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Spielzeitheft 2010/11 - Armin Kerber

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Volles Risiko<br />

von Dirk Baecker<br />

Wir machen es uns selbst. Und anschliessend<br />

will es wieder niemand gewesen sein. Sätze wie diese<br />

gehören zum Grundwortschatz der Kultur- und<br />

Sozialtheorie. Giambattista Vico, der den Menschen<br />

zum Herrn der Geschichte machte, als er 1744 eine<br />

„neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur<br />

der Nationen“ ausrief, brachte die zentrale Einsicht<br />

auf den Punkt, indem er schrieb, dass der Wille<br />

des Menschen frei sei, aber auch schwach. Zweihundert<br />

Jahre später und zielsicher im Jahr 1969<br />

formulierte Niklas Luhmann in seinen Überlegungen<br />

zum Zusammenhang von „Komplexität und Demokratie“<br />

eines seiner erfolgreichsten Bonmots: „Alles<br />

könnte anders sein – und fast nichts kann ich ändern.“<br />

Politische Ideologien haben sich in der Regel<br />

auf eine der beiden Hälften dieser Einsicht konzentriert.<br />

Progressive Ideologien halten daran fest,<br />

dass wir alles und alles sofort ändern können. Konservative<br />

Ideologien bestehen darauf, dass wir nichts<br />

ändern können und dass das auch gut so sei.<br />

Nur die liberale Ideologie nimmt beide Hälften der<br />

Einsicht ernst. In einer ihrer Formulierungen bei<br />

Friedrich August von Hayek heisst es, der Individualismus<br />

sei deshalb eine „Theorie der Gesellschaft“,<br />

weil hier beschrieben werde, dass das Individuum<br />

ermächtigt sei, auf eigene Kosten jede Art von Fehler<br />

zu begehen, da der Rest der Gesellschaft bereit<br />

stünde, diesen Fehler zu korrigieren und unschädlich<br />

zu machen.<br />

Hayek hat wie jeder andere Liberale seither freilich<br />

nicht damit gerechnet, dass die Individuen sich zu<br />

Organisationen zusammenschliessen können und<br />

dann Fehler einer Grössenordnung begehen können,<br />

die niemand korrigieren kann. Daraus erklärt sich<br />

die Aversion der Liberalen gegen den Staat und<br />

die Konzerne. Die Welt ist nur gut, solange es Einzelne<br />

sind, die für den Markt produzieren und vom<br />

Markt korrigiert werden und sich nirgendwo anders<br />

als auf dem Marktplatz auf die Grundlinien einer<br />

möglichen Politik verständigen. Man erkennt das<br />

antike Ideal der Polis, das sich als Ideal politischer<br />

Selbstverantwortung nicht nur bei den Liberalen,<br />

sondern, lässt man Einsichten in die Notwendigkeit<br />

wirtschaftlichen Handelns beiseite, auch bei den<br />

Progressiven und ihrem Traum vom „herrschaftsfreien<br />

Diskurs der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas),<br />

das heisst der Korrektur jeder Meinung durch<br />

die Meinung aller anderen, erhalten hat.<br />

Es gibt jedoch nicht nur politische Ideologien,<br />

die aus der Einsicht in die zwar vorhandene, aber<br />

begrenzte Reichweite menschlichen Handelns ihren<br />

je unterschiedlichen Honig gesaugt haben, sondern<br />

auch, wenn man so will, private, wenn nicht<br />

sogar pragmatische Ideologien, die hier die Chance<br />

entdecken, die Schäfchen eines individuellen<br />

Glücks ins Trockene zu bringen. Was spricht dagegen,<br />

so fragt man hier, aus der begrenzten Reichweite<br />

des eigenen Handelns ein Maximum an Gewinn,<br />

Spass und Lust zu ziehen und für alle unerfreulichen<br />

Nebenwirkungen die immer unbestimmten Kollektive<br />

verantwortlich zu machen? Man macht es sich<br />

selbst, ist es aber nicht gewesen. Das reicht vom kleinen<br />

und grossen Hedonismus des Alltags, mittels<br />

dessen die Menschen sich der zunächst für unverplanbar<br />

gehaltenen Freiheit ihres Lebens vergewissern<br />

(Herbert Marcuse), bis zum grossen Mitmachen<br />

in Behörden und Betrieben, Kirchen und Armeen,<br />

Schulen und Theatern, in denen jeder nach besten<br />

Kräften und Gewissen seine Entscheidungen<br />

trifft und doch das Ergebnis nichts anderes als die<br />

„organisierte Unverantwortlichkeit“ (Ulrich Beck) ist,<br />

mit der sich niemand identifizieren kann und will.<br />

Hat man, sofern man akademisch gebildet ist,<br />

