Broschüre Teil 2 herunterladen - Geschichtswerkstatt Europa
Broschüre Teil 2 herunterladen - Geschichtswerkstatt Europa
Broschüre Teil 2 herunterladen - Geschichtswerkstatt Europa
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
24<br />
MEMORIAL IN PERM<br />
<br />
Andrej Nikolajewitsch<br />
Kalich<br />
Mit dem Wissen über die Organisation<br />
Memorial ist es in Polen ein wenig so wie mit<br />
dem generellen Wissen über Russland. Unsere<br />
Aufmerksamkeit wird nicht selten vor allem<br />
auf Moskau oder St. Petersburg gelenkt. Sehr<br />
oft verlieren wir dabei aus den Augen, was im<br />
restlichen <strong>Teil</strong> von Russland passiert. In den<br />
polnischen Massenmedien erscheinen ab und<br />
zu kurze Informationen über die Tätigkeiten<br />
von Memorial. Es wird jedoch primär berichtet,<br />
was in den Großstädten an den Flüssen<br />
Moskwa und Newa geschieht. Meistens<br />
handelt es sich um die Berichterstattungen über<br />
Äußerungen, die die polnischen Betroffenen<br />
der sowjetischen Repressionen anbelangen.<br />
Sie werden in Polen gerne aufgegriffen, weil<br />
sie die schwierige Vergangenheit unverblümt<br />
darstellen und somit eine andere Philosophie<br />
haben als der russische Staat. Memorial ist<br />
jedoch eine Organisation, die auch in anderen<br />
Regionen Russlands aktiv ist, was bis auf einen<br />
kleinen Kreis von Spezialisten weitgehend<br />
unbekannt bleibt. Im Folgenden soll es um<br />
Memorial in Perm und um meine Gedanken<br />
gehen, die nach dem Besuch dort entstanden.<br />
“ My home is my castle“ könnte man denken,<br />
wenn man vor der massiven Stahltür, dem<br />
Eingang zum Büro der Memorial Gesellschaft<br />
in Perm, steht. Für die Erstbesucher in<br />
Russland könnte beim Betreten des Büros<br />
dieser Anblick nicht gerade einladend<br />
wirken. Die Dinge, die die Besucher hinter<br />
der Panzertür erfahren, werden jedoch immer<br />
<br />
wir dort viele Bücher über verschiedene<br />
Abschnitte der Geschichte der Sowjetunion.<br />
Aber selbst dieser Büroraum allein erzählt<br />
schon viele Geschichten. Auf den Wänden<br />
sehen wir Fotos und Plakate, die zahlreiche<br />
Aktivitäten wie die Arbeit der Volontäre<br />
oder Forschungsexpeditionen darstellen.<br />
Denn die Gesellschaft besteht vor allem aus<br />
Menschen, ihren Ideen, Wertvorstellungen und<br />
Aktivitäten. In diesem Raum werden wir noch<br />
viele junge und alte Menschen treffen, die<br />
mit ihren Ideen und Fragen hierher kommen.<br />
Diesmal sind wir mit Andrej Nikolajewitsch<br />
Kalich 1 dem heutigen Vorsitzenden von Memorial<br />
in Perm verabredet. Auch wenn er ein<br />
sehr beschäftigter Mensch ist, fand er dennoch<br />
die Zeit, sich mit uns zu treffen.<br />
“ Die Gesellschaft wurde in der Sowjetunion<br />
geboren“ - erzählt Andrej Nikolajewitsch.<br />
1 Im November 2010 übernahm Robert Latypow<br />
die Aufgaben des Vorsitzenden von Memorial in<br />
Perm.<br />
Er erinnert sich, wie groß der Widerhall war,<br />
als er in einem Zeitungsartikel im November<br />
1988 die ehemaligen Repressierten dazu<br />
aufgerufen hatte, über ihre Erfahrungen<br />
zu erzählen. ”In meiner journalistischen<br />
Biographie bekam ich noch nie so viel Post.“<br />
Am 12. Dezember fand eine bei Nacht und<br />
Nebel organisierte erste Versammlung mit den<br />
<br />
die Bezeichnung ”Gedenkabend an die Opfer“<br />
zutreffender als das Wort ”Versammlung“. Für<br />
ihn war das auch eine ”kollektive Beichte“. Es<br />
kamen viele Menschen, die zum ersten Mal<br />
über ihre tragische Vergangenheit öffentlich<br />
Zeugnis ablegten. Am 1. Mai 1989 nahmen<br />
einige Hundert Menschen unter dem Banner<br />
”Memorial – Bewegung des Gewissens“<br />
unerwartet an der traditionell kommunistischen<br />
Kundgebung teil. Die örtlichen Parteibonzen<br />
wurden in Erstaunen versetzt. Es herrschte<br />
Stille. Für die Stadt war das eine Erschütterung<br />
als neben Kommunisten eine Vielzahl von<br />
ehemals repressierten Menschen marschierte 2 .<br />
Nicht nur auf der lokalen Ebene kam es zu<br />
einer Wende. Die ersten Jahre der Arbeit dieser<br />
Organisation beschreibt Andrej Nikolajewitsch<br />
als ”Jahre, in denen das Land über die<br />
Verbrechen der Kommunisten aufgeklärt<br />
wurde. Das war wirklich ein Schock für die<br />
Gesellschaft, als sie von dem Ausmaß erfuhr.“<br />
Das Wort ”Memorial“ könnte man ohne<br />
große Lateinkenntnisse sofort mit Gedächtnis,<br />
Erinnerungen, vielleicht mit Tagebuch, oder<br />
sogar mit Denkmal assoziieren. Also mit all<br />
dem, was man dem Vergessen entgegensetzt.<br />
Die Liste der Leistungen auf dem Gebiet<br />
der Arbeit gegen das Vergessen ist in Perm<br />
beeindruckend lang. Aber sie beginnt mit ganz<br />
prosaischen Aktivitäten. Die unterdrückten<br />
Menschen verloren ihre Verwandten,<br />
Gesundheit, Eigentum. Sie blieben oft ohne<br />
Ausbildung. In der Sowjetunion hatten sie<br />
keine Chance, Karriere zu machen. Ihre Lage<br />
verschlechterte sich noch mehr, als in den<br />
90er Jahre in Russland die Wirtschaftskrise<br />
tobte. Memorial half, wie es unter schwierigen<br />
<br />
Mittel zu bekommen, wurde die Gesellschaft<br />
von einem Direktor unterstützt, der Memorial<br />
Erzeugnisse seines Unternehmens, wie z. B.<br />
Linoleum schenkte, damit dieses wiederum<br />
2 Gody terrora. Kniga pamiati schertw<br />
polititscheskich represji. Tschast schestaja.<br />
T.1, Perm, 2009, S. 4-6.<br />
Interview mit Andrej Nikolajewitsch Kalich, Perm<br />
24. Mai 2010.
MEMORIAL IN PERM<br />
weiterverkauft werden kann. Andrej<br />
Nikolajewitsch kann sich auch noch gut<br />
entsinnen, als er mit seinem Wagen älteren<br />
Menschen Zucker nach Hause brachte. Ein<br />
großer Erfolg war, als am Anfang der 90er<br />
Jahre die (noch kommunistische) Macht<br />
den Unterdrückten einige Vergünstigungen<br />
zugestand. ”Die Permer Region war die erste<br />
in der Sowjetunion, in welcher man begann,<br />
die Vergünstigungen für die Unterdrückten<br />
auszuzahlen“. Auch heutzutage helfen<br />
Volontäre den älteren Menschen beim<br />
Putzen oder sogar bei der Renovierung ihrer<br />
Wohnungen.<br />
Für die langjährige Mitarbeiterin der Permer<br />
Gesellschaft Irina Kizilowa sei Memorial wie<br />
ein Schiff, welches auf großem Meer fahre<br />
und versuche zu einem Ufer der Wahrheit<br />
zu gelangen. An Bord habe es diejenigen<br />
genommen, die einst unterdrückt worden<br />
waren 3 . Das Schiff ”Memorial“ vereinigt also<br />
die ”Schiffsbrüchigen“ - die Repressierten und<br />
verfolgt einen bestimmten ”Kurs“. Seit Anfang<br />
seines Bestehens sammelt und vermittelt<br />
Memorial das Wissen über den staatlichen<br />
Terror der Sowjetzeit. Die Mitglieder der<br />
Gesellschaft nehmen Interviews mit den<br />
Betroffenen auf. Dieses Wissen wird archiviert<br />
aber vor allem zugänglich gemacht. Das beste<br />
Beispiel (wenn auch nicht das einzige) ist<br />
eine ganze Reihe von Veröffentlichungen der<br />
”Gedenkbücher für die Opfer der politischen<br />
Repressionen“. Eine große Leistung ist auch<br />
ein Denkmal für die Opfer, welches in der<br />
Nähe eines ehemaligen NKWD-Gefängnisses<br />
3 Film: Memorial. Natschinajem zanowo.<br />
Perm 2009 .<br />
aufgestellt wurde.<br />
Es ist bewundernswert, dass sich die<br />
Mitglieder von Memorial mit der dunklen<br />
Seite der Geschichte des eigenen Landes<br />
beschäftigen, obwohl das vielen in Russland<br />
gleichgültig ist, oder sogar von anderen als<br />
”unpatriotisch“ bezeichnet werden könnte.<br />
Der Professor für Neuere und Neuste<br />
Geschichte Russlands an der Staatlichen<br />
Pädagogischen Universität in Perm, Andrej<br />
Borisowitsch Suslow, der zugleich einer der<br />
führenden Mitglieder des Permer Memorials<br />
ist, beschäftigt sich intensiv mit der Geschichte<br />
der politischen Repressionen. Er weist<br />
uns darauf hin, dass es in Russland viele<br />
Perspektiven auf die Vergangenheit gibt; und<br />
das ganz unabhängig davon, ob man sich mit<br />
dem Terror und Repressionen oder mit anderen<br />
Escheinungen der sowjetischen Geschichte<br />
auseinandersetzt. Unter den russischen<br />
Historikern verläuft die Diskussion nicht nur<br />
auf Ebene der Fakten. Sie ist auch gefärbt von<br />
unterschiedlicher Weltanschauung. Das führt<br />
dazu, dass es kaum möglich ist, einen Konsens<br />
über die Interpretationen der Ereignisse<br />
4 . Für mich wird die Arbeit von<br />
Memorial erst dann richtig nachvollziehbar,<br />
wenn ich darüber nachdenke, wie schwierig<br />
es ist, sich in Polen mit den eigenen dunklen<br />
Seiten der Geschichte zu befassen. An dieser<br />
Stelle würden vielleicht manche in Polen<br />
sagen, dass es solche Seite nicht gäbe und wer<br />
sich mit so was beschäftige, kein echter Pole<br />
sei, was wiederum nur von der Schwierigkeit<br />
der Überwindung dieses dunklen Kapitels<br />
4 Interview mit Andrej Borisowitsch Suslow,<br />
Perm, 14. Juni 2010.<br />
25<br />
Die ehemaligen Repressierten<br />
und ihre Familien am 1.Mai<br />
1989 unter dem Banner<br />
”Memorial – Bewegung des<br />
Gewissens“
26<br />
MEMORIAL IN PERM<br />
Der Einband vom sog.<br />
”Buch der Erinnerung:<br />
Jahre des Terrors.“<br />
zeugen könnte.<br />
Im Laufe unserer Feldforschungen habe ich<br />
mich gefragt, ob der „Kurs“ von Memorial<br />
der gleiche war wie der von Sybiracy.<br />
<br />
beiden Ländern unterschiedliches Vokabular<br />
<br />
von “Deportationen“ die Rede. Nach dem<br />
Studium mehrerer Schicksale sowjetischer<br />
Staatsbürger musste ich feststellen, dass sie<br />
in ihrem Lebenslauf jedoch auch immer<br />
eine Art Zwangsreise zu absolvieren<br />
hatten. Und trotzdem wurde in Russland<br />
eher von “Repressionen“ gesprochen. Es<br />
wurde mir bewusst, dass der Wortschatz<br />
wahrscheinlich Ausdruck des Unterschieds<br />
war. Zwangsmigration war bei beiden<br />
Gruppen lediglich ein <strong>Teil</strong> der Erfahrung<br />
mit dem Terror. Selbst durch ihren Namen<br />
betonen Sybiracy einen räumlichen Aspekt –<br />
Sibirien, der bei den russischen Repressierten<br />
in ihrer Selbstbezeichnung fehlte. Man muss<br />
wissen, dass eine solche Perspektive der<br />
Darstellung völlig natürlich ist. Im Falle der<br />
polnischen Betroffenen handelte es sich um<br />
einen fremden Staat, der diese Menschen<br />
unter Zwang ausgesiedelt hat. Die von uns<br />
in Perm angetroffenen Personen wurden<br />
hingegen vom eigenen Staat unterdrückt.<br />
Die Wahrnehmung der Repressionen ist<br />
<br />
Die Polen, die auf ihrem Staatsterritorium<br />
lebten, bekamen die Sowjetmacht erst ab<br />
1939 zu spüren. Die Deportationen setzten<br />
erst ab 1940 ein. Die Bevölkerung der<br />
Sowjetunion war somit länger - praktisch<br />
seit dem Zeitpunkt der bolschewistischen<br />
Machtergreifung - verschiedenen Repressalien<br />
ausgesetzt. Außerdem durften die von uns<br />
befragten Polen die Orte verlassen, zu denen<br />
sie in der damaligen Zeit deportiert wurden.<br />
Die russischen Betroffenen waren hingegen<br />
<br />
denen sie unter Zwang gebracht worden sind.<br />
So können die Sybiracy heutzutage an ihre<br />
Leidensorte mit einem gewissen räumlichen<br />
Abstand zurückdenken. Memorial und<br />
Sybiracy sind damit Träger unterschiedlicher<br />
Perspektiven (in Bezug auf einigermaßen<br />
ähnliche Erfahrungen). Dieser Unterschied<br />
<br />
führen. Die polnischen und die russischen<br />
Opfer wetteifern in keinster Weise darum, wer<br />
schwerer betroffen worden ist. Letztendlich ist<br />
es der räumliche Abstand und die sprachliche<br />
Grenze, die dazu führen, dass die Perspektiven<br />
in Polen und in Russland parallel nebeneinander<br />
existieren. Es handelt sich eher um das<br />
Ausblenden der jeweils anderen Perspektive.<br />
Naturgemäß wird in Polen an erster Stelle die<br />
Leidensgeschichte der eigenen Bevölkerung<br />
dargestellt. In Russland ist sie dagegen nur<br />
ein sehr kleines Kapitel der Geschichte der<br />
Repressionen. Nach unserer Russlandreise<br />
und dem Betreten der Büroräume von<br />
Memorial in Perm sowie der Räumlichkeiten<br />
<br />
Vermutungen nochmals bestätigt worden.<br />
<br />
Menschen verschiedener Weltanschauung,<br />
Ausbildung, Lebenserfahrung sowie zwischen<br />
Menschen unterschiedlicher Generationen.<br />
Aus diesem Grund habe ich bei den<br />
Betroffenen keinen polnisch-russischen<br />
“Krieg der Erinnerungen“ feststellen können.
