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Broschüre Teil 2 herunterladen - Geschichtswerkstatt Europa

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AUF DEN PFADEN DER ERINNERUNG<br />

37<br />

wer meine neuen Freunde sein werden.<br />

Mit den anderen Kindern laufe ich von<br />

Karren zu Karren. Wir spielen. Ich<br />

verstehe nicht, warum die Erwachsenen<br />

so niedergeschlagen sind und keinen<br />

Spaß an diesem Weg haben. Warum nur<br />

wischt sich die Mutter mit ihrem alten<br />

Tuch ständig Tränen aus den Augen?<br />

Und wo ist unser Großvater geblieben?<br />

Im Zug war er noch bei uns und jetzt ist<br />

er nicht mehr dabei. Ich bleibe jedoch<br />

nur kurz bei diesem Gedanken und spiele<br />

weiter. Einer von uns Kindern hat in den<br />

Büschen einen echten Igel entdeckt, das<br />

ist einfach zu spannend.<br />

Als nächstes habe ich versucht, mich<br />

in die Situation des Familienvaters<br />

hineinzuversetzen und dabei ganz<br />

ambivalente Empfindungen verspürt:<br />

das Hin- und Hergerissensein zwischen<br />

Mutlosigkeit, Ärger und Hoffnung.<br />

Dies muss ein Fehler sein, denn es<br />

ist eine Tragödie. Alles, woran ich<br />

geglaubt habe, zerbricht hier vor<br />

meinen Augen. Meine Familie war zu<br />

Beginn der 1930er Jahre als ”Kulaken“<br />

gebrandmarkt worden. Wir wurden<br />

enteignet und aus der Heimat in den<br />

Ural vertrieben. Wir hatten gehofft, dass<br />

sie uns wenigstens an diesem neuen Ort<br />

endlich in Ruhe lassen würden. Und jetzt<br />

haben sie uns erneut enteignet, unser<br />

Haus und Vieh genommen, die Früchte<br />

unserer langjährigen schweren Arbeit<br />

zunichte gemacht und uns wieder in<br />

die Ungewissheit getrieben. Niemand<br />

hat uns geholfen, als sie kamen. Es<br />

wurde sogar noch schlimmer: Sobald<br />

wir unser Haus verlassen hatten,<br />

musste ich mit ansehen, wie unsere<br />

früheren Nachbarn all unsere im Haus<br />

zurückgelassenen Sachen holten. Mein<br />

Vater erlitt einen Herzinfarkt. Die<br />

Bewacher unseres Konvois haben es<br />

jedoch nicht erlaubt, ihn zu bestatten.<br />

Seinen Leichnam mussten wir an einer<br />

vergessenen Bahnstation zurücklassen.<br />

Warum nur und weshalb das alles? Und<br />

dennoch gibt es Hoffnung: wir leben.<br />

Immer wieder musste ich beobachten,<br />

dass Menschen einfach verschwanden.<br />

Dass Verwandte von Mitarbeitern der<br />

Geheimpolizei abgeholt wurden. Hinter<br />

uns liegt das schreckliche Jahr 1937,<br />

dennoch sind wir noch zusammen. Der<br />

Anführer der Wachmannschaften hatte<br />

uns außerdem sein Wort gegeben, dass<br />

am neuen Wohnort alles für uns bereit<br />

stehen würde – Unterkunft, Werkzeuge<br />

und Nahrungsmittel. Wir werden<br />

überleben. Und wenn es so ist, dann<br />

werden wir, sobald sich alles beruhigt<br />

hat, auch wieder in unsere Heimat<br />

zurückkehren können. Es kann nicht sein,<br />

dass dem Genossen Stalin, der Stütze und<br />

Hoffnung unseres Landes ist, das ganze<br />

Unrecht verborgen bleibt, welches den<br />

Bauern angetan worden ist. Wir waren<br />

doch keine Feinde der Sowjetmacht! Ich<br />

möchte an die Zukunft glauben…<br />

Zu guter Letzt versetze ich mich in<br />

die Lage der Mutter der Familie. Der<br />

Schmerz über den Verlust der Heimat<br />

und des Hauses ist unerträglich. und<br />

die Zukunft ihrer Kinder und findet<br />

während des Schnarrens eines nicht<br />

geölten Karrenrades im Gebet Hoffnung.<br />

Wo werden wir jetzt Unterstützung und<br />

Unterschlupf finden? Wo finden wir Rat?<br />

Wie sollen wir nur überleben, nachdem<br />

die Verwandtschaft auseinandergerissen<br />

worden ist? Was sollen wir essen, wovon<br />

sollen wir die Kinder ernähren? Es gibt<br />

kein Brot und an Flucht ist nicht zu<br />

denken. Wohin sollen wir auch fliehen,<br />

hier mitten in der Tajga? Um uns herum<br />

ist fremdes Land, überall sind fremde<br />

Leute. Im Gebet mit Gott erblüht meine<br />

Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass<br />

Schutz gewährt wird, dass uns gute<br />

Menschen begegnen, wir Brot bekommen<br />

werden. Am wichtigsten ist, dass diese<br />

Leute mit den Gewehren und roten<br />

Sternen auf ihren Uniformmützen nicht<br />

noch einmal unser Haus betreten werden<br />

und uns endlich in Frieden leben lassen.<br />

Ich bin bereit ihnen zu verzeihen, wenn<br />

man uns nur endlich in Ruhe lässt.<br />

So ging meine Gedankenreise zu<br />

Ende, in der ich die Erlebnisse unserer<br />

Zeitzeugen, ihre Rollenbilder und Wahrnehmungen<br />

in freie Assoziationen<br />

verwandelt hatte. Als wir endlich in<br />

Tjus angekommen waren, begegnete<br />

uns die einzige dort heute noch<br />

ansässige Nachfahrin der damaligen<br />

Zoja Michajlowna<br />

Kuzminych – die<br />

letzte Nachfahrin der<br />

Deportierten, die hier<br />

die Sondersiedlung<br />

gegründet haben.

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