Untitled - Literaturzirkel
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★ TARAS<br />
Moskau, Februar 2001<br />
»Es liegt an der Beleuchtung«, beruhigt er sich selbst. »Die gruslige<br />
Beleuchtung ist der Grund.« Die Fliesen unterhalb der Leuchtstoffröhre<br />
glänzen. Im künstlichen blauen Schimmer, der den<br />
Raum erfüllt, wirkt sein Spiegelbild bleich, die Sommersprossen<br />
wirken wie abgewaschen. Taras steht am Ausguss und weiß nicht<br />
recht, was er mit seinen Händen anfangen soll.<br />
Der Raum ist schraffiert mit den Schatten der riesigen restlichen<br />
Neonlettern von LFA-BANK auf dem Dach des gegenüberliegenden<br />
Gebäudes.<br />
Da außer ihm niemand im Waschraum ist, kann Taras in aller<br />
Ruhe sein Spiegelbild betrachten, während er sich gründlich die<br />
Hände schrubbt: totenblasser Teint, schwarzer Schatten auf der<br />
Unterlippe. Die Oberlippe verschwindet unter einem dünnen<br />
Streifen weizengelben Bartwuchses. Sieht er mit Schnurrbart tatsächlich<br />
älter aus, wie seine Vermieterin behauptet? Und was<br />
meinte sie mit »älter«? Reif und distinguiert – oder verhärmt und<br />
abgezehrt?<br />
Taras studiert sein Gesicht, ob irgendetwas auf die heutige Entdeckung<br />
hindeutet – eine Spur, ein verstecktes Lächeln –, aber aus<br />
dem Spiegel starrt ihm nur stumpf diese blasse Maske entgegen.<br />
So müde kann er doch nicht sein? »Es liegt eindeutig an der Beleuchtung«,<br />
sagt er sich. Tja, und die Hände. »Ich wasche sie mir<br />
heute erst zum fünften Mal – ziemlicher Fortschritt im Vergleich<br />
zu gestern«, er registriert das ganz objektiv, wie ein Nachhilfelehrer,<br />
der zu einem nicht besonders begabten Schüler spricht.<br />
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