27<br />
DER POLNISCHE BUND DER SIBIRIENVERSCHLEPPTEN.<br />
EINE EINSCHÄTZUNG AUS RUSSISCHER PERSPEKTIVE<br />
Elina Jerenko<br />
Das schwierige Verhältnis zu seiner<br />
sowjetischen Vergangenheit – das ist eines<br />
der Kennzeichen des neuen Russlands.<br />
<br />
man auf die Geschichte des Landes stolz sein<br />
könne oder vielmehr aus ihren Fehlern lernen<br />
müsse, ob Stalin ein Menschheitsverbrecher<br />
war oder aber eine bedeutende historische<br />
Persönlichkeit. Denkmäler werden aufgebaut<br />
und niedergerissen, Straßen umbenannt,<br />
Spuren der Vergangenheit gesucht, um im<br />
Anschluss daran heiß darüber zu diskutieren<br />
und zu streiten. Die historischen Themen<br />
sind aktuell und bedürfen Aufklärung, denn<br />
die Geschichte des erst seit zwei Jahrzehnten<br />
existierenden neuen Russlands ist noch jung.<br />
Ausserdem sind die historischen Ereignisse<br />
in der damaligen Sowjetunion noch immer<br />
fest im Gedächtnis der Zeitgenossen<br />
<br />
jedoch nicht eilig, eine Einschätzung über die<br />
sowjetische Vergangenheit abzugeben. Die<br />
Befürchtungen der heutigen Staatsmacht sind<br />
verständlich, wenn man sich ansieht, welche<br />
politische Sprengkraft in der Bewertung<br />
der sowjetischen Vergangenheit liegt. Die<br />
enorme Sprengkraft wird insbesondere<br />
am Beispiel von gesellschaftlichen<br />
Vereinigungen wie der historischaufklärerischen<br />
Wohltätigkeitsorganisation<br />
”Memorial“ deutlich. Über diese existieren<br />
sehr unterschiedliche Meinungen – mal<br />
wird sie öffentlich als verlängerter Arm des<br />
Westens, als sogenannte ”fünfte Kolonne“<br />
angeprangert, mal wird ihr wiederum der<br />
Status eines strategisch wichtigen Objekts zu<br />
gesprochen, um dann im nächsten Atemzug<br />
ihr Wirken gleich wieder herunterzuspielen<br />
und für nichtig zu erklären.<br />
Mit dieser aus der russischen Praxis heraus<br />
geprägten Vorstellung über das angespannte<br />
Verhältnis zwischen Staatsmacht und<br />
Nichtregierungsorganisationen bin ich zu<br />
unserem Treffen mit dem polnischen Bund<br />
der Sibirienverschleppten gefahren. Dort<br />
haben sich jene Polen vereinigt, die vormals<br />
in die Sowjetunion deportiert worden sind.<br />
Die Bezeichnung ”Sibirienverschleppte“<br />
(”Sibirier“) geht - obwohl Polen auch in<br />
andere Regionen wie z.B. in den Norden<br />
Russlands, in den Ural oder nach Kasachstan<br />
zwangsumgesiedelt worden waren, auf die<br />
entlegenen Verbannungsorte in Sibirien<br />
zurück. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg<br />
entstand ein Zusammenschluss ehemaliger<br />
Verbannter. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
bis zum Zusammenbruch des Ostblocks<br />
konnte eine solche Organisation aus<br />
<br />
<br />
der Völkerfreundschaft mit der Sowjetunion<br />
<br />
der Bund daher erst wieder seit 1989. In<br />
<br />
ansässige regionale Abteilung des Bunds<br />
besucht und ein Gespräch mit dem Leiter,<br />
<br />
Gesprächs gab es einige Momente, die mich<br />
und meinen Kollegen von der russischen<br />
Organisation ”Memorial“ haben aufmerken<br />
lassen. Aus russischer Sicht konnten wir<br />
unsere polnischen Kollegen nur beneiden. So<br />
manches, was von unserem Interviewpartner<br />
dargelegt wurde, hat uns verwundert, einiges<br />
aber auch geradezu schockiert.<br />
Der Bund nimmt eine Schlüsselrolle<br />
in der Arbeit mit den ehemaligen<br />
polnischen Deportierten ein. Sie unterstützt<br />
bei der Beantragung der für Deportierte<br />
vorgesehenen staatlichen Beihilfen<br />
und Zuschüsse sowie organisiert auch<br />
unterschiedliche Veranstaltungen. Wie in<br />
Polen übernehmen meist auch in Russland<br />
NGOs diese Aufgabe. Dennoch könnte<br />
der Unterschied in beiden Ländern nicht<br />
größer sein. Denn im Gegensatz zu ihren<br />
russischen Pendants ist die Arbeit der<br />
Sybiracy in der Gesellschaft weitgehend<br />
verankert und somit fester Bestandteil des<br />
öffentlichen Lebens. Nicht nur die große<br />
Anzahl aufgestellter Mahnmale, die engen<br />
Beziehungen zur katholischen Kirche sowie<br />
zu den lokalen Behörden zeugen davon,<br />
sondern auch verschiedene regelmässigen<br />
Veranstaltungen. So organisiert die Verei-<br />
<br />
Art ”Gedächtnismarsch“, an dem viele<br />
Wappen des Bunds für<br />
Sibirienverschleppte<br />
Im Büro des Bunds für<br />
Sibirienverschleppte in
28<br />
BUND DER SIBIRIENVERSCHLEPPTEN<br />
Gespräch mit<br />
<br />
Vorsitzenden des Bunds<br />
für Sibirienverschleppte<br />
<br />
ehemalige Deportierte teilnehmen. Die<br />
<br />
September statt, dem Tag, an dem die<br />
Sowjetunion 1939 Polen überfallen hat. Sie<br />
ist nicht nur für die ehemaligen Deportierten<br />
von großer Bedeutung. Im Laufe der Zeit<br />
ist sie auch <strong>Teil</strong> der lokalen Tradition und<br />
Stadtkultur geworden. Gleichzeitig gibt<br />
diese Veranstaltung immer wieder Anlass<br />
dazu, der Deportationen und Repressionen<br />
<br />
fragten, in welchem Ausmaß der Bund<br />
von der lokalen Bevölkerung akzeptiert<br />
wird, antwortete dieser, dass man zwar<br />
immer versuche, auf das Anliegen der<br />
Sibirienverschleppten aufmerksam zu<br />
machen, aber gleichzeitig aber auch oberstes<br />
Ziel ist, bescheiden zu bleiben und sich<br />
nicht in den Vordergrund zu drängen. Das<br />
hat zu großem Erfolg geführt. Heute sei<br />
es undenkbar, dass eine Veranstaltung in<br />
Gedenken an den Zweiten Weltkrieg ohne<br />
<br />
wäre es allerdings wiederum unmöglich, sich<br />
eine Siegesparade am 9. Mai vorzustellen,<br />
bei der ehemalige von Repressionen<br />
betroffene Menschen mit einer ”Memorial“-<br />
Fahne über den Roten Platz ziehen würden.<br />
Denn am Tag des Sieges soll an keine<br />
Tragödie erinnert werden. Ausserdem würde<br />
die öffentliche Auseinandersetzung mit dem<br />
Thema der stalinistischen Repressionen den<br />
Großteil der russländischen Bevölkerung<br />
schockieren. In Polen allerdings ist das<br />
anders. Niemand hegt daran Zweifel, dass<br />
unter Stalin Verbrechen ausgeübt wurden,<br />
die das sowjetische Regime zu verantworten<br />
hat. In Russland ist diese Tatsache bisher<br />
<br />
Die Veranstaltungen des Bunds sind<br />
<br />
Bestandteil des städtischen Lebens. So<br />
werden die sie sogar von der Ehrengarde<br />
des Schlesischen Militärbezirks begleitet.<br />
Zu besonders feierlichen Anlässen spielt<br />
auch das dazugehörige Orchester mit<br />
auf. In besonderer Weise wird auch<br />
historische Aufklärung geleistet. Für Jugendliche<br />
werden unter anderem Geschichtswettbewerbe<br />
veranstaltet und<br />
Lehrveranstaltungen über stalinistische Repressionen<br />
konzipiert. Diese Aufgabe wurde<br />
dem Bund quasi von staatlicher Seite in die<br />
Hand gelegt.<br />
Auch in Perm und in anderen russischen<br />
Städten übernehmen NGOs diese Aufgabe.<br />
Allerdings ist es kaum vorstellbar, dass der<br />
Lehrstoff mit jener Art von Hilfsmitteln<br />
nähergebracht wird – nämlich in Form<br />
von Comiczeichnungen! Wir konnten<br />
unseren Augen kaum trauen: In den Heften<br />
wird in bunten Bildern die Verhaftung<br />
von Familienmitgliedern durch den KGB<br />
dargestellt, der Ablauf der Deportationen<br />
veranschaulicht sowie andere ähnliche<br />
Themen aufgearbeitet. Diese für uns<br />
ungewohnte Vermischung tragischer<br />
<br />
man eher aus der Darstellung fröhlicher<br />
Momente gewohnt ist, hat uns ebenso<br />
wie die mutige und radikale Einfachheit<br />
der Interpretation, mit welcher die Fakten<br />
einer der vielschichtigsten Periode der<br />
sowjetischen Geschichte dargestellt<br />
wurden, schockiert. Den Kindern wurde<br />
mit ungeahnter Leichtigkeit vermittelt,<br />
was ein Mitarbeiter des NKWD gewesen<br />
ist. Diesem wurden unschuldige, ”gute“<br />
Menschen gegenübergestellt, welche die<br />
Qualen, der Deportationen zu erleiden<br />
hatten. Dieser Ansatz birgt allerdings die<br />
Gefahr Stereotype zu verfestigen und zu<br />
einfache Antworten auf komplexe Fragen zu<br />
geben. Eine Vereinfachung kann zu einem<br />
”Krieg der Erinnerungen“ führen. Trotz<br />
des Risikos wurde dieser Ansatz von der<br />
polnischen Bevölkerung für gut geheißen,<br />
was wiederum ein Indiz dafür ist, wie loyal<br />
die Bevölkerung der Tätigkeit dem Bund<br />
gegenüber ist. Die polnische Organisation<br />
<br />
Probleme. Beispielsweise erhält sie keine<br />
beständigen Zuwendungen von staatlicher<br />
Seite, so dass sie nur auf materieller<br />
Grundlage der Mitgliedsbeiträge arbeiten<br />
kann. Auch wenn unser Gesprächspartner<br />
<br />
sich bemüht, auch Jugendliche in die<br />
Vereinsarbeit einzubeziehen, haben wir<br />
während unseres Besuchs dennoch keinerlei<br />
jungen Menschen sehen können. Diese<br />
und andere Probleme sind denen russischer<br />
NGOs ähnlich. Es bleibt nur die Hoffnung,<br />
dass die historisch-aufklärerischen Organisationen<br />
beider Länder in Zukunft<br />
versuchen werden, noch stärker zusammenzuarbeiten,<br />
den internationalen<br />
Dialog zu suchen und mit vereinten Kräften<br />
jene Voraussetzungen zu schaffen, die für<br />
eine intensive Auseinandersetzung mit dem<br />
tragischen Erbe der totalitären Vergangenheit<br />
notwendig sind.
