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4. Politologische und soziologische Befunde zur Wirkungsanalyse

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<strong>4.</strong> <strong>Politologische</strong> <strong>und</strong> <strong>soziologische</strong> Bef<strong>und</strong>e <strong>zur</strong> <strong>Wirkungsanalyse</strong><br />

Kunst <strong>und</strong> die Institution Kunst<br />

Fragt man danach, an welchem künstlerischen Bereich übergreifende philosophische Ästhetiken entwickelt oder zumindest<br />

exemplifiziert werden, so wird es - neben der dominanten Linie des Bezugs auf andere philosophische Autoren - vor allem die<br />

Literatur sein <strong>und</strong> in zweiter Linie erst die Bildende Kunst, die das "Ausgangsmaterial" für die Reflexionen liefert. Die<br />

marxistischen oder zumindest Marx-nahen Autoren wie G. Lukcas, L. Kofler, W. Benjamin, S. Krakauer, B. Brecht, L.<br />

Goldmann, L. Löwenthal <strong>und</strong> selbst der Theoretiker Th. W. Adorno sowie neuerdings P. Bürger haben einen literarischen<br />

Schwerpunkt <strong>und</strong> sind zum Teil selber anerkannte (literarische) Autoren.<br />

Die russischen <strong>und</strong> Prager Formalisten wie J. Mukarovsky <strong>und</strong> J. Lotmann sowie Vertreter der Semiotik (U. Eco) <strong>und</strong> der<br />

sprachanalytischen Schule (U. Eco, S. Schmidt) beziehen sich ebenso auf Literatur wie die sich auf Heidegger <strong>und</strong> Nietzsche<br />

berufenden französischen postmodernen Philosophen <strong>und</strong> ihre Dekonstruktivisten-Kollegen in Yale. Auch die<br />

phänomenologische Linie H.R. Jauß, R. Ingarden <strong>und</strong> W. Iser ist wesentlich ästhetische Literaturtheorie. Es mag für dieses<br />

Interesse an der Literatur mancherlei Gründe geben: Die Dominanz der Literatur bei der Artikulation des antifeudalen<br />

bürgerlichen Bewußtseins im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert als wichtige Traditionslinie, - das Interesse an einer anderen Gruppe der ebenfalls<br />

schreibenden Zunft <strong>und</strong> letztlich - wie im ersten Gr<strong>und</strong> bereits ausgesprochen - die Tatsache, daß sich Literatur sehr viel<br />

unmittelbarer mit Wirklichkeitstendenzen auseinandersetzt <strong>und</strong> daher sofort sehr viel "ideologischer“ ist als etwa Musik. Bei<br />

dieser reichhaltigen Traditionslinie muß es daher geradezu verw<strong>und</strong>ern, wenn in einer aktuellen "Literarischen Ästhetik" (Zima<br />

1991) der Autor beklagt, daß der philosophisch-ästhetische Hintergr<strong>und</strong> in der Literaturwissenschaft heute vernachlässigt, wenn<br />

nicht gar ausgeklammert wird. Angesichts dieser Situation muß daher die Literatur geradezu zu einem Streitfall über die Frage<br />

werden, inwieweit Ideologieträchtigkeit <strong>und</strong> Wahrheitsgehalt miteinander vereinbar sind.<br />

Möglich sind für unsere Zwecke daher neben einer chronologischen Ordnung der Positionen das Sortieren nach Kunstsparten<br />

oder nach philosophischen Traditionen, wobei die hegelianische Theorie-Tradition (Kunstwerkgedanke, Beharren auf der<br />

Möglichkeit einer begrifflichen Re-Interpretation der künstlerischen Aussage, der hervorgehobenen Rolle von Inhalt <strong>und</strong> Gehalt<br />

von Kunstwerken, historisch-ideologische Betrachtungsweise) von einer auf Kant <strong>zur</strong>ückgehenden Linie des unhistorischen, auf<br />

das Subjekt bezogenen "interesselosen Wohlgefallens", das sich vor allem auf die ästhetische Form bezieht, unterscheiden<br />

lassen. Diese zwei großen (idealistisch-rationalen) Denkschulen - freilich in allen möglichen Varianten, Ergänzungen,<br />

Abweichungen <strong>und</strong> Mischungen - werden schließlich recht bald durch eine dritte Schule ergänzt, in der der Konsens von Kant<br />

<strong>und</strong> Hegel in Sachen Vernunft aufgekündigt wird (beginnend bei Schelling, radikalisiert von Schopenhauer <strong>und</strong> vor allem von<br />

Nietzsche), die in ihrer vernunftkritischen beziehungsweise -feindlichen Ausrichtung in der bis heute einflußreichen<br />

Lebensphilosophie (W. Dilthey) auf ein im Wissenschaftsbetrieb (<strong>und</strong> in der Gesellschaft; Stichwort: Komplementarität von<br />

praktiziertem Positivismus in der Wirtschaft auf der einen Seite <strong>und</strong> der Lebensphilosophie für Gemüt <strong>und</strong> Kultur auf der<br />

anderen Seite) gut integrierbares F<strong>und</strong>ament gestellt wurde.<br />

Die Beschäftigung mit Literatur ist dabei in mehrfacher Hinsicht ein lohnenderes Geschäft als bei anderen Kunstsparten. Wie<br />

gesehen, fallen Tanz <strong>und</strong> Theater, <strong>zur</strong> Zeit aber auch Musik mehr oder weniger vollständig aus dem philosophisch-ästhetischen<br />

Diskurs. Aber auch im Vergleich mit bildender Kunst ist die Vorliebe für Literatur unverkennbar - einige Gründe sind oben<br />

benannt. Vor allem bei Reflexionen von bildenden Künstlern über ihr eigenes Tun spricht man eher abschätzig von<br />

"Künstlerästhetiken", "wobei diese wiederum aus dem Scheitern der herkömmlichen essentialistischen Kunsttheorien an der<br />

Expansion der Künste sowie an ihrer selbstreflexiven Begriffsarbeit" sich ergeben (Rötzer 1989, S. 161). Literaten wie zum<br />

Beispiel F. Schiller, B. Brecht oder T.S. Eliot billigt man hingegen eher philosophischen Rang zu.<br />

Auch die Natur des Kunstbetriebs Literatur macht diese für <strong>soziologische</strong> Betrachtungen interessant: zwar entwickelt sich<br />

bildende Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft auch im Rahmen des Warentausches (vgl. neben den genannten Klassikern im<br />

letzten Abschnitt vor allem die Arbeiten von Grasskamp), doch ist Literatur von Anfang an - anders als bildende Kunst - auf ein<br />

verzweigtes, kommerziell arbeitendes Produktions- <strong>und</strong> Vertriebsnetz angewiesen, so daß hier schon sehr früh Ästhetik <strong>und</strong><br />

Ökonomie aufeinander prallen (vgl. etwa den Briefwechsel zwischen Schiller <strong>und</strong> Goethe, in dem ökonomische Probleme der<br />

geplanten gemeinsamen literarischen Unternehmungen nahezu denselben Platz einnehmen wie ästhetische Fragen).<br />

Auch im Hinblick auf Wirkungen liefert Literatur reflektiertes Anschauungsmaterial. Zwar wurde immer wieder darauf<br />

hingewiesen, wie sehr sich die Geschichte der bildenden Kunst als Geschichte der durch einzelne Künstler <strong>und</strong> Kunstwerke<br />

bewirkten Veränderung von Sehgewohnheiten schreiben läßt (oft besprochene Beispiele im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert sind Courbet oder<br />

„Der Mönch" von Caspar David Friedrich) - so sehr übrigens, daß sich auch durch den Vermarktungszwang mit seinem<br />

dazugehörigen Innovationsdruck Kunst nur noch als das gänzlich Neue definierte, wobei bei jeder Neuerung die gerade aktuelle<br />

Richtung durch Inflationierung des Innovationsgeschehens sich selbst entwertete. Die interessierte Öffentlichkeit stumpfte ab,<br />

ließ sich kaum noch schockieren. Wirkungsmächtiger als die durch bildende Kunst bewirkte Wahrnehmungsveränderung – nach<br />

wie vor allerdings eine wichtige gesellschaftliche <strong>und</strong> individuelle Wirkung <strong>und</strong> Funktion (bildender) Kunst - waren oft geradezu<br />

zu Moden gewordene literarische Leitbilder, die in dieser Hinsicht bessere Ausgangsbedingungen hatten, weil sie sofort in<br />

großer Zahl auf den Markt kamen, während in anderen Kunstsparten die massenhafte Verbreitung aufgr<strong>und</strong> der noch nicht<br />

möglichen "technischen Reproduzierbarkeit" (etwa der Musik oder der Bildwerke, von Skulpturen ganz zu schweigen) erst<br />

später einsetzte. Unter Wirkungsgesichtspunkten waren der junge Werther, Wilhelm Meister, Karl Mohr ebenso wie die Figuren<br />

des "Frühlingserwachens", der tragische Held von "Unterm Rad" oder der "Steppenwolf" ebenso Ausdruck zeitgeistiger<br />

Strömungen wie Identifikationsobjekte für ganze Generationen Heranwachsender. Diese Beispiele zeigen im übrigen auch, daß<br />

"Wirkungen" zwar empirisch festgestellt werden können, ohne in das Konzept ordentlicher empirischer Sozialforschung<br />

gezwängt werden zu müssen. Aktuelle Beispiele politischer Wirkung lieferte der Dramatiker Hochhuth, der gleich mehrere<br />

gesellschaftliche Instanzen - vom Papst bis zu Filbinger <strong>und</strong> Strauß - im öffentlichen Bewußtsein ins Wanken brachte.<br />

Beaudelaire <strong>und</strong> Flaubert müssen sich gar bereits vor dem Einstellen "negativer Wirkungen" wegen der erwarteten negativen<br />

moralischen Wirkungen ihrer Werke vor Gericht verantworten. Die Wirkungsgeschichte der Literatur - erstmals Schwerpunkt der<br />

Diskussion im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert - läßt sich, wie an diesen letzten Beispielen gezeigt werden kann, dann allerdings nur noch<br />

gemeinsam mit den (oftmals nur vermuteten) Wirkungsmechanismen der öffentlichen <strong>und</strong> neuerdings der elektronischen<br />

Medien diskutieren, wobei der politische Charakter dieser Wirkungsdiskussionen ganz offen zutage tritt. Auf diesen nicht nur<br />

gesellschaftlichen, sondern explizit politischen Charakter von Wirkungs- <strong>und</strong> Funktionsbehauptungen sind wir bereits im Kontext<br />

der Diskussion über die "Kulturindustrie" gestoßen. Hilfreich beim Verständnis dieser Dimension ist dabei die - ebenfalls bereits


erwähnte - Differenzierung der jeweiligen Künste in die unmittelbaren Praxen <strong>und</strong> die davon unterscheidbaren "Institutionen"<br />

Kunst, Literatur etc., die P. Bürger vorgeschlagen hat:<br />

„Unter der Institution Kunst/Literatur sollen die in einer Gesellschaft (beziehungsweise in einzelnen KlassenISchichten)<br />

geltenden Funktionsbestimmungen von Kunst in ihrer sozialen Bedingtheit verstanden werden. Dabei wird angenommen, daß<br />

diese Funktionsbestimmungen an materiellen <strong>und</strong> ideellen Bedürfnissen der Träger festgemacht sind <strong>und</strong> in einem bestimmten<br />

Verhältnis zu den materiellen Bedingungen der Kunstproduktion <strong>und</strong> -rezeption stehen. Die Ausdifferenzierung der<br />

Funktionsbestimmungen erfolgt, vermittelt über ästhetische Normen, auf der Produzentenseite durch das künstlerische Material<br />

auf der Rezipientenseite durch die Festlegung von Rezeptionshaltungen“ (Bürger 1973, S. 12).<br />

Und an anderer Stelle am Beispiel der "Institution Literatur": Diese erfaßt nicht alle literarischen Praxen einer Epoche, sondern<br />

nur die Praxen mit den folgenden Merkmalen:<br />

- Übernahme bestimmter Funktionen für das Gesellschaftssystem als Ganzes.<br />

- Ausdehnung eines ästhetischen Kodex.<br />

- Zugleich ist dies die Legitimation <strong>zur</strong> Ausgrenzung anderer literarischer Praxen.<br />

- Anspruch auf unbegrenzte Geltung. (Bürger 1983, S. 13.)<br />

Trotz vielfacher Wechselwirkungen zwischen Kunst <strong>und</strong> der Institution Kunst scheint mir diese Differenzierung nützlich, weil ein<br />

wesentlicher Teil der gesellschaftlichen Funktionen von Kunst sich in der "Institution Kunst" eine gewisse Dauerhaftigkeit <strong>und</strong><br />

