PDF-Datei - Kirchentag 2005
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Pressezentrum<br />
Sperrfrist:<br />
Programmbereich:<br />
Veranstaltung:<br />
26.05.<strong>2005</strong>; 9:30 Uhr<br />
Bibelarbeit<br />
Dokument: BAB_22_067<br />
Referent/in:<br />
Ort:<br />
Barth, Dr. Hermann (Vizepräsident im Kirchenamt der EKD)<br />
Pavillon 32, Messegelände<br />
Programm Seite: 175<br />
Bibelarbeit über Maleachi 2,17 – 3,24<br />
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, liebe <strong>Kirchentag</strong>sgemeinde!<br />
„Gerecht muß es zugehn, sonst mach ich nicht mit.“ So läßt Astrid Lindgren ihren Karlsson<br />
vom Dach sprechen. Ihm ist es vor allem um die Verteilungsgerechtigkeit zu tun. Wenn es<br />
Wecken oder Torte oder Fleischklößchen gibt, dann will er seinen gerechten Anteil daran –<br />
und am liebsten noch viel mehr als das. Aber ob es gerecht zugeht in der Welt, entscheidet<br />
sich nicht allein und schon gar nicht vorrangig an Verteilungsfragen. Ungleich bedrängender<br />
ist beispielsweise die Frage, ob ein Leben nach Gottes Geboten mit einem guten Ergehen<br />
belohnt wird und ob umgekehrt ein schamloses Verhalten sich bis hinein ins eigene Ergehen<br />
rächt. Das Gefühl, daß es in der Welt gerecht zugeht, stellt sich in der Regel dann ein, wenn<br />
die Gerechten gedeihen und die Intriganten in eben die Grube stürzen, die sie anderen<br />
gegraben haben. Es wird aber nachhaltig gestört, wenn sich die Frevler an Glück und<br />
Gesundheit erfreuen können, während die Untadeligen von Leid und Unglück heimgesucht<br />
werden. Genau das ist das Schlüsselthema des biblischen Textes, der uns für die heutige<br />
Bibelarbeit aufgegeben ist. Die Leitfrage steht gleich im ersten Vers: „Wo ist denn Gott und<br />
schafft Recht?“<br />
Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist, als Sie den Text für die heutige Bibelarbeit ein<br />
erstes Mal lasen. Das ist schon ein ganz schöner Brocken: nicht nur aufgrund der Länge,<br />
sondern auch deswegen, weil es zunächst ziemlich schwer fällt, einen roten Faden zu<br />
finden. Mir ging am Anfang immer wieder eine Variation zur <strong>Kirchentag</strong>slosung durch den<br />
Kopf: Wenn dein Kind dich morgen fragen würde, warum um alles in der Welt der Deutsche<br />
Evangelische <strong>Kirchentag</strong> ausgerechnet das letzte Kapitel des Maleachibuches für die<br />
Bibelarbeiten des <strong>Kirchentag</strong>es <strong>2005</strong> ausgewählt hat – was würdest du darauf antworten?<br />
Die Antworten sind vermutlich annähernd so vielfältig wie die Zahl der für die Auswahl<br />
Verantwortlichen. Meine Antwort auf die Frage, warum es sich lohnt, sich mit diesem weithin<br />
unbekannten und selbst auf den zweiten Blick noch recht widerspenstigen biblischen Text zu<br />
beschäftigen, heißt jedenfalls: Er gibt uns Gelegenheit, uns mit einigen elementaren<br />
Lebensfragen auseinanderzusetzen: Geht es – im Blick auf die Folgen des menschlichen<br />
Verhaltens – gerecht zu in der Welt? Wenn ja – worin zeigt sich diese Gerechtigkeit? Wenn<br />
nein – wie hält man das aus? Und was schließlich hat Gott mit dem allem zu tun?<br />
Diese Fragen sind weder antiquiert noch modern. Sie sind zeitlos. An drei Beispielen möchte<br />
ich Ihnen zeigen, wie das zugrundeliegende Thema zu ganz unterschiedlichen Zeiten und<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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auf ganz unterschiedlichen Ebenen präsent gewesen ist. Ich schlage dabei einen weiten<br />
Bogen von der Bibel bis zur Fußball–Bundesliga.<br />
Beispiel 1: Bibel<br />
Der Maleachitext steht mit seinem Thema in der Bibel nicht isoliert da. Im Gegenteil – auf<br />
Schritt und Tritt begegnet man, vor allem im Alten Testament, der Vorstellung, daß zwischen<br />
Tun und Ergehen ein fester, verläßlicher Zusammenhang besteht. Das ist das Gesetz, nach<br />
dem die Welt funktioniert. Es ist insbesondere die Weisheitsliteratur, die nicht müde wird,<br />
diese Ordnung der Welt anhand von Beobachtung und Erfahrung zu erfassen. So heißt es<br />
im 2. Kapitel des Buches Jesus Sirach:<br />
Vertraue Gott, so wird er sich deiner annehmen ... Die ihr den Herrn fürchtet, vertraut ihm,<br />
und euer Lohn wird nicht verloren gehen ... Blickt auf die früheren Geschlechter und besinnt<br />
euch: Wer ist jemals zuschanden geworden, der auf den Herrn gehofft hat? Wer ist jemals<br />
verlassen worden, der in der Furcht Gottes geblieben ist? Oder wer ist jemals von ihm<br />
übersehen worden, der ihn angerufen hat? Denn der Herr ist gnädig und barmherzig und<br />
vergibt Sünden und hilft in der Not (V 6–13).<br />
Das ist nicht der durchgängige Ton in der Bibel. Daneben stehen Stimmen – allen voran im<br />
Buch Hiob –, die der Gegenerfahrung Raum geben. Aber es ist der vorherrschende Ton.<br />
Beispiel 2: Jeremias Gotthelf, Die schwarze Spinne<br />
Ich bin diesem schauerlich–schönen Text zuerst als Schullektüre begegnet. Die Rahmenerzählung<br />
handelt von einer Tauffeier unter Schweizer Bauern. Auf einen merkwürdigen<br />