29<br />
AUF KATHOLISCH ERINNERN? EINE DISKUSSION ÜBER DAS<br />
<br />
<br />
Im Rahmen unserer Sommerschule hat es<br />
uns im 2.<strong>Teil</strong> der Forschungen nach Polen<br />
verschlagen. Entsprechend standen folgende<br />
Punkte auf dem Programm: eine Reise nach<br />
<br />
das Gespräch mit Experten sowie ein Besuch<br />
beim Bund der Sibirienverschleppten.<br />
Außerdem haben wir uns dazu entschieden,<br />
das nationale Denkmal zur Erinnerung an die<br />
Deportationen nach Sibirien anzuschauen.<br />
Dieses Denkmal für Sibirienverschleppte<br />
wurde durch den Künstler Jaroslaw Perszko<br />
in Zusammenarbeit mit dem Ingenieur<br />
<br />
September 2000 ist es auf dem Platz der<br />
Sibirienverschleppten (Skwer Sybiraka),<br />
innerhalb des Bezirks der Pfarrkirche St.<br />
<br />
Datum für die feierliche Einweihung durch<br />
Kardinal Henryk Gulbinowicz (u.a. im<br />
Beisein des damaligen Ministerpräsidenten<br />
Jerzy Buzek sowie von Vertretern der<br />
lokalen Regierung) wurde nicht willkürlich<br />
gewählt. Letztendlich fällt es genau auf<br />
den 60. Jahrestag des Beginns der ersten<br />
Deportationen polnischer Bevölkerung in<br />
die Sowjetunion.<br />
Das Denkmal, mit einer Gesamthöhe von<br />
12 Meter, erzeugt von Beginn an eine ganz<br />
besondere Wirkung auf den Betrachter.<br />
Dargestellt wird ein lateinisches Kreuz,<br />
welches eine riesige, massive Betonwand<br />
durchschlägt. Über einen schmalen Weg<br />
aus Steinplatten an der Südseite gelangt<br />
man letztendlich zum Monument. Auf diese<br />
Weise wird die Absicht verfolgt, den langen<br />
Weg der Deportierten zum Ausdruck zu<br />
<br />
wiederum ein kleiner Altar. Zwei der Steine,<br />
die darin zur Verwendung kamen, stammen<br />
direkt aus Sibirien. Um sie entsprechend zu<br />
würdigen, wurden sie im Jahre 1997 von<br />
Papst Johannes Paul II. geweiht. Außerdem<br />
stehen vor dem Denkmal zwei viereckige<br />
Blöcke aus schwarzem Granit auf denen<br />
in vier verschiedenen Sprachen (Polnisch,<br />
Russisch, Englisch und Deutsch) folgende<br />
Inschrift zu lesen ist:<br />
”Dieses Denkmal wurde von Sibirienverschleppten<br />
und der polnischen Bevölkerung<br />
errichtet - Zum Gedenken an alle<br />
Opfer und Vertriebenen - Als Warnung für<br />
zukünftige Generationen - Als Zeichen der<br />
Dankbarkeit Gottes für die Erlösung - Und<br />
für die Rückkehr aus dieser unmenschlichen<br />
Erde – der sowjetischen Hölle.<br />
September 2000“<br />
Entsprechend soll das Denkmal nicht<br />
nur an all diejenigen erinnern, die die<br />
Verfolgungen und das Leben auf dieser<br />
“unmenschlichen Erde“ ertragen mussten,<br />
sondern darüber hinaus die Dankbarkeit für<br />
die glückliche Heimkehr aller Überlebenden<br />
zum Ausdruck bringen.<br />
<br />
standsmitglied des Bunds der Sibirienverschleppten,<br />
warum die Wahl für das Mo-<br />
<br />
ist, kriegt man folgendes zur Antwort: ”Im<br />
Vergleich zu vielen anderen ist diese Stadt, die<br />
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit<br />
der polnischen Grenzverschiebung Richtung<br />
Westen zur Hauptstadt Niederschlesiens<br />
wurde, eine der empfangsfreundlichsten<br />
für die Sibirienverschleppten gewesen.<br />
Entsprechend ist aufgrund der hohen Anzahl<br />
ehemaliger Deportierter in der Stadt, die<br />
<br />
logische Konsequenz, dass das Denkmal<br />
Zentrales Mahnmal zum<br />
Gedenken an die nach<br />
Sibirien deportierten<br />
Polen, Skwer Sybiraka
30 AUF KATHOLISCH ERINNERN?<br />
Eine der wichtigsten<br />
Stationen während<br />
unseres Aufenthalts<br />
<br />
der Besuch des<br />
Sanktuarium Golgota<br />
des Ostens sowie<br />
des sich gleich<br />
<br />
Museumfriedhofs. Wir<br />
hatten die Möglichkeit,<br />
uns Exponate<br />
anzusehen, die die<br />
Art und Weise der<br />
Mythologisierung durch<br />
die Polen zum Ausdruck<br />
bringt.
AUF KATHOLISCH ERINNERN?<br />
31<br />
dort stehen muss.“<br />
Während wir vor dem Denkmal standen,<br />
haben wir unter einander feststellen können,<br />
dass jedem von uns unterschiedlichste Fragen<br />
in Bezug auf den Inhalt dieser Aussage<br />
sowie die Art und Weise dieses Kreuzes<br />
durch den Kopf gegangen sind. Es begann<br />
daher nicht nur eine Diskussion über das<br />
lateinische Kreuz und den Altar als solches,<br />
sondern auch über die Personen, denen das<br />
Denkmal letztendlich gewidmet worden ist,<br />
<br />
der katholischen Kirche auf die Konzeption<br />
und Form dieses Ortes. Außerdem wurde<br />
überlegt, welche Möglichkeiten der Erinnerung<br />
an Deportationen in Russland in Frage<br />
kommen könnten. Es war nicht verständlich,<br />
warum insbesondere das Kreuz<br />
gewählt worden ist. Gab es denn nicht genug<br />
andere Gedenksymbole, die Verwendung<br />
<br />
rtieren andere religiöse Minderheiten nicht<br />
berücksichtig worden sind, kann man die<br />
Meinung vertreten, dass das Denkmal nicht<br />
auf demokratischen Prinzipien beruht.<br />
Auch wenn das Monument aufgrund seines<br />
Aussehens also dafür prädestiniert zu sein<br />
scheint, eine öffentliche Debatte auslösen<br />
zu können (ein positiver Effekt), darf man<br />
an dieser Stelle dennoch die folgenden zwei<br />
Kategorien nicht miteinander vermischen<br />
<br />
einen das polnische, nationale Element; zum<br />
anderen das religiöse, katholische Element.<br />
Berücksichtigt man diese Unterscheidung,<br />
erscheint dieser Erinnerungsort als ein<br />
nationales Gedenksymbol, an dem allen<br />
Deportierten des Vielvökerstaats gedacht<br />
werden soll. Neben den Katholiken gehören<br />
dazu auch Juden, Orthodoxe, Protestanten,<br />
Zeugen Jehovas, Atheisten sowie<br />
alle anderen, die vor dem Zweiten Weltkrieg<br />
innerhalb der Landesgrenzen der II Republik<br />
Polens als polnische Staatsbürger<br />
gelebt haben und die während der Zeit des<br />
Stalinismus nach Sibirien deportiert wurden.<br />
Von nun an soll es geprüft werden, inwiefern<br />
das Denkmal für die Sibirienverschleppten<br />
ein Beweis für die Monopolstellung der<br />
katholischen Kirche auf die öffentliche Erinnerung<br />
ist. Nach reichlicher Überlegung<br />
sind mir dabei vor allem folgende zwei<br />
Dinge bewusst geworden: für die meisten<br />
Polen ist ein Denkmal mit einem Kreuz<br />
sowie Altar keine Angelegenheit, die sofort<br />
zu Kontroversen führen würde. Zum<br />
zweiten hat sich letztendlich der Bund<br />
selbst für ein so eindeutiges katholisches<br />
Erinnerungssymbol entschieden.<br />
Im Folgenden möchte ich auf beide<br />
Punkte nochmals näher eingehen und die<br />
oben genannten Hypothesen prüfen:<br />
1) Die Kirche - Katholizismus – die Polen<br />
Der Katholizismus gilt heutzutage<br />
immer noch als Glaube der Nation. Am<br />
Sonntag sind die Kirchen bis auf den<br />
letzten Platz gefüllt. Die hohe Autorität<br />
des Priesters Kraft seines Amtes ist somit<br />
auf der ganzen Welt praktisch einzigartig.<br />
Entsprechend könnte man also vermuten,<br />
<br />
Polen untrennbar miteinander verknüpft<br />
sind. Fast jede politische Krise in Polen hat<br />
daher zum erneuten Autoritätsgewinn der<br />
Kirche beigetragen. Die Verschmelzung des<br />
Polentums mit dem Katholizismus und die<br />
daraus resultierende Fusion der Kirche mit<br />
dem Staat hat langfristig die gnostischen<br />
Visionen weiter vorangetrieben: in diesem<br />
Sinne war die polnische Bevölkerung<br />
offensichtlich gut und die Besatzer schlecht<br />
– nicht nur politisch, sondern auch sakral.<br />
Die polnische Nation als Christus aller<br />
Länder hat also stets gegen den Antichrist<br />
– dem Zar, dem Dritten Reich, dem<br />
Kommunismus, den Sowjets oder der<br />
Volksrepublik, kämpfen müssen. Mit Hilfe<br />
des polnischen Katholizismus wurde dieser<br />
Kampf entsprechend sakralisiert.<br />
Obwohl die Kirche in Zeiten des<br />
stalinistischen Terrors, während des Zweiten<br />
Weltkrieges oder in der Nachkriegszeit vielen<br />
Unterdrückungen ausgesetzt war, konnte<br />
sie stets jede Bedrohung überstehen. Zielte<br />
die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten<br />
auf eine totale Vernichtung der polnischen<br />
Religionsgemeinschaften bzw. versuchte<br />
die kommunistische, polnische Regierung<br />
nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />
die katholische Kirche aus dem gesamten<br />
politischen und öffentlichen Leben zu<br />
verdrängen, führte im Oktober 1978 die<br />
Wahl des Krakauer Kardinalerzbischofs<br />
Karol Wojtyla, dem zukünftigen Papst<br />
Denkmal zur<br />
Erinnerung an die<br />
Opfer der politischen<br />
Repressionen in Perm
32<br />
AUF KATHOLISCH ERINNERN?<br />
Interview mit<br />
<br />
Golgota des Ostens,<br />
<br />
Johannes Paul II, zum neuen Oberhaupt der<br />
Kirche, zu einer komplett neuen Situation:<br />
fortan richtete sich die Aufmerksamkeit der<br />
