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Spielzeitheft 2010/11 - Armin Kerber

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ich fragen. Jemand anderes starrt auf die leere Bühne,<br />

versucht mich wohl zu überhören, was durchaus<br />

nicht gelingt. – Da spricht und kommentiert unaufhörlich<br />

diese Stimme aus dem Off. Ja, genau!<br />

Das bin ja ich!<br />

Nun tritt ein Schauspieler auf. Er stutzt. Wieso<br />

denn bloss? Hat er seinen Text vergessen? Verschlägt<br />

es ihm schlichtweg die Sprache, weil ich nicht verstumme?<br />

Wer spricht denn hier eigentlich? Der Schauspieler<br />

sieht ins Publikum, so als ob er nicht ratlos<br />

und gänzlich überfordert wäre. Professionell.<br />

Er versucht im Dunkeln den Techniker zu sehen, aber<br />

dieser sitzt mit offenem Mund vor seinem Mischpult,<br />

welches ihm nicht mehr zu gehorchen scheint.<br />

Der Schauspieler geht nach einer Zeit irritiert ab.<br />

Nanu? Ist er nicht gesprächsbereit? Ist er etwa zu<br />

lahm sich dieser Herausforderung zu stellen? Es ist ja<br />

nicht so, dass ich mir gerne selber beim Sprechen<br />

zuhöre, nein, aber da draussen scheint niemand befähigt,<br />

mir tapfer entgegenzutreten.<br />

Ja, schauen Sie mal an, jetzt erhebt sich doch<br />

tatsächlich jemand aus dem Publikum und verlässt<br />

mit strenger Miene den Raum. Schon folgt ihm<br />

ein anderer. Sollte ich betroffen sein? Ein regelrechter<br />

Exodus sitzt ein. Sind Sie denn nicht bereit, etwas<br />

Kunst einzustecken? Das schliesst doch die Unterhaltung<br />

nicht aus. Oder haben Sie sich nur hierher<br />

bemüht, um mir zu zeigen, dass Sie mir nicht zuhören<br />

mögen? Das glaube ich nicht. Dazu ist Ihnen Ihre<br />

Zeit zu wertvoll. – Aber nein! Von einer Publikumsbeschimpfung<br />

kann doch keine Rede sein.<br />

Nach und nach leert sich der Raum. – Nur einer<br />

bleibt. Ja, wer ist es denn? Ach, der Kritiker. Er sieht<br />

verärgert aus. Oh, nein! Das gibt sicherlich einen<br />

satten Verriss! Ich muss ihn hier behalten, zumindest<br />

bis Redaktionsschluss. Der Kritiker muss einmal<br />

darüber schlafen und sein Verriss wird sich in ein Lob<br />

wandeln, zu einem Lob auf meinen Mut, meinen<br />

Mut zum radikalen Experiment. Bitte, schauen Sie<br />

etwas aufgeschlossener, auch wenn Sie glauben schon<br />

alles gesehen zu haben, Sie Abgeklärtheitskonstrukt.<br />

Die Strenge in Ihrem Gesicht steigert nicht Ihre<br />

Intelligenz. Da können Sie sich sicher sein. Nein,<br />

entschuldigen Sie. Despektierlich will ich doch nicht<br />

sein. Aber ich revolutioniere hier das Theater.<br />

Das Off-Sprechtheater, um genau zu sein. Wenn Sie<br />

ehrlich sind, mögen Sie doch meine Visage überhaupt<br />

nicht, seien Sie nur froh, allein meine Stimme ertragen<br />

zu müssen. Bitte, schauen Sie jetzt doch<br />

etwas freundlicher, ja, was ist es denn, was ich hier<br />

abziehe? Eben. Ich darf doch bitten.<br />

Also, bitte schön, es ist nun drei Uhr morgens und<br />

ich brauche ein Glas Wasser und Sie, Sie können<br />

gehen. Ich habe fertig. Ja, dieser Monolog könnte ewig<br />

weiter gehen. Mein Problem ist, ich nehme keine<br />

