Broschüre Teil 2 herunterladen - Geschichtswerkstatt Europa
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AUF DEM WEG NACH TJUS<br />
die Erlaubnis eines ”Dorfkommandanten“<br />
durften sie die Siedlung nicht verlassen.<br />
Unser Marsch durch den Fichtenund<br />
Birkenwald war im Vergleich zu<br />
den Umständen der Fortbewegung der<br />
Zwangsumgesiedelten vor etwa 60-70<br />
Jahren mit Sicherheit etwas Anderes.<br />
Wir waren satt, ausgeschlafen und warm<br />
angezogen. Außerdem wussten wir, dass<br />
wir in einigen Stunden zurückkehren<br />
würden. Wir waren nicht vollkommen<br />
sicher, ob wir uns auf den Spuren des<br />
richtigen Weges befanden. Sogar der<br />
Wald war anders - zu jung. Trotz der<br />
Unsicherheit gingen mir die Fragen<br />
nicht aus: Was haben die Menschen<br />
damals gedacht? Wie sieht überhaupt<br />
eine Sondersiedlung aus? Die Gedanken<br />
dieser zwangsumgesiedelten Menschen,<br />
die ihnen während ihres Marsches auf<br />
diesem Weg durch den Kopf gingen,<br />
sind mit sehr großer Wahrscheinlichkeit<br />
für die Nachwelt verloren gegangen.<br />
Dennoch glaube ich, dass viele Sachen<br />
unabhängig von Zeit und Raum erhalten<br />
bleiben, weil sie so menschlich sind. Ich<br />
denke, dass sie in erster Linie erschrocken<br />
und verzweifelt waren. Manche hegten<br />
vielleicht die Hoffnung auf eine baldige<br />
Heimkehr – ihrem Verständnis nach<br />
habe es sich um einen Irrtum gehandelt,<br />
das sie ja unschuldig gewesen sind.<br />
Andere überlegten wiederum, wie man<br />
<br />
Form überleben zu können, stand für<br />
alle im Vordergrund. Dabei begleiteten<br />
sie solch prosaische Erscheinungen wie<br />
Nässe, Kälte, Dreck, Mücken, Müdigkeit<br />
und Hunger, die aus unserer ”sterilen“<br />
Perspektive allzu oft übersehen werden.<br />
Am Rande des Waldes wurden wir von<br />
einem Hundebellen begrüßt. Die damalige<br />
Sondersiedlung erwies sich für uns als<br />
ein ganz typisches Dorf. Eine von uns<br />
hier angetroffene Frau erzählte von ihren<br />
Eltern und Großeltern, die hierher gebracht<br />
und zusammen mit noch anderen mitten<br />
im Wald abgesetzt worden waren. Sie<br />
mussten in schnell zusammengehauenen<br />
Baracken mit vielen Familien leben. Von<br />
ihren Eltern erfuhr sie, dass hier auch viele<br />
Menschen gestorben waren. Die Spuren<br />
der Vergangenheit verwischen sich jedoch<br />
schnell. Die betroffenen Generationen<br />
mit ihren Erinnerungen an die damalige<br />
Zeit gibt es im Dorf nicht mehr. Von<br />
den Kindern der Unterdrückten sei nur<br />
noch sie geblieben. Neue Häuser wurden<br />
gebaut und die alten Baracken abgerissen.<br />
Einzig und allein verwahrloste Hütten<br />
sind noch übrig geblieben. Weil ihnen<br />
offensichtlich noch bis vor kurzem eine<br />
bestimmte Funktion zugedacht wurde,<br />
ist ihnen ein ähnliches Schicksal wie den<br />
alten Baracken bis jetzt erspart geblieben.<br />
In einer dieser Hütten wohnten vor einiger<br />
Zeit noch die ehemaligen Deportierten. In<br />
einer anderen war früher ein Speiseraum<br />