genügend Einsicht in die Verhältnisse, beziehungsweise<br />

keine Möglichkeit mehr, diese zu leugnen, kann<br />

man dieses unbekümmerte Dabeisein durch ein<br />

bekümmertes Dagegensein abrunden, wie Luhmann<br />

in seinen „Anregungen zu einem Nachruf auf die<br />

Bundesrepublik“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung,<br />

22. August 1990) mit bösem Witz festgestellt hat.<br />

So sind wir alle gute Kantianer, gute Hegelianer und<br />

gute Liberale gleichzeitig geworden: Wir haben<br />

unseren Begriff von der Freiheit des Subjekts, unsere<br />

Einsicht in die unbefriedigende Allgemeinheit der<br />

Verhältnisse und auch unseren Optimismus, in<br />

der bestmöglichen aller schlechten Welten zu leben.<br />

Fast sind wir so weit, diese unbefriedigende Allgemeinheit<br />

als Ersatzfigur für jene höheren Mächte<br />

ins Feld zu führen, denen wir uns irdisch und<br />

himmlisch einst verantwortlich fühlten und die immer<br />

dafür gut waren, uns zu einer noch etwas grösseren<br />

Anstrengung aufzufordern. „Un petit effort“,<br />

fordert Edith Piaf in ihrem Lied „Milord“ jenen<br />

Mann auf, den sie gestern noch mit einer Frau gesehen<br />

hat, so schön, dass einem kalt ums Herz wurde,<br />

der nun weinend an ihrem Tisch sitzt und den sie<br />

einlädt, wieder zu lachen: „Souriez-moi, Milord! / …<br />

Mieux que ça! Un petit effort … / Voilà, c'est ça!<br />

Allez, riez, Milord! / Allez, chantez, Milord! La-la-la …“<br />

Und diese Welt sollen wir hinter uns haben?<br />

Wer erzählt uns, dass diese doch nicht unkomfortable<br />

Balance von Glück und Unglück, von individueller<br />

Lust und, sagen wir: kollektiver Suboptimalität nicht<br />

mehr funktioniert? Wer sagt uns, dass wir in einer<br />

Risikogesellschaft leben, in der nicht mehr nur<br />

die anderen, sondern wir alle die Risiken produzieren,<br />

von denen wir schon lange nicht mehr wissen, ob<br />

wir sie beherrschen? Wer sind diese Spielverderber,<br />

die uns zu einer Verantwortung auffordern, von<br />

der wir nur wissen, dass wir sie nicht tragen können?<br />

Wer setzt jeden von uns gleich mit jenem Flügelschlag<br />

eines Schmetterlings, der Tausende von Kilometern<br />

entfernt einen Sturm auslösen kann? In welches<br />

ökologische Gespinst werden wir hier verwoben, in<br />

welches angeblich so deterministische Chaos geworfen,<br />

in welche Komplexität verwickelt?<br />

Wir machen es uns selbst? Aber was? Was machen<br />

wir uns selbst?<br />

In der Stammesgesellschaft wussten wir, dass<br />

es die Geister sind, die uns übel mitspielen, und dass<br />

wir aufpassen müssen, dass unsere eigenen Mitmenschen<br />

sich nicht mit ihnen verbünden. In der<br />

Antike hatte man allenfalls das Schicksal gegen sich<br />

und gegenüber diesem war man wohltuend machtlos.<br />

In der modernen Gesellschaft hatte man so oder<br />

so nur die Chance, mithilfe von Vermögen, Bildung<br />

und guten Freunden so einigermassen das individuelle<br />

Gleichgewicht zu wahren. Aber was gilt für uns,<br />

die wir nicht mehr in der modernen, sondern in<br />

der nächsten Gesellschaft leben, die mit der Elektrizität,<br />

der Atomkraft und den Computern eingesetzt<br />

hat? Jeder von uns bald sieben Milliarden Menschen<br />

ist Teil eines planetarischen Zusammenhangs, von<br />

dem niemand weiss, wie lange er noch hält.<br />

Martin Heidegger hat über die Frage, was für uns<br />

heute gilt, so intensiv nachgedacht wie kaum ein<br />

anderer. Und er hat zwei Antworten gefunden,<br />

eine dringliche und eine ebenso vorläufige wie unzureichende,<br />

so die eigene Einschätzung. Die dringliche<br />

Antwort ist, dass wir einen „Schritt zurück“<br />

machen müssen, um uns der ontologischen und der<br />

theologischen Voraussetzungen unseres Denkens<br />

bewusst zu werden, unseres Glaubens an die Einheit<br />

des Seins und die Präsenz eines Höchsten. Denn<br />

dieser doppelt gesicherte Glaube hindert uns daran,<br />

die Schwebe einzugestehen, in die wir unsere Welt<br />

gebaut haben. Die vorläufige und unzureichende<br />

Antwort ist, das Schwierigste sei die Sprache selbst,<br />

die immer noch dort von der Einheit eines Seins,<br />

