EuGH-URTEIL ZUM BEGRIFF DER ... - Gleiss Lutz
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15. August 2012<br />
<strong>EuGH</strong>-<strong>URTEIL</strong> <strong>ZUM</strong> <strong>BEGRIFF</strong> <strong>DER</strong> INSI<strong>DER</strong>INFORMATION<br />
Am 28. Juni 2012 wurde das Urteil des Europäischen<br />
Gerichtshofs (<strong>EuGH</strong>) in der Sache „Daimler<br />
Schrempp“ (Rechtssache C-19/11 – Markus Geltl /<br />
Daimler AG) veröffentlicht. Inzwischen liegen erste<br />
Stellungnahmen in der Literatur vor. Das Urteil betrifft<br />
den Begriff der Insiderinformation und damit<br />
sowohl die Ad-hoc-Publizitätspflicht nach<br />
§ 15 WpHG als auch das Insiderhandelsverbot<br />
nach § 14 WpHG. In seinem Urteil, mit dem der<br />
<strong>EuGH</strong> auf zwei Vorlagefragen des Bundesgerichtshofs<br />
(BGH) antwortete, beschäftigte er sich<br />
mit dem Begriff der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit“<br />
bei zukünftigen Ereignissen sowie<br />
der Einordnung von Zwischenschritten in zeitlich<br />
gestreckten Sachverhalten als Insiderinformation.<br />
■ 1.<br />
Zusammenfassung<br />
· Ein zukünftiges Ereignis ist „hinreichend<br />
wahrscheinlich“ und kann daher eine<br />
(veröffentlichungspflichtige) Insiderinformation<br />
darstellen, wenn sein Eintritt „tatsächlich<br />
erwartet werden kann“. Im Einklang mit der<br />
bislang herrschenden Meinung dürfte damit<br />
auch weiterhin eine Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
von über 50% erforderlich sein.<br />
· Diese Mindestwahrscheinlichkeit hängt nicht<br />
von der Bedeutung des zukünftigen Ereignisses<br />
ab. Insbesondere genügt es auch bei<br />
herausragend kursrelevanten Ereignissen nicht,<br />
wenn ihr Eintritt „offen, aber nicht unwahrscheinlich“<br />
ist.<br />
· Zwischenschritte in einem zeitlich gestreckten<br />
Sachverhalt können – grundsätzlich unabhängig<br />
von der Eintrittswahrscheinlichkeit des zukünftigen<br />
Endereignisses – (veröffentlichungspflichtige)<br />
Insiderinformationen sein, wenn sie<br />
Kursbeeinflussungspotential haben. Unter diesen<br />
Voraussetzungen ist es auch ausreichend,<br />
wenn der Zwischenschritt mit „hinreichender<br />
Wahrscheinlichkeit“ erst noch eintreten wird.<br />
In der Praxis kann das Urteil zu einer zeitlichen<br />
Vorverlagerung der Veröffentlichungspflicht führen:<br />
· Im konkreten Fall wird häufig fraglich sein, ob<br />
ein Zwischenschritt tatsächlich das nötige<br />
Kursbeeinflussungspotential hat, wenn das<br />
Endereignis noch nicht hinreichend wahrscheinlich<br />
ist.<br />
· Hat ein Zwischenschritt im konkreten Fall<br />
Kursbeeinflussungspotential, ergibt sich eine<br />
zeitliche Vorverlagerung der Ad-hoc-Pflicht daraus,<br />
dass eine Insiderinformation auch dann<br />
schon vorliegt, wenn der Zwischenschritt<br />
noch nicht eingetreten, aber hinreichend<br />
wahrscheinlich ist.<br />
· Daher sollte in einem zeitlich gestreckten<br />
Sachverhalt aus Gründen juristischer Vorsicht<br />
möglichst frühzeitig (i) eine Ad-hoc-<br />
Publizitätspflicht und die Möglichkeit einer<br />
(vorsorglichen) Selbstbefreiung nach<br />
§ 15 Abs. 3 WpHG geprüft und (ii) der Handel<br />
mit den betreffenden Wertpapieren durch Insider<br />
eingestellt werden.<br />
1
■ 2.<br />
„Hinreichende Wahrscheinlichkeit“ zukünftiger<br />
Ereignisse<br />
Zukünftige Ereignisse können eine Insiderinformation<br />
begründen, wenn sie mit „hinreichender<br />
Wahrscheinlichkeit“ eintreten werden. Der <strong>EuGH</strong><br />
stellte in seinem Urteil fest, dass Ereignisse nicht<br />
mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ eintreten müssen,<br />
um hinreichend wahrscheinlich zu sein. Andererseits<br />
