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Abschlussbericht Teil II herunterladen - Geschichtswerkstatt Europa

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Inhaltsverzeichnis <strong>Teil</strong> <strong>II</strong><br />

<strong>II</strong>. Gedenktage<br />

<strong>II</strong>.1. Der Tag des Sieges in Odessa....................................................................................... 31<br />

<strong>II</strong>.2. Alte und neue Gedenktage für die Opfer der politischen Repressionen....................... 36<br />

<strong>II</strong>.2.1. Der Tag des politischen Gefangenen am 30. Oktober........................................... 36<br />

<strong>II</strong>.2.2. Der neue ukrainische Gedenktag für die Opfer der politischen Repressionen...... 37<br />

<strong>II</strong>.2.2.1. Allgemeines .................................................................................................... 37<br />

<strong>II</strong>.2.2.2. Die Gedenkfeier auf dem zweiten christlichen Friedhof in Odessa ............... 39<br />

1


<strong>II</strong>. Gedenktage<br />

<strong>II</strong>.1. Der Tag des Sieges in Odessa<br />

Da wir unsere InterviewpartnerInnen zu ihren Erinnerungen an den 9. Mai 1945 und ihre<br />

Perspektive auf die Feierlichkeiten zum „Tag des Sieges“ befragen wollten, hatten wir uns<br />

vorgenommen, in diesem Zusammenhang Veranstaltungen in Odessa zu besuchen. In der<br />

Woche vom 3. bis 9. Mai fanden an unterschiedlichen Orten in Odessa Versammlungen,<br />

Konzerte und Feste statt, zu denen die Veteranen des Zweiten Weltkriegs eingeladen wurden.<br />

Es war gar nicht so leicht, einen Überblick zu bekommen, da die Medien hauptsächlich die<br />

große Parade im Schevtschenko-Park, bei der jedes Jahr am Grab des „unbekannten<br />

Matrosen“ Kränze niedergelegt werden, ankündigten. Wie auch im letzten Jahr nahmen wir<br />

am 9. Mai an dieser zentralen Veranstaltung teil.<br />

Die große Parade im Schevtschenko-Park<br />

Am Morgen des 9. Mai fahren wir ins Stadtzentrum. Schon in der Marschrutka begegnen uns<br />

viele Menschen mit Blumen, die kleinen Kinder sind herausgeputzt. Wir laufen zum<br />

Schevtschenkopark, der die historische Altstadt in südlicher Richtung mit den Stränden<br />

verbindet. Nach etwa zehn Minuten erreichen wir einen großen runden Platz, über den das<br />

„Denkmal des unbekannten Matrosen“ hoch in den Himmel ragt. Hier treffen sich abends und<br />

am Wochenende viele Paare und Familien und genießen die Aussicht. Containerschiffe liegen<br />

im Hafen, bis zum Horizont erstreckt sich das Schwarze Meer. Heute jedoch ist es schwer,<br />

sich einen Weg durch die Menschenmenge hindurch zur Aussichtsplattform zu bahnen.<br />

Der „Tag des Sieges“ ist auch zwanzig<br />

Jahre nach dem Ende der Sowjetunion<br />

einer der wichtigsten Feiertage in<br />

Odessa. Bereits um halb zehn Uhr<br />

morgens haben sich hunderte Menschen<br />

im Park versammelt, um bei der<br />

feierlichen Kranzniederlegung am<br />

Denkmal dabei zu sein.<br />

Die Menschen drängen sich entlang der<br />

großen Allee, die vom Haupteingang<br />

des Schevtschenkoparks direkt auf die<br />

hohe Stele des Denkmals zuführt. Auf<br />

beiden Seiten befinden sich die Gräber<br />

ganz junger Odessiten, die im Juni 1941<br />

direkt nach dem Abschluss der 11.<br />

Klasse an die Front geschickt wurden.<br />

Nur zwei Prozent dieser Generation<br />

kehrte nach dem Krieg in ihre Heimat<br />

zurück. Vor den Grabplatten stehen an<br />

diesem Tag junge Männer und Frauen<br />

in Matrosenuniform. Sie sind ungefähr<br />

in dem Alter der jungen Soldaten von<br />

damals und warten geduldig auf den<br />

Start der Parade.<br />

31


Dann endlich geht es los. Vorne am Denkmal, wo wir uns einen Platz erkämpft haben, spielt<br />

eine Militärkapelle einen feierlichen Marsch. Aus der Ferne erkennen wir einen Pulk von<br />