Pfosten des Hauses angesprochen erzählt der Großvater die Geschichte von der schwarzen<br />
Spinne. Sie verkörpert die Macht des Bösen und hat in der Vergangenheit zweimal<br />
Schrecken und Tod verbreitet. Sie ist in dem Pfosten gefangen und durch einen Zapfen<br />
verwahrt. Die ganze Erzählung ist von der Überzeugung durchzogen, daß die schwarze<br />
Spinne ihr zerstörerisches Werk nur tun kann, wenn sich die Menschen von Gerechtigkeit<br />
und Gottesfurcht abwenden und dadurch dem Bösen Raum geben. Der Schlußabsatz, der<br />
nach dem Ende der Tauffeier noch einmal einen Blick auf das Haus und die Gegend wirft,<br />
faßt diese Weltsicht in feierlichem, fast pathetischem Ton zusammen:<br />
Bald war es still ums Haus, bald auch still in demselben. Friedlich lag es da, rein und schön<br />
glänzte es in des Mondes Schein das Tal entlang, sorglich und freundlich barg es brave<br />
Leute in süßem Schlummer, wie die schlummern, welche Gottesfurcht und gute Gewissen im<br />
Busen tragen, welche nie die schwarze Spinne, sondern nur die freundliche Sonne aus dem<br />
Schlummer wecken wird. Denn wo solcher Sinn wohnet, darf sich die Spinne nicht regen,<br />
weder bei Tage noch bei Nacht. Was ihr aber für eine Macht wird, wenn sich der Sinn ändert,<br />
das weiß der, der alles weiß und jedem seine Kräfte zuteilt, den Spinnen wie den Menschen.<br />
Beispiel 3: Polsters Fluch<br />
Am 8. Spieltag der gerade zu Ende gegangenen Saison der Fußball–Bundesliga erzielte<br />
Oliver Neuville von Borussia Mönchengladbach das spielentscheidende Tor gegen den 1. FC<br />
Kaiserslautern. Allerdings per Hand. Alle hatten es gesehen, nur der Schiedsrichter nicht.<br />
Am Montag darauf erschien im Sportteil der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift<br />
„Polsters Fluch“ folgende Glosse:<br />
Das schamlose Treiben des Oliver Neuville bietet Gelegenheit, auf einen anderen Fall<br />
heimtückischen Handspiels hinzuweisen, der zwar mehr als sechs Jahre zurückliegt, dessen<br />
Folgen für Täter und Opfer aber bis in die Gegenwart reichen ... Der Schalker<br />
Mittelfeldspieler Oliver Held lenkte damals kurz vor Schluss beim Stand von 0:0 einen<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
− 3 −<br />
Schuss des Kölners René Tretschok über die Latte ... Zwei Wochen darauf endete die<br />
Saison: Schalke 04 erreichte den UEFA–Cup, Köln mußte erstmals seit der Bundesliga–<br />
Zugehörigkeit absteigen ... Oliver Held wurde vom DFB nachträglich wegen „unsportlichen<br />
Verhaltens“ für zwei Spiele gesperrt. Doch härter traf ihn die Ächtung seiner Berufskollegen<br />
und am härtesten der Fluch des Kölners Toni Polster, der unter Blitz und Donner ausrief:<br />
„Oliver Held soll nie mehr Glück in seinem Leben haben.“ So kam es dann auch. Nach drei<br />
weiteren weitgehend auf der Reservebank verbrachten Jahren bei Schalke wechselte Held<br />
zum FC St. Pauli, mit dem er als Tabellenletzter aus der ersten Liga und im folgenden Jahr<br />
als 17. aus der zweiten Liga abstieg. Im Sommer 2003 verkrümelte er sich zum TSV Kropp<br />
in die Oberliga Schleswig–Holstein, doch selbst in diesem stillen Winkel zwischen<br />
Ortschaften wie Bennebek und Owschlag erreichte ihn Polsters Verwünschung: Sein Team<br />
stieg sogleich aus der Ober– in die Verbandsliga ab, wo sich Oliver Held nun an Gegnern<br />
wie FC Sörup–Sterup und Rot–Weiß Moisling messen musste.<br />
Es war, das sei angefügt, nicht nur für die Freunde des 1. FC Kaiserslautern eine tiefe<br />
Genugtuung, daß Oliver Neuville nach dem 8. Spieltag die „Seuche“ am Fuß klebte und es<br />
über 1.100 Minuten dauerte, bis er am 29. Spieltag wieder aus dem Spiel heraus ins Tor traf.<br />
Wenigstens in der Fußballwelt geht es gerecht zu – manchmal.<br />
Aber nun genug der Vorbereitung und Hinführung. Sehen wir uns den Text für die heutige<br />
Bibelarbeit genauer an.<br />
I. Einige Hinweise zu Kontext, historischer Situation und Aufbau<br />
von Maleachi 2,17 – 3,24<br />
Auch wenn Sie den Text längst gelesen haben – es ist hilfreich, ihn jetzt noch einmal im<br />
Zusammenhang zu hören. Ich benutze die vorzügliche Übersetzung, die eigens für den<br />
<strong>Kirchentag</strong> angefertigt wurde und im Programmbuch neben der Fassung der Lutherbibel<br />
abgedruckt ist. Darin wird, der jüdischen Tradition folgend, der Gottesname Jahwe<br />
vermieden und durch Adonaj ersetzt:<br />
2,17 Ihr nervt Adonaj mit eurem Reden. Und dann sagt ihr: „Womit nerven wir dich denn?“<br />
Indem ihr sagt: „Alle, die Böses tun, sind gut in den Augen Adonajs, und an ihnen hat Gott<br />
Gefallen.“ Oder ihr sagt: „Wo ist denn Gott und schafft Recht?“<br />
3,1 Doch seht, ich schicke meinen Boten, dass er den Weg vor mir frei räume. So kann auf<br />
einmal die Macht zu ihrem Tempel kommen, nach der ihr verlangt. Der Bote des Bundes, der<br />
euch gefällt – gebt acht, er kommt, sagt Adonaj, mächtig über Heere.<br />
2 Doch wer hält den Tag aus, wenn er kommt, wer besteht, wenn er erscheint? Denn er ist<br />
wie schmelzendes Feuer, wie ätzende Lauge.<br />
3 Er stellt sich ein, schmelzt und reinigt Silber, reinigt die Söhne und Töchter Levis, läutert<br />
