, Benjamin) wie folgt zusammen:<br />

1 . <strong>Kunst</strong> ist nicht bloße Reproduktion <strong>und</strong> Widerspiegelung <strong>von</strong> Wirklichkeit, sondern - wie in der klassischen deutschen<br />

Philosophie - Organon <strong>von</strong> Wahrheit.<br />

Ästhetisches wird zum Versprechen einer erst noch zu entwickelnden gesellschaftlichen Ordnung, wird zum Schein.<br />

2. <strong>Kunst</strong> wird zu spezifischem Paradigma <strong>von</strong> Rationalität, das zugleich Kritik des wissenschaftlichen <strong>und</strong> des<br />

Alltagsverstandes ist.<br />

<strong>3.</strong> Die Zwecklosigkeit ästhetischer Objekte ermöglichen eine Kritik der gesellschaftlich dominierenden<br />

Zweck-Mittel-Relationen. Ästhetischen Gebilden kommt eine relative Autonomie zu.<br />

4. <strong>Kunst</strong> entsteht zwar in konkreten gesellschaftlichen Konstellationen, bleibt aber durch das bisher Gesagte der Wirklichkeit<br />

gegenüber fremd, distanziert, was erst deren Erkenntnis ermöglicht. Künstler betreiben daher eine bewußt vollzogene<br />

"künstlerische Entfremdung" <strong>von</strong> dieser Gesellschaft in kritischer Absicht.<br />

Es gibt ein mögliches zweifaches Mißlingen <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong>: das Ende <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> in der Kulturindustrie <strong>und</strong> das Verbot<br />

ästhetischer Erfahrung in einer totalitären Gesellschaft.<br />

5. Ein Ende <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> - als deren "Aufhebung <strong>im</strong> Hegelschen Sinne" - kann erreicht werden dadurch, daß aus (ästhetischem)<br />

Schein Realität wird, sich also die schlechte Realität in eine gute sich ändert.<br />

In systematischer Hinsicht hat Paetzold (wie andere auch) die zweifache Begründungsnotwendigkeit <strong>von</strong> ästhetischer Theorie<br />

herausgearbeitet: als Theorie ästhetischer Wahrnehmung <strong>und</strong> als Werkästhetik, die er später systematisch aus der Sicht einer<br />

"transformierten Transzendentalphilosophie" (auf der Gr<strong>und</strong>lage der Überlegungen <strong>von</strong> K.O. Apel) entfaltet hat (Paetzold 1990).<br />

Die aktuelle kunsttheoretische Diskussion: der halbierte Adorno<br />

Postmoderne<br />

Mit diesem Hinweis sind wir bei der aktuellen Ästhetikdiskussion angelangt, an der, wie bereits Jean Paul in bezug auf die<br />

Romantik vermerkte, heutzutage kein Mangel ist. Dabei wurde der bislang gut geordnete Ästhetikdiskurs, bei dem die bisher in<br />

den Kapitelüberschriften einschlägiger Textsammlungen unterschiedenen Schulen (vgl. Henckmann 1979 oder Henrich/ Iser<br />

1994) zwar unterschiedlich lebendig, jedoch brav nebeneinander friedlich koexistierten, durch den Angriff der Postmoderne, vor<br />

allem vorangetrieben durch französische Philosophen, kräftig aufgemischt.<br />

Der "Erfahrungshorizont" der bürgerlichen Gesellschaft bekam insofern einen neuen Akzent, als es - möglicherweise - in der<br />

Binnenstruktur dieser Gesellschaft zu erheblichen Veränderungen gekommen ist (vgl. Honneth 1994), dieser Gesellschaftstyp<br />

durch das erzwungene Abdanken sozialistischer Gesellschaftstypen quasi Monopolcharakter erhielt, auf der<br />

ideologisch<strong>philosophisch</strong>en Ebene ein - eben: postmodernes - kritisches Verhältnis zu den vermuteten geistigen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

der Moderne (Aufklärung, Fortschritt, Vernunft etc.) inzwischen nicht mehr bloß eine akademische Außenseiterrolle spielt,<br />

sondern geradezu main-stream-Position geworden ist: die bürgerliche Gesellschaft hält sich ihre Kritiker in einer solch<br />

überraschend bedeutenden <strong>und</strong> gehätschelten Art <strong>und</strong> Weise, daß man geradezu gezwungen ist, sich nach der Funktionalität


dieser "Kritik" zu fragen: Sei es, daß die bürgerliche Gesellschaft irre wird an ihrem Erfolg, sei es, daß ein neues Bewußtsein<br />