Menschen auf der Allee, der langsam näher kommt. Zum Ärger der anderen Zuschauer<br />

recken, strecken und drängeln wir uns nach vorne, um besser sehen und fotografieren zu<br />

können. Langsam kommt die Menge näher, die von Offizieren in glänzenden Uniformen<br />

angeführt wird. Jeweils zwei Männer tragen einen großen Kranz und laufen im Stechschritt<br />

langsam auf das Denkmal zu.<br />

Die Stimmung ist ernst und sehr feierlich. Den Offizieren schließt sich eine große Gruppe von<br />

Menschen mit Blumen und Kränzen an. Ein orthodoxer Priester ist darunter, viele Veteranen<br />

und die Vertreter ihrer regionalen Verbände, aber auch viele junge Leute, Familien und<br />

Kinder. Den vorläufigen Abschluss bildet eine große Gruppen von StudentInnen der<br />

Marineakademie, die schnurstracks zum Denkmal marschieren.<br />

Vor der ewigen Flamme am Sockel der Stele legen die Offiziere die Kränze zu Ehren der<br />

Toten nieder. Salutierend bleiben sie stehen bis der Marsch der Kapelle verklungen ist. Dann<br />

marschieren sie mit strammen Schritt am Denkmal vorbei Richtung Altstadt davon. Nachdem<br />

auch die letzten Offiziere und Musiker den Platz verlassen haben kommt Bewegung in die<br />

Menge. Die Menschen drängen nach vorne, um auch ihre Blumen auf beiden Seiten des<br />

Denkmals nieder zu legen. Viele steigen die Stufen zur Stele hoch und grüßen die Veteranen,<br />

die dort Plakate und Fahnen in die Höhe halten. Mehrere Fahnen sind von der<br />

kommunistischen Partei der Ukraine. Auf einer anderen Fahne erkennen wir Stern, Hammer<br />

und Sichel, die Symbole der Sowjetunion. Daneben hält eine alte Dame ein Pappschild mit<br />

Stalin fest umklammert.<br />

32


Fahnenträger vor dem Denkmal des Unbekannten Matrosen<br />

Foto fürs Familienalbum<br />

Angehende Matrosen auf dem Weg zum Denkmal<br />

33


Rasch wächst der Blumenberg auf dem<br />

Sockel, immer mehr Menschen strömen<br />

zum Denkmal. Unten auf dem Platz<br />

schubsen Männer und Frauen ihre<br />

Kinder zu den Veteranen. Schüchtern<br />

überreichen sie die Blumen ihrer Eltern.<br />

Die alten Männer sind sichtlich gerührt,<br />

viele haben Tränen in den Augen.<br />

Gegen Mittag halten fast alle Veteranen<br />

stattliche Sträuße in der Hand. Heute ist<br />

ihr Tag. Auf den alten Uniformen<br />

funkeln Medaillen und Orden, geduldig<br />

beantworten sie die Fragen der<br />

JounalistInnen zu ihren Kriegserlebnissen.<br />

Immer wieder hören wir,<br />

wie sich junge Männer und Frauen bei<br />

den Veteranen für ihre Verdienste im<br />

Zweiten Weltkrieg bedanken. „Ich bin<br />

ihnen so dankbar dafür, dass wir nicht<br />

mehr wissen, was Krieg ist“ sagt eine<br />

junge Frau sehr bewegt und drückt ihr<br />

kleines Kind noch fester an sich. Es ist<br />

ein Tag der Erinnerung an den Sieg, der<br />

viele Jahrzehnte zurück liegt, aber auch<br />

ein Tag der Jugend und der Zukunft.<br />

Die Grausamkeit des Krieges, der in der Sowjetunion ca. 27 Millionen Menschen das Leben<br />

kostete, und der Stolz auf den gemeinsam errungenen Sieg soll niemals in Vergessenheit<br />

geraten. Der Tag des Sieges ist auch ein Tag, an dem diese Erinnerung an die künftige<br />