liege eine Insiderinformation dann nicht vor,<br />
wenn der Eintritt des zukünftigen Ereignisses<br />
„nicht wahrscheinlich“ ist. Vielmehr sei erforderlich,<br />
dass das zukünftige Ereignis „tatsächlich<br />
erwartet werden kann“.<br />
Leider äußerte der <strong>EuGH</strong> sich nicht ausdrücklich<br />
zu der Frage, in welchem Verhältnis diese „tatsächliche<br />
Erwartung“ zu dem bisher gebräuchlichen<br />
und insbesondere vom BGH verwendeten<br />
Begriff der „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“,<br />
also einer Wahrscheinlichkeit von über 50%,<br />
steht. Der <strong>EuGH</strong> kann aber wohl dahin verstanden<br />
werden, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
zumindest dann nicht hinreichend ist, wenn sie<br />
bei 50% oder darunter liegt. Im Einklang mit der<br />
bislang herrschenden Meinung dürfte damit auch<br />
weiterhin eine Eintrittswahrscheinlichkeit von<br />
über 50% erforderlich sein.<br />
Wesentlich eindeutiger nahm der <strong>EuGH</strong> zu der<br />
Frage des BGH Stellung, ob die Anforderungen<br />
an die Eintrittswahrscheinlichkeit von der Bedeutung<br />
des zu erwartenden Endereignisses abhängen,<br />
ob es also bei besonders bedeutenden Endereignissen<br />
ausreichend sein kann, wenn der Eintritt<br />
dieses Ereignisses – in den Worten des BGH<br />
– „offen, aber nicht unwahrscheinlich“ ist. Diesem<br />
aus dem U.S.-amerikanischen Kapitalmarktrecht<br />
bekannten „Probability/Magnitude-Ansatz“ erteilte<br />
der <strong>EuGH</strong> eine klare Absage im Hinblick<br />
auf das Tatbestandsmerkmal „hinreichende<br />
Wahrscheinlichkeit“, nicht jedoch im Hinblick auf<br />
das Merkmal „Kursbeeinflussungspotential“ (vgl.<br />
dazu noch Abschnitt 4 unten).<br />
■ 3.<br />
Zwischenschritte als Insiderinformation<br />
„Zeitlich gestreckt“ sind Sachverhalte, wenn ein<br />
Endereignis über mehrere Zwischenschritte erreicht<br />
werden soll, insbesondere also dann, wenn<br />
der beabsichtigten Maßnahme verschiedene Organe<br />
der Gesellschaft oder Dritte nacheinander<br />
zustimmen müssen (dann auch „mehrstufige Entscheidungsprozesse“).<br />
Beispiele hierfür sind<br />
M&A-Transaktionen oder das vorzeitige Ausscheiden<br />
eines Vorstandsmitglieds.<br />
Der <strong>EuGH</strong> entschied, dass Zwischenschritte in<br />
einem zeitlich gestreckten Sachverhalt Insiderinformationen<br />
im Sinne des WpHG sein können,<br />
und zwar grundsätzlich unabhängig von der Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
des zukünftigen Endereignisses.<br />
Dieses Ergebnis wurde schon bisher<br />
vereinzelt in der Rechtsprechung und von Teilen<br />
der Literatur vertreten, die herrschende Meinung<br />
ging hingegen nur dann von einer veröffentlichungspflichtigen<br />
Insiderinformation aus, wenn<br />
das Endereignis hinreichend wahrscheinlich war.<br />
Der <strong>EuGH</strong> wies in seinem Urteil auch darauf hin,<br />
dass – wie bei allen anderen Insiderinformationen<br />
– auch bei (kurserheblichen) Zwischenschritten<br />
ausreichend ist, wenn sie mit „hinreichender<br />
Wahrscheinlichkeit“ erst in Zukunft eintreten<br />
werden.<br />
■ 4.<br />
Folgen für die Praxis<br />
Durch die Ausführungen des <strong>EuGH</strong> zum Begriff<br />
„hinreichende Wahrscheinlichkeit“ werden sich<br />
keine Änderungen für die Ad-hoc-Praxis ergeben.<br />
Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung<br />
des BGH, der herrschenden Meinung in der Literatur<br />
und der Verwaltungspraxis der BaFin dürfte<br />
auch weiterhin eine Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
von über 50% erforderlich sein.<br />
2
Etwas anderes könnte sich im konkreten Fall aus<br />
der Entscheidung des <strong>EuGH</strong> über das isolierte Abstellen<br />