Resistenz gegen Angriffe verleiht.<br />

Entscheidend für die Entstehung einer "Institution Kunst“ (Kunst hier als Sammelbegriff für die verschiedenen Künste) war das<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert: “Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hat die ästhetische Kultur, die Kunst, eine neue Funktion gewonnen. Sie nimmt, bis dahin<br />

unerhört, einen zentralen Platz im bürgerlichen Leben, ja in der Lebensbilanz ein. Die Welt der Kunst hat ihr eigenes Recht, ihr<br />

eigenes Gewicht. Und sie orientiert zugleich über die Wirklichkeit <strong>und</strong> das Leben, verklärend <strong>und</strong> versöhnend oder analysierend<br />

<strong>und</strong> aufdeckend, präsentierend <strong>und</strong> diskutierend. Sie stiftet Sinn oder legt ihn dar, sie nimmt teil an dem neu in Gang gesetzten<br />

Prozeß der Auseinandersetzung von Individuum <strong>und</strong> Welt.<br />

„Daß der Kunst eine solche neue Funktion zuwächst, hängt damit zusammen, daß ihre Trägerschicht sich ändert. Wir nennen<br />

das die „Verbürgerlichung“ der ästhetischen Kultur, wie sie zuerst im Bereich der schönen Literatur im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert einsetzt“.<br />

Und weiter:<br />

"Die Kunst löst sich aus ihrer Einbindung in Hof, ständische Welt <strong>und</strong> Kirche, in repräsentative <strong>und</strong> liturgische Funktionen <strong>und</strong><br />

Traditionen, wie aus ihrer Rolle, schmückendes <strong>und</strong> unterhaltendes Beiwerk höfisch-ständischer Geselligkeit zu sein. Sie wird<br />

einer... bürgerlichen Öffentlichkeit zugänglich, sie wird Sache der bürgerlich-gebildeten Weit, ja der Allgemeinheit. In neu<br />

entstehenden oder „verbürgerlichten“ Institutionen <strong>und</strong> neuen Verhaltensformen entfaltet <strong>und</strong> intensiviert sich die Kultur. Es<br />

entsteht das spezifische Kunst-, Musik- <strong>und</strong> Literatur „leben“, der Kunst-, Musik- <strong>und</strong> Literatur „betrieb“ (Nipperdey 1983, S.<br />

533)".<br />

Der Historiker Thomas Nipperdey zeichnet diese Entwicklungsgeschichte der verschiedenen Kunstbetriebe nach. Er zeigt, wie<br />

ein Kunstmarkt entsteht, sich das Künstlerbild <strong>und</strong>, damit verb<strong>und</strong>en, auch der Kunstbegriff ändert (von dem Handwerker zu<br />

dem Gebildeten, der sein Tun reflektiert), wie sich dies auch in den ästhetischen Normen zeigt (Originalität <strong>und</strong> Individualität)<br />

<strong>und</strong> dies - auch <strong>und</strong> gerade in seiner "Autonomie" - gesamtgesellschaftlich eingeb<strong>und</strong>en ist in die politischen <strong>und</strong> sozialen<br />

Veränderungen.<br />

Dieser Umwandlungsprozeß von einer ständisch gegliederten höfischen in eine moderne, pluralistische bürgerliche Gesellschaft<br />

hat vielfältige Auswirkungen auf die Psyche der Menschen, die in den Künsten reflektiert werden.<br />

Thomas Nipperdey beschreibt <strong>und</strong> reflektiert diesen komplexen Prozeß Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts so sensibel <strong>und</strong><br />

kenntnisreich, daß seine Darstellung, die sehr viel über gesellschaftliche Wirkungen <strong>und</strong> Funktionen einer (gerade auch sich als<br />

autonom verstehenden) Kunst aussagt, in einem längeren Zitat vorgestellt werden soll:<br />

„Geht man von der Literatur, den Erfahrungen <strong>und</strong> Deutungen der Dichter <strong>und</strong> Schriftsteller aus, so verschärft sich, das ist eine<br />

erste Beobachtung, in unserem Zeitraum seit 1875 das Lebensproblem der modernen Subjektivität. Der Ausgleich von Ich <strong>und</strong><br />

Welt, Ideal <strong>und</strong> Wirklichkeit, die Entfaltung des Menschen <strong>zur</strong> Persönlichkeit im Prozeß der Bildung, die alle Widersprüche<br />

überglänzende Weltfrömmigkeit <strong>und</strong> die Funktion der Kunst in solcher Meisterung von Leben <strong>und</strong> Welt - diese klassische<br />

Lösung löst sich auf. Und der romantische Versuch, die Welt der Poesie neben <strong>und</strong> gegen die Welt der Prosa zu stellen, das<br />

Leben zu poetisieren, befriedigt <strong>und</strong> gelingt ebensowenig. Das Gleichgewicht zwischen Ich <strong>und</strong> Weit wird schwieriger. Die<br />

Subjektivität des Menschen wird komplexer, sensibler, gespaltener, die Reflexion nimmt zu, die Gefühle werden ambivalenter<br />

<strong>und</strong> wechselnder, das Handeln gebrochener, das Ich widersprüchlicher <strong>und</strong> zerrissener, die Identität schwieriger, bedrohter,<br />

instabiler; der Mensch hat es schwer, mit sich übereinzukommen. Die Objektivität der Weit wird fester, <strong>und</strong>urchdringlicher <strong>und</strong><br />

dunkler. Die moderne Welt der Wirtschaft, der Bürokratie, der Arbeitsteilung, der kollektiven Zwänge <strong>und</strong> der Anonymität, der<br />

Leistung, der Konkurrenz <strong>und</strong> der Mobilität wird als kälter, prosaischer, fremder erfahren, unwirtlich, weniger heimatlich,<br />

entfremdet. Die Totalität <strong>und</strong> Stimmigkeit der Weit wird unerfahrbar; ja kaum noch vorstellbar, die Welt wird widersprüchlich <strong>und</strong><br />

fragmentarisch, ihre Einheit <strong>und</strong> Ordnung ungewiß. Die Traditionen, die Verhalten prägten <strong>und</strong> im Konflikt von Ich <strong>und</strong> Welt<br />

doch Gewißheiten bereitstellten, werden wie die Bindungen <strong>und</strong> Ordnungen der Welt fragwürdig <strong>und</strong> brüchig; man kehrt sich<br />

gegen sie <strong>und</strong> leidet zugleich an ihrer Auflösung. Die Religion verliert an Selbstverständlichkeit, aber auch die säkulare Religion<br />

der Klassik, die Religion des Ethos oder des Kosmos, der Glaube an Gott, Freiheit <strong>und</strong> Unsterblichkeit verliert seine Kraft; der<br />

Himmel über dem Leben, in welcher Deutung immer, wird zusehends unerkennbarer <strong>und</strong> verhängter, das Gefühl der<br />

Diesseitigkeit nimmt zu, aber die innerweltlichen Ideale - Liebe, Arbeit, Fortschritt, politische <strong>und</strong> soziale, humane Emanzipation<br />

- relativieren sich wie die absoluten Normen. Die Freiheit des Menschen gerät vor der Erfahrung der Determination durch Natur,<br />

Zeit, Gesellschaft, des Zufalls <strong>und</strong> des unergründlichen - nicht von Gott gehaltenen - Schicksals in Zweifel. Das Individuum<br />

erfährt sich als isoliert, den Prozessen der Gesellschaft, der entstehenden öffentlichen Praxis gegenüber, es ist zunächst einmal<br />

„privat" - das Private <strong>und</strong> das Öffentliche werden als getrennt, als entzweit erfahren. Das ist nicht, wie oft behauptet, eine Folge<br />

der spezifisch deutschen Zustände, sondern ein Strukturmerkmal. In der Moderne ist das Öffentliche unanschaulich <strong>und</strong><br />

anonym, es ist prosaisch. Darum wird das Private - Schicksal, Leben, Gefühl - jetzt zum eigentlichen Gegenstand der Poesie.<br />

Die Seele des Menschen, so scheint es, ist aus der wirklichen Weit ausgetrieben, die echten Gefühle scheitern, die humane<br />

Vermittlung von Seele <strong>und</strong> alltäglicher Praxis von Arbeit <strong>und</strong> Gesellschaft wird immer schwieriger. Der Lebenssinn wird,


charakteristisch für die Moderne, zum Problem, weil die Antworten der Religion, der Tradition (Lebenssicherung <strong>und</strong><br />

Pflichterfüllung) <strong>und</strong> der politisch-sozialen Zukunftsentwürfe nicht genügen: die Frage wird dringlich, die Antworten werden<br />

relativ. Kurz, die Dissonanz zwischen empfindsamem <strong>und</strong> reflektierendem Ich <strong>und</strong> seinen Ansprüchen einerseits, der<br />

gesellschaftlichen Wirklichkeit andererseits wie die Identitäts- <strong>und</strong> Sinnprobleme dieses Ich selbst werden eine typisch moderne<br />

Erfahrung, die sich gerade in der Literatur ausspricht, sie ist nicht auf Deutschland beschränkt, denn sie ist europäisch, man<br />

kann sie nicht auf den bösen Kapitalismus <strong>zur</strong>ückführen, denn sie tritt lange vor diesem auf.<br />

Daß diese Erfahrung zu einem Gr<strong>und</strong>problem der Literatur wird, hängt damit zusammen, daß die Kunst in diesem Weitzustand<br />

problematisch wird. Die Wissenschaft beansprucht, die moderne gesellschaftliche Wirklichkeit zu erkennen, die Politik <strong>und</strong> die<br />

Ökonomie <strong>und</strong> Technik, sie zu gestalten. Vor solch konkurrierenden "Wahrheitsansprüchen“ wird Sache der Kunst eben das<br />

Individuelle <strong>und</strong> Private, <strong>und</strong> auch da können Wahrheitsanspruch <strong>und</strong> ästhetische Forderung auseinandertreten.<br />

Von daher läßt sich ein Stück des frappierenden Widerspruchs verstehen, der zwischen den literarisch laut werdenden<br />

Existenzerfahrungen <strong>und</strong> denen der Wissenschaft <strong>und</strong> der Politik wie des Alltags besteht, die doch vom Glauben an<br />

nachidealistische Humanität, an Fortschritt, Nation <strong>und</strong> Verfassung, Arbeit <strong>und</strong> Familie, kurz: an die Götter der Zeit geleitet<br />

sind'. (Nipperdey 1983, S. 574 f.). Es scheint, daß inzwischen auch diese von dem Leiden an der Moderne erfaßt worden sind.<br />

Kunst <strong>und</strong> die Kultur(waren)industrie<br />

Zwei (gesellschaftskritische) Diskussionsansätze diskutieren W. Grasskamp (am Beispiel der bildenden Kunst) <strong>und</strong> Lutz<br />

Winckler (am Beispiel der Literatur). Grasskamp (1989, S. 137 ff). zeigt, wie in der jungen B<strong>und</strong>esrepublik gerade die auch<br />

international überraschend gute Förderung moderner Kunst <strong>und</strong> speziell der Avantgarde auch auf das schlechte Gewissen<br />

wegen der Nazi-Verfolgung ("entartete Kunst") <strong>zur</strong>ückzuführen war <strong>und</strong> der Außendarstellung <strong>und</strong> Imagebildung des Landes<br />

diente, wenn etwa der im Inland äußerst umstrittene Joseph Beuys als offizieller Repräsentant der B<strong>und</strong>esrepublik bei<br />

internationalen Ausstellungen auftrat <strong>und</strong> dort als Beleg für Liberalität <strong>und</strong> Toleranz der neuen Republik wahrgenommen wurde.<br />

Eine Kulturpolitik der Förderung moderner Kunst diente also einem politischen Modernitätsnachweis zu einer Zeit, als die<br />

Republik diesen in anderen gesellschaftlichen Bereichen (etwa der Bildungspolitik) noch schuldig blieb. Die documenta 1955<br />

interpretiert Grasskamp daher konsequent als internationalen Beweis dafür, daß der von den Nazis verursachte strukturelle<br />

Rückstand inzwischen nachgeholt wurde.<br />

In traditionell kritisch-theoretischer Weise diskutiert Winckler (1973, v.a. S. 116 f.) Wirkungen <strong>und</strong> Funktionen der<br />

Kulturindustrie:<br />

1 . Kulturwarenproduktion dient unmittelbar der Verwertung des in diesem Bereich angelegten Kapitals.<br />

2. Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals durch R<strong>und</strong>funk <strong>und</strong> Fernsehen.<br />