sie wie Gold und Silber. So werden sie Adonaj Gaben darbringen, – dann sind sie im Recht.<br />
4 Dann sind Adonaj die Gaben Judas und Jerusalems angenehm wie in einstigen Tagen, wie<br />
in frühen Jahren.<br />
5 Ich nahe mich euch und schaffe Recht; ohne Zögern erhebt mein Zeugnis Anklage gegen<br />
alle, die finstere Machenschaften treiben, Ehen zerstören, Meineide schwören, den Tagelohn<br />
drücken, Witwen und Waisen unterdrücken, Fremde wegdrängen. Sie achten mich eben<br />
nicht, sagt Adonaj, mächtig über Heere.<br />
6 Nein, ich, Adonaj habe mich nicht geändert; und ihr seid Jakobskinder unaufhörlich.<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
− 4 −<br />
7 Seit den Tagen eurer Vorfahren seid ihr von meinen Bestimmungen abgewichen und habt<br />
sie nicht gehalten. Kehrt um zu mir! Dann will ich zu euch umkehren, sagt Adonaj, mächtig<br />
über Heere. Ihr aber sagt: „Wozu sollen wir umkehren?<br />
8 Kann denn ein Mensch Gott hintergehen?“ Ja, ihr hintergeht mich und sagt: „Womit haben<br />
wir dich hintergangen?“ Mit dem Zehnten und der Abgabe!<br />
9 Dadurch zieht ihr euch Fluch zu, dass ihr mich hintergeht, das ganze Volk.<br />
10 Bringt den Zehnten ganz zur Sammelstelle, dass Nahrung in meinem Haus sei! Prüft mich<br />
doch daran, sagt Adonaj, mächtig über Heere, ob ich euch nicht die Luken des Himmels<br />
öffne und über euch Segen ausschütte – mehr als genug!<br />
11 Ich verscheuche für euch die Heuschrecke, den Fresser, dass er euch den Ertrag des<br />
Ackers nicht verdirbt und euch der Weinstock auf dem Feld nicht ohne Frucht bleibt, sagt<br />
Adonaj, mächtig über Heere.<br />
12 Alle Völker werden euch glücklich preisen, weil ihr ein Land seid, in dem es Lust macht zu<br />
leben, sagt Adonaj, mächtig über Heere.<br />
13 Ihr führt dreiste Reden gegen mich, sagt Adonaj; und dann sagt ihr: „Was sollen wir denn<br />
gegen dich geredet haben?“<br />
14 Ihr sagt: „Es ist sinnlos, für Gott zu arbeiten. Was bringt’s, wenn wir uns daran halten, was<br />
Gott will? Wenn wir im Bußgewand einhergehen vor Adonaj, mächtig über Heere?<br />
15 Von nun an preisen wir die Dreisten glücklich. Gerade die Gewalttätigen haben Bestand,<br />
die Gott herausfordern, kommen davon.“<br />
16 Die aber Adonaj achten, reden unter sich alle miteinander. Dann merkt Adonaj auf und<br />
hört; vor Gott wird ein Buch geführt zum Gedächtnis derer, die Adonaj achten und mit Gottes<br />
Namen rechnen.<br />
17 Sie sollen mein Eigentum sein, sagt Adonaj, mächtig über Heere, am Tag, den ich<br />
mache. Ich will schonend mit ihnen umgehen wie Eltern mit ihren Söhnen und Töchtern, die<br />
Arbeit für sie leisten.<br />
18 Dann seht ihr wieder den Unterschied zwischen Gerechten und Gewalttätigen, zwischen<br />
denen, die für Gott arbeiten, und denen, die nicht für Gott arbeiten.<br />
19 Ja, passt auf, der Tag kommt, brennend wie ein Ofen. Dann sind alle Dreisten und<br />
Gewalttätigen nichts als Stroh, und versengen wird sie der kommende Tag, sagt Adonaj,<br />
mächtig über Heere; weder Wurzel noch Halm wird ihnen gelassen.<br />
20 Über euch aber, die ihr meinen Namen achtet, geht die Sonne der Gerechtigkeit auf, ihre<br />
Flügel bringen Heilung. Und ihr kommt heraus und hüpft umher wie Kälber auf der<br />
Mastweide,<br />
21 zerstampft die Gewalttätigen. Ja, Staub sind sie unter euren Fußsohlen am Tag, den ich<br />
mache, sagt Adonaj, mächtig über Heere.<br />
22 Gedenkt der Tora des Mose, der für mich arbeitet! Sie habe ich ihm am Horeb für ganz<br />
Israel geboten, Bestimmungen und Rechtssätze.<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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23 Seht doch, bevor der Tag Adonajs kommt, groß und Achtung gebietend, schicke ich euch<br />
Elia, den Propheten.<br />
24 Er wird das Herz der Eltern wieder den Kindern zuwenden und das Herz der Kinder<br />
wieder den Eltern – damit ich nicht kommen muss und das Land mit Vernichtung schlage.<br />
Ein reichhaltiger und gewaltiger, aber auch ein verwirrender, ja in mancher Hinsicht<br />
verstörender Text! Ich gebe einige wenige Hinweise zum Kontext, zu Verfasser und<br />
historischer Situation und schließlich zum Aufbau.<br />
1. Das Maleachibuch ist nicht nur das zwölfte und letzte des Zwölfprophetenbuchs, es<br />
beschließt auch die Reihe der prophetischen Bücher insgesamt. Damit hat es allerdings in<br />
der jüdischen Tradition noch eine besondere Bewandtnis. Denn sie gliedert – anders als die<br />
christliche Tradition – die hebräische Bibel in die drei Teile: Thora, Propheten, Schriften. Zu<br />
den Propheten gehören dabei sowohl die Bücher Josua bis Könige, in denen von Propheten<br />
wie Nathan oder Elia erzählt wird, als auch die Prophetenbücher von Jesaja bis Maleachi.<br />
Ich weise auf diesen kanonsgeschichtlichen Umstand deshalb hin, weil die drei letzten Verse<br />
unseres Textes nur so angemessen verstanden werden können: „Gedenkt der Tora des<br />
Mose, der für mich arbeitet ... Seht doch, bevor der Tag Adonajs kommt ..., schicke ich euch<br />
Elia, den Propheten ...“. Diese drei Verse sind aus einem für sich stehenden Maleachibuch<br />