von einem „ist“ spricht, wo wir längst Gründe genug<br />

haben, auf Relationen, Differenzen und Netze,<br />

eben diesen „schwebenden Bau“, zu achten.<br />

Was also können wir uns wirklich selber machen?<br />

Nur die Sprache. Für sie uns verantwortlich zu<br />

zeigen, ist möglicherweise in dieser komplexen Welt<br />

Verantwortung genug. Und von der Sprache, die<br />

wir sprechen, können wir hinterher nicht sagen, wir<br />

seien es nicht gewesen. Das ist doch schon einmal<br />

etwas. Ärzte sagen, man könne überall etwas für seine<br />

Fitness tun, indem man jede Gelegenheit nutze, auf<br />

einem Bein zu stehen und so seinen Körper trainiere,<br />

die Kraft aufzubringen, sich im Gleichgewicht zu<br />

halten. Kulturtheoretiker können sagen, man könne<br />

überall immerhin auf seine Worte achten, sich in<br />

einem Reden üben, das Wahrnehmung, Gespräch<br />

und Verantwortung so weit wie möglich zur Deckung<br />

bringe. Das gilt in Behörden und Betrieben, in<br />

Kirchen und Armeen, in Schulen und in Krankenhäusern.<br />

Es gilt jedoch, da man alles erst einmal<br />

gesehen und geübt haben muss, vor allem in Theatern<br />

und in Universitäten.<br />

Das Universitätsseminar ist trotz aller neueren<br />

Hingabe auch der Universitäten an die Anforderungen<br />

eines internationalen Marketings immer noch der<br />

Ort, wo man es üben kann, auf seine Worte zu achten<br />

und seine Begriffe zu setzen, wo man lernen kann,<br />

dass einem auch die eigenen Worte, von den Begriffen<br />

zu schweigen, nicht gehören, und man daher immer<br />

in der Situation ist, mit seiner Wortwahl Entscheidungen<br />

zu treffen, die über Verwicklungen und über<br />

die Art und Weise, wie man mit ihnen umgeht, Auskunft<br />

geben. Studenten merken das sehr schnell.<br />

Deshalb fangen sie an zu schweigen. Und tun dies sehr<br />

bewusst. Ihr Studium kann als abgeschlossen gelten,<br />

wenn sie aus diesem Schweigen heraus zu Worten<br />

finden, die sie jetzt erst und im Bewusstsein einer<br />

Wahl, die nie ganz die ihre ist, zu setzen wissen.<br />

Wer keine Gelegenheit hat, dies in Schule und<br />

Universität zu üben, kann es im Theater und im Kino<br />

immerhin erleben. Das Schwierige der Sprache wird<br />

hier laufend Ereignis. Man muss nur hinschauen.<br />

Noch die scheinbar dümmste Sitcom im Fernsehen,<br />

in jedem Moment mehr „situation“ als „comedy“,<br />

profitiert von dieser Schwierigkeit und fasziniert ihr<br />

Publikum damit, wie souverän sie eingestanden,<br />

umspielt und übersprungen wird. Heideggers Hören<br />

auf das Sein mag nicht jedermanns Sache sein.<br />

Aber ein Hören auf die Sprache und ein Üben der<br />

Sprache steht uns allen zur Verfügung.<br />

Dirk Baecker ist Professor für Kulturtheorie und<br />

-analyse an der Zeppelin University in Friedrichshafen<br />

am Bodensee.<br />

Die unerschöpfliche Stimme<br />

aus dem Off<br />

von Jürg Halter<br />

Sehr geehrte Damen und Herren, wenn ich doch<br />

bitten darf: Bitte schön. Nur zu. Nehmen Sie Platz.<br />

Mindestens, was Ihren Körper betrifft. Geistig sollten<br />

Sie schon standhaft bleiben. Wie heisst das noch<br />

gleich? Haltung bewahren. Sonst entgeht Ihnen noch,<br />

was sich auf dieser Bühne gleich ereignen wird.<br />

Nun, ich bin nicht mehr als die Stimme aus dem Off. –<br />

Immerhin, wie ich feststelle, Sie haben sich auf<br />

mein Geheiss hin niedergelassen.<br />

Ja, was haben wir denn da? Jemand hat seine<br />

Beine unverschämt locker übereinander geschlagen,<br />

dreht sein Weinglas in den Händen und denkt sich<br />

nichts dabei, ja, denkt sich nichts dabei. Schön<br />

und gut. Jemand beisst sich auf die Lippen, um sich<br />

augenblicklich selbst in Erinnerung zu rufen. Schwierig.<br />

Jemand spielt mit seinen Haaren. Doch etwas<br />

kindisch. Jemand schaltet sein Telefon auf lautlos.<br />

Ach, wie beflissen. Überhaupt: Was soll man da noch<br />

sagen, ob all dieser mehr oder weniger grimassierenden<br />

Gesichter, die sich hier, ich muss das schon<br />

erwähnen, freiwillig eingefunden haben? Jemand<br />

blickt auf seine Uhr. „Erst oder schon?“, möchte

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