Weltöffentlichkeit auch auf die ausdauernde<br />
katholische Kirche im kommunistischen<br />
Polen. Die Wahl eines Polen zum Papst gab<br />
den polnischen Katholiken Hoffnung und<br />
Mut. Durch das hohe Ansehen der Kirche und<br />
<br />
spielte sie eine nicht unerhebliche Rolle beim<br />
Untergang des Kommunismus in Polen.<br />
Bei der Installierung des demokratischen<br />
Systems war sie daher von großer<br />
<br />
den Systemwechsel lässt sich also nicht<br />
abstreiten.<br />
<br />
Vorstandsmitglied, hat uns während des<br />
<br />
dass sich in der Zeit, in der der Kriegszustand<br />
ausgerufen war, die kommunistische<br />
Führung insbesondere auf die Kirche<br />
gestürzt hat. ”Dort hat sich die Opposition<br />
versammelt, dort hat man die Wahrheit<br />
gesagt. Das ist die Rolle der Kirche”. Sowohl<br />
Kowalczyk als auch Steiner vertreten voll<br />
und ganz die Meinung, dass die katholische<br />
Kirche ”die erste Organisation war, die die<br />
Sibirienverschleppten ´gedrückt´ und sich<br />
ihrer angenommen hat”. Rückblickend stellt<br />
Kowalczyk fest: ”Im Jahre 1988 haben wir,<br />
die Sibirienverschleppten, angefangen uns<br />
in den Kirchen zu treffen und von uns zu<br />
erzählen. Die Kirche war damals die einzige<br />
Institution, die so etwas gestattet hatte. Der<br />
Staat hat uns vorher immer ´kurz gehalten´,<br />
so dass wir erst seit 1989 öffentlich sprechen<br />
konnten”. Kowalczyk gibt zu, dass, auch<br />
wenn er es persönlich nicht gutheißen<br />
kann, trotz 20 jähriger Unabhängigkeit, ein<br />
öffentlicher Akt in Polen ohne Gebet und<br />
katholischen Priester de facto noch immer<br />
ungültig ist: ”<br />
wie man sich benehmen soll bzw. wie man<br />
zu beten oder gedenken hat”. Vor allem<br />
daran lässt sich erkennen, wie sehr die<br />
Kirche in den verfassungsrechtlich nichtkonfessionellen<br />
Staat integriert worden ist.<br />
Im Zusammenhang mit der Wahl des eindeutig<br />
katholischen Symbols als Zeichen<br />
der Erinnerung an die Deportationen, ist<br />
mir von Anfang an klar geworden, dass für<br />
viele Menschen einzig und allein die Kirche<br />
in der Lage war, ein ethisches System zu<br />
vertreten. Entsprechend ist es legitim, ihr<br />
das Recht einzuräumen, die nach Sibirien<br />
verschleppten Opfer des Stalinismus zu<br />
repräsentieren.<br />
2) Sibiraken – Erinnerung - Kreuz<br />
Mit Hilfe der oben genannten Schlussfolgerungen<br />
lassen sich die aufgeworfenen<br />
Fragen nur teilweise beantworten. Die geführten<br />
Interviews haben zusätzliche Aspekte<br />
zum Vorschein gebracht, die ebenfalls mit<br />
in Betracht gezogen werden müssen: neben<br />
dem persönlichen Selbstbild jedes Einzelnen<br />
und die Art und Weise der Erinnerung, gehört<br />
dazu auch die Konstruktion eines kollektives<br />
Gedächtnisses. Insbesondere diese Form der<br />
Selbstmythologiesierung des Schicksals<br />
der Sibirienverschleppten gibt darauf eine<br />
mögliche Antwort. Zu dieser Erkenntnis<br />
bin ich am Erinnerungsort ‘Golgota des<br />
<br />
sich dabei um eine Art Museumsfriedhof,<br />
der neben einer Kirche gelegen ist und auf<br />
dem neben den zahlreichen Gegenständen<br />
der Erinnerung, die von den Überlebenden<br />
gespendet worden sind, sich auch authentische<br />
Zeitungen aus der Kriegszeit,<br />
Banner, Plakate, Gemälde, Bildwerke sowie<br />
<br />
ist jedoch vor allem, dass sich dort auch<br />
sechs Schädel der 1940 in Katyn ermordeten<br />
<br />
gelangten dank des polnischen Priesters<br />
<br />
‘Katyner Familien) an diesen Ort. Neben<br />
Kreuzen, Rosenkränzen und Heiligenbildern<br />
weckt das Interesse der Besucher insbesondere<br />
eine Zeichnung, auf der Christus<br />
mit einem Kreuz auf der Schulter vor<br />
der Landkarte Sibiriens. Diese Form der<br />
Darstellung stimmt mit der geschaffenen<br />
Selbstvision der Deportierten überein: die<br />
Sibiraken haben auch ungeheuerlich gelitten<br />
und sich demütig ihrem Schicksal ergeben,<br />
bevor sie am Ende moralisch gesiegt haben.<br />
An dieser Stelle möchte ich kurz auf<br />
die Aufgaben von Mythen eingehen.<br />
Grundsätzlich werden sie geschaffen, um<br />
Komplexitäten zu reduzieren 1 . Diese Form<br />
der Reduzierung stellt ein Phänomen dar, bei<br />
dem historische Fakten nicht nur Grundlage<br />
sind, sondern auch als ahistorische Erscheinung<br />
umgedeutet werden. Außerdem spielen<br />
Mythen bei der öffentlichen Meinungsgestaltung<br />
sowie der Verstärkung kollektiver<br />
Gefühle eine wesentliche Rolle.<br />
Dadurch ist es beispielsweise möglich,<br />
sich vom Fremden abzugrenzen, eigene<br />
Ängste zu bewältigen oder größere öffentliche<br />
Akzeptanz zu gewinnen. Bezogen<br />
auf die Thematik der Deportationen spielt<br />
dieser Aspekt eine wesentliche Rolle.<br />
1 Cassier, Ernst (1925): Philosophie der<br />
symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische
AUF KATHOLISCH ERINNERN?<br />
33<br />
Folgt man dieser Betrachtungsweise,<br />
wird die Mythologisierung der Leiden der<br />
Deportierten besonders sichtbar: der Kreuzweg<br />
- als Symbol für ihr persönliches<br />
Schicksal, die Rückkehr nach Polen - als ein<br />
<br />
Steiner bestätigt diese Auffassung, indem er<br />
die aufgeworfene Frage nach der Gestaltung<br />
des Denkmals beantwortet: ”Man muss<br />
die Hymne der Sibirienverschleppten<br />
hören 2 . Durch das Denkmal wird sie genau<br />
wiedergegeben. Wir liefen und liefen [...],<br />
dieser Weg war so holprig und kaputt.<br />
Am Ende dieses schmalen Weges aus<br />
Steinplatten, Zeichen dieser langen Odyssee,<br />
erwächst das riesige Kreuz. Dieses Denkmal<br />
ist nicht schön, es ist hässlich, sowie<br />
unser Leben dort [...]. Daher haben die<br />
betroffenen Menschen [...] auch heute noch<br />
einen besonderen Bezug dazu: ihr Wunsch<br />
war es, diese Wand der Unmöglichkeit zu<br />
zerstören [...]. Diese Wand ist Symbol für die<br />
Sowjetunion [...]. Daher hat der Künstler<br />
[...] einfach nur diese Erinnerung, den<br />
Glauben an bessere Zeiten, zum Ausdruck<br />
gebracht [...]. Es wird eine Art Kreuzweg<br />
dargestellt.“<br />
Ein <strong>Teil</strong> der Gedanken, die Marian Jonkajtys,<br />
ebenfalls ein Sibirienverschleppter, bezogen<br />
2 Seit September, dem siebzehnten<br />
Hatte jeder von uns noch einen langen Weg vor<br />
sich<br />
Durch das Eis des Nordkreises,<br />
Durch Lubjanka, durch den Katyner Wald!<br />
Auf der unmenschlichen Erde […]<br />
Wir gingen und gingen, dezimiert! […]<br />
Auch durch die Volksrepublik sind wir unbesiegt<br />
hervorgegangen<br />
Solange bis uns der liebe Gott das freie Vaterland<br />
zurückgibt!!! (Auszug)<br />
auf diese Gedenkstätte geäußert hatte, eignet<br />
sich hervorragend als weitere Bestätigung<br />
des Vorangegangen:<br />
”Passant... Lass in deinem Herzen<br />
In Gedenken an das Martyrium der<br />
Sibirienverschleppten eine Flamme der<br />
Hoffnung entzünden - das Gute über das<br />
Böse. Der Sieg ...“<br />
Im Laufe des Projekts, vor allem nach<br />
Abschluss der Interviews mit den Sibiraken,<br />
ist uns deutlich geworden, dass es seitens<br />
der Verantwortlichen nicht Ziel ist, an die<br />
Deportationen auf katholische Weise zu<br />
erinnern. Vielmehr geht es ihnen hier um die<br />
Schaffung eines Mythos - um ein bestimmtes<br />
Eigenbild, damit den Opfern ein Platz im<br />
nationalen Bewusstsein gegeben werden<br />
kann. Seitens der katholischen Kirche wird<br />
zwar versucht, die ethische Komponente<br />
in besonderer Weise zu repräsentieren,<br />
dennoch ist diese aber noch viel stärker in<br />
der Kultur, im europäischen Bewusstsein<br />
sowie im Polentum als solches verwurzelt.<br />
Somit kann der moralische Aspekt nicht der<br />
Kirche als Institution zugeschrieben werden.<br />
Das Martyrium der Überlebenden und der<br />
‘Triumph des Guten ist der Schlüssel zu<br />
einem besseren Verständnis dessen, was<br />
diese Generation ertragen musste. Ich weiß<br />
nicht, ob diese Form der Sakralisierung<br />
zum “Krieg der Erinnerung“ führen kann.<br />
Es ist wahrscheinlich, dass eine Diskussion<br />
zu diesem Thema eher erst dann auftritt,<br />
wenn eine weitere Nation, wie z. B. die<br />
Russen, mit einbezogen werden würde, wo<br />
nationale Geschichte von jemandem anders<br />
geschrieben wird.<br />
Jesus mit dem Kreuz<br />
auf den Schultern<br />
vor dem Hintergrund<br />
Sibiriens, aus der<br />
Sammlung des<br />
Sanktuarium Golgota<br />
des Ostens
34<br />
AUF DEM WEG NACH TJUS<br />
<br />
Woran haben wohl die<br />
Deportierten gedacht,<br />
die diesen Weg in den<br />
30 er Jahren gehen<br />
mussten?<br />
Der Terror in der Sowjetunion fand<br />
an ganz konkreten Orten statt. Auch die<br />
Zwangsumsiedlungen, welcher Art auch<br />
immer, wurden auf eine ganz konkrete<br />
Weise durchgeführt. In Polen sind Namen<br />
wie Katyn, Workuta, Magadan oder<br />
