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Spielzeitheft 2010/11 - Armin Kerber

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einen „Barbier von Sevilla“ von Ruth Berghaus,<br />

seit der Premiere von 1968 wohl in der x-ten Besetzung.<br />

Und in Zürich erinnert man sich noch gut<br />

an Christoph Schlingensiefs Hamlet-Beschwörung.<br />

Aber Schlingensiefs Arbeit mit den zu resozialisierenden<br />

Neo-Nazis bleibt stärker im Gedächtnis als der<br />

Versuch – am selben Abend – der Rekonstruktion<br />

einer historischen Aufführung mit Gustaf Gründgens.<br />

Dem Theater fehlt die Kulturtechnik des<br />

Museums. Wie man Geschichte ausstellt, und dafür<br />

auch mal rekonstruiert und wiederaufführt.<br />

Lustigerweise hat der Kunstbetrieb, fern jeden Spiesserverdachts,<br />

damit keine Mühe. Die mittlerweile<br />

historische Gattung der Performance feiert seit etwa<br />

zwei Jahren eine weltweite Renaissance. Nicht in<br />

Theatern, sondern in renommierten Museen und<br />

Kunsthallen. Marina Abramovic ´ führt Arbeiten aus<br />

den Sechziger- oder Siebzigerjahren wieder auf,<br />

als sei nichts geschehen. Und die Berlin Biennale für<br />

zeitgenössische Kunst hat in diesem Sommer alte<br />

Aktionen von toten Fluxus-Künstlern mit jungen<br />

Performances kurzgeschlossen. Das Publikum trug<br />

enge Jeans, coole Brillen und sass andächtig im<br />

Rund. Niemand schimpft das urbane Publikum in<br />

Manchester, New York oder Berlin einen verbohrten<br />

Abonnenten. Keiner kommt auf die Idee, diese<br />

Geisterstunden konservativ zu finden. Das Theater<br />

muss diesen Kulturkampf zwischen alt und neu<br />

einen Moment ruhen lassen, um seine Geschichte<br />

besser erkennen zu können. Alles, was es dazu<br />

braucht, ist Zeit. Und den Mut, sich mit sich selbst<br />

zu beschäftigen.<br />

„And you don’t understand cause<br />

it’s bigger than you”<br />

von Carl Hegemann*<br />

Für mich war es ein starkes Bildungserlebnis während<br />

meines Studiums, übrigens vermittelt über<br />

die fortgeschrittenste amerikanische Soziologie in<br />

Kalifornien, die Ethnomethodologie, zu erfahren,<br />

was so ein Satz bedeutet, wie er in den Spätschriften<br />

Nietzsches steht: „Nicht dass etwas wahr ist, ist<br />

nötig, sondern dass wir etwas für wahr halten.“ Und<br />

als Steigerung dieser Satz, der eine direkte Einflugschneise<br />

in den unendlichen Regress, in den<br />

Nihilismus ermöglicht: „Die wahre Welt haben wir<br />

abgeschafft, welche Welt bleibt übrig? Die Scheinbare<br />

vielleicht?“ Nun könnte man sich vielleicht schon<br />

beruhigen und sagen: „Na gut, dann leben wir eben im<br />

Schein, im Reich des Ästhetischen.“ Aber Nietzsche<br />

folgert: „Mit der wahren Welt haben wir auch die<br />

scheinbare abgeschafft.“ Die scheinbare Welt gibt es<br />

nur, wenn man auch eine wahre Welt hypostasiert,<br />

die vom Schein überlagert ist. Hier liegt das entscheidende<br />

Problem: Wenn die wahre Welt abgeschafft<br />

ist und die scheinbare auch, dann bleibt nur noch eine<br />

mögliche Welt übrig und das ist die Welt des Theaters,<br />

die jenseits von wahrer und scheinbarer Welt<br />

angesiedelt ist und die Dichotomie ausser Kraft setzt,<br />

weil sie weder Wahrheit zu sein beansprucht, noch<br />

im Schein aufgeht. Meine Entscheidung, zum Theater<br />

zu gehen, könnte ich etwas zugespitzt sagen, war das<br />

Resultat von Nietzsches Kantkritik. ( … )<br />

Weder die physikalischen Gesetze, noch die<br />

moralischen Gesetze der Menschen spielen im Kunstwerk<br />

eine Rolle. Sie spielen zwar in der wirklichen<br />

Welt immer eine Rolle, auch bei der Herstellung eines<br />

Kunstwerks, aber das Kunstwerk selbst ist per<br />

definitionem durch seinen Rahmen als Kunstwerk<br />

davon frei. Deshalb hat man sogar schon in der Antike<br />

für die Tragödien Flugmaschinen gebaut, mit denen<br />

die Götter einfliegen konnten. Damit wollte man<br />

sagen: „Die Kunst besteht darin so zu tun, als sei sie<br />

unabhängig von den Naturgesetzen!“ Und deshalb<br />

kann man auch im Theater die schlimmsten Verbrechen<br />

zeigen, ohne behelligt zu werden und damit<br />

demonstrieren, dass im Rahmen der Kunst auch die<br />

