Ausgabe 010 Februar 2013 - Das Armutsnetzwerk
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Obdachlos in Budapest<br />
19. Januar <strong>2013</strong>, kalter Abend, Blaha Lujza Platz,<br />
ein Ort in der Innenstadt von Budapest mit starkem<br />
Verkehr und starken sozialen Probemen. Lebensmittelverteilung.<br />
Jemand reisst große Stücke aus<br />
dem jetzt bekommenen Brot, und gibt sie unserem<br />
Hund. „Sag nicht, dass ich geizig bin!” Wir<br />
bedanken uns vergebens, die ewige Fressgier des<br />
Tieres betonend, er bekommt doch all das Brot.<br />
Glückliches Schwänzeln, wir freuen uns zusammen.<br />
Während dessen beweist die ungarische Underground<br />
mit zwei Lautsprechern, dass sie noch<br />
immer existiert. Hüpfend, rufend, applaudierend<br />
wärmen sich die Menschen, die hierher gekommen<br />
sind, um ihre Solidarität mit wohnungslosen<br />
Menschen im Rahmen eines nächtlichen „Wachseins”<br />
auszudrücken. So drücken sie ihre Unzufriedenheit<br />
aus. Ihre Antwort zeigt sich in der<br />
Kraft der Unabhängigkeit und der Unmittelbarkeit<br />
des Zusammenseins.<br />
In diesem Moment beginnt in der Unterführung<br />
der offizielle Teil, die behördliche Entfernung der<br />
dort übernachtenden Obdachlosen. <strong>Das</strong> Areal der<br />
Schlafplätze wird plötzlich mit Hilfe von Schildern<br />
zu einer Baustelle erklärt, so dass niemnd<br />
dort schlafen darf. Ein Teil der Zusammengekommenen<br />
nähert sich inzwischen der Szenerie.<br />
Die besser Informierten verhandeln mit den Offiziellen.<br />
Wir schauen zu, und versuchen herauszufinden,<br />
was hier überhaupt passiert. Es gibt wenigstens<br />
Zeugen.<br />
Ein Mann von der Behörde entdeckt in seiner Frustration<br />
den Hund. Er soll die Fußgänger gefährden.<br />
Glückliches Schwänzeln, wie immer, ein auf der<br />
Straße lebendes Mädchen spielt gerade mit dem<br />
Hund. Der Beamte fordert nach kurzer Diskussion<br />
meinen Personalausweiss. Ich wundere mich gerade<br />
darüber, warum die Aktivisten der Obdachlosen-Rechtschutzgruppe<br />
von A Város Mindenkié<br />
(AVM) nicht da sind. Kurz zuvor waren wir einem<br />
von ihnen begegnet. Er erzählte, dass die Aktivisten<br />
zu Protestzwecken in den letzten Stunden<br />
ein leer stehendes Haus besetzt haben, das im Besitz<br />
der Gemeinde ist. Sie wurden von Hunderten<br />
unterstützt, die vor dem Haus demonstrierten. Die<br />
ausgehängten Transparente mahnten daran, dass<br />
unsere gemeinsame Not tiefer sitzt als der Mangel<br />
an finanziellen Quellen. „Wohnung! Demokratie!<br />
Rechtstaat!” Die staatliche Aktivität hat auch hier<br />
nicht gefehlt, 20 Hausbesetzer fanden sich kurze<br />
Zeit später im Polizeigewahrsam wieder. Am nächsten<br />
Tag werden sie wieder entlassen, belegt mit<br />
einer Geldstrafe zwischen 30.000-100.000 HUF<br />
(100-295 EUR).<br />
„Armut ist keine Sünde”, verkündet eins der<br />
Plakate. Im November hat das Verfassungsgericht<br />
das Gesetz, das die Nutzung öffentlicher Plätze als<br />
Orte der Lebensführung kriminalisiert hatte, für<br />
verfassungswidrig erklärt. Es war ein beruhigendes<br />
Gefühl, zu wissen, dass die demokratischen<br />
Rechte noch funktionieren. Doch die Tendenz,<br />
die sich in dem Gesetz manifestierte, wurde damit<br />
nicht gebrochen. Präsident Viktor Orbán initiierte<br />
in dieser Frage eine sog. „nationale Konsultation”<br />