für die Waldarbeiter untergebracht, später<br />
<br />
aus verschiedenen Interviews erfahren<br />
haben, war ein solcher Laden eine wichtige<br />
Einrichtung in einem Dorf.<br />
Die Familie von Wasilij Michajlowitsch<br />
aus Bor-Ljonwa beispielsweise konnte die<br />
erste Zeit nach der Deportation nur deshalb<br />
überleben, weil sie die Nahrungsmittel in<br />
einem Laden kaufen konnten. Woher hatte<br />
man damals aber Geld? In seinem Fall<br />
nahm die Familie das Geld von zu Hause<br />
mit auf den Weg. Zusätzlich bekamen sie<br />
am Anfang Päckchen von Verwandten,<br />
in denen auch ein wenig Geld drin war.<br />
Leonid Aleksandrowitsch, der ebenfalls<br />
aus Bor-Ljonwa kam, erzählte uns, dass<br />
man während des Krieges von einer<br />
Tagesration in Höhe von 400 Gramm für<br />
Brot nicht leben geschweige denn richtig<br />
arbeiten konnte. Seine Familie hatte den<br />
Vorteil, dass sie noch eine Kuh besaß.<br />
Für diese mussten sie jedoch eine Steuer<br />
in Form von Fleisch, Milch oder Butter<br />
zahlen. Problem hierbei war, dass die<br />
Abgabenormen höher waren, als die Kuh<br />
letztendlich hergeben konnte. Um diesen<br />
<br />
daher von dem im Wald hart erarbeitetem<br />
Lohn Lebensmittel im Laden kaufen und<br />
als Steuer abgeben. ”Wir kauften im Laden<br />
für den einen Preis und gaben an den Staat<br />
für einen anderen Preis ab. Wir kauften für<br />
Rubel und verkauften für Kopejki.“<br />
Wenn man das russische Wort ‘spezposelok‘<br />
(Sondersiedlung) hört, fallen einem<br />
abhängig vom jeweiligen Vorwissen<br />
bestimmte Bilder ein. Durch unseren<br />
Marsch konnten wir die erzählte Geschichte<br />
mit bestimmten Orten verbinden. Wir<br />
machten uns selber ein Bild von einem<br />
authentischen Ort und konkretisierten auf<br />
diese Weise eine abstrakte Größe.<br />
35<br />
Die Siedlung Tjus<br />
<br />
Gebiet und ist rund 14<br />
km von der nächsten<br />
Kreisstadt Dobrjanka<br />
<br />
Dorf im Jahre 1938<br />
entstanden: Damals<br />
waren mehrere Hundert<br />
Spezialumsiedler<br />
aus Krasnokamsk,<br />
die zuvor auf der<br />
dortigen Baustelle<br />
des Papierkombinates<br />
Zwangsarbeit geleistet<br />
hatten, in der Tajga an<br />
einen Ort angesiedelt<br />
worden, den man<br />
zu diesem Zeitpunkt<br />
”130. Kilometer“<br />
nannte. Derartige<br />
Bezeichnungen<br />
trugen die meisten<br />
der neu gegründeten<br />
Spezialsiedlungen.<br />
Erst später wurde der<br />
Ort nach dem kleinen<br />
Bach, der durch die<br />
<br />
- Tjus. In der Sprache<br />
der Komi-Permjaken<br />
bedeutet dies in etwa<br />
‚Samenkorn’. Die<br />
zwangsangesiedelten<br />
Bewohner wurden<br />
mit ihrer Verlegung<br />
nach Tjus bereits zum<br />
zweiten Mal Opfer<br />
der stalinistischen<br />
Repressionen. Unter<br />
ihnen waren Ukrainer,<br />
Tataren, Weißrussen<br />
und Russen. Nach<br />
Aufhebung der<br />
<br />
Spezialumsiedler<br />
kehrten die meisten von<br />
ihnen in ihre frühere<br />
Heimat zurück. Im Jahr<br />
2008 zählte das Dorf<br />
<br />
noch 20 Einwohner.