kaum zu erklären. Sie haben bereits den Gesamtzusammenhang vom 1. Buch Mose bis zum<br />
Zwölfprophetenbuch vor Augen und legen Zeugnis davon ab, wie im Zusammenwachsen<br />
verschiedener Textkomplexe allmählich die heiligen Schriften Israels entstanden sind. Sie<br />
binden die Teile Thora und Propheten zusammen, und sie stellen die späteren Propheten in<br />
eine Reihe mit den früheren Propheten und mit der Gestalt des Mose.<br />
2. Seinen Namen hat das Maleachibuch von dem in der Überschrift genannten Propheten<br />
Maleachi. Ob es sich dabei um eine konkrete historische Figur handelt oder doch eher um<br />
eine idealtypische prophetische Gestalt, ist schwer zu entscheiden. „Maleachi“ ist jedenfalls<br />
ein sprechender Name und heißt übersetzt entweder „mein Bote“ oder „Bote Jahwes“. In der<br />
Gottesrede am Anfang unseres Textes wird das Kommen „meines Boten“ und des „Boten<br />
des Bundes“ angekündigt. Ist diese Parallele ein bloßer Zufall? Naheliegender ist es, daß die<br />
Rede von Jahwes „Boten“ und dem „Boten des Bundes“ Pate gestanden hat bei der Wahl<br />
und Bildung des Prophetennamens in der Überschrift.<br />
3. Die Frage, in welche historische Situation das Maleachibuch einzuordnen ist, läßt sich nur<br />
differenziert beantworten. Die Prophetenbücher des Alten Testaments haben einen völlig<br />
anderen Charakter als moderne literarische Erzeugnisse. Sie stammen nicht von einem<br />
einzelnen Autor, der den Text in einem mehr oder minder langen Schaffensprozeß<br />
niedergeschrieben hat. Sie verdanken sich vielmehr einem Überlieferungs– und Wachstumsvorgang,<br />
der sich in der Regel über Jahrhunderte erstreckt und in dem ein Grundbestand an<br />
Prophetenworten unter dem Eindruck neuer Erfahrungen ausgelegt, fortgeschrieben und<br />
ergänzt worden ist. Insofern kann man wie bei den Prophetenbüchern insgesamt so auch<br />
beim Maleachibuch nicht von der historischen Situation sprechen, in die sie hineingehören,<br />
sondern muß für unterschiedliche Textabschnitte auch mit unterschiedlichen Situationen<br />
rechnen. Eine erste Beobachtung in dieser Richtung haben wir ja schon an den drei letzten<br />
Versen unseres Textes machen können: Mit ihrem Bezug auf die Thora und auf den<br />
Komplex der Prophetenbücher insgesamt gehören sie vermutlich in die späteste Phase der<br />
Entstehung des Maleachibuches und damit etwa in das 2. vorchristliche Jahrhundert. Die<br />
Anfänge des Maleachibuches dürften im 5. Jahrhundert liegen. Der nach der Rückkehr aus<br />
dem babylonischen Exil errichtete zweite Tempel steht bereits, die Gaben Judas und<br />
Jerusalems werden dort dargebracht, der Zehnte wird eingesammelt, damit, wie es heißt,<br />
„Nahrung in meinem Haus sei“ (3,10). Konkrete Hinweise für eine genauere Datierung<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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fehlen. Was die Bibelwissenschaft hier und da aus den spärlichen Hinweisen glaubt<br />
entnehmen zu können, bleibt höchst unsicher.<br />
4. Das Maleachibuch gliedert sich – wenn man die Überschrift und die drei letzten Verse<br />
abzieht – in sechs Dialoge. Drei davon gehen unserem Text voraus, die anderen drei<br />
machen im wesentlichen unseren Text aus. Die Dialoge sind gleichförmig angelegt und<br />
bestehen aus mindestens drei Elementen: Der Prophet beginnt mit einer provokativen<br />
Feststellung, die als Gottesrede gekennzeichnet sein kann; er zitiert dann eine Entgegnung<br />
der Dialogpartner, für deren Beginn der Ton charakteristisch ist: 'Was haben wir denn<br />
gemacht?'; schließlich nimmt der Prophet die eingangs getroffene Feststellung wieder auf<br />
und führt sie weiter aus. Man kann sich diese Struktur besonders gut am letzten Dialog vor<br />
Augen führen. Er reicht von Vers 13 bis Vers 21. Die einleitende Feststellung ist ganz kurz<br />
gehalten: „Ihr führt dreiste Reden gegen mich, sagt Adonaj“. Die Dialogpartner wehren sich,<br />
indem sie vorgeben, daß sie den Vorwurf überhaupt nicht verstehen: „Was sollen wir denn<br />
gegen dich geredet haben?“ Aber sie werden dann auch mit ihrem sachlichen Widerspruch<br />
zitiert: „Es ist sinnlos, für Gott zu arbeiten ... „. Schließlich kommt wieder der Prophet zu Wort<br />
und legt ausführlich dar, warum seiner Auffassung nach das Denken und Reden der<br />
Dialogpartner dreist ist: „Vor Gott wird ein Buch geführt zum Gedächtnis derer, die Adonaj<br />
achten.“ Es kommt der Tag, da werdet ihr den Unterschied sehen „zwischen Gerechten und<br />
Gewalttätigen, zwischen denen, die für Gott arbeiten, und denen, die nicht für Gott arbeiten.“<br />
Der Umstand, daß unser Text – bis auf die letzten Verse – als Dialog strukturiert ist, hat<br />
etwas Einladendes. Er nimmt uns, ja, er zieht uns in das Gespräch hinein: Auf welcher Seite<br />
stehe ich? Wem gebe ich recht? Und das gilt, obwohl der Dialog gar keiner ist.<br />
II. Ein Dialog, der gar keiner ist<br />
1. Was uns hier als Dialog entgegentritt, ist mit Sicherheit nicht die Wiedergabe eines<br />
tatsächlich so geführten Gesprächs. Das zeigt sich schon an der gleichförmigen Anlage. Wir<br />