(eine nicht offizielle Umfrage durch Briefe), ferner<br />
erwähnte er, dass man auch die Verfassung ändern<br />
kann. Vergebens erklärten die staatlichen, kirchlichen<br />
und caritativen Institutionen, die an der<br />
Wohnungslosenversorgung beteiligt sind, soziologische<br />
Forschungsinstitute und der Ombudsmann,<br />
dass man keine Kriminalisierung braucht, sondern<br />
eher die sozialpolitische Bekämpfung der Wohnungsprobleme.<br />
Der Oberbürgermeister von Budapest bedauert<br />
nach der Entscheidung, dass die obdachlosen Menschen<br />
in der Stadt wieder stärker in Erscheinung<br />
träten. Er meinte, dass sowohl die stadtästhetischen<br />
Probleme besser mit Hilfe der alten Sanktionierungen<br />
gelöst waren und auch dass die Gefahr<br />
des Erfrierens gemindert wäre. In Budapest trat<br />
die Gesetzesänderung, die im Fall von mehrfachen<br />
Regelverstößen eine Geld- oder Gefängnisstrafe<br />
ermöglichte, im November 2011 in Kraft.<br />
Danach wurde die Bestrafung der Lebensführumg<br />
auf öffentlichen Plätzen auch auf Landesebene<br />
ausgeweitet. Im VIII. Bezirk von Budapest folgte<br />
man dieser Regulierung besonders streng und mit<br />
übertriebener Konsequenz. Obdachlose Menschen<br />
wurden schon dafür bestraft, dass sie auf dem Stein<br />
eines Parks saßen. (Zivilaktionen haben bewiesen,<br />
dass nur arm aussehende Menschen von den Behörden<br />
angesprochen wurden.) Kampagneartige<br />
Polizeimaßnahmen wurden gegen die Menschen<br />
gestartetet, die auf der Straße wohnten, oder sich<br />
nur tagsüber dort aufhielten. Hunderte von wohnungslosen<br />
Menschen wurden wieder und wieder<br />
in das frisch geöffnete Regelverstoßbüro gebracht,<br />
wo sie ermahnt wurden, nicht auf der Straße zu le-<br />
<strong>Das</strong> Ergebnis davon war: Einerseits wurden<br />
die Einwohner des Bezirks weniger mit dem<br />
Problem der Wohnungslosigkeit konfrontiert<br />
und andererseits verbargen sich obdachlose<br />
Menschen. Wahrscheinlich gab es auch Leute,<br />
die eher die Anlaufstellen für Obdachlose aufsuchten.<br />
Allerdings hat ein Online-Nachrichtenportal<br />
die Information bekommen, dass die<br />
Polizisten den Betroffenen oft den Ratschlag<br />
gaben, dass sie in einen anderen Bezirk umziehen<br />
sollten. m Jahre 2012 versuchten politisch<br />
unterschiedlich orinetierte Zivilorganisationen<br />
sowohl bei rechtlich begründeten, als auch bei<br />
ungerechtfertigten Ausquartierungen aus Sozialbauten,<br />
einzugreifen. Auch bei einem Teil<br />
der während des Jahres mit Aufmerksamkeit<br />
begleiteten Hüttenabrissen wurde es wegen der<br />
Zivilaktivität klar, dass die Selbstverwaltungen<br />
den Prozess nicht den Vorschriften gemäß<br />
durchführten, dass sie die Bewohner lückenhaft<br />
informierten und bei dem Abbruch ihre Rechte<br />
nicht beachteten. In einem Bezirk von Budapest<br />
(Zugló) läuft heute ein Entschädigungsprozess<br />
gegen die Selbstverwaltung.<br />
In einem anderen Bezirk wurden dagegen zwei<br />
Aktivisten, die den Abriss durchführenden<br />
Menschen mit gewaltloser Demonstration darauf<br />
aufmerksam machten, dass sie eigentlich<br />
Illegales tun, rechtskräftig verurteilt, auch wenn<br />
die Ungerechtigkeit des Abrisses inzwischen<br />
vom Ombudsmann festgestellt wurde.<br />
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