über ein gewachsenes destruktives Potential in dieser Gesellschaft entstanden ist, für dessen Steuerung nunmehr eine neue<br />

Orientierungsleistung gesucht wird.<br />

Modethemen sind in der heutigen Ästhetikdiskussion "Das Erhabene" (Preis 1989), oft verb<strong>und</strong>en mit einer Thematisierung<br />

einer neuen Naturästhetik (Böhme 1989,1992; Seel 1991), <strong>und</strong> dies wiederum oft verb<strong>und</strong>en mit einer Diskussion des Körpers<br />

(D. Kamper). Ästhetische Wahrnehmung, beziehungsweise Wahrnehmung insgesamt, wird unter der Perspektive der<br />

Entwicklung neuer elektronischer Medien verhandelt ("virtuelle Realitäten"; P. Virilio, Baudrillard). "Dekonstruktion" ist das<br />

Zauberwort, das J. Derrida eingebracht hat, hier mit dem gemeinsamen Anliegen <strong>von</strong> Lyotard, die großen Meta-Erzählungen<br />

der klassischen Philosophie radikal in Frage zu stellen. Es gibt bei den neuen Philosophen unterschiedliche Bezüge auf<br />

<strong>Kunst</strong>bereiche: Lyotard bezieht sich oft auf bildende <strong>Kunst</strong>, Baudrillard ist Medientheoretiker, Derrida ist u.a. Literaturtheoretiker.<br />

(Adorno war einer der wenigen Ästhetiker, die sich bei ihren Bemühungen um eine <strong>philosophisch</strong>e Ästhetik auf Musik bezogen.<br />

Theater <strong>und</strong> Tanz spielen als empirische Bezugsgrößen für die Ästhetik fast keine Rolle.)<br />

Ohne auch nur annähernd hier den Anspruch erheben zu wollen, dieses schillernde Phänomen der Postmoderne als<br />

<strong>Kunst</strong>theorie, Gesellschaftslehre, Zeitgeist- <strong>und</strong> Feuilletonerscheinung etc. beschreiben zu wollen, will ich einige<br />

Beobachtungen mitteilen. Die erste ist die bereits vermerkte Feststellung einer großen Komplexität <strong>und</strong> eines großen Reichtums<br />

an Überlegungen zu den unterschiedlichsten Fragen <strong>und</strong> Wissensgebieten. Dafür, daß ein wichtiges Anliegen darin besteht, die<br />

Unmöglichkeit globaler Systementwürfe zu zeigen, ist nicht bloß eine Fülle, sondern sogar eine Fülle <strong>von</strong> systematisch<br />

aufeinander bezogenen Theoriestücken in den letzten Jahren entstanden.<br />

Das "Universum postmodernen Wissens" erfaßt heute die Gesellschaftstheorie (Auflösung des sozialen Zusammenhangs,<br />

Desintegration, Individualisierung), die Subjekttheorie („Tod des wirklichkeitsmächtigen Subjekts"; Probleme, authentische<br />

Identitäten zu entwickeln; Verlust der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung; statt dessen Notwendigkeit <strong>und</strong> Möglichkeit<br />

ständiger (ästhetischer) exper<strong>im</strong>enteller Selbsterfindung; allerdings <strong>im</strong>mer wieder Gefahr der bloßen S<strong>im</strong>ulation <strong>von</strong> medial<br />

vermittelten Biographien); Politikwissenschaft (Kritik an Vorstellungen liberaler Demokratie; u.a. subjekttheoretisch mit der<br />

Hypostasierung <strong>von</strong> "Differenz" etwa des einzelnen gegenüber allen anderen begründet); dies wiederum eng verb<strong>und</strong>en mit der<br />

Infragestellung der Möglichkeit <strong>von</strong> Normbegründungen. Alles wird eingebettet <strong>von</strong> Universalannahmen über die Unmittelbarkeit<br />

ästhetischer Erfahrung in der - mehr oder weniger ausgeprägt - das Ästhetische als Alternative für das Rationale angeboten<br />

wird. Dabei erscheint es geradezu paradox, mit welch rationalem Begründungsaufwand - <strong>von</strong> Nietzsche über Heidegger bis zu<br />

dem späten Wittgenstein - diese Position der Zerstörung der Vernunft belegt wird (vgl. für eine kurze <strong>und</strong> prägnante kritische<br />

