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Die Birnen von Ribbeck

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Leseprobe aus:Friedrich Christian Delius<strong>Die</strong> <strong>Birnen</strong> <strong>von</strong> <strong>Ribbeck</strong>Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg


Theodor FontaneHerr <strong>von</strong> <strong>Ribbeck</strong> auf <strong>Ribbeck</strong> im HavellandHerr <strong>von</strong> <strong>Ribbeck</strong> auf <strong>Ribbeck</strong> im Havelland,Ein Birnbaum in seinem Garten stand,Und kam die goldene HerbsteszeitUnd die <strong>Birnen</strong> leuchteten weit und breit,Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,Der <strong>von</strong> <strong>Ribbeck</strong> sich beide Taschen voll,Und kam in Pantinen ein Junge daher,So rief er: «Junge, wiste ’ne Beer?»Und kam ein Mädel, so rief er: «Lütt Dirn,Komm man röwer, ick hebb ’ne Birn.»So ging es viel Jahre, bis lobesamDer <strong>von</strong> <strong>Ribbeck</strong> auf <strong>Ribbeck</strong> zu sterben kam.Er fühlte sein Ende. ’s war Herbsteszeit,Wieder lachten die <strong>Birnen</strong> weit und breit,Da sagte <strong>von</strong> <strong>Ribbeck</strong>: «Ich scheide nun ab.Legt mir eine Birne mit ins Grab.»Und drei Tage drauf, aus dem Doppeldachhaus,Trugen <strong>von</strong> <strong>Ribbeck</strong> sie hinaus,Alle Bauern und Büdner mit FeiergesichtSangen «Jesus meine Zuversicht»,Und die Kinder klagten, das Herze schwer:«He is dod nu. Wer giwt uns nu ’ne Beer?»7


Als sie anrückten <strong>von</strong> Osten aus dem westlichen Berlin mitdrei Omnibussen und rot und weiß und blau lackiertenAutos, aus denen Musik hämmerte, lauter als die starkenMotoren, und mit den breitachsigen, herrischen Fahrzeugendas Dorf besetzten, wie es seit den russischen Panzern, demLuftwaffengebell und den <strong>Ribbeck</strong>’schen Jagdfesten nichtmehr besetzt war, fünfzig oder sechzig glänzende, frischgewaschene Autos auf den drei Straßen, und ausstiegenwie Millionäre mit Hallo und Fotoapparaten und Sonnenschirmenund zuerst die Kinder, dann uns nach und nachaus Stuben und Gärten lockten und Bier und Fassbrause,<strong>Birnen</strong>schnaps, Würstchen und Luftballons, Kugelschreiberund Erbsensuppe verschenkten und einen Tanz machten umeinen jungen Birnbaum, den sie mitgebracht hatten undnach einer kurzen Rede, die der Bürgermeister wie gewohntmit schafsäugigem Nicken begleitete, in den Vorgarten desAltenpflegeheims, das früher das Schloss war, einpflanztenund dabei mehr auf die Videokameras als auf den Baumschielten und sich selber Beifall klatschten und uns auf dieSchultern hieben, als hätten sie ein großes Spiel gewonnenoder ihre Fahne in erobertes Gebiet gesteckt, und lauter wurden,Bierbecher herumreichten und uns <strong>Birnen</strong>geist probierenließen und schnell ihr sagten und du,9


haben wir auf die Frage gewartet, was wir zu dem neuenBirnbaum zu sagen hätten, denn immerhin war das Dorfeinmal berühmt wegen der <strong>Birnen</strong>, und ob der Platz seitlichvom Altersheim der richtige wäre, denn wenn schonTradition, wie sie Fontane der Dichter aufgeschrieben hat,dann richtig, ein Birnbaum in seinem Garten stand, wer dasGedicht nicht flüssig hersagen konnte, bekam in der Schule,wo jetzt der Konsum ist, vom Lehrer für jedes Stocken undjedes falsche Wort mit dem Rohrstock eins auf die flacheHand, also auf der Gartenseite oder, längst wölbt sich einBirnbaum über dem Grab, auf den schattigen Wiesen vor derKirche, wo die Gräber seit langem geschleift sind,aber sie fragten nicht, und ehe wir den Mut fanden zureden, war der Stützpflock schon eingerammt, das Bäumchenangebunden, die Erde festgetreten, die Männer mitBaum und Spaten hundertmal fotografiert und die Gießkannedreimal geleert, auch die hatten sie mitgebracht,sogar Zeitungsleute hatten sie mitgebracht, die dauerndfragten: Wie finden Sie das alles?, und wenn wir nichtgleich einen brauchbaren Satz ausstießen, fragten sie: FindenSie das nicht toll?, sodass wir nur sagen konnten: Ja,und ihnen auswichen, weil sie unseren Zeitungsleuten soähnlich waren, die niemals ein Nein hören wollten und nurAntworten, die sie schon kannten,ich aber wollte ja sagen, auf andere Weise ja, denn ichkonnte die Freude nicht fassen und hatte zu viele unbrauchbareWörter im Kopf und feierte mit ihnen allen, das Bier10