3. Leistungssteigerung <strong>und</strong> Desintegration in Betrieben durch offizielle Betriebszeitungen, Design am Arbeitsplatz <strong>und</strong> an<br />

Arbeitskleidung.<br />

<strong>4.</strong> Kulturwarenproduktion in Form von Reklame <strong>und</strong> ästhetisch vermittelten Werbetechniken dient der Beschleunigung von<br />

Zirkulationszeit.<br />

5. TV-Medien (Quiz etc.) erhöhen das verwertbare Wissen.<br />

6. Dabei entsteht ein Widerspruch zwischen der Weckung von Konsumbedarf <strong>und</strong> der Begrenztheit der Mittel.<br />

Auf ähnlicher theoretischer Gr<strong>und</strong>lage diskutieren Silke Wenk die Rolle von "Kunst im Betrieb“ <strong>und</strong> Peter Ulrich Hein (1982) die<br />

Rolle des "Künstlers als Sozialtherapeut", als Träger vor "Kunst als ideeller Dienstleistung in der entwickelten<br />

Industriegesellschaft" (so der Untertitel) die Kunst in ihrer Funktion <strong>zur</strong> Erhaltung der Loyalität <strong>und</strong>/oder der (sozialpolitischen<br />

Aufgabe der) Erhaltung des gesellschaftlichen Friedens betrachten. Diese Wirkungen ergeben sind dabei alleine aus der Art der<br />

gesellschaftlichen Organisation der Veranstaltung Kunst <strong>und</strong> der Art der Förderung ihrer Träger, der Künstler zum Teil in<br />

diametralem Gegensatz zu dem Bewußtsein der Künstler, die sich mehrheitlich gegen eine derartige soziale Indienstnahme <strong>und</strong><br />

Funktionalisierung wehren, wie entsprechende Befragungen zeigen (z.B. Künstler-Enquete; vgl. Fohrbeck/Wiesand 1975).<br />

Im Hinblick auf unsere Fragestellung liefert uns diese Diskussion die Sensibilisierung darauf, daß subjektive Absichten von<br />

objektiven, sich unter Umständen hinter dem Rücken der Beteiligten einstellende Wirkungen unterschieden werden müssen.<br />

Dieser sich aus dem Warencharakter von Kunst ergebende Mechanismus - bleibt man einmal in dieser<br />

gesellschaftstheoretischen Logik - ist nun einerseits total, weil eben die Warenförmigkeit in der Gesellschaft total ist. Er bedeutet<br />

jedoch keineswegs Ausweglosigkeit, da es - ebenfalls der gesellschaftlichen Ordnung immanent - keine Einheitlichkeit <strong>und</strong><br />

Einförmigkeit von Funktionen gibt. So zeigt etwa Heydorn in Bezug auf das in Grenzen mit dem Kunstbetrieb vergleichbare<br />

Bildungswesen den "Widerspruch zwischen Bildung <strong>und</strong> Herrschaft", der darin besteht, daß <strong>zur</strong> Aufrechterhaltung des Betriebes<br />

intellektuelle Leistungen benötigt werden, die aus politisch-ideologischen Gründen der Herrschaftssicherung unerwünscht sind.<br />

Trotz dieses Hoffnungsschimmers bleibt jedoch die Warenförmigkeit der Kunst dieser nicht bloß äußerlich wie insbesondere H.<br />

H. Holz (1972) gezeigt hat (vgl. auch Grasskamp 1989 <strong>und</strong> 1992 oder Weber 1981).<br />

Nicht die Wirkung von <strong>und</strong> auf Kunst im engeren Sinne, sondern die Wirkung von <strong>und</strong> auf Ästhetik in der doppelten Bedeutung<br />

des schönen Scheins der (Waren)-Welt <strong>und</strong> des Zustandes der von dieser anvisierten Sinnlichkeit diskutiert die Konzeption der<br />

Warenästhetik von W.F. Haug, wobei die im Nachwort <strong>zur</strong> achten Auflage formulierte Selbstkritik gegen einen zu starken<br />

ökonomischen Determinismus der ersten Fassungen den "Alptraum einer fatalen, nur noch warentausch-logisch bewirkten<br />

Handlungsunfähigkeit nimmt" (Haug 1983, S. 185 ff.). Haug hat konsequent seine anfangs ökonomisch geprägten<br />

Untersuchungen fortgeführt mit den - die relative Autonomie des Überbaus respektierenden - Untersuchungen <strong>zur</strong><br />

(gesellschaftlichen) Ideologie <strong>und</strong> diese für einzelne historische Etappen (Faschismus) konkretisiert. Dies ist insofern relevant<br />

auch für die Frage der Wirkungen, als hier die in bürgerlichen Gesellschaften ohnehin vorhandene (warenförmig organisierte)<br />

Bewußtseinsindustrie noch zusätzlich mit Staatsorganen verwoben, wenn nicht gar selbst Staatsorgan ist, so daß die<br />

Voraussetzungen für eine Beeinflussung der "gesellschaftlichen Psychologie" günstig wären. Ohne die Wirkungsmächtigkeit<br />

gerade der ästhetisch inszenierten Öffentlichkeit (L. Rieffenstahl; auch Reden von J. Göbbels; A. Breker) geringschätzen zu<br />

wollen, muß jedoch auch hier festgestellt werden, daß der von Haug erwähnte "Alptraum" einer ökonomisch, politisch <strong>und</strong><br />

organisatorisch gleichgeschalteten Beeinflussungsindustrie nicht funktioniert (vgl. die Texte des Projektes Ideologie-Theorie,<br />

v.a. Haug 1979). Diese <strong>Wirkungsanalyse</strong>n gehen über - wie auch an anderen Stellen der Untersuchung ästhetischer Wirkungen


- sowohl in die Soziologie der Massenkommunikation (etwa heute im Hinblick auf die Wirkungen eines nur noch<br />

privatwirtschaftlich organisierten Medienbetriebs) als auch in die Wissenssoziologie. Eine Sonderrolle spielt dabei aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

Position zwischen "Kunst" <strong>und</strong> Massenvergnügen zum Beispiel im Bereich der Literatur die "Trivialliteratur", ein immer noch<br />

recht geheimnisvoller Forschungsbereich (vgl. etwa Schutte 1983, Fischer u.a. 1976 sowie umfassender den Beitrag von W.<br />

Faulstich in Wischer 1988, Bd. 6, S. 507 ff.).<br />

Eine weitere empirisch gesättigte Hoffnung in die Möglichkeit von Autonomie sind die ehemaligen sozialistischen Länder, bei<br />

denen es auch eine etablierte <strong>und</strong> in Schule, Freizeit <strong>und</strong> Arbeitsplatz straff organisierte Ideologie-Produktion nicht geschafft<br />

hat, gegen die Wirklichkeit einer schlechten Empirie, die die Gr<strong>und</strong>bedürfnisse der Menschen vernachlässigte, anzugehen. Der<br />

systematische Platz der hier behandelten Fragen in der ausformulierten Weltanschauung war der "historische Materialismus"<br />

(vgl. etwa Eichhorn von 1977, Kap. XIII ff. oder Müller/Uhlig 1980, <strong>zur</strong> Literatur aus einer Fülle von Schriften etwa Schlenstedt<br />

1975). Immerhin wehrte man sich in der DDR zunehmend gegen allzu lineare Wirkungsvorstellungen von <strong>und</strong><br />

Funktionalisierungsforderungen an Kunst <strong>und</strong> hat in der philosophischen Ästhetik Konzeptionen sowohl <strong>zur</strong> Alltagsästhetik<br />

(Pracht 1978) als auch <strong>zur</strong> Ästhetik der Kunst (Pracht 1987) entwickelt, die eine Gratwanderung zwischen der Notwendigkeit<br />

relativer Autonomie <strong>und</strong> einem staatstragenden Gesellschaftsbezug in intensiver Auseinandersetzung mit westlichen Positionen<br />

(als Teil des "ideologischen Klassenkampfes") versuchen. Wie schwierig dieses Unterfangen in der praktischen Umsetzung<br />

sowohl für Künstlerverbände als auch für einzelne Künstler war, zeigt sich exemplarisch an Chr. Wolf.<br />

Mit diesen beiden Schwerpunkten: Wechselwirkungen der Gesellschaft mit Kunst auf der einen Seite <strong>und</strong> mit Ästhetik allgemein<br />

auf der anderen Seite wurde die oben erwähnte, u.a. von Paetzold (1990) formulierte doppelte Begründungsaufgabe von<br />

Ästhetik, ihr Kunstbezug <strong>und</strong> die Konstituierung von allgemeiner ästhetischer Erfahrung unter der hier behandelten spezifischen<br />

Perspektive eingeholt (dies gilt auch für die beiden Bücher Pracht 1979 <strong>und</strong> 1987).<br />

Beispiel Literatursoziologie<br />

Gehen wir nun über zu einer eher fach<strong>soziologische</strong>n Sichtweise von Kunst, so ist der Überblick von Link/Link-Heer 1980 über<br />

die Aufgabenstellung einer literatur<strong>soziologische</strong>n Betrachtungsweise - auch als Ergänzung des oben am Beispiel des Theaters<br />

vorgestellten Aufgabenkatalogs aus der Sicht einer empirischen Kunstsoziologie von A. Silberrnann (S. 5 ff.) - hilfreich:<br />

A. Literatur<strong>soziologische</strong> Analyse von Produktion, Distribution <strong>und</strong> Rezeption<br />

I. Ökonomischer Aspekt;<br />

II Autorenintentions-Analyse:<br />

a) Bestimmung des (objektiven) sozialen Auftrags des Textes durch Analyse der ideologischen Rahmenbedingungen;<br />

Bestimmung des sozialhistorischen Blockprojekts vor dem Hintergr<strong>und</strong> der realen Alternativen sozialhistorischer Blöcke;<br />

b) Klassenanalyse des Autors unter besonderer Berücksichtigung der Zugehörigkeit zu Intelligenzschichten, gegebenenfalls<br />

kulturellen Bewegungen, literarischen Strömungen beziehungsweise Gruppen;<br />

c) gegebenenfalls Analyse kultureller Brüche zwischen dem Autor <strong>und</strong> anderen literarischen Strömungen.<br />

III. Publiken-Analyse (<strong>soziologische</strong> Analyse der für die Rezeption des Werks wichtigsten Publiken):<br />

a) Bestimmung der sozialhistorischen Blöcke, denen die Publiken zuzuordnen sind (dabei auch Berücksichtigung von<br />

Negativ-Publiken, das heißt Publiken, die sich diskultural zum Text verhielten);<br />

b) gegebenenfalls Bestimmung kultureller Bewegungen, die gleichzeitig Publikum waren;<br />

c) Analyse der ästhetischen <strong>und</strong> ideologischen Bedürfnisse, die das Werk für bestimmte Publiken befriedigte;<br />

d) besondere Analyse der Typen elementarer Soziokultur, auf die der Text funktional bezogen wurde;<br />

e) konkrete Analyse der pragmatischen Applikationen des Textes in verschiedenen Publiken;<br />

f) konkrete Analyse der Institutionen, durch die <strong>und</strong> in denen der Text wirkte;<br />

g) Analyse auffälliger Erscheinungen von Diskulturalität (plötzliches "Vergessen“ u.ä.) <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ärer Konkulturalität sowie<br />

Klassizität;<br />

h) Untersuchung des Verhältnisses zwischen Autorenintention (sozialem Auftrag) <strong>und</strong> tatsächlichem Publikumsverhalten.<br />

B. Literatur<strong>soziologische</strong> Analyse der Textstruktur<br />

I. Beschreibungen der Strukturkomponenten, die sich direkt auf sozialhistorische Blöcke beziehungsweise andere<br />

soziale Träger beziehen lassen:<br />

a) Beschreibung entsprechender thematischer beziehungsweise thematisch-struktureller Textkomponenten (z. B.<br />

Thematisierung von Klassenkonflikten u.ä.);<br />

II. Beschreibung der Strukturkomponenten, die funktional auf die Stabilisierung (bzw. Destabilisierung) eines<br />

formierend-historischen Blocks zu beziehen sind;<br />

III. Analyse von Diskursform <strong>und</strong> Genre<br />

a) unter dem Aspekt der ideologischen Rahmenbedingungen;


) unter dem Aspekt ästhetisch-ideologischer Komponenten;<br />

c) unter dem Aspekt der kulturellen Distinktionsfunktion.<br />

IV. Analyse der literarischen Verfahren<br />

a) unter dem Aspekt der ideologischen Rahmenbedingungen;<br />

b) unter dem Aspekt ästhetisch-ideologischer Komponenten;<br />

c) unter dem Aspekt der kulturellen Distinktionsfunktion.<br />

V. Weitere Bemerkungen <strong>zur</strong> ästhetischen Struktur unter literatur<strong>soziologische</strong>n Gesichtspunkten (Übergang <strong>zur</strong><br />