menschlichen Gesetze ausser Kraft gesetzt sind. ( … )<br />

Ich will nicht so weit gehen, wie mein Freund<br />

Boris Groys, der auf die Frage: „Warum verlieben sich<br />

Leute?“, sagt: „Weil sie es irgendwo gelesen oder<br />

einen Film im Kino gesehen haben.“ Aber nichtsdestoweniger<br />

macht diese Antwort deutlich, dass es da<br />

Relationen und Wirkungen gibt. Allerdings muss man<br />

auch sagen: Man erkauft sich diese Freiheit, im<br />

Theater beispielsweise radikal revolutionär zu sein,<br />

dadurch, dass diese Revolution nicht auf die Strasse<br />

gelangt. Und das ist ein Defizit der freien Kunstausübung,<br />

das man empfindet: die Ahnung einer<br />

vollkommenen Vergeblichkeit. Es gibt eine frühe<br />

Äusserung von Schleef, da sagt er etwa: Das Theater<br />

heutzutage hat den Nachteil, dass es so ist wie<br />

der Film, dass diese Absperrung, also diese berühmte<br />

vierte Wand so dicht ist, dass die leibhaftig auf<br />

der Bühne anwesenden Menschen überhaupt nicht<br />

mit dem Publikum in Kontakt treten. Schleef<br />

wollte dem eine andere Form von Theater entgegensetzen:<br />

Theater als Akt der Begegnung. Die Schauspieler<br />

sollen das Publikum direkt angucken, es muss<br />

einen direkten Kontakt geben und es muss gefährlich<br />

werden. Schleef vergleicht das Theater mit dem<br />

Zirkus. Wenn die Schauspieler so wie die Tiger wären,<br />

die Königstiger, dann sind sie allerdings immer im<br />

Käfig und hinter Gittern und die Zuschauer haben die<br />

Möglichkeit, ein Gefühl des Erhabenen im Angesicht<br />

dieser gefährlichen Grosskatzen zu entwickeln. Aber<br />

es gibt die Möglichkeit, sagt Schleef, auch wenn es nur<br />

selten passiert, dass sie nicht nur an die Gitter, sondern<br />

über die Gitter springen. Das ist für Schleef<br />

„der grosse Akt, selbst wenn man ihm zum Opfer fällt.“<br />

Das ist einer der Gründe, warum uns Zirkus und<br />

Tierdressur faszinieren: Weil immer die Möglichkeit<br />

besteht, dass sie über die Rampe beziehungsweise<br />

aus dem Käfig springen. Schleef nennt als Beispiel<br />

auch Pamplona, wo die Stiere Menschen gefährdend<br />

durch die Strassen laufen. Das bringt eine ganz<br />

andere Intensität mit sich als sie in unserem komischen,<br />

literarischen Theater zu finden ist. Odo<br />

Marquardt hat mit seiner Theorie der Entfiktionalisierung<br />

möglicherweise dem Theater eine ähnliche<br />

Aufgabe zugeschrieben. Dieser folgend könnte<br />

man sowohl für Schleef als auch für Schlingensief<br />

sagen: Wenn schon alles Theater ist, wenn wir schon<br />

die wahre Welt abgeschafft haben und damit auch<br />

die Welt des Scheins und dann „alles Theater“ ist, das<br />

heisst ein referenzloser, ästhetischer Vorgang, dann<br />

ist ausgerechnet das Theater der Ort, in dem die<br />

Fiktion keinen Platz mehr hat und in dem Schauspieler<br />

nicht als Produzenten des ästhetischen Scheins<br />

dastehen, sondern als Akteure von Vorgängen.<br />

Das heisst: Wenn Sie als Zuschauer im Burgtheater<br />

einen Blumentopf an den Kopf kriegen, dann sind<br />

Sie Opfer eines solchen realen Vorgangs geworden.<br />

Das ist ja in einer Schlingensief-Inszenierung wirklich<br />

passiert, dass ein Zuschauer am Kopf getroffen worden<br />

ist. Normalerweise würde man immer sagen, dass<br />

es sich dabei um einen Unfall gehandelt hat.<br />

Ich kann Ihnen auch verraten, dass es wirklich<br />

einer war. Aber angesichts der Entfiktionalisierung<br />

des Schlingensiefschen Theaters wurde es von<br />

vielen Zuschauern nicht als Unfall wahrgenommen,<br />

sondern als etwas, das mit Absicht und Billigung<br />

der Künstler in Kauf genommen wurde. So kann man<br />

vielleicht die Brisanz oder den Reiz dieser Art von<br />

Theater illustrieren, dem es an Konsequenz gegenüber<br />

dem Schiller-Diktum, das nur den ästhetischen<br />

Schein erlaubt, fehlt. ( … )<br />

Ich habe mal gesagt, dass das Theater von Schleef<br />

und Schlingensief versucht, über Brecht hinauszukommen,<br />

während das ganze restliche Theater schön<br />

brav, mit Brecht an der Spitze im übrigen, wieder<br />

hinter Brecht zurückfällt. Was heisst das? Brecht hat<br />

damals eine revolutionäre Theorie für ein modernes<br />