auch einfach Kasachstan und Sibirien<br />
im Allgemeinen bekannt. Daher wollten<br />
wir uns während unserer Feldforschung<br />
in Russland auch jenen Schauplätzen<br />
des terroristischen Systems in der Sowjetunion<br />
widmen, die dem breiten<br />
Publikum in Polen unbekannt sind. Wir<br />
erfuhren beispielsweise von einem Erschießungsplatz<br />
am so genannten 12.<br />
Kilometer in der Nähe von Jekaterinburg<br />
(zwischen 1924-1991 Swerdlowsk),<br />
an dem in den 30er Jahren Tausende<br />
Menschen erschossen worden sind.<br />
Außerdem schauten wir uns ehemalige<br />
NKWD-Gefängnisse in Perm an, die<br />
noch in der Zarenzeit als Aufenthaltsorte<br />
für Verbannte, die auf dem Weg nach<br />
Sibirien waren, entstanden sind. Eines<br />
davon fungiert selbst nach 130 Jahren<br />
seines Bestehens noch bis heute als<br />
Strafvollzugsanstalt. Auch der Besuch<br />
eines ehemaligen Gulag-Lagers, in dem<br />
heutzutage das Museum für politische<br />
Repressionen «Perm-36» untergebracht<br />
ist, stand mit auf unserem Programm.<br />
Unser Ziel war es, uns den Erfahrungen der<br />
Betroffenen zu nähern. Zugleich konnten<br />
wir uns z.B. nicht leisten, einige Wochen<br />
lang in einem Viehwaggon zu sitzen. Nun<br />
waren wir unterwegs zu einer ehemaligen<br />
Sondersiedlung.<br />
Durch die engmaschige Vernetzung<br />
verschiedener Verkehrswege im heutigen<br />
Zeitalter der Globalisierung gelangt<br />
man relativ schnell ans Ziel. Manche<br />
behaupten, dass der Raum aus diesem<br />
Grund verschwunden sei. Manchmal ist<br />
das Erreichen des Reisezieles sogar zu<br />
<br />
nicht immer mental vorbereitet ist. Wir<br />
hingegen nahmen uns die Zeit und gingen<br />
vom Dorf Zawoschik zu Fuß zur Siedlung.<br />
Bereits der erste Blick auf die Karte der<br />
Region verdeutlichte mir, dass wir es<br />
mit einem abgelegenen Ort mitten im<br />
Wald zu tun hatten, zu dem es nur einen<br />
einzigen Zufahrtsweg gab. Obwohl zu<br />
Beginn ein breiter Weg - der wohl nicht<br />
für die Bewohner des Ortes, sondern in<br />
erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen<br />
angelegt worden ist, dorthin führte, wurde<br />
mir sehr bald bewusst, dass wir ans Ende<br />
der Welt gingen. Der Wald ist in dieser<br />
Gegend ein sehr großer Reichtum. An<br />
einem Schild, das uns darüber informierte,<br />
dass wir uns am Rande eines Jagdreviers<br />
befanden, bogen wir auf einen schmaleren<br />
Weg Richtung Tjus ein. Für diejenigen, die<br />
hierher deportiert wurden, war der Wald<br />
jedoch auch ein großer Fluch. Unterernährt<br />
mussten sie die Arbeitsnorm erfüllen und<br />
eine bestimmte Anzahl an Bäumen fällen.<br />
Tjus war einst eine Sondersiedlung. Das<br />
heißt, dass die Menschen, die dort gegen<br />
ihren Willen hingebracht wurden, sich<br />
dort ansiedeln und arbeiten mussten. Ohne
AUF DEM WEG NACH TJUS<br />
die Erlaubnis eines ”Dorfkommandanten“<br />
durften sie die Siedlung nicht verlassen.<br />
Unser Marsch durch den Fichtenund<br />
Birkenwald war im Vergleich zu<br />
den Umständen der Fortbewegung der<br />
Zwangsumgesiedelten vor etwa 60-70<br />
Jahren mit Sicherheit etwas Anderes.<br />
Wir waren satt, ausgeschlafen und warm<br />
angezogen. Außerdem wussten wir, dass<br />
wir in einigen Stunden zurückkehren<br />
würden. Wir waren nicht vollkommen<br />
sicher, ob wir uns auf den Spuren des<br />
richtigen Weges befanden. Sogar der<br />
Wald war anders - zu jung. Trotz der<br />
Unsicherheit gingen mir die Fragen<br />
nicht aus: Was haben die Menschen<br />
damals gedacht? Wie sieht überhaupt<br />
eine Sondersiedlung aus? Die Gedanken<br />
dieser zwangsumgesiedelten Menschen,<br />
die ihnen während ihres Marsches auf<br />
diesem Weg durch den Kopf gingen,<br />
sind mit sehr großer Wahrscheinlichkeit<br />
für die Nachwelt verloren gegangen.<br />
Dennoch glaube ich, dass viele Sachen<br />
unabhängig von Zeit und Raum erhalten<br />
bleiben, weil sie so menschlich sind. Ich<br />
denke, dass sie in erster Linie erschrocken<br />
und verzweifelt waren. Manche hegten<br />
vielleicht die Hoffnung auf eine baldige<br />
Heimkehr – ihrem Verständnis nach<br />
habe es sich um einen Irrtum gehandelt,<br />
das sie ja unschuldig gewesen sind.<br />
Andere überlegten wiederum, wie man<br />
<br />
Form überleben zu können, stand für<br />
alle im Vordergrund. Dabei begleiteten<br />
sie solch prosaische Erscheinungen wie<br />
Nässe, Kälte, Dreck, Mücken, Müdigkeit<br />
und Hunger, die aus unserer ”sterilen“<br />
Perspektive allzu oft übersehen werden.<br />
Am Rande des Waldes wurden wir von<br />
einem Hundebellen begrüßt. Die damalige<br />
Sondersiedlung erwies sich für uns als<br />
ein ganz typisches Dorf. Eine von uns<br />
hier angetroffene Frau erzählte von ihren<br />
Eltern und Großeltern, die hierher gebracht<br />
und zusammen mit noch anderen mitten<br />
im Wald abgesetzt worden waren. Sie<br />
mussten in schnell zusammengehauenen<br />
Baracken mit vielen Familien leben. Von<br />
ihren Eltern erfuhr sie, dass hier auch viele<br />
Menschen gestorben waren. Die Spuren<br />
der Vergangenheit verwischen sich jedoch<br />
schnell. Die betroffenen Generationen<br />
mit ihren Erinnerungen an die damalige<br />
Zeit gibt es im Dorf nicht mehr. Von<br />
den Kindern der Unterdrückten sei nur<br />
noch sie geblieben. Neue Häuser wurden<br />
gebaut und die alten Baracken abgerissen.<br />
Einzig und allein verwahrloste Hütten<br />
sind noch übrig geblieben. Weil ihnen<br />
offensichtlich noch bis vor kurzem eine<br />
bestimmte Funktion zugedacht wurde,<br />
ist ihnen ein ähnliches Schicksal wie den<br />
alten Baracken bis jetzt erspart geblieben.<br />
In einer dieser Hütten wohnten vor einiger<br />
Zeit noch die ehemaligen Deportierten. In<br />
einer anderen war früher ein Speiseraum<br />
für die Waldarbeiter untergebracht, später<br />
<br />
aus verschiedenen Interviews erfahren<br />
haben, war ein solcher Laden eine wichtige<br />
Einrichtung in einem Dorf.<br />
Die Familie von Wasilij Michajlowitsch<br />
aus Bor-Ljonwa beispielsweise konnte die<br />
erste Zeit nach der Deportation nur deshalb<br />
überleben, weil sie die Nahrungsmittel in<br />
einem Laden kaufen konnten. Woher hatte<br />
man damals aber Geld? In seinem Fall<br />
nahm die Familie das Geld von zu Hause<br />
mit auf den Weg. Zusätzlich bekamen sie<br />
am Anfang Päckchen von Verwandten,<br />
in denen auch ein wenig Geld drin war.<br />
Leonid Aleksandrowitsch, der ebenfalls<br />
aus Bor-Ljonwa kam, erzählte uns, dass<br />
man während des Krieges von einer<br />
Tagesration in Höhe von 400 Gramm für<br />
Brot nicht leben geschweige denn richtig<br />
arbeiten konnte. Seine Familie hatte den<br />
Vorteil, dass sie noch eine Kuh besaß.<br />
Für diese mussten sie jedoch eine Steuer<br />
in Form von Fleisch, Milch oder Butter<br />
zahlen. Problem hierbei war, dass die<br />
Abgabenormen höher waren, als die Kuh<br />
letztendlich hergeben konnte. Um diesen<br />
<br />
daher von dem im Wald hart erarbeitetem<br />
Lohn Lebensmittel im Laden kaufen und<br />
als Steuer abgeben. ”Wir kauften im Laden<br />
für den einen Preis und gaben an den Staat<br />
für einen anderen Preis ab. Wir kauften für<br />
Rubel und verkauften für Kopejki.“<br />
Wenn man das russische Wort ‘spezposelok‘<br />
(Sondersiedlung) hört, fallen einem<br />
abhängig vom jeweiligen Vorwissen<br />
bestimmte Bilder ein. Durch unseren<br />
Marsch konnten wir die erzählte Geschichte<br />
mit bestimmten Orten verbinden. Wir<br />
machten uns selber ein Bild von einem<br />
authentischen Ort und konkretisierten auf<br />
diese Weise eine abstrakte Größe.<br />
35<br />
Die Siedlung Tjus<br />
<br />
Gebiet und ist rund 14<br />
km von der nächsten<br />
Kreisstadt Dobrjanka<br />
<br />
Dorf im Jahre 1938<br />
entstanden: Damals<br />
waren mehrere Hundert<br />
Spezialumsiedler<br />
aus Krasnokamsk,<br />
die zuvor auf der<br />
dortigen Baustelle<br />
des Papierkombinates<br />
Zwangsarbeit geleistet<br />
hatten, in der Tajga an<br />
einen Ort angesiedelt<br />
worden, den man<br />
zu diesem Zeitpunkt<br />
”130. Kilometer“<br />
nannte. Derartige<br />
Bezeichnungen<br />
trugen die meisten<br />
der neu gegründeten<br />
Spezialsiedlungen.<br />
Erst später wurde der<br />
Ort nach dem kleinen<br />
Bach, der durch die<br />
<br />
- Tjus. In der Sprache<br />
der Komi-Permjaken<br />
bedeutet dies in etwa<br />
‚Samenkorn’. Die<br />
zwangsangesiedelten<br />
Bewohner wurden<br />
mit ihrer Verlegung<br />
nach Tjus bereits zum<br />
zweiten Mal Opfer<br />
der stalinistischen<br />
Repressionen. Unter<br />
ihnen waren Ukrainer,<br />
Tataren, Weißrussen<br />
und Russen. Nach<br />
Aufhebung der<br />
<br />
Spezialumsiedler<br />
kehrten die meisten von<br />
ihnen in ihre frühere<br />
Heimat zurück. Im Jahr<br />
2008 zählte das Dorf<br />
<br />
noch 20 Einwohner.