ästhetischen Analyse im engeren Sinn)<br />

a) Beschreibung von Innovationen (z.B. Verfahren) unter dem Aspekt ästhetischer Produktivkräfte;<br />

b) Analyse auffälliger ästhetischer Disparitäten unter dem Aspekt ideologischer <strong>und</strong> ästhetisch- ideologischer Widersprüche“<br />

(Link/Link-Heer 1980, S. 129 f.)<br />

Gerade im Hinblick auf die hier angesprochenen Funktionen schreibt Silbermann: „Der einfachste Weg, funktionale<br />

Literaturanalyse zu betreiben, ist es, falls solche existieren, von verstorbenen Autoren Aussagen <strong>und</strong> Dokumente<br />

zusammenzustellen <strong>und</strong> daraus zu entnehmen, welche Funktionen sie mit ihren Schriften zu erfüllen gedachten: wollen sie<br />

erziehen, unterhalten, erschrecken, die Welt verbessern, <strong>zur</strong> Revolution aufrufen, enthüllen, animieren, sich oder andere<br />

darstellen oder kasteien usw., kurz, diese oder jene Gefühle erwecken <strong>und</strong>/oder Ideen verbreiten?“ (Silbermann 1979, S. 219).<br />

Und weiter:<br />

„Ein zweiter Weg, um aus dem Inhalt eines Werkes ... Funktionales zu reduzieren, geht so vor, daß er das literarische Werk auf<br />

spezifische Themen hin analysiert.“ (Ebd. S. 222).<br />

Ein dritter Weg geht „über einen spezifischen Themenaspekt hinaus ..., um sich anhand dieses Aspektes der Erkenntnis<br />

gr<strong>und</strong>legender kultureller Werte, sozialer Bewegungen, Weltanschauungen, kurz gesagt kohärenter Ausdrucksweisen des<br />

Kollektivbewußtseins einer speziellen Gesellschaft oder sozialen Gruppe zu widmen. Dabei ... steht es dem Schriftsteller zu,<br />

den emotionalen Erfahrungen des Individuums anläßlich <strong>und</strong> im Rahmen solcher (sozialer, religiöser, kultureller oder<br />

ideologisch – weltanschaulicher, M.F.) Bewegungen Ausdruck zu verleihen." (Ebd.)<br />

Auf Silbermanns Skepsis gegenüber einer kritischen oder auch nur mühsam sozial etikettierten, letztlich aber literatur-immanent<br />

bleibenden "Literatursoziologie" (ebd., S. 223 ff.) sei hier nur hingewiesen. (Unter diese Skepsis fallen auch die oben<br />

vorgestellten warenanalytischen Ansätze.)<br />

Ein weiterer wichtiger Problemkomplex einer (empirischen) Literatursoziologie ist die Autoren- <strong>und</strong> Leseranalyse mit den<br />

folgenden Einzelaufgaben:<br />

1. Die Stellung des Schriftstellers <strong>zur</strong> <strong>und</strong> in der Gesellschaft.<br />

2. <strong>Wirkungsanalyse</strong> als Wirkung der Gesellschaft auf die Literatur <strong>und</strong> als Wirkung der Literatur auf die Gesellschaft,<br />

3. Lesekultur.<br />

Zur <strong>Wirkungsanalyse</strong> beklagt Silbermann, daß sie oft entweder gar nicht erwähnt wird beziehungsweise Wirkungen ohne<br />

empirischen Nachweis einfach als vorhanden unterstellt werden (ebd. S. 247).<br />

Als <strong>soziologische</strong> Theorien der Wirksamkeit gibt es:<br />

- Spiegelbild- oder Reflextheorien ("Literatur als Spiegel der Gesellschaft"; etwa von Marx/Engels).<br />

- Theorien sozialer Kontrolle durch Literatur.<br />

- Die Einflußtheorie, die jedoch bereits in Theorien der Massenmedien übergehen beziehungsweise von dort übernommen<br />

wurden.<br />

Zwei Probleme stellten sich hierbei: der Mangel an Techniken, die Dauer einer Wirkung zu bestimmen, <strong>und</strong> die Unmöglichkeit,<br />

genau meßbare Kausalfaktoren für Wirkungen zu finden (vgl. auch die Ausführungen zum Wirkungsbegriff in Abschnitt 1).<br />

An Wirkungen führt Silbermann an: Erholung; Zerstreuung <strong>und</strong> Entfaltung als Antithese <strong>zur</strong> Arbeit; als Ausdruck von Freiheit,<br />

Befriedigung des Spielsinns; als unabsichtliche Erfüllung sozio-kultureller Rollenverpflichtungen; als beabsichtigte Erfüllung von<br />

Bildungs- <strong>und</strong> Sozialisierungsvorgängen; als Verbindung zu den Werten der Kultur; als angenehme Erwartung; als Erinnerung.<br />

„Ein solcher Aufbau der diversen Wirkkreise spezifiziert letzten Endes das Literaturerlebnis, dieses fait social im Sinne<br />

Durkheims, <strong>und</strong> führt zu dem folgenden ... wirkungsfunktionalen Bild: Literatur folkloristischer Art, die die Individuen näher mit<br />

ihren Gruppen verbindet (Kollektiverlebnis). Literatur, die die Phantasie anregt oder Zerstreuung bringt oder mit Gruppen <strong>und</strong><br />

historischen Perioden verbindet, zu denen der Einzelne nicht gehört (Individualerlebnis) - Literatur in der sich der Inhalt als Idee<br />

oder soziale Beziehung präsentiert (Symbolerlebnis). Literatur, in der sich der Inhalt als gut, dekadent, anregend, sensationell<br />

oder simpel manifestiert (moralisches Werterlebnis). Literatur, deren Inhalt keinerlei ästhetischen Sinn anrührt<br />

(Beiläufigkeitserlebnis)." (Ebd. S. 249 f.)<br />

Aus der Sozialpsychologie kommen Wirkungstheorien des "passiven Vergnügens, besonders als Phantasie- <strong>und</strong><br />

Abenteuererlebnis sowie Identifizierung mit Idealen oder Heroen ..., als Information, besonders in Richtung von Normen <strong>und</strong>


Verhaltensmuster; als sozialem Nutzwert, besonders als Gesprächsthema <strong>und</strong> Abreaktion von Langeweile; als Lernbegierde"<br />

(ebd., S. 250) sowie Katharsis-Theorien.<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> entwickelt Silbermann folgende Typologie literatur<strong>soziologische</strong>r <strong>Wirkungsanalyse</strong>n:<br />

1. Gezielt auf den Impetus, den literarische Inhalte auf Gesellschaftsgruppen haben.<br />

2. Gezielt auf in der Persönlichkeitsstruktur von Mitgliedern sozio-literarischer Gruppen gelegene Wirkungsfaktoren.<br />

3. Gezielt auf Reaktionen, die durch literarische Reize hervorgerufen werden (ebd., S. 252).<br />

Grenze all dieser Untersuchungen ist jedoch die "Begrenzung der methodischen Möglichkeiten <strong>zur</strong> soziologisch-empirischen<br />

Erfassung von Merkmalen der Persönlichkeitsstruktur des Lesers. Selbst die von der Forschung (meist mittels<br />

Laboratoriumsuntersuchungen) herausgearbeiteten Vorgänge, wie selektive <strong>und</strong> motivierte Exposition, Wahrnehmung <strong>und</strong><br />

Gedächtnis ... haben nicht dazu führen können, Wirkkreise auf das Literaturerlebnis hin aussagekräftig zu bestimmen.“ (Ebd.)<br />

Zwei Auswege gäbe es daher:<br />

a) Individuumsbezogene Untersuchungen, die dann aber nicht mehr gesellschaftliche Wirkungen herausfinden.<br />

b) <strong>Wirkungsanalyse</strong>n über den Kommunikationsprozeß, der mittels des folgenden Schemas beschrieben wird <strong>und</strong> unter der<br />

obigen Rubrik 3 als "Lesekultur" verhandelt wird.<br />

Abb. 1: Wirkungsvariablen im Kommunikationsprozeß


physiologische Wirkungen<br />

Glaubwürdigkeit<br />

Medienhierarchie<br />

Nutzung<br />

Medienimage<br />

Präsentation<br />

quantitative Wirkung/<br />

Meinungsverstärkung<br />

Medienpublizistik<br />

KANAL<br />

(Medium)<br />

Ausdrucksfähigkeit<br />

Ausdrucksmöglichkeit<br />

ENKODIERUNG<br />

(aktiv)<br />

M<strong>und</strong>publizistik<br />

AUSSAGE<br />

Inhalt, Form,<br />

Argumentanordnung,<br />

Argumentpräsentation,<br />

Schlussfolgerungen,<br />

Appelle, Wiederholungen<br />

qualitative Wirkung/<br />

Meinungsveränderung<br />

Vertrauenswürdigkeit,<br />

Glaubwürdigkeit,<br />

Sachkenntnis, Image, Intention,<br />

Attraktivität, Objektivität, Autorität,<br />

Soziabilität, physische Merkmale,<br />

Abhängigkeiten<br />

(Verleger/Intendant/Chefredakteur/Re<br />

zipient)<br />

KOMMUNIKATOR<br />

(Quelle)<br />

DEKODIERUNG<br />

(passiv)<br />

Dechiffrierungsfähigkeit,<br />

Wahrnehmung, Farbe,<br />

Typographie,<br />

Töne, Lernen<br />

REZIPIENT<br />

Individualpsychologische Faktoren<br />

Motivation<br />

Behalten<br />

Selektion<br />

Erinnern<br />

Vertrautheit<br />

Aufmerksamkeit<br />

Intelligenz<br />

Erwartung<br />

Selbstvertrauen<br />

Bedürfnis<br />

Selbsteinschätzung<br />

Furcht oder Angst<br />

Selbstbeteiligung<br />

physisches <strong>und</strong> psychisches<br />

Selbstbeeinflussung<br />

Wohlbefinden<br />

Ich-Beteiligung<br />

Anreiz<br />

Nützlichkeit<br />

Neugier<br />

Interesse<br />

Intensität<br />

Schaden<br />

Vorurteil<br />

Bedeutung<br />

Übereinstimmung<br />

Sozial-kategorale Faktoren<br />

Alter, Geschlecht, Beruf, Einkommen, Bildungsgrad, Primär- <strong>und</strong><br />

Sek<strong>und</strong>ärgruppen, Religion, Rasse, soziale Integration<br />

Zeitliche Wirkungen / Situationale Faktoren<br />

Spätzünder-Effekt,<br />

Nachzügler-Effekt,<br />

Erinnerungsfähigkeit, Mitläufer-Effekt, Außenseiter-Effekt<br />

Spezielle Wirkungskomponenten<br />

Verdachtsvariable, Imokulationstheorie, Assimilationseffekt,<br />

Kontrasteffekt, Ablenkungseffekt, Bumerang-Effekt<br />

Unter "Lesekultur" werden dabei verstanden: Buchmarktforschung; Erstellungen von Lesertypologien; Literaturförderung - auch<br />

im internationalen Vergleich; (Lese-) Bedürfnisforschung; Zensur-Forschung <strong>und</strong> letztlich als "Gr<strong>und</strong>element der Lesekultur" das<br />

Lesen <strong>und</strong> Leseverhalten selbst, wobei sich hier über historisch-<strong>soziologische</strong> Studien wie etwa Schön 1987 mit der<br />

Rezeptionsästhetik (vgl. etwa Iser 1984) der Kreis <strong>zur</strong> philosophischen Ästhetik schließt, von der sich Silbermann als Empiriker<br />

hat letztlich lösen wollen.<br />

Zwischenbilanz<br />

Einige Anmerkungen nach diesem Referat einer exponierten literatur<strong>soziologische</strong>n Position - auch als Zwischenbilanz:<br />

1. Ich gehe davon aus, daß "Wirkungen" nicht mit "meßbaren Wirkungen" gleichgesetzt werden, so daß die <strong>Wirkungsanalyse</strong><br />

weiterreicht, als es die empirische Sozialforschung als legitim (weil von ihr erfaßbar) erachtet.