Generationen weitergegeben wird.<br />

34


Für die alten Menschen ist es ein ganz besonderer, aber auch sehr anstrengender Tag. Bevor<br />

die große Mittagshitze beginnt werden viele von ihren Angehörigen bereits wieder nach<br />

Hause begleitet. Als sich die Menge etwas lichtet sehen wir auf dem Platz eine kleine Gruppe<br />

von Menschen, in ihrer Mitte eine Frau mittleren Alters. Aufgeregt umklammert sie einen<br />

großen Lautsprecher und fängt an, auf Präsident Juschenko zu schimpfen. Er wolle die alten<br />

sowjetischen Gedenkstätten für die Helden des Großen Vaterländischen Krieges abreißen und<br />

an ihrer Stelle den Verrätern der OUN und UPA Denkmäler setzen, ruft sie aufgebracht in die<br />

Menge. „Das dürfen wir nicht zulassen! Die Kämpfer der UPA sind keine Helden, sondern<br />

Verbrecher! Die wahren Helden des Krieges sind hier, vor ihnen müssen wir uns verbeugen!“<br />

Die Frau, die offensichtlich einer politischen Gruppierung angehört, fällt mit gesenktem Kopf<br />

vor der Stele auf die Knie. Mehrere male kämpft sie mit den Tränen und muss die Rede<br />

unterbrechen, da ihr die Stimme versagt.<br />

Die meisten Menschen auf dem Platz jedoch schenken der Rednerin keine große<br />

Aufmerksamkeit und gehen einfach weiter. Einige bleiben ein paar Minuten stehen und<br />

mischen sich in die Diskussion ein. Alle reden durcheinander, die Stimmung ist erregt. Wir<br />

verstehen lediglich, dass manche Juschenko verteidigen und andere in die Kritik an der<br />

Regierung einstimmen.<br />

Wir verlassen die kleine Versammlung und schlendern auf der Allee in Richtung Innenstadt.<br />

Am Parkausgang haben politische Parteien ihre Stände aufgebaut. Aus den Lautsprechern<br />

schallen alte sowjetische Soldatenlieder über den Krieg und den Triumph des Sieges. Viele<br />

Menschen singen mit, kleine Kinder tanzen gemeinsam mit ihren Großeltern. Eine ältere<br />

Dame von der „progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine“ hält ein Pappschild mit<br />

Stalins Konterfei in der Hand. Es ist das zweite und letzte Stalinbild, das wir an diesem Tag<br />

zu Gesicht bekommen.<br />

Sicher wird der Tag des Sieges<br />

auch in Odessa für politische<br />

Zwecke instrumentalisiert. Die<br />

einzelnen Parteien zeigen<br />

Präsenz oder äußern sich zur<br />

aktuellen Geschichtspolitik der<br />

Regierung. Auch uns drückt<br />

man Flyer eines ukrainischen<br />

Mobilfunknetzbetreibers in die<br />

Hand, auf dem den Veteranen<br />

zum 9. Mai gratuliert und<br />

gleichzeitig mit neun Prozent<br />

Rabatt für ein spezielles<br />

Angebot geworben wird.<br />

Doch für all die Menschen, die<br />

an diesem Tag zur Parade in<br />

den Schevtschenko-Park gekommen sind, steht nicht die Politik, sondern das Gedenken an die<br />

Millionen von Kriegstoten im Zentrum. Bei ca. 27 Millionen Opfern hat nahezu jede Familie<br />

mindestens einen Familienangehörigen im Krieg verloren. Die Menschen erinnern sich an<br />

diese fürchterliche Zeit und feiern gemeinsam die Veteranen, die den Sieg über<br />

Nazideutschland erkämpft und so ein friedliches Leben in der Gegenwart ermöglicht haben.<br />

35


<strong>II</strong>.2. Alte und neue Gedenktage für die Opfer der politischen Repressionen<br />

<strong>II</strong>.2.1. Der Tag des politischen Gefangenen am 30. Oktober<br />

Am 30. Oktober 1974 führten politische Häftlinge der Lager in Perm und Mordowien sowie<br />

des Gefängnisses in Wladimir 1 einen zeitgleichen Hungerstreik durch. Sie wollten damit ein<br />

Zeichen setzen und gegen die unmenschlichen Haftbedingungen protestieren. Die Häftlinge<br />

zündeten Kerzen im Gedenken an die unzähligen Opfer der politischen Repressionen an und<br />

beschlossen, dass der 30. Oktober von nun an als „Tag des politischen Häftlings“ (День<br />