haben es schon formal mit einem stilisierten, fiktiven Dialog zu tun. Aber was noch weit<br />
folgenreicher ist: Der Prophet setzt sich und uns dem Ernst der Fragen, die seine<br />
Dialogpartner stellen, gar nicht mehr aus. Er hat schon entschieden, wer im Recht ist und<br />
wer nicht. Das wird gleich zu Anfang unseres Textes ganz deutlich: „Ihr nervt Adonaj mit<br />
eurem Reden.“ Mit dem ersten Wort schon werden die Dialogpartner zensiert. Sie werden in<br />
eine bestimmte Schublade gesteckt. Der Prophet führt nicht nur formal, sondern auch<br />
inhaltlich gar keinen echten Dialog. Er baut sich Pappkameraden auf und erledigt sie.<br />
2. Die Dialogpartner werden an keiner Stelle näher identifiziert. Offenbar sprechen hier<br />
weder irgendwelche herausgehobenen Einzelpersonen noch die Vertreter einer bestimmten<br />
sozialen Schicht oder Gruppe. Der Prophet gibt gewissermaßen die öffentliche Meinung<br />
seiner Zeit wieder. So denkt und redet „man“.<br />
Im Kern geht es dabei um die verstörende Erfahrung, daß die Ordnung der Welt aus den<br />
Fugen geraten zu sein scheint: „Die Gewalttätigen haben Bestand, die Gott herausfordern,<br />
kommen davon“ (3,15b); die Friedfertigen aber kommen unter die Räder; die sich an Recht<br />
und Gesetz halten, ziehen den Kürzeren. In bitterer Ironie heißt es: „Von nun an preisen wir<br />
die Dreisten glücklich“ (3,15a). Offenbar ist jetzt alles auf den Kopf gestellt: Die, die Böses<br />
tun, sind gut in den Augen Gottes (2,17), und die, die Gottes Weisungen folgen, sind ihm<br />
egal. Wo soll das hinführen, wenn die moralischen Anreizstrukturen nicht mehr stimmen? „Es<br />
ist sinnlos, für Gott zu arbeiten, was bringt's, wenn wir uns daran halten, was Gott will?“<br />
(3,14) Ja, die Zweifel und die bohrenden Fragen beziehen sich auch auf Gott selbst: „Wo ist<br />
denn Gott und schafft Recht?“ (2,17) Das ist Klage und Anklage und Absage in einem: Wie<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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lange, Gott, soll das noch so bleiben? Wie kannst du, Gott, das überhaupt zulassen? Was<br />
soll ich überhaupt mit einem Gott anfangen, der diesem Gang der Dinge seinen Lauf läßt?<br />
Wer so denkt und solche Fragen stellt, der führt keine „dreisten Reden“ (3,13) gegen Gott.<br />
Wer es wagt, so zu fragen und zu reden, der braucht sich auch keine Sorgen zu machen, er<br />
trete Gott damit zu nahe und „nerve“ (2,17) ihn. Das ist jedenfalls meine feste Überzeugung.<br />
Und ich sauge sie mir nicht aus den Fingern, sondern ich orientiere mich dabei an vielen<br />
biblischen Vorbildern, insbesondere in den Psalmen und dem Buch Hiob. Vor Gott brauchen<br />
wir uns nicht zu verstellen und zu zensieren und zu mäßigen. Im Verkehr mit Gott können wir<br />
auf alle Taktik und Diplomatie verzichten. Es darf und es soll zugehen wie unter Freunden.<br />
Da darf man auch einmal ein offenes Wort riskieren.<br />
Der Vorwurf der Dreistheit an die Adresse der Dialogpartner ist um so verfehlter, als sie<br />
ernstzunehmende, beunruhigende Fragen gestellt haben. Was hat der Prophet – über<br />
seinen Vorwurf des ungehörigen Benehmens gegenüber Gott hinaus – in der Sache für<br />
Antworten zu bieten?<br />
3. Bevor ich auf die Antworten im einzelnen eingehe, muß ich eine kleine Zwischenbemerkung<br />
einschieben: Die Antworten sind, vorsichtig gesagt, in sich spannungsvoll. Sie<br />
ergeben kein einheitliches Bild. Es werden verschiedene Antwortanläufe unternommen, aber<br />
der inhaltliche Akzent, der dabei gesetzt wird, verschiebt sich. Das ist für die Prophetenbücher<br />
nicht untypisch und hängt mit dem bereits erwähnten Umstand zusammen, daß sie<br />
nicht von einem einzelnen Autor stammen, sondern über Jahrhunderte gewachsen sind.<br />
Heute ist keine Gelegenheit, das Buch Maleachi unter dieser Perspektive detailliert zu<br />
betrachten. Nur der pauschale Hinweis sei noch gestattet, daß es zu kurz gegriffen wäre,<br />
das spannungsvolle Nebeneinander mehrerer Antwortanläufe am Maßstab in sich<br />
geschlossener, konsistent angelegter Texte zu messen und darum als Mangel zu bewerten.<br />
Im Gegenteil – im Vorgang und im Ergebnis des Wachstums der prophetischen<br />
Überlieferung bricht sich die Einsicht Bahn, daß es auf viele Fragen die Antwort nicht gibt<br />
und daß wir gut daran tun, die Antworten, wie sie in unterschiedlichen Situationen und von<br />
unterschiedlichen Generationen hervorgebracht worden sind, nebeneinander stehen zu<br />
lassen.<br />
In seinen drei Dialogteilen unternimmt unser Text drei Antwortanläufe:<br />
Der erste (2,17 – 3,5) macht geltend, daß Juda und Jerusalem geläutert werden muß. Erst<br />
dann könne sichtbar werden, daß es sich sehr wohl lohnt, für Gott zu arbeiten. Es sei doch<br />
kein Wunder, daß das Volk Gottes nicht gedeiht: Denn da sind viele, „die finstere<br />
Machenschaften treiben, Ehen zerstören, Meineide schwören, den Tagelohn drücken,<br />
Witwen und Waisen unterdrücken, Fremde wegdrängen“ (3,5) – Anklagepunkte, die an<br />