Erschöpfung an mir wahr. Und dieser Umstand<br />

beginnt mich zu langweilen. Ich scheine eine unerschöpfliche<br />

Stimme zu sein. Aber wissen Sie,<br />

gerade darum kann das Guiness-Buch der Rekorde<br />

keine Herausforderung für mich werden. Ich ziehe<br />

lieber weiter, will aus dem Off der Welt sprechen!<br />

Zu allen Menschen! Zu jeder Zeit! Gott bewahre,<br />

denken Sie. Man wird sehen, ob er dazu im Stande ist!<br />

Mehr ist nicht zu sagen. – Ja, das war’s. – Woher sollte<br />

ich wissen, wer für das hier verantwortlich ist?<br />

Sie schreien hier doch nicht im Ernst eine Stimme aus<br />

dem Off an? Peinlichst. Sie sind ganz allein im Raum.<br />

Bitte, bewahren Sie Haltung. Das ist doch nur ein<br />

Theater, Sie müssen sich doch Ihre Haare nicht gleich<br />

büschelweise ausreissen. – Aber dennoch, nichts<br />

zu danken. Die Bühne gehört jetzt Ihnen, Sie machen<br />

das Stück schon! Brechen Sie aus! – Und ich? Ich<br />

sprach nur, um gesprochen zu haben. Umso schöner<br />

die Stille danach.<br />

Einmal alles, bitte<br />

Wie die Digitalisierung den Zeitbegriff<br />

auf die Probe stellt. Und warum das Theater<br />

auch das Museale wagen sollte.<br />

von Tobi Müller<br />

Der Kulturbetrieb kann nicht mehr scharf zwischen<br />

neu und alt unterscheiden. Ich lese gerade einen<br />

dicken, erfolgreichen Roman über das Ende der DDR<br />

zu Ende, der formal ins späte 19. Jahrhundert<br />

zurückreicht. Dazu höre ich elektronische Popmusik,<br />

welche die Angst der dunklen Achtzigerjahre<br />

beschwört. Und heute Abend werde ich in ein Tanztheater<br />

eines belgischen Choreographen gehen,<br />

der seit zwanzig Jahren die Darstellung von Ausgegrenzten<br />

mit hohem musikalischen Pathos paart.<br />

Uwe Tellkamps Bestseller „Der Turm“ mag man<br />

klassizistisch nennen, die Musik von Zola Jesus und<br />

Fever Ray wird auch mit „Gothic“ angeschrieben –<br />

man denkt an Kutten und mittelalterliche Kirchen.<br />

Und selbst die Inszenierungen von Alain Platel<br />

gehören zur Avantgarde von gestern. Diese guten<br />

und in der Gegenwart gemachten Kunstwerke<br />

werden allesamt in ein Fach gesteckt, auf dem Geschichte<br />

steht.<br />

Weil die kapitalistische Verwertungslogik, besonders<br />

jene der Medien, am Fetisch des Neuen festhalten<br />

muss, sucht man Hilfe bei der Vorsilbe Neo.<br />

Neo-Klassizismus, Neo-Gothic, Neo-Avantgarde.<br />

Selbst die Popmusik, die dem bürgerlichen Kulturbetrieb<br />

am weitesten entfernte Sparte, hat einen<br />

Begriff für die Wiederkehr des Alten gefunden. Im<br />

Pop spricht man von Retro, was die Nähe zu Design<br />

und Mode offenbart. Retro-Look, Retro-Brillen,<br />

Retro-Grafik. Und Retro-Rock. Lustigerweise bedeutet<br />

Retro nicht alt, sondern neu. Neu, das auf alt<br />

macht. Es geht um eine sichtbare Simulation. Wer das<br />

nicht will und an der Aura des Alten festhalten<br />

möchte, kauft sich eine Vintage-Brille. Das ist neudeutsch<br />

für antiquarisch oder antik.<br />

Diese vielen Beschriftungen, die Vergangenes in der<br />

Gegenwart anzeigen, erscheinen vielleicht hilflos.<br />