политзаключённого) gelten solle. Am selben Tag veranstaltete der berühmte Physiker und<br />

Menschenrechtler Andrej Dmitirijewitsch Sacharow 2 in seiner Wohnung in Moskau eine<br />

Pressekonferenz, auf der auch westliche JournalistInnen anwesend waren. Er informierte über<br />

die Lager in der Sowjetunion, die Situation der Dissidenten und die menschenverachtenden<br />

Haftbedingungen, unter denen Tausende Menschen auch zwanzig Jahre nach Stalins Tod<br />

noch immer litten.<br />

Seit diesem Tag gab es in der gesamten Sowjetunion am 30. Oktober Hungerstreiks von<br />

politischen Häftlingen, die damit ihren Protest gegen das sowjetische Justizsystem zum<br />

Ausdruck brachten. Im Zuge der Perestrojka fanden ab Ende Oktober 1987 auch<br />

Demonstrationen in Moskau, Leningrad, Lviv, Tbilissi und anderen Städten der Sowjetunion<br />

statt. Am 30. Oktober 1989 versammelte sich das erste Mal eine große Menschenmenge vor<br />

dem KGB-Gebäude in Moskau. Etwa 3000 DemonstrantInnen bildeten mit Kerzen in den<br />

Händen eine Lichterkette um das Gebäude und zogen anschließend weiter zum Puschkinplatz.<br />

Eigentlich war dort ein Treffen geplant, doch Sondereinheiten der Miliz trieben die Menge<br />

auseinander 3 .<br />

Zwei Jahre später wurde der 30. Oktober offiziell als „Gedenktag für die Opfer der politischen<br />

Repressionen“ vom Obersten Sowjet Russlands anerkannt. Ehemalige Häftlinge und<br />

Menschenrechtler von Memorial weisen jedoch immer wieder darauf hin, dass dieser<br />

Gedenktag nicht vom Staat, sondern von politischen Häftlingen selber eingeführt wurde 4 . In<br />

vielen Städten Russlands finden jährlich am 30. Oktober Treffen und Veranstaltungen in<br />

Erinnerung an die Opfer der staatlichen Gewaltherrschaft statt. Viele Organisationen nutzen<br />

diesen Tag auch, um für die Freilassung von russischen Staatsbürgern zu demonstrieren, die<br />

heutzutage aus politischen Gründen inhaftiert sind 5 .<br />

1 Die Stadt Wladimir liegt ca. 190 km östlich von Moskau<br />

2 Nachdem Sacharow wegen seines mutigen Einsatzes für Menscherechte und Demokratie in der Sowjetunion<br />

1975 den Friedensnobelpreis verliehen bekam, war er immer stärkeren Repressionen von Seiten der sowjetischen<br />

Regierung ausgesetzt. Im Januar 1980 wurde Sacharow verhaftet und nach Nischni Nowgorod verbannt.<br />

Nachdem die Verbannung 1986 aufgehoben wurde, kehrte Sacharow nach Moskau zurück. Er wurde 1989<br />

Gründungsmitglied von Memorial und starb noch im selben Jahr im Alter von 68 Jahren.<br />

Seit 1988 verleiht das Europäische Parlament jährlich den Sacharow-Preis an Menschen und Organisationen, die<br />

sich um die Verteidigung der Menschenrechte und der Freiheit des Geistes verdient gemacht haben. Wie es der<br />

Zufall will wurde der Sacharow-Preis 2009 an Memorial verliehen.<br />

3 Vgl. den Artikel „Gedenktag für die Opfer der politischen Repressionen“ in der russischen Ausgabe der freien<br />

Internetenzyklopädie Wikipedia: http://ru.wikipedia.org/wiki/День_памяти_жертв_политических_репрессий<br />

(Aufruf vom 14. Dezember 2009)<br />

4 Die Menschenrechtsorganisation Memorial gibt einmal im Monat eine Zeitung mit dem Titel „30. Oktober“<br />

heraus.<br />

5 Vgl. z.B. die Internetseite der Organisation „Solidarität mit den politischen Gefangenen“ http://politzeki.<br />

voinenet.ru/index.php?aid=17188 oder Fotos vom Treffen am 30. Oktober 2009 in Moskau auf einer privaten<br />

