DAS TASCHENBUCH PRESSEVORSCHAU - Fuxx
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16 LESEPROBE AUGUST SEPTEMBER OKTOBER NOVEMBER DEZEMBER JANUAR FEBRUAR 2013<br />
Und um 23.15 Uhr: Erotisches zur Nacht<br />
Lange bevor westdeutsche Privatsender<br />
plumpe bayerische Lederhosenbumsstreifen<br />
sendeten, setzte das<br />
Fernsehen der DDR pikante Akzente<br />
mit frivoler französischer Fernsehunterhaltung.<br />
Wenn draußen die<br />
Bürgersteige hochgeklappt wurden,<br />
begann es hinter den Mauern der<br />
sozialistischen Wohneinheiten<br />
heiß herzugehen: ab Mitte der<br />
achtziger Jahre lief zu Pfingsten,<br />
Weihnachten und Ostern<br />
spätabends die französische<br />
Softsex-Fernsehserie «Erotisches<br />
zur Nacht». Jede Episode<br />
dauerte etwa dreißig Minuten<br />
und bestand aus prickelnden<br />
Kurzgeschichten, die im 17. oder 18.<br />
Jahrhundert spielten. Kostümlastig<br />
waren sie genregemäß lediglich am<br />
Anfang. Die Handlung war immer<br />
gleich: Ein armes, aber spitzenmäßig<br />
aussehendes Bauernmädchen kommt<br />
auf ein feudales Schloss, um dem greisen,<br />
von Gicht heimgesuchten Grafen<br />
dienstbar zur Hand zu gehen. Nun<br />
wohnte auf dem weitläufigen Schloss<br />
des adligen Pflegefalls aber zufällig<br />
auch ein potenter, attraktiver junger<br />
Proletarier – also ein Gärtner, Stallbursche<br />
oder Rittmeister –, welcher<br />
der jungen Maid neue Perspektiven in<br />
Sachen freizügiger Freizeitgestaltung<br />
aufzeigte.<br />
Nach einigen Kamerafahrten durch<br />
das opulent ausstaffierte Schloss und<br />
langsamen Schwenks über die schöne<br />
französische Provence, die nonchalant<br />
auch die Bedürfnisse der zuschauenden<br />
DDR-Bürger nach Reisefreiheit<br />
befriedigten, ging es schwuppdiwupp<br />
los mit Ausziehen, Streicheln, erotischem<br />
Rumgehauche und lebensecht<br />
angedeuteten Kopulationsbewegungen.<br />
Wer dachte schon ernsthaft an<br />
Reisefreiheit, wenn das DDR-Fernsehen<br />
echten<br />
Sex<br />
zeigte!<br />
Westsex!<br />
Diese heißblütigen<br />
Erinnerungen<br />
können<br />
aber nicht darüber<br />
hinwegtäuschen, in<br />
welch trauriger Situation ich<br />
als Fünfzehnjähriger diese erotische<br />
Fernsehserie anschauen musste, in<br />
der vor meinen Augen Dinge angestellt<br />
wurden, die ich noch nicht am<br />
eigenen Leib erfahren hatte. Und ich<br />
war dazu verdammt, «Erotisches zur<br />
Nacht», das Heißeste, was es damals<br />
im gesamtdeutschen Nachkriegsfernsehen<br />
gab – die Serie mit großen,<br />
nackten Frauenhintern, großen, nackten<br />
Frauenbrüsten und täuschend<br />
echt angedeutetem Geschlechtsverkehr<br />
– zusammen mit meiner Familie<br />
anzugucken. Mit Mutti, Vati und<br />
meiner großen Schwester. Auf dem<br />
Familiensofa, unter dem Bild mit den<br />
Blumen. Mit heruntergeklapptem<br />
Unterkiefer,<br />
mit Bier, Brause,<br />
Erdnussflips<br />
und, in<br />
meinem Fall,<br />
angestrengt<br />
entspannter<br />
Sitzhaltung.<br />
Wenn die<br />
zügellose<br />
Feiertags-<br />
Fernsehserie<br />
dann vorüber<br />
war, hatte sich<br />
die knappe Luft im<br />
Wohnzimmer aufs unerträglichste<br />
aufgeheizt.<br />
Zumindest ich war auf unserem<br />
Chemiefaserfamiliensofa<br />
nicht mehr nur elektrostatisch<br />
aufgeladen. Vati löschte sofort das<br />
Licht; es wurde geschlafen und nicht<br />
mehr drüber geredet.<br />
Es wird ja öfter mal behauptet, dass<br />
die in der DDR aufgewachsenen<br />
Menschen nur deshalb zu Rechtsradikalismus,<br />
Kindermord und Antriebslosigkeit<br />
tendieren, weil sie im<br />
Kindergarten zusammen aufs Klo<br />
gehen mussten.<br />
Kompletter Quatsch! So schlimm war<br />
das gar nicht. Schlimm war, mit der<br />
ganzen Familie Sexfilme gucken zu<br />
müssen.