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Broschüre Teil 2 herunterladen - Geschichtswerkstatt Europa

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40<br />

NICHT VERGESSEN, ABER VERGEBEN?<br />

Denkmal zur Erinnerung<br />

an die Opfer des<br />

Bolschwismus 1939-<br />

1956, Legnica,<br />

Niederschlesien.<br />

Politologen, um erneut klar zu machen, dass<br />

“uns die Polen heutzutage keine Freunde<br />

seien“. Vor allem rief auf russischer Seite<br />

große Irritation hervor, dass sich “die<br />

undankbaren Nachbarn“ nicht mehr daran<br />

erinnern wollten, “wer sie von der braunen<br />

Pest des Faschismus befreit hat“.<br />

Vor diesem Hintergrund schien es mir<br />

nur folgerichtig zu sein, dass unsere<br />

Gesprächspartner nicht nur der Sowjetmacht,<br />

dem ausführenden NKWD, Stalin sowie<br />

seinen Helfern ablehnend gegenübertreten<br />

würden, sondern auch gegenüber mir als<br />

Bürger der Russischen Föderation und<br />

vielleicht sogar generell dem russischen<br />

Volk eine skeptische Haltung einnehmen<br />

würden. Wider Erwarten traf letzteres jedoch<br />

nicht zu.<br />

Von den zwei Dutzend Zeitzeugen,<br />

mit denen wir im Rahmen unseres<br />

Forschungsprojekts Interviews geführt<br />

hatten, machte niemand das russische Volk<br />

für die Massendeportationen verantwortlich.<br />

Wenngleich unsere Erhebung nicht als<br />

repräsentativ gelten kann, so ist es doch<br />

auffällig, dass wirklich kein einziger<br />

Zeitzeuge uns gegenüber diese Sichtweise<br />

vertrat. Uns gab das zu denken, so dass wir<br />

uns sofort auf die Suche nach den Gründen<br />

dafür begaben.<br />

Warum sind uns die ehemaligen Opfer,<br />

mit denen wir sprechen konnten und die<br />

die Erfahrung von Haft, Deportation und<br />

des Verlusts von Angehörigen gemacht<br />

haben, nicht feindlich gesonnen? Wie haben<br />

sie es geschafft, dass ihre Seelen nicht<br />

verhärteten, sondern sie weiterhin Menschen<br />

blieben? Lange haben wir während unserer<br />

Forschungsreise darüber diskutiert.<br />

Vor allem eine Facette hat mich dabei<br />

nachhaltig beeindruckt, wohl insbesondere<br />

vor dem Hintergrund meiner eigenen<br />

Erfahrungen, die ich täglich mit dem Thema<br />

Vergangenheitsaufarbeitung im heutigen<br />

Russland mache.<br />

Es geht dabei vor allem um den polnische<br />

Bund der Sibirienverschleppten, in der<br />

ehemalige stalinistische Deportationsopfer<br />

heute als Gesellschaft zusammengeschlossen<br />

sind. Die Grundhaltung der Organisation<br />

kann sich kurz und prägnant folgendermaßen<br />

wiedergeben lassen: “Nicht vergessen, aber<br />

vergeben“.<br />

In liberalen Kreisen in Russland,<br />

darunter auch in der Internationalen<br />

Menschenrechtsgesellschaft Memorial, für<br />

die ich arbeite und in der ich Mitglied bin,<br />

würde eine solche Devise Unverständnis<br />

und möglicherweise sogar Ablehnung<br />

hervorrufen. Ist es denn überhaupt möglich<br />

zu ”vergeben“? Den Tätern und dem ganzen<br />

sowjetischen System zu vergeben, aus<br />

dem diese hervorgegangen sind? Vielleicht<br />

ist das irgendwann einmal möglich, aber<br />

bestimmt nicht heute. Es ist nicht möglich,<br />

weil sowohl das System als auch die mit<br />

<br />

kriminell gilt und die Täter nicht genannt<br />

werden – dabei wäre vor allem das von<br />

allergrößter Wichtigkeit! Mit anderen<br />

Worten heißt das, dass es in der russischen<br />

Gesellschaft keinen Konsens darüber gibt,<br />

was für eine Tragödie überhaupt geschehen<br />

ist und wie man langfristig verhindern kann,<br />

dass sie sich so etwas in Zukunft wiederholt.<br />

In Polen ist das offenbar ganz anders. Hier<br />

ist ein Vergeben möglich. Kein zynisches<br />

oder populistisches, sondern einfach ein<br />

menschliches Vergeben.<br />

Eine Sichtweise, die ein friedliches<br />

Nebeneinander von einerseits durchlebtem<br />

Schicksal und Verlusten und andererseits<br />

von russischen Menschen, welche allen<br />

Verboten zum Trotz den Deportierten ein<br />

Stück Brot gereicht haben, ermöglicht. Eine<br />

Einstellung, die es möglich macht, dass<br />

neben dem Verlust der Heimat auch über<br />

den Gewinn einer neuen ”kleinen Heimat“<br />

irgendwo im fernen Sibirien, Kasachstan<br />

oder Ural geredet werden kann. Einzig und<br />

allein weil dort Menschen lebten, die nicht<br />

nur an ihrem Schicksal Anteil nahmen,<br />

sondern ihnen in der Schule auch das<br />

Schreiben und Rechnen beibrachten, ihnen<br />

Bücher vorlasen, in denen das Gute immer<br />

über das Böse siegte und es Kinder gab, die<br />

mit ihnen in den Pausen spielten.

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