2. Ein entscheidendes Gr<strong>und</strong>problem bei Silbermann ist die Tatsache, daß er - wie Soziologie generell - bei dem nur<br />

individuell zu konstatierenden "Erlebnis" stehen bleiben muß, das er benötigt, um in der Aggregation seinen meßbaren „fait<br />

social" zu haben, das - auch aufgr<strong>und</strong> der Nicht-Zuständigkeit der Soziologie in dieser Frage - letztlich nur als <strong>und</strong>efinierte<br />

Black-Box fungiert, die daher nach Belieben gefüllt werden kann. Dies ist nun auch hinreichend geschehen, so daß in der<br />

ohnehin schillernden Terminologie, in der über Kunst einzelwissenschaftlich oder philosophisch verhandelt wird, "Erlebnis"<br />

ein besonders schillernder Begriff wird <strong>und</strong> daher als zentrale Gr<strong>und</strong>kategorie einer rationalen empirischen Soziologie<br />

locker auch noch die leichtesten Strenge-Anforderungen an Kategorien unterläuft.<br />

3. Es gibt also gesellschaftliche Wirkungen, die sich jedoch den quantifizierenden Methoden entziehen. Dies muß den<br />

Alltagsverstand (<strong>und</strong> das Wissenschaftsdenken schon gar nicht) nicht beunruhigen, da auch (als Beispiele) eine "exakte<br />

Definition" von groß oder klein beziehungsweise warm oder kalt nicht möglich ist, diese Begriffe aber deshalb nicht aus der<br />

Kommunikation verbannt werden.<br />

<strong>4.</strong> Das Ende (<strong>und</strong> tragischerweise auch der Anfang) von Soziologie findet also - zumindest in der hier referierten<br />

Kunstsoziologie - bei dem einzelnen Individuum statt. Daraus folgt konsequent, daß auch Pädagogik <strong>und</strong> Psychologie als<br />

hierfür zuständige Disziplinen legitimerweise auf den Wirkungs- <strong>und</strong> Funktionskomplex von Kunst befragt werden müssen.<br />

5. Die letztliche Hinwendung <strong>zur</strong> Lesekultur <strong>und</strong> deren Einbettung in die Gesamtheit der sozialen Prozesse führt zwanglos zu<br />

der Frage nach der sozialstrukturellen Rolle von Kunst, führt also zu den Untersuchungen von P. Bourdieu <strong>und</strong> von G.<br />

Schulze, an die wiederum folgerichtig Überlegungen <strong>zur</strong> möglichen politischen Einflußnahme - etwa durch Kulturpolitik -<br />

angeschlossen werden können. In einer aktuellen Untersuchung von A. Göschel u.a. (1994) werden daher<br />

kunsttheoretische Fragen des letzten Abschnittes, das empirische Anliegen von Silbermann <strong>und</strong> kultur<strong>soziologische</strong><br />

Analysen von Bourdieu <strong>und</strong> Schulze zusammengeführt.<br />

Kulturbegriffe in Kultursoziologie, Kulturgeschichte <strong>und</strong> Kulturpolitik<br />

Um den Einfluß von Kunst - beziehungsweise die Ansichten über diesen Einfluß - auf die Gesellschaft oder auf gesellschaftliche<br />

Teilbereiche weiter diskutieren zu können, müssen wir uns der Aufgabe unterziehen, neben einem Kunstbegriff nun auch den<br />

Kulturbegriff einzubeziehen. Da "Kultur" - vielleicht noch neben "Bildung" - zumindest in der deutschen Tradition zu den meist<br />

beschriebenen <strong>und</strong> behandelten Konzepten <strong>und</strong> Begriffen gehört (vgl. Bollenbeck 1994), kann dies natürlich nur äußerst<br />

kursorisch geschehen.<br />

Slogans der kulturpolitischen Diskussion der siebziger Jahre bezogen sich auf einen "engen" <strong>und</strong> einen "weiten Kulturbegriff":<br />

Kultur als Kunst auf der einen Seite, Kultur als Art <strong>und</strong> Weise, wie der Mensch lebt <strong>und</strong> arbeitet, auf der anderen Seite.<br />

Interessant, daß bei Hofmann <strong>und</strong> anderen der Allgemeinheitsanspruch unter deutlicher Berufung auf das Sozialstaatsgebot<br />

(Art. 20 GG) des Gr<strong>und</strong>gesetzes erfolgte, ein Hinweis, der neuerdings insbesondere in den kultur-(politik-)<strong>soziologische</strong>n<br />

Untersuchungen von A. Göschel (z.B. 1994 a <strong>und</strong> b) hervorgehoben <strong>und</strong> gewürdigt wurde, gerade in der Beziehung von<br />

Sozialstaatsgebot zu den Topoi "Kulturstaat" <strong>und</strong> "Kulturgesellschaft". Interessant auch, daß diese Bewegung international war:<br />

Bewegung der animation socio-culturelle in Frankreich oder "culture and welfarestate" in Großbritannien (vgl. Bennett 1994).<br />

Dies allerdings war kein Zufall, da diese nationalen Diskussionen wesentlich von Diskussionen auf Europa- Ratsebene<br />

beziehungsweise im Rahmen der UNO vorangetrieben wurden (vgl. Deutsche Unesco-Kommission 1983, Kirchgäßner 1979<br />

<strong>und</strong> neuerdings Röbke 1993). Werfen wir - stellvertretend für zahlreiche Dokumente - einen Blick in die Diskussion des<br />

Kulturbegriffs der Weltkonferenz über Kulturpolitik (Mexiko 1982):<br />

„Ohne den Versuch zu unternehmen, den Begriff der Kultur wissenschaftlich oder allzu starr festlegen zu wollen, stimmten die<br />

Delegierten darin überein, daß Kultur jedenfalls nicht in jenem eingeengten Sinne von belles-lettres, schönen Künsten, Literatur<br />

<strong>und</strong> Philosophie zu verstehen sei, sondern als die charakteristische, spezifische Art <strong>und</strong> Weise jedes Individuums <strong>und</strong> jeder<br />

Gemeinschaft zu denken <strong>und</strong> das Leben zu bewerkstelligen. Kultur ist daher sowohl die künstlerische Schöpfung als auch die<br />

Interpretation, Aufführung <strong>und</strong> Verbreitung von Kunstwerken, Körperkultur, Sport, Spielen <strong>und</strong> Freiluftaktivitäten wie auch die Art<br />

<strong>und</strong> Weise, in der eine Gesellschaft <strong>und</strong> deren Glieder ihr Gefühl für Schönheit <strong>und</strong> Harmonie ausdrücken <strong>und</strong> ihre Sicht der<br />

Weit, aber auch die Art <strong>und</strong> Weise ihrer wissenschaftlichen <strong>und</strong> theoretischen Erfahrungen sowie der Kontrolle ihrer natürlichen<br />

Umgebung.“<br />

Sowie:<br />

"Die Konferenz hielt es für eine unbestreitbare Tatsache, daß die Kultur in jeder menschlichen Gemeinschaft ihren Ausdruck in<br />

der grenzenlosen Vielfalt von Aktionen <strong>und</strong> Interaktionen findet, mittels derer die Menschen ihrem Leben Bedeutung geben <strong>und</strong><br />

ihren Platz in der Geschichte einnehmen.“ (Deutsche Unesco-Kommission 1983, S. 19 f.)<br />

Daran knüpft sie das folgende Konzept von Kulturpolitik an:<br />

"Unter Kulturpolitik sei die Art <strong>und</strong> Weise zu verstehen, in der der schöpferische Elan jedes Mitglieds der Gesellschaft oder der<br />

Gesellschaft selbst durch die Gesamtsumme praktischer Maßnahmen, organisatorischer Bestrebungen sowie die wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> soziale Entwicklung anerkannt <strong>und</strong> ermutigt werde. Kulturpolitik sei folglich die Sache aller, jedes einzelnen <strong>und</strong> jedes<br />

Landes, <strong>und</strong> umfasse auf diese Weise sämtliche Aspekte des nationalen Lebens.“<br />

Eine weitere zentrale Leitlinie - <strong>und</strong> damit eine weitere erwünschte WIRKUNG war die Beziehung der so verstandenen Kultur<br />

<strong>und</strong> Kulturpolitik <strong>zur</strong> Entwicklung:<br />

„Ein globales Herangehen an Entwicklung<br />

Das sich immer steigernde Tempo der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen <strong>und</strong> technischen Entwicklung nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg erweckte große Hoffnungen. Die Umstände machten es erforderlich, daß Wiederaufbau <strong>und</strong> Befriedigung der<br />

Gr<strong>und</strong>bedürfnisse die wichtigsten Aufgaben waren; <strong>und</strong> unter solchen Bedingungen war es möglich, daß eine Entwicklung<br />

ausschließlich auf der Gr<strong>und</strong>lage des materiellen Wachstum <strong>und</strong> der Verbesserung der Lebensbedingungen als Schlüssel für<br />

den Fortschritt angesehen werden konnte.


Diese Hoffnungen erwiesen sich als unrealistisch. Ende der sechziger Jahre wurden fast überall kritische Betrachtungen<br />

angestellt, was unter anderem zu einem zunehmenden Erkennen der Schwierigkeiten führte, mit denen die moderne Weit<br />

konfrontiert ist: das wachsende Ungleichgewicht zwischen Industrie- <strong>und</strong> Entwicklungsländern, neue Gefahren für die<br />

Vernichtung der menschlichen Rasse <strong>und</strong> ihrer Umwelt. Akzentuierung der Unterschiede, Vereinheitlichungen der<br />

Lebensweisen, Verfall, ja sogar Zerstörung kultureller Identitäten usw., Außerdem hat die Erringung oder Wiedererlangung der<br />

politischen Unabhängigkeit in den Entwicklungsländern, wenigstens in den meisten Fällen, nicht dazu geführt, daß sie ihre<br />

wirtschaftliche <strong>und</strong> kulturelle Zukunft selbst gestalten können.<br />

Und so ist es nicht überraschend, daß nationale <strong>und</strong> internationale Entwicklungsstrategien <strong>und</strong> -projekte, die systematisch<br />

wirtschaftliche <strong>und</strong> wissenschaftliche Merkmale in den Vordergr<strong>und</strong> stellen, auf Gleichgültigkeit der betreffenden Bevölkerung<br />

oder sogar auf Ablehnung gestoßen sind.<br />

Durch die Konfrontation mit der Realität setzte sich ein einfacher Gedanke durch: Wohlstand, Fortschritt <strong>und</strong> Glück können nicht<br />

nach einem vorher aufgestellten Plan <strong>und</strong> einem vereinheitlichten Muster eingeführt werden. Kein echtes Entwicklungsprojekt<br />

darf die wichtigsten Merkmale der natürlichen kulturellen Umwelt, die Bedürfnisse, Hoffnungen <strong>und</strong> Werte der entsprechenden<br />

Bevölkerung außer acht lassen.<br />

Nachdem der Begriff "Entwicklung“ erst einmal in das kulturelle Leben eingedrungen ist, kam er voll zum Tragen, weil er<br />

bestätigte, daß es notwendig ist, nicht nur die Arbeitskraft des Menschen, sondern auch seine kulturelle Identität in Betracht zu<br />

ziehen, die die Gr<strong>und</strong>lage seiner Weltanschauung bildet. Die aktive Teilnahme des Menschen an den sie betreffenden<br />

Entwicklungsvorhaben wurde daher nicht mehr nur als wünschenswert, sondern als unerläßliche Voraussetzung für den Erfolg<br />

solcher Projekte betrachtet.“ (Ebd.)<br />

Diese Diskussion wurde umgesetzt in der <strong>zur</strong> Zeit noch laufenden UNO - "Weltdekade <strong>zur</strong> kulturellen Entwicklung". (Vgl.<br />

Nationalkomitee 1988.)<br />

Diese internationale Diskussion, die - wie bei Hofmann gezeigt <strong>und</strong> wie sich an der gesamten Diskussion um Soziokultur in<br />

Deutschland belegen läßt - wesentlich die nationale kulturpolitische Diskussion seit den siebziger Jahren prägt (vgl. Sievers<br />

1988, Sievers/Wagner 1992), läßt sich wie folgt zusammenfassen:<br />

- Auf internationaler Ebene ist ein Kulturbegriff eingeführt, der sozial <strong>und</strong> politisch sensibel ist, der eindeutige demokratische<br />

Akzente setzt, der künstlerische Kreativität nicht vernachlässigt, aber in Kultur mehr als l’art pour l’art sieht.<br />

- Eine so verstandene Kultur wird als zentrales Element sowohl der individuellen als auch der gesellschaftlichen Entwicklung<br />

gesehen.<br />

- "Gesellschaftliche Entwicklung" meint hierbei gerade nicht einen an bloß quantitativen ökonomischen Indikatoren meßbaren<br />