und die neue Freiheit, zu feiern mit wem wir wollten undzu jeder Zeit, und die Einheit, die her muss, weil alles keinenZweck hat, und wir feierten den <strong>Birnen</strong>schnaps und diekurzen Wege nach Berlin, denn noch Monate vorher warihnen verboten, anzuhalten und das Dorf zu betreten, waruns verboten zu reden mit den Fremden, die eine fünffachbestempelte Genehmigung hatten und sich dem Pflegeheim,das früher das Schloss war, und der Kirche und den Ruinender <strong>Ribbeck</strong>’schen Ställe näherten,und feierten, weil wir im Dorf seit Jahrzehnten keinSchützenfest, keine Kirmes, kein Sängerfest, keine großenHochzeiten mehr gefeiert hatten, nur die Jägergruppe, dieKleintierzüchter unter sich und belauscht, kein Verein ohneSpitzel, wie soll man da feiern, die Disco alle paar Wochenund Kinderfest einmal im Jahr, und liefen herbei, weiles Würste und Suppe und Bier und Schnaps und Kaffeeumsonst gab und weil die düsteren Verbote auf dem Müllgelandet waren und wir nun losgekettet für die Einheit undbestaunt wurden wie Eingeborene und weil alles drunterund drüber ging und ein neuer Baum dastand und weilwir uns gewöhnen mussten und gewöhnen wollten anetwas, das wir nicht kannten, denn alles brach zusammenhoch,auf einmal war alles so einfach und es stimmte überhauptnichts mehr, die Sprache kam wieder und mit der Sprachedas Stottern, und ich wusste nicht, was mir alles durchs Hirnfegte, und atmete auf und wurde <strong>von</strong> Bier und Schnaps und11


Ballons, die vor den stumpfgrauen Hauswänden zappelten,auf ungewohnte Weise benebelt,gelernt, den Blick zu senken, versuchte ich, den Gästen, diedie Gastgeber waren, in die Augen zu sehen durch teureDoktorbrillen, schwankend und misstrauisch und stolzunter Sonnenschirmen im März, bis ich mir nackt vorkamund arm und betrogen vor den schnellen Küssen und den<strong>Birnen</strong>geistflaschen mit leuchtenden Etiketten, und trotzdemerhoben und frei, und ermuntert <strong>von</strong> euch: kommt herund lasst den Kopf nicht hängen,so fingen wir langsam zu reden an und wurden lauter undsangen und tranken, weil das Redeverbot und das Schreiverbotund hundert andere Verbote weggeweht waren unddie Verbrecher endlich aus dem Amt gejagt und die Unfähigenund die Stasi und die Gauner, und ließen hochlebenden <strong>Ribbeck</strong> und seinen Birnbaum und den Fontane, derdas Dorf zum berühmtesten Dorf im Havelland gemachthat und plötzlich wieder zum Anziehungspunkt erweckt fürwildfremde Menschen, die Würstchen und <strong>Birnen</strong>schnapsund Kugelschreiber mitbringen, so spendet Segen nochimmerdie Hand, die hundert Hände, als gäbe es nur den Birnbaumhier und als wären wir die Statisten zum Birnbaum, Bauernund Büdner mit Feiergesicht, und trauerten dem <strong>Ribbeck</strong>nach wie Knechte, wie Kinder, und als wolltet ihr nichtmerken, dass wir längst nicht mehr Knechte sind, so wenig12