Doch sie haben auch ihr Gutes. Denn täuscht<br />

der Eindruck, dass mit der Zunahme der Geschichtsverweise<br />

gleichzeitig der plumpe Fortschrittsglaube<br />

abgenommen hat? Wer traut sich noch, einen<br />

Maler progressiv oder eine Einspielung zukunftsweisend<br />

zu nennen? Die Begriffslosigkeit, was Zeit,<br />

Stil und Geschichte betrifft, führt auch zu weniger<br />

Kunst, die sich in Posen des Neuen wirft und<br />

darin genügt. Was sollte das auch sein, das Neo-Neue?<br />

Schuld sind natürlich D & G: Digitalisierung<br />

und Globalisierung. Die Archive wachsen sekündlich.<br />

Wir machen virtuelle Touren durch Städte, Museen,<br />

Bibliotheken. Und niemand wartet mehr wochenlang<br />

auf teure Pakete mit Vinylplatten aus Übersee.<br />

Kein falsches Hohelied auf die Grenzenlosigkeit<br />

des Netzes und den freien Zugang für alle, bitte: Auch<br />

das Netz ist ein Herrschaftsraum, wird es immer<br />

mehr. Aber der Unterschied ist dennoch epochal.<br />

Auch für die Künste. Noch nie konnten so viele Menschen<br />

auf so viele Kunstwerke zugreifen wie heute.<br />

Wenn Lesegeräte wie Kindle oder iPad erschwinglich<br />

und besser werden, wenn die Buchbranche die<br />

Preise für das digitale Produkt endlich senkt, dann<br />

wird die Verbreitung von Büchern enorm zunehmen.<br />

Das wird nicht ohne Folge für die Texte selbst bleiben.<br />

Die Musik hat die ersten zehn Jahre dieses<br />

Wandels bereits hinter sich. Es ist kein grosses Problem,<br />

zum Beispiel über afrikanische Musiken<br />

Bescheid zu wissen. Die digitalen Vertriebskanäle<br />

führten aber auch zu einer erhöhten Präsenz von<br />

Musik in allen Bereichen. Auch privat: Man hat heute<br />

nicht mehr zwanzig oder hundert Alben zu Hause<br />

im Plattenregal, sondern dreitausend auf dem<br />

Rechner. Wenn Sie iTunes benutzen und der Genius-<br />

Funktion Zugriff erlauben, weiss Apple sogar<br />

genau, was Sie „privat“ so hören. Doch selbst das ist<br />

schon Geschichte, weil der Trend zum Streamen geht,<br />

nicht zum Besitzen von Musikdateien. Jedes Mal,<br />

wenn man etwas Bestimmtes hören möchte, greift<br />

man auf das Internet zu. Das heisst am Ende:<br />

Jeder hat die grösste Plattensammlung der Welt.<br />

Einmal alles, bitte.<br />

Am Theater ist die Globalisierung vielleicht nicht<br />

vorbeigezogen – der finanzielle Zwang zu Koprodutionen<br />

und die Austauschbarkeit der Festivals<br />

zeugen deutlich von ihrem Einfluss. Aber die Digitalisierung<br />

musste das Theater bisher nicht interessieren.<br />

Einige Erfolgsstücke, etwa von Patrick Marber<br />

oder Igor Bauersima, hatten zwar ein bisschen<br />

Internet in ihren Themen drin, aber das Wesen von<br />

Theater wurde davon nicht berührt. Man hat viel über<br />

neue Spielweisen geschrieben, auch ging die Rede<br />

von neuen Dramaturgien, neuen Stoffen und neuen<br />

Stücken, aber der Rahmen, auf den sich Theater<br />

bezieht, bleibt relativ stabil.<br />

Denn das Theater kann man weder downloaden<br />

noch speichern, es fehlt an audiovisuellen Archiven.<br />

Man muss eine Karte kaufen, anstehen und im Saal<br />