"Fortschritt", sondern ein sozial <strong>und</strong> kulturell verträgliches Wachstum. Heute können wir "ökologisch" als Attribut des<br />

gewünschten Wachstums hinzufügen <strong>und</strong> wir erhalten Konzepte der "dauerhaften Entwicklung", wie sie etwa im Rahmen<br />

der internationalen Umweltkonferenzen diskutiert werden <strong>und</strong> die inzwischen auch in die b<strong>und</strong>esdeutsche kulturpolitische<br />

Diskussion eingebracht worden sind.<br />

- Diesen Überlegungen liegt ein prozeßorientiertes, dynamisches, sowohl auf das Individuum <strong>und</strong> auch auf soziale Gruppen<br />

bezogene Konzept von "kultureller Identität" zugr<strong>und</strong>e, das das "Kulturerbe" zwar einbezieht, aber offen ist für zukünftige<br />

kulturelle Entwicklungen.<br />

- Wir finden eine implizite <strong>und</strong> auch oft explizit vorgetragene Denkweise, die im Menschen den Schöpfer seiner Welt sieht,<br />

der also die Art <strong>und</strong> Weise seines Lebens als zentrale Gestaltungsaufgabe sowohl für den Einzelnen, als auch für Gruppen<br />

betrachtet.<br />

Diese Erweiterung des Kulturbegriffs war wichtig, allerdings auch nicht ohne Probleme.<br />

Eine bislang noch nicht erwähnte Tradition dieses weiten Kulturbegriffs war Ethnologie <strong>und</strong> Anthropologie, die einen weiten,<br />

bestandsaufnehmenden Kulturbegriff bei ihren Forschungen benötigen. Es wurde darauf hingewiesen, daß dieser weite<br />

anthropologische oder ethnologische Kulturbegriff daran krankte, daß er – wie aus seinem engeren wissenschaftlichen<br />

Anwendungsbereichen verständlich - zwar alle Lebensäußerungen erfaßt, allerdings von der Vorstellung einer kleinen,<br />

geschlossenen <strong>und</strong> einheitlichen (Stammes-)Gemeinschaft ausgeht.<br />

Einen solchen, auf den Gedanken von Gemeinschaft basierender Kulturbegriff diagnostiziert A. Göschel (1994) auch in der<br />

Kulturwissenschaft <strong>und</strong> Kulturpolitik der DDR <strong>und</strong> er führt diesen - als „deutschen Sonderweg" seit der Aufklärung - auf Herder<br />

<strong>zur</strong>ück (vgl. Bollenbeck 1994). Wie stark solche Gemeinschaftsvorstellungen auch in anderen westlichen Gesellschaften<br />

verankert sind, zeigt die aktuelle Kommunitarismus-Debatte (vgl. Brumlik/Brunkhorst 1993) sowie die Diskussion um die<br />

Zivilgesellschaft (vgl. etwa Das Argument 206).<br />

Ein zweiter Aspekt ist der, daß der weite Kulturbegriff zwar in polemischer Opposition gegen einen auf Kunst verengten,<br />

traditionell-normativen <strong>und</strong> elitären Kunstbegriff als wertfreies, alles in den Blick nehmendes Konzept eingeführt wird, aber<br />

letztlich doch eine normative Ausrichtung, meist implizit, seltener explizit im Hinblick auf eine in bestimmter Weise gestaltete<br />

Gesellschaft zum Ausdruck kommt. Neben dem eher quantitativen Argument einer Demokratisierung von Kultur (im<br />

wesentlichen eine größere Partizipation aller Gesellschaftsschichten, vor allem der im Kunst-Kontext selten auftauchenden),<br />

kam dieser normative Anspruch in dem Konzept einer "kulturellen Demokratie" zum Ausdruck, das zwar Emanzipation,<br />

Menschenwürde etc. als oberste Ziele proklamierte, sich jedoch konkretisierender Vorstellungen über eine bestimmte<br />

Gesellschaftsordnung auch aufgr<strong>und</strong> der durch den internationalen Entstehungsprozeß bedingten Konsenspflicht enthalten<br />

mußte.<br />

Die Weite des Kultur- <strong>und</strong> Kulturpolitikkonzeptes führte ferner zu deutlichen Überforderungsproblemen, die durch<br />

Abgrenzungsprobleme des Kulturbegriffs entstehen: Wenn eine Kulturpolitik als eingreifende Gestaltungsaufgabe die<br />

Gesamtheit der im jeweiligen Bereich (Stadt, Land, B<strong>und</strong>, Verband etc.) vorfindlichen Lebensäußerungen zu ihrem


Zuständigkeitsbereich erklärt, kann sie als letztlich nur administrativ eingegrenzte Fachpolitik mangels Geld, Macht <strong>und</strong><br />

vielleicht auch Kompetenz nur scheitern. Denn die oft beschworene Querschnittskompetenz, zuletzt bei der<br />

Abschlußveranstaltung des großen NRW-Projektes "Kultur 90" von den Kultur(!) Dezernenten gefordert, wird nicht nur der<br />

Kulturpolitik nicht zugestanden, sie wird mit guten Argumenten ebenso von der Jugend, Senioren-, Umwelt-, Sozial- etc. - Politik<br />

ebenfalls gefordert.<br />

Weitere auch für unsere Zwecke hilfreiche Anmerkungen entnehme ich dem Beitrag "Spannungsfelder der Kulturpolitik" von R.<br />

Reichhardt (in Lipp 1989), der seine facettenreiche Diskussion an einer Kultur-Definition entwickelt, die mir äußerst brauchbar<br />

auch für unsere Zwecke erscheint. Sie stammt von L. White, der Kultur unter drei verschiedenen Gesichtspunkten lokalisiert:<br />

"Wir finden sie intraorganisch, wie sie gleichsam im menschlichen Organismus drin steckt, in den im Nervensystem<br />

gespeicherten Reflexionen, Motivationen <strong>und</strong> Vorstellungsinhalten; interorganisch, indem sie in den Charakteristiken <strong>und</strong><br />

Regelmäßigkeiten zwischenmenschlichen Agierens aufscheint, <strong>und</strong> extraorganisch in den von den Menschen einer bestimmten<br />

Kultur geschaffenen Dingen <strong>und</strong> deren räumlicher Anordnung, die ja selber wieder auf den Menschen <strong>und</strong> deren<br />

Verhaltensweisen <strong>zur</strong>ückwirkt, man denke nur etwa an die Wirkung der Architektur." (Ebd., S. 336.)<br />

Reichhardt diskutiert auf dieser Gr<strong>und</strong>lage die Frage der Beeinflußbarkeit von Kultur. Er schließt sich Luhmann an, der Kultur<br />

als "autopoietisches System", also im wesentlichen selbstreferentiell <strong>und</strong> auch selbststeuernd beschreibt - <strong>und</strong> dabei als<br />

kunsttheoretischen Nebenertrag die Verstehbarkeit von Kunstwerken ausschließlich aus ihrem Vergleich mit anderen<br />

Kunstwerken gewinnt, wobei als einzig wirkungsvolle Einmischungs- <strong>und</strong> Gestaltungsmöglichkeit von Kultur - eben aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Autopoiesis - die Steuerung durch Menschen möglich ist, die selber zumindest teilweise in diesem System stecken.<br />

Reichhardt hebt hervor, daß die gesellschaftliche Wirkung von Kunst indirekt ist: "Menschen, die durch die Schärfung der Sinne<br />

<strong>und</strong> die ästhetische Sensibilisierung wacher geworden sind, dürften auch politisch weniger leicht manipulierbar sein. Dies ist ein<br />

wichtigerer Beitrag der Kunst <strong>zur</strong> Politik als parteipolitische Konnotationen“ (ebd., S. 34<strong>4.</strong>) - womit eine weitere<br />

Wirkungsbehauptung gewonnen wäre. Aus dieser Überlegung folgt für die kulturelle Bildung (mit einer besonderen Betonung<br />

der Rolle des familiären Kontextes): "Wahrscheinlich ist es für die kulturelle Entwicklung eines Landes wichtiger, was für<br />

Sensibilitäten, was für ein Unterscheidungsvermögen, was für kreative Fähigkeiten die heranwachsenden Menschen<br />

entwickeln, als wie viele Mosaiken an Genossenschaftssiedlungen ausgebracht werden" (ebd., S. 357), <strong>und</strong> er verweist daher<br />

auf die zentrale Bedeutung nicht nur der Pädagogik, sondern auch der immanenten pädagogischen Wirkungen kultureller<br />

Leistungen (ebd., S. 358). Im Kontext der Pluralisierungstendenz der Postmoderne (Verlust der Einheit) diskutiert er die nach<br />

wie vor bestehende Notwendigkeit von "natürlichen Resten von Ganzheit" im Sinne einer globalen Verantwortung auch als Teil<br />

der Kultur (351).<br />

In diesen Kontext gehört auch seine Bestimmung des Qualitätsbegriffs:<br />

"Der Begriff der Qualität läßt sich an den Funktionen festmachen, die zu Eingang dieses Aufsatzes der Kultur zuerkannt worden<br />

sind. Religiöse, wissenschaftliche <strong>und</strong> künstlerische Manifestationen bemessen sich in diesem Sinne danach, ob sie nicht bloß<br />

Virtuosität zeigen, sondern etwas für den Menschen Essentielles ansprechen. Bei der Kunst läßt sich dies ... so darlegen: Diese<br />

Entschlüsselungsaufgabe muß eine gewisse Komplexität erreichen, soll sie unserer Psyche zum Umgang mit den im Werk<br />

angesprochenen tiefenpsychologischen Inhalten - <strong>und</strong> diese müssen ebenfalls vorausgesetzt werden - verhelfen. Beim Kitsch<br />

ist diese Entschlüsselungsaufgabe schlichtweg zu simpel <strong>und</strong> verhilft damit unserer Psyche nicht dazu, ihre<br />

Verarbeitungskapazität einsetzen zu können.“ (Ebd., S 361.)<br />

Dieses Kulturkonzept zeigt seinen Nutzen also darin, daß es die unterschiedlichen Dimensionen von Kultur (psychologisch,<br />

sozial, materiell <strong>und</strong> geistig) benennt <strong>und</strong> daher denjenigen, der damit arbeitet, zu entsprechenden Reflexionen zwingt.<br />

Psychische Einwirkungen - auch pädagogisch bewirkte - auf das Individuum kommen ebenso in den Blick wie gesellschaftliche<br />

Strukturen. Kultur wird insbesondere nicht auf die Ebene der bloßen Werte reduziert, was bei anderen Autoren Begrifflichkeiten<br />

wie die der "materiellen Kultur" notwendig macht (z.B. D. Brock in Beck/Beck-Gernsheim 1994, S. 61 ff.).<br />

So bezieht F. Tenbruck (1990) zwar die gegenständliche Weit in "Kultur" ein, freilich mit nachgeordneter Relevanz: "Mehr denn<br />

je sind wir heute Ideen - in sprachlicher Form oder sinnlicher Veranschaulichung - ausgesetzt, die stets Kern <strong>und</strong> Werk der<br />

Kultur bilden. ... Auch die Lagen, Interessen, Werte <strong>und</strong> Zwecke, an denen wir uns orientieren, beruhen auf Deutungen der<br />

(äußeren <strong>und</strong> inneren) Wirklichkeit, die irgendwo ersonnen <strong>und</strong> verbreitet werden müssen, weil sie nicht jeder selbst erfinden<br />

kann. Deshalb gehört alles, was der Mensch tut <strong>und</strong> was daraus hervorgeht, im weiteren Sinn <strong>zur</strong> Kultur, weil es von<br />

Bedeutungen getragen wird. Und deshalb bilden Ideen den Kern der Kultur, weit sie die stets nötigen Schlüssel <strong>zur</strong> Deutung der<br />

Wirklichkeit liefern.“ Tenbruck 1990, S.7.) Kulturtheorie <strong>und</strong> -soziologie ist hier also wesentlich Wertephilosophie, eine<br />

Behandlung der „Ideen" - auch als kulturelle Gr<strong>und</strong>lage der Gesellschaft, wobei der anthropologisch f<strong>und</strong>ierte Deutungsbedarf<br />

des Menschen (ebd., S. 17) als ständig herzustellend Ausgang <strong>und</strong> Ziel sowohl der Kultur als auch der Kultursoziologie ist.<br />

Diese Weite der - zudem auch noch historisch arbeitenden - Kultursoziologie als "Erfassung des Zeitgeistes" macht wie<br />

gesehen diese dann auch für Silbermann (1979, S. 127 ff.) suspekt.<br />

Dieser sehr weit gefaßte Kulturbegriff, der Geistiges <strong>und</strong> Materielles unter der anspruchsvollen Perspektive einer Sinn- <strong>und</strong><br />

Weltdeutung erfaßt, findet sich auch als (meist) implizite Gr<strong>und</strong>lage von Kulturgeschichten. Dies läßt sich sowohl bei den<br />

umfassenden Arbeiten von A. Hauser als auch bei den beiden Kulturgeschichten Deutschlands von H. Glaser (1985 f.) <strong>und</strong> J.<br />

Hermand (1988 f.) zeigen, die sowohl die Entwicklungen der Künste, als auch das politisch- geistige Klima - durchaus im Sinne<br />

einer von Silbermann beklagten "Zeitgeistforschung" - in ihrer jeweiligen Entwicklung <strong>und</strong> vor allem in ihren wechselseitigen<br />

Bezügen darstellen.<br />

Nimmt man diese sowohl in der Kulturgeschichte als auch in der Kultursoziologie behandelten Themen, Sachverhalte <strong>und</strong><br />

Perspektiven nun als Gegenstands- <strong>und</strong> Verantwortungsbereich einer entsprechend verstandenen Kulturpolitik - <strong>und</strong> dies<br />

geschieht, wie die eingangs dokumentierte Diskussion über die Konzeptionierung von Kulturpolitik zeigt - dann werden<br />

unschwer Überforderungssyndrome in bezug auf dieses gewaltige Zielbündel verständlich. Wir werden am Ende dieser<br />

Untersuchung hierauf <strong>zur</strong>ückkommen.<br />

Da die Art <strong>und</strong> Weise, wie wir leben wollen <strong>und</strong> wie wir das gegenwärtige Leben reflektieren - auch <strong>und</strong> gerade mit Hilfe der<br />

Künste - in den Mittelpunkt von Kultursoziologie, Kulturgeschichte geraten sind, sollen zunächst weitere Bef<strong>und</strong>e aus<br />

gesellschaftswissenschaftlicher Sicht vorgestellt werden.