wie Herren, sondern bleiben wollten im Dorf und gebliebensind als Arbeiter und uns haben anschnauzen und drückenlassen und trotzdem das Land bewirtschaftet wie Bauern undhoch auf den Treckern morgens halb fünf durchs Havellandund die Äcker gepflügt, unsere Äcker und nicht die eines derHerren <strong>von</strong> <strong>Ribbeck</strong> auf <strong>Ribbeck</strong>, deren Erben den Namen<strong>Ribbeck</strong> schon wieder vor sich hertragen wie einen Freibriefund die Scheunen betreten und das Dorf vermessen mit herrischenSchritten, unter denen das Land bebt,wie andere, die sich in Bügelfaltenhosen und hellen Mäntelnbreitbeinig vor die Häuser stellen, mit gierigem Blickund blitzendem Zollstock über den Putz fahren und mitVideokamera aufzeichnen und mitnehmen, was wir hergerichtethaben zwanzig Jahre lang, für ein Brett eine Stundeangestanden, jeder Wasserhahn ertauscht, die Rohre überBeziehungen, die jahrelange Rennerei um Dachziegel, jedesWochenende gehämmert, gebessert, gestrichen, und Geldhineingesteckt, was nun gerissen taxiert wird <strong>von</strong> Anwältenoder denen, die Eigentümer sind oder waren oder sein wollen,drunter und drüber,als seien die Flüchtlinge wir, die geblieben sind und gesätund den Mist gefahren haben und den Fortschritt der Rissein der Decke beobachtet und die Dächer sinken sehen undgeträumt <strong>von</strong> den blauen Fliesen im <strong>Ribbeck</strong>’schen Pferdestall,bis wir schläfrig wurden unter den faulenden Wänden,und wenn die einen nicht weggerannt und die andernin den Städten nicht aufgestanden wären, blieben wir heute13


noch lebenslänglich mit Nichtbeachtung bestraft <strong>von</strong> euchwie <strong>von</strong> unseren Leuten, und ohne Aussicht auf blaue Fliesenim Bad, und hätten die Schnauze gehalten bis auf die Bahre,denn als die Fliesen im Pferdestall und die fehlenden Fliesenfürs Rad einmal Tagesordnungspunkt in der Versammlungwurden, schickte die Partei einen Mann mit Meißel undHammer, die Fliesen aus dem Stall zu schlagen, die allerKraft und allem Eisen widerstanden und darum überspachtelt,übermalt wurden mit Schlämmkreide, damit das Maulgestopft blieb und die Träume <strong>von</strong> blauen Fliesen für dieGäule des Gutsherrn Träume,als wüssten wir nicht, was alle wissen, dass auch der gnädigste<strong>Ribbeck</strong> kein Zauberer war, der Schlösser und Pferdeställeaus Kuhscheiße macht, sondern aus Bücklingenund Schweigen und gesenkten Blicken und Mützeziehn, bisalle aus der Hand ihm fraßen, und selbst den ergebenstenKutscher drückte und zähmte, wenn der nicht zentimetergenauauf der Auffahrt hielt, und ihn eine Strafrunde umsSchloss fahren ließ noch einmal zentimetergenau, damit dieDamen im gewohnten Schritt ihr Gefieder und die Herrenim gewohnten Schritt ihre Zylinder in die Kutsche hebenkonnten, eh es abging nach Nauen zum Zug nach Berlin,mit Peitschenknall ab ins heitere Holzgeschäft und ins preußischeGloria,ein Götterfunken, ein schmutziger, vorbei, und vor Freudewerden wieder die Türen geschlagen, die Türen der Omni-14


usse und Transporter mit Erbsensuppe und Bier undMatratzen für die Alten im Pflegeheim, weil ihr feiert, weilwir feiern, bis wir nicht wissen, wer ihr, wer wir, weil Mauernwie Kartenhäuser und alles zerbröselt, was du verfluchthast, wie im Märchen, und über dem Kopfsteinpflasterbricht eine andere Zeit auf, die im Galopp alles aufreißt undumwirft, das Vergangne wächst wieder hoch unterm Gras,endlich Leben in der Baracke, alles drunter und drüber wieschön, wie im Kopf voll <strong>Birnen</strong>geist, die Schlaglöcher endlichgestopft, die wogende Zeit des Geschäfts, und atemlosePolitiker sprechen vom Schlussstrich unter alle kalten Kriege,und ich schwanke mit dem neuen Geist im Kopf, denn dasschwerfällige Wir, das jahrzehntealte Wir, aus den Kellergewölbenans Licht geholt, löst sich auf an den Rändern, unddie Kiefermuskeln tun dem nicht mehr weh, der einmal lautich sagt,und wir oder du oder ich hätten erzählt oder nicht erzähltoder erst nach und nach erzählt, weil ich selber das lautereSprechen verlernt oder mir abgewöhnt hatte, und auf derStraße nicht lachte, wenn Fenster angelehnt waren, undimmer seltener in Kneipen trank, weil über jedem drittenBier einer Ohren machte, und selbst bei Familienfeiern inder Stube, wenn mehr als fünf, sechs Leute am Tisch, schondie Wörter abtrieb, weil unter uns einer sitzen könnte, einigekannte ich, aber nicht alle, man wusste schon, was man zusagen hatte,15


aber neulich erst kam es heraus: wer und wer nicht dieBerichte weitergab nach Nauen, Potsdam, Berlin, fünfzehnSpitzel auf fünfhundert Einwohner, für zweihundertfünfzigoder vierhundertfünfzig Mark extra gingen die verstocktenWörter, einmal aus unserm Kopf entlassen, vom Küchentisch,vom Biertisch, <strong>von</strong> der Versammlung, jeden <strong>Die</strong>nstagnach Nauen, Straße der Jugend, und dann weiter, eingefangen,getippt, zusammengeschnürt, ausgewertet, und nurdurch die Berichte unserer unvorsichtigen Sätze nahm manhöheren Ortes in Berlin Kenntnis <strong>von</strong> <strong>Ribbeck</strong> oder nichteinmal das,die Partei hätte ja auch mal an Birnbäume denken können,das Erbe, immer war vom Erbe die Rede und Fontanegebraucht als Namengeber für Reparaturbetriebe, LandwirtschaftlicheProduktionsgenossenschaften und Ausflugsdampfer,aber es sollte wohl nicht erinnert werden an denbegrabenen Adel, der vor der Partei regierte, weil die ParteiAngst hatte, verglichen zu werden mit den früheren Herren,denn ganz so schlecht wars beim <strong>Ribbeck</strong> ja auch nicht, zuviel Arbeit, zu wenig Geld, aber versorgt wie ein Tagelöhnermit Zackzack und Danke und Bitte und Untertan,trotzdem galt ein <strong>Ribbeck</strong> oder ein Gedanke an <strong>Ribbeck</strong>,der <strong>Birnen</strong> verteilt an die Kinder als wären es Goldstücke,für gefährlich wegen seiner Großzügigkeit, die vielleicht nureine Legende ist, als scheute die Partei den Vergleich mitdem alten <strong>Ribbeck</strong>, dem die Birne aus dem Grab gewachsenkam vor über zweihundert Jahren oder wann, falls die Sage16


nicht erfunden ist, und wollte ihm deshalb kein Denkmalsetzen in Form eines kräftigen Baums,als wüssten wir oder ihr nicht aus dem Gedicht oder ausdem Leben, dass nach jedem milden <strong>Ribbeck</strong> ein strengerkam, der knausert und spart, auch wenn sie alle Hans Georghießen und die gleiche Gewalt hatten als Polizist und Richterund Kirchenherr und Offizier und die Bauern, die für dieEntlassung aus der Leibeigenschaft den Herren Land abtretenmussten, weiter knechteten mit Hand- und Spanndienstenund Pfenniglohn, und was da leuchtete, waren einzig die<strong>Birnen</strong> weit und breit,oder als wüssten wir nichts vom Wechsel, wie die Jungen altwerden, die Guten ein Schrecken und Gauner zu Gebern,und die Jahre aufgehn und ab, und der <strong>Ribbeck</strong> zum Teufelwird, wenn Kinder einen Fuß ihm aufs Gelände stellten,Park und Birnbaum strenge verwahrt, und doch <strong>von</strong> <strong>Birnen</strong>nichts wissen wollte, der Husar mit seinem Pferdestolz undReitbahn vorm Haus und Pferdezucht fürs Militär,und wenn einmal Gänse oder Hühner auf eins seiner Felderliefen, die Gans kannst du ja nicht festhalten, die bestenFelder ums Dorf natürlich seine Felder, dann sprang er aufsPferd oder nahm das Gespann und hat nicht gefackelt, derBandit, und die Tiere abgeknallt, und wir aßen wie die Herrschaftenmitten in der Woche Hühnersuppe oder Gänsebratenmit Schrotkugeln,17


auch das haben du oder ich mit dem leeren Schnapsglas inder Hand nicht sagen können, weil wir selbst schon nichtmehr wissen wollten, was für ein Schlachtfeld das Dorf war,wo Knochen geschunden und Gräuel gut möbliert undjede Generation die Bisse ins Fleisch gespürt und nur dieSchärfe der Zähne die Abwechslung war alle paar Jahrzehnte,die Bisse des Herrn <strong>von</strong> <strong>Ribbeck</strong> ins Fleisch der Bräute, dieBisse des Herrn in die Nacken der Söhne, <strong>von</strong> denen einigeseine Söhne waren, bis sie sich beugten <strong>von</strong> allein und gernebeugten am Ende, am Abend, und die Pfeifen anstecktenauf Bänken sitzend vor der Haustür, müde in der goldenenHerbsteszeit,die Bänke habt ihr mitgebracht aus Berlin, komm, setz dich,das Fest geht noch lang, niemand wird müde heute, Hähnekrähen, Vögel zwitschern im Frühling schon wie im Sommer,was für eine Wärme fällt über uns her, das Jahr wird nochlang, und abends schreien die Kühe, weil sie mehr Platzbrauchen, keiner kauft uns das Vieh ab, zwischen welcheZeiten sind wir geraten, zwischen oben und unten auf eurenBänken, und alles so schnell, dass du gar nicht mehr mitdenkenkannst, was macht der da hinten, ein Tonbandgerät,na gut, die Stasi ist weg und abgetaucht,jetzt kommen sie alle nach <strong>Ribbeck</strong>, die Journalisten, undwechseln die Batterien und fragen und fallen zurück in daswarme Entsetzen ihrer dörflichen Kindheit und suchen diemilden Großväter in der Figur des alten <strong>Ribbeck</strong>, und liebendie Zeit, die es nie gegeben hat, die gute alte,18


als ein <strong>Ribbeck</strong> berühmt werden konnte, weil er außer seinemSamen und dem Kontingent an Schlägen, Kartoffelnund Weizen aus reiner Freundlichkeit <strong>Birnen</strong> austeilte anKinder, an seine Kinder, die nicht mit ihm das Tischgebetsprachen und keine Aussicht hatten auf ein weißes Federbettim Schloss und auf Erbschaft, ein Dorf mit Wald, Ziegelei,Brennerei, Sägewerk, Meierei, Jagdschloss unterm märkischenHimmel mit einem Gott, der in Potsdam die schönstenTreppen hatte, zur Erde hinabzusteigen,und die Kinder mit <strong>Birnen</strong> abgespeist, begleitet vom Schnatternder Gänse, durch die Pfützen in weißer flatternder Fluchtvor dem Messer, die langen gereckten Hälse, da hat einer vielPlatz, das Messer anzusetzen, weil Federn gebraucht wurdenund Braten, und die Jahre gingen auf und ab, mal blutiger,mal unblutiger, alle Gutsherren soldatisch geschult auf derRitterakademie und oft jung gestorben, die Witwen übernahmendas Regiment in <strong>Ribbeck</strong> und kämpften darum, alsgütig und christlich zu gelten,und aus den hohen Türen des Schlosses traten die schöneren,die wenig geschlagenen, die nicht <strong>von</strong> Arbeit verunziertenTöchter und sahen zu, wie der Stahlhelm Bund der Frontsoldatendie Weltkriegshelden stramm feierte mit «Großer Gottwir loben dich», und immer die Gänse laut im Hintergrund,und <strong>Ribbeck</strong> auf <strong>Ribbeck</strong> im Havelland schwarz uniformiertvornweg zog die Linie vom Schlachtfeld Langemarck zumSchlachtfeld <strong>Ribbeck</strong>, und Bauern und Büdner des ganzenDorfes ihm nach in den Stahlhelm und waren endlich Kame-19


aden, und einen besseren fanden sie nicht, bis sie wiederhinauszogen in festem Uniformtuch und sich wieder denKugeln aussetzten und fluchend fragten, wem die Kugel galt,bis sie nicht mehr fragen konnten, mir oder dir,ein <strong>Ribbeck</strong>sohn Gutsherr, ein <strong>Ribbeck</strong>sohn Krieger, undoft beide in einem Herrn vereint und pünktlich einanderabgelöst, als hätten sie einen Pakt mit dem ewigen Leben seitsiebenhundertfünfzig Jahren, immer wieder auferstandenmit dem Vornamen Hans Georg, immer wieder der stolzgestreckte Arm weit übers Land, wie jetzt, wo sie uns leicht700 Hektar wegnehmen könnten, die sie zu welchen Teilenunsern Vorfahren Morgen um Morgen abgezwungen habenüber die Zeiten oder gekauft oder im Spiel gewonnen, verschleudertwird alles jetzt, und jeder kann uns übers Ohr,ja, noch einen <strong>Birnen</strong>geist, Einigkeit, prost!, schön, dassihr hier seid und das Dorf lebendig wie nie, fünfhundert,achthundert Leute, und trotzdem steigen die Toten auf undziehen vorbei, denn die Rätsel des Dorfs bleiben die schreiendenToten, die Frau mit dem Kind eingemauert in derKirchmauer lebendig, schon als Schüler starrte ich auf diekrummen Buchstaben und versuchte zu lesen, ob die Frauwirklich, weil sie ehelos heimlich ein Kind geboren hatte,hinter den bleichen Stein gesperrt wurde,was früher war, schiebt der Landwind heran, siebt durchdie Pappeln und Linden die alten Geschichten, und überallkannst du es flüstern hören, geflüstert die Schreie der bren-20


nenden Deserteure im Wald unterm verwitterten Holzkreuzauf dem Friedhof, und leise die Schreie der Frau, die sich ausdem Pflegeheim stürzte, weil vor den Zellen da oben kommandiertwurde, bis die Alten stumm oder verrückt wurdenoder die Flucht suchten in den Armen der Engel <strong>von</strong> gestern,weshalb die oberen Fenster des Hauses, das früher dasSchloss war, vergittert sind,da hinten sitzt der Dachdecker, der vom Gerüst klatschte, alsdas Dach der Kirche gedeckt wurde, damit sie nicht völligverfiel und ihr sie jetzt bestaunen und fotografieren könntmit dem Birnbaum davor, den wir gepflanzt haben zwischendie vermoderten Wurzeln über den Knochen des Lesebuch-<strong>Ribbeck</strong>, falls ihr mal da hin schaut, da drüben,aber niemand will wissen, was es schon gibt oder gab, alsfinge die Welt ganz <strong>von</strong> vorn an da, wo man Sonnenschirmeeinpflanzt und Appetit auf <strong>Birnen</strong>geist macht und Würstchen,als hättet ihr vergessen zu fragen, was vor der Gegenwartwar und nach der Gegenwart kommt, denn das Glockenspiel<strong>von</strong> Treu und Redlichkeit hat nie gespielt unterden wechselnden Birnbäumen, hat nicht gespielt für dieMädchen, die sich in Nauen den Soldaten des Kaisers, desFührers, der Roten Armee anboten und für das Offenhaltendes Geschlechtsteils, anders als die Urgroßmütter unter<strong>Ribbeck</strong>, Geld einsteckten, und nicht gespielt für die Jungen,die den Greisen aus dem Politbüro die toten Hasen vor dieFlinte legten und trotzdem nicht jubelten bei dem Gedankenan die Urgroßväter, die sich auf Befehl <strong>von</strong> uniformierten21


Greisen mit Hurra und dem Fluch aufs Hurra abschießenließen, und so geht es drunter undda kommen die Sonnenmenschen aus den Sonnenstudiosund bringen mit dem neuen Birnbaum Bänke, Schirme,Kaffee und Bier <strong>von</strong> transportablen Theken und feiern mitden <strong>Ribbeck</strong>ern den guten <strong>Ribbeck</strong> und spielen selber denguten <strong>Ribbeck</strong> mit Ballons und Kugelschreibern und Fassbrause,und die Alten und Behinderten im Heim, das sichSchloss Havelland nennt, kriegen neue Herde und Deckenund dürfen endlich <strong>von</strong> Porzellangeschirr essen und das Plastegeschirrzum Schrott in den Keller, auf den Feldern sammelndie Frauen der russischen Soldaten Steine, wer hättegedacht, dass die feindselige Zeit so friedlich sich auflöst, setzdich her,nie wieder werden die Kinder so dankbar sein, endlichbeschenkt ohne Fahnenappell und Stillsitzen und Angst vorden steifen Hoheiten an den Wänden der Klassenzimmerund Direktorenzimmer und vor den Lehrern, die in diePapierköpfe hineingekrochen waren, um unfehlbar zu seinund immer das letzte Wort zu haben gegen die Neunjährigenund gegen alle, bis die papiernen hohen Heiligen plötzlichdirekt in die Hölle fuhren und auferstanden als Teufel, dieangespuckt werden dürfen oder versteckt, um nicht angespucktzu werden,die Kinder, die jetzt ohne Visum den Zugang haben zumTraumland vom ewigen Lächelglück, ohne Sehnsucht nach22

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