Aktualität auch nach über zwei Jahrtausenden nichts eingebüßt haben. Auf die Frage: „Wo<br />
ist denn Gott und schafft Recht?“, heißt die Antwort: Ich, Gott, „nahe mich euch und schaffe<br />
Recht“ (3,5); ich werde sein „wie schmelzendes Feuer, wie ätzende Lauge“ (3,2); „seht, ich<br />
schicke meinen Boten, daß er den Weg vor mir frei räume“ (3,1).<br />
Im zweiten Antwortanlauf (3,6–12) wird die Anklage gegen das Volk Gottes ausgeweitet. Es<br />
ist nicht so, daß da ein paar Verunreinigungen sind, die wie beim Läutern von Gold und<br />
Silber ausgeschmolzen werden müssen; das ganze Volk hintergeht Gott: Ihr macht eurem<br />
Namen „Kinder Jakobs“, Kinder dessen, der hintergeht, alle Ehre; „seit den Tagen eurer<br />
Vorfahren seid ihr von meinen Bestimmungen gewichen und habt sie nicht gehalten“ (3,6f).<br />
Auf die Frage, womit das Volk Gott hintergangen hat, gibt der Prophet eine erstaunliche<br />
Antwort: „Mit dem Zehnten und der Abgabe!“ (3,8) Also – wenn nur endlich die Kirchensteuer<br />
und das Kirchgeld ordentlich entrichtet würden, dann wäre alles gut. Sollen wir das als<br />
Kommentar zur jüngsten Kirchensteuerdebatte lesen? „Bringt den Zehnten ganz zur<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Sammelstelle“, sagt Gott. „Prüft mich doch daran ... , ob ich euch nicht die Luken des<br />
Himmels öffne und über euch Segen ausschütte ... Ich verscheuche für euch die<br />
Heuschrecke“ (3,11f). Ob das auch für Münteferings Heuschrecken gilt?<br />
Der dritte Antwortanlauf (3,13–21) kehrt wieder zurück zu dem Gedanken, daß im Volk<br />
Gottes Gerechte und Gewalttätige, solche, die für Gott arbeiten, und solche, die nicht für<br />
Gott arbeiten, zusammen leben – ein wahres corpus permixtum, ein sehr gemischter Haufen.<br />
Der Unterschied zum ersten Antwortanlauf besteht in zweierlei: Das Handeln, mit dem Gott<br />
Recht schaffen wird, wird weit in die Zukunft geschoben; die Rede von „dem Tag“, dem „Tag<br />
Jahwes“, wie er in den Prophetenbüchern vielfach genannt wird, hat sich ja in dem Begriff<br />
„Jüngster Tag“ bis hinein in die christliche Tradition erhalten. Und zweitens: Das Handeln<br />
Gottes, das für „den Tag“ erwartet wird, wird nicht mehr länger als Reinigung, sondern jetzt<br />
als Scheidung beschrieben: „Dann seht ihr wieder den Unterschied zwischen Gerechten und<br />
Gewalttätigen ... Paßt auf, der Tag kommt, brennend wie ein Ofen. Dann sind alle Dreisten<br />
und Gewalttätigen nichts als Stroh, und versengen wird sie der kommende Tag“ (3,18f). So<br />
wie in Jesu Gleichnis vom Weltgericht es der Herr selbst ist, der die Schafe von den Böcken<br />
scheidet, ist es auch bei Maleachi Gott, der die Gottesfürchtigen ins Recht setzt und die<br />
Dreisten dem Untergang preisgibt. Aber die Gerechten bekommen eine kleine Nebenrolle.<br />
Zunächst heißt es in einer wunderbaren Formulierung, die manchmal auch als<br />
Konfirmationsspruch Verwendung findet: „Über euch aber, die ihr meinen Namen achtet,<br />
geht die Sonne der Gerechtigkeit auf, ihre Flügel bringen Heilung“ (3,20). Aber dann brechen<br />
sich menschliche Triumph– und Rachegefühle ungebremst Bahn: „Und ihr kommt heraus<br />
und hüpft umher wie Kälber auf der Mastweide, zerstampft die Gewalttätigen. Ja, Staub sind<br />
sie unter euren Fußsohlen“ (3,20f).<br />
So deutlich die Unterschiede zwischen den drei Anläufen hervortreten – es werden auch<br />
gemeinsame, unbeirrbar festgehaltene Koordinaten sichtbar. Durch den ganzen Text<br />
hindurch kommt auf der Seite des Propheten an keiner Stelle auch nur der leiseste Zweifel<br />
daran auf, daß die Regel gilt und Bestand hat: Das Tun des Gerechten lohnt sich, Frevel und<br />
Dreistigkeit rächen sich. Irgendwann – das ist die Überzeugung – wird es offenkundig<br />
werden: Im Blick auf ihr Ergehen ist ein „Unterschied zwischen Gerechten und<br />
Gewalttätigen“ (3,18). „Prüft mich doch“, so läßt der Prophet herausfordernd und geradezu<br />
keck Gott sprechen, macht doch den Test, „ob ich ... nicht ... über euch Segen ausschütte –<br />
mehr als genug ... Alle Völker werden euch glücklich preisen, weil ihr ein Land seid, in dem<br />
es Lust macht zu leben“ (3,10–12). Da stimmt alles, für die Gerechtigkeit in der Welt ist<br />
gesorgt – jedenfalls in der theologischen Theorie. Für die Gegenerfahrungen aber, für die<br />
Anfechtung dadurch, daß in der Praxis des Lebens und der Welt diese Rechnungen nicht<br />
immer aufgehen, bleibt kein Raum. Der verzweifelte Ton in der Frage: „Wo ist denn Gott und<br />
schafft Recht?“ wird nicht gehört. Doch, so heißt die Antwort, Gott schafft schon Recht: Er<br />
erhebt „Anklage gegen alle, die finstere Machenschaften treiben“ (3,5); er „reinigt die Söhne<br />
und Töchter Levis, läutert sie wie Gold und Silber – dann sind sie im Recht. Dann sind<br />
Adonaj die Gaben in Juda in Jerusalem angenehm wie in einstigen Tagen“ (3,3f). Was die<br />
Dialogpartner mit einer solchen Auskunft anfangen konnten, läßt sich dem Text nicht<br />
entnehmen. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß sie angesichts von<br />
so vielen theologischen Richtigkeiten entweder verstummt sind oder aufbegehrt haben. Der<br />