Internetseite: http://andrei-naliotov.livejournal.com/90572.html (Aufruf vom 14. Dezember 2009)<br />

36


<strong>II</strong>.2.2. Der neue ukrainische Gedenktag für die Opfer der politischen Repressionen<br />

Am 21. Mai 2007 verkündigte Präsident Juschenko einen neuen nationalen Gedenktag. Seit<br />

zwei Jahren wird der „Gedenktag für die Opfer der politischen Repressionen“ an jedem 3.<br />

Sonntag im Mai offiziell begangen. Wir haben an der Gedenkveranstaltung auf dem zweiten<br />

christlichen Friedhof teilgenommen und möchten unsere Eindrücke in Form eines<br />

Erlebnisberichts wiedergeben. Doch zuvor soll dargestellt werden, wie an diesem Tag den<br />

Opfern der politischen Repressionen in der Ukraine gedacht wurde und wie Präsident<br />

Juschenko den noch jungen nationalen Gedenktag für seine politischen Botschaften nutzte.<br />

<strong>II</strong>.2.2.1. Allgemeines<br />

Zu Ehren der Opfer der politischen Repressionen wurden am 17. Mai die ukrainischen Fahnen<br />

auf Gebäuden, Organisationen und Behörden der Armee, an militärischen Lehrgebäuden<br />

sowie auf den Schiffen der Marine auf Halbmast gesetzt. Dies hatte Präsident Juschenko im<br />

Vorfeld des Gedenktages angeordnet. Soldaten der ukrainischen Streitkräfte sollten<br />

gemeinsam mit VertreterInnen staatlicher und regionaler Verwaltungen, SchülerInnen sowie<br />

Vorsitzenden gesellschaftlicher Organisationen an Gedenkveranstaltungen und<br />

Kranzniederlegungen teilnehmen. Des weiteren verfügte Juschenko, dass in militärischen<br />

Einrichtungen und Bibliotheken des Landes Ausstellungen zum Thema der politischen<br />

Repressionen stattfinden sollten 6 .<br />

In mehreren Städten der Ukraine versammelten sich Menschen an zentralen Gedenkorten für<br />

die Opfer der politischen Repressionen und legten Kränze und Blumen nieder. Mit<br />

Schweigeminuten und Totenmessen gedachten die <strong>Teil</strong>nehmenden – unter ihnen Vertreter der<br />

örtlichen bzw. regionalen Behörden und der orthodoxen Kirche sowie Vorsitzende<br />

gesellschaftlicher Organisationen und politischer Parteien – den Opfern der stalinistischen<br />

Terrorherrschaft 7 .<br />

Das wichtigste und größte Gedenkereignis fand bei den „Gräbern der Bikowna“ statt, einem<br />

unter Denkmalschutz stehenden Areal südlich von Kiew. In den Wäldern um das Dorf<br />

Bikowna verscharrte man von 1937 bis 1941 tausende unschuldiger Menschen, die zuvor in<br />

den Kellern des NKWD in Kiew erschossen worden waren. Das Gebiet wurde abgeschirmt,<br />

von MitarbeiterInnen des NKWD bewacht und unterlag Jahrzehnte strengster Geheimhaltung.<br />

Es gilt als das Areal mit den meisten Massengräbern in der Ukraine 8 . Einige Tage vor der<br />

6 Vgl. den Artikel: „Die ukrainische Flotte beging den Gedenktag für die Opfer der Politischen Repressionen“<br />

(на украинском флоте отметили День памяти жертв политических репрессий) auf der Internetseite der<br />

russischen Marine www.navy.ru<br />

7 In Ternopil in der Westukraine z.B. zog ein Trauerzug zum Verwaltungsgebäude der örtlichen Miliz, in dem<br />

von 1939 bis 1941 der NKWD untergebracht war. In Sevastopol auf der Krim fand eine Versammlung am<br />

Denkmal für die Opfer der 30er bis 50er Jahre auf dem alten Friedhof statt und in Wolhynien gedachte man den<br />

Toten in besonderen Gottesdiensten. [Vgl den Artikel der Internetzeitung www.korrespondent.net: „In der<br />

Ukraine ehrte man die Opfer der politischen Repressionen“ (В Украине почтили память жертв<br />