Darstellung Honneth 1994. S. 11 ff.) Es ist allerdings problematisch, ein in allen Facetten gültiges gemeinsames Etikett für die<br />

Philosophen zu finden, die man üblicherweise zu der Postmoderne zählt. K<strong>im</strong>merle (1992, S. 15 ff.) schlägt als<br />

Sammelbezeichnung "Philosophie der Differenz" vor. Politisch belegen die Denker das gesamte Spektrum <strong>von</strong> links nach<br />

rechts. Doch zurück zur Ästhetik.<br />

Zu dem Schlüsselkonzept be<strong>im</strong> Verständnis aktueller Ästhetikdiskussionen ist dabei die Entdeckung beziehungsweise der<br />

Umgang mit Kontingenz geworden. In einer "<strong>Kunst</strong>theorie", die - ebenso wie der vorliegende Text - in pragmatischer Absicht<br />

(dieses Mal: in der Absicht, eine kunsttheoretische Begründung <strong>von</strong> Kulturpolitik zu liefern) geschrieben wurde, hebt A. Göschel<br />

(1994, S. 75 ff.) den "Kontingenzverdacht" als zentrales Motiv für einen Umgang mit <strong>Kunst</strong> (<strong>und</strong> daher pragmatisch für eine<br />

politische <strong>und</strong> finanzielle Unterstützung eines entsprechenden <strong>Kunst</strong>betriebs) in den Vordergr<strong>und</strong>. In Anlehnung an N. Luhmann<br />

<strong>und</strong> R. Rorty (1989) besteht dieser Kontingenzverdacht in der Vermutung, daß <strong>im</strong> <strong>Kunst</strong>erleben ein Blick über die Grenzen der<br />

zweck-rational organisierten Gesellschaft, ein Blick jenseits der <strong>von</strong> Menschen gemachten Realität geworfen werden könnte.<br />

<strong>Kunst</strong> ist hier das ganz andere, das <strong>von</strong> menschlichem Herrschaftswillen Autonome, das gerade zum Zwecke dieser Funktion,<br />

Erhabenheit zumindest in diesem einen Moment - in früheren Zeiten war dies das, was man Kairos nannte -verspüren zu<br />

lassen, existiert. Nicht der Einzelne mit seinen Selbstverwirklichungs- <strong>und</strong> Authentizitätswünschen, sondern das Erleben des<br />

nur noch <strong>und</strong> ausschließlich Selbstreferentiellen der <strong>Kunst</strong> wird zum eigentlichen <strong>und</strong> ausschließlichen Zweck des<br />

<strong>Kunst</strong>erlebens.<br />

Diese Konzeption radikalisiert also den Gedanken der Autonomie <strong>und</strong> die Verweigerung eines gegenständlichen Bezugs bei<br />

Adorno. Selbst auf die Argumentationsfigur, daß bei Adorno durch die Selbstbezüglichkeit des autonomen <strong>Kunst</strong>werks - eben<br />

weil kontrafaktisch autonom, nicht zweckrational eingeb<strong>und</strong>en - hierdurch <strong>im</strong>manent Kritik an der Gesellschaft geübt wird, weil<br />

es dadurch <strong>im</strong>merhin noch zum Schein eines möglichen besseren Lebens wird: selbst hierauf wird in dieser Position verzichtet.<br />

Der <strong>von</strong> Adorno entwickelte Gedanke des Doppelcharakters <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong>werken, nämlich autonom <strong>und</strong> fait social zu sein, was<br />

eben auch ermöglichte, <strong>Kunst</strong> nicht als irgendwie <strong>im</strong>mer schon Vorhandenes zu verstehen, sondern als ein in konkreten<br />

gesellschaftlichen Situationen Entstandenes <strong>und</strong> in der ständigen Gefahr Schwebendes, der Kulturindustrie <strong>und</strong> dem<br />

Warenfetisch verfallen zu können: dieser Gedanke wird zugunsten einer hypostasierten Autonomie, die dadurch eine<br />

vollständige Beziehungslosigkeit wird, aufgegeben. Der hermetische Charakter <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong>, der die notwendige Distanz zum<br />

Bewußtwerden der gesellschaftlichen Lage, zur Entwicklung <strong>von</strong> Erkenntnis <strong>von</strong> Wahrheit - ein entscheidender Topos bei<br />

Adorno - herstellt, der aber durch "Vermittlung" überw<strong>und</strong>en werden kann, wird in dieser Konzeption nicht mehr möglich: die<br />