Text hilft uns an dieser Stelle nicht weiter. Wir sind selbst gefragt. Und was sagen wir?<br />
III. Und was sagen wir?<br />
Ich kann nicht vorhersagen und will nicht vorwegnehmen, was wir, wenn wir jetzt die<br />
Möglichkeit zum Dialog hätten, am Ende vielleicht gemeinsam zu sagen im Stande wären.<br />
Darum beschränke ich mich auf vier kleine Anregungen für Gespräche, die noch hier auf<br />
dem <strong>Kirchentag</strong> oder danach zustande kommen mögen:<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
− 9 −<br />
1. Wie es den Menschen – sei es als einzelnen, sei es als ganzen Völkern oder<br />
Weltreligionen – ergeht, das verdankt sich nicht dem bloßen Zufall. Vielmehr besteht<br />
zwischen dem Tun und dem Ergehen ein Wirkungszusammenhang. Zu allen Zeiten haben<br />
sich Menschen darum bemüht, diesem Zusammenhang genauer nachzuspüren, ihre<br />
Erkenntnis in Erfahrungssätzen festzuhalten und sie an andere, vor allem in der Erziehung,<br />
weiterzugeben. In der Bibel wird man in dieser Hinsicht vor allem in der weisheitlichen<br />
Literatur fündig, insbesondere im Buch der Sprüche und im Buch Jesus Sirach, zwei<br />
biblischen Büchern, die in ihrer lebenspraktischen Bedeutung weithin verkannt und zu<br />
Unrecht vernachlässigt werden:<br />
„Die Hand darauf: Der Böse bleibt nicht ungestraft;<br />
aber der Gerechten Geschlecht wird errettet werden“ (Sprüche 11,21).<br />
„Wer eine Grube macht, der wird hineinfallen;<br />
und wer einen Stein wälzt, auf den wird er zurückkommen“ (Sprüche 26,27).<br />
Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um,<br />
und ein starrköpfiger Mensch nimmt zuletzt ein schlimmes Ende“ (Jesus Sirach 3,27f).<br />
„Gerechtigkeit erhöht ein Volk;<br />
aber die Sünde ist der Leute Verderben“ (Sprüche 14,34).<br />
Nicht wenige dieser Erfahrungssätze sind in das Sprichwortgut eingegangen. Wenn sie<br />
banal klingen, dann doch nur deswegen, weil wir uns längst an sie als eine<br />
Selbstverständlichkeit gewöhnt haben. Aber hinter dem falschen Schein der<br />
Selbstverständlichkeit steckt ein staunenswerter Tatbestand: Die Welt begegnet uns hier<br />
nicht mehr als blinder Zufall und unerklärliches Widerfahrnis; im Zusammenhang zwischen<br />
Tun und Ergehen sind wir der Ordnung der Welt auf der Spur; die Spruchweisheiten, von<br />
denen ich einige wenige zitiert habe, machen uns zugänglich, wie die Welt „tickt“. Wenn es<br />
richtig zugeht, also wenn die Welt nicht in Unordnung geraten ist, dann können wir uns<br />
darauf verlassen: „Die Hand darauf: Der Böse bleibt nicht ungestraft; aber der Gerechten<br />
Geschlecht wird errettet werden.“<br />
Man darf im übrigen nicht übersehen, daß eine Spruchweisheit wie diese eine geradezu<br />
seelsorgerliche Funktion ausübt. Denn sie kann Menschen aufrichten, die am Erfolg der<br />
Bösen irre zu werden drohen oder unter ihrer Herrschaft zu leiden haben, sie kann die<br />
Gewißheit stark machen: Auch diese Bäume werden nicht in den Himmel wachsen, der Böse<br />
bleibt nicht ungestraft.<br />
Der Kontext, in dem sowohl in der biblischen als auch in der außerbiblischen Literatur<br />
Spruchweisheiten auftauchen, läßt vermuten, daß sie gerade auch in der Erziehung, nicht<br />
zuletzt in der moralischen Erziehung, Verwendung fanden. Denn daran kann kein Zweifel<br />
sein: Spruchweisheiten über den verläßlichen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen<br />
wirken – Kant hin oder her – verhaltenssteuernd. Wer erwarten darf oder erwarten muß, daß<br />
Rechttun belohnt wird, Bosheit sich aber rächt, der wird in seinem Verhalten davon nicht<br />
unbeeinflußt bleiben. In den Evangelien wird an diesen Zusammenhang ganz unbefangen<br />
angeknüpft. Jesus sagt zum reichen Jüngling: „Geh hin, verkaufe, was du hast, und gib's den<br />
Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben“ (Matthäus 19,21; vgl. auch Lukas 12,33).<br />
Das hat aber nicht verhindert, daß in der evangelischen Theologie und Frömmigkeit –<br />
vermutlich unter dem Einfluß einerseits der reformatorischen Rechtfertigungslehre und<br />
andererseits der Kantschen Ethik – ein tiefsitzender Vorbehalt gegen dieses Handlungsmotiv<br />
entstanden ist. Im Maleachibuch werden die Dialogpartner des Propheten mit dem Satz<br />
zitiert: „Es ist sinnlos, für Gott zu arbeiten. Was bringt's, wenn wir uns daran halten, was Gott<br />
will?“ (3,14) Der typische Protestant – wenn es so etwas gibt – faßt diesen Satz mit spitzen<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Fingern an. Die Frage: Was bringt's? ist ihm nicht geheuer. Recht so, wenn es um die<br />
Gerechtigkeit geht, die vor Gott gilt. Aber dort, wo es um innerweltliche Folgen des<br />
menschlichen Verhaltens geht, tun wir uns keinen Gefallen, wenn wir diese Frage schlecht<br />
machen.<br />
2. Man kann allerdings kein Plädoyer halten für die lebenspraktische Bedeutung des<br />
Zusammenhangs von Tun und Ergehen, ohne im nächsten Atemzug hinzuzufügen: Die<br />
Rechnungen gehen nicht glatt auf. Die Geschichten von Oliver Held und Oliver Neuville<br />