политических репрессий, http://korrespondent.net/ukraine/events/839562, Aufruf vom 10. November 2009)]<br />

Korrespondent ist ein russischsprachiges Magazin, das mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren einmal<br />

wöchentlich in der Ukraine erscheint. Außerdem gibt es eine Internetversion des Magazins<br />

www.korrespondent.net. Nach Angabe von KP Media, die das Magazin herausgeben, entspricht Korrespondent<br />

westlichen journalistischen Standards. So unterstützt das Journal keine politische Partei bzw. Gruppierung und<br />

verfolgt eine unabhängige Berichterstattung. (http://www.kpmedia.com.ua/eng/newspr/kor/)<br />

8 Es gibt vorläufige Schätzungen, dass dort mehr als 100.000 Menschen heimlich verscharrt wurden. (Vgl. den<br />

Artikel der Internetzeitung www.ura-inform.com: „Der Präsident verglich die Tragödie der Bikowna mit Babij<br />

Jahr und den Konzentrationslagern“ (Президент сравнил трагедию Быковни с Бабьим Яром и<br />

концлагерями, http://www.ura-inform.com/politics/2009/05/18/jusch]<br />

37


offiziellen Gedenkveranstaltung hatte der Geheimdienst der Ukraine (SBU 9 ) die Namen von<br />

14.191 Opfern verkündet, die nachweislich in der Bikowna begraben sind 10 .<br />

Das Mahnmal für die Opfer in den Wäldern der<br />

Bikowna<br />

Präsident Juschenko am 17. Mai in der Bikowna<br />

Präsident Juschenko war höchstpersönlich bei der Gedenkveranstaltung anwesend und hielt<br />

eine Rede zu Ehren der Opfer. Er verurteilte all diejenigen, welche die Opfer des<br />

kommunistischen Regimes nicht anerkennen und Stalin freisprechen würden. Die Ukraine<br />

solle sich „endlich und endgültig von den Symbolen des Regimes säubern“, welches<br />

Millionen von unschuldigen Menschen vernichtet habe. Juschenko fügte hinzu, dass in den<br />

letzten beiden Jahren mehr als 400 Denkmäler des kommunistischen Regimes in der Ukraine<br />

demontiert worden seien. In diesem Zusammenhang empörte er sich über einige Politiker und<br />

Amtspersonen, die das Thema der politischen Repressionen meiden würden, da sie das Land<br />

am liebsten ohne die ukrainische Sprache, Kultur und die Ukrainer und Ukrainerinnen selbst<br />

beherrschen wollten. Er sagte in seiner Rede ebenfalls, dass die Erörterung des bereits<br />

erwähnten Gesetzesentwurfs im Parlament über den juristischen Status der<br />

Unabhängigkeitskämpfer abgeschlossen werden sollte. So nutzte er den Gedenktag auch, um<br />

vor dem Hintergrund des kommunistischen Terrors das ukrainische Nationalgefühl zu<br />

stärken 11 .<br />

9 Sicherheitdienst der Ukraine, ukr. СБУ - Cлужба Безпеки України<br />

10 Es gab eine eigene Versammlung zur Veröffentlichung der Opferzahlen bei den „Gräbern der Bukowna“.<br />

Unter den <strong>Teil</strong>nehmerInnen waren MitarbeiterInnen der entsprechenden Archive des SBU, Professor Danilenko<br />

vom Institut für die Geschichte der Ukraine (NANU) sowie der Vorsitzende der Memorial-Gesellschaft Kiew<br />

Oleg Baschan. [Vgl. den Artikel der Internetzeitung www.korrespondent.net: „Der SBU weist die Namen von<br />

14.000 Opfern der politischen Repressionen nach, die in Bikowna vergraben sind“ (СБУ установила имена 14<br />

тысяч жертв политрепрессий, захороненных в Быковне, http://korrespondent.net/ukraine/events/836524,<br />

Aufruf vom 10. November 2009)]<br />

11 Vgl. den Artikel der Internetzeitung www.korrespondent.net: „Juschenko: Diejenigen, welche den Fakt des<br />

Holodomors und der Repressionen abstreiten, sind verdammt“ (Ющенко: Те, кто отрицает факт<br />

