Broschüre Teil 2 herunterladen - Geschichtswerkstatt Europa
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36<br />
AUF DEN PFADEN DER ERINNERUNG.<br />
EINE GEDANKENREISE UND WANDERUNG NACH TJUS<br />
Robert Latypow<br />
<br />
Sondersiedlung Tjus.<br />
Es war eine ganz besondere<br />
Wanderung. Unser Ziel war das Dorf<br />
Tjus. Es befindet sich im Permer Gebiet,<br />
rund 14 km von der nächsten Kreisstadt<br />
Dobrjanka entfernt.<br />
Nach Tjus hätten wir auch mit dem<br />
Auto fahren können. Wir aber hatten<br />
vor, den Weg, den die ehemaligen Spezialumsiedler<br />
im Jahre 1938 gezwungen<br />
waren anzutreten, zu Fuß zurücklegen -<br />
als Weg des Gedenkens gehen. Wir wussten<br />
im Vorfeld nicht, wie weit der Weg<br />
sich überhaupt begehen ließe. Würden<br />
wir alle Stellen passieren können? War<br />
der Weg heute vielleicht sogar asphaltiert<br />
oder nach wie vor ein Schotterweg?<br />
Wohin würde er uns führen – in ein<br />
verlassenes Dorf, in dem lediglich<br />
noch einige vergessene Dorfbewohner<br />
wohnten? Welche Gefühle würden uns<br />
dabei bewegen und welche Gedanken<br />
könnten uns in den Sinn kommen. Ist<br />
es überhaupt möglich in der Gegenwart<br />
nachzuvollziehen, was die Menschen vor<br />
rund 70 Jahren dabei empfunden hatten,<br />
als sie hier entlanggingen? Individuen,<br />
die gezwungen waren, die ihnen unbekannte<br />
Tajga zu durchschreiten, wo<br />
sie den Rest ihres Lebens verbringen<br />
sollten. Kommt es zwangsläufig dazu,<br />
dass junge Menschen irgendwelche<br />
Form von Emotionen beim Beschreiten<br />
eines Pfades der Erinnerung verspüren?<br />
Wir wussten es nicht…<br />
Zu unserer Überraschung war der Pfad<br />
nicht verwachsen. Die 5-Kilometer lange<br />
Strecke zwischen den Dörfern Zawoschik<br />
und Tjus haben wir in einer guten Stunde<br />
zurückgelegt. Unsere Wanderung glich<br />
einem wunderbaren Spaziergang – es<br />
war warm und sonnig. Wir mussten uns<br />
regelrecht dazu zwingen, die Erlebnisse<br />
der Zeitzeugen zu diskutieren. Wie<br />
die Zeitzeugen die Repressionen erlebt<br />
und wahrgenommen hatten und<br />
wir ihr Verhältnis zur Sowjetunion<br />
aussah, war äußerst unterschiedlich.<br />
Auch hatten wir die Interviews in ganz<br />
verschiedenen Situationen geführt, so<br />
dass die jeweiligen Interviewsituationen<br />
selbst eine Reflexion darstellten.<br />
Während wir gingen und miteinander<br />
diskutierten, ließ ich meinen Gedanken<br />
freien Lauf. Mithilfe der Zeitzeugeninterviews<br />
habe ich versucht,<br />
mich in die Gefühls- und Gedankenwelt<br />
derjenigen hineinzuversetzen, die 1938<br />
dazu gezwungen waren, diesen Weg zu<br />
beschreiten. Trotzdem kamen bei mir<br />
keine negativen Gefühle auf. Dennoch<br />
begab ich mich auf eine Gedankenreise,<br />
bei der ich versuchte, unterschiedliche<br />
Perspektiven einzunehmen:<br />
Als erstes versetzte ich mich in einen<br />
13-jährigen Jungen hinein, der hier mit<br />
seiner Familie entlanggegangen war.<br />
Viele unserer Zeitzeugen waren damals<br />
noch Kinder gewesen. Meine Eltern<br />
und viele andere Erwachsene gehen<br />
zu Fuß diesen Weg entlang. Rund 300<br />
Menschen zählt unser Konvoi, aber<br />
nur ein paar Dutzend Karren begleiten<br />
ihn. Die Bündel mit unserem Hab und<br />
Gut – etwas Kleidung und ein paar<br />
Lebensmittel – sind darauf geladen.<br />
Neben einigen kranken Alten werden auf<br />
den Karren auch zwei oder drei Frauen,<br />
die wahrscheinlich ein Kind erwarten,<br />
transportiert. Wohin wir gehen, weiß ich<br />
nicht. Ich weiß auch nicht, wer unsere<br />
Kolonne führt. Allerdings scheint es<br />
mir dieser bärtige und grobe Onkel mit<br />
dem Gewehr zu sein. Er hat uns bei der<br />
Bahnstation in Empfang genommen.<br />
Seitdem gehen wir mittlerweile schon den<br />
zweiten Tag immer tiefer in den Wald. Ich<br />
habe keine Angst. Meine Eltern sind bei<br />
mir und außerdem ist das, was um mich<br />
herum passiert, auch sehr interessant.<br />
Früher habe ich in einem kleinen Dorf<br />
gewohnt, bin nie über dessen Grenzen<br />
hinausgekommen. Jetzt bekomme ich<br />
einiges zu sehen – mir eröffnet sich<br />
plötzlich die Welt. Anfangs durfte ich<br />
sogar mit der Eisenbahn fahren und<br />
jetzt sehe ich die Tajga. Nie vorher bin<br />
ich in einem so dichten Wald gewesen.<br />
Ich bin gespannt, wohin wir gehen und