Aktuelle sozialwissenschaftliche Bef<strong>und</strong>e <strong>zur</strong> Gesellschaft<br />

Der aktuelle Klassiker einer Betrachtung von Gesellschaft unter kultureller Perspektive ist sicherlich F. Bourdieu, der in seiner<br />

"Soziologie der symbolischen Formen" (erstmals 1970) eine theoretische Gr<strong>und</strong>lage für eine klassentheoretische<br />

Betrachtungsweise von Gesellschaft gegeben hat, die die Sozialstruktur als wesentlich mit kulturellen Mitteln erzeugt, stabilisiert<br />

<strong>und</strong> reproduziert vorstellbar macht. Diesen Theorieentwurf hat er 1979 mit der großangelegten empirisch-theoretischen Studie<br />

"Die feinen Unterschiede" konkretisiert <strong>und</strong> weiterentwickelt, freilich mit erheblichen Rezeptionsschwierigkeiten zumindest im<br />

deutschsprachigen Raum (vgl. hierzu etwa Eder 1989, vor allem das Nachwort von Bourdieu S. 395 ff.).<br />

Zur Vorstellung weiterer Ansätze einer "Soziologischen Zeitdiagnose" referiere sich das Inhaltsverzeichnis einer knappen, aber<br />

präzisen Vorstellung <strong>und</strong> kritischen Diskussion der verschiedenen Ansätze von A. Honneth (1994), der die folgenden großen<br />

"Tendenzen" identifiziert, gravierende Veränderungen in der Gesellschaft auf den Begriff zu bringen: Tendenz zum<br />

Wertewandel; Postmoderne; Risikogesellschaft; Erlebnisgesellschaft. An einzelnen Autoren festgemacht:<br />

- Postmoderne (in ihrer gesellschaftstheoretischen Relevanz) vor allem bei Baudrillard <strong>und</strong> Lyotard<br />

- Individualisierung, (natürlich) an U. Beck<br />

- Ästhetisierung der Lebenswelt an W. Welsch <strong>und</strong> mit einem spezifischen Akzent bei G. Schulze<br />

- Fokus "Disziplinierung des Körpers" an M. Foucault<br />

- Kommunitarismus an M. Walzer<br />

- Zivilgesellschaft in verschiedenen Ansätzen <strong>und</strong> als nicht-thematisierte Frage<br />

- Das Problem der Armut.<br />

Bei der Sichtung dieser Theorie- <strong>und</strong> Diagnoseangebote fällt auf, daß Kultur <strong>und</strong> insbesondere ästhetische Betrachtungen eine<br />

entscheidende Rolle spielen - auch als Ausdruck einer programmatischen Absage an Vernunft, nunmehr als Methode der<br />

Wirklichkeitserkenntnis weniger diskursiv <strong>und</strong> kognitiv, als vielmehr "ganz anders" (abhängig vom jeweiligen<br />

Ästhetik-Verständnis) vorgehen zu wollen, sofern auch dieser Anspruch nicht auch schon als falsche, in Kategorien der<br />

Moderne verbleibende Fragestellung verworfen wird.<br />

Ein zweiter roter Faden ist die Auseinandersetzung mit der Moderne, sei es als Verkündigung ihres empirisch feststellbaren<br />

Endes, sei es als (normativ geforderte) Notwendigkeit ihres Endes, als Überlagerung der Moderne durch andere Strömungen<br />

oder durch Eintreten in eine andere Stufe von Moderne, etwa durch ihr "Reflexivwerden". Honneth kommentiert all diese<br />

Ansätze wie folgt: "Aber keine von ihnen hat die anschließende Phase der gewissenhaften empirischen Überprüfung<br />

unbeschadet überstanden. Sie alle haben sich schnell als Produkte einer Überverallgemeinerung von gesellschaftlichen<br />

Entwicklungen erwiesen, die nur eine beschränkte Reichweite, sei es in historischer, sei es in sozialer Hinsicht, besitzen. Von<br />

der Tendenz zu einem allgemeinen Wertewandel ist heute, nachdem infolge der Wirtschaftskrise Armut <strong>und</strong> Arbeitslosigkeit<br />

wieder drastisch zugenommen haben, eh nur der schwache Rest geblieben, der in gewissen Einstellungsveränderungen der<br />

Mittelschicht besteht; in der Behauptung einer gesellschaftlichen „Postmoderne“ ist von Anfang an die Hartnäckigkeit<br />

unterschätzt worden, mit der sich religiöse Überzeugungen <strong>und</strong> metaphysische Sinnerwartungen, kurz: die Orientierung an<br />

"großen Erzählungen“, im sozialen Alltagsbewußtsein festgesetzt haben; die These von der „Risikogesellschaft“ hat einen<br />

bestimmten Entwicklungstrend, nämlich die Zunahme an technologisch bedingten Überlebensrisiken, so sehr für das Ganze<br />

unserer Gesellschaft genommen, daß andere, ebenso bedeutsame Veränderungen erst gar nicht mehr zu Bewußtsein<br />

gelangen konnten; <strong>und</strong> in der Diagnose einer „Erlebnisgesellschaft“ schließlich bleibt wohl schon auf elementarer Stufe<br />

unberücksichtigt, daß auch heute noch große Teile der Bevölkerung in den hochentwickelten Gesellschaften mit Problemen des<br />

sozialen <strong>und</strong> ökonomischen Überlebens zu kämpfen haben. Werden zu diesen empirischen Einseitigkeiten noch die<br />

Unstimmigkeiten hinzugerechnet, die die jeweiligen Ansätze nicht selten in ihren theoretischen Mitteln aufweisen, so wird<br />

schnell deutlich, daß den <strong>soziologische</strong>n Zeitdiagnosen der jüngsten Vergangenheit ein erhebliches Maß an Skepsis entgegen<br />

gebracht werden muß." (Honneth 1994, S. 7 f.).<br />

Diese Zweifel sind insbesondere im kulturpolitischen Diskurs nicht hoch genug zu bewerten, da hier die Anfälligkeit für diese<br />

Theorie-Angebote besonders groß ist. Dies wiederum erklärt sich leicht aus der erwähnten Rolle ästhetischer (<strong>und</strong> kultureller)<br />

Argumentationsmuster, die scheinbar die umfassende Relevanz des eigenen Arbeitsgebietes nicht bloß für die Gesellschaft,<br />

sondern sogar für deren Erfassung zu belegen scheinen - <strong>und</strong> dabei die leichte Zirkelhaftigkeit übersehen, wie sehr das<br />

ästhetisch relevante Ergebnis durch die ästhetisch geprägten Untersuchungsmethoden vorprogrammiert ist.<br />

Angesichts dieses Bef<strong>und</strong>es von A. Honneth, der nicht generell bestreitet, daß es empirische Belege - freilich nicht mit dem<br />

formulierten Allgemeinheitsanspruch - für einzelne Positionen gibt, mag der Rückgriff auf den modernen Klassiker P. Bourdieu<br />

legitim erscheinen. Bourdieu widmet sich der geradezu klassischen Aufgabe der Soziologie, aus der sie ursprünglich im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert auch entstanden ist: der sozialen Ungleichheit, wobei er unter Bezugnahme auf das Klassenkonzept die<br />

weitergehende Frage nach den kulturell sich ausdrückenden <strong>und</strong> kulturell (re-)produzierten sozialen Differenzierungen stellt<br />

(<strong>und</strong> u.a. mit einer sozialen Theorie der Kunstwahrnehmung beantwortet). Aspekte seiner Theorie in der Rekonstruktion von H.<br />

Lüdtke (1989), die für unsere Zwecke wegen ihres zentralen Fokus "Lebensstil" höchst relevant ist, sind die folgenden (ebd.,<br />

S. 31 ff.):<br />

1. Relevanz nicht nur der sozialen Lage, sondern der klassenspezifisch verschiedenen Wahrnehmungsmuster <strong>und</strong><br />

Klassifikationsschemata.<br />

2. Ungleichverteilung auch der symbolisch-kulturellen Güter, damit verb<strong>und</strong>en: Distinktion (der sozialen Position) über den<br />

Besitz "legitimer" Kulturgüter.<br />

3. Distinktionen führen zu unterschiedlichen "Lebensstilen", die durch äußere Attribute gekennzeichnet sind.


edingt<br />

Lebensbedingungen 1<br />

objektiv klassifizierbar<br />

(Konditionierungsklassen)<br />

<strong>und</strong> Position innerhalb<br />

Struktur der Lebensbedingungen<br />

(als strukturierende Struktur)<br />

Habitus 1<br />

als strukturierte<br />

<strong>und</strong> strukturierende<br />

Struktur<br />

Erzeugungsschemata<br />

von<br />

klassifizierbaren<br />

Praktiken <strong>und</strong><br />

Werken<br />

System der<br />

Wahrnehmungsu.<br />

Bewertungsschemata<br />

(„der Geschmack“)<br />

Klassifizierbare<br />

Praktiken<br />

u. Werke<br />

Lebensstil 1<br />

als System von<br />

klassifizierten u.<br />

klassifizierenden<br />

Praktiken<br />

i.e. von<br />

Unterscheidungszeichen<br />

(„die Geschmacksrichtungen“)<br />

System der ...<br />

usw.<br />

Lebensbedingungen 2<br />

usw.<br />

Habitus 2<br />

usw.<br />

Klassifizierb.<br />

Praktiken usw.<br />

Lebensstil 2<br />

usw<br />

System der ...<br />

usw.<br />

Lebensbedingungen n<br />

usw.<br />

"Von zentraler Bedeutung ... der Begriff des "Habitus". Im Habitus, einer kollektiv geteilten psychischen Disposition, werden<br />

symbolische Formen verkörpert, deren Wirksamkeit oder Unwirksamkeit im Feld sozialer Positionen objektiv bestimmt ist <strong>und</strong><br />

über deren Wirksamkeil oder Unwirksarnkeit im Feld sozialer Auseinandersetzungen entscheiden wird. Die (statistische) Regel<br />

lautet, daß die Verfügung über Kultur von der Position, in der man sich befindet, abhängig ist. Die objektiven Klassenlagen<br />

entscheiden über Inhalt <strong>und</strong> Formen der Verfügbarkeit von kulturellen Ressourcen. Die im Habitus verkörperten kulturellen<br />

Ressourcen (das "symbolische Kapital“) sind zugleich notwendige Bedingungen dafür, objektive Klassenlagen zu produzieren.<br />

Kultur als Medium der Reproduktion sozialer Ungleichheit - auf diese Formel lassen sich Bourdieus Arbeiten <strong>zur</strong><br />

Klassenanalyse bringen.“(Eder in Eder 1989, S. 7.)<br />

An anderer Stelle werden weitere Bestimmungen des Habitus-Konzeptes zusammengetragen: "System von allgemeinen <strong>und</strong> für<br />

alle Lebenslagen gültigen Dispositionen, die das Denken, Handeln, Fühlen, Wahrnehmen eines Individuums bestimmen <strong>und</strong><br />

organisieren; generalisieren des Prinzip der Praxis; strukturierende <strong>und</strong> strukturierte Struktur; geronnene Erfahrung, - Produkt<br />

der Geschichte des Individuums: inkorporierte Geschichte. Die Entwicklung der Lebensstile bei Bourdieu faßt Lüdtke in<br />

folgendem Schema zusammen:<br />

Abb. 2: Logik der Ableitung von Lebensstilen nach Lüdkte<br />

Quelle: Lüdtke 1989, S. 43<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage der Diskussion des Bourdieuschen Konzeptes des Lebensstils entwickelt Lüdtke sein Konzept:<br />

„Für die Begründung der theoretischen Relevanz von Lebensstilen bedarf es meines Erachtens folgender, vom Standpunkt<br />

einer aufgeklärten Verhaltenstheorie hinreichend plausibler Annahmen oder Postulate.<br />

1 . Menschen handeln sinnvoll in begrenzten Kontexten von Mitteln, Zielen, Symbolen, Partnern, Verhaltensformen Lind<br />

Erfahrungen. Diese Kontexte der Lebensorganisation unterliegen ständiger subjektiver Bewertung nach Maßgabe von<br />

strukturellen Zwängen, neuen Anreizen sowie Erfolg beziehungsweise Mißerfolg in bezug auf die Ziele oder allgemeiner:<br />

das Ausmaß an positiven, als Belohnung erlebten, Erfahrungen.