auf Zwischenschritte ergeben: Die Einordnung<br />
des Zwischenschritts als Insiderinformation<br />
setzt allerdings – wie jede andere potentielle Insiderinformation<br />
auch – voraus, dass ein öffentliches<br />
Bekanntwerden des Schritts geeignet wäre,<br />
den Börsenkurs des betreffenden Wertpapiers<br />
erheblich zu beeinflussen (Kursbeeinflussungspotential).<br />
In Fällen, in denen bereits das<br />
Endereignis hinreichend wahrscheinlich ist, hat<br />
sich durch die <strong>EuGH</strong>-Entscheidung nichts geändert:<br />
Es besteht grundsätzlich eine Ad-hoc-<br />
Publizitätspflicht. Ist das Endereignis hingegen<br />
noch nicht hinreichend wahrscheinlich, wird der<br />
Zwischenschritt in der Regel wohl auch kein ausreichendes<br />
Kursbeeinflussungspotential aufweisen.<br />
Etwas anderes dürfte nur gelten, wenn etwa<br />
- der Zwischenschritt für sich gesehen eine bedeutende,<br />
über den potentiellen Eintritt des erwarteten<br />
Endereignisses hinausgehende eigenständige<br />
Information enthält oder<br />
- das Endereignis nicht nur im üblichen, sondern<br />
in einem ganz besonderen Maße kurserheblich<br />
ist. Anders als bei der Bestimmung des<br />
Merkmals „hinreichende Wahrscheinlichkeit“<br />
(vgl. Abschnitt 2 oben) kann die Bedeutung des<br />
Endereignisses Auswirkungen auf die Kurserheblichkeit<br />
des Zwischenschritts und so doch<br />
auch wieder auf den Zeitpunkt der Veröffentlichungspflicht<br />
haben. Dann sind Zwischenschritte<br />
mit Kursbeeinflussungspotential denkbar, obwohl<br />
der Eintritt des Endereignisses noch nicht<br />
hinreichend wahrscheinlich ist. Beispielsweise<br />
können öffentliche Übernahmeangebote für die<br />
Zielgesellschaft oder unter Umständen auch Kapitalerhöhungen<br />
für den Emittenten besonders<br />
kurserheblich sein.<br />
Für die Praxis sollte gelten: Da das Vorliegen eines<br />
Kursbeeinflussungspotentials – insbesondere im<br />
Hinblick auf Zwischenschritte – regelmäßig kaum<br />
mit Sicherheit beurteilt werden kann und die Reaktion<br />
der deutschen Gerichte auf das <strong>EuGH</strong>-Urteil<br />
noch nicht bekannt ist, sollte in Zweifelsfällen<br />
aus Gründen juristischer Vorsicht bereits in einem<br />
relativ frühen Stadium von der Kurserheblichkeit<br />
eines Zwischenschritts und damit von<br />
einer Insiderinformation ausgegangen werden.<br />
Hat ein Zwischenschritt im konkreten Fall Kursbeeinflussungspotential,<br />
wird die Veröffentlichungspflicht<br />
aufgrund der <strong>EuGH</strong>-Entscheidung regelmäßig<br />
zeitlich (noch) etwas vorverlagert: Es ist nicht nötig,<br />
dass sich der kurserhebliche Zwischenschritt bereits<br />
verwirklicht hat. Vielmehr genügt, wenn der Eintritt<br />
des Zwischenschritts (nur) hinreichend wahrscheinlich<br />
ist, der Zwischenschritt also mit einer<br />
Wahrscheinlichkeit von über 50% eintreten wird.<br />
Daher sollte in einem zeitlich gestreckten Sachverhalt<br />
möglichst frühzeitig (i) eine Ad-hoc-<br />
Publizitätspflicht auch von Zwischenschritten und<br />
die Möglichkeit einer Selbstbefreiung nach<br />
§ 15 Abs. 3 WpHG geprüft und (ii) der Handel mit<br />
den betreffenden Wertpapieren durch Insider eingestellt<br />
werden. Sofern die Voraussetzungen für<br />
eine Selbstbefreiung vorliegen, wird sich in der<br />
Praxis zumeist ein entsprechender – gegebenenfalls<br />
vorsorglicher – Selbstbefreiungsbeschluss<br />
empfehlen.<br />
■ 5.<br />
Beispiel<br />
Die Durchführung von M&A-Transaktionen löst<br />
häufig eine Ad-hoc-Publizitätspflicht aus. So müssen<br />
beispielsweise börsennotierte Käufer bei einem<br />
vollständigen oder teilweisen Erwerb einer<br />
Zielgesellschaft durch Kaufvertrag (Private Deal)<br />