Kluft zu dem total abgeriegelten <strong>Kunst</strong>werk kann nur durch einen nicht weiter zu erklärenden Akt der Intuition, eines<br />

"fruchtbaren Augenblicks", übersprungen werden.<br />

Es ist gerade nicht ein nicht-auratischer Umgang in politisch-emanzipatorischer Absicht, wie ihn etwa Peter Weiß seine<br />

Personen in der "Ästhetik des Widerstandes" <strong>im</strong> Umgang mit dem Pergamonaltar als Akt der Aneignung erleben läßt. Es ist also<br />

gerade nicht das Bewußtwerden <strong>von</strong> Widersprüchen, sondern das Gefühl des Erhabenen über eine Kontemplation als<br />

interessenlose sinnliche Wahrnehmung, wie sie möglicherweise <strong>von</strong> Lyotard vertreten wird, demzufolge <strong>Kunst</strong> keinen<br />

Zeichencharakter hat, daher keine M<strong>im</strong>esis <strong>von</strong> irgendwas ist, keine Referenz zu Wirklichkeit oder Subjektivität hat, sondern<br />

kein anderes Ziel verfolgt, als dadurch sich selbst - eben autonom - also ausschließlich selbstreferentielles Ereignis zu sein.<br />

Eine solche "Kontingenzerfahrung" ist also die Erfahrung, daß es etwas gibt, das nicht vom Menschen gemacht wurde, das sich<br />

zumindest einer unmittelbaren Zwecksetzung entzieht.<br />

O. Marquard entwickelt zwei Kontingenzbegriffe, die auch in diesem Zusammenhang relevant sein könnten:<br />

1 . ein rein religiöser Kontingenzbegriff: Gott ist der Souverän, die Kreatur das Kontingente. Ohne Gott, so Marquard,<br />

entwickeln sich zwei weitere Kontingenzen:


2. Der Mensch verharrt in der Rolle der Kreatur, die Kontingenzen hinnehmen muß (Schicksalsschläge, unabänderliche<br />

Begebenheiten etc.), erlebt also Zufälle, die Notwendigkeiten sind.<br />

<strong>3.</strong> Der Mensch wird selbst zum Schöpfer, der auch anders handeln könnte: Kontingenz als Beliebigkeit.<br />

Auf eine zentrale Kontingenzerfahrung reagiert die Soziologie <strong>und</strong> die Gesellschaftskritik - wie oben gesehen - spätestens seit<br />

dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert: Es ist geradezu ein Spezifikum der bürgerlichen Gesellschaft, daß sich der Einzelne einer Weit <strong>von</strong><br />

Sachzwängen ausgeliefert sieht, auf die er keinen Einfluß zu haben scheint.<br />

Solche Kontingenzerfahrungen - man nennt sie traditionell "Entfremdung" oder mit dem späteren Marx das Reg<strong>im</strong>ent des<br />

Warenfetischs - sind nun meines Erachtens nicht auch noch durch <strong>Kunst</strong> zu erweitern. An diese erlebte Machtlosigkeit knüpfen<br />

vielmehr zahlreiche <strong>Kunst</strong>theorien <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong>werke an. Daher war eine zentrale Funktion <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> in zahlreichen vorgestellten<br />

Ästhetik- <strong>und</strong> <strong>Kunst</strong>konzeptionen: in <strong>Kunst</strong> einen „kontingenzüberwindenden, kontingenzverkraftenden Sinn" zu finden (so<br />

Koppe in Oelmüller 1981, S. 191).<br />

Es stellt sich also die Frage, die bereits oben gestellt wurde: wie wird die restliche Hälfte des „halbierten Adorno" gefüllt: <strong>Kunst</strong><br />

nicht als Vehikel, sondern als Austragungsort menschlicher Emanzipation einfach dadurch, daß sie Erfahrung einer<br />

nichtentfremdeten Existenz ermöglicht, die also ihr kritisches Potential nicht aus einem Gegenstandsbezug, der sie bloß<br />

Wirklichkeit verdoppeln ließe, sondern aus ihrer Autonomie gewinnt. Kein Entwurf einer "best<strong>im</strong>mten Negation" also, die über<br />

eine allgemeine Kritik hinausginge ("Mitten <strong>im</strong> falschen Leben", so Adorno, "kann es kein richtiges geben.") Von Adorno also die<br />

Erhabenheit, aber ohne dessen kritisches Potential. Möglicherweise füllt Heidegger diese Lücke, der das "interesselose<br />