36<br />
AUF DEN PFADEN DER ERINNERUNG.<br />
EINE GEDANKENREISE UND WANDERUNG NACH TJUS<br />
Robert Latypow<br />
<br />
Sondersiedlung Tjus.<br />
Es war eine ganz besondere<br />
Wanderung. Unser Ziel war das Dorf<br />
Tjus. Es befindet sich im Permer Gebiet,<br />
rund 14 km von der nächsten Kreisstadt<br />
Dobrjanka entfernt.<br />
Nach Tjus hätten wir auch mit dem<br />
Auto fahren können. Wir aber hatten<br />
vor, den Weg, den die ehemaligen Spezialumsiedler<br />
im Jahre 1938 gezwungen<br />
waren anzutreten, zu Fuß zurücklegen -<br />
als Weg des Gedenkens gehen. Wir wussten<br />
im Vorfeld nicht, wie weit der Weg<br />
sich überhaupt begehen ließe. Würden<br />
wir alle Stellen passieren können? War<br />
der Weg heute vielleicht sogar asphaltiert<br />
oder nach wie vor ein Schotterweg?<br />
Wohin würde er uns führen – in ein<br />
verlassenes Dorf, in dem lediglich<br />
noch einige vergessene Dorfbewohner<br />
wohnten? Welche Gefühle würden uns<br />
dabei bewegen und welche Gedanken<br />
könnten uns in den Sinn kommen. Ist<br />
es überhaupt möglich in der Gegenwart<br />
nachzuvollziehen, was die Menschen vor<br />
rund 70 Jahren dabei empfunden hatten,<br />
als sie hier entlanggingen? Individuen,<br />
die gezwungen waren, die ihnen unbekannte<br />
Tajga zu durchschreiten, wo<br />
sie den Rest ihres Lebens verbringen<br />
sollten. Kommt es zwangsläufig dazu,<br />
dass junge Menschen irgendwelche<br />
Form von Emotionen beim Beschreiten<br />
eines Pfades der Erinnerung verspüren?<br />
Wir wussten es nicht…<br />
Zu unserer Überraschung war der Pfad<br />
nicht verwachsen. Die 5-Kilometer lange<br />
Strecke zwischen den Dörfern Zawoschik<br />
und Tjus haben wir in einer guten Stunde<br />
zurückgelegt. Unsere Wanderung glich<br />
einem wunderbaren Spaziergang – es<br />
war warm und sonnig. Wir mussten uns<br />
regelrecht dazu zwingen, die Erlebnisse<br />
der Zeitzeugen zu diskutieren. Wie<br />
die Zeitzeugen die Repressionen erlebt<br />
und wahrgenommen hatten und<br />
wir ihr Verhältnis zur Sowjetunion<br />
aussah, war äußerst unterschiedlich.<br />
Auch hatten wir die Interviews in ganz<br />
verschiedenen Situationen geführt, so<br />
dass die jeweiligen Interviewsituationen<br />
selbst eine Reflexion darstellten.<br />
Während wir gingen und miteinander<br />
diskutierten, ließ ich meinen Gedanken<br />
freien Lauf. Mithilfe der Zeitzeugeninterviews<br />
habe ich versucht,<br />
mich in die Gefühls- und Gedankenwelt<br />
derjenigen hineinzuversetzen, die 1938<br />
dazu gezwungen waren, diesen Weg zu<br />
beschreiten. Trotzdem kamen bei mir<br />
keine negativen Gefühle auf. Dennoch<br />
begab ich mich auf eine Gedankenreise,<br />
bei der ich versuchte, unterschiedliche<br />
Perspektiven einzunehmen:<br />
Als erstes versetzte ich mich in einen<br />
13-jährigen Jungen hinein, der hier mit<br />
seiner Familie entlanggegangen war.<br />
Viele unserer Zeitzeugen waren damals<br />
noch Kinder gewesen. Meine Eltern<br />
und viele andere Erwachsene gehen<br />
zu Fuß diesen Weg entlang. Rund 300<br />
Menschen zählt unser Konvoi, aber<br />
nur ein paar Dutzend Karren begleiten<br />
ihn. Die Bündel mit unserem Hab und<br />
Gut – etwas Kleidung und ein paar<br />
Lebensmittel – sind darauf geladen.<br />
Neben einigen kranken Alten werden auf<br />
den Karren auch zwei oder drei Frauen,<br />
die wahrscheinlich ein Kind erwarten,<br />
transportiert. Wohin wir gehen, weiß ich<br />
nicht. Ich weiß auch nicht, wer unsere<br />
Kolonne führt. Allerdings scheint es<br />
mir dieser bärtige und grobe Onkel mit<br />
dem Gewehr zu sein. Er hat uns bei der<br />
Bahnstation in Empfang genommen.<br />
Seitdem gehen wir mittlerweile schon den<br />
zweiten Tag immer tiefer in den Wald. Ich<br />
habe keine Angst. Meine Eltern sind bei<br />
mir und außerdem ist das, was um mich<br />
herum passiert, auch sehr interessant.<br />
Früher habe ich in einem kleinen Dorf<br />
gewohnt, bin nie über dessen Grenzen<br />
hinausgekommen. Jetzt bekomme ich<br />
einiges zu sehen – mir eröffnet sich<br />
plötzlich die Welt. Anfangs durfte ich<br />
sogar mit der Eisenbahn fahren und<br />
jetzt sehe ich die Tajga. Nie vorher bin<br />
ich in einem so dichten Wald gewesen.<br />
Ich bin gespannt, wohin wir gehen und
AUF DEN PFADEN DER ERINNERUNG<br />
37<br />
wer meine neuen Freunde sein werden.<br />
Mit den anderen Kindern laufe ich von<br />
Karren zu Karren. Wir spielen. Ich<br />
verstehe nicht, warum die Erwachsenen<br />
so niedergeschlagen sind und keinen<br />
Spaß an diesem Weg haben. Warum nur<br />
wischt sich die Mutter mit ihrem alten<br />
Tuch ständig Tränen aus den Augen?<br />
Und wo ist unser Großvater geblieben?<br />
Im Zug war er noch bei uns und jetzt ist<br />
er nicht mehr dabei. Ich bleibe jedoch<br />
nur kurz bei diesem Gedanken und spiele<br />
weiter. Einer von uns Kindern hat in den<br />
Büschen einen echten Igel entdeckt, das<br />
ist einfach zu spannend.<br />
Als nächstes habe ich versucht, mich<br />
in die Situation des Familienvaters<br />
hineinzuversetzen und dabei ganz<br />
ambivalente Empfindungen verspürt:<br />
das Hin- und Hergerissensein zwischen<br />
Mutlosigkeit, Ärger und Hoffnung.<br />
Dies muss ein Fehler sein, denn es<br />
ist eine Tragödie. Alles, woran ich<br />
geglaubt habe, zerbricht hier vor<br />
meinen Augen. Meine Familie war zu<br />
Beginn der 1930er Jahre als ”Kulaken“<br />
gebrandmarkt worden. Wir wurden<br />
enteignet und aus der Heimat in den<br />
Ural vertrieben. Wir hatten gehofft, dass<br />
sie uns wenigstens an diesem neuen Ort<br />
endlich in Ruhe lassen würden. Und jetzt<br />
haben sie uns erneut enteignet, unser<br />
Haus und Vieh genommen, die Früchte<br />
unserer langjährigen schweren Arbeit<br />
zunichte gemacht und uns wieder in<br />
die Ungewissheit getrieben. Niemand<br />
hat uns geholfen, als sie kamen. Es<br />
wurde sogar noch schlimmer: Sobald<br />
wir unser Haus verlassen hatten,<br />
musste ich mit ansehen, wie unsere<br />
früheren Nachbarn all unsere im Haus<br />
zurückgelassenen Sachen holten. Mein<br />
Vater erlitt einen Herzinfarkt. Die<br />
Bewacher unseres Konvois haben es<br />
jedoch nicht erlaubt, ihn zu bestatten.<br />
Seinen Leichnam mussten wir an einer<br />
vergessenen Bahnstation zurücklassen.<br />
Warum nur und weshalb das alles? Und<br />
dennoch gibt es Hoffnung: wir leben.<br />
Immer wieder musste ich beobachten,<br />
dass Menschen einfach verschwanden.<br />
Dass Verwandte von Mitarbeitern der<br />
Geheimpolizei abgeholt wurden. Hinter<br />
uns liegt das schreckliche Jahr 1937,<br />
dennoch sind wir noch zusammen. Der<br />
Anführer der Wachmannschaften hatte<br />
uns außerdem sein Wort gegeben, dass<br />
am neuen Wohnort alles für uns bereit<br />
stehen würde – Unterkunft, Werkzeuge<br />
und Nahrungsmittel. Wir werden<br />
überleben. Und wenn es so ist, dann<br />
werden wir, sobald sich alles beruhigt<br />
hat, auch wieder in unsere Heimat<br />
zurückkehren können. Es kann nicht sein,<br />
dass dem Genossen Stalin, der Stütze und<br />
Hoffnung unseres Landes ist, das ganze<br />
Unrecht verborgen bleibt, welches den<br />
Bauern angetan worden ist. Wir waren<br />
doch keine Feinde der Sowjetmacht! Ich<br />
möchte an die Zukunft glauben…<br />
Zu guter Letzt versetze ich mich in<br />
die Lage der Mutter der Familie. Der<br />
Schmerz über den Verlust der Heimat<br />
und des Hauses ist unerträglich. und<br />
die Zukunft ihrer Kinder und findet<br />
während des Schnarrens eines nicht<br />
geölten Karrenrades im Gebet Hoffnung.<br />
Wo werden wir jetzt Unterstützung und<br />
Unterschlupf finden? Wo finden wir Rat?<br />
Wie sollen wir nur überleben, nachdem<br />
die Verwandtschaft auseinandergerissen<br />
worden ist? Was sollen wir essen, wovon<br />
sollen wir die Kinder ernähren? Es gibt<br />
kein Brot und an Flucht ist nicht zu<br />
denken. Wohin sollen wir auch fliehen,<br />
hier mitten in der Tajga? Um uns herum<br />
ist fremdes Land, überall sind fremde<br />
Leute. Im Gebet mit Gott erblüht meine<br />
Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass<br />
Schutz gewährt wird, dass uns gute<br />
Menschen begegnen, wir Brot bekommen<br />
werden. Am wichtigsten ist, dass diese<br />
Leute mit den Gewehren und roten<br />
Sternen auf ihren Uniformmützen nicht<br />
noch einmal unser Haus betreten werden<br />
und uns endlich in Frieden leben lassen.<br />
Ich bin bereit ihnen zu verzeihen, wenn<br />
man uns nur endlich in Ruhe lässt.<br />
So ging meine Gedankenreise zu<br />
Ende, in der ich die Erlebnisse unserer<br />
Zeitzeugen, ihre Rollenbilder und Wahrnehmungen<br />
in freie Assoziationen<br />
verwandelt hatte. Als wir endlich in<br />
Tjus angekommen waren, begegnete<br />
uns die einzige dort heute noch<br />
ansässige Nachfahrin der damaligen<br />
Zoja Michajlowna<br />
Kuzminych – die<br />
letzte Nachfahrin der<br />
Deportierten, die hier<br />
die Sondersiedlung<br />
gegründet haben.