lösen Genugtuung aus. So wünscht man sich die Welt. Aber man weiß zugleich: So<br />
funktioniert sie nicht immer, ja, so funktioniert sie, gerade im Fußball, eher selten. Das<br />
menschliche Leben und das Weltgeschehen sind kein Mechanismus, den wir berechnen<br />
könnten. Wir können aus der Fülle der Erfahrungen gewisse Vermutungen und Erwartungen<br />
ableiten. Das ist auch eine große Hilfe, sich im Leben und in der Welt zu orientieren. Aber<br />
wer die Erfahrungssätze für Gesetzmäßigkeiten hält, wird leicht am Leben und an Gott irre<br />
und produziert bei anderen Enttäuschung und Verzweiflung. Es geht – Gott sei's geklagt –<br />
nicht immer gerecht zu in der Welt. Das wird mir bei Jeremias Gotthelf zu wenig spürbar.<br />
Was er in der „schwarzen Spinne“ schreibt, klingt mir zu sicher, zu ungebrochen, fast<br />
triumphalistisch. Die dunklen, undurchdringlichen Seiten des Menschenlebens, der Welt,<br />
aber gerade auch Gottes lassen sich nicht bewältigen, wenn wir die störenden<br />
Gegenerfahrungen wegerklären oder mit Gewalt in das System unserer erworbenen<br />
Überzeugungen einpassen. Wir können nur versuchen, ihnen im Maß der menschlichen<br />
Kräfte selbst standzuhalten und denen, die davon umgetrieben und angefochten werden,<br />
beizustehen.<br />
Wie sensibel wir mit der Einsicht umgehen müssen, daß ein Zusammenhang besteht<br />
zwischen Tun und Ergehen, will ich noch in einer besonderen Hinsicht entfalten. Es ist, auch<br />
medizinisch, durchaus vernünftig, eine Krankheit unter dem Gesichtspunkt eines möglichen<br />
Zusammenhangs zwischen Tun und Ergehen zu betrachten. Es gibt nicht wenige<br />
Krankheitszustände, die hervorgerufen oder jedenfalls befördert werden durch ein<br />
gesundheitsschädliches Verhalten. Insofern gehört es zu einer vernünftigen Gesundheitserziehung<br />
und allgemeinen Gesundheitsprophylaxe, auf die Gefahren hinzuweisen, die sich<br />
mit bestimmten Verhaltensweisen oder Lebensumständen verbinden. Es kann auch seinen<br />
guten Sinn haben, wenn jemand, der krank geworden ist, sich darauf besinnt, ob und wie er<br />
vielleicht selbst zum Ausbruch der Krankheit beigetragen haben könnte. Aber man bewegt<br />
sich hier in einer sehr gefährlichen Zone. Denn unversehens verstehen kranke Menschen<br />
diesen Gedankengang so, als seien sie in jedem Fall selbst schuld an ihrer Krankheit. Dann<br />
kann es passieren, daß sie nicht nur mit ihrer Krankheit, sondern mit quälenden<br />
Selbstvorwürfen zu kämpfen haben. Dabei gilt gerade auch im Blick auf Krankheit und<br />
Gesundheit: Unsere Rechnungen gehen nicht glatt auf.<br />
3. „Gerecht muß es zugehn“, sagt Astrid Lindgrens Karlsson. Es ist derselbe Karlsson, der<br />
bei der Verteilung nie genug bekommen kann. Das macht in erzählerischer Übertreibung<br />
aufmerksam auf eine charakteristische Differenz zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung.<br />
Was gerecht ist und was sie verdient haben, beurteilen die Handelnden und<br />
Redenden selbst oft auffällig anders als ein Beobachter. Nachdem ich lange genug die<br />
Dialogpartner vor dem Urteil Maleachis in Schutz genommen habe, muß ich dies doch<br />
einräumen: Besonders selbstkritisch sind sie nicht. Auf jede Vorhaltung reagieren sie erst<br />
einmal in einer Mischung von Unschuldsmiene und Gegenangriff: 'Was haben wir denn<br />
Falsches gesagt und getan?' Darum hat es auch sein Recht, wenn Maleachi die Frage, wo<br />
denn Gott sei und wann er Recht schaffe, gegen die Fragesteller selbst kehrt: Gott schafft<br />
Recht, indem er Anklage erhebt gegen alle, die finstere Machenschaften treiben.<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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4. Daß der Zusammenhang von Tun und Ergehen nicht ein ehernes Gesetz ist, dem wir<br />
unentrinnbar unterworfen wären, hat eine gnädige Seite, auf die ich zum Schluß hinweise.<br />
Wenn es wirklich gerecht zuginge – es wäre aus mit uns. Wenn wir – als einzelne wie als<br />
Völker – in unserem Ergehen das empfingen, was wir, gemessen an unserem Tun, verdient<br />
haben – wir hätten nichts zu lachen. „Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über<br />
alle gottlose Wesen und alle Ungerechtigkeit der Menschen“ (Römer 1,18). Gottes Gnade<br />
aber ist mächtiger als sein Zorn. Schon die weisheitliche und prophetische Literatur des<br />
Alten Testaments hat eingeschärft: Der Zusammenhang von Tun und Ergehen vollzieht sich<br />
nicht wie ein Automat. Gott kann ihn gnädig aufhalten, abmildern, ja abwenden. Dafür steht<br />
auch der Weg und das Werk Jesu Christi. Denn Gott schaut am Jüngsten Tag nicht auf die<br />
Gerechtigkeit, die wir vorzuweisen haben, sondern rechnet uns die Gerechtigkeit Jesu Christi<br />
zu. So sage ich mit dem Apostel Paulus: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es<br />
ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben ... Denn darin wird offenbart die<br />
Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben“ (Römer 1,16f).<br />
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.<br />
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.