gleich nochmal warten. Und selbst legendäre Inszenierungen,<br />

noch bis in die Siebzigerjahre, gibt es nicht<br />

als Film- oder Videoaufzeichnungen. Das begrenzt den<br />

theaterhistorischen Horizont eines Theatergängers<br />

in der Regel auf seine eigene Seh-Biografie. So<br />

bleibt der Kanon – was man spielt, wie man es spielt –<br />

einigermassen übersichtlich.<br />

Viele Theaterschaffende haben einen Schimmer in<br />

den Augen, wenn sie sagen, dass die Bühnenkunst<br />

halt aus der Zeit gefallen sei. Man sagt gerne auch: so<br />

wunderbar aus der Zeit gefallen, und meint damit<br />

den scheinbaren Anachronismus des Live-Erlebnisses<br />

sowie die Traditionspflege. Beide Momente gehören<br />

dem Theater aber längst nicht mehr exklusiv.<br />

Lesungen bersten vor Publikum, die Musikbranche<br />

versucht sich mit überteuerten Konzerten zu retten,<br />

Fanmeilen durchziehen die Innenstädte, noch<br />

nicht einmal die Street Parade ist tot. Und den hysterischen<br />

Ruf nach Geschichte hört man auch in<br />

jeder Kunstsparte.<br />

Und doch stimmt es, Theater ist einzigartig.<br />

Nicht weil es live gespielt wird oder auch mit alten<br />

Texten arbeitet, sondern weil es immer wieder neu<br />

beginnen muss. Jedes Stück muss jedes Mal von<br />

Grund auf neu interpretiert werden, keine Inszenierung<br />

kann sich zu sehr auf eine andere, frühere,<br />

beziehen. Genau deswegen ist Theater nicht museal,<br />

auch wenn viele Theaterverächter gerne so urteilen.<br />

Millionen von Menschen sehen sich jedes Jahr<br />

die Bilder von Caravaggio oder von den Impressionisten<br />

an. Aber keiner weiss, wie Shakespeare<br />

wirklich inszeniert hat. Und nur ein paar Spezialisten<br />

haben eine genaue Vorstellung davon, wie Max<br />

Reinhardt mit einer modernen Bühnentechnik das<br />

Schauspiel ins 20. Jahrhundert hineindrehte.<br />

Seit zweieinhalbtausend Jahren herrscht im Theater<br />

eine relative Geschichtslosigkeit.<br />

Peter Stein hat als einer der wenigen die Geister<br />

der Vergangenheit ein paar Mal tatsächlich geweckt.<br />

Zur Eröffnung der Schaubühne 1970 in Berlin<br />

setzte er Brechts „Die Mutter“ auf den Spielplan.<br />

Die Hauptrolle spielte Therese Giehse, die mit Brecht<br />

bereits vor der Machtergreifung der Nazis in<br />

Berlin zusammengearbeitet hatte, dann in Zürich<br />

im Schauspielhaus und für zwei Jahre auch im Ost-<br />

Berlin der frühen DDR. Steins „Mutter“ war eine<br />

Gründungsgeste, eine Verbeugung vor der Geschichte.<br />

Aber noch keine Rekonstruktion wie Tschechows<br />

„Drei Schwestern“: Stein und sein Team studierten<br />

1984 die Regiebücher des Regisseurs Stanislawski und<br />

seiner Uraufführung im Moskauer Künstlertheater<br />

von 1901. Es wurde einer der grössten Erfolge der<br />

Schaubühne (wobei die meisten Zuschauer den musealen<br />

Charakter der Inszenierung nicht bemerkten).<br />

Warum hat das Sprechtheater so grosse Mühe,<br />

einzelne Arbeiten museal auszustellen oder zu rekonstruieren?<br />

Die Oper macht manchmal Ausnahmen,<br />

vor einigen Jahren sah ich im ehemaligen Ost-Berlin

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