38<br />
AUF DEN PFADEN DER ERINNERUNG<br />
Der ehemalige<br />
<br />
1940er Jahren<br />
Spezialumsiedler. Zoja Michajlowna<br />
Kuzminych wurde hier 1946 geboren.<br />
Sie hat uns durch das Dorf geführt und<br />
jene Orte gezeigt, an denen die Baracken<br />
der Spezialumsiedler gestanden haben.<br />
Außerdem hat sie uns die Geschichte<br />
ihrer Eltern erzählt und davon berichtet,<br />
welche Menschen mit ihnen hierher<br />
deportiert worden waren, woher sie<br />
gekommen waren und wie sie überleben<br />
konnten. Natürlich hatte man die Spezialumsiedler<br />
betrogen – keiner hatte hier<br />
auf sie gewartet. Im Herbst hatte man die<br />
Menschen hierher verschleppt und ihnen<br />
ein kleines Stück Land überlassen. Hier<br />
waren keine Hütten. Es gab nur einen<br />
Unterstand, in dem in der ersten Zeit alle<br />
wohnen mussten. Es gab weder Werkzeug<br />
noch genügend Nahrungsmittel. Der<br />
Winter stand vor der Tür und mit ihm<br />
die Kälte, Frost und Hunger. Die Männer<br />
haben begonnen Holz zu schlagen und<br />
Erdhütten zu graben. Der kleine Bach<br />
Tjus war die einzige Lebensader, die die<br />
Spezialumsiedler mit dem ”Festland“<br />
jenseits der Tajga verband. Dank<br />
seiner Fische konnte die Versorgung<br />
der Bewohner gesichert werden. Zoja<br />
Michajlowna ist überzeugt, dass die<br />
Menschen nur durch ihre gegenseitige<br />
Hilfe überleben konnten. Vor allem<br />
die ersten Jahre waren hart – viele<br />
Ältere und Gebrechliche starben an<br />
Hunger oder Krankheit und wurden in<br />
Massengräbern bestattet. Diejenigen, die<br />
überleben konnten, haben später das Dorf<br />
aufgebaut. Fleiß und Gebete haben ihnen<br />
dabei geholfen. In den 1950/60er Jahren<br />
wurde Tjus zu einer der erfolgreichsten<br />
Forstwirtschaftsbetriebe im Vorural.<br />
Die Menschen haben nicht nur überlebt,<br />
sie haben in dieser Zeit sogar den<br />
sozialistischen Wettkampf gewonnen.<br />
Als wir die Rückkehr angetreten<br />
haben, fing es an zu regnen. Während ich<br />
den Pfad der Erinnerung beschritt, kam<br />
mir der Gedanke, dass diese Menschen<br />
trotz der ihnen vom Staat zugefügten<br />
Erniedrigungen und Gemeinheiten ihre<br />
Menschenwürde bewahrt haben. Und<br />
dass es ihnen gelungen war, diese an<br />
ihre Nachkommen – Menschen wie<br />
Zoja Michajlowna – weiterzugeben.<br />
Wir, die heute leben, dachte ich,<br />
sollten hier und da solch einen Weg des<br />
Gedenkens beschreiten. Denn auf diesen<br />
Wegen kann uns bewusst werden, wie<br />
sehr die früheren und die zukünftigen<br />
Generationen durch die Geschichte<br />
miteinander verbunden sind.
39<br />
NICHT VERGESSEN, ABER VERGEBEN?<br />
(ANSTELLE EINES EPILOGS)<br />
Robert Latypow<br />
Als ich meine Recherchereise nach<br />
Polen antrat, um Interviews mit polnischen<br />
Zeitzeugen zu führen, die unter Stalin<br />
deportiert worden waren, war ich darauf<br />
gefasst, dass diese ganz unterschiedlich<br />
auf mich und mein Vorhaben reagieren<br />
könnten. Ich konnte mir vorstellen, dass<br />
man mich mit offenen Armen empfangen<br />
und mein Anliegen unterstützen würde,<br />
aber auch, dass mir Unverständnis und<br />
sogar Ablehnung entgegengebracht würde.<br />
Schließlich bin ich russischer Staatsbürger.<br />
Eine ablehnende Haltung seitens der<br />
Interviewpartner hatte ich vor allem auch<br />
deshalb erwartet, weil ich es in Russland<br />
oft genug erlebt habe, dass dort alles, was<br />
mit dem Themenkomplex Repression und<br />
Verbrechen zu Zeiten Stalins verbunden<br />
ist, bis heute sehr scharfe und zumeist<br />
ablehnende Reaktionen hervorruft. Weder<br />
die staatliche Politik noch die Mehrheit der<br />
Bevölkerung hält eine Aufarbeitung der<br />
Vergangenheit für notwendig. Eine solche<br />
Sicht muss wiederum für unsere westlichen<br />
Nachbarstaaten, deren Bürger die traurige<br />
Erfahrung des erzwungen “erfolgreichen<br />
Aufbaus des Sozialismus“ machen mussten,<br />
einer Beleidigung gleichkommen. Daher<br />
ist es für mich sehr nachzuvollziehen, dass<br />
es in Polen Irritationen hervorruft, wenn in<br />
Russland die Gewalt- und Terrormaßnahmen<br />
der Stalin-Zeit heutzutage verschwiegen<br />
oder diese mit den ”selbstverständlichen<br />
Schwierigkeiten jener Periode“<br />
gerechtfertigt werden. Das gilt auch für die<br />
Beobachtung, dass im heutigen Russland<br />
die Verantwortung für die stalinistischen<br />
Repressionen einzig und allein den untersten<br />
Rängen der Geheimdienstmitarbeiter<br />
zugeschoben werden, während Stalin, der<br />
diese Unterdrückung persönlich veranlasst<br />
hat, weiterhin als “großer Heerführer“ und<br />
“effektiver Manager“ inszeniert wird.<br />
Die Irritation der polnischen Bevölkerung<br />
konnte ich seit längerer Zeit verspüren. Vor<br />
allem ging es dabei um den Massenmord<br />
<br />
<br />
der lange Zeit von der sowjetischen Führung<br />
der deutschen Wehrmacht angelastet<br />
wurde. Die Art und Weise, wie im heutigen<br />
Russland selbst auf höchster Ebene die<br />
von Historikern bereits belegten Fakten<br />
nicht anerkannt werden wollten sowie die<br />
damit verbundenen äußerst befremdlichen<br />
Eingriffe in die Wirtschaft (Einfuhrverbot<br />
von polnischem Fleisch) sowie in die Kultur<br />
<br />
des Filmes von Andrzej Wajda), konnten<br />
daher keine andere Reaktion als Irritation<br />
hervorrufen.<br />
Bis zum Flugzeugabsturz in Smolensk<br />
hatte man in den russischen Medien immer<br />
wieder ganz gerne von einer antirussischen<br />
Einstellung in Polen gesprochen. Fast<br />
wöchentlich erschienen daher scharfe<br />
Polemiken gegen polnische Politiker und<br />
bissige Kommentare von Journalisten und<br />
Der Spazierhof im<br />
Lagerteil – ein Beispiel<br />
für die schwierigen<br />
Haftbedingungen.<br />
Heute: Museum<br />
«Perm-36».
40<br />
NICHT VERGESSEN, ABER VERGEBEN?<br />
Denkmal zur Erinnerung<br />
an die Opfer des<br />
Bolschwismus 1939-<br />
1956, Legnica,<br />
Niederschlesien.<br />
Politologen, um erneut klar zu machen, dass<br />
“uns die Polen heutzutage keine Freunde<br />
seien“. Vor allem rief auf russischer Seite<br />
große Irritation hervor, dass sich “die<br />
undankbaren Nachbarn“ nicht mehr daran<br />
erinnern wollten, “wer sie von der braunen<br />
Pest des Faschismus befreit hat“.<br />
Vor diesem Hintergrund schien es mir<br />
nur folgerichtig zu sein, dass unsere<br />
Gesprächspartner nicht nur der Sowjetmacht,<br />
dem ausführenden NKWD, Stalin sowie<br />
seinen Helfern ablehnend gegenübertreten<br />
würden, sondern auch gegenüber mir als<br />
Bürger der Russischen Föderation und<br />
vielleicht sogar generell dem russischen<br />
Volk eine skeptische Haltung einnehmen<br />
würden. Wider Erwarten traf letzteres jedoch<br />
nicht zu.<br />
Von den zwei Dutzend Zeitzeugen,<br />
mit denen wir im Rahmen unseres<br />
Forschungsprojekts Interviews geführt<br />
hatten, machte niemand das russische Volk<br />
für die Massendeportationen verantwortlich.<br />
Wenngleich unsere Erhebung nicht als<br />
repräsentativ gelten kann, so ist es doch<br />
auffällig, dass wirklich kein einziger<br />
Zeitzeuge uns gegenüber diese Sichtweise<br />
vertrat. Uns gab das zu denken, so dass wir<br />
uns sofort auf die Suche nach den Gründen<br />
dafür begaben.<br />
Warum sind uns die ehemaligen Opfer,<br />
mit denen wir sprechen konnten und die<br />
die Erfahrung von Haft, Deportation und<br />
des Verlusts von Angehörigen gemacht<br />
haben, nicht feindlich gesonnen? Wie haben<br />
sie es geschafft, dass ihre Seelen nicht<br />
verhärteten, sondern sie weiterhin Menschen<br />
blieben? Lange haben wir während unserer<br />
Forschungsreise darüber diskutiert.<br />
Vor allem eine Facette hat mich dabei<br />
nachhaltig beeindruckt, wohl insbesondere<br />
vor dem Hintergrund meiner eigenen<br />
Erfahrungen, die ich täglich mit dem Thema<br />
Vergangenheitsaufarbeitung im heutigen<br />
Russland mache.<br />
Es geht dabei vor allem um den polnische<br />
Bund der Sibirienverschleppten, in der<br />
ehemalige stalinistische Deportationsopfer<br />
heute als Gesellschaft zusammengeschlossen<br />
sind. Die Grundhaltung der Organisation<br />
kann sich kurz und prägnant folgendermaßen<br />
wiedergeben lassen: “Nicht vergessen, aber<br />
vergeben“.<br />
In liberalen Kreisen in Russland,<br />
darunter auch in der Internationalen<br />
Menschenrechtsgesellschaft Memorial, für<br />
die ich arbeite und in der ich Mitglied bin,<br />
würde eine solche Devise Unverständnis<br />
und möglicherweise sogar Ablehnung<br />
hervorrufen. Ist es denn überhaupt möglich<br />
zu ”vergeben“? Den Tätern und dem ganzen<br />
sowjetischen System zu vergeben, aus<br />
dem diese hervorgegangen sind? Vielleicht<br />
ist das irgendwann einmal möglich, aber<br />
bestimmt nicht heute. Es ist nicht möglich,<br />
weil sowohl das System als auch die mit<br />
<br />
kriminell gilt und die Täter nicht genannt<br />
werden – dabei wäre vor allem das von<br />
allergrößter Wichtigkeit! Mit anderen<br />
Worten heißt das, dass es in der russischen<br />
Gesellschaft keinen Konsens darüber gibt,<br />
was für eine Tragödie überhaupt geschehen<br />
ist und wie man langfristig verhindern kann,<br />
dass sie sich so etwas in Zukunft wiederholt.<br />
In Polen ist das offenbar ganz anders. Hier<br />
ist ein Vergeben möglich. Kein zynisches<br />
oder populistisches, sondern einfach ein<br />
menschliches Vergeben.<br />
Eine Sichtweise, die ein friedliches<br />
Nebeneinander von einerseits durchlebtem<br />
Schicksal und Verlusten und andererseits<br />
von russischen Menschen, welche allen<br />
Verboten zum Trotz den Deportierten ein<br />
Stück Brot gereicht haben, ermöglicht. Eine<br />
Einstellung, die es möglich macht, dass<br />
neben dem Verlust der Heimat auch über<br />
den Gewinn einer neuen ”kleinen Heimat“<br />
irgendwo im fernen Sibirien, Kasachstan<br />
oder Ural geredet werden kann. Einzig und<br />
allein weil dort Menschen lebten, die nicht<br />
nur an ihrem Schicksal Anteil nahmen,<br />
sondern ihnen in der Schule auch das<br />
Schreiben und Rechnen beibrachten, ihnen<br />
Bücher vorlasen, in denen das Gute immer<br />
über das Böse siegte und es Kinder gab, die<br />
mit ihnen in den Pausen spielten.