Theater entwickelt, durch die wirklich etwas Neues in<br />

die Welt des Theaters gekommen ist. Die Illusion<br />

oder das, was gespielt wird, war plötzlich nicht mehr<br />

so wichtig, sondern eben das, was gezeigt wird. Das<br />

heisst, dass die Schauspieler auf der Bühne stehen<br />

und sagen: „Mit Hilfe der Möglichkeiten des Theaterspiels<br />

wollen wir Ihnen heute etwas zeigen, und Sie<br />

sollen sich ein Urteil darüber bilden.“<br />

Das führte zumindest in der Theorie dazu, dass<br />

die Virtuosität und die Qualität des Schauspielers<br />

überhaupt keine Rolle mehr spielten, sondern nur<br />

noch das, was er in der Birne hatte, dass er ein Problembewusstsein<br />

besass, das er anderen Leuten<br />

mit Händen und Füssen mitteilen oder beibringen<br />

wollte. Deshalb mussten sie dann alle „Das Kapital“<br />

lesen und Marx-Schulungen machen. Aber diese<br />

wirklich revolutionäre Theatertheorie, die auf<br />

Illusionsbildung und entsprechende Figurengestaltung<br />

verzichtetet, die hat schon bei Brecht selbst<br />

nicht geklappt.<br />

Heiner Müller hat das an seinem Lehrer Brecht<br />

kritisiert, dass er postdramatisch, episch arbeiten<br />

wollte, aber als Opportunist die eigenen Forderungen<br />

zu Gunsten seiner Theaterspektakel sofort<br />

wieder kassiert hat und in dem schönen Barocktheater<br />

Berliner Ensemble im Grunde genommen<br />

ganz traditionelles Theater gemacht hat, in dem die<br />

Verfremdung und das Epische nur als eine neue<br />

Facette der Virtuosität der Künstler und der damit<br />

verbundenen Illusionsbildung benutzt wurden. ( … )<br />

Schlingensief, der hat in einem Masse die vierte<br />

Wand eingerissen, wie sich das Brecht, glaube<br />

ich, auch in seinen kühnsten Träumen niemals hätte<br />

vorstellen können. Er hat nämlich in einzelnen<br />

Veranstaltungen so wenig zwischen Theater und dem,<br />

was ausserhalb des Theaters als Allerweltstheater,<br />

als tägliches Theater der Selbstdarsteller im öffentlichen<br />

Leben stattfindet, unterschieden, dass da<br />

weder für die Zuschauer, noch für die Akteure mehr<br />

klar war, ob es sich nun um Theater oder um Wirklichkeit<br />

handelte, reale oder bloss gespielte Vorgänge.<br />

Am Extremsten war das bei „Chance 2000“, einer<br />

Parteigründung als Theaterstück und Kunstwerk, die<br />

man aber gleichzeitig bei der Bundestagswahl<br />

richtig wählen konnte mit offiziellen Wahlscheinen<br />

und die echte Unterschriftensammlungen und<br />

einen ernsthaften Wahlkampf gemacht hat. Da wurde<br />

dann allerdings diese Vermischung so entsetzlich,<br />

dass wir am Ende gesagt haben: „So, jetzt müssen wir<br />

auf der Bühne, im geschlossenen Raum eine Komödie<br />

machen, weil das sonst auf Dauer keiner aushält.“<br />

Dieses Theaterstück müsste eigentlich ins Guinness-<br />

Buch der Rekorde kommen, weil es nämlich insgesamt<br />

neun Monate und dreiundzwanzig Tage gedauert<br />

hat, ununterbrochen. Aber es war eben auch nicht nur<br />

ein Theaterstück.<br />

Aber was man diesem Nietzsche-Satz von der wirklichen<br />

und der scheinbaren Welt entnehmen kann,<br />

also nicht mehr mit dieser Differenz von Schein<br />

und Wahrheit zu argumentieren, geht lebenspraktisch<br />

nicht immer gut. Das funktioniert an bestimmten<br />

Stellen nämlich, vor allem wenn es um Transzendenz<br />

und ums Sterben geht, leider nicht. Da gibt es eine<br />

Grenze, und die zeigt wiederum, dass man diesen<br />

Objektivitätsdiskurs eben nicht ganz vermeiden kann.<br />

Und da stellt sich dann eine weitere Frage: Wie<br />

ästhetisieren wir die Sterblichkeit? Das eigene Sterben<br />

lässt sich eben nicht ästhetisieren.<br />

Christoph Schlingensief hat mir gestern eine<br />

SMS geschrieben, wo er mir etwas über seine künftigen<br />

Pläne mitteilt und da schreibt er, er wolle die<br />

Hinfälligkeit des erweiterten Kunstbegriffs zeigen.<br />

Wenn man die eigenen Röntgenbilder sieht, mit<br />

diesem Fremden im eigenen Körper, da kommt man<br />

eben mit der Ästhetisierung nicht weiter.<br />

*Carl Hegemann sprach im Frühsommer mit<br />

Ilka Brombach und Benjamin Wihstutz. Der hier veröffentlichte<br />

Text bietet Auszüge aus diesem Gespräch.

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