Голодомора и репрессий, - обречены, http://korrespondent.net/ukraine/politics/839378, Aufruf vom 10.<br />

November 2009)<br />

38


<strong>II</strong>.2.2.2. Die Gedenkfeier auf dem zweiten christlichen Friedhof in Odessa<br />

Am Morgen des 17. Mai machten wir uns bei strahlendem Sonnenschein auf zum Zweiten<br />

Christlichen Friedhof. Tanja, eine gemeinsame Freundin aus Odessa, hatte im Radio von der<br />

Gedenkfeier für die Opfer der politischen Repressionen gehört und uns informiert.<br />

Wir sind das erste mal auf dem Friedhof und suchen den Haupteingang. Um kurz nach 10 Uhr<br />

stehen wir endlich am Tor und sehen eine Gedenktafel für die Opfer der Repressionen, deren<br />

Überreste auf dem Friedhof bestattet sind. Ein Soldat mit Bajonett steht stramm neben<br />

Kränzen und Blumen, die Besucher an diesem besonderen Tag unter der Gedenktafel abgelegt<br />

haben. Wir folgen einer kleinen Menschengruppe zur eigentlichen Gedenkstätte, die sich 400<br />

Meter links vom Haupteingang befindet.<br />

Die Inschrift auf der Gedenktafel lautet: „Auf diesem Friedhof ruhen die sterblichen Überreste der Opfer der<br />

stalinistischen Repressionen. In den 30er und 40er Jahren wurden Menschen unterschiedlicher Nationalität,<br />

Menschen ohne Parteizugehörigkeit und Kommunisten gequält und erschossen.“ Ein anderes, kleines Schild<br />

links neben der Gedenktafel weist darauf hin, dass auf dem Friedhof auch mehr als 5000 Opfer des Holodomors<br />

von 1921 bestattet sind.<br />

Entlang der Friedhofsmauer stehen Schüler und Schülerinnen der Marineakademie<br />

nebeneinander und halten kleine Grabkerzen in den Händen. Auf unserem Weg erklärt uns ein<br />

Mann um die fünfzig, der ein besticktes, typisch ukrainisches Hemd trägt, heute sei ein<br />

Gedenktag speziell für die ukrainischen Opfer der Repressionen und des Holodomors. Wir<br />

erreichen die Gedenkstätte. Vor einem großen Grabstein erstreckt sich ein Massengrab von<br />

ungefähr zwanzig mal fünf Metern Größe. Die Inschrift auf dem Grabstein erinnert daran,<br />

dass hier die Überreste von Opfern begraben sind, die in den 30er und 40er Jahren erschossen<br />

wurden. Vor dem Grab haben MitarbeiterInnen der „Aktion für die Opfer der politischen<br />

Repressionen“ ein Mahnmal aufgestellt. Es besteht aus drei ineinander verflochtenen<br />

Kreuzen, welche die Gitter einer Gefängniszelle symbolisieren sollen. Um das Grab sind<br />

ungefähr vierzig bis fünfzig Menschen versammelt, die meisten von ihnen ältere Frauen. Der<br />

orthodoxen Tradition folgend halten sie dünne gelbe Kerzen zum Andenken an die<br />

39


Verstorbenen in der Hand. Viele von ihnen schmücken die Grabstätte mit Grablichtern und<br />

Blumen.<br />

Alla Borisowna, die eine Organisation für die Kinder der Repressionsopfer gegründet hat 12 ,<br />

hat viele der Anwesenden zur Gedenkfeier eingeladen. Die Frauen und Männer, die in den<br />

30er und 40er Jahren eines oder beide Elternteile durch die Repressionen verloren haben, sind<br />

heute siebzig Jahre oder älter. Doch wir sehen auch einige jüngere Besucher, Kinder und<br />

JournalistInnen.<br />

Nachdem die Besucher einen Platz gefunden haben, halten zwei Männer kurze Reden auf<br />

ukrainisch. Einer ist der Vorsitzende einer städtischen Organisation für die Fragen der<br />

Rehabilitierung, der andere ist der Stellvertreter einer regionalen Organisation für die<br />

Repressierten. Sie entschuldigen sich, dass die geplante Totenmesse nicht stattfinden kann<br />

und erinnern an die vielen Orte in Odessa, an denen die Opfer des Terrors verscharrt wurden.<br />