NICHT VERGESSEN, ABER VERGEBEN?<br />
41<br />
Einblick in die Akten des<br />
NKWDs. Ermittlungen<br />
gegen den Polen<br />
<br />
wegen Spionage und<br />
Sabotage angeklagt.<br />
Museum «Perm-36»<br />
Vielleicht gibt es deshalb für uns – sowohl<br />
bei den Russen als auch bei den Polen - die<br />
Hoffnung darauf, dass wir uns irgendwann<br />
die ganze Wahrheit über die Geschehnisse<br />
der 1930er-1950er Jahre sagen und wir<br />
keine Gegner sein werden. Nachdem sich<br />
dieses Kapitel der Geschichte tief in uns<br />
eingebrannt hat, wird uns nämlich nichts<br />
anderes übrig bleiben, als einander ehrlich<br />
zu vergeben und sich zu wünschen, gute<br />
Nachbarn zu sein.
42<br />
PROJEKTTEAM<br />
Elina Jerenko<br />
Journalistin und Mitarbeiterin im Zentrum für Gesellschaftsanalyse<br />
und Unabhängige Forschung GRANI in Perm, Russland<br />
Die Politik, die sich mit der polnisch-russischen Geschichte beschäftigt, wird in besonde-<br />
lyse<br />
der realen Fakten nicht möglich ist. Die selektive Darstellung und Interpretation der besonders<br />
schmerzhaften Perioden in der Geschichte beider Länder trägt dabei sicherlich nicht<br />
zu einem besseren gegenseitigen Verständnis zwischen Polen und Russen bei.<br />
<br />
werden können. Vor allem die IT-Umgebung hat hier eine besondere Aufgabe – sie bildet<br />
die Plattform für einen öffentlichen Dialog bezogen auf jene Ereignisse, mit denen die tragischen<br />
Erben beider Länder bis in die heutige Zeit konfrontiert werden. Vor zwei Jahren habe<br />
ich mein Studium mit dem Diplom abgeschlossen. Im Mittelpunkt meiner Untersuchungen<br />
stand dabei das Fernsehprojekt ”Restaurierung der Erinnerung“. Dort ging es um die stalinistische<br />
Periode sowie deren Darstellung im heutigen Russland.<br />
Das Projekt ”Deportationen in Russland und Polen im 20 Jahrhundert: «Krieg der<br />
Erinnerungen»?” ist für mich somit eine hervorragende Gelegenheit, um zu diesem Thema<br />
weiter forschen zu können. Außerdem kann auf diese Weise eine gemeinsame Basis der<br />
Erinnerung von Menschen verschiedener Nationalitäten geschaffen werden.<br />
Robert Latypow<br />
Vorsitzender der Gesellschaft ”Memorial“ in Perm<br />
Bereits seit über 10 Jahren arbeite bei der Internationalen Gesellschaft ”MEMORIAL“.<br />
Unsere Organisation beschäftigt sich mit einer der tragischsten und schwierigsten, und<br />
wahrscheinlich auch der unpopulärsten Themenstellungen in Russland – mit der Geschichte<br />
der in der Sowjetunion ausgeübten politischen Repressionen. Der Bewusstwerdungsprozess<br />
dieser Seite der Geschichte geht nur sehr langsam vor sich. Deshalb ist jeder noch so<br />
kleine Versuch von Historikern und gesellschaftlichen Akteuren wichtig, der sich zum Ziel<br />
gesetzt hat, das Gedächtnis zu bewahren und in einem größeren Maßstab zu vermitteln.<br />
Ohne dies sehe ich keine Zukunft für mein Land. Unsere Forschungswerkstatt gehört zu<br />
solchen wichtigen Maßnahmen. Dabei vereinigt uns unser Interesse für die ungeschönte<br />
Geschichte Russlands, den Wunsch, Zeitzeugen aus der sowjetischen Epoche und die Orte<br />
ihrer Verbannung und Gefangennahme mit eigenen Augen zu sehen. Wir wollen verstehen,<br />
auf welche Weise das Gedächtnis an Orte und Menschen bewahrt wird. Es gibt aber noch<br />
<br />
nationalen Erinnerungen. Ich glaube, dass unser Projekt ”Krieg der Erinnerungen“? nicht<br />
<br />
zeigt, sondern uns allen auch hilft, uns von vielen historischen Mythen zu befreien, die die<br />
Völker oft trennen.
PROJEKTTEAM<br />
43<br />
<br />
MA in Political Science; Doktorandin an der <strong>Europa</strong> Universität<br />
Viadrina in Frankfurt (Oder)<br />
Während meines Studiums habe ich den Schwerpunkt auf den osteuropäischen Raum gelegt.<br />
Diesen Fokus habe ich im Rahmen meines politikwissenschaftlichen Masterstudiums an der<br />
<br />
Weise mit Aspekten der transnationalen Zusammenarbeit im 20./21. Jahrhundert beschäftigt<br />
wie z.B. der Demokratisierung, Zivilgesellschaft, Ethnizität sowie Grenzregionen.<br />
Die besondere polnisch-russische Beziehung wurde weiterhin zum Schwerpunkt von<br />
meiner angehender Promotionsforschung. Ich beschäftige mich mit dem Thema der<br />
Rückgewinnung der polnischen Stadt Legnica nach dem Abzug der sowjetischen Truppen in<br />
den 90er Jahren. Die Begriffe ”Raum“ und ”Erinnerung“ spielen daher sehr besondere Rolle<br />
im Bezug auf diese konkrete kulturell-historische Landschaft.<br />
Das Projekt “Deportationen in Russland und Polen im 20 Jahrhundert: «Krieg der<br />
Erinnerungen»?” hatte das Ziel Erinnerung an die stalinistischen Arbeitslager zu erforschen.<br />
Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass auch meine Familie durch stalinistischen Terror<br />
getroffen wurde, ist dieses Thema für mich persönlich von sehr großer Bedeutung. Der<br />
Bau eines gemeinsamen polnisch-russischen Erinnerungsforums ist für mich daher umso<br />
wichtiger.<br />
<br />
Student an der <strong>Europa</strong> Universität Viadrina in Frankfurt (Oder)<br />
Zur Zeit studiere ich Geschichte Osteuropas an der Fakultät der Kulturwissenschaften.<br />
Dabei beschäftige ich mich u.a. mit verschiedenen Aspekten des Stalinismus, Fragen der<br />
Erinnerungskultur in Mittel- und Osteuropa und interessiere mich für topographische<br />
Größen als historische Forschungsobjekte (z. B. Flüsse und Eisenbahnlinien). In meinem<br />
Studium folge ich dem Prinzip ”im Raum lesen wir die Zeit“ und bin viel unterwegs. Durch<br />
meine <strong>Teil</strong>nahme am Projekt ”Der Gulag im russischen Gedächtnis. Eine Spurensuche in der<br />
Region Perm“ erhielt ich im Jahre 2009 auch Zugang zur Landschaft der sowjetischen Lager.<br />
Als angehender Osteuropahistoriker bereicherte ich dadurch meine Werkstatt-Erfahrungen<br />
und lernte, die Lagerwelt des Gulag zu ”lesen“. Das Projekt ”Deportationen in Russland und<br />
Polen im 20. Jahrhundert: «Krieg der Erinnerungen»?” betrachte ich als eine folgerichtige<br />
Vertiefung meiner Forschungsinteressen. Ich freue mich, dass sich trotz einer oft negativen<br />
Darstellung der jeweils anderen Seite in den Massenmedien beider Länder für dieses Projekt<br />
ein russisch-polnisches Team dynamischer und aufgeschlossener Menschen gebildet hat, um<br />
die Pfade der Erinnerungen der russischen und polnischen Betroffenen der Deportationen<br />
gemeinsam zu erforschen.
44<br />
GLOSSAR<br />
ARBEITSARMEE<br />
(Trudowaja armija,<br />
trudarmija)<br />
DEPORTATION<br />
(vom lat. deportatio –<br />
Verbannung,<br />
Verschleppung)<br />
ENTKULAKISIERUNG<br />
GULAG<br />
(Glawnoje Uprawlenije<br />
Isprawitelno-Trudowych<br />
Lagereij)<br />
LESPROMCHOS<br />
(Akronym zum<br />
russischen<br />
lesopromyschlennoje<br />
chosjaistwo)<br />
NKWD<br />
(Narodny Kommissariat<br />
Wnutrennich Del)<br />
REPATRIIERUNG<br />
(vom spätlat. repatriatio,<br />
Rückkehr in die Heimat)<br />
REPRESSION<br />
Die Nötigung zum Arbeitsdienst im Rahmen von Einheiten der Arbeitsarmee während des<br />
Großen Vaterländischen Krieges und kurz danach. Dies waren spezielle Bau-Bataillone<br />
und -Kolonnen für Arbeiten in der Industrie und Baustellen des NKWD der UdSSR.<br />
”Volksfeinden“ erklärt, was ihre Anerkennung als<br />
Repressionsopfer bis zuletzt erschwerte.<br />
Bezeichnet die Ausweisung oder Zwangsumsiedlung sowohl von einzelnen Personen, als<br />
<br />
oder gefährlich eingestuft wurden, von ihren Aufenthalts- oder Wohnorten. Deportationen<br />
waren gekennzeichnet durch die unmittelbare Umsetzung, die auf bestimmten, höchsten<br />
politischen Entscheidungen fußte, bei denen es in der Regel keinen Einspruch und nicht<br />
einmal Diskussionen gab. Als Verwaltungsmaßnahme der sowjetischen Führung sollten<br />
mittels Zwangsumsiedlungen politische und/oder wirtschaftliche Aufgaben gelöst werden.<br />
Kampagne gegen das ”wohlhabende Bauerntum“ (”Kulaken“) in der UdSSR Ende der<br />
1920er bis 1930er Jahren, die auf die ”Liquidierung der Kulaken als Klasse“ mittels<br />
Beschlagnahme von Eigentum, Deportationen der als Kulaken eingestuften bäuerlichen<br />
Familien oder sogar Erschießen, gerichtet war.<br />
Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager war in den Jahren 1934 bis 1960 folgend<br />
die Abteilung des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD), des<br />
Innenministeriums und später des Justizministeriums der UdSSR. Das wichtigste Organ<br />
der politischen Repression in der UdSSR, welches aus einem System von Lagern,<br />
Gefängnissen und Verbannungsorten bestand..<br />
Ein Betrieb der Holzverarbeitungsindustrie in der UdSSR, der sich mit Fällung der Bäume,<br />
Verarbeitung und Transport von Holz beschäftigte, in dem die Arbeitskräfte des GULAGs<br />
eingesetzt wurden.<br />
Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, zentrales Organ der Staatsführung<br />
der UdSSR in den Jahren 1934 bis 1946, danach umbenannt in Ministerium für Innere<br />
Angelegenheiten. Dem Organ unterstand GULAG.<br />
Rückkehr von Emigranten in ihr Herkunftsland. Die Repatriierung sowjetischer Bürger<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte zur Kategorie der Zwangsmigrationen aufgrund<br />
ihres entschieden gewaltsamen Charakters, welcher durch die Beschlüsse von Jalta<br />
vorherbestimmt war und individuelle Wünsche und Willenserklärungen ignorierte. Im<br />
Kontext der in die UdSSR deportierten Polen wurde der Begriff durch Propaganda nach<br />
dem Krieg ausgenutzt. Eine direkte Rückkehr in die s.g. Kresy Wschodnie – die ehemaligen<br />
polnischen Ostgebiete war wegen deren Anschluss an die UdSSR nicht mehr möglich.<br />
Viele Betroffenen siedelten sich daher in den s.g. Wiedergewonnenen Gebieten an.<br />
Staatliche Zwangsmaßnahmen, die unterschiedliche Formen der Bestrafung und des<br />
Entzugs von Rechten einschließen; in der UdSSR gegenüber einzelnen Menschen sowie<br />
gegenüber Menschengruppen angewendet.