Wohlgefallen“ unterstützt: "Um etwas schön zu finden, müssen wir das Begegnende selbst rein als es selbst, in seinem eigenen<br />

Rang <strong>und</strong> seiner Würde vor uns kommen lassen ... wir müssen das Begegnende als solches freigeben in dem, was es ist,<br />

müssen ihm das lassen <strong>und</strong> gönnen, was ihm selbst gehört <strong>und</strong> was es uns zubringt." (Heidegger, zitiert nach Eagleton 1994,<br />

S. 302). Doch der Preis für diese neue Füllung ist recht hoch, da diese mit der sehr voraussetzungsvollen Philosophie<br />

Heideggers bezahlt werden muß. Ideologisch konsequent wäre es jedoch, da Heidegger die übliche Währung ist, mit der die<br />

Postmoderne ihre Destruktion der klassischen Meta-Erzählungen bezahlt. Allerdings wäre dies eine Ergänzung Adornos, die<br />

dieser bei seinem jahrzehntelangen Kampf gegen den "Jargon der Eigentlichkeit" - <strong>und</strong> die dahinterstehende Ideologie - nicht<br />

sonderlich geschätzt hätte.<br />

Dieser Vergleich einer aktuellen kunsttheoretischen Konzeption mit alternativen Konzeptionen läßt nun die Frage aufkommen,<br />

welche Beweiskraft die jeweiligen Konzeptionen für sich beanspruchen können. Der Hinweis etwa darauf, daß bei A. Göschel<br />

eine D<strong>im</strong>ension <strong>von</strong> <strong>Kunst</strong> wegfällt, die bei anderen Autoren <strong>von</strong> Relevanz ist, kann nicht als Beweis pro oder contra gelten.<br />

Sicherlich ist man etwa der <strong>philosophisch</strong>en <strong>und</strong> wissenschaftlichen Tradition verpflichtet, so daß man es für<br />

begründungspflichtig erachtet, wenn der Bezug auf einen namentlich genannten Autor in dieser Weise nur halb erfolgt. Und<br />

diese <strong>philosophisch</strong>- wissenschaftliche Tradition ist sicherlich ein nicht unwesentlicher Weg des Belegs <strong>von</strong> Behauptungen <strong>und</strong><br />

Deutungen, da jeder diskutable Vorschlag für eine <strong>Kunst</strong>deutung zumindest auf einer umfangreichen individuellen <strong>und</strong> auch<br />

noch höchst reflektierten Empirie beruht. Problematisch wird diese Position jedoch dann, wenn man sich daran erinnert, daß auf<br />

der Basis der je individuellen Empirien doch recht unterschiedliche Sichtweisen entstanden sind. Mit dieser Frage der<br />

Begründung <strong>von</strong> Ansichten werden wir uns daher noch befassen müssen. Soviel sei jedoch an dieser Stelle nach diesem<br />

Steilkurs durch einige <strong>philosophisch</strong>-ästhetische Positionen festgehalten: die innere Schlüssigkeit <strong>und</strong> Kohärenz ist ein<br />

zentrales Begründungsargument <strong>von</strong> Positionen. Ebenfalls ist die Einordnung in die Denktradition nicht ohne Wert - auch eine<br />

kunsttheoretische Position fällt nicht unsozial <strong>und</strong> unhistorisch vom H<strong>im</strong>mel. Wichtig festzuhalten - neben der noch zu<br />

vertiefenden Kontroverse zwischen Adorno <strong>und</strong> Silbermann - ist ferner der Hinweis <strong>von</strong> P. Bürger auf die Veränderung<br />

gesellschaftlicher Rahmenbedingungen <strong>von</strong> Rezeption, die neben der Berücksichtigung des je einzelnen Kontaktes eines<br />

Individuums mit <strong>Kunst</strong> allgemeinere Rezeptionsformen <strong>und</strong> deren Entstehung in das Blickfeld rückt, in denen letztlich auch jede<br />

individuelle Rezeption geschieht. Neben kulturwirtschaftlichen Fragen (Rolle des Warentauschs) wird hier die<br />

kultursozioiogische, auf Wahrnehmungsweisen orientierte "Soziologie der symbolischen Forrnen" <strong>von</strong> Bourdieu eine wichtige<br />

Rolle spielen. Alle diese weiterführenden Fragen lassen es interessant erscheinen, nunmehr einen Blick sowohl auf<br />

kultursoziologische Untersuchungen als auch in kunstbereichsspezifische Soziologien zu werfen.

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