2. Selektion <strong>und</strong> Ergänzung dieser Verhaltenskomponenten im Bewertungsprozeß führen in einem normalen Lebenslauf <strong>zur</strong><br />

Kristallisierung <strong>und</strong> Habitualisierung eines bestimmten Kontextes der Lebensorganisation, der für das Individuum <strong>zur</strong> Quelle<br />

der persönlichen Identität wird.<br />

3. Sofern sich dieser Kontext subjektiv bewährt hat <strong>und</strong> vom Individuum in Form einer Selbstverpflichtung angeeignet wurde,<br />

entlastet er es vom Aufwand der Suche nach Alternativen, erleichtert die Alltagsroutine <strong>und</strong> tendiert zu Stabilität.<br />

<strong>4.</strong> Da bestimmte äußere Attribute <strong>und</strong> Artikulationen dieses Kontextes Symbolcharakter haben, d.h., mit Bezug auf kollektive<br />

Werte <strong>und</strong> Normen klassifiziert sind, unterliegt der Kontext sozialen Bewertungen, die vom Individuum in bestimmten<br />

Situationen als Sanktionen erlebt werden können.<br />

5. Aufgr<strong>und</strong> der Tendenz des Individuums zum Vergleich mit anderen <strong>und</strong> der Erfahrung solcher Sanktionen (Bestätigungen<br />

oder Versagungen) strebt es nach einer Anpassung seines Kontextes, so daß ein (dynamisches) Gleichgewicht von<br />

personaler <strong>und</strong> sozialer Identität wahrscheinlich ist. Dabei benutzt es in Interaktionen typische Attribute <strong>und</strong> Artikulationen<br />

seines Kontextes als Mittel, Distinktion oder Affiliation zu signalisieren, d.h. andere Sanktionen oder allgemeiner:<br />

Reaktionen aufzufordern.<br />

6. Je umfangreicher die verfügbaren Mittel sind, desto alternativenreicher ist der Suchraum des Individuums bei der Definition<br />

eines Lebenskontextes <strong>und</strong> desto mehr ist die Selektion von Zielen, Symbolen, Partnern <strong>und</strong> Verfahrensformen ein<br />

Ausdruck seiner persönlichen Präferenzen.<br />

7. In hochindustrialisierten Konsumgesellschaften ist zumindest eine wachsende Minderheit der Bevölkerung in der Lage, in<br />

der Praxis ihrer Lebensorganisation bewußt Präferenzen zu verfolgen. Lebensstile werden daher zu einer bedeutsamen<br />

Dimension sozialer Ungleichheit." (Ebd., S. 39 f.)<br />

Auf dieser theoretischen Basis der Entstehung <strong>und</strong> Differenzierung von Lebensstilen läßt sich ein Lebensstil definieren als<br />

unverwechselbare Struktur <strong>und</strong> Form eines subjektiv sinnvollen, erprobten (d.h. zwangsläufig angeeigneten,<br />

habitualisierten oder bewährten) Kontextes der Lebensorganisation (mit den Komponenten: Ziele beziehungsweise<br />

Motivationen, Symbole, Partner, Verhaltensmuster) eines privaten Haushalts (Alleinstehende/r, Wohngruppe, Familie), den<br />

dieser mit einem Kollektiv teilt <strong>und</strong> dessen Mitglieder deswegen einander als sozial ähnlich wahrnehmen <strong>und</strong><br />

bewerten.<br />

Lüdtke faßt dies in folgendem Schema zusammen:<br />

Abb. 3: Logik der Rekonstruktion von Lebensstilen<br />

D i m e n s i o n v o n L e b e n s o g a n i s a t i o n<br />

S K M P<br />

Sozialökonomische<br />

Situation<br />

Kompetenz Performanz Motivation<br />

Steuernde<br />

Prozesse:<br />

Allokation<br />

Statuserwerb<br />

Lebenslauf<br />

Sozialisation Bildung<br />

Handeln<br />

Interaktion<br />

Sozialisation<br />

Entwicklung<br />

Erfahrung<br />

Systemaspekte<br />

Sozialstruktur,<br />

Ges. Sektoren,<br />

Haushaltsstruktur<br />

Persönlichkeit als<br />

kognitives<br />

Handlungssystem<br />

Akteure,<br />

Haushalte in<br />

sozialen Kontekten<br />

Persönlichkeit<br />

als motivationales<br />

Handlungssystem<br />

Teildimensionen/<br />

theoretische<br />

Merkmalsträger<br />

Bildungsgrad,<br />

Fähigkeiten,<br />

kognitiver Stil,<br />

Rollengestaltung,<br />

Wissen<br />

Aktivitäten<br />

Mitgliedschaften,<br />

Konsum, Aktions<br />

raum<br />

Ökonomisches<br />

Kapital, Status-<br />

Rollen-Konfigu<br />

ration, Arbeitsorganisation,<br />

Wohnumwelt<br />

Bedürfnis-Wert-<br />

Orientierungen, Ziele,<br />

Präferenzen, Sinn<br />

Expressive Motive <strong>und</strong> Verhaltensweisen als L e b e n s t i l e l e m e n t e :<br />

Operationale<br />

Variablen<br />

Ausgaben-, Zeitverwendungs- <strong>und</strong> Verhaltensmuster, Aktivitäten <strong>und</strong> Ausstattung in<br />

den Bereichen: Ernährung, Kultur <strong>und</strong> Freizeit, Selbstdarstellung <strong>und</strong> Repräsen-


tation, Wohnung;<br />

Mitgliedschaften <strong>und</strong> Verkehrskreis; Wertbindungen, Geschmack, Selbstbild, Ziele,<br />

Perspektiven; Distinktionsinteresse <strong>und</strong> relevante Bezugsgruppen der Affiliation<br />

<strong>und</strong> Distinktion<br />

Quelle: Lüdtke 1989, S 43<br />

Grenzen <strong>und</strong> Tragweite dieses Konzeptes formuliert er wie folgt:<br />

"Trotz seiner relativ hochentwickelten theoretischen Gestalt hat sich dagegen Bourdieuis Ansatz einer Bestimmung von<br />

Lebensstilen durch eine eindeutige Determinationskette von objektiver Lage (Kapitalausstattung) über den Habitus als zu eng<br />

erwiesen. Dimensionalität <strong>und</strong> Struktur der Kapitalarten sind differenzierter <strong>und</strong> der Spielraum weiter angelegt als von ihm<br />

unterstellt ... . " (Ebd., S. 153.)<br />

Und weiter:<br />

"Der hier entwickelte Ansatz einer <strong>soziologische</strong>n Theorie der Lebensstile sollte nun nicht zu dem Mißverständnis verleiten, die<br />

Sozialstruktur der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland entwickele sich, gemäß der Individualisierungs- <strong>und</strong> Pluralisierungsthese,<br />

zuverlässig <strong>und</strong> einheitlich in Richtung auf eine Differenzierung der Lebensstile mit klassen- <strong>und</strong> schichtübergreifendem<br />

Charakter. Diese Tendenz ist unter den angegebenen Randbedingungen zwar plausibel <strong>und</strong> wahrscheinlich; ihre Wirklichkeit<br />

müßte freilich erst in umfangreicher Sozialforschung nachgewiesen werden. Sie wird von einer Reihe von Gegenargumenten<br />

bestritten, die sich teilweise auf entdifferenzierende, einer Pluralisierung der Lebensstile entgegenlaufende Tendenzen in der<br />

gegenwärtigen Sozialstruktur berufen." (Ebd., S. 15<strong>4.</strong>)<br />

Und schließlich:<br />

"Es ergeben sich zwei hypothetische Konsequenzen:<br />

1. Die Pluralisierung der Lebensstile ist derzeit wohl eher ein Prozeß, der in relativ abgeschlossenen Segmenten der Ober<strong>und</strong><br />

Mittelschichten abläuft <strong>und</strong> nicht automatisch mit einer grenzübergreifenden Angleichung der allgemeinen<br />

Lebenschancen einhergeht.<br />

2. Die wachsende Bedeutung der horizontalen Ungleichheitsdimension der Lebensstile kann durchaus mit einer<br />

Aufrechterhaltung oder Verschärfung der Hauptlinien vertikaler Ungleichheit einhergehen. Wachsende kollektive<br />

Präferenzspielräume <strong>und</strong> Reproduktion von Klassengrenzen führen womöglich ein relatives Eigenleben ohne starke<br />

Wechselwirkung." (Ebd., S. 155.)<br />

Dieses Konzept des Lebensstiles wurde deshalb so ausführlich diskutiert, weil es ertragreich für eine sozial- <strong>und</strong><br />

kulturwissenschaftliche Erfassung von Gesellschaft erscheint, in den letzten Jahren gerade im kulturpolitischen Diskurs unter<br />

der Rubrik "Inszenierung von Lebensstilen“ verkürzt <strong>und</strong> banalisiert wurde <strong>und</strong> in dem Vorschlag einer "Kulturpolitik als Politik<br />

der Lebensstile" aktuelle Relevanz hat (vgl. Göschel u.a. 1994, S. 48 ff.). Diese knüpft an an die These von dem Aufweichen<br />

traditioneller Klassen, Schichten <strong>und</strong> Milieus, im Modernisierungsprozeß. Quasi als Ersatz für diese nicht mehr vorhandenen,<br />

auch Orientierungsleistungen erbringenden Gegebenheiten schaffen sich die Menschen durch Wahlprozesse "Lebensstile"<br />

auch als neue Form der freiwilligen Integration, die sich symbolisch-kulturell darstellt. Kulturpolitik kann als Gesellschaftspolitik<br />

daher in diesem Konzept gerettet werden, indem sie - zuständig gerade wegen der ästhetisch bewirkten Integrationsleistung -<br />

hierdurch eine gesellschaftlich wichtige neue Aufgabe erhält: durch Schaffung von Möglichkeiten <strong>und</strong> Räumen, eigene<br />

Lebensstile zu schaffen, d.h. den dazu notwendigen symbolisch-kulturellen Gemischtwarenladen <strong>zur</strong> Ausstattung mit<br />

entsprechenden Attributen bereit zu stellen. (Vgl. hierzu Fuchs 1995.)<br />

Im Hinblick auf unsere Wirkungsfrage haben wir hiermit eine neue Aufgabe für Kunst/Kultur gewonnen, die ebenso wie die<br />

anderen ihrer empirischen Überprüfung harrt.<br />

Wirkungen von Kunst aus <strong>soziologische</strong>r Sicht lassen sich daher wie folgt zusammenfassen (vgl. auch Thurn in diesem Band):<br />

1. Befriedigung symbolischer Rangwünsche. (Statusfunktion; vertikale Gliederung der Gesellschaft).<br />

2. Erfüllung der Prestigefunktion (horizontale Gliederung).<br />

3. Erfüllung von Freizeitbedürfnissen (Unterhaltungsfunktion; wirkt nicht schichtspezifisch).<br />

<strong>4.</strong> Realisierung von Abgrenzungsneigungen (Gruppen <strong>und</strong> Schichten gegeneinander).<br />

5. Herstellen gesellschaftlicher Integration.

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