prüfen, welche Bedeutung die Transaktion für sie<br />
und den Kurs ihrer Aktien hat. Steht fest, dass die<br />
Transaktion an sich aufgrund ihrer Bedeutung<br />
Kursbeeinflussungspotential hat, muss entschieden<br />
werden, ab welchem Stadium in der Transaktion<br />
eine Veröffentlichungspflicht besteht.<br />
3
In Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung<br />
in der Literatur und der Verwaltungspraxis<br />
der BaFin ging die Praxis bisher davon aus, dass<br />
bei einem Private Deal (außerhalb eines Auktionsverfahrens)<br />
in der Regel durch den Versand eines<br />
nicht bindenden Angebotsschreibens keine<br />
veröffentlichungspflichtige Insiderinformation begründet<br />
wird, weil das Zustandekommen der<br />
Transaktion noch nicht hinreichend wahrscheinlich<br />
ist. Gleiches galt für den Abschluss eines im Hinblick<br />
auf die Durchführung der Transaktion weitgehend<br />
unverbindlichen Letter of Intent (vor<br />
Durchführung einer Due Diligence). Erst mit dem<br />
zufriedenstellenden Abschluss der Due Diligence<br />
lag eine Insiderinformation in der Regel vor.<br />
An diesem Ergebnis hat die <strong>EuGH</strong>-Entscheidung<br />
für die meisten Fälle nichts geändert: Das Zustandekommen<br />
der Transaktion als Endereignis<br />
kann vor dem zufriedenstellenden Abschluss einer<br />
Due Diligence noch nicht „tatsächlich erwartet werden“.<br />
Aufgrund der geringen Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
für das Zustandekommen der Transaktion<br />
dürfte es zumeist auch an dem Kursbeeinflussungspotential<br />
der Zwischenschritte (z. B. Versand<br />
eines unverbindlichen Angebotsschreibens) fehlen.<br />
Beides kann sich mit dem zufriedenstellenden Abschluss<br />
der Due Diligence ändern.<br />
einzelnen Bieter Exklusivität eingeräumt wird, ist<br />
das Zustandekommen der Transaktion aus seiner<br />
Sicht nicht hinreichend wahrscheinlich, so dass<br />
auch die entsprechenden Zwischenschritte (z. B.<br />
zufriedenstellender Abschluss der Due Diligence)<br />
aus seiner Sicht in der Regel kein Kursbeeinflussungspotential<br />
haben.<br />
Ihre Ansprechpartner<br />
Dr. Christian Cascante, LL.M.<br />
Partner<br />
Maybachstraße 6<br />
70469 Stuttgart<br />
T +49 711 8997-151<br />
E christian.cascante@gleisslutz.com<br />
Dr. Jochen Tyrolt<br />
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70469 Stuttgart<br />
T +49 711 8997-298<br />
E jochen.tyrolt@gleisslutz.com<br />
Dr. Adrian Bingel, LL.M.<br />
Assoziierter Partner<br />
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70469 Stuttgart<br />
T +49 711 8997-274<br />
E adrian.bingel@gleisslutz.com<br />
Geht man sodann von der Kurserheblichkeit des<br />
(zu erwartenden) Zwischenschritts, also des zufriedenstellenden<br />
Abschlusses der Due Diligence,<br />
aus, kommt es in Zukunft zu einer leichten zeitlichen<br />
Vorverlagerung der Ad-hoc-Pflicht: Eine<br />
Veröffentlichungspflicht besteht schon dann,<br />
wenn der zufriedenstellende Abschluss der<br />
Due Diligence hinreichend wahrscheinlich ist,<br />
also „tatsächlich erwartet werden“ kann.<br />
<strong>Gleiss</strong> <strong>Lutz</strong> Hootz Hirsch Partnerschaftsgesellschaft von Rechtsanwälten,<br />
Steuerberatern (Sitz Stuttgart, AG Stuttgart PR 136). Eine<br />
Liste aller Partner können Sie in jedem unserer Büros sowie in unserem<br />
Impressum unter www.gleisslutz.com einsehen.<br />
Anders waren und sind Auktionsverfahren zu beurteilen,<br />
bei denen mehrere Bieter mit der Verkäuferseite<br />
(und teilweise auch der Zielgesellschaft) in<br />
Kontakt stehen und die oben genannten Zwischenschritte<br />
parallel durchlaufen. Bevor einem<br />
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