Erst mit der Unabhängigkeit der Ukraine sei es möglich, einen solchen Feiertag zu begehen.<br />

Die Redner laden alle Anwesenden ein, an einem Mittagessen zu Ehren der Verstorbenen<br />

teilzunehmen.<br />

Sobald die offiziellen Reden vorbei sind marschieren die anwesenden Soldaten zum Ausgang.<br />

Auch die Vertreter der städtischen Regierung haben es scheinbar eilig, die Gedenkstätte<br />

möglichst schnell wieder zu verlassen. Tanja erzählt uns, dass die Vertreter des<br />

Regierungsbezirks die <strong>Teil</strong>nahme an der Gedenkfeier ganz abgesagt haben. Das Thema sei für<br />

Politiker unpopulär, man könnte damit eben keine Wählerstimmen gewinnen. Daher gäbe es<br />

auch kein Geld für eine Totenmesse.<br />

Nachdem der Großteil der Besucher mit einem Bus zum Mittagessen Richtung Innenstadt<br />

abgefahren ist, kommen wir mit Tanja und Nikolaj Nikolajewitsch von Memorial Odessa 13<br />

über die Bedeutung des relativ jungen Nationalfeiertags ins Gespräch. Beide sind der Ansicht,<br />

12 Wir stellen Alla Borisowna und ihre Organisation in dem Kapitel „Erinnerungs- Aufklärungs- und Sozialarbeit<br />

in Odessa zum Thema der Stalinistischen Repressionen“ vor. (Vgl. Kapitel <strong>II</strong>I, Abschnitt 2 dieses Berichts, S.<br />

47-50)<br />

13 Nikolaj Nikolajewitsch und Memorial Odessa stellen wir ebenfalls in dem oben genannten Kapitel vor (Vgl.<br />

Kapitel <strong>II</strong>I, Abschnitt 3 dieses Berichts, S. 50-56)<br />

40


dass Juschenko den Gedenktag für die Opfer der politischen Repressionen absichtlich so nah<br />

auf den Tag des Sieges hat folgen lassen. Tanja meint, der 9. Mai sei ein Tag für Moskau, der<br />

neue Gedenktag dagegen ein Tag für Kiew und die ukrainischen Nationalisten. Sie erklärt<br />

uns, dass Juschenko die Opfer des Zweiten Weltkriegs und die Opfer der politischen<br />

Repressionen zusammen erinnern wolle. Tanja selber lehnt dies entschieden ab, da man die<br />

beiden Opfergruppen nicht miteinander vergleichen könnte. Eine ähnliche Ansicht vertritt<br />

auch Nikolaj Nikolajewitsch. Er ist dagegen, dass im Zusammenhang mit dem neuen<br />

ukrainischen Gedenktag für die Opfer der politischen Repressionen speziell auch an die Opfer<br />

des Holodomors erinnert wird. Für Nikolaj Nikolajewitsch ist dies eine unzulässige<br />

Vermengung von Opfergruppen, die für den nationalukrainischen Erinnerungsdiskurs<br />

instrumentalisiert werden 14 . Seit Juschenko Präsident und nicht mehr nur Premierminister sei,<br />

wolle er nur noch an den Holodomor und nicht mehr an den Krieg erinnern und das Thema<br />

für politische Zwecke ausnutzen.<br />

Gedenkzeichen<br />

Massengrab für die Opfer<br />

14 Auch wenn man die Ansicht, die Opfer des Holodomors seien keine Opfer der politischen Repressionen nicht<br />

teilen muss, stimmt es, dass der neue Gedenktag für einen nationalukrainischen Erinnerungsdiskurs genutzt wird.<br />

So unterschrieb Premierministern Timoschenko im Zusammenhang mit dem Gedenktag 2009 eine Anordnung<br />

über die Gründung eines staatlichen Museums für die Opfer des Holodomors in der Ukraine. [Vgl. den Artikel<br />

auf der Internetseite der russischen Zeitung „Große Epoche“ (великая эпоха) „ In der Ukraine fand der<br />

Gedenktag für die Opfer der politischen Repressionen statt“ (На Украине прошел день памяти жертв<br />

политических репрессий, http://www.epochtimes.ru/content/view/24743/2, Aufruf vom 